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German Pages 325 Year 2007
Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Band 13
Tatverleugnung und Strafrestaussetzung Ein Beitrag zur Praxis der Kriminalprognose
Von
Hauke Brettel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HAUKE BRETTEL
Tatverleugnung und Strafrestaussetzung
Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Begründet als „Kriminologische Forschungen“ von Prof. Dr. Hellmuth Mayer
Band 13
Tatverleugnung und Strafrestaussetzung Ein Beitrag zur Praxis der Kriminalprognose
Von Hauke Brettel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0933-078X ISBN 978-3-428-12320-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2006 vom Fachbereich Rechtsund Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. Michael Bock, der die Arbeit angeregt und mit viel Verständnis, Geduld und Ermutigung begleitet hat. Für wertvolle Hinweise sowie die Erstellung des Zweitgutachtens schulde ich Herrn Prof. Dr. Alexander Böhm großen Dank, den ich ihm wegen seines tragischen Unfalltods leider nicht mehr aussprechen konnte. Wichtige Anregungen verdanke ich auch Herrn Richter am BGH Prof. Dr. Bertram Schmitt, dem ich ebenso herzlich danke wie meinem beruflichen und persönlichen Umfeld für die wertvolle Unterstützung. Besonders zu nennen sind hier die ehemaligen und jetzigen Kollegen am Lehrstuhl Professor Bock, vor allem Herr Prof. Dr. Hendrik Schneider, Herr Dr. Peter Münster, Frau Kerstin Kummermehr und Frau Gabi Schatz sowie meine Eltern, nicht zuletzt aber meine Ehefrau Birgitt, mit der auch die schlechten Tage der Schaffensphase noch schöne Momente waren. Schließlich danke ich der Lang-Hinrichsen-Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung. Hauke Brettel
7
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ...............................................................................................................
13
Kapitel 1 Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung
22
A. Anknüpfung an Kriminalprognosen .................................................................
22
B. Beschränkung auf den Zusammenhang mit Kriminalprognosen ......................
25
C. Das Untersuchungsprogramm für das Leugnungsproblem ..............................
27
Kapitel 2 Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft A. Methodische Vorgaben zum Umgang mit der Tatverleugnung ........................
29 29
I.
Ausgangspunkt ........................................................................................
29
II.
Statistische Prognosen .............................................................................
30
III. Intuitive Prognosen .................................................................................
33
IV. Klinische Prognosen ................................................................................
34
V.
Schlussfolgerungen aus der Methodenbetrachtung .................................
36
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis ..................................
37
HCR-20 .....................................................................................................
37
1. Grundlagen zum HCR-20-Schema ......................................................
37
2. Tatverleugnung und Items des HCR-20 zu seelischen Auffälligkeiten
38
3. Tatverleugnung und ÄPsychopathy nach Hare³ ...................................
39
4. Tatverleugnung und weitere Items des HCR-20-Schemas ..................
43
5. Fazit zum Umgang mit dem Ableugnen beim HCR-20-Schema .........
45
I.
II.
SVR-20 ....................................................................................................
III. Die Ansätze von Rasch und Nedopil .......................................................
48 51
8
Inhaltsverzeichnis IV. Der Ansatz von Dittmann ........................................................................
56
V.
Der Ansatz von Dahle .............................................................................
58
VI. Der Ansatz von Rehder ...........................................................................
62
VII. Der Ansatz von Urbaniok ........................................................................
63
VIII. Der Ansatz von Göppinger, Bock und Maschke .....................................
66
1. Die Arbeitsweise der MIVEA .............................................................
66
2. Die Vorgaben der MIVEA ..................................................................
67
3. Der Umgang mit dem Ableugnen bei der MIVEA ..............................
70
IX. Weitere Vorgaben für Kriminalprognosen ..............................................
72
X.
Tatsächlicher Umgang mit dem Ableugnen in der Gutachtenpraxis ........
76
C. Folgerungen aus der Prognosepraxis für das Leugnungsproblem ....................
77
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis ...................
81
I.
Fehlen eines prognosebestimmenden Einzelfaktors ................................
81
II.
Einschätzbarkeit menschlichen Verhaltens .............................................
83
III. Kontrolle des prognostischen Denkvorgangs ..........................................
86
1. Grenzen des Erfahrungswissens ..........................................................
86
2. Fehlende Eignung des Syllogismus .....................................................
89
3. Idealtypen als Beitrag zur logischen Kontrolle ...................................
92
IV. Feststellbarkeit des prognostisch Relevanten ..........................................
99
1. Notwendigkeit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge .........
99
2. Schwierigkeiten mit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge .
102
3. Diskrepanzen von prognostischer Relevanz und Objektivierbarkeit ...
103
4. Möglichkeiten der Feststellung des prognostisch Relevanten .............
105
Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen ............................
108
1. Die gängige Deutung der prognostischen Aufgabe .............................
108
2. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit .........
110
3. Versuch einer Vereinfachung der prognostischen Aufgabe ................
112
Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien .................
121
I.
Notwendigkeit einer Individualisierung ..................................................
121
II.
Orientierung an methodischen Vorgaben ................................................
124
III. Anforderungen an methodische Vorgaben ..............................................
131
1. Anforderungen an die Herleitung ........................................................
131
V.
E.
Inhaltsverzeichnis
F.
9
2. Anforderungen an die Beurteilungsgrundlage .....................................
133
3. Anforderungen an Einzelkriterien .......................................................
134
4. Anforderungen an die Integration von Einzelkriterien ........................
138
IV. Beachtung der Grenzen methodischer Vorgaben ....................................
143
V.
Wissenschaftlichkeit außerhalb methodischer Vorgaben ........................
146
1. Anerkennung von Subjektivismen .......................................................
146
2. Notwendigkeit der Kontrolle von Subjektivismen ..............................
148
3. Mittel zur Kontrolle von Subjektivismen ............................................
150
4. Erarbeiten eines Ableitungszusammenhangs .......................................
151
Empfehlungen für den Umgang mit der Tatverleugnung .................................
153
I.
Denklogische Betrachtungsebenen des Ableugnens ................................
153
II.
Ableugnen im Kontext der prognostischen Beurteilungsgrundlage ........
158
III. Differenzierung von innerer und äußerer Haltung ...................................
162
IV. Differenzierung von Können und Wollen ...............................................
165
V.
Ausstrahlungswirkung vorangegangener Prognosen ...............................
168
VI. Ausgewählte Ableitungszusammenhänge von Ableugnen und Prognoseergebnis ....................................................................................................
169
1. Tatverleugnung als Beurteilungshindernis ..........................................
169
2. Zur kriminalprognostischen Bedeutung der Tatursachen ....................
172
3. Zur kriminalprognostischen Bedeutung des Geständnisses .................
175
4. Zur kriminalprognostischen Bedeutung von Reue und Scham ............
179
5. Zur kriminalprognostischen Bedeutung der Realitätseinschätzung .....
183
6. Zur kriminalprognostischen Bedeutung einer Selbsterkenntnis ..........
184
G. Fazit zum Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft ..........
186
Kapitel 3 Das Problem der Tatverleugnung im Recht
192
A. Tatverleugnung als gesetzlicher Prognoseumstand ..........................................
192
B. Tatverleugnung und Rechtskraft ......................................................................
197
I.
Relevanz der Rechtskraft für das Leugnungsproblem .............................
197
II.
Meinungen zur Rechtskraftwirkung ........................................................
200
1. Materiellrechtliche Rechtskrafttheorie ................................................
200
10
Inhaltsverzeichnis 2. Prozessuale Gestaltungstheorie ...........................................................
201
3. Ansicht von Volckart ..........................................................................
201
4. Ansichten von Zazcyk, Bock und Schneider .......................................
205
5. Prozessrechtliche Rechtskrafttheorie ...................................................
205
6. Position der Rechtsprechung ...............................................................
206
III. Rechtskraft und Interessen ......................................................................
207
IV. Wirklichkeitsannäherungen im Strafprozess ...........................................
209
1. Grenzen des Könnens bei Wirklichkeitsannäherungen .......................
209
2. Grenzen des Wollens bei Wirklichkeitsannäherungen ........................
211
3. Disponibilität von Wahrheit im Prozess ..............................................
213
Neubewertung getroffener Entscheidungen .............................................
215
1. Wille des Gesetzgebers zur Neubewertung .........................................
215
2. Neubewertung wegen Veränderungen der Wirklichkeit ......................
216
3. Neubewertung wegen Veränderungen in der Beurteilung der Wirklichkeit .................................................................................................
218
4. Verändertes Beurteilungsinteresse als Notwendigkeit der Wahrheitssuche ....................................................................................................
221
5. § 454 StPO als Ausdruck veränderten Beurteilungsinteresses ............
222
6. Sachverständigenbestellung und Beurteilungsinteresse ......................
223
7. Verändertes Beurteilungsinteresse bei Entlassungsprognosen ............
226
8. Einschränkungen der Bindungswirkung bei Persönlichkeitsbeurteilungen ..................................................................................................
227
9. Voraussetzungen einer Neubewertung ................................................
228
VI. Das Problem der Rechtskraft aus erkenntnistheoretischer Sicht .............
229
V.
1. Erkenntnisinteresse als Wahrheitsbedingung ......................................
229
2. Wahrheitsvorstellungen in der Interdisziplinarität ..............................
232
3. Intensität des Erkenntnisinteresses als Wahrheitsbedingung ...............
235
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz ....................................................................
237
I.
Relevanz des Zweifelssatzes für das Leugnungsproblem ........................
237
II.
Ansichten zur Geltung des Zweifelssatzes ..............................................
238
III. Gesetz als Maßstab für die Anwendung des Zweifelssatzes ....................
239
IV. Wertungen im Geltungsbereich des Zweifelssatzes .................................
240
Inhaltsverzeichnis V.
11
Wahrscheinlichkeitsurteile im Geltungsbereich des Zweifelssatzes ........
243
VI. Parallelen von Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit ........
245
VII. Beurteilungsgrundlage, Prognoseergebnis und Prognoseentscheidung ...
247
VIII. Zweifelssatz und Unschuldsvermutung ...................................................
249
D. Tatverleugnung und Grundrechte ....................................................................
250
E.
Tatverleugnung und Individualisierungsgrundsatz ..........................................
253
F.
Tatverleugnung und Strafzwecke .....................................................................
255
I.
Tatverleugnung und positive Spezialprävention .....................................
255
II.
Tatverleugnung und negative Spezialprävention .....................................
258
1. Zusammenhänge von Sicherheit und Tatverleugnung .........................
258
2. Anhaltspunkte für eine Betonung der Sicherheit .................................
260
3. Folgen einer Betonung der Sicherheit .................................................
264
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit ..................................................
268
I.
Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit für das Leugnungsproblem ..........
268
II.
Grundlagen zur Selbstbelastungsfreiheit .................................................
269
III. Nähere Bestimmung der Selbstbelastungsfreiheit ...................................
271
1. Notwendigkeit einer näheren Bestimmung ..........................................
271
2. Nähere Bestimmung von Selbstbelastung und Selbstbezichtigung .....
272
3. Selbstbelastungsfreiheit und Unschuldsvermutung .............................
275
4. Selbstbelastungsfreiheit als Ägutes Recht³ ..........................................
277
5. Prognostische Wertigkeit legitimer Selbstbegünstigung .....................
279
IV. Fazit zu Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit ............................
291
H. Fazit zum Problem der Tatverleugnung im Recht ............................................
291
Zusammenfassung und Ausblick ...............................................................................
297
Literaturverzeichnis ..................................................................................................
300
Personen- und Sachverzeichnis ................................................................................. 320
Einleitung Die Voraussetzungen einer vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug sind in den §§ 57, 57a StGB geregelt.1 Dabei macht § 57 Abs. 1 S. 1 StGB die Aussetzung des letzten Drittels einer zeitigen Freiheitsstrafe von einer entsprechenden Verbüßungszeit (Nr. 1), der Einwilligung des Verurteilten (Nr. 3) und der Frage abhängig, ob die Strafrestaussetzung Äunter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann³ (Nr. 2). Über diese Bedingungen hinaus müssen gem. § 57 Abs. 2 StGB besondere Umstände vorliegen, wenn der Verurteilte schon nach der Hälfte der Haftzeit vorzeitig entlassen werden darf bzw. soll. § 57a StGB schließlich regelt die Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe. Er sieht als Besonderheit gegenüber den Fällen der vorzeitigen Entlassung bei zeitiger Freiheitsstrafe vor, dass eine besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht gebieten darf, wenn lebenslange Haft ausgesetzt werden soll. Insbesondere die ± bei Strafrestaussetzung stets beachtliche2 ± ÄKlausel von der Verantwortbarkeit³3 des § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB macht plausibel, dass dem Verurteilten und seinem Verhalten besondere Beachtung gelten muss, da ihm eine Freilassung Handlungsmöglichkeiten gibt, mit denen ohne jede Fantasie Sicherheitsrisiken verbunden werden können. Zum Verhalten des Verurteilten gehört auch sein Umgang mit der verübten Tat (bzw. den Taten), wobei in der Praxis die Tatverleugnung von großer Bedeutung ist, fällt es vielen Tätern doch schwer, ihre Straftaten zu bekennen4. Für Sexualdelikte beispielsweise gehen Schätzungen davon aus, dass lediglich ein Drittel der deshalb Inhaftierten zu ihren Taten stünden, während die übrigen nur Teilaspekte zugäben, vieles beschönigten oder die Tat ganz leugneten.5 Insbesondere die wesentlichen motivationalen Komponenten der Tat würden ± vor allem bei Kapitaldelikten ± oft
___________ 1
Die Darstellung beschränkt sich auf das allgemeine Strafrecht, § 88 JGG bleibt daher außer Betracht. 2 Die §§ 57 Abs. 2 und 57a StGB verweisen auf § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB. 3 So die Formulierung in Tröndle/Fischer, § 57 Rn. 13. 4 Rehder, ZfStrVo 1999, 153, 154. 5 Schmitt, BewHi 1996, 3, 10.
14
Einleitung
verleugnet oder uminterpretiert6, was sowohl durch demonstrative Hinweise auf die Nicht-Täterschaft als auch durch Verschlossenheit geschehe7. Solchen Verhaltensweisen wird bei Entscheidungen über die vorzeitige Haftentlassung besonderes Gewicht beigemessen8, ohne dass Klarheit darüber besteht, wie mit einer Tatverleugnung umzugehen ist. So geht eine wesentliche Erwartung von Außenstehenden und Experten dahin, dass bei der Straftätertherapie die Tat bearbeitet wird9, was insbesondere bei Verleugnung unmöglich sei10, die zudem eine verlässliche Beurteilung vereiteln könne11. Aus vollzugshistorischer Perspektive überraschen solche Auffassungen nicht, war der Strafvollzug doch stark von religiösen Vorstellungen geprägt12, die Verbrechen als Sünde und den Weg zu einem Neuanfang über Bedauern, Bereuen oder Sühne definierten. ÄMoralische Verbesserung³ der Gefangenen13 unter der alleinigen geistigen Führung der Kirche bildete lange Zeit das Kernstück des Vollzugs und zwang dem Delinquenten schon deshalb eine Auseinandersetzung mit seinen Taten auf14, weil für den Beginn ein Äpsychologisches Verhör³ empfohlen wurde, das unter anderem die ÄMotive und Reizungen zur Beschlie___________ 6
Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161; Rehder, ZfStrVo 1999, 153, 154. Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 159 ff. 8 Siehe dazu Kröber 1995, S. 72 (ders., R & P 1993, 140, 141). 9 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 154; Boetticher 2004, S. 18 f. 10 So OLG Koblenz ± 2 Ws 416/02 v. 27.5.2002, S. 2; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 2 ff.; siehe dazu auch die Untersuchung von Nedopil, Forensia 1986, 167 ff.; Kröber 1995, S. 63 ff. 11 Vgl. OLG Koblenz – 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002, S. 2 ff. Vergleichbares findet sich in einer Entscheidung des OLG Frankfurt (NStZ-RR 1999, 346 f.). Im Verfahren hatte der psychiatrische Sachverständige ausgeführt, dass auf der seelischen Landkarte des Probanden beim Leugnen in einem wesentlichen Areal ein weißer Fleck bleibe. Er schaffe Unsicherheit und stehe deshalb von psychiatrischer Seite der Feststellung entgegen, dass eine Gefahr im Sinne der Entlassungsprognose fehle. Entsprechend heißt es in der Entscheidung, dass durch die Verwehrung jeglicher Einsicht in die tatzeitrelevanten Motive der Einschätzung des Rückfallrisikos die Grundlage entzogen sei (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347). 12 Vgl. Laubenthal 1998, S. 31, 35 ff.; Kaiser/Schöch 2002, S. 18, 23. Schon die Idee der modernen Freiheitsstrafe ist auf religiöse Impulse zurückzuführen (Schmidt 1995, S. 187). Zum Verhältnis von Kirche und Strafvollzug schrieb der Göttinger Pastor Haenell in seinem 1866 erschienen Buch ÄSystem der Gefängnißkunde³ (zitiert bei Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 3) sogar: ÄIn dem Zuchthause muß nicht nur eine Kirche, nein, das Zuchthaus selber soll ein Gotteshaus sein.³ 13 Zum diesem Begriff siehe Krebs 1961, S. 75 f. 14 Vgl. dazu Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 5 f. Er weist auch darauf hin, dass die Persönlichkeitserforschung die Domäne des Seelsorgers war. 7
Einleitung
15
ßung der gesetzeswidrigen Tat³ sowie die ÄGedanken und Empfindungen der Seele vor, bei und nach der That³ zum Gegenstand hatte15. Auch heute noch existiert die Vorstellung, der Übeltäter gehöre Äauf die harte Kirchenbank³16 und gleichzeitig hindert das Schwinden des theologischen Einflusses nicht an der Fortwirkung tradierter Denkmuster, etwa wenn eine ÄGeständnisarbeit³ zum notwendigen Bestandteil einer erfolgreichen Therapie erklärt wird17. Dabei steht die Vorstellung vom Tateingeständnis als Voraussetzung für Einsicht und Besserung durchaus im Einklang mit allgemein menschlichen Erfahrungen, wonach ein Eingeständnis beispielsweise zur Befreiung von Gewissenslasten oder zu Besänftigung und verständnisvoller Zuwendung beitragen kann.18 Auch gilt es als selbstverständlichste Aufgabe des Vollzugs, eine Schuldverarbeitung zu ermöglichen19, was für die Entlassungsentscheidung umso größere Bedeutung hat, als sie nicht auf jeden Gesichtspunkt Bezug nehmen kann, der vor der Verurteilung für ein positives Verbuchen des Tateingeständnisses spricht20 ± beispielsweise weil nach Rechtskraft des Urteils keine Beweisaufnahme zur Tatbegehung mehr durchgeführt wird, auf die sich eine Aussage des Täters positiv auswirken könnte, etwa indem sie dem Opfer eine (möglicherweise traumatische) Befragung als Zeugen erspart21. Andererseits kommen auch nach Verurteilung noch Haltungsänderungen, Umkehr- oder Wiedergutmachungsbestrebungen als Gründe für ein Tateingeständnis in Betracht22, das positiv zu berücksichtigen ist. Dies alles beantwortet allerdings nicht die nach wie vor aktuelle Frage, ob das Tateingeständnis Voraussetzung für eine Ämoralische Besserung³ oder ir___________ 15
Krebs 1961, S. 76. Davon berichtet Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 4. 17 Siehe zu solchen Forderungen Kröber 1995, S. 69. 18 Dazu Kröber 1995, S. 69. 19 Vgl. dazu Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 7. 20 Hier ist eine positive Berücksichtigung im weitesten Sinne gemeint, nicht (allein) die rechtsdogmatisch zulässige. Es geht also um die grundsätzliche Möglichkeit, das Tateingeständnis als positives Anzeichen zu deuten, weshalb beispielsweise dahinstehen kann, ob das Geständnis als Strafzumessungserwägung möglicherweise unzulässig ist, weil es anderenfalls durch Versagen einer Gratifikationsmöglichkeit zur Benachteiligung von schweigenden oder leugnenden Beschuldigten kommt. 21 Siehe zur positiven Berücksichtigung eines Geständnisses im Erkenntnisverfahren BGHSt 43, 195, 210; Enßlin 2003, S. 260 m. w. N.; Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 7; Kröber 1995, S. 69. 22 Siehe zu letzterem auch § 57 Abs. 5 StGB. 16
16
Einleitung
gendeine andere positive Entwicklung ist, die für eine Strafrestaussetzung von Bedeutung sein könnte.23 So begnügt sich mancher mit dem Hinweis, dass ein Leugnen ± auch bei eindeutiger Überführung ± nicht zu einer negativen Beurteilung der Persönlichkeit Anlass gebe24 bzw. allein und für sich nicht ohne weiteres einer positiven Beurteilung entgegenstehe25. In diesem Sinne wies auch das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass es an einem ärztlichen Erfahrungssatz fehle, wonach aus dem Leugnen der Tat auf den Fortbestand der Gefährlichkeit geschlossen werden dürfe.26 Unter nicht näher bestimmten Voraussetzungen wird eine Tatverleugnung dann doch für erheblich gehalten27 oder zur Feststellung von Charaktermängeln28, erheblichen Defiziten der Realitätseinschätzung29, Nichtverarbeitung der Schuld30 oder massiven Bagatellisierungsund Verleugnungstendenzen31 herangezogen. Dabei wird zur Begründung des Umgangs mit der Tatverleugnung auf ganz unterschiedliche Gesichtspunkte abgestellt. So wird mit Wortlaut und Normzweck der einschlägigen Entlassungsvorschriften argumentiert32, ein anderes Mal kommt es allein auf eine so genannte Ägünstige³ Prognose an33. Es ist von taktischen Geständnissen34, der Einsicht in das Unrecht des Tuns35, einer Verarbeitung von Schuld bzw. Geschehen36 und der Korrektur charakterlicher Fehlhaltungen die Rede37. Man mutmaßt über die Ursachen der Delinquenz des Verurteilten38, diskutiert die Auswirkung von Zweifeln an einer günstigen Prognose39 und stellt auf eine Bindung an die rechtskräftigen Feststellungen im Er___________ 23
Vgl. zur Aktualität Böhm, ZfStrVO 1995, 3, 7. OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34; OLG Hamm, StV 1988, 348, 349. 25 OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 346; OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 9 ff. 26 BVerfG, NStZ 1998, 373, 375. 27 OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 9, 10; OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 28 OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34. 29 OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 30 OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 31 OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. 32 OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34. 33 OLG Hamm, StV 1988, 348, 349; OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 u.a. 34 OLG Koblenz ± 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002. 35 OLG Hamm, StV 1997, 92, 92. 36 OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff., OLG Hamm, StV 1997, 92. 37 OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff. 38 BVerfG, NStZ 1998, 373 ff.; OLG Koblenz ± 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002. 39 BVerfG, NStZ 1998, 373; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346 ff. 24
Einleitung
17
kenntnisverfahren ab40. Es geht um ein Lügerecht bzw. die Zulässigkeit von Beeinträchtigungen durch die Verwertung des Leugnens41 und schließlich wird sogar das Terrain der eigenen Wissenschaft verlassen, indem KriminologieLehrbücher und Sachverständige unterschiedlicher Fachrichtungen bemüht werden42. Es scheint also eine Auseinandersetzung mit der Frage lohnenswert, wie sich das Ableugnen der Tat in der Rechtsfolge der §§ 57, 57 a StGB auswirken muss, wie es also in der Entscheidung über die vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug zu berücksichtigen ist. Darum soll es im Folgenden gehen, wobei eine Einschränkung gilt: Die im vorigen Absatz angedeutete Vielfalt der Begründungszusammenhänge offenbart, dass eine Tatverleugnung im Anwendungsraum der §§ 57, 57a StGB auf ganz unterschiedlichen Ebenen diskutiert werden kann. Viel argumentiert wird insbesondere mit so genannten Kriminalprognosen43, das heißt mit Vorhersagen darüber, ob vom Betroffenen die Begehung künftiger rechtswidriger Taten im Sinne des Strafrechts44 zu erwarten sind45. Allein um diese Betrachtungsebene geht es nachfolgend, also um die Frage, welche Auswirkungen ein Ableugnen der Tat auf die Kriminalprognose im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB hat. Erörtert werden soll somit nur, was die Aussage über die Erwartung künftiger Straffälligkeit bei der Entscheidung über die vorzeitige Entlassung betrifft. Wenn in dieser Arbeit von ÄLeugnungsproblem³ oder ÄLeugnungsfrage³ die Rede ist, so meint dies entsprechend nur den Umgang mit der Tatverleugnung im Rahmen der Verhaltensvorhersage. Dabei sind Prognosen ein Alltagsproblem, richtet doch ein jeder das eigene Verhalten täglich an eigenen Erwartungen des Verhaltens anderer aus46. Das gesamte soziale Leben ist auf Verlässlichkeit und Verbindlichkeit aufgebaut und kann im Grunde nur dadurch funktionieren, dass mit einer gewissen Treffer___________ 40
OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346 ff. 42 OLG Hamm, StV 1988, 348 ff., BVerfG, NStZ 1998, 373 ff., OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 u.a. 43 So z.B. BVerfG, NStZ 1998, 373 ff.; OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 9, 10; OLG Koblenz ± 2 Ws 416/02 v. 27.5.2002, S. 2; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 2 ff.; OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28; OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. 44 Vgl. § 11 Nr. 5 StGB. 45 Bock 2000, S. 173. 46 Volckart, R & P 1999, 58, 58. 41
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Einleitung
wahrscheinlichkeit richtige Alltagsprognosen gestellt werden47. Bereits die alltäglichen ÄVertrauensfragen³, zum Beispiel hinsichtlich der Verschwiegenheit über eine intime Angelegenheit oder der Rückerlangung von verliehenem Geld48, erfordern prognostische Erwägungen, ohne dass sich der ÄPrognostiker³ bei deren Bewertung und Entscheidung irgendwelchen rechtlichen Vorgaben unterworfen fühlt. Er wird sie im Gegenteil oft gerade als eigene, persönliche Angelegenheit ansehen, denn es ist beispielsweise seine Sache, ob er auf die Ehrlichkeit eines Anderen vertraut. Solche Alltagsprognosen sind nicht selten auch auf die Abschätzung krimineller Verhaltensweisen gerichtet, zum Beispiel um eigene Gefährdungen, etwa durch betrunkene Mitfahrer in der Straßenbahn49 oder randalierende Fußballfans, abzuwenden bzw. Beeinträchtigungen wie den Verlust von verliehenem Geld zu vermeiden. Voraussagen über künftiges Verhalten sind also in ganz unterschiedlichen, außerrechtlichen Zusammenhängen von hoher Praxisrelevanz, die Prognose über zukünftiges menschliches Verhalten geradezu eine Selbstverständlichkeit im normalen Alltagsverhalten.50 Auch die Einschätzung künftigen Legalverhaltens ist ohne eine Einbindung in juristische Entscheidungen nicht nur möglich, sondern in einer Vielzahl von Situationen außerhalb des Strafverfahrens sogar notwendig. Prognosen können und werden damit grundsätzlich unabhängig von rechtlichen Vorgaben getroffen; im Rahmen der eigenen subjektiven Rechtsstellung können sie frei von jeder Verbindung zum Recht bewertet und berücksichtigt werden. Es gibt also eine eigene (nicht notwendigerweise wissenschaftliche) Beurteilungsgrundlage für die Vorhersage künftigen (Legal-)Verhaltens, die ohne Recht und Gesetz auskommt und deshalb unabhängig davon betrachtet werden kann.51 Dieser außerrechtliche Kern kann auch aus der Prognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB herausgelöst werden, da hier die Vorhersage künftigen Legalverhaltens ebenfalls ohne das Recht auskommt. Selbst wenn es denkbar erscheint, dass in der Prognosenorm das Recht den Prognostiker auf dem Weg zur Wahr___________ 47
Rasch 1994, S. 20. Hier könnte zum Beispiel in Anlehnung an die gesetzliche Formulierung des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB der prognoseorientierte Leitsatz lauten: ÄIch verleihe mein Geld, wenn dies unter Berücksichtigung meines Vermögensinteresses verantwortet werden kann.³ 49 Dieses Beispiel gibt Urbaniok, KR 2003, 169, 170. 50 So auch Urbaniok, KR 2003, 169, 170, der hinzufügt, dass die Voraussagen in aller Regel mit hoher Treffsicherheit erfolgen. 51 Dies bringt beispielsweise das Sprichwort: ÄMüßiggang ist aller Laster Anfang³ zum Ausdruck. Zum außerrechtlichen Anteil von Prognosen siehe auch Feest/Blankenburg 1972. 48
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scheinlichkeitsaussage beeinflusst, sucht er in rechtlichen Vorgaben vergebens nach umfassenden Anleitungen für die prognostische Beurteilung. Es ist sogar die Rede davon, dass Prognosevorschriften in erster Linie als Ädynamische Verweisung³ auf den aktuellen Stand der beteiligten Erfahrungswissenschaften52 zu verstehen sind.53 Dem steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber zuweilen Anweisungen dafür gibt, was nach seiner Einschätzung einen Blick des Prognostikers lohnt54. Diese Vorgaben nämlich erscheinen als Bezug auf eine außerrechtliche Beurteilungsgrundlage und sind sich ihrer Unvollständigkeit offenbar durchaus bewusst, wie die Zusätze Änamentlich³ oder Äinsbesondere³55 in der gesetzlichen Formulierung prognostischer Kriterien dokumentieren56. Es gibt also Vorstellungen über die Vorhersehbarkeit menschlichen (Legal-) verhaltens, die nicht vom Recht bedingt sind. Sie werden durch die Problemstellung einer Wirklichkeitsaussage, nicht durch die Problemstellung einer Rechtsfolge konstituiert. Dass die Kenntnisse hier nicht notwendig gesichert oder gar systematisiert in wissenschaftlichem Sinn sein müssen, offenbaren der Alltagseinsatz von Prognosen und das zweifelsbedingte Unbehagen, das bei diesen Einschätzungen hinsichtlich der Beurteilungsgrundlagen oft zurückbleibt. Es steht aber fest, dass es Prognose außerhalb des Rechts gibt und das Recht darauf Bezug nimmt. Zumindest ein Teil der Kriminalprognose ist also von der Kenntnis des Rechts unabhängig, weil hier nicht allein Juristen zur Ergebnisfindung berufen sind.
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Erfahrungswissenschaft meint in Abgrenzung zu normativen oder dogmatischen Wissenschaften (wie etwa der Jurisprudenz) jene Disziplinen, deren Aussagen sich an der Wirklichkeit bewähren können, das heißt unter dem Vorbehalt einer Erfahrungsprobe stehen. Dies trifft beispielsweise für Psychiatrie, Psychologie oder Kriminologie zu, dazu Göppinger 1997, S. 1; Bock 2000, S. 24. Siehe zur Erfahrung in der Wissenschaft auch Bock 1984, S. 35. 53 Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 54 So sind nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB bei der Entscheidung Änamentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind³. 55 Vgl. zum Beispiel §§ 57 Abs. 1 S. 2 StGB, 454 Abs. 2 S. 2 StPO. 56 Hendrik Schneider (1996, S. 38) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei einem Merkmal wie der ÄPersönlichkeit des Verurteilten³ nicht einfach ein Lebenssachverhalt subsumiert werden kann, weil es den Mitteln der juristischen Hermeneutik nicht zugänglich ist. Eine subsumtionsfähige Ausgestaltung dieser gesetzlichen Voraussetzung verlangt vielmehr, dass eine Persönlichkeitsdiagnostik vorgelagert wird, die mit Hilfe der juristischen Auslegungsmethoden nicht zu bewältigen ist.
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Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die Prognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB mit einer rein erfahrungswissenschaftlichen Betrachtung begnügen kann, sind doch rechtliche Einflüsse bereits auf dem Weg zum Prognoseergebnis denkbar. Strafrechtsdogmatische Grundsätze können beispielsweise die Tatsachengrundlage bestimmen, die für eine prognostische Bewertung zur Verfügung steht, wie dies ja im Zusammenhang mit der Frage nach einer Bindung an rechtskräftige Feststellungen57 bereits angeklungen ist. Rechtliche Vorgaben reichen möglicherweise also bis in die prognostische Tätigkeit hinein und überlagern bzw. bestimmen dann die Vorhersage künftiger Straffälligkeit. Zwar war schon die Rede davon, dass der normative Regelungsgehalt der Prognosevorschriften in erster Linie als Ädynamische Verweisung³ auf den aktuellen Stand der beteiligten Erfahrungswissenschaften verstanden wird58, das Recht macht aber auch inhaltliche Vorgaben, beispielsweise indem § 57 Abs. 1 S. 2 StGB die Berücksichtigung bestimmter Gesichtspunkte ± wie etwa die Persönlichkeit des Verurteilten oder das Verhalten im Vollzug ± verlangt. Daraus resultiert eine Äempirisch-normative Gemengelage³ für die gesetzliche Einbindung des prognostischen Denkvorgangs59, wegen der das Leugnungsproblem ebenfalls Aufmerksamkeit verdient. Es verspricht als Anwendungsfall für Konkurrenzen der beteiligten Wissenschaften, über systemimmanente Probleme aus Perspektive der jeweils anderen Disziplin etwas Neues zu erfahren, rechtsdogmatische Probleme beispielsweise bei erfahrungswissenschaftlicher Ableitung in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Es ist also keineswegs allein die Hoffnung auf Empfehlungen für die prognostische Einzelfallbeurteilung, die eine Auseinandersetzung mit der Tatverleugnung motiviert. Vielmehr steht darüber hinaus unweigerlich die Kriminalprognostik selbst auf dem Prüfstand, denn ihre Aussagemöglichkeiten sind gefragt, wenn die prognostische Wertigkeit einer Tatverleugnung bestimmt werden soll. Zudem geht es um Wahrheit in mehrfachem Sinne: Um nämlich zu wissen, wer die Wahrheit sagt, muss es Gewissheit darüber geben, was die Wahrheit ist. Das Leugnungsproblem betrifft also auch die Autorität von prognostischen und prozessualen Wahrheitsvorstellungen und kann somit nicht an der Grenzfläche von Rechts- und Erfahrungswissenschaft verbleiben, sondern
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OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 59 So eine Formulierung von Jähnke zu den Aufgaben des Sachverständigen im Rahmen der Entscheidung über die Voraussetzungen des § 20 StGB (LK-Jähnke, § 20 Rn. 90), die sich auf die Situation des Kriminalprognostikers übertragen lässt. Siehe auch Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 58
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muss in beide Wissenssysteme hinein führen. Dabei lässt der notwendige Ausgleich zwischen intersubjektiven und interdisziplinären Wahrheitskonkurrenzen insbesondere Einblicke in die Festschreibung von Wirklichkeitsvorstellungen im Strafprozess erwarten.
Kapitel 1
Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung A. Anknüpfung an Kriminalprognosen Da es im Folgenden um das Ableugnen der Tat in der Entlassungsprognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB gehen soll, ist zuallererst ein Nachweis darüber geschuldet, dass Prognosen überhaupt Teil der Entscheidung über die vorzeitige Entlassung aus der Strafhaft sind. Dieser Nachweis lässt sich bereits mit dem Gesetzeswortlaut des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB (Äverantwortet³) führen: Verantwortung ist Sorge um einen möglichst günstigen Verlauf verbunden mit der Pflicht zur Abwehr von Beeinträchtigungen.1 Hier sollen Beeinträchtigungen durch die Entlassung, also durch das Verhalten des Entlassenen in Freiheit, vermieden werden. Es erscheint also notwendig, dieses ± im Zeitpunkt der Entscheidung zukünftige ± Verhalten vorausschauend zu beurteilen. Eine solche Beurteilung wiederum kann als Voraussage einer künftigen Entwicklung bzw. eines voraussichtlichen Verlaufs gedeutet werden, was allgemein die ÄPrognose³ kennzeichnet. Dieser Begriff stammt aus dem klinischmedizinischen Denken und meint hier die Vorausschau eines körperlich kausal verlaufenden Krankheitsprozesses2. Verallgemeinert kann von Prognosen als Vorhersage zukünftiger Ereignisse aufgrund von Daten über vergangene und gegenwärtige Zustände gesprochen werden.3 § 57 StGB geht es allerdings nicht um jedes, sondern nur um ein solches Verhalten, welches das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit beeinträchtigt, und das meint hier die Straffälligkeit.4 Die Formulierung des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB fordert damit die Vorhersa___________ 1
Duden 1999, S. 4178 f. Leferenz, ZStW 68 (1956), 233, 237. 3 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 67. 4 Dafür spricht auch § 454 Abs. 2 S. 2 StPO, der sich über die Betrachtungsgegenstände eines Gutachtens zur Frage einer bedingten Strafaussetzung und damit zum (prognostischen) Erkenntnisinteresse der §§ 57, 57a StGB äußert. Dass § 454 Abs. 2 StPO auf eine ÄGefahr der Gefährlichkeit³ und damit eine Gefahr-Verdoppelung abstellt, wird sprachlich und gedanklich als wenig überzeugend angesehen, vgl. Kröber, NStZ 1999, 593, 594. 2
A. Anknüpfung an Kriminalprognosen
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ge, ob vom Betroffenen die Begehung künftiger rechtswidriger Taten im Sinn des Strafrechts zu erwarten ist, also eine Einschätzung der künftigen kriminellen Gefährdung. Genau das ist unter dem Begriff der Kriminalprognose zu verstehen5, der den Bewertungsvorgang und das ± auch als Prognoseergebnis bezeichnete ± Bewertungsergebnis umfasst6. Ein Blick auf die Fülle von Publikationen zur Kriminalprognostik7 offenbart, dass solche Voraussagen mit Schwierigkeiten behaftet sind. Ihre Bewältigungsversuche haben bereits zu einer gewissen Resignation8 bis hin zu der Ansicht geführt, der Gesetzgeber verlange etwas Unmögliches9. Vom Gesetz ist hier zudem wenig Hilfe zu erwarten, weil die gesetzlichen Umschreibungen der Kriminalprognose sehr vielfältig sind und die notwendigen Differenzierungen unvollkommen oder überhaupt nicht zum Ausdruck bringen10. So wird der Wunsch verständlich, die weitreichenden und rechtseingreifenden Entscheidungen nach den §§ 57, 57a StGB nicht auf das brüchige Fundament einer Verhal-
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Bock 2000, S. 173. Das Strafgesetz stellt bei einer solchen Zukunftsvoraussage auf künftiges strafrechtlich relevantes Verhalten und nicht etwa darauf ab, ob der Betroffene sich fortan im weiteren Sinn sozial oder legal verhalten wird, also z. B. seinen Arbeits- oder Zahlungspflichten nachkommt. Kriminalprognose als besondere Form der Prognose, das heißt der Vorhersage eines künftigen Umstands, darf also im Zusammenhang mit den strafrechtlichen Prognosenormen nicht mit Sozialprognose oder Legalprognose gleichgesetzt werden (Volckart 1997, S. 1; Urbaniok, KR 2003, 169, 169). 7 Simon fragt sich beispielsweise mit Blick auf die Zahl veröffentlichten Arbeiten, ob zu diesem Thema nicht alles bereits gesagt und geschrieben wurde, Simons, ZfStrVo 2002, 273, 273. 8 In den Augen vieler Gefangener beispielsweise gleicht Prognosebegutachtung einer Lotterie, bei der Glück oder Pech über das Ergebnis entscheiden. Eine vollständige und wahrheitsgemäße Erkenntnisgewinnung wird dem Prognostiker jedenfalls nicht zugetraut, was auch mancher Experte so sieht (dazu Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 259). So kam es in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer massiven Kritik an der damaligen Prognosepraxis, die bis zu der sarkastischen Frage ging, ob es aus wissenschaftlicher Sicht nicht angemessener (und sparsamer) sei, bei kriminalrechtlichen Prognoseentscheidungen Münzen zu werfen oder zu würfeln (Egg 2002, S. 310 m. w. N.). Es wurden Thesen über die prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit menschlichen Handelns vertreten und die Qualität jeglicher Form von Kriminalprognose bezweifelt (z.B. Hinz, R & P 1986, 122, 126 f.). Kröber vermutet in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Zweifel einen Teil ihrer Plausibilität durch die Vermengung von gruppen- und individualprognostischen Aussagemöglichkeiten erhielten (Kröber 1995, S. 65). 9 Vgl. dazu Volckart 1997, S. 58. 10 Volckart 1997, S. 60. 6
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Kap. 1: Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung
tensvorhersage zu stellen11, ohne dass bisher allerdings der Verzicht darauf überzeugend begründet werden konnte12. Am prognostischen Gehalt des § 57 Abs. 1 S. 2 StGB ändert es beispielsweise nichts, wenn in ihm nicht die Aufforderung zur Beurteilung künftiger Straffälligkeit, sondern zur interessenorientierten Bewertung gegenwärtiger Risiken durch den Täter gesehen wird13. Auch eine solche Risikobewertung14 kommt bei näherem Hinsehen nicht ohne die Notwendigkeit einer Zukunftsbetrachtung aus, denn bereits begrifflich kalkuliert ein Risiko mit künftigen Möglichkeiten. Ihm ist stets eine Vorausschau immanent, weil ein Sachverhalt nur dann das gegenwärtige Risiko eines Umstands in sich birgt, wenn der fragliche Umstand in Zukunft auch tatsächlich eintreten kann. Was als Bewertung eines Risikosachverhalts bezeichnet wird, ist eine prognostische Schlussfolgerung auf Grundlage von Erfahrungssätzen und damit die Zuordnung des Probanden zu einer Risikomenge.15 So ist es zwar sinnvoll, im Einzelfall die Risikofaktoren künftiger Delinquenz aufzuzeigen16, eine Zukunftsbetrachtung vermeidet dies jedoch nicht17. ___________ 11 Vgl. z. B. Hendrik Schneider 1996, S. 29 ff. Inzwischen ist die Phase prinzipieller Skepsis der Einschätzung gewichen, dass mit einer gewissen Irrtumsbreite kriminelle Rückfälligkeit prognostiziert werden kann (Endres, ZfStrVo 2000, 67, 67). Rationale und auch wissenschaftlich untermauerte individuelle Prognosen werden für durchaus möglich gehalten (Dahle 2000, S. 108). Allerdings sind Schwierigkeiten der Verhaltensvorhersage auch heute noch innerhalb der internationalen Kriminologie anerkannt (Rasch, NStZ 1993, 509, 510), wobei bereits die Vielfalt der Prognosemethoden als Ausdruck von Unsicherheiten angesehen werden kann. 12 Die radikalste Forderung nach Abschaffung der Prognoseregelungen ± etwa mit dem Argument, der Gesetzgeber verlange etwas Unmögliches (dazu Volckart 1997, S. 58) ± bleibt im Folgenden unberücksichtigt, weil die Betrachtung von der gegenwärtigen Rechtslage ausgeht. 13 So der Vorschlag von Frisch (1994, S. 75 und 76). Vergleichbares formuliert auch Wolf (1994, S. 177, 181) für das Jugendstrafrecht: Er lehnt hier die Notwendigkeit von Prognosen mit dem Argument ab, das Erfordernis einer bestimmten Maßnahme gründe auf den gegenwärtigen Anordnungsvoraussetzungen, nicht auf einer Beurteilung zukünftigen Handelns. Auch Dittmann (2000, S. 68 ff.) hält es für vorzugswürdig, von ÄRisikokalkulation³ statt von ÄPrognose³ zu sprechen, weil lediglich die Erstellung von Risikoprofilen und darauf basierenden Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftiges menschlichen Verhalten möglich sei. 14 Vgl. Frisch 1994,S. 100, 101; Dahle 2000, S. 83. 15 Siehe auch Volckart 1997, S. 59. 16 Dazu Urbaniok, KR 2003, 169, 172; Nedopil 1992, S. 60. 17 Auch wenn die Einschätzung künftiger Entwicklungen nicht vollständig entbehrlich ist, lässt ein anderer Vorschlag an einen weitgehenden Verzicht denken: Frisch geht
B. Beschränkung auf den Zusammenhang mit Kriminalprognosen
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B. Beschränkung auf den Zusammenhang mit Kriminalprognosen Kriminalprognosen sind also Voraussetzung der Entscheidung nach den §§ 57, 57a StGB. Nur in ihrem Rahmen wird das Problem der Tatverleugnung im Folgenden erörtert, was weitere Bewertungsebenen unberücksichtigt lässt, über die ein Ableugnen der Tat möglicherweise ebenfalls in die Rechtsfolge der §§ 57, 57a StGB einfließt. Solche außerprognostischen Einflussmöglichkeiten eines Ableugnens sind allerdings noch genauer zu bestimmen, um den Gegenstand dessen abzugrenzen, was in dieser Arbeit als ÄLeugnungsproblem³ oder ÄLeugnungsfrage³ bezeichnet wird. Ganz offensichtlich folgt aus Kriminalprognosen allein noch keine Rechtsfolge. Die Frage nämlich, ob eine Entlassung Äunter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann³ beantwortet sich nicht mit einer bestimmten Erwartung künftiger Straffälligkeit. Vielmehr ist eine ÄÜbersetzungsarbeit³ notwendig, was auch Begriffe bezeugen, mit denen die Rechtsprechung in der Auseinandersetzung mit der Tatverleugnung operiert. Wenn von Ägünstigen³18 oder Äneutralen³19 Prognosen die Rede ist, wird nicht ohne weiteres deutlich, was an der Voraussage einer künftigen Entwicklung günstig oder neutral sein soll, ist eine solche Voraussage doch zunächst einmal nur die Feststellung, dass ein bestimmtes Ereignis ± hier die Begehung von Straftaten durch den Verurteilten ± mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwartet wird. Erst der Bezug der Voraussage auf die Formulierung des Gesetzes macht ihre zusätzliche Kennzeichnung als neutral oder günstig nachvollziehbar: Ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten des Verurteilten so gering, dass die Entlassung Äunter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann³, dann liegt eine günstige Prognose vor. Übersteigt die Wahrscheinlichkeit das Maß des Verantwortbaren, dann ist ___________ für die Strafrechtsnormen mit Prognosebezug davon aus, dass hier im Sinne eines Regel-Ausnahmeverhältnisses gewöhnlich nur zwei Alternativen als Rechtsfolgen in Betracht kämen. Bei teleologischer Auslegung könne das sog. Mittelfeld der unsicheren bzw. fraglichen Fälle daher einer der beiden Alternativen zugeordnet werden, was Prognosen nur noch für leicht erkennbare Extremfälle erforderlich mache. Ob ein solcher Äeindeutiger³ Fall vorliegt, zeigt jedoch oft gerade erst die Prognose, so dass auch auf diese Weise kein Verzicht auf Verhaltensvorhersagen erreichbar ist (vgl. dazu Bock 1995, S. 23 f.). Zudem greift die Beschränkung auf zwei Rechtsfolgenalternativen zu kurz, weil beispielsweise auch Weisungen und Auflagen in der Bewährungszeit in Rede stehen. 18 OLG Hamm, StV 1988, 348 ff. 19 OLG Saarbrücken, NJW 1999, 438.
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Kap. 1: Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung
sie ungünstig.20 Zunächst wird also eine kriminalprognostische Aussage auf der Grundlage von Tatsachen getroffen, die durch eine Beweisaufnahme gewonnen wurden.21 Anschließend erfolgt die Beurteilung, ob das Prognoseergebnis den Anforderungen des Gesetzes genügt oder nicht22. Diese Beurteilung wird von rechtlichen Kriterien bestimmt23 und im Folgenden als Prognoseentscheidung bezeichnet24. Weil es in dieser Arbeit allein um den Zusammenhang von Tatverleugnung und Kriminalprognose geht, beschränken sich die Überlegungen auf den prognostischen Beurteilungsvorgang bis zum Erzielen eines Prognoseergebnisses. Der Umgang mit diesem Prognoseergebnis bzw. nachfolgende Wertungsebenen ± also etwa die Prognoseentscheidung ± bleiben ebenso außer Betracht, wie weitere normative Eintrittsstellen, durch die eine Tatverleugnung möglicherweise in die Rechtsfolgenentscheidung gelangt. So erfordert die Entlassung nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe gem. § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB das Vorliegen besonderer Umstände, die sich aus einer Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergeben müssen.25 Im Rahmen einer solchen Gesamtwürdigung erscheint es durchaus denkbar, dass eine Tatverleugnung ± etwa als persönlichkeitsimmanenter Ausdruck bestimmter Fehlhaltungen ± einen Einfluss ausübt, der an die Entscheidung über die Halbstrafenentlassung weitergegeben wird. Auch die Vorgabe des § 57 a Abs. 1 S. 2 StGB, dass die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung nicht gebieten darf, enthält einen Beurteilungsspielraum26, der grundsätzlich den Einfluss des Ableugnens über die Berücksichtigung weiterer, nicht ausdrücklich normierter rechtlicher Vorgaben denkbar erscheinen lässt. Auch kann der Umgang mit der Tatverleugnung eine interdisziplinäre Aufgabe sein, wenn nämlich bei der Entlassungsentscheidung ein Experte hinzugezogen wird, der kein Jurist ist. Hier tritt neben die Rechtswissenschaft eine weitere Disziplin, deren Wissensbestand auf dem Beurteilungsweg angefordert und damit aus dem Blickwinkel eines Juristen als fremdes Wissen einbezogen ___________ 20
Volckart 1997, S. 50 ff., Hendrik Schneider 1996, S. 25. Volckart, R & P 2002, 105, 106. 22 Volckart, R & P 1998, 3, 6; Neubacher NStZ 2001, 449, 450. 23 Volckart, R & P 1999, 58, 62. 24 Der Unterschied zwischen prognostischer Wahrscheinlichkeitsaussage und deren juristischer Bewertung ist zuerst von Frisch aufgedeckt worden und inzwischen als vorherrschende Sicht anerkannt (Volckart, R & P 2002, 105, 109 ff.). 25 Tröndle/Fischer, § 57 Rn. 28 ff. 26 Vgl. dazu Müller-Dietz, StV 1983, 162, 163. 21
C. Das Untersuchungsprogramm für das Leugnungsproblem
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wird27. Diese Interdisziplinarität wirft spezifische Fragen auf, etwa im Hinblick auf die Verfahrensrolle des Sachverständigen28 oder den Umgang mit dem gutachterlichen Votum29, so dass hier eine eigenständige Problemebene sichtbar wird. Auch sie wird im Folgenden nur betreten, soweit dies für den Umgang mit der Tatverleugnung in der Kriminalprognose von Bedeutung ist.
C. Das Untersuchungsprogramm für das Leugnungsproblem Mit dem Ausblenden der außerprognostischen Umstände ergibt sich folgendes Untersuchungsprogramm für das Leugnungsproblem: Aus der Kriminalprognose kann ein erfahrungswissenschaftlicher Anteil isoliert werden, was hinsichtlich des Leugnungsproblems eine Unterscheidung zwischen strafrechtsdogmatischer und kriminologisch-empirischer Problematik eigener Art rechtfertigt.30 Es kann eigenständig untersucht werden, ob die Tatverleugnung allein über die erfahrungswissenschaftliche Kriminalprognose Auswirkung in der Rechtsfolge der §§ 57, 57a StGB hat, was von vornherein nur über eine so genannte negative Prognose denkbar erscheint. Nur bei einer solchen genügt die Rückfallwahrscheinlichkeit den Voraussetzungen der Prognosenorm für eine Entlassung nicht, das Pendant der so genannten positiven Kriminalprognose ist ja gerade Voraussetzung einer Entlassung und wird daher dieser Rechtsfolge nicht entgegenstehen. Es erscheint also eine Auseinandersetzung mit der Frage sinnvoll, ob ein Ableugnen nach den Maßstäben der Erfahrungswissenschaft zu einer negativen Prognose führen muss. Hier liegt der erste Prüfstein für Beweisgründe des Leugnungsproblems: Stehen zum Beispiel die Einsicht in das Unrecht31, die Verarbeitung von Schuld32, die Korrektur charakterlicher Fehlhaltungen33, die Tatentstehung34, das Vorhandensein von Bagatellisierungs- und Verleugnungs___________ 27
Deshalb wird im Folgenden auch von Fremdwissenschaft in Abgrenzung zur Rechtswissenschaft gesprochen. 28 So beziehen Entscheidungen zum Umgang mit der Tatverleugnung zur Befugnis des Sachverständigen Stellung, eigenständige Tatsachenfeststellungen zu treffen (OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 4) oder vorangegangene Gutachten zu bewerten (OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 5). 29 Vgl. OLG Saarbrücken, NJW 1999, 438, 438; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. 30 Vgl. dazu Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 339. 31 OLG Hamm, StV 1997, 92, 92. 32 OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff., OLG Hamm, StV 1997, 92. 33 OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff. 34 BVerfG, NStZ 1998, 373 ff.; OLG Koblenz ± 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002.
Kap. 1: Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung
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tendenzen35 oder die Mitwirkung an der Tataufarbeitung36 über das Ableugnen der Tat in einem Zusammenhang mit dem erfahrungswissenschaftlichen Prognoseergebnis? Hindert ein taktisches Geständnis eine positive Kriminalprognose? Ist das Ableugnen Beweis ± nicht Indiz ± fehlender Unrechtseinsicht und diese wiederum zwingendes Hindernis einer positiven Prognose? Solche und ähnliche Fragen stellen sich für die Fülle der vorgetragenen und denkbaren Einzelkriterien. Sie sind daraufhin zu untersuchen, ob sie vom Ableugnen beeinflusst sind und ihrerseits zu einer negativen erfahrungswissenschaftlichen Prognose führen. Von Interesse ist damit zunächst die Anwendung des vorhandenen Fachwissens über die Prognose-Erstellung ohne eine Berücksichtigung rechtlicher Bindungen, also unter Ausschluss Ärechtlicher Verunreinigungen³ in erfahrungswissenschaftlicher Sterilität. Nun werden die prognostischen Bewertungen in der normativ eingebundenen Prognose möglicherweise nicht allein von erfahrungswissenschaftlichen, sondern auch von rechtlichen Vorgaben bestimmt. Es erscheint denkbar, dass bestimmte Gesichtspunkte ± etwa die Bindung an rechtskräftige Feststellungen37 oder die Auswirkung von Zweifeln38 ± auch den Gang der Kriminalprognose selbst mitbestimmen. Bei Einbindung der Kriminalprognose in die Prognosenorm spielen eventuell also Umstände in die Prognoseerstellung selbst hinein, die nicht zum empirisch-kriminologischen Denkvorgang gehören, diesen aber ebenso wie das Prognoseergebnis mitbestimmen. Nach isolierter Betrachtung des Ableugnens in der erfahrungswissenschaftlichen Prognose ist daher auch eine Analyse der Tatverleugnung in der normativ eingebundenen Prognose geboten. Das Ableugnen ist damit einerseits ein Problem der erfahrungswissenschaftlichen Kriminalprognose, andererseits wird es bei Einbindung der Prognose in Prognosenormen zum Problem für weitere rechtliche Vorgaben der Rechtsfolgenentscheidung. Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die Tatverleugnung als erfahrungswissenschaftliches und rechtliches Problem zu untersuchen ist. Dies soll nun in der Folge geschehen.
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OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346 ff. OLG Koblenz ± 2 Ws 416/02 v. 27.5.2002. 37 OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. 38 BVerfG, NStZ 1998, 373; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346 ff. 36
Kapitel 2
Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft A. Methodische Vorgaben zum Umgang mit der Tatverleugnung I. Ausgangspunkt Aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine Auseinandersetzung mit der Tat für die Prognose hat, was weitere Folgefragen bedingt, etwa wie der Gefangene mit seiner Tat umgehen muss, damit eine günstige Prognose anzunehmen ist oder wie eine fehlende oder mangelhafte Auseinandersetzung aussieht1. Hoffnungen auf schnelle Antworten macht dabei der Blick auf den Stand der Prognoseforschung rasch zunichte: Statt einer einheitlichen, anerkannten Prognosemethode gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten der Prognoseerstellung2, was zwar nicht zwingend eine allgemeingültige Bestimmung der methodischen Grundlagen einer Prognoseerstellung, jedoch eine Auseinandersetzung mit den gängigen Prognosemethoden im Hinblick darauf notwendig macht, ob im Umgang mit dem leugnenden Täter Unterschiede bestehen. Sollten Methoden selbst allerdings die prognostische Wertigkeit einer Tatverleugnung bestimmen, bliebe dem Leugnungsproblem der Umweg über weitere Einzelheiten der Prognoseerstellung erspart, womit der formale Ablauf des prognostischen Denkvorgangs in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Was aber sind die gängigen Prognosemethoden? Der Streit beginnt bereits bei der Einteilung der vorhandenen Prognosearten: Während die einen nach dem Charakter der Regeln für die Voraussage des künftigen Verhaltens zwischen statistischen, klinischen und intuitiven Prognosen unterscheiden3, hält mancher diese Einteilung nur bei älteren Prognosemethoden für richtig und ___________ 1
Kröber 1995, S. 72 ff. Dabei konstatiert Volckart (StV 2001, 27, 28), dass die Auseinandersetzung um Grundlagen und Methode der prognostischen Begutachtung zunehmend an Bedeutung gewinnt. 3 Bock 2000, S. 174; Platz, StV 1996, 234, 234; Rasch 1994, S. 22 ff.; Dahle 2000, S. 84; Endres, ZfStrVo 2000, 67 ff. 2
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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sieht in der so genannten kriteriengeleiteten Beurteilung und dem ÄActuarial Risk-Assessment³ die Verfahrensarten mit aktueller Relevanz4. Andere wiederum verweigern der Unterteilung in statistische, klinische und intuitive Prognosen ganz ihre Gefolgschaft und begründen dies damit, dass alle rationalen Kriminalprognosen auf dem gleichen logischen Schluss beruhten, die Vorstellung miteinander konkurrierender Methoden der Kriminalprognose daher nur in einem sehr eingeschränkten Sinn gelte.5 Dieser eingeschränkte Sinn soll allerdings genügen, die in Rede stehende Methodentrias als didaktisches Geländer auf dem Weg durch die Prognosearten zu nutzen. Für das Leugnungsproblem werden daher im Folgenden intuitive, statistische sowie klinische Prognosen zusammengefasst und auf die Frage hin untersucht, ob das Ableugnen der Tat hier bereits aus methodischen Gründen unmittelbare Auswirkungen auf das Prognoseergebnis hat. II. Statistische Prognosen Ausgangspunkt der statistischen Prognosen ist die Vorstellung, dass bestimmte Umstände statistisch mit Straffälligkeit korrelierten und der Nachweis dieser Umstände beim Probanden auch bei ihm die Erwartung zukünftiger Delinquenz rechtfertige.6 Statistische Verfahren beruhen üblicherweise auf Verlaufsstudien, die ausgewählte Lebenslauf- und Persönlichkeitsmerkmale von Rückfälligen und Nichtrückfälligen vergleichen.7 Auf empirisch-statistischem Wege werden so Faktoren herausgearbeitet, die eine Unterscheidung zwischen (Rückfall-)Gefährdeten und Nicht-Gefährdeten ermöglichen sollen. Die Ergebnisse fließen in ein ÄGut- oder Schlechtpunkt-System³ ein, das im Einzelfall an___________ 4
Urbaniok, KR 2003, 169, 169. Volckart 1997, S. 3. Der Dreiteilung der Prognosearten in statistisch, intuitiv und klinisch wird von Thalmann (ZfStrVo 2002, 259, 261) sogar vorgehalten, bedeutsame Unterschiede bei der aktuellen Machart von Prognosen zu verdecken. Thalmann schlägt alternativ eine ebenfalls triadische Einteilung der unterschiedlichen Ansätze in kriteriologisch, fokussierend und explanativ vor. Ein kriteriologisches Vorgehen sei dabei im Wesentlichen durch das systematische Abarbeiten explizit vorgegebener Kriterienkataloge gekennzeichnet, während bei der fokussierenden Methode eine zunächst breit erhobene Beurteilungsgrundlage durch Hervorhebung einzelner Beurteilungsdimensionen (wie etwa Substanzproblematik, Persönlichkeitsstörung oder Paraphilie) reduziert werde. Beim explanativen Arbeiten schließlich stehe die Erklärung für die Straffälligkeit des Probanden in ihrer speziellen Erscheinungsform im Mittelpunkt, wofür insbesondere das Konzept von Dahle (2000, S. 98 ff.) ein Beispiel gebe, das die Erarbeitung einer Äindividuellen Handlungstheorie der Delinquenz´ einer Person bzw. der Äindividuellen Delinquenztheorie“ vorsieht, siehe Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261 ff. 6 Bock 2000, S. 174. 7 Platz, StV 1996, 234, 234 ff. 5
A. Methodische Vorgaben zum Umgang mit der Tatverleugnung
31
hand eines bestimmten Punktwertes eine Aussage über das jeweilige Gefährdungsrisiko versucht.8 Üblicherweise wird heute dabei die Anzahl der berücksichtigten Merkmale gering gehalten; sie reicht von vier bis zu höchstens 20 jener Variablen, die sich in der zugrunde liegenden Untersuchung als brauchbarste Prädiktoren des Rückfalls erwiesen haben9. Die Begrenzung der Variablen macht oft eine Faktorenreduktion notwendig, bei der einzelne Merkmale zu abstrakten, übergeordneten Prognosekriterien zusammengefasst werden.10 Eine zusätzliche Gewichtung von Merkmalen mit Hilfe von Punktzahlen führte zur Entwicklung von Merkmalstafeln, die das wesentliche prognoserelevante Erfahrungswissen zusammenfassen sollen. Statistische Prognosen gibt es also nicht nur als schlichte Addition kriminorelevanter Einflussfaktoren, sondern auch mit einer zusätzlichen Gewichtung der Merkmale oder der qualitativen Erfassung von Merkmalsausprägungen in den ursprünglichen Probandengruppen. Am weitesten geht die so genannte Strukturprognose, die das Maß der kriminellen Gefährdung zu erfassen sucht, indem ± ausgehend vom statistisch trennkräftigsten Merkmal ± Untergruppen mit abgestuftem Gefährdungsgrad gebildet werden.11 Die Urteilsbildung erfolgt durch einen fest vorgegebenen Algorithmus, der jeder Kombination von Merkmalsausprägungen eine bestimmte Rückfallwahrscheinlichkeit zuordnet. Verallgemeinerte Zusammenhänge werden also durch logische Ableitung im Sinne eines prognostischen Syllogismus auf den Einzelfall angewendet. Das Vorgehen ist nomothetisch und deduktiv, indem das Individuum einer Gruppe zugeordnet wird, deren Rückfallquote bekannt ist, wobei diese Quote als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird12. Es ergibt sich eine vollständig durch Regeln geleitete Vorgehensweise, welche die Auswahl der benötigten Informationen ebenso vorgibt wie die Erhebungsmethode und den Modus der Datenverknüpfung zu einem prognostischen Urteil. Theorien finden umgekehrt zunächst keinen Platz, weil nicht nach den Hintergründen, sondern allein nach der Ausprägung eines statistischen Zusammenhangs mit Rückfälligkeit gefragt wird. Erst die Zusammenfassung von Einzelmerkmalen zu abstrakten, übergeordneten Faktoren macht eine Suche nach Zusammenhängen notwendig.13 ___________ 8
Egg 2002, S. 311. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 10 Dahle 2000, S. 87 ff. 11 Bock 2000, S. 174. 12 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 13 Dahle 2000, S. 87 ff. 9
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
32
Die Entwicklung der statistischen Methode wurde nachhaltig durch die umfangreichen Arbeiten des amerikanischen Ehepaars Glueck14 beeinflusst. Sie entwickelten Prognosetafeln, die eine Einschätzung des Rückfallrisikos im Einzelfall ermöglichen sollten, heute allerdings ebenso wenig noch verwendet werden, wie die zahlreichen Prognosetafeln, die in der älteren Literatur vorgestellt wurden15. Ohnehin ist eine rein statistische Prognose derzeit in der deutschen Strafrechtspflege völlig ungebräuchlich16, was nicht nur dem weitgehenden Theorienverzicht, sondern auch methodischen und dogmatischen Gründen geschuldet ist. So wird kritisiert, dass das inhaltliche Verständnis des Rückfallgeschehens wie der Straffälligkeit insgesamt durch ein solches Vorgehen wenig vorangebracht werde.17 Mit der Feststellung einer Zugehörigkeit zu statistischen Gruppen mit bestimmter Rückfallwahrscheinlichkeit sei zudem kaum etwas für die konkrete Beurteilung im Einzelfall gewonnen18; überdies sei eine mathematisch formulierte Wahrscheinlichkeitsaussage mit dem strafrechtlichen Konzept der Willensfreiheit nicht vereinbar19. Auch wenn also ein rein statistisches Vorgehen heute nicht mehr üblich ist, sind statistische Elemente nicht vollständig aus der Prognosepraxis verbannt. Insbesondere wurden in jüngster Zeit in Nordamerika auf der Basis neuerer Forschung Prognoseverfahren mit statistischen Elementen entwickelt, von denen einige mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegen20. Statistische Anteile sind insofern von Bedeutung, als ein in ihrem Sinne verwertetes Prognosekriterium den prognostischen Beurteilungsvorgang steuert. Dem Prognostiker obliegt beim statistischen Vorgehen der Nachweis bestimmter Gegebenheiten, um daraus die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit abzuleiten.21 Ist das Ableugnen eine solche prognoserelevante Gegebenheit, bestimmt es beim Vorgehen nach der statistischen Methode das Prognoseergebnis. Die Tatverleugnung muss sich hier zwingend im Prognoseergebnis auswirken, wenn es als
___________ 14
Glueck/Glueck 1950. Vgl. zum Beispiel Hans Joachim Schneider 1967, S. 431 ff.; ders. 1983, S. 222 ff.; Bereits 1935 wurde in Deutschland ein Prognosenverfahren mit insgesamt 21 Anhaltspunkten erarbeitet, die ihrerseits den sechs Hauptgruppen Abstammung, Lebensgang, Kriminalität, Persönlichkeit, Verhalten in der Anstalt und Verhältnisse bei der Entlassung zugeordnet waren, vgl. Leferenz, ZStW 68, 233, 235. 16 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 17 So Egg 2002, S. 311 zu den Glueckschen Prognosetafeln. 18 Göppinger 1997, S. 199 f.; Platz, StV 1996, 234, 234 ff. 19 Egg 2002, S. 312. 20 Siehe dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 21 Volckart 1997, S. 6 ff. 15
A. Methodische Vorgaben zum Umgang mit der Tatverleugnung
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prognoserelevantes Einzelmerkmal in das ÄGut- oder Schlechtpunkt-System³ aufgenommen wurde. III. Intuitive Prognosen Das genaue Gegenteil des statistischen Ansatzes ist in gewisser Weise das intuitive Vorgehen . Hier werden Voraussagen aus einem unsystematisch erlangten Eindruck von der Persönlichkeit des Probanden abgeleitet.22 Die intuitive Prognose verzichtet formal auf Regeln zur Leitung des diagnostischen Vorgehens ebenso wie auf Theorien und empirische Erfahrung, die den Beurteilungsprozess steuern. Hauptbezug soll das betrachtete Individuum mit seinen spezifischen Gegebenheiten sein23, Ergebnis ein nicht näher explizierter Eindruck24. Entsprechend wird auch von einer gefühlsmäßigen Erfassung der zu beurteilenden Persönlichkeit gesprochen25, was allerdings eine Unabhängigkeit von Fachkenntnissen nahe legt, die in der Praxis so nicht vorkommt. Auch bei formellem Verzicht auf wissenschaftliche Kriterien nämlich gehen Spezialkenntnisse, Menschenkenntnis, individuelle Werthaltungen und vor allem Erfahrung in die Beurteilung ein.26 Solche Determinanten bilden eine Entscheidungsgrundlage, die Kaiser als Äcommon sense³ oder Ägeronnene Erfahrung³ bezeichnet27. Nomologisches Wissen oder Erfahrungsregeln finden also Berücksichtigung, allerdings nicht überprüft oder expliziert. Auch wenn Intuition folglich nicht ganz zufällig erfolgt28, fehlen verbindliche Vorgaben und damit methodische Anweisungen für das Prognoseergebnis. Explizite Bezugnahmen auf Regeln, theoretische oder empirische Konzepte gibt es nicht29, was es bereits fragwürdig erscheinen lässt, hier überhaupt von einer ÄMethode³ zu sprechen30. Für das Leugnungsproblem jedenfalls steht fest, dass es bei einem intuitiven Vorgehen grundsätzlich keine verbindlichen Vorgaben und damit auch keine für einen bestimmten Umgang mit dem Ableugnen gibt. Hier ist also alles möglich: Die subjektive Statistik des Prognostikers kann be___________ 22
Volckart 1997, S. 7. Dahle 2000, S. 88. 24 Egg 2002, S. 310. 25 Schaffstein/Beulke 2002, S. 95. 26 Rasch 1994, S. 20; Platz, StV 1996, 234, 234. 27 Kaiser 1996, S. 961. 28 Vgl. dazu Platz, StV 1996, 234, 234. 29 Dahle 2000, S. 85. 30 Vgl. dazu Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274; Volckart, R & P 1999, 58, 62; Volckart 1997, S. 7 ff.; dies ist grundsätzlich eine Frage des eigenen wissenschaftstheoretischen Standpunktes, siehe Dahle 2000, S. 85, Fußn. 8. 23
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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reits lückenhaft sein, weil der Tatverleugnung bisher keine Aufmerksamkeit zuteil wurde, sie kann aber auch negative oder gar positive Erfahrungen mit leugnenden Probanden verbuchen. Nach dem individuellen Äcommon sense³ kann das Ableugnen der Tat also ebenso negativ zu Buche schlagen, wie bedeutungslos oder gar günstig sein. Dabei besteht Grund zu der Annahme, dass nicht geringe intuitive Anteile die Prognosepraxis bis hin zu professionellen Prognosegutachten bestimmen31, ohne dass dies eine spezielle Anfänger-Problematik ist. Im Gegenteil muss erst einmal eine subjektive Statistik aufgebaut werden, um darauf Bezug nehmen zu können, Intuition also auf Erfahrung rekurrieren, denn erst dann kann ein Urteil auf wenigem ÄTypischem³ aufbauen, ohne systematisch erarbeitet werden zu müssen.32 IV. Klinische Prognosen In der Praxis dürfte die so genannte klinische Methode am weitesten verbreitet sein.33 Die Bezeichnung Äklinisch³ ist für Prognosen vorgesehen, bei denen der Proband im Wesentlichen wie ein psychiatrischer Patient untersucht wird. Das klinische Vorgehen bemüht sich, aus dem bisherigen Verhalten des Betroffenen Gesetzmäßigkeiten der bisherigen Lebensentwicklung, wie zum Beispiel individuelle Stärken und Schwächen, abzuleiten, um dadurch Anhaltspunkte für die Fortschreibung der Lebensgeschichte zu erlangen. Die Diagnostik erfolgt mehr oder weniger systematisch, etwa mit Hilfe von Anamnese, Befund oder Aktenstudium, und integriert eine Vielzahl von Methoden unterschiedlicher Herkunft. Die Logik des Vorgehens kann dabei ebenso variieren34, wie die zum Einsatz gebrachten Mittel. Allerdings dominieren Exploration35, Aktenstudium und psychodiagnostische Tests36, was (ebenso wie der Name) richtig vermuten lässt, dass klinische Prognosen vor allem in den Händen von Psychologen und Psychiatern liegen37. Sie verstärkten in jüngster
___________ 31
Egg 2002, S. 310. Vgl. auch Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274. 33 Egg 2002, S. 310. 34 Etwa zwischen nomothetisch deduktiv oder idiographisch, siehe Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 35 Insbesondere von Lebenslauf, Familien-, Leistungs-, Freizeit- und Kontaktverhältnissen des Probanden. 36 Schaffstein/Beulke 2002, S. 95; Egg 2002, S. 310. 37 Schaffstein/Beulke 2002, S. 95. 32
A. Methodische Vorgaben zum Umgang mit der Tatverleugnung
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Zeit die Bemühungen, die klinische Methode durch Heranziehung fester Checklisten zu objektivieren38. Klinische Prognosen beziehen sich also im Gegensatz zur intuitiven Herangehensweise auf Regeln, auch wenn sie sich an den individuellen Bedingungen des Einzelfalls orientieren. Übereinkünfte beeinflussen den prognostischen Erhebungs- und Beurteilungsprozess und steuern in gewissem Umfang Auswahl, Gewinnung und Verknüpfung von prognoserelevanten Informationen zu einem prognostischen Urteil. Allerdings gehen Vorgaben nicht bis in alle Einzelheiten, sondern bleiben zumeist auf der Ebene von allgemeinen Arbeitsanleitungen und Leitlinien, um auch spezifischen Eigenarten und Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden39. Dazu wird der Proband auch mit der subjektiven Statistik des Prognostikers verglichen, das heißt der Einzelfall in Beziehung zu den Vorstellungen gesetzt, die der Prognostiker aus Ausbildung, Fachliteratur und früheren Begutachtungen erlangt hat. Auf diese Weise versucht man, den Beurteilungsfall möglichst genau und vollständig zu erfassen und dadurch zu einer individuellen Prognose zu kommen. Es resultiert eine Beschreibung des Probanden, die nicht zwingend auf die (zum Teil unpassenden) medizinischen Begriffe der Psychiatrie oder Psychologie Bezug nimmt, obwohl Träger der klinischen Prognose in der Regel eben Psychologen und Psychiater sind40. Die Freiheiten der prognostischen Urteilsbildung machen plausibel, dass klinische Prognosen sehr unterschiedliche Formen annehmen. Auch hier kann eine reine Eindrucksbildung vorherrschen, auf der anderen Seite das Vorgehen sogar den statistischen Methoden angenähert sein. Von diesen unterscheidet sich die klinische Prognose nicht grundsätzlich durch das zugrunde liegende Datenmaterial, sondern dadurch, wie sich aus den diagnostischen Informationen die prognostische Aussage ergibt. Insoweit bedeutet Ästatistisch³ ebenso wenig, dass nur mess- oder zählbare Fakten berücksichtigt werden, wie Äklinisch³ nicht allein auf eine subjektive Eindrucksbildung beschränkt41. Bei den klinischen Prognosen bleibt allerdings stets ein gewisser Spielraum für nicht valide Bewertungsmaßstäbe wie eigene Urteilskraft oder subjektive Erfahrungswelt des Prognosti-
___________ 38
Statt aller Nedopil 1992, S. 55 f.; ders. 1996, S. 186 f.; Schaffstein/Beulke 2002, S. 95. 39 Dahle 2000, S. 85, S. 95. 40 Bock 2000, S. 175 ff.; Volckart 1997, S. 8 ff.; Urbaniok, KR 2003, 169, 171. 41 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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kers42, der auf Basis seiner Analyse in der Regel individuelle Rückfallrisiken benennt43. V. Schlussfolgerungen aus der Methodenbetrachtung Was folgt nun aus den einzelnen Methoden für das Leugnungsproblem? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass es eigentlich nur zwei Grundtypen der prognostischen Vorgehensweise gibt, nämlich eine, die sich explizit von Regeln leiten lässt und eine, die darauf verzichtet. Nur die erstgenannte Möglichkeit kann überhaupt einen Umgang mit dem Ableugnen vorgeben, wenn ihr eine dazugehörige Regel immanent ist. Bei Regelverzicht hingegen fehlt eine Orientierung an Vorgaben und damit auch an solchen für den Umgang mit dem Ableugnen. Die rein methodenorientierte Betrachtung hat damit nicht nur einen Ertrag für das Leugnungsproblem, sondern umgekehrt auch für die Prognoseforschung. Die Einteilung in statistische, intuitive und klinische Methoden bezieht sich eher auf Entwürfe grundsätzlicher Herangehensweisen denn auf abgrenzbare Kategorien der Prognosepraxis. In reiner Form kommen die einzelnen Strategien in der Praxis ohnehin kaum vor, sondern werden hier in der Anwendung kombiniert. Vor allem mit Bezug auf die Dichotomie von Regelorientierung und Regelverzicht eignet sich die Einteilung der Prognosemethoden als Denkmodell für die Untersuchung prinzipieller Stärken und Schwächen der einzelnen Vorgehensweisen44. Sie liefert dann wichtige Maßstäbe für Analyse, Grenzen und Möglichkeiten der jeweiligen prognostischen Beurteilungslogik: Ein statistisches Vorgehen ist standardisiert, ein intuitives hingegen völlig offen, was in seiner Gegensätzlichkeit Zielkonflikte offenbart. Das Algorithmische einer Standardisierung muss bei Einbeziehung nicht regelgeleiteter Beurteilungsschritte ebenso verloren gehen, wie umgekehrt der Spielraum für Differenzierungen der Informationsverarbeitung mit einer Standardisierung.45 Vereinheitlichungen ignorieren notwendigerweise individuelle Besonderheiten; zu Gunsten der summarischen Abstraktion müssen Differenzierungen in den Hintergrund treten46. So sinnvoll eine Reduktion auf möglichst wenige Äaussagekräftige³ Merkmale aus faktorenanalytischer Sicht sein kann, so sicher ist damit ein ÄReduktionsverlust³47 oder ÄWirklichkeitsverlust³48 verbunden, dieser aber ___________ 42
Vgl. dazu Hinz 1987, S. 300; Schaffstein/Beulke 2002, S. 95. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 82. 44 Vgl. dazu Dahle 2000, S. 84. 45 Vgl. auch Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261. 46 Urbaniok, KR 2003, 169, 178 ff. 47 Urbaniok, KR 2003, 169, 175. 43
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
37
entfernt von einer differenzierten und einzelfallgerechten Bewertung. Insoweit werden formale und inhaltliche Qualität der Ergebnisse zu Gegnern. Lassen sich die Resultate leicht und sicher ermitteln (wie etwa bei der statistischen Prognose), bleiben möglicherweise die entscheidenden Fragen unbeantwortet. Um die maßgeblichen Antworten zu finden, muss umgekehrt oft ein schwer objektivierbarer Erkenntnisweg eingeschlagen werden.49 Gerade im Zusammenhang mit dem Leugnungsproblem verspricht damit das Bewusstsein für den Gegensatz von Regelverzicht und Regelorientierung bei der prognostischen Urteilsbildung, die sich auch in der Unterscheidung von statistischem, klinischem und intuitivem Vorgehen widerspiegelt, Hoffnung auf größere Klarheit hinsichtlich des Beurteilungsvorgangs. Durch diese Brille zeigt sich beispielsweise, ob eine Methode selbst die prognostische Bedeutung einer Tatverleugnung vorgibt, denn Intuition verzichtet auf einen Regelbezug und damit von vornherein auf einen bestimmten Umgang mit dem Ableugnen. Gleichzeitig offenbart die Bestimmung der prognostischen Wertigkeit einer Tatverleugnung, wie die gegenwärtige Prognosepraxis den Zielkonflikt zwischen formaler und inhaltlicher Qualität handhabt.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis I. HCR-20 1. Grundlagen zum HCR-20-Schema Grundkategorien zur Methodik der Prognoseerstellung sind für den Umgang mit der Tatverleugnung von Bedeutung, geben deren Einfluss auf das Prognoseergebnis jedoch nicht vor. Das Leugnungsproblem verlangt also eine Auseinandersetzung mit einzelnen Prognoseverfahren50, von denen das so genannte HCR-20-Schema51 den Anfang machen soll. Es wurde von Webster, Douglas, Eaves und Hart an der Simon Fraser-Universität in Burnaby (Kanada) auf Grundlage empirischer Rückfallstudien über Sexual- und Gewalttäter entwickelt
___________ 48
Bock 1984, S. 99; Bock 2000, S. 37 ff., S. 48. Siehe auch Bock 2000, S. 176. 50 Dabei soll es nicht im Stärken und Schwächen einzelner Verfahren gehen, sondern allein um Vorgaben für einen Umgang mit der Tatverleugnung. Fragen nach empirischer Gültigkeit, Aktualität, Spezifität oder Eignung einzelner Instrumente werden also bewusst ausgeklammert. 51 Webster/Douglas/Eaves/Hart 1997. 49
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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und 1997 vorgelegt. Als Prognoseinstrument zur Vorhersage von Gewalttaten hat es in hiesiger Übersetzung52 auch in Deutschland großen Anklang gefunden. Bei diesem Verfahren sind 20 Merkmale zu beurteilen, von denen 10 dem Bereich ÄVorgeschichte³ und jeweils 5 den Bereichen Äklinischer Befund³ und ÄRisikomanagement in der Zukunft³ zugeordnet sind.53 Jedes Item wird auf einer 3-Punkt-Skala bewertet, wobei Ä0“ heißt, dass der Risikofaktor nicht vorliegt, während bei der Kodierung mit Ä1“ der Risikofaktor möglicherweise vorhanden oder teilweise festzustellen ist. Ä2“ meint schließlich, dass der Risikofaktor eindeutig und offensichtlich vorliegt.54 2. Tatverleugnung und Items des HCR-20 zu seelischen Auffälligkeiten Ableugnen der Tat ist keines der 20 Einzelmerkmale des HCR-20-Schemas, allerdings lassen einige davon einen Zusammenhang mit der Tatverleugnung denkbar erscheinen. Dies gilt weniger für die soziobiographischen Variablen der Vergangenheit55, als vielmehr für Merkmale des HCR-20-Schemas zu seelischen Auffälligkeiten, deren Symptom möglicherweise ein Ableugnen der Tat ist. So betrifft das Item ÄH9³ Persönlichkeitsstörungen, wie sie in den Diagnosemanualen ÄDSM-IV³56 oder ÄICD-10³ 57 beschrieben werden.58 Ihnen lässt sich beispielsweise eine Gruppe narzisstisch-persönlichkeitsgestörter Straftäter zuordnen59, von der es in der Literatur heißt, dass sie das äußere Tatgeschehen
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Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 1, 11. Die in Haina entwickelte deutsche Version des HCR-20 enthält neben den unveränderten 20 Original-Items zudem die drei zusätzlichen Merkmale Ägeringes Alter bei Erstdelinquenz³, Äinadäquater Erziehungsstil³ und ÄFehlverhalten in Kindheit und Jugend³ (Müller-Isberner/Jöckel/ Gonzalez Cabeza 1998, S. 65). Deshalb muss hier richtigerweise von HCR-20 3 gesprochen werden. 54 Daneben kann noch die Zahl Ä9³ vergeben werden, wenn die Informationen für eine Bewertung nicht ausreichen (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 12 f.). 55 Zu ihnen gehören Äfrühere Gewalttaten³, ÄAlter bei 1. Gewalttat³, ÄInstabile Partnerschaften³, ÄArbeitsprobleme³, ÄFrühe Verhaltensauffälligkeiten³ oder ÄBewährungsversagen³ (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 11). 56 APA 1995. 57 Weltgesundheitsorganisation 1993. 58 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 32. 59 Vgl. etwa den Abschnitt ÄF6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen³ in der ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation 1993, S. 223 ff.). 53
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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zwar nicht leugneten, aber in ihren Schilderungen durch Umdeutung völlig entstellten60. Allerdings darf ein solcher Zusammenhang nicht dazu verleiten, in einer Tatverleugnung den hinreichenden Beleg für eine Persönlichkeitsstörung zu sehen. Vielmehr konnte bisher überhaupt keine Verhaltensweise oder sonstige Einzelerscheinung identifiziert werden, die für eine bestimmte seelische Auffälligkeit spezifisch ist.61 Ein Ableugnen der Tat gibt damit weder die Kodierung für das Item ÄH9. Persönlichkeitsstörung³, noch für weitere, auf seelische Auffälligkeiten bezogene Kriterien des HCR-20-Schemas62 vor, was auch beim Blick in die multifaktoriellen Beschreibungen der in Bezug genommenen Diagnosemanuale ÄDSM-IV³ 63 und ÄICD-10³ plausibel wird64. 3. Tatverleugnung und ÄPsychopathy nach Hare³ Nicht an ÄDSM-IV³ oder ÄICD-10³ ist das HCR-20-Merkmal ÄH7. Psychopathy nach Hare³ angelehnt, auch wenn es an einen Bezug auf ÄPsychopathien³, das heißt an Abnormitäten der Persönlichkeit65 denken lässt. Dieser Assoziation tritt eine Anmerkung in der deutschen Übersetzung des Manuals ohnehin gleich zu Beginn der Merkmalsbeschreibung entgegen. ÄPsychopathie³ habe im deutschsprachigen Raum historisch eine vollkommen andere Bedeutung als der amerikanische Begriff ÄPsychopathy³, der deshalb solange beibehalten werden solle, bis man sich in deutschsprachigen Fachkreisen auf eine Bezeichnung verständigt habe.66 Daher erscheint trotz der vorbezeichneten Unspezifität psychopathologischer Symptome67 eine Auseinandersetzung mit der ÄPsychopathy
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Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161. Schorsch et al. (1985, S. 75) identifizierten die ÄBagatellisierung von Konflikten³ als Bewältigungsstrategie bei psychiatrischen Patienten mit einer so genannten perversen Symptombildung. 61 Tölle/Windgassen 2003, S. 41; Brunnhuber/Lieb 2000, S. 40; Huber 1999, S. 25; Linden 1999, S. 399. 62 So etwa das Item ÄH6. Psychiatrische Erkrankung³ und ÄC3. Produktive Symptomatik³ (siehe Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 11). 63 APA 1995. 64 Weltgesundheitsorganisation 1993. 65 Pschyrembel 2004, S. 1399. 66 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 28. 67 Siehe vorigen Abschnitt zu Tatverleugnung und Items des HCR-20 zu seelischen Auffälligkeiten.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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nach Hare³ geboten, zumal ihr ganz allgemein eine Aussagekraft für zukünftige Gewalttätigkeit zugeschrieben wird68. Dem in Rede stehenden Begriff der ÄPsychopathy³ werden Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensauffälligkeiten zugeordnet, die mit der so genannten ÄPsychopathy Checklist³ (kurz PCL) erfasst werden sollen69. Sie stellt einen Versuch dar, möglichst exakte und theoriegeleitete Beschreibungen von Persönlichkeitsentwicklungen (auch) prognostisch zu nutzen, wobei erstmals 1980 von Robert Hare eine 22 Items umfassende Prüfliste zur Erfassung von ÄPsychopaths³ entwickelt wurde70. Sie fand in der modifizierten Version der ÄPCL-R³71 Eingang in den Klinikalltag, der hohe Zeitaufwand von mindestens drei Stunden pro Proband für Interview und Aktenstudium veranlasste jedoch weitere Fortentwicklungen. Eine davon ist die so genannte ÄPCL-SV³ 72, die sich als ÄScreening Version³ versteht und Items des ÄPCL-R³ zusammenfasst. Auch in ihren Modifikationen weist die ÄPsychopathy Checklist³ starke Ähnlichkeiten mit statistischen Prognosetafeln auf. Sie fasst Merkmale zusammen, deren individuelle Ausprägungen im Einzelfall zu Summenscores verrechnet werden, allerdings gibt es dafür ± im Unterschied zum typisch statistisch orientierten Vorgehen ± hier eine theoretische Fundierung. Diese bezieht sich auf die Annahme, dass bei Syndrombildern, die dem theoretischen Konstrukt der ÄPsychopathy³ entsprechen, dissoziale, delinquente und gewalttätige Handlungen vermehrt auftreten, wofür es auch empirische Hinweise gibt73. Aus einem solchen Blickwinkel ist die Identifikation der ÄPsychopathy³ von einem kriminalprognostischen Interesse, das die PCL befriedigen soll.74 Die Vorgaben dieses Verfahrens definieren Psychopathie anhand von bestimmten Merkmalen operational, wobei die Einzelkriterien in einem zugehörigen Manual ausführlich beschrieben werden. Persönlichkeit und Verhalten des Betroffenen sind mit den Merkmalsbeschreibungen des Manuals zu vergleichen und jedes Item ± ähnlich wie beim HCR-20-Schema ± auf einer ordinal___________ 68
Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 28 m. w. N. Auch das weiter unten beschriebene SVR-20-Schema beispielsweise nimmt auf ÄPsychopathy³ Bezug. 69 Freese 2000, S. 5. Als typische Charakteristika des ÄPsychopath³ werden beispielsweise Impulsivität, Selbstüberschätzung oder Mangel an Empathie und Schuldgefühlen angesehen, vgl. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 28. 70 Hare 1980. 71 Hare 1991. 72 Hart et al. 1995. 73 Nedopil, MschKrim 1997, 79 ff. 74 Dahle 2000, S. 95.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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skalierten 3-Punkt-Skala einzustufen. Ein Score von Ä2³ bedeutet dabei, dass das Item auf den Probanden zutrifft, während ein Wert von Ä1³ gewisse und Ä0³ fehlende Übereinstimmungen meint.75 Inhaltlich betreffen die Merkmale emotionale Charakteristika, Muster des interpersonalen Verhaltens sowie Kennzeichen eines impulsiven und haltlosen Lebensstils und hypostasieren damit das Psychopathie-Konzept, das der PCL zugrunde liegt. Psychopathie in diesem Sinne wird auf ein biologisch bedingtes Defizit der Emotionsverarbeitung zurückgeführt, das mit einer Unfähigkeit einhergeht, enge Bindungen einzugehen sowie aus negativen Erfahrungen (zum Beispiel Strafe) zu lernen.76 Ableugnen der Tat selbst ist keines der Kriterien der ÄPsychopathy Checklist³ , allerdings lassen sich einige davon mit dem Leugnen in Verbindung bringen, wie sich anhand der PCL-SV77 zeigen lässt: So heißt es zum 1. Item ÄOberflächlich (aufgesetzt, künstlich, unecht)³78 im Manual: ÄDas Item beschreibt eine Person, dessen Umgangsstil anderen oberflächlich (d.h. aalglatt) erscheint. Für gewöhnlich versucht die Person auf andere durch Vortäuschen von Gefühlen, Erzählen von Geschichten, die sie in möglichst gutem Licht darstellt und Vorbringen unwahrscheinlicher Entschuldigungen für unerwünschtes Verhalten einen vorteilhaften Eindruck zu erwecken.³79 Solche Verhaltensweisen können gerade in einer Tatverleugnung liegen. Sie kann Gefühle vortäuschen, eine Äunwahrscheinliche Entschuldigung für unerwünschtes Verhalten³ liefern oder in einer Geschichte verpackt sein, die den Betroffenen Äin möglichst gutem Licht darstellt³. Denkbare Zusammenhänge ergeben sich auch für das 2. Item ÄGrandios (großspurig)³80. Laut Manual trifft es auf Personen zu, die Ärechthaberisch³ wirken und unglückliche Umstände ± wie etwa einen Gefängnisaufenthalt ± „eher auf äußere Kräfte (Pech, das ‚System‘) denn auf sich selbst³ zurückführen81, was sich ohne weiteres als verweigerte Verantwortungsübernahme denken lässt, ___________ 75
Freese 2000, S. 10. Vgl. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 71. 77 Ihre Verwendung ist vom HCR-20-Schema ausdrücklich vorgesehen, zudem findet sich im Manual dazu der Hinweis, dass in allgemein-psychiatrischen Settings die PCLSV Verwendung finden sollte, da sie auch in einer allgemeinpsychiatrischen Stichprobe bereits normiert wurde, was für die PCL-R bislang nicht geschehen ist (MüllerIsberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 29). 78 Es erfasst das PCL-R Item 1: ÄTrickreich-sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme (Glibness/ superficial charm)³, Freese 2000, S. 19. 79 Freese 2000, S. 19. 80 Es gleicht dem PCL-R Item 2: ÄErheblich übersteigertes Selbstwertgefühl (Grandiose sense of self-worth)³, Freese 2000, S. 19. 81 Freese 2000, S. 19. 76
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
wie sie in einer (Teil-)Verleugnung zum Ausdruck kommen kann. Diese erscheint auch geeignet, die Beurteilung des 3. Items ÄBetrügerisch (manipulativ)³82 zu beeinflussen, bedienen sich Menschen mit dieser Eigenschaft laut Merkmalsbeschreibung doch Äfür gewöhnlich der Lüge, des Betrugs und anderer Manipulationen, um ihre persönlichen Ziele [«] durchzusetzen.³ Darüber hinaus ist eine Tatverleugnung auch als Ausdruck für ein ÄFehlen von Reue (Fehlen von Gewissensbissen, Schuldgefühlen, -bewußtsein)³ denkbar, wie es im 4. Item der PCL-SV erfasst wird. Gerade wer seine Tat leugnet, kann so wirken, Äals ob die Fähigkeit, Schuldgefühle zu entwickeln völlig fehlt.³83 Auch kann er Äkalt und gefühllos erscheinen, unfähig, intensive Gefühle zu erleben und unbeteiligt gegenüber den Gefühlen anderer³, wie es in der Beschreibung zum 5. Item, dem ÄFehlen von Empathie (Gefühlskälte)³84 heißt. Besonders offensichtlich ist schließlich die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Tatverleugnung und 6. Item ÄÜbernimmt keine Verantwortung³85. Hierzu heißt es in der Merkmalsbeschreibung: ÄMenschen, die hier hoch scoren vermeiden die Übernahme persönlicher Verantwortung für ihre schädigenden Handlungen durch Rationalisierung ihres Verhaltens, extremes Herunterspielen der Konsequenzen (ihres Handelns) für andere oder sogar durch völliges Verleugnen der Taten. Die meisten ihrer Rationalisierungen beinhalten Schuldprojektionen (oder zumindest einer Teilschuld) auf das Opfer oder auf äußere Umstände. Bagatellisierungen beinhalten für gewöhnlich das Bestreiten, daß das Opfer irgendwelche ernsthaften oder direkten körperlichen, emotionalen oder finanziellen Konsequenzen erlitten hat. Verleugnungen bestehen üblicherweise aus Unschuldsbeteuerungen, derart, daß das Opfer gelogen hat oder ihm selbst die Sache angehängt wurde: alternativ macht er/sie Erinnerungslücken, bedingt durch Substanzgebrauch oder eine körperliche oder psychische Krankheit geltend.³86 Die PCL-SV zeigt also greifbare Möglichkeiten dafür auf, dass eine Tatverleugnung ± über den Zusammenhang zur ÄPsychopathy³ ± prognostisch relevant ist. Inwieweit diese Relevanz im Einzelfall allerdings tatsächlich besteht, geben ___________ 82 Es erfasst die PCL-R Items 4 ÄPathologisches Lügen (Pseudologie) (Pathological lying)³ und 5 ÄBetrügerisch-manipulatives Verhalten (Conning/ Manipulative)³. 83 So die Merkmalsbeschreibung zum 4. Item (Freese 2000, S. 20). 84 Hier fließen die PCL-R Items 7 und 8: ÄOberflächliche Gefühle (shallow affect)³ und ÄGefühlskälte, Mangel an Empathie (Callous/ Lack of empathy)³ ein. 85 Dieses Item gleicht dem PCL-R Item 16: ÄMangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen (Failure to accept responsibility for own actions)³. 86 Freese 2000, S. 20.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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die Merkmalsbeschreibungen der PCL-SV nicht vor. Zum Umgang damit heißt es nämlich im Manual, dass die Vorgaben Änaturgemäß nur Vorschläge, bloße Beispiele³ für Eigenschaften sind, die der Anwender dazu nutzen solle, Äeinen Proto- oder Idealtypen zu kreieren um dann zu entscheiden, wie sehr die Person diesen Prototypen trifft.³87 Itembeschreibungen seien nicht als Äsimple Checklist³ zu nutzen, sondern aus ihnen gedanklich ein ÄPrototyp³ zu formen, um die zu beurteilende Person damit abzugleichen. Treffe ein einzelner Proband eine Itembeschreibung sehr gut, könne er als ÄIdealtyp³ für dieses Item dienen, sein Ägeistiges Abbild³ für die Beurteilung herangezogen werden88. Die Beurteilung einzelner Items sei damit stets subjektiv und fordere Äein beachtliches Maß an Schlussfolgerungs- und Urteilsfähigkeit³. Die Bindung an Vorgaben ist so weit aufgehoben, dass ein Score von Ä2³ sogar dann vergeben werden kann, wenn keines der Charakteristika in der Itembeschreibung erfüllt ist, aber andere Eigenschaften vorliegen, Ädie offensichtlich die Itembeschreibung zum Ausdruck bringen³ 89. 4. Tatverleugnung und weitere Items des HCR-20-Schemas Von den Itembezeichnungen des HCR-20-Schemas legt das Merkmal ÄC1. Mangel an Einsicht³ am ehesten einen Zusammenhang mit dem Ableugnen der Tat nahe. Mit diesem Item ist allerdings wohl in erster Linie die Einsicht in eine psychiatrische Störung gemeint, denn in der Merkmalsbeschreibung heißt es: ÄDas Item bezieht sich auf das Ausmaß des Unvermögens des Patienten, die eigene psychiatrische Störung zu erkennen und zu verstehen und die Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen nachzuvollziehen.³90 Als Ausdruck dieses Unvermögens kommt auch eine Tatverleugnung in Betracht, zumal das Item auf einen eher allgemein gehaltenen Begriff der Einsicht als Ädas Verständnis und die realistische Einschätzung eines Probanden bezüglich der eigenen innerseelischen Vorgänge, Reaktionen und Selbstwahrnehmung³ Bezug nimmt91. Innerseelische Vorgänge, Reaktionen und Selbstwahrnehmung beeinflussen auch die Tat und die spätere Haltung dazu, ohne dass jedoch eine Tatverleugnung nach den Vorgaben des HCR-20-Schemas zwingend Ausdruck mangelhafter Einsicht ist. Im Gegenteil heißt es hier, dass sich ein Mangel an Einsicht in vielfältiger Weise ausdrücken könne.92 ___________ 87
Freese 2000, S. 10. Freese 2000, S. 19. 89 Freese 2000, S. 10. 90 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36. 91 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 35. 92 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36. 88
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Eine Berücksichtigung der Tatverleugnung kommt auch über das Item ÄC2. Negative Einstellungen³ in Betracht. In der Kommentierung dazu wird ausdrücklich dazu aufgefordert, auf die aktuelle Einstellung des Probanden gegenüber früheren Gewalttaten zu achten. Dabei könne der Betroffene Äauthentische Trauer und Bedauern oder vielmehr Reue- und Gefühllosigkeit und einen deutlichen Mangel an Empathie³ zeigen, was zu erfassen sei.93 Wie allerdings Einstellungen im Einzelnen zum Ausdruck kommen (ob eben zum Beispiel auch durch eine Tatverleugnung), lassen die Vorgaben offen.94 Im Zusammenhang mit dem Leugnungsproblem weckt darüber hinaus das HCR-20-Item ÄC5. Fehlender Behandlungserfolg³ Interesse. Immerhin geht eine wesentliche Erwartung Außenstehender dahin, dass bei der Therapie die Tat bearbeitet wird und auch bei Experten gilt ± zumindest im Maßregelvollzug ± die Auseinandersetzung mit der Tat als wesentlicher Schritt zum therapeutischen Erfolg95. Ob allerdings die Tatbearbeitung tatsächlich von therapeutischem Nutzen ist und ein Ableugnen ihr Fehlen zum Ausdruck bringt, lässt die Kommentierung zum fraglichen Item offen. Hier wird Behandlung als Gesamtheit jener Maßnahmen definiert, Ädie geeignet sind, kriminologische, psychiatrische, psychische, soziale oder Beschäftigungsprobleme zu lösen oder positiv zu beeinflussen³, soweit dies relevant für die kriminologische oder psychiatrische Prognose ist.96 Im Übrigen geht die Merkmalsbeschreibung auf den Stellenwert des Behandlungserfolgs, destabilisierende Einflüsse und Indizien für eine Erfolglosigkeit der therapeutischen Bemühungen ein97, von einer Tatverleugnung ist dabei nicht die Rede98, so dass ihre Berücksichtigung im Zusammenhang mit dem Behandlungserfolg möglich erscheint, aber nicht zwingend ist.
___________ 93
Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36 f. Hier heißt es lediglich: ÄZur Einschätzung dieses Items ist auf Äußerungen und Verhaltensmuster des Probanden zu achten, für die ein Zusammenhang mit Gewalttätigkeit wahrscheinlich ist: Verhält oder äußert sich ein Proband eher pro- oder antisozial? Wie ist seine Einstellung gegenüber Mitmenschen und der Gesellschaft; speziell auch gegenüber der Einrichtung, in der er sich befindet und den Mitarbeitern und Mitinsassen. Wie spricht er über Eltern, Familie, ehemalige Bezugspersonen wie Lehrer, Studien- und Arbeitskollegen, wie ist seine Einstellung gegenüber Autoritäten und gegenüber ÄRecht und Ordnung³? In diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, ob ein Proband – auch bezüglich seiner eigenen Person- eher optimistisch oder pessimistisch eingestellt ist.³ (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36 f.). 95 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 154. 96 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 40. 97 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 44 ff. 98 Die Vorgaben stellen zum Beispiel auf aggressive Ausbrüche bzw. Wutanfälle, fehlende Akzeptanz der Medikation (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 94
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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Das gleiche gilt für einen Einfluss des Ableugnens auf das Item ÄR4. Fehlende Compliance³, denn auch hier lassen die Vorgaben den Stellenwert einer Tatauseinandersetzung für die Behandlung offen99. Gegenstand dieses Items ist nämlich Ädie tatsächliche Bereitschaft eines Probanden, den als notwendig erachteten therapeutischen oder stützenden Maßnahmen zuzustimmen und zu ihrem Erfolg beizutragen³100, ob aber behandlerische Notwendigkeiten auch mit einer Tatverleugnung in Zusammenhang stehen, ist der weiteren Kommentierung nicht zu entnehmen101. 5. Fazit zum Umgang mit dem Ableugnen beim HCR-20-Schema Als vorläufiges Ergebnis ist damit festzuhalten, dass bei einer Prognostik nach dem HCR-20-Schema ein Ableugnen der Tat kein selbständiges Prognosekriterium, sondern allenfalls ein Unterfall davon ist. Das Manual gibt keinen Umgang mit dem Ableugnen vor, die verbindlichen Vorgaben des HCR-20Schemas lassen die prognostische Wertigkeit dieses Umstands also insgesamt offen. Von Bedeutung kann die Tatverleugnung damit allenfalls sein, wenn sie mit den verbindlichen Vorgaben in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Ein solcher aber muss stets seinen Anfang außerhalb der Methodik dieses Prognoseinstruments nehmen; das Ableugnen muss zunächst durch eine zusätzliche Bewertung an die Vorgaben des HCR-20-Schemas herangeführt werden, was methodisch nicht gesteuert ist. Damit lässt sich die prognostische Wertigkeit des Ableugnens bei Prognosen nach dem HCR-20-Schema auch ganz einfach ausdrücken: Es kommt darauf an. Stets ist nämlich eine zusätzliche, wer___________ 40), kriminelles Milieu, Verfügbarkeit von Drogen oder Mangel an professioneller Unterstützung (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 44) ab. 99 Ähnlichkeiten zwischen diesem Item und dem Faktor ÄC5. Fehlender Behandlungserfolg³ spricht das Manual selbst an, indem es feststellt, dass im Falle Äeines ‚in‘Ratings (d.h. eine Risikoabschätzung für zukünftiges institutionelles Verhalten) eine Überlappung mit dem Item C5 vorliegt.³ C5 sei allerdings vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Verhaltens, R4 hingegen mit Blick auf den zukünftigen Beobachtungszeitraum zu beurteilen (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 47). 100 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 47. 101 Sie stellt in erster Linie auf eine unzuverlässige Medikamenteneinnahme ab. Zur vollen Ausprägung des Items heißt es: ÄPersonen, auf die dieses Item in hohem Maße zutrifft, mangelt es an ausreichender Motivation und Bereitschaft, medikamentöse oder sonstige therapeutische Verfahren mit zu tragen. Das Item ist auch dann voll zu bewerten, wenn ein Proband es ablehnt, Absprachen oder Anordnungen im Rahmen der Führungsaufsicht Folge zu leisten. Das Item sollte bewußt weitgefaßt verstanden werden, d.h. es bezieht sich sowohl auf die psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen im engeren Sinne, als auch auf sonstige als sinnvoll erachtete supervidierende und unterstützende Maßnahmen.³ (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 47)
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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tende Aufbereitung des Ableugnens erforderlich, die den Prognostiker ohne Hilfe von methodischen Vorgaben sich selbst überlässt. Dies steht durchaus im Einklang mit dem Anliegen des HCR-20-Schemas: Auf detaillierte Operationalisierungen habe man bewusst verzichtet, Äum dem Kliniker die Möglichkeit zu geben, individuelle Bewertungen für den jeweiligen Probanden zu ermöglichen und ihn nicht durch zu strenge und im speziellen Fall eben doch wieder nicht völlig zutreffende Definitionen einzuengen. Es wurde in der Itembeschreibung vielmehr Wert darauf gelegt, das Wesen und die Zielrichtung der Items zu beschreiben und durch Forschungsergebnisse und Zitate sowie Beispiele zu verdeutlichen³, ohne dass dabei ein Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit bestanden habe.102 Solche Beurteilungskompetenzen machen plausibel, dass die sachgerechte Anwendung des HCR-20-Schemas ein beträchtliches Maß an Kenntnissen und Erfahrung in der psychowissenschaftlichen Arbeit voraussetzt103. Entgegen der kompakten äußeren Form des Manuals handelt es sich nicht um einen leicht abzuarbeitenden ÄTest“, sondern um ein strukturiertes Hilfsmittel. Das Manual widerspricht ausdrücklich der Erwartung, Ämit Hilfe der Checkliste für jeden Probandentypus und unter jedem Umstand zu korrekten Einschätzungen zu gelangen³. Anliegen des HCR-20-Schemas sei es, mit seinen Vorgaben Äeine Grundlage für möglichst umfassende Risikoeinschätzungen³ zu geben, die Ävorrangig als Ausgangspunkt und nicht als Endpunkt einer prognostischen Beurteilung zukünftigen Gewalttäterrisikos³ dienen solle.104 Als eine Art Leitfaden will das Manual den klinisch erfahrenen Benutzer bei seinen Prognosebeurteilungen unterstützen, ohne ihm diese abzunehmen oder ihn zu einem schematisierten Vorgehen zu zwingen.105 Es sei als ÄAnleitung zur Untersuchung³106, als ÄAidemémoire³107, nicht aber als Äpsychologisches Testinstrument³ zu verstehen108,
___________ 102
Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. Entsprechend weist das Manual Risikoabschätzungen zukünftiger Gewalttätigkeit nur Äerfahrenen Personen³ zu (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2); ÄErfahrung in der Durchführung von Begutachtungen³ sei Mindestvoraussetzungen in der Handhabung und Interpretation des HCR-20-Schemas (Müller-Isberner/Jöckel/ Gonzalez Cabeza 1998, S. 15). 104 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. 105 Vgl. dazu auch Egg 2002, S. 323. 106 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 1. 107 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 8. 108 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 1. 103
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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das einen ÄErsatz für das nicht zu unterschätzende intuitive Prognosewissen erfahrener Beurteiler³ geben könne109. Beurteilungsspielräume zeigen sich insbesondere bei der Zusammenführung der Einzelbeurteilungen zu einer Gesamtbewertung. Hier wird ein Summenwert aller Items gebildet, der ein Maß für das individuelle Rückfallrisiko darstellen soll. Auch hier gilt ein 3-Stufen-Schema, das hinsichtlich des individuellen Risikos künftiger Gewaltdelinquenz zwischen ÄNiedrig“ für fehlend bis sehr gering, ÄMittel“ für zumindest erhöht und ÄHoch“ für sehr hoch unterscheidet.110 Für diese Unterscheidung allerdings werden keine festen Summenwerte vorgegeben, um die individuelle Gewichtung einzelner Items nicht zu hindern111. Im Manual heißt es dazu: ÄEs gibt keine allgemeingültige (Gesamt-) Beurteilungsmethode für alle Situationen. Für Forschungszwecke mag es ausreichen, die Items nacheinander zu kodieren und zu Summenwerten [«] zu addieren. [«] Für klinische Zwecke erscheint es demgegenüber nicht sinnvoll, Summenwerte auszuzählen und pauschal festzulegen, ab welchem Gesamtwert von einem niedrigen, mittleren oder hohen Risiko auszugehen ist.³112 In bestimmten Fällen könne es sogar möglich und sinnvoll sein, ein hohes Gewaltrisiko auf das Vorliegen eines einzelnen Kriteriums zurückzuführen113, während umgekehrt das Gewaltrisiko trotz hoher Gesamtwerte nicht hoch sein müsse114. Ausdrücklich wird davor gewarnt, einen linearen Zusammenhang zwischen der Zahl zutreffender Items und Gefährlichkeit anzunehmen. Eher scheine das Gewaltrisiko Ädurch eine spezifische Kombination bestimmter Risikomarker zu steigen³115. Auch die Vorgaben des HCR-20 geben damit ± ähnlich wie bei der PCL ± keinen Umgang mit dem Ableugnen vor.
___________ 109
Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 13. 111 Vgl. dazu auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75 ff.; Egg 2002, S. 323. Feste Summenwerte könnten nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung zudem nur willkürlich festgelegt werden, weil bisher keine Rückfalluntersuchungen mit ausreichend umfangreichen Stichproben vorliegen, die eine Bezifferung des Risikos für bestimmte HCR-20Punktsummen erlauben. 112 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 13 f. 113 Solche Kriterien könnten zum Beispiel Äimperative Stimmen mit Tötungsinhalt³, Äakut-drängende sadistische Phantasien³ oder ein sehr hoher Wert bei der PCL im Sinne von Hare sein (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 14). 114 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 14. 115 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 14. 110
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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II. SVR-20 Ähnlichkeiten mit dem HCR-20 weist der so genannte SVR-20116 auf, der allerdings ± wie die Bezeichnung SVR für ÄSexual Violence Risk³ bereits vermuten lässt ± der Vorhersage sexueller Gewalttaten dient. Dieses Prognoseinstrument wurde ebenfalls von der Gruppe um Hart und Webster in Kanada entwickelt und 1997 vorgestellt, wobei inzwischen auch eine deutsche Übersetzung vorliegt117. Die verwendeten Items leiten sich aus der einschlägigen Forschungsliteratur ab und sollen als empirisch gesicherte Risikofaktoren zukünftiger sexueller Gewalt gelten.118 Wie das HCR-20-Schema besteht auch der SVR-20 aus der Namen gebenden Zahl von 20 Items, die drei Gruppen zugeordnet werden können. Die erste Kategorie besteht aus elf Faktoren, die sich auf die psychosoziale Anpassung beziehen119, während die sieben Faktoren der zweiten Gruppe die Vorgeschichte der Sexualdelinquenz und teilweise auch aktuelle Gesichtspunkte betreffen120. Die dritte Gruppe schließlich bilden zwei Faktoren121 zu den Zukunftsplänen des Probanden122. Für jedes der zwanzig Einzelmerkmale soll der Untersucher zunächst ± wie beim HCR-20-Schema ± auf einer 3-Punkt-Skala über Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen entscheiden123, wobei er bei Merkmalbejahung zusätzlich aufgefordert ist, Änderungen in Schwere bzw. Präsenz des Items zu vermerken. ___________ 116
Boer/Kropp/Webster 1997. Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000. 118 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 25; siehe auch Egg 2002, S. 324. 119 Die Items sind: ÄSexuelle Deviation³, ÄOpfer von Kindesmißbrauch³, ÄPsychopathy³, ÄGravierende seelische Störung³, ÄSubstanzproblematik³, ÄSelbst/Fremdtötungsgedanken³, ÄBeziehungsprobleme³, ÄBeschäftigungsprobleme³, ÄNichtsexuelle gewalttätige Vordelinquenz³, ÄGewaltfreie Vordelikte³ und ÄFrüheres Bewährungsversagen³ (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 49 ff.). 120 Die einzelnen Faktoren sind hier: ÄSexualdelinquenz in hoher Frequenz³, ÄMultiple Formen der Sexualdelinquenz³, ÄVerletzung der Opfer der Sexualdelikte³, ÄWaffengebrauch/Todesdrohungen gegen Opfer³, ÄZunahme der Deliktfrequenz oder Tatschwere³, ÄExtremes Bagatellisieren oder Leugnen³ und ÄDeliktfördernde Ansichten³ (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 67 ff.). 121 ÄFehlen realistischer Pläne³ und ÄAblehnung weiterer Interventionen³ (MüllerIsberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 77 ff.). 122 Vgl. zu allem Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 25. 123 Dabei meint ÄNull“ die Item-Verneinung, ÄEins“ das mögliche oder teilweise Vorhandensein und ÄZwei“ das eindeutige und offensichtliche Vorliegen. Sind überhaupt keine Informationen vorhanden oder die verfügbaren Informationen nicht geeignet, die Fragestellung des Items zu beantworten, kann zudem mit ÄX³ kodiert werden. 117
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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Anschließend sind die Einzelergebnisse zu einer abschließenden Bewertung der Gefährlichkeitsprognose zusammenzufassen.124 Was nun eine Tatverleugnung betrifft, so findet sich dazu in der zweiten, auf die Vorgeschichte der Sexualdelinquenz bezogenen Kategorie das Item ÄExtremes Bagatellisieren oder Leugnen³ , das entsprechende Verhaltensweisen kenntlich machen soll125. Eine Bejahung dieses Items kann laut Manual heißen, Ädass der Proband viele oder alle Sexualstraftaten verleugnet, daß der Proband die persönliche Verantwortung für viele oder alle Sexualstraftaten leugnet (z. B. dem Opfer die Schuld zuschreiben), daß der Proband ernsthafte Folgen von vielen oder allen Sexualstraftaten abstreitet (z. B. behauptet, daß das Opfer körperlich nicht verletzt wurde).³126 Eine Tatverleugnung scheint nach dem SVR-20-Schema also unmittelbar prognoserelevant, allerdings heißt es im Manual gleich zu Beginn der Kommentierung: ÄEs gibt keine eindeutigen empirischen Belege, daß dieser Faktor zukünftige sexuelle Gewalttaten vorhersagt [«] Dieser Faktor ist wahrscheinlich ein Risikomarker, in dem sich das Vorhandensein einer Persönlichkeitsstörung oder das Vorliegen von Einstellungen, die sexuelle Gewalt fördern, widerspiegeln. Er ist möglicherweise mit der Wahrscheinlichkeit und der Häufigkeit zukünftiger sexueller Gewalt korreliert.³127 Hinsichtlich eines unmittelbaren Einflusses der Tatverleugnung auf das Prognoseergebnis mahnt der SVR-20 also zu besonderer Vorsicht, darüber hinaus übt er allgemein ± ähnlich wie der HCR-20 ± Zurückhaltung mit Vorgaben für eine Verwertung einzelner Wirklichkeitsumstände, wie sich vor allem bei Zusammenführung der Einzelbewertungen zu einem Gesamtergebnis zeigt. Für die Klassifikation des individuellen Risikos künftiger sexueller Gewaltdelinquenz als ÄNiedrig“, ÄMittel“ oder ÄHoch“128 fehlen auch hier normierte Werte oder vorgegebene Risikoprofile, weshalb das SVR-20-Schema ± ähnlich wie der HCR 20 ± auf der Ebene eines strukturierten Leitfadens für den erfahrenen Praktiker verbleibt.129 ___________ 124
Vgl. zu allem Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 40. Dabei bezeichnet ein Wert von Ä2³ konkrete und eindeutige Anhaltspunkte, Ä1³ mögliche und/oder nicht eindeutige sowie Ä0³ das Fehlen von Hinweisen dafür. 126 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 76. 127 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 75. 128 Vgl. dazu Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 43. 129 Diese Einschätzung von Egg (2002, S. 324) entspricht dem Anliegen des SVR-20. Er ist laut Manual Äein Einschätzungsverfahren, kein Test oder eine Skala. Er stellt den Versuch dar, die Risikoeinschätzung von Individuen zu systematisieren, ist nicht als 125
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Ausdrücklich distanziert sich das Manual ± mit zum Teil gleichen Formulierungen wie die Anleitung zum HCR-20 ± von einem linearen Zusammenhang zwischen Summenwert aller Items und Gesamtrisiko.130 Eher scheine das Gewaltrisiko Ädurch eine spezifische Kombination bestimmter Risikofaktoren zu steigen.³131 Dabei könne es möglich und sinnvoll sein, Äallein aufgrund des Vorliegens eines einzelnen Merkmals zur Gesamtbewertung eines hohen Gewaltrisikos zu kommen, z.B. wenn ein Proband die Absicht hat zu töten oder aber drängende sadistische sexuelle Phantasien äußert.³ 132 Die endgültige Entscheidung über das Risiko müssten Beurteiler daher Äauf der Basis ihrer beruflichen Erfahrung und Urteilsbildung treffen³133. Die Einzelfallabhängigkeit der Ergebnisfindung dokumentiert auch der Umstand, dass das SVR-20-Schema dazu auffordert, über die eigentlichen 20 SVRItems hinaus ÄWeitere Erwägungen³ in die prognostische Bewertung einzustellen. Hierüber sollen zusätzliche Risikofaktoren einbezogen werden, die als Äentscheidend für die Wahrscheinlichkeit, Art, Häufigkeit, Schwere oder ‚Impulshaftigkeit‘ ³ weiterer Sexualstraftaten des Probanden angesehen werden. Die Kommentierung nennt dazu einige Beispiele, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben134. Indem die Anleitung zum SVR-20-Schema Leugnen bzw. Bagatellisieren als Risikomarker für Persönlichkeitsstörungen oder deliktsfördernde Einstellungen bezeichnet135, stellt sie zudem selbst die Frage nach Überschneidungen einzelner Prognosekriterien. Wie im Zusammenhang mit dem HCR-20 gezeigt, kann die Tatverleugnung beispielsweise auch bei der Frage nach einer ÄPsychopathy³ ___________ Test strukturiert und hat ± noch ± keine, auf eine Norm bezogene oder kriterienorientierte Scores³ (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 35). Dabei versteht das SVR-20-Schema sich nur als Äerster Schritt zur Entwicklung eines minimalen Praxisstandards³ (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 17). Zu berücksichtigen ist zudem, dass die wissenschaftliche Absicherung der Kriterien ausnahmslos auf Studien nordamerikanischer Provenienz zurückgeht, weshalb aus deutscher Perspektive eine Überprüfung von Anwendbarkeit und Validität der Kriterien geboten erscheint (vgl. Egg 2002, S. 324). Darüber hinaus wird ± wie beim HCR-20-Schema ± ausschließlich auf Rückfalluntersuchungen Bezug genommen, nicht auf Vergleichsuntersuchungen, die allein eine Identifikation spezifischer Unterschiede zwischen Straffälligen und NichtStraffälligen erwarten lassen. 130 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 31, 44. 131 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 44. 132 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 44. 133 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 31. 134 Siehe Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 81 ff. 135 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 75.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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von Bedeutung sein136 oder lässt sich in Beziehung zu einer gravierenden seelischen Störung137 denken. Insgesamt ist der Prognostiker damit auch hier im Umgang mit einer Tatverleugnung weitgehend frei. III. Die Ansätze von Rasch und Nedopil In Deutschland wird die Äklinische³ Form der Prognosestellung empfohlen und praktiziert138, blickt man allerdings auf deren vorherrschende Instrumente, so scheint die klassische Konkurrenz zwischen statistischer und klinischer Methode überwunden139. Im Vordergrund stehen Prognoseschemata, die einerseits die Notwendigkeit einer klinisch fundierten Individualprognose betonen und insoweit die schematische Anwendung von Statistik ablehnen, andererseits aber für die Berücksichtigung von empirisch fundierten Basisraten und Risikofaktoren offen sind140. Wahrscheinlichkeitsangaben bilden hier in der Regel nicht den Endpunkt des Verfahrens, sondern gehen in eine breit angelegte Würdigung der gesamten Datenlage ein, aus der heraus eine individuelle Vorhersage abgeleitet wird141. Summenscores bzw. Rückfallwahrscheinlichkeiten Äkalibrieren“ also die individuelle Beurteilung in gewissem Sinne, indem sie Ausgangsniveau und Rahmen für prognostische Erörterungen vorgeben.142 Erstmals wurden Mitte der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum Kriterienkataloge vorgestellt143, die klinisch hergeleitete Faktoren zur Abschätzung des Rückfallrisikos zusammenfassten und unterschiedlichen Beurteilungsebenen144 zuordneten.145 Wie bisherige statistische Verfahren nahmen auch sie auf statisch-biografische Faktoren Bezug, integrierten darüber hinaus aber dynamische Aspekte auf der Grundlage klinisch-empirischer Erfahrung146. Mit Ädyna___________ 136 Auf sie nimmt das 3. Item des SVR-20-Schemas Bezug (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 53 f.). Siehe dazu auch die Überlegungen zu Tatverleugnung und ÄPsychopathy nach Hare³. 137 Vgl. das 4. Item des SVR-20, Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 55 f. 138 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 139 Vgl. dazu auch Dittmann 2000, S. 72. 140 Egg 2002, S. 319 ff. Dittmann (2000, S. 72) spricht auch von kriterienorientierter strukturierter Risikokalkulation. 141 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261. 142 Dahle 2000, S. 103. 143 Vgl. Schorsch 1986, S. 311. 144 Wie Determinations- und Intensitätsgrad einer sexuellen Devianz, Objektbezogenheit der Impulse bzw. Fantasien oder eine ichsyntone Integration in das Selbstbild. 145 Urbaniok, KR 2003, 169, 172. 146 Urbaniok, KR 2003, 169, 169.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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misch³ ist dabei eine grundsätzliche Modifizierbarkeit als Gegensatz zum Gleichbleiben der Ästatischen³ Parameter gemeint, die ihrerseits konstant bzw. über die Zeit hinweg relativ stabil sind147. Die Einbeziehung von veränderlichen Kriterien wurde als wesentliche Innovation angesehen, was seinen Beitrag dazu geleistet haben wird, dass die kriteriengeleitete Beurteilung mehrerer Beurteilungsdimensionen zum Teil als Methode der Wahl in der modernen forensischpsychiatrischen Prognostik angesehen wird148. Den ersten, von einem psychodynamischen Verständnis geprägten Ansätzen von Schorsch et al.149 folgten wenig später weitere Kriteriensammlungen, in denen kriminologische und klinische Merkmale kombiniert wurden150. Die verfügbaren Kriterienkataloge unterscheiden sich dabei zwar im Hinblick auf ihre Merkmale, sie folgen aber alle einem ähnlichen Ansatz, indem für die Legalprognose auf unterschiedlichen Beurteilungsebenen günstige und ungünstige Merkmale genannt werden. Dadurch soll nicht nur die Entscheidungsfindung des Untersuchers in strukturierter Weise geleitet, sondern auch die Nachvollziehbarkeit von Bewertungsgrundlage und -ergebnis gefördert werden151. Inzwischen gibt es eine zweite und dritte Generation von Einschätzungsverfahren, die Elemente der klinischen und statistischen Prognose zu kombinieren suchen, um die Vorteile beider Methoden in sich zu vereinigen.152 Sie liegen in sehr vielfältigen, mehr oder weniger strukturierten Varianten vor, die sich vom klassischen statistischen Vorgehen teilweise sehr stark unterscheiden, sich daran aber zum Teil auch ± bis auf den Verzicht einer Aufsummierung einzelner Punktwerte ± sehr stark annähern153. Bei allen Unterschieden sind umgekehrt die Übereinstimmungen so groß, dass bereits von einem weitgehend akzeptierten Standard der Kriminalprognose gesprochen wird, der sich in der forensischen Praxis des deutschsprachigen Raums in den letzten Jahrzehnten herausgebildet habe154. Seine Grundzüge lassen sich anhand einer von Rasch empfohlenen Vorgehensweise erläutern155, die ___________ 147
Egg 2002, S. 316. Siehe dazu Urbaniok, KR 2003, 169, 169 m. w. N. 149 Schorsch 1986, S. 310 f. 150 Dazu Urbaniok, KR 2003, 169, 172. 151 Urbaniok, KR 2003, 169, 172. 152 Egg 2002, S. 312 ff. 153 Vgl. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 154 Egg 2002, S. 313; vgl. aber z.B. die empirischen Ergebnisse zur Qualität von Gefährlichkeitsprognosen im Maßregelvollzug von Nowara 1995. 155 Rasch 1999, S. 374 ff.; siehe auch Dittmann 2000, S. 72 ff.; Nedopil 2000, Egg 2002, S. 313. 148
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
53
in der Praxis weit verbreitet ist156 und auch als Ädimensionaler Ansatz³ bezeichnet wird157. Kerngedanke ist die Aufteilung des prognostischen Beurteilungsprozesses in diagnostisch handhabbare Zwischenschritte, die vom Prognostiker für ein vollständiges Bild der individuellen Risikopotentiale bearbeitet werden müssen. Solche unentbehrlichen Elemente nennt Rasch ÄDimensionen der klinischen Prognose kriminellen Verhaltens“158, was bereits Gestaltungsprinzipien des Vorgehens erkennen lässt. Bewertungen werden hier in vier Dimensionen notwendig, die Vorgeschichte, aktuelle Situation, jüngere Entwicklung und Zukunftsperspektive betreffen.159 Rasch160 gibt dazu jeweils Anhaltspunkte für eine eher günstige oder ungünstige Prognose, wobei er in erster Linie bestimmte Minimalforderungen an Prognosegutachten festschreiben möchte161. In der ersten Dimension fordert sein Ansatz eine Analyse der Auslösetat insbesondere mit Blick auf situative oder persönlichkeitsgebundene Momente. Es geht also um die Vergangenheit des zu Beurteilenden, speziell um seine frühere Kriminalität.162 Merkmale zum Ausgangsdelikt betreffen beispielsweise die situative Eingebundenheit der Tat, den Zusammenhang mit der Persönlichkeit oder die Täter-Opfer-Beziehung, während zur prädeliktischen Persönlichkeit zum Beispiel eingeschliffene Verhaltensmuster, Sucht oder seelische bzw. körperliche Gesundheit erfragt werden163. Gegenstand der zweiten Dimension ist der aktuelle Krankheitszustand bzw. Persönlichkeitsquerschnitt des Probanden. Als prognostisch ungünstig bezeichnet Rasch Befunde, die auf hohe psychische Abnormität hinweisen164, während der Reflex eines eher positiven Persönlichkeitsbilds ohne dauerhafte Abweichungen mit Bezug zu den begangenen Straftaten prognostisch günstig sei165. Wenn in dieser Dimension von Äproduktiver psychotischer Symptomatik mit Bezug zum Tatthema³ die Rede ist, erscheint ein Zusammenhang mit dem Ab-
___________ 156
Egg 2002, S. 313; Dahle 2000, S. 97. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 158 Rasch 1999, S. 374 ff. 159 Rasch 1994, S. 28 ff.; Rasch 1999, S. 376. 160 1999, S. 374 ff. 161 Rasch, NStZ 1993, 509, 510. 162 Rasch 1999, S. 374, 376; vgl. auch Egg 2002, S. 313. 163 Rasch 1999, S. 374, 376; vgl. auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 164 Wie etwa Ähohe Störbarkeit³, Ägeringe Frustrationstoleranz³, ÄDepressivität³, Ägeringes Selbstwertgefühl³, ÄImpulsivität³ oder ÄAugenblicksverhaftung³. 165 Rasch 1999, S. 375 f.; vgl. auch Egg 2002, S. 313 f. 157
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
54
leugnen denkbar, ist dies doch möglicherweise einer krankheitsinduzierten Fehlvorstellung über das Tatgeschehen geschuldet.166 Als dritte Dimension betrachtet Rasch den bisherigen Verlauf seit Begehung der Tat(en). Hier geht es um mögliche Veränderungen oder Neuentwicklungen während eines Freiheitsentzuges im Straf- oder Maßregelvollzug, wobei unter anderem weitere Straftaten, Anpassung in der Haft oder die Überwindung bzw. das Persistieren deliktbezogener Persönlichkeitszüge von Interesse sind167. Für das Leugnungsproblem ist insbesondere der Bezug auf den Umgang mit eigenen Problemen relevant, wobei Rasch die ÄEinsicht in eigene Probleme³ und die ÄTendenz zur Bagatellisierung³ als prognoserelevant bezeichnet168. Die vierte Dimension schließlich erfordert ein Eingehen auf Perspektiven für den Zeitraum nach Prognoseerstellung, beispielsweise im Fall von Urlaub oder Entlassung169. Hier werden Merkmale zum sozialen Empfangsraum170 erfragt, die sämtlich für das Leugnungsproblem ohne Bedeutung sind. Viel wichtiger ist, dass der Vorschlag von Rasch nicht das Ziel hat, eine erschöpfende inhaltliche Merkmalsliste vorzugeben171, was ohne Einschränkungen der Reichweite methodisch ohnehin nicht möglich wäre172. Bei den Dimensionen handelt es sich also nicht um eine ÄCheckliste“, die einfach abgearbeitet werden kann173, die einzelnen Themenbereiche sind vielmehr für jeden Einzelfall inhaltlich zu füllen. Die Vorgabe will den Prognostiker zu einer gewissen Breite der Befunderhebung zwingen und so vor voreiligen Schlussfolgerungen
___________ 166
Vgl. dazu auch die Überlegungen im Zusammenhang mit HCR-20 und SVR-20. Allerdings kann im Fall einer krankheitsinduzierten Fehlvorstellung über das Tatgeschehen bereits kritisch hinterfragt werden, ob hier überhaupt ein Ableugnen vorliegt. Dies ist jedenfalls zu verneinen, wenn man im Leugnen nur die Behauptung wider besseren Wissens sieht. 167 Rasch 1999, S. 375 ff.; siehe dazu auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 168 Rasch 1999, S. 376; vgl. auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76; Egg 2002, S. 314. 169 Rasch 1999, S. 376 ff.; siehe auch Rasch, NStZ 1993, 509, 510. 170 Zum Beispiel Arbeit, Unterkunft, soziale Beziehungen, Konfliktbereiche oder Kontakte zur Therapeuten und Bewährungshelfern (Rasch 1999, S. 376). 171 Rasch 1999, S. 374; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. Die Empfehlung eines ganz bestimmten Verfahrens verbiete sich Änicht zuletzt auch angesichts des heutigen Wissenschaftspluralismus: Keine psychologisch-psychiatrische Theorie könnte behaupten, sie wäre in der Lage, die zur Prognosestellung notwendigen Antworten leicht aus dem Ärmel zu ziehen³ (Rasch 1999, S. 374). 172 Dahle 2000, S. 97. 173 Dahle 2000, S. 97.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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bewahren, auch verweist sie auf inhaltliche Gesichtspunkte, denen erfahrungsgemäß oft prognostische Relevanz zukommt. Keinesfalls aber ist die tatsächliche Bedeutsamkeit dieser Anhaltspunkte für den Beurteilungsfall oder eine Vollständigkeit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte garantiert.174 Erforderlich ist vielmehr stets eine ± auch Äfreihändige³ ± Beurteilung der individuellen Gegebenheiten, was auch für die Tatverleugnung gelten muss, die somit nach dem Ansatz von Rasch keine verallgemeinerungsfähige Bedeutung hat. Die vier von Rasch bezeichneten Dimensionen der prognostischen Bewertung ± Vorgeschichte, aktuelle Situation, jüngere Entwicklung und Zukunftsperspektive ± finden sich im Prinzip auch in anderen Prognosemodellen, allerdings zum Teil mit anderer Begrifflichkeit und Schwerpunktsetzung175. Mit dem Ansatz von Rasch sind beispielsweise die Vorschläge von Leygraf und Nowara176 bzw. Kröber177 vergleichbar. Auch Nedopil hat ein strukturell und inhaltlich ähnliches Modell beschrieben178, indem er zur thematischen Einordnung in vier übergeordnete Dimensionen kam, die denen von Rasch weitgehend ähneln179. Nedopil unterscheidet zwischen Variablen zu Ausgangsdelikt180, prädeliktischer Persönlichkeit181, postdeliktischer Persönlichkeitsentwicklung182 und sozialem Empfangsraum183, für die ± auch mit Blick auf das Leugnungsproblem ± ähnliches wie für den Ansatz von Rasch gilt184.
___________ 174
Rasch 1999, S. 374; Vgl. auch Dahle 2000, S. 97; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. Egg 2002, S. 314. 176 Leygraf/Nowara 1992, 47 ff. 177 Kröber, NStZ 1999, 593 ff.; vgl. dazu auch Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 178 Zusammenfassend Nedopil 1996, S. 188 f.; siehe auch ders. 1992, S. 60 f.; ders. MschKrim 1997, 79, 84 f.; vgl. auch Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 179 So Dahle 2000, S. 97. 180 Zum Beispiel: Ästatistische Rückfallwahrscheinlichkeit³, Äsituative Eingebundenheit des Delikts³, ÄAusdruck einer vorübergehenden Krankheit³, ÄZusammenhang mit der Persönlichkeit³ oder Ämotivationale Zusammenhänge³ (Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188; ders. MschKrim 1997, 79, 85; vgl. auch Egg 2002, S. 314). 181 Etwa ÄKindheitsentwicklung und Faktoren einer Fehlentwicklung³, Äsoziale Integration³, Älebensspezifische Umstände³ und ÄArt und Dauer von krankhaften Verhaltensauffälligkeiten³ (Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188; ders. MschKrim 1997, 79, 85; vgl. auch Egg 2002, S. 314). 182 Dazu gehören ÄAnpassung³, ÄNachreifung³, ÄEntwicklung von CopingMechanismen³, ÄUmgang mit bisheriger Delinquenz³, ÄPersistieren deliktspezifischer Persönlichkeitszüge³, ÄAufbau von Hemmungsfaktoren³ oder ÄFolgeschäden durch Institutionalisierung³ (Nedopil 1992, S. 61; ders. 1996, S. 188; ders. MschKrim 1997, 79, 85; vgl. auch Egg 2002, S. 314). 175
56
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Auch Nedopil betont, dass es sich nicht um eine schematische Kriterienliste handelt, sondern um eine Vorstrukturierung unerlässlicher Gedankengänge, die im Anwendungsfall inhaltlich zu konkretisieren ist.185 Prognostische Beurteilungen seien generell Äsehr weitgehend von der Erfahrung und Intuition des Gutachters³ abhängig186 und die ausgesprochenen Empfehlungen lediglich ein ÄVorgehensvorschlag³ zur Strukturierung der prognostischen Überlegungen187. Zu jedem der genannten Einzelpunkte könne Ädas zur Verfügung stehende wissenschaftliche Material aus der Literatur, die eigene klinische Erfahrung und die spezifische Position des zu begutachtenden Individuums im Spektrum der statistisch definierten Gruppe dargelegt werden.³188 Einzelne Prognosekriterien seien grundsätzlich weniger wegen ihrer Relevanz für den einzelnen Probanden, als vielmehr zur ÄErweiterung der Kenntnisse über die Einschätzung des Einzelfalles³ von Interesse, indem sie bewirkten, Ädaß wichtige Aspekte bei der Risikoabwägung nicht übersehen werden³ und die Einschätzung leichter nachvollziehbar ist.189 Auch die Empfehlungen von Nedopil geben also keinen Umgang mit dem Ableugnen vor. IV. Der Ansatz von Dittmann Mit ähnlichen Prämissen190 wie beim Ansatz von Nedopil ist auch die Liste von ÄKriterien zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter“ anzuwenden, die von Dittmann vorgelegt wurde191 und seit einiger Zeit im deutschsprachigen Raum besondere Aufmerksamkeit genießt192. In seinen Vorbemerkungen schreibt Dittmann dazu: ÄDie Kriterienliste enthält ohne An-
___________ 183 Wie ÄArbeit³, ÄUnterkunft³, Äsoziale Beziehungen³, ÄKontrollmöglichkeiten³, ÄKonfliktbereiche, die rückfallgefährdende Situationen wahrscheinlich machen³ oder ÄVerfügbarkeit von Opfern (Nedopil 1992, S. 61; ders. 1996, S. 188; ders. MschKrim 1997, 79, 85; vgl. auch Egg 2002, S. 315, Dahle 2000, S. 97). 184 Nedopil bezieht sich ausdrücklich auf die Arbeiten von Rasch und bezeichnet sie als Ärelativ vergleichbar³ mit den eigenen Vorschlägen (Nedopil 1996, S. 188; vgl. auch ders. 1992, S. 60). 185 Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188 f.; vgl. auch Egg 2002, S. 314; Dahle 2000, S. 97 ff. 186 Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188. 187 Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188. 188 Nedopil 1992, S. 61; vgl. auch ders. 1996, S. 188 f. 189 Nedopil 1996, S. 188. 190 Vgl. dazu Egg 2002, S. 315. 191 Dittmann 2000, S. 73 ff.; siehe auch Ermer/Dittmann, R & P 2001, 73 ff.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
57
spruch auf Vollständigkeit prognostische Merkmale, die sich nach der Fachliteratur und in der Praxis der Fachkommissionen als anwendbar und aussagekräftig erwiesen haben.³193 Zusammengefasst werden sollen Äwesentliche in der Literatur beschriebene³ Merkmale194, Ädie sich in Literatur und Praxis als anwendbar und einigermaßen valide erwiesen haben³195. Die Skala nennt für insgesamt zwölf Beurteilungsdimensionen jeweils günstige und ungünstige Prognosekriterien, die im Anwendungsfall einzeln zu bewerten sind196. Neben weiteren Aspekten197 ist dabei auch die ÄAuseinandersetzung mit der Tat³ zu analysieren198, wobei es die Vorgaben als prognostisch günstig bezeichnen, Äwenn der Täter bereit ist, sich intensiv mit seiner Tat auseinanderzusetzen und auch in der Lage ist, sich in die Situation des Opfers einzufühlen³199. Besonderes Augenmerk gilt hierbei dem Bemühen um eine Motivationsanalyse, der Auseinandersetzung mit den verletzten ethischen Normen sowie Reue bzw. erkennbarem Bedauern200. Ungünstig wirke umgekehrt, wenn der Täter Äeine rechtskräftig festgestellte Täterschaft leugnet, die Tat bagatellisiert oder sein Fehlverhalten auf andere projiziert³.201 Verbindliche Vorgaben für einen Umgang mit dem Ableugnen sind daraus allerdings nicht abzuleiten. Vielmehr betont auch Dittmann ± wie zuvor schon Rasch und Nedopil ± die Notwendigkeit einer Gesamtschau, verwahrt sich also ebenfalls gegen eine schematische Anwendung seiner Kriterienliste im Sinne einer bloßen Addition von Positiv- und Negativpunkten. In den Vorbemerkun-
___________ 192
So Urbaniok, KR 2003, 169, 172. Seit dem 1. Januar 2000 ist die Kriterienliste verbindliches Beurteilungsinstrument aller Fachkommissionen im Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz (Dittmann 2000, S. 73). 193 Dittmann 2000, S. 83. 194 Dittmann 2000, S. 79. 195 Dittmann 2000, S. 73. 196 Dittmann 2000, S. 73, 85 ff. 197 Diese sind: ÄAnalyse der Anlasstat(en)³, ÄBisherige Kriminalitätsentwicklung³, ÄPersönlichkeit, vorhandene psychische Störung³, ÄEinsicht des Täters in seine Krankheit oder Störung³, ÄSoziale Kompetenz³, ÄSpezifisches Konfliktverhalten³, ÄAllgemeine Therapiemöglichkeiten³, ÄKonkrete Therapiemöglichkeiten³, ÄTherapiebereitschaft³, ÄSozialer Empfangsraum bei Lockerungen bzw. Hafturlaub³, ÄVerlauf nach den Taten³ (Dittmann 2000, S. 85 ff.). 198 Dittmann 2000, S. 74, 88. 199 Dittmann 2000, S. 74. 200 Dittmann 2000, S. 88. 201 Dittmann 2000, S. 74.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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gen heißt es dazu: ÄAnzustreben ist immer eine Individualprognose, die deliktund persönlichkeitsspezifisch sein muss, d. h. nicht alle der nachfolgenden Kriterien sind in jedem Fall sinnvoll anzuwenden und notwendig.³202 Im Gegenteil könnten Äein oder wenige dominierende Merkmale³ das Gesamtergebnis bestimmen, weshalb stets eine ± nicht näher beschriebene ± Gesamtwürdigung notwendig sei. Keinesfalls dürften günstige und ungünstige Merkmale rein mathematisch aufgerechnet werden, weil die einzelnen Kriterien ganz unterschiedliche, von Dittmann jedoch nicht weiter bestimmte ÄWertigkeit und Vorhersagekraft³ hätten.203 Damit ist das Anliegen der Kriterienliste vor allem in der Sicherstellung einer breiten Beurteilungsgrundlage zur Fundierung der prognostischen Einschätzung zu sehen204, während bei inhaltlichen Vorgaben große Zurückhaltung offenbar wird. Es verbleiben also ganz erhebliche Beurteilungsspielräume, wie sich auch in dem Hinweis zeigt, dass sich die Zuverlässigkeit der Vorhersage beträchtlich erhöhe, wenn die einzelnen Kriterien Äin einer interdisziplinären Gruppe von Fachleuten, die praktische Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Straftätern haben³, diskutiert und beurteilt würden205. V. Der Ansatz von Dahle Auch Dahle gliedert in seinem Prozessmodell klinischer Kriminalprognosen206 ± wie schon Rasch und Nedopil ± die prognostische Urteilsbildung in vier Teilaufgaben, bei denen eine Orientierung an der Chronologie von Vorgeschichte, aktueller Situation, jüngere Entwicklung und Zukunftsperspektive durchscheint. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es nicht nur um eine Identifikation von prognostischen ÄGut- und Schlechtpunkten³, sondern um eine einzelfallbezogene Theorienbildung und Hypothesenprüfung geht.207 In einem ersten diagnostischen Teilschritt ist die so genannte Äindividuelle Handlungstheorie“ zu identifizieren.208 Dies verlangt nichts weniger als eine Antwort auf die Frage, warum, d. h. aufgrund welcher situativen Einflüsse und ___________ 202
Dittmann 2000, S. 83. Vgl. Dittmann 2000, S. 84 (Vorbemerkung 8.). 204 Dittmann (2000, S. 84) schreibt in seinen Vorbemerkungen zur Kriterienliste, dass diese als Arbeitsinstrument zur Ermöglichung einer systematischen Fallanalyse verstanden werden soll. 205 Dittmann 2000, S. 84. 206 Dahle 2000, S. 98 ff. 207 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 208 Dahle 2000, S. 101. 203
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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individuellen Eigenschaften, der Proband bisher Straftaten begangen hat.209 Dazu ist zunächst die bisherige Delinquenzentwicklung des Betreffenden nachzuzeichnen und aufzuklären, wobei Dahle in dieser retrograden Analyse den sinnvollsten Zugang zu den individuellen Gegebenheiten sieht210. Weil für Erklärungen eine Vielzahl von (Entwicklungs-, Handlungs-, Kriminal-, Verlaufsoder Störungs-)Theorien potentiell in Frage kommt, besteht eine Aufgabe des Prognostikers darin, aus der Fülle der Möglichkeiten jene Aspekte zusammenzutragen, die für den vorliegenden Einzelfall von Bedeutung sind. Sie sind derart zusammenzufügen, dass sich ein schlüssiges Erklärungskonzept der bisherigen Delinquenz des Betreffenden ergibt. Dies ist eine konstruktive, nicht bloß deduktive Leistung, denn eine Mehrheit von Teilerklärungen ist zu einer neuen Einheit zusammenzuführen, aus der die geforderte individuelle Handlungstheorie hervorgeht211. Dabei hat Dahle den Begriff der Theorie bewusst gewählt, um einen bestimmten Anspruch an die geforderte ÄHandlungstheorie³ deutlich zu machen. Wie jede Theorie soll auch sie in sich selbst sowie im Verhältnis zu bewährten Theorien und Erfahrungen widerspruchsfrei sein. Nicht beleg- und begründbare Vorannahmen sind zu vermeiden, die relevanten Zusammenhänge möglichst erschöpfend einzubeziehen. Kurz gesagt ist eine plausible, nachvollziehbare und vollständige Erklärung der Delinquenzursachen im Einzelfall zu erarbeiten.212 Im zweiten diagnostischen Teilschritt ist die spezifische Entwicklungsdynamik der Persönlichkeit zu ermitteln.213 Dazu ist der Zeitraum seit der letzten Tat anhand jenes Erklärungsmodells der Delinquenz zu analysieren, das im ersten Schritt erarbeitet worden ist.214 Die Tatanalyse muss in eine Verlaufsbetrachtung eingebettet werden, um sowohl die Bedingungen individueller Entwicklung als auch Veränderungspotenziale zu erfassen.215 Dabei genügt die einfache Beschreibung etwaiger Veränderungen nicht, sondern es sind ebenfalls Erklärungen unter Bezug auf entsprechende (Entwicklungs-, Persönlichkeits-, Kriminalitätsverlaufs- oder Störungs-)Theorien und empirische Befunde zu suchen216.
___________ 209
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. Dahle 2000, S. 98. 211 Dahle 2000, S. 98. 212 Dahle 2000, S. 99. 213 Dahle 2000, S. 101. 214 Dahle 2000, S. 99 ff. 215 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 216 Dahle 2000, S. 100. 210
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
60
In Analogie zum ersten Teilschritt ist auch hier eine integrierende Gesamterklärung gefordert. Sie kann als individuelle Entwicklungstheorie der Persönlichkeit bezeichnet werden217 und soll spezifisch kriminalitätsbedingende Risikopotentiale beschreiben218. Nach Dahle sind hierfür vor allem die zeitlich etwas stabileren, personalen Faktoren von Interesse, da sie im engeren Sinne die individuellen Risikopotentiale der Person darstellten. Sie sollen in einem möglichst umfassenden Bild der Veränderbarkeit sowie der Entwicklungsrichtung und Entwicklungsdynamik erfasst werden.219 Dies sei vor allem dann von Bedeutung, wenn seit der letzten Tat Bemühungen stattgefunden hätten, die individuellen Risikopotentiale gezielt ± zum Beispiel durch strafrechtliche Sanktionen oder pädagogische Maßnahmen ± zu beeinflussen.220 Der dritte diagnostische Teilschritt dient der Analyse des aktuell erreichten Entwicklungsstands.221 Hier sollen die spezifischen Risikopotentiale des Probanden zum Zeitpunkt der Begutachtung erfasst werden. Dazu sind ± bestehende oder neu auftretende ± Risikokonstellationen aber auch protektive Faktoren unter Bezugnahme auf die bisherige Kriminalität zu bewerten.222 Dahle bezeichnet dies als Äklassische“ Aufgabe klinischer Diagnostik und fordert entsprechend die Orientierung an allgemeinen diagnostischen Standards, die konkreten Inhalte allerdings sind durch sein besonderes Vorgehen geprägt. Es wird nämlich auf jene Informationen Bezug genommen, die in den ersten beiden Teilschritten über die individuell relevanten Risikopotentiale und deren Entwicklungsdynamik gewonnen wurden.223 Ziel ist es dabei, in den relevanten Bereichen die Fortschritte den noch vorhandenen Defiziten des Probanden gegenüber zu stellen. Zudem sollen Möglichkeiten erfasst werden, bestehende Risikopotentiale zu kompensieren. Es geht also insgesamt um die Identifikation von Risikokonstellationen, die dann ± etwa in Form von entsprechenden ÄWenndann-Aussagen³ ± beschrieben werden können.224 Im vierten und letzten diagnostischen Teilschritt geht es um die zukünftigen situationalen Rahmenbedingungen.225 Damit meint Dahle jene Umstände, die zum Zeitpunkt der Prognosestellung eine Realisierung der verbleibenden perso___________ 217
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. Dahle 2000, S. 100. 219 Dahle 2000, S. 99 ff. 220 Dahle 2000, S. 100. 221 Dahle 2000, S. 101. 222 Vgl. dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 223 Dahle 2000, S. 100. 224 Dahle 2000, S. 100. 225 Dahle 2000, S. 101. 218
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
61
nalen Risikomomente und damit weitere Delikte befürchten lassen. Hier sollen also die zukünftigen Lebensperspektiven des Probanden erfasst und individuelle Risikopotentiale herausgearbeitet werden226, wobei Maßstab dafür ± neben der Analyse des aktuellen Status Quo ± die individuelle Kriminaltheorie ist227. Vorgesehen ist also ein Rückgriff auf jene Bedingungsfaktoren der bisherigen Delinquenz, die im ersten prognostischen Teilschritt herausgearbeitet worden sind.228 Die Inhalte können daher je nach konkreter Konstellation ganz unterschiedlich sein; ist in dem einen Fall eine Untersuchung des sozialen Empfangsraums geboten, legt ein anderer die Analyse von Möglichkeiten zur beruflichen Einbindung oder zur Freizeitgestaltung nahe.229 All dies zielt darauf ab, die zukünftigen situationalen Rahmenbedingungen und Handlungsfelder der Person zumindest grob abzuschätzen. Dabei steht die Antizipation von Situationen im Vordergrund, die eine Realisierung der aktuellen individuellen Risikopotentiale befürchten lassen.230 In einer Zusammenführung der Teilschritte lassen sich schließlich Aussagen zum aktuellen Rückfallrisiko, zu spezifischen Risikosituationen und zum bedingten Rückfallrisiko machen, wobei die fortschreitende Persönlichkeitsentwicklung einbezogen wird.231 Dabei sollen sich nicht nur Einschätzungen der Gefährlichkeit in Form von Wahrscheinlichkeitsgraden künftiger Straffälligkeit, sondern auch Aufschlüsse darüber ergeben, von welchen Faktoren ein Rückfall abhängt und welche präventiven Maßnahmen sinnvoll und geboten sind.232 Auch wenn das Prozessmodell von Dahle zum Teil als überzeugendste Zuspitzung der Ansätze von Rasch und Nedopil angesehen wird233, ist es diesen Vorgehensweisen nur vordergründig sehr ähnlich. Im Gegensatz zu ihnen zielt das Modell von Dahle nämlich darauf ab, im Rahmen eines idiographischen Ansatzes die kausalen Determinanten des Einzelfalles und damit die individuell bedeutsamen Risiken herauszuarbeiten. Das Vorgehen wird insgesamt als hermeneutisch bezeichnet; am Ende stehen individuelle Risikokonstellationen, die
___________ 226
Vgl. dazu auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. Dahle 2000, S. 101. 228 Dahle 2000, S. 100. 229 Dahle 2000, S. 101. 230 Dahle 2000, S. 101. 231 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 262. 232 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 233 Kröber, NStZ 1999, 593, 598. 227
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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möglicherweise nur bei diesem Probanden bedeutsam sind und in gruppenstatistischen Untersuchungen niemals zutage treten würden.234 Wie andere dimensionale Ansätze gewährleistet es die Beachtung einer Äinhaltlichen Mindestbreite notwendiger diagnostischer Themenbereiche³, darüber hinaus berücksichtigt es aber auch inhaltliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Dimensionen235. Es bietet bestimmte Leitlinien dafür, die einzelnen Teilschritte inhaltlich zu füllen und die Qualität ihrer Umsetzung zu beurteilen.236 Allerdings ist es nach eigenem Bekunden von Dahle nur ein ÄRahmenmodell, das auf einer mehr oder weniger abstrakten Ebene die prinzipielle Systematik des Vorgehens beschreibt³237. Einen bestimmten Umgang mit dem Ableugnen gibt damit auch dieses Konzept nicht vor. VI. Der Ansatz von Rehder Speziell für Prognosen zum ÄRückfallrisiko bei Sexualstraftätern³ (RRS) hat Rehder ein gleichnamiges Testverfahren vorgelegt.238 Es wurde aus den Daten einer Rückfalluntersuchung von 245 verurteilten Sexualstraftätern entwickelt239, deren Persönlichkeit während der Strafhaft untersucht worden war. Es entstand ein Prognoseinstrument, das einerseits einen Grundbogen zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Inhaftierung (RRS-H) bzw. eines erneuten Sexualdelikts (RRS-S), daneben vier Zusatzbögen für ÄVergewaltiger³ (RRSVE-1, RRS-VE-2) und ÄKindesmissbraucher³ (RRS-SM-1, RRS-SM-2) umfasst.240 Die Tatverleugnung ist keines der Kriterien des Grundbogens241 oder der Zusatzbögen242. Zusammenhänge zwischen einzelnen Kriterien und einer Tatver___________ 234
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. 236 Dahle 2000, S. 101. 237 Dahle 2000, S. 101 f. 238 Rehder 2001. 239 Rehder 2001, S. 6; ders, Mschkrim 1996, 291 ff., 373 ff. 240 Rehder 2001, S. 7; siehe auch Egg 2002, S. 326. 241 Er beinhaltet die Kriterien ÄAlter beim ersten Sexualdelikt³, Ädepressive Persönlichkeitsanteile³, ÄBindungs- und Beziehungsfähigkeit³, ÄHafterfahrung³, Äberufliche Leistungsbereitschaft³, Äsoziale Kompetenz³, ÄZahl der Verurteilungen wegen Sexualdelikten³, ÄBekanntheitsgrad zwischen Opfer und Täter³ und ÄPlanung der Tat, vgl. Rehder 2001, S. 8 ff. bzw. ÄErhebungsbogen RRS-SM-1 und RRS-SM-2³. 242 Der ÄZusatzbogen für Vergewaltiger³ umfasst 12 Kriterien, nämlich ÄAlter beim ersten Sexualdelikt³, ÄBekanntheitsgrad zwischen Opfer und Täter³, ÄPlanung der Tat³, ÄZahl der Opfer von Sexualdelikten³, ÄAlkoholisierung zum Tatzeitpunkt³, ÄBedrohung 235
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
63
leugnung sind denkbar, aber nicht zwingend. Möglich ist, dass ein Ableugnen Folge eines Ädepressiven Persönlichkeitsanteils³, einer bestimmten ÄHafterfahrung³ oder Ämangelnder sozialer Kompetenz³ ist243, es kann mit einer ÄRealitätsflucht³244 in Zusammenhang stehen, all dies muss aber nicht so sein. Tatverleugnung ist auch hier allenfalls als Ausdruck eines bestimmten Merkmals, nicht jedoch als solche prognoserelevant. Über die Einzelkriterien der Bögen hinaus ist keine Einbeziehung des Ableugnens denkbar. Für alle Items sind gemäß einem Testmanual Punktwerte zu vergeben, die anschließend zu Summenscores addiert werden. Daraus wiederum ergeben sich dann die aus der zugrunde liegenden Studie abgeleiteten Normwerte in Form eines Prozentrangs, was schließlich Einstufungen in eine von drei bzw. vier Risikogruppen245 mit entsprechenden Interpretationshinweisen ermöglicht246. Dieses weitgehend an der Statistik orientierte Vorgehen lässt also keinen Raum für eine weitere Berücksichtigung des Ableugnens, so dass auch der Ansatz von Rehder keinen bestimmten Umgang mit dem Ableugnen vorschreibt. VII. Der Ansatz von Urbaniok Urbaniok hat ein Instrument mit der Bezeichnung ÄForensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System³, kurz ÄFOTRES³ vorgelegt. Es versteht sich selbst als Versuch eines klinischen Prognoseinstruments neuer Generation247 und wird als ÄSystem aus der Praxis für die Praxis³248 bezeichnet. ___________ des Opfers³, ÄGestörte Realitätseinschätzung³, Ädepressive Persönlichkeitsanteile³, Äkonventionelles Geschlechtsrollenverständnis³ und drei Variablen (E. M, N) des so genannten 16-Persönlichkeits-Faktoren-Tests Ä16 PF³ (vgl. Rehder 2001, S. 8 ff. bzw. ÄErhebungsbogen RRS-VE-1 und RRS-VE-2³). Der ÄZusatzbogen für Kindesmissbraucher³ weist die Kriterien ÄAlter beim ersten Sexualdelikt³, ÄInzesttäter/Pädophiler³, ÄZahl der Verurteilungen wegen Sexualdelikten³, ÄZahl aggressiver Straftaten³, ÄIntensität des Sexualverhaltens³, ÄBindungs- und Beziehungsfähigkeit³, Ädepressive Persönlichkeitsanteile³ und Äberufliche Leistungsbereitschaft³ aus, vgl. Rehder 2001, S. 8 ff. bzw. ÄErhebungsbogen RRS-SM-1 und RRS-SM-2³. 243 Dies sind sämtlich Kriterien des Grundbogens. 244 Einer Variable des ÄZusatzbogens für Vergewaltiger³. 245 Sie werden durch das Maß der Rückfallgefahr beschrieben, wobei zwischen keiner, geringer, durchschnittlicher und hoher einschlägiger Rückfallgefahr unterschieden wird, vgl. jeweils S. 4 der entsprechenden Erhebungsbögen bei Rehder 2001. 246 Dazu Egg 2002, S. 326. Ausdrücklich heißt es im Manual, Ädass das Ergebnis des RRS nur Bestandteil einer Prognose, nicht aber die Prognose selbst sein sollte³ (Rehder 2001, S. 26). 247 Urbaniok 2004, S. 49 f.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Vorgegeben sind vier Beurteilungsebenen: Unter dem Oberbegriff Ästrukturelles Rückfallrisiko³ werden zunächst Merkmale der Vergangenheit erfasst, die Grunddispositionen des Täters repräsentieren.249 Die zweite Beurteilungsebene ÄBeeinflussbarkeit³ soll eine Einschätzung darüber erlauben, inwieweit die Grunddispositionen durch Veränderungsprozesse beeinflusst werden können.250 Die Auseinandersetzung mit der Ädynamischen Risikoverminderung³ dient der Erfassung von Veränderungen nach dem Anlassdelikt, während es in der vierten und letzten Dimension der Äaktuell wirksamen Faktoren³ um die maßgeblichen Therapievariablen geht.251 Zu jeder der vier Ebenen wird eine Vielzahl von Merkmalen vorgegeben, die ihrerseits in einem über 500 Seiten starken Manual beschrieben sind. Der Anwender ist aufgefordert, jedes Einzelmerkmal auf einer 5-Stufen-Skala252 zu bewerten, wofür er zu jedem Merkmal eine Erläuterung findet, die mit einer knappen Definition beginnt und anschließend über ergänzende Beschreibungen, Beispiele oder Wertungshinweise zu Leitfragen für die Kodierung führt253. Die Einzelbewertungen fließen ihrerseits in eine Schlussauswertung ein, die Kennzahlen für die unterschiedlichen Beurteilungsdimensionen hervorbringt.254 Auch für die Analyse des Aussageverhaltens hält ÄFOTRES³ differenzierte Vorgaben bereit, die vor allem zeigen, dass die äußere Haltung des Delinquenten gegenüber dem Tatgeschehen mit einer Dichotomie von Tatverleugnung und Tateingeständnis nur unzureichend beschrieben ist. Das Manual des ÄFOTRES³ zeigt hier ganz unterschiedliche Möglichkeiten auf, die von Äaktiver Verschleierung³255 bis hin zu ÄÜbernahme von Verantwortung³256 reichen. So könne der Betroffene aktiv eine Beziehung zwischen der eigenen Person und der Straftat im Sinne einer Verantwortungsübernahme herstellen257, umgekehrt aber auch Verantwortung Äexternalisieren³, das heißt Gründe und Verantwor___________ 248
So Rüdiger Wulf im Vorwort zum ÄFOTRES³-Manual, Urbaniok 2004, S. 5. Urbaniok 2004, S. 53. 250 Urbaniok 2004, S. 53. 251 Urbaniok 2004, S. 55. 252 Sie sieht für eine Beschreibung der jeweiligen Merkmalsausprägung die Kategorien 0 = nicht vorhanden oder sehr gering, 1 = gering, 2 = moderat, 3 = deutlich und 4 = sehr stark vor. 253 Urbaniok 2004, S. 61. 254 Urbaniok 2004, S. 56. 255 Urbaniok 2004, S. 374 f. 256 Urbaniok 2004, S. 367 ff. 257 Urbaniok 2004, S. 367. 249
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
65
tung für das Tatgeschehen außerhalb der eigenen Verantwortlichkeit suchen. Auch dies erfordere aktives Handeln, beginne also nicht direkt bei fehlender Verantwortungsübernahme, sondern erst am anderen Ende des Möglichkeitsraums bloßer Passivität.258 Des Weiteren gebe es Handlungen im Sinne einer aktiven Verschleierung, mit denen der Täter zur Abschwächung des Tatvorwurfs belastende deliktrelevante Informationen zu vertuschen oder umzudeuten versuche.259 Zur Beschreibung der äußeren Haltung gegenüber dem Tatvorwurf stellt das Manual zusätzlich auf die Opferbelastung ab, um das Ausmaß zu erfassen, in dem der Täter in seinem Aussageverhalten dem Opfer unberechtigt eine Teilverantwortlichkeit für das Tatgeschehen zuschreibt.260 Eine weitere Beschreibungskategorie kommt im Begriff des Ästrategischen Lügens³ zum Ausdruck, der eine Verleugnung als Mittel zur Vorteilserlangung meint261. Auch wird darauf hingewiesen, dass Verantwortungsübernahme nicht automatisch eine Distanzierung von der Tat bedeuten müsse262; erst letztere erfasse eine Bewertung des Tatgeschehens durch den Täter, die beispielsweise in Zeichen des Bedauerns oder einer Entschuldigung zum Ausdruck kommen könne263. Einer differenzierten Analyse unterwirft ÄFOTRES³ auch das Tateingeständnis. So soll die Zeitdauer bis zu einem Geständnis ebenso erfasst werden264 wie dessen Qualität, wobei hier neben Umfang und Detailgenauigkeit auch die damit verbundene emotionale Bewegung berücksichtigt wird265. Zudem weist das Manual auf strategische Überlegungen hin, die das Aussageverhalten beeinflussen können266 und verlangt ausdrücklich die Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung im Aussageverhalten267, zumal manche Täter erst im Laufe der Untersuchung eine adäquate Verantwortungsübernahme gegenüber dem eigenen Tatbeitrag entwickeln würden268. ___________ 258
Urbaniok 2004, S. 375. Urbaniok 2004, S. 374. 260 Urbaniok 2004, S. 376 f. 261 Urbaniok 2004, S. 377. 262 Urbaniok 2004, S. 368. 263 Urbaniok 2004, S. 370. 264 Urbaniok 2004, S. 371. 265 Urbaniok 2004, S. 372 f. 266 Urbaniok 2004, S. 362. 267 Urbaniok 2004, S. 362. 268 Urbaniok 2004, S. 369. 259
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
66
Die Arbeitsanleitung macht also deutlich, dass weder von Äder Tatverleugnung³, noch Ädem Geständnis³ an sich auszugehen ist, sondern darunter komplexe Verhaltensweisen mit unterschiedlicher prognostischer Wertigkeit fallen. Dass auch hier bei Zuordnung der Vorgaben Wertungsspielräume bleiben, wird vom Manual ausdrücklich in Bezug genommen. Die Beurteilungen sollen sich bei feinen Akzentsetzungen gerade in einem Äintuitiv geprägten Wahrnehmungs- und Erkenntnisbereich³ bewegen, um größtmöglichen Einzelfallbezug zu erreichen.269 So kämen auch subtilere Differenzierungen als Ergebnis sensibler Wahrnehmungsvorgänge zum Ausdruck, was den Hinweis im Manual plausibel macht, Ädass die Entscheidung zwischen der Bewertung mit drei (= deutlich) oder vier (= sehr stark) nicht zuletzt auch einer gefühlsmäßigen Wahrnehmung³ entspreche270. Demgemäß findet sich auch im Manual des ÄFOTRES³ der Hinweis auf die Unverzichtbarkeit von individuellen Beurteilungskompetenzen bei Prognosen. Wie jedes andere Prognoseinstrument könne auch ÄFOTRES³ nur ein Hilfsmittel sein, um die Beurteilungsfähigkeiten eines Untersuchers zu fördern und einem transparenten bzw. nachvollziehbaren Entscheidungsgang zuzuführen. Ein Ersatz für individuelle Kompetenzen des Untersuchers sei darin nicht zu sehen271, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass ÄFOTRES³ als Expertenwerkzeug bezeichnet wird, für dessen Anwendung eine Schulung dringend empfohlen ist272. VIII. Der Ansatz von Göppinger, Bock und Maschke 1. Die Arbeitsweise der MIVEA 1983 stellten Göppinger, Bock und Maschke273 die später noch weiterentwickelte274 ÄMethode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse³ (kurz MIVEA oder MivEA) vor, ein Verfahren, das Einzelfälle anhand einer differenzierten vergleichenden Typologie prognostisch einordnet275. Dazu sind hier ± wie bei allen Prognoseverfahren ± zunächst Informationen für die später anstehenden prognostischen Urteile zu erheben, woran sich eine Analyse dieser ___________ 269
Urbaniok 2004, S. 56. Urbaniok 2004, S. 57. 271 Urbaniok 2004, S. 49. 272 Rüdiger Wulf im Vorwort zum ÄFOTRES³-Manual, Urbaniok 2004, S. 6. 273 Göppinger 1985; siehe auch Göppinger 1983. 274 Dazu Göppinger 1997, S. 328 ff., Bock 2000, S. 177 ff. 275 Urbaniok, KR 2003, 169, 173. 270
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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Erhebungen anschließt, deren Ertrag in Folgerungen zu Prognose und Einwirkungen zusammengeführt wird.276 Die Analyse der Erhebungen beginnt mit der Auswertung des so genannten Lebenslängsschnitts, bei der es hauptsächlich um das bisherige Verhalten des Probanden im Zusammenhang mit der Erziehung, im Aufenthalts-, Leistungs-, Freizeit-, Kontakt-, und Delinquenzbereich geht. Im Rahmen der darauf folgenden Analyse des Lebensquerschnitts wird der Zeitraum unmittelbar vor einem entscheidungserheblichen Ereignis ± etwa der letzten Tat, der Unterbringung im Maßregelvollzug oder dem Beurteilungszeitpunkt ± zusätzlich im Hinblick auf bestimmte kriminalitätshemmende bzw. -fördernde Kriterien hin untersucht. Zum Abschluss der Erhebungsanalyse sind auf Grundlage der Erkenntnisse aus den beiden vorangegangenen Auswertungsschritten die Interessen und Grundintentionen herauszuarbeiten, die für den jeweiligen Probanden charakteristisch sind. Der Analyse der Erhebungen folgt die als Diagnose bezeichnete kriminologische Beurteilung. Hier sollen die bei Auswertung der Erhebung gewonnenen Erkenntnisse zu einem umfassenden Bild des Täters in seinen sozialen Bezügen als Einheit zusammengeführt werden. Vergleichsmaßstab sind dabei idealtypische Zusammenhänge von Lebensentwicklung und Delinquenz, mit deren Hilfe sich prüfen lässt, wie schlüssig sich kriminelles Verhalten in Lebenszuschnitt und Sozialverhalten des Betroffenen einfügt.277 2. Die Vorgaben der MIVEA Bereits im Namen dieses Prognoseverfahrens klingt an, dass die ÄMethode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse³ für jeden ihrer Arbeitsschritte Vorgaben in Form von so genannten ÄIdealtypen³ bereithält.278 Dieser Begriff ist bereits im Zusammenhang mit der ÄPsychopathy Checklist³ nach Hare gefallen279, die den Anwender auffordert, aus den Merkmalsbeschreibungen Äeinen Proto- oder Idealtypen zu kreieren, um dann zu entscheiden, wie sehr die Person diesen Prototypen trifft³280. ___________ 276
Schallert, DVJJ 1998, 17, 18. Siehe dazu Bock 1995; Schallert, DVJJ 1998, 17 ff.; Brettel, StV 2005, 99 ff. 278 Bei der Analyse der Erhebungen etwa werden die einzelnen Sozialbereiche anhand einer Gegenüberstellung idealtypischer Verhaltensweisen beurteilt, deren Einzelkriterien sich aus der Reindarstellung des Sozialverhaltens typischer Straftäter und typischer Durchschnittsmenschen ergaben (Schallert, DVJJ 1998, 17, 19). 279 Vgl. den Abschnitt zu Tatverleugnung und ÄPsychopathy nach Hare³. 280 Freese 2000, S. 10. 277
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Ein solches Verständnis des ÄProto- oder Idealtypen³ darf allerdings nicht mit den methodischen Hilfsmitteln der MIVEA verwechselt werden. Sie erhebt bereits einen anderen Anspruch hinsichtlich der logischen Kontrolle bei der Idealtypenbildung, indem sie diesen Vorgang nicht dem Anwender selbst überlässt, sondern sich auf die Ergebnisse der Tübinger JungtäterVergleichsuntersuchung bezieht. Bei dieser Untersuchung wurde eine Häftlingsstichprobe mit 200 männlichen Strafgefangenen einer ebenso großen Vergleichsgruppe gegenübergestellt, um Unterschiede in Sozialverhalten und Lebenszuschnitt zu erfassen und zu systematisieren281. Den Probanden wurden dazu Merkmalsausprägungen zugeordnet und dann die Häufigkeitsverteilungen dieser Merkmale quantitativ ± meist in Tabellenform und unter Angabe der Ergebnisse von Signifikanztests ± erfasst.282 Bei der Auswertung zeigten sich im gesamten Sozialbereich greifbare Unterschiede, wobei sich die Abweichungen umso stärker abzeichneten, je deutlicher sich neben den schicksalhaften Verhältnissen eigenes Verhalten des Probanden auszuprägen begann.283 Dieser Befund motivierte zur Erarbeitung jener Idealtypen, die der MIVEA als Vergleichsmaßstäbe für die Beurteilung des konkreten Einzelfalls dienen. Die 400 Einzelfalldarstellungen der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung wurden dazu unter immer neuen Gesichtspunkten verglichen, zugeordnet und systematisiert284, wodurch Merkmale und Verhaltensweisen so lange als irrelevant oder nebensächlich ausgeschieden werden konnten, bis sich schließlich der spezifische Gehalt der Wirklichkeit ergab, auf den das Erkenntnisinteresse abstellte285. Die maßgeblichen Gesichtspunkte wurden einseitig betont und mit der Fülle korrespondierender Einzelerscheinungen zu einem Äin sich einheitlichen Gedankenbilde³286 zusammengeschlossen.287 Darüber hinaus erarbeitete man ___________ 281
Bock 1995, S. 3. Göppinger 1983, S. 18 ff. 283 Göppinger 1997, S. 33 f. 284 Von einer intuitiven Festlegung der Wirklichkeitserscheinungen, wie Hempel sie der Idealtypenbildung entgegenhielt (vgl. dazu Frommer 1995, S. 137), kann also nicht die Rede sein. 285 Eine solche Vorgehensweise orientiert sich an der Entwicklung von Idealtypen, wie sie von Max Weber zuerst vorgeschlagen wurde (vgl. Göppinger 1997, S. 94 f.; Hendrik Schneider 1996, S. 202). Ein wichtiges methodisches Hilfsmittel war bei der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung die Bildung von so genannten Zwillingspaaren, dass heißt des direkten Vergleichs von Probanden aus den jeweiligen Vergleichsgruppen, deren Persönlichkeitsentwicklung weitgehend ähnlich war. Dass es trotz vergleichbarer Ausgangslagen teilweise erhebliche Abweichungen in der weiteren Entwicklung der ÄZwillinge“ gab, erbrachte wichtige Erkenntnisse für die Idealtypenbildung (dazu Hendrik Schneider 1996, S. 203 f.). 286 So Max Weber (1985, S. 191) zur Idealtypenbildung, Siehe dazu auch Bock 1995, S. 9; Frommer 1995, S. 142; Hendrik Schneider 1996, S. 201 ff. 282
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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Idealtypen, die in der Längsschnittbetrachtung logische Grenzfälle der Erwartbarkeit von Straffälligkeit im Lebenszuschnitt zum Ausdruck bringen288. In einem konkreten Beurteilungsfall sind die individuellen Einzelfallbedingungen zu den abstrakten Umschreibungen der vorgegebenen Idealtypen in Beziehung zu setzen. Eine idealtypische Umschreibung ± zum Beispiel ÄAusnutzen des Fehlens elterlicher Kontrolle in jeder Hinsicht³ ± liefert als Idealisierung gegenüber einem konkreten Geschehen einen Vergleichsmaßstab, dessen Verhältnis zum Einzelgeschehen zu beschreiben ist. Dafür hält die MIVEA beispielsweise bei der Analyse des Lebenslängsschnitts auf den einzelnen Beurteilungsebenen die Extrempole des K-idealtypischen, als des zur Kriminalität tendierenden Verhaltens auf der einen Seite, und des D-idealtypischen, als des auf soziale Integration zielenden Verhaltens der Durchschnittspopulation auf der anderen Seite bereit. Diese beiden Extreme liefern so einen Rahmen für die Beurteilung, innerhalb dessen der Einzelfall differenziert verortet werden kann.289 Hierzu bedarf es individueller Wertungen, allerdings nicht ± wie etwa bei PCL ± außerhalb methodischer Vorgaben, sondern innerhalb des Möglichkeitsraums, der von Idealtypen an den entgegen gesetzten Rändern einer Beurteilungsebene aufgespannt wird.290 Einerseits ist der Einzelfall damit in seinen Besonderheiten zu beschreiben, weil Tendenzen und Entsprechungen mit idealtypischem Verhalten individuell herausgearbeitet werden müssen. Andererseits hat dies stets unter Bezug auf die vorgegebenen Idealtypen zu erfolgen, die selbst nicht zur Disposition stehen. Dies lässt eigene Deutungsmuster nur innerhalb des Rahmens der methodischen Vorgaben zu, so dass sich insbesondere ergibt, was MIVEA als prognostisch irrelevant einstuft. ___________ 287
Bock 1995, S. 9; Hendrik Schneider 1996, S. 201 ff. Göppinger 1997, S. 95. 289 Beispielsweise sieht die Synopse der idealtypischen Verhaltensbeschreibungen im Hinblick auf die Verfügbarkeit der Freizeit für den K-idealtypischen Pol eine Ausweitung der Freizeit bis hin zu so genannten Tageslaufverschiebungen vor, bei denen der Tag erst nachmittags beginnt und am nächsten Morgen endet. D-idealtypisch ist hingegen die Einschränkung der Freizeit durch selbst gewählte Verpflichtungen wie etwa Fortbildungen oder häusliche Mitarbeit. Das konkrete Verhalten des Probanden ist nun in seinem Verhältnis zu diesen Möglichkeiten so genau wie möglich zu beschreiben. In dieser Weise ist das Probandenverhalten stets in seinen Annäherungen und Differenzen zu den Idealtypen der MIVEA zu bewerten. Dadurch gelingt es, die individuellen Besonderheiten des konkreten Falles zu erfassen und für andere nachvollziehbar zu beschreiben. 290 Der Begriff des Idealtyps kann also in ganz unterschiedlicher Weise gebraucht werden. Wenn im Folgenden von Idealtyp die Rede ist, so meint dies ein analytisches Hilfsmittel, wie es von der MIVEA genutzt wird. 288
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Im Rahmen der methodischen Vorgaben erfolgt auch die Integration der Einzelbewertungen zu einem einheitlichen Bild des Täters in seinen sozialen Bezügen. Vergleichsmaßstab sind hier wiederum Idealtypen, mit deren Hilfe sich prüfen lässt, ob sich kriminelles Verhalten schlüssig in das aktuelle Sozialverhalten und die bisherige Lebensentwicklung einfügt oder sich sogar geradezu folgerichtig aus ihm ergibt. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls gelangt der Anwender so zu einer abgeleiteten Gefährlichkeits- und Interventionsprognose.291 Sie umfasst zum einen eine typische Prognose, die mit dem passenden Idealtyp der Stellung der Tat in der Lebensentwicklung korrespondiert, zum anderen werden die Eigenheiten des konkreten Probandenverhaltens in einer individuellen Basisprognose berücksichtigt, um schließlich zu Aussagen über die vermutlichen Auswirkungen von (künftigen) Maßnahmen und sonstigen Reaktionen zu gelangen. 3. Der Umgang mit dem Ableugnen bei der MIVEA Mit ihren dichten methodischen Vorgaben bestimmt die MIVEA auch den Umgang mit einem Ableugnen der Tat, indem sie für eine Berücksichtigung dieses Verhaltens keinen Raum lässt. Eine Tatverleugnung kann weder mit idealtypischen Umschreibungen in den einzelnen Sozialbereichen in Zusammenhang gebracht werden292, noch ist sie bei den Anhaltspunkten aufgeführt, welche die MIVEA zur Analyse des Delinquenzbereichs liefert293. Insbesondere die Beschreibungen zum Nachtatverhalten stellen auf das Entfernen vom Tatort, Verdeckungs- und Verdunkelungsmaßnahmen sowie Beuteverwertung ab, nicht jedoch auf die äußere Haltung zum Tatgeschehen.
___________ 291
Vgl. Bock 1995, S. 13 f.; Schallert, DVJJ 1998, 17, 19. Siehe dazu die Synopse idealtypischer Verhaltensweisen, Göppinger 1997, S. 379 ff. 293 Dazu Göppinger 1997, S. 391 f. 292
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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Die zur Analyse des Lebensquerschnitts vorgegebenen Kriterien294 nehmen ebenfalls nicht auf eine Tatverleugnung Bezug. Am ehesten ließe sich daran noch bei dem K-Kriterium ÄParadoxe Anpassungserwartung³ denken, denn hierunter Äist die Ablehnung jeglicher eigener Anpassung an die Umgebung bei gleichzeitigem Anspruch des Probanden auf Anpassung der Umwelt an ihn zu verstehen. Als ein gewisses Indiz für eine paradoxe Anpassungserwartung kann gelten, daß der Proband die Schuld für seine von ihm als unbefriedigend empfundene Lage stets anderen (Personen oder ÄUmständen³) zuschreibt.³295 Dazu kann passen, dass der Betroffene auch die Verantwortungsübernahme bei begangenem Unrecht verweigert, stets ist dies jedoch kein hinreichender Beleg für ein Vorliegen dieses K-Kriteriums. Eine Äparadoxe Anpassungserwartung³ muss nämlich wiederholt und mit einer gewissen Kontinuität zum Ausdruck kommen, da es in der Kommentierung über den Probanden heißt: ÄIn der Regel hat er, wo immer er im Laufe seines Lebens hingekommen ist, wegen seines Verhaltens laufend Probleme und Schwierigkeiten mit seiner Umgebung, z. B. mit den Eltern, Mitschülern, Kollegen oder Lehrern und Vorgesetzten, gehabt. Anlaß für die vielfältigen Konflikte waren ± nach Meinung des Probanden ± meist Benachteiligungen seiner Person, für die ‚die anderen‘ ebenso selbstverständlich verantwortlich sind, wie der Proband abstreitet, auch nur ansatzweise persönlich einen Teil zu den Problemen beigetragen zu haben.³296 Ohne solche Anhaltspunkte in der bisherigen Lebensentwicklung ist damit auch das Ableugnen der Tat bedeutungslos.
___________ 294
Dies sind zum einen so genannte K-Kriterien, das heißt solche, die in krimineller Hinsicht grundsätzlich als eher gefährdend angesehen werden, nämlich: ÄVernachlässigung des Arbeits- und Leistungsbereichs sowie familiärer und sonstiger sozialer Pflichten³, ÄFehlendes Verhältnis zu Geld und Eigentum³, ÄUnstrukturiertes Freizeitverhalten³, ÄFehlende Lebensplanung³, ÄInadäquat hohes Anspruchsniveau³, ÄMangelnder Realitätsbezug³, ÄGeringe Belastbarkeit³, ÄParadoxe Anpassungserwartung³, ÄForderung nach Ungebundenheit³ und ÄUnkontrollierter, übermäßiger Alkoholkonsum³. Auf der anderen Seite stehen die grundsätzlich eher als kriminalitätshemmend eingeschätzten so genannten D-Kriterien, zu denen ÄErfüllung der sozialen Pflichten³, ÄAdäquates Anspruchsniveau³, ÄGebundenheit an eine geordnete Häuslichkeit (und an ein Familienleben)³, ÄReales Verhältnis zu Geld und Eigentum³, ÄArbeitseinsatz und Befriedigung bei der Berufstätigkeit³, ÄProduktive Freizeitgestaltung³, ÄPersönliches Engagement für personale und Sachinteressen³, ÄAnpassungsbereitschaft³, ÄTragende menschliche Bindungen³, ÄHohe Belastbarkeit bei großer Ausdauer³, ÄVerantwortungsbereitschaft und Eigenverantwortung³, ÄGute Realitätskontrolle³ sowie ÄLebensplanung und Zielstrebigkeit³ gehören. Siehe zu allem Göppinger 1997, S. 395. 295 Göppinger 1997, S. 401. 296 Göppinger 1997, S. 401.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Eigenständige Bedeutung hat eine Tatverleugnung auch nicht beim Herausarbeiten der Grundhaltungen, wie sie im Anschluss an die Auswertung des Lebensquerschnitts unter den Stichworten ÄRelevanzbezüge³ und ÄWertorientierung³ stattfindet. Mit ÄRelevanzbezügen³ sind charakteristische Interessen oder bestimmende Grundintention gemeint, die Verhalten und Lebensführung in besonderer Weise prägen und gestalten.297 Sie kommen möglicherweise auch in einer Tatverleugnung zum Ausdruck, ohne dass allein darin eine prägende bzw. gestaltende Funktion sichtbar werden kann. Ebenso wenig scheint der Bezug auf eine Tatverleugnung geeignet, prägende abstrakte Prinzipien und Werte aufzudecken, wie sie die ÄWertorientierung³ zu beschreiben sucht298. In den nachfolgenden Beurteilungsschritten ändert sich an dem prognostischen Stellenwert der Tatverleugnung nichts mehr. Die Integration der Einzelbefunde folgt einem ÄSpiegelungsprinzip³, indem alles aus vorangegangenen Arbeitsschritten hergeleitet wird, so dass keine Eintrittsstelle für individuelle Bewertungen außerhalb der methodischen Vorgaben bleibt. Da die Anweisungen der MIVEA ihrerseits nicht disponibel sind, ergibt sich damit hier ein eindeutiges Ergebnis: Ein Ableugnen der Tat hat nach den Vorgaben der MIVEA keinen Einfluss auf die prognostische Beurteilung, dieser Umstand wird also als prognostisch bedeutungslos klassifiziert. IX. Weitere Vorgaben für Kriminalprognosen Neben den vorgestellten Prognoseverfahren aus dem angelsächsischen Raum299 gibt es dort noch weitere Verfahren, die dem Begriff des ÄActuarial Risk-Assessment³ zugeordnet werden können. Sie gehen von der Annahme aus, dass Rückfalldispositionen mit persönlichen Merkmalen korrelierten, die wiederum durch statistische Vergleichsuntersuchungen ermittelt werden könnten. Entsprechend fußen die Verfahren in der Regel auf dem Nachweis von Kriterien, die aus faktorenanalytischen Untersuchungen von Kollektiven rückfälliger und nicht rückfälliger Straftäter hervorgegangen sind.300 Ein standardisiertes Prognoseinstrument dieser Art ist der VRAG (Violent Risk Appraisal Guide), den Quinsey et al.301 zur Vorhersage von Gewaltrückfällen vorgelegt haben. Er wurde in Kanada auf Grundlage von Daten über 618 zunächst untersuchte und später entlassene Straftäter entwickelt. Der Anwender ___________ 297
Göppinger 1997, S. 405. Göppinger 1997, S. 409 ff. 299 PCL-R, HCR 20 und SVR 20. 300 Urbaniok, KR 2003, 169, 169 ff. 301 Quinsey et al. 1998. 298
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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muss insgesamt 12 Variablen beurteilen, indem er unterschiedlichen Merkmalsausprägungen jeweils einen bestimmten Punktwert zuordnet. Die Summe aller Punktwerte führt zur Einstufung in eine von neun Risikoklassen, denen für einen sieben- bzw. zehnjährigen Katamnesezeitraum jeweils empirische Rückfallwahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 100 Prozent zugeordnet sind.302 Die 12 Merkmale303 sind klar definiert304, betreffen aber ± wenn überhaupt ± nur mittelbar das Ableugnen der Tat. Der vorliegenden Betrachtung des Leugnungsproblems geht es überdies um die gängigen Prognoseverfahren im Geltungsbereich des deutschen Rechts. Daher darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Grundannahmen des ÄActuarial Risk-Assessment³ auf erhebliche Bedenken von europäischen Experten treffen. Diese sehen in den fraglichen Instrumenten den Ausfluss eines statistischen Forschungsansatzes305, der in seiner derzeitigen Form bei der Kriminalprognose oftmals überfordert sei und methodische Unzulänglichkeiten aufweise306. Wegen solcher Vorbehalte spielen die in Rede stehenden Verfahren im deutschsprachigen Raum nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb, aber auch wegen der Vielzahl der vorliegenden Instrumente307 wird hier auf eine Analyse dieser Verfahren verzichtet. Sie bleiben damit ebenso unberücksichtigt, wie weitere Prognoseverfahren308, um die Überlegungen auf die gegenwärtige Prognoseforschung und -praxis in Deutschland zu beschränken.
___________ 302 Der mittleren Gruppe beispielsweise entspricht eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 35 Prozent (auf sieben Jahre) bzw. 48 Prozent (auf zehn Jahre). 303 ÄWert auf der Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) von Hare³, ÄDiagnosen psychischer Störungen³, ÄFamilienstand³, ÄAufwachsen bei beiden Eltern³, ÄIndex für die Vorstrafenbelastung sowohl mit Gewaltdelikten als auch mit Nichtgewaltdelikten, ÄLebensalter³, ÄMerkmale des Tatopfers³. 304 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 305 Urbaniok, KR 2003, 169, 170. 306 Nedopil 1992, S. 60; Urbaniok, KR 2003, 169, 170. 307 Insbesondere zur Risikoabschätzung von Sexualstraftaten, von denen beispielhaft zu nennen sind: Rapid Risk Assessment for Sexual Offence Recidivism (RRASOR) (Hanson 1997), Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) (Quinsey et al. 1998), Thornton's Structured Anchored Clinical Judgement (SACJ) (Grubin 1998), Static 99 (Hanson/Thornton 2000), The Sex Offender Need Assessment Rating (SONAR) (Hanson/Harris 2000); dazu Urbaniok, KR 2003, 169, 169. 308 Beispielsweise das speziell für den Strafvollzug entwickelte ÄLevel of Service Inventory Revised (LSI-R)³, (vgl. Andrews/Bonta 1995).
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Hier wurde bei der Begutachtung von Sexualstraftätern häufig auf eine von Schorsch aufgestellte Liste zurückgegriffen309; sie umfasst unterschiedliche Parameter, die in nicht-skalierter Form beschrieben und am Probanden im Sinne eines Mehr oder Weniger festzustellen sind. Wie aber eine Integration über alle Merkmale hinweg im Einzelnen erfolgen soll und dann eine Prognose abzuleiten ist, wird nicht näher ausgeführt. Deshalb ergibt sich ± im Allgemeinen und auch im Besonderen für die Tatverleugnung ± eine gewisse Bandbreite konkreter Anwendungsmodi, nicht jedoch eine verbindliche Vorgabe.310 Gretenkord stellte 2001 ein Prognoseinstrument vor311, das er nach der Zielsetzung einer empirisch fundierten Prognosestellung im Maßregelvollzug ÄEFP63³ nannte. Das Verfahren basiert auf den Ergebnissen einer Rückfallstudie, die der Autor zur Legalbewährung von rund 200 ehemaligen Patienten der Klinik für forensische Psychiatrie in Haina durchgeführt hatte. Dabei beschränkte sich die Betrachtung auf die Frage eines Rückfalls mit Gewaltdelikten und neuerlichem Freiheitsentzug, also gewissermaßen auf den Kernbereich des Rückfalls.312 Auf Basis einer multivarianten Auswertung identifizierte Gretenkord Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen und späterem Rückfall, wobei sich letztlich nur vier Faktoren als prognoserelevant herausstellten313 und zum Bestandteil der ÄEFP-63³ wurden. Dazu gehört das Vorliegen der Diagnose Persönlichkeitsstörung sowie die Vorbelastung mit einem Gewaltdelikt (im weitesten Sinne). Das dritte Item ist zu bejahen, wenn mindestens zweimal aggressives Verhalten während der Unterbringung, d. h. körperliche Auseinandersetzungen mit anderen Patienten oder Angriffe auf das Personal, aufgetreten sind. Schließlich wird noch auf das Lebensalter bei Entlassung abgestellt. Eine Prognose nach ÄEFP-63³ orientiert sich also ausschließlich an Variablen, die in keinem direkten Zusammenhang mit einer Tatverleugnung stehen ± sieht man einmal von einem Leugnen ab, das (auch) Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung ist. Da es bei der Gesamtbewertung allein auf die vier genannten Faktoren ankommt ± für jede Faktorenkombination lässt sich die von Gretenkord festgestellte Rückfallwahrscheinlichkeit in
___________ 309 Schorsch 1986, S. 311; sie wurde bereits als einer der ersten Kriterienkataloge des deutsprachigen Raums erwähnt. 310 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261. 311 Gretenkord 2001. 312 Egg 2002, S. 327. 313 Egg 2002, S. 327.
B. Umgang mit der Tatverleugnung in der Prognosepraxis
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einer Tabelle als Prozentwert zwischen 1% und 65% ablesen314 ± ist ein Ableugnen hier insgesamt als prognoserelevanter Umstand ausgeschlossen. Darüber hinaus findet sich in der Praxis eine ganze Anzahl weiterer Erhebungsbögen315, die aus Literatur und Praxis bestimmte Merkmale mit potentieller Bedeutung für die weitere Legalprognose zusammenstellen.316 Zudem gibt es klinische Prognosemethoden bzw. Fragmente davon mit Äbegrenzter Reichweite“, etwa Untersuchungsmethoden zu Detailproblemen, denen in bestimmten Kontexten prognostische Bedeutsamkeit zugeschrieben wird317. Hier ist jedoch nicht der Raum, um auf diese Prognoseinstrumente im Einzelnen einzugehen, zumal mit den näher erläuterten Vorgehensweisen die Prognosepraxis im Wesentlichen beschrieben ist, soweit es das Leugnungsproblem betrifft. Durch die Brille dieses Problems soll allerdings noch ein letzter Blick auf Prognosevorgaben geworfen werden: Bei einer Reihe von Vorhersagekonzepten taucht die Einstellung zur Tat überhaupt nicht auf, was insbesondere für solche aus dem soziologisch-kriminologischen Bereich gilt.318 Frey nennt als einer der ersten das Kriterium ÄEinstellung zur Tat³, das eines der acht von ihm genannten Prognosefaktoren ist. Mit zehn Basispunkten misst er diesem Item allerdings das zweitniedrigste Gewicht zu, während beispielsweise der Persönlichkeitstypus den fünffachen Basiswert hat.319 Leferenz erwähnt das Kriterium der Auseinandersetzung mit der Tat nicht320, und auch die von Andrews und Bonta herausgearbeiteten Ägroßen Vier³ 321 Rückfallkriterien der Kriminalpsychologie sind andere, nämlich Äantisoziale Kognitionen³, Äantisoziales Umfeld³, ÄVorge___________ 314
Siehe Gretenkord 2001, S. 272. Z. B. Westfälischer Arbeitskreis ÄMaßregelvollzug“ 1993; Euckner/TolcksBrandau/Müller-Isberner, ZfStrVo 1994, 154 ff. Florian Weber hat einen statistisch ideografischen Bogen mit insgesamt 123 Einzelmerkmalen vorgestellt, die auf folgende neun Beurteilungsdimensionen verteilt wurden: ÄAktuelles Unterbringungsdelikt³, Äaktuelle Symptomatik³, ÄSozialverhalten³, ÄBelastungsfaktoren der Persönlichkeit³, ÄAnpassungsverhalten³, ÄEmotion/Motivation³, ÄLeistungs-Kontrollbereich³, ÄEntwicklung/Verlauf³ und Äforensische Sonntagsfragen³. Diese Kriteriensammlung ist vor allem für die Beurteilung von Verläufen bei Maßregelvollzugspatienten konstruiert, vgl. Florian Weber 1996. 316 Vgl. Dahle 2000, S. 96. 317 Z. B. Äprognosebedeutsame Kognitionen“, vgl. Schäfer et al., R & P 1995, 118 ff. 318 Kröber 1995, S. 66. 319 Kröber 1995, S. 66. 320 Leferenz 1972, S. 1347 ff. 321 So Endres, ZfStrVo 2000, 67, 71. 315
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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schichte antisozialen Verhaltens³ und ÄMerkmale antisozialer Persönlichkeit³322. X. Tatsächlicher Umgang mit dem Ableugnen in der Gutachtenpraxis Das Vorhandensein von standardisierten Vorgaben sagt nichts darüber aus, ob in der Praxis tatsächlich danach vorgegangen wird. Weil Prognoseverfahren zudem einen großen Freiraum im Umgang mit dem Ableugnen geben, verdient nicht nur der von ihnen vorgesehene, sondern auch der tatsächlich praktizierte Umgang mit einer Tatverleugnung Aufmerksamkeit. Eine wesentliche Erwartung Außenstehender geht dahin, dass bei der Therapie die Tat bearbeitet wird, und auch bei Experten gilt es als ein therapeutisch bedeutsamer Schritt, dass der Täter sich mit seiner Tat auseinandersetzt323. Dieser Befund steht im Einklang mit einer Beobachtung von Nedopil, der untersucht hat, welche Kriterien sechs Münchner Psychiater in 36 kriminalprognostischen Gutachten für besonders wesentlich gehalten haben324. An vierter Stelle der neun als besonders ungünstig erachteten Prädikatoren325 rangierte hier Äkeine Auseinandersetzung mit der Tat³, gefolgt von mangelnder Glaubwürdigkeit, wozu Äauch psychische Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung und Bagatellisierung³ gezählt wurden326. In der Rangliste der Münchner Psychiater für gesunde Strafgefangene stand die Auseinandersetzung mit der Tat sogar an zweiter Stelle und es hieß dazu: ÄHier reichte nicht ein einfaches Bekennen zur Tat, es sollte ein selbstkritisches Problembewußtsein bezüglich der Tat entwickelt, eine Motivationsanalyse und eine Auseinandersetzung mit den ethischen Normen erfolgt sein, um genügend Abwehr und Hemmung gegen einen Rückfall aufgebaut zu haben.³327 Der Tatverleugnung wird in der forensisch-psychiatrischen Praxis also ein viel höherer kriminalprognostischer Stellenwert eingeräumt, als von den meisten kriminalprognostischen Instrumenten. Insoweit besteht zwischen Prognoseforschung und -praxis eine Diskrepanz, die vor allem beim Bezug auf die psy___________ 322
Andrews/Bonta 1995. So haben Schüler-Springorum et al. (MschrKrim 1996, 147, 154) für den Maßregelvollzug ausgedrückt, was auch für den Strafvollzug gilt. 324 Nedopil, Forensia 1986, 167 ff. 325 Hierzu zählten beispielsweise fehlende Krankheitseinsicht, fortdauernde Krankheitssymptomatik oder das Fehlen eines sozialen Empfangsraums, vgl. Nedopil, Forensia 1986, 167, 175 ff. 326 Nedopil, Forensia 1986, 167, 175. 327 Nedopil, Forensia 1986, 167, 175. 323
C. Folgerungen aus der Prognosepraxis für das Leugnungsproblem
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chiatrische Begutachtungspraxis sichtbar wird328. Mit den Besonderheiten der psychiatrischen Sichtweise lässt sich allerdings jene Hochschätzung von ÄKrankheitseinsicht³ bzw. ÄAuseinandersetzung mit der Tat³ auch erklären, die sich in der Praxis zeigt. Hier drückt sich eine Äintuitive³ ärztlich pädagogische Werthaltung aus, die der Einsicht und aktiven Mitwirkung (Compliance) des Patienten maßgebliche Bedeutung für die Rückfallverhinderung beimisst. Zur Einsicht aber gehört insbesondere die Anerkennung der Auffassungen des Arztes zu Ursachen und Therapie, was den beschriebenen Stellenwert einer Tatauseinandersetzung plausibel macht329. Hinter dem Interesse an Tatbearbeitung steht das weitergehende therapeutische Interesse, den Patienten zu einer realistischen Auseinandersetzung mit sich selbst zu befähigen. Er soll sich insbesondere mit seinen (ggf. aggressiven) Interaktionsmustern befassen, denn ohne Probleme in dieser Hinsicht wäre er nicht in den Straf- oder Maßregelvollzug gekommen.330 Das praktische Gewicht der Tatauseinandersetzung kann also mit allgemeinen pädagogischen Vorannahmen in Zusammenhang gebracht werden331, wozu auch das Stichwort ÄPsychoedukation³ einen Beitrag liefert. Verfahren dieser Art verpflichten zu Aufklärung und Informationsvermittlung im persönlichen Kontakt zwischen Therapeut und Patient332, was vor allem in der Verhaltenstherapie für wichtig gehalten wird. Es gilt inzwischen bei Erkrankungen sogar als unverzichtbar, bei denen psychologische Momente und eine starke Selbstbeteiligung die Behandlung bestimmen.333 Selbstbeteiligung aber erfordert aktive Mitwirkung und legt damit die Forderung nach Tatbearbeitung und Einsicht nahe.
C. Folgerungen aus der Prognosepraxis für das Leugnungsproblem Die Auseinandersetzung mit der Prognosepraxis lässt erkennen, dass die relevanten Methoden zumeist auf eine Vielzahl von Prognosekriterien Bezug nehmen, wenn solche Kriterien von vornherein überhaupt feststehen, was ± etwa bei den klinischen oder intuitiven Prognosen ± nicht zwingend der Fall sein muss. Die Vielfalt möglicher Ableitungszusammenhänge betrifft auch die Tatverleugnung, die nach den gängigen Vorgaben beispielsweise in Beziehung zu ___________ 328 Allerdings dominieren Psychiater die Prognosepraxis auch, weshalb eine Verallgemeinerung nahe liegt. 329 Kröber 1995, S. 63 ff. 330 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 154. 331 Vgl. Kröber 1995, S. 66. 332 Angenendt/Stieglitz 2000, S. 240. 333 Angenendt/Stieglitz 2000, S. 240.
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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fehlender Verantwortungsübernahme334, charakterlichen Fehlhaltungen (wie Oberflächlichkeit335 oder Großspurigkeit336), Mangel an Einsicht337, negativen Einstellungen (etwa dem Fehlen von Reue338, Schuldgefühlen339 oder Empathie340), Defiziten der Behandlung341 oder gar seelischen Auffälligkeiten342 stehen kann. Es besteht also eine Fülle möglicher Bezüge zwischen Prognoseergebnis und dem Umstand, dass der Täter sich nach außen hin nicht zu seiner Tat bekennt. Die Tatverleugnung findet sich somit vor zahllosen Übergängen wieder, die es möglicherweise zum Prognoseergebnis führen, welche Brücken jedoch tatsächlich tragen, erschließt sich dem Prognostiker meist erst im Einzelfall. So unterschiedlich und vielfältig die Landschaft der Prognosemethoden dabei auch sein mag, durch die Brille des Leugnungsproblems betrachtet hat sie doch Regelmäßigkeiten. Es zeigt sich, dass keine allgemeingültige Verknüpfung von Tatverleugnung und Prognoseergebnis anerkannt ist: Größtenteils ist das Ableugnen der Tat als solches überhaupt kein prognostisches Kriterium, im Übrigen allenfalls eines unter vielen und hat dabei fast ausnahmslos geringen prognostischen Stellenwert. Dass die Praxis dies anders handhabt, lässt sich am ehesten mit Äintuitiven³ Vorannahmen und Werthaltungen, nicht jedoch mit sachlichen Gründen erklären. Soweit ein Ableugnen als Unterfall eines ausgewiesenen prognostischen Merkmals relevant ist, wird eine vorgelagerte Deutung notwendig, was bereits die prognostische Vieldeutigkeit der Tatverleugnung offenbart. Verbindliche Vorgaben für einen Umgang mit dem Ableugnen fehlen dabei in aller Regel; Vertreter dimensionaler Ansätze beispielsweise betonen, dass ihre Vorgaben keine streng wissenschaftlichen Kriterien im Sinne ausnahmslos greifender Indikatoren, sondern Richtlinien als Ägewisse Minimalbedingungen³343 oder ÄGesichtspunkte der Beurteilung³344 liefern.345 ___________ 334
Freese 2000, S. 20. Freese 2000, S. 19. 336 Freese 2000, S. 19. 337 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36. 338 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36 f. 339 Freese 2000, S. 20. 340 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36 f. 341 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 40. 342 Rasch 1999, S. 375 f.; Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 11. 343 Rasch, NStZ 1993, 509, 510 f. 344 Kröber, NStZ 1999, 593, 596. 335
C. Folgerungen aus der Prognosepraxis für das Leugnungsproblem
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Zum Teil werden allerdings so große Übereinstimmungen zwischen den gängigen Prognoseverfahren gesehen, dass für die allermeisten Fälle weitgehend deckungsgleiche Aussagen vermutet werden346. Die zugehörigen Manuale enthalten ausführliche operationale Beschreibungen der einzelnen Merkmale, was geschulten und erfahrenen Anwendern hohe Objektivität und Zuverlässigkeit der Beurteilungen gewährleisten soll, wobei insbesondere darin der wesentliche Fortschritt gegenüber älteren Prognosetafeln gesehen wird347. Der gegenwärtige Kenntnisstand soll es erlauben, den ermittelten Messwerten im Einzelfall zumindest Bandbreiten des Rückfallrisikos zuzuordnen, was in der Praxis häufig nach Art der Kategorien Äniedrig³, Ämittel“ und Ähoch“ geschieht.348 Betrachtet man jedoch ein Einzelkriterium wie das Ableugnen der Tat, so scheinen die Übereinstimmungen der gängigen Prognoseverfahren weniger im Inhaltlichen als gerade darin zu liegen, einen freien Umgang mit Wirklichkeitsumständen zu ermöglichen. Die Analyse der prognostischen Wertigkeit einer Tatverleugnung hatte es ja gezeigt: Denklogisch kann dieser Umstand das Prognoseergebnis dann mitbestimmen, wenn er selbst ± möglicherweise sogar maßgeblicher ± Einflussfaktor für die prognostische Bewertung ist oder in einen Zusammenhang mit (bestimmenden) Einflussfaktoren gebracht werden kann. Nur nach wenigen Prognoseansätzen aber ist eine Tatverleugnung als solche prognoserelevanter Umstand349. Hier scheitert eine bestimmende Wirkung auf das Prognoseergebnis regelmäßig an jenen Verbindlichkeitsdefiziten, welche die Vorgaben bei Integration der Einzelbeurteilungen zu einem Gesamtergebnis aufweisen350. Bei den meisten Prognoseinstrumenten muss ein Ableugnen sogar erst in einen Zusammenhang mit prognostisch relevanten Umständen gebracht werden351, was nicht gesteuert ist, sondern in der Freiheit des Prognostikers liegt. Auf dem prognostischen Beurteilungsweg weist das Geländer der verbindlichen Vorgaben also regelmäßig entweder bei Bewertung oder Zusammenführung der prognoserelevanten Einzelfaktoren Lücken auf. ___________ 345
Vgl. dazu Birkhoff, StraFo 2001, 401, 405. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 347 Vgl. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. 348 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261. 349 Vgl. Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 76; Kröber 1995, S. 66.; siehe auch Rasch 1999, S. 376; Dittmann 2000, S. 74, 88; Urbaniok 2004, S. 374 f. 350 So fehlen etwa beim HCR-20 oder SVR-20 Schema normierte Werte oder vorgegebene Risikoprofile, die eine Klassifikation des individuellen Risikos künftiger Delinquenz mithilfe der vorgegebenen Kategorien (etwa als ÄNiedrig“, ÄMittel“ oder ÄHoch“) erlauben würden. 351 Vgl. etwa Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 32, 36 f., 40; Freese 2000, S. 19 f.; Rasch 1999, S. 375 f. 346
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Solche Lücken aber überlassen die Beurteilung der Einschätzung des Prognostikers. Ihm steht es vor allem bei Integration der Befunde frei, aufgrund subjektiver Gewichtungen eine Entscheidung zu treffen.352 Solange solche Subjektivismen Platz haben, kann ein Prognostiker das Ergebnis in einem Rahmen frei mitbestimmen, der von inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den gängigen Prognoseverfahren entfernt. Dass der Prognostiker dabei den Boden der verbindlichen Vorgaben nicht verlassen muss, offenbart die fehlende Eignung der Prognoseansätze, mit ihren Anweisungen zu deckungsgleichen Aussagen anzuleiten. Prognostische Vorgaben können nicht so weit in die Wirklichkeit hinein verlängert werden, dass sie auch hier der prognostischen Beurteilung Halt geben. Der Prognostiker ist vielmehr oft auf sich allein gestellt, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem prognostischen Stellenwert von Wirklichkeitsumständen geht.353 Insbesondere wird das Bemühen um objektive Feststellung von prognostischen Einzelkriterien entwertet, wenn die Zusammenführung der Einzelbefunde zu einem Endergebnis nicht ohne Subjektivismen möglich ist. Das Problem der Tatverleugnung offenbart, dass Kriminalprognosen hier methodisch vor zwei funktionalen Hauptproblemen stehen: Zum einen ist die Auswahl der relevanten Items offen, zum anderen fehlen weitgehend die Maßstäbe für eine Integration der erhobenen Befunde. Auswahl und Integration erfordern Leitlinien für Selektion, Interpretation und Gewichtung, daran aber fehlt es größtenteils bei den gängigen Prognoseinstrumenten354. In dimensionalen Ansätzen beispielsweise stehen die einzelnen Dimensionen weitgehend unverbunden nebeneinander, da sie keine methodischen, inhaltlichen oder theoretischen Bezüge zueinander aufweisen, bleibt insofern die Art ihrer Verknüpfung innerhalb des prognosti-
___________ 352
Vgl. dazu auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76 ff. Entsprechend wird der Anwender bei vielen Prognoseinstrumenten ausdrücklich auf seine Eigenverantwortung und notwendige Qualifikationen hingewiesen, siehe z. B. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2, 15; Urbaniok 2004, S. 49; Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188. 354 Davon ist insbesondere der Ansatz von Dahle (2000) auszunehmen, der auf den einzelnen Beurteilungsebenen die Zusammenführung der Einzelkriterien im Abgleich mit allgemeingültigem Wissen ausdrücklich fordert. Sehr ausdifferenziert sind vor allem die Vorgaben der Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse. Sie leitet die Zusammenführung der Einzelbefunde detailliert mit den ÄIdealtypen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt³, darauf bezogenen Äkriminorelevanten Konstellationen³ sowie ÄRelevanzbezügen³ und ÄWertorientierung³ an. Mit den Ebenen der Ätypischen Prognose³, der Äindividuellen Basisprognose³ und der ÄInterventionsprognose³ hält sie zudem elaborierte Vorgaben für die Folgerungen aus der prognostischen Arbeit bereit (zu allem Bock 2000, S. 265 ff.). 353
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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schen Urteilsbildungsprozesses offen355. Auch der Bezug auf verfügbare Theorien kann nur soviel Sicherheit geben, wie diese Theorien selbst.
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis I. Fehlen eines prognosebestimmenden Einzelfaktors Dass ein Prognoseergebnis grundsätzlich nicht unmittelbar aus einem Einzelkriterium folgt, macht eine einfache Überlegung plausibel: Stets muss zumindest eine bestimmte innere Haltung auf die Möglichkeit bzw. Gelegenheit zur Realisierung dieser Haltung treffen, damit es zur Straftat kommt.356 Es wäre also eine geradezu geniale ± oder naive ± Vereinfachung, wenn die Tatverleugnung oder irgendein anderer prognostischer Einzelfaktor das Risiko künftiger Straffälligkeit vorgeben würde, sei es dass das konkrete Prognoseergebnis unmittelbar daraus folgt oder dass es als einziges nicht von vornherein verneint werden muss. Mit der Feststellung des fraglichen Umstands wäre die Diagnostik beendet und der Täter ± etwa wegen seines Leugnens ± einem Grad der Gefährlichkeit zugeordnet. Dass die Möglichkeit einer derartigen prognostischen Potenz von Einzelfaktoren eine Fehlvorstellung sein muss, ergibt sich auch aus der damit einhergehenden Festschreibung auf einen Ist-Zustand. Solange der fragliche Faktor nachweisbar wäre, könnte es keine prognoserelevante Dynamik der Lebensentwicklung geben, Veränderungen jeder Art wären also bedeutungslos. Der leugnende Täter könnte bei dieser Sichtweise zwar jederzeit seine Haltung ändern, solange er jedoch beim Ableugnen bliebe, wäre ihm jede Entwicklungsmöglichkeit in Bezug auf künftiges Legalverhalten abzusprechen. Darauf bezogene Anstrengungen und Maßnahmen müssten als überflüssig angesehen und der Täter sich selbst überlassen werden. Es wäre somit allzu einfach, wenn man die Übereinstimmung der Tatschilderungen des Delinquenten mit den Urteilsfeststellungen oder irgendeinem anderen Text darüber, was Äin Wirklichkeit³ passiert sei, zum Güte- und Prognosekriterium machen könnte.357 Die Notwendigkeit einer multifaktoriellen Betrachtung ergibt sich vielmehr bereits aus den Bedingungen einer Straftat358: Hinter ___________ 355
Dahle 2000, S. 98. Selbst der Nachweis eines Tatentschlusses bedeutet also nicht zwangsläufig spätere Straffälligkeit. Ein Wille zur Deliktsbegehung kann in Ermangelung einer Gelegenheit wirkungslos bleiben. Auch das völlige Fehlen von Hemmungen gegenüber einer Tatbegehung führt nur dann zur Straffälligkeit, wenn sich entsprechende Anreize finden. 357 So auch Kröber 1995, S. 73. 358 Riedel 2002, S. 53. 356
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
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Begriffen wie „Delinquenz“ oder „Straffälligkeit“ verbergen sich vielschichtige, durch unterschiedliche Faktoren bestimmte Sachverhalte359, weshalb alle Einengungen auf Einzelgesichtspunkte naturgemäß falsch sein müssen360. Stets sind also komplexe Vorstellungen notwendig, um die Entstehungsdynamik von Sein und Verhalten zu verstehen361, monokausale Erklärungen mit Ausschließlichkeitsanspruch müssen also scheitern. Schon Franz v. Liszt hat erkannt, dass das Verbrechen Produkt von Anlage, Entwicklung und Umwelt ist362, von ganz seltenen pathologischen Fällen abgesehen kann daher nicht bestimmt werden, was Ursache für welches Verhalten ist363. Kaum einmal wird man beweisen können, dass gerade eine bestimmte Befindlichkeit des Handelnden zwangsläufig und unbeeinflussbar zu einer bestimmten Tat führt364. Damit ist es aber nicht nur üblich, sondern auch notwendig, bei der Kriminalprognostik eine Vielzahl relevanter Kriterien zu prüfen und in differenzierter Weise auf den Einzelfall anzuwenden365. Nun ist es ein Unterschied, ob ein Umstand Ädie³ oder Äeine³ Ursache von Kriminalität ist. Auch wenn eine einzelne Gegebenheit grundsätzlich nicht als alleinige Delinquenzbedingung in Betracht kommt, ist immer noch eine Kumulation von Umständen als Prämisse der Deliktsbegehung denkbar. Es konnte jedoch auch keine Umstandskombination nachgewiesen werden, die stets eine bestimmte Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit erzwingt.366 Ein Blick auf die Kriminalitätstheorien offenbart, dass es bisher keine allgemeingültige Erklärung für Verhalten367 oder dessen besondere Form der Straffälligkeit gibt.368 Es sind zwar Einzelfaktoren bekannt, die bestimmte Formen des menschlichen ___________ 359
Dahle 2000, S. 79; siehe auch Kröber et al., MschrKrim 1993, 227, 235. Kröber, NStZ 1999, 593, 598. Siehe auch Dittmann 2000, S. 68. 361 Kerner 2004, S. 41. 362 v. Liszt 1905, S. 234. 363 Tenckhoff, DRiZ 1982, 95, 99 m. w. N. 364 Detter, NStZ 1998, 57, 57. 365 Urbaniok, KR 2003, 169, 176 ff. 366 In der Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung fand sich allerdings das so genannte Äsocioscolare Syndrom³ (ein Form des Schuleschwänzens mit bestimmten Begleitumständen) ausnahmslos bei Straffälligen, vgl. Göppinger 1997, S. 276. 367 Siehe dazu auch Dittmann 2000, S. 68. 368 Dies ist allerdings kein Makel der Kriminologie. Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens wurden in unterschiedlichen Lebensbereichen ± etwa der Medizin oder Psychologie ± herausgearbeitet, aber alle Erklärungen blieben bisher unzulänglich (siehe dazu z. B. Dittmann 2000, S. 68). Auch die Kenntnisse über konkrete Kausalzusammenhänge sind äußerst bescheiden, vgl. Bock 1984, S. 20. 360
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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Verhaltens erschöpfend erklären369, viele Umstände stehen jedoch als Einflussfaktoren nur in Verdacht, und die meisten Ausprägungen des Verhaltens ± insbesondere des Normalverhaltens ± sind zudem nicht mit einer einzigen Variable befriedigend zu erklären370. Erst recht dürfte abweichendes Verhalten zu viele verschiedene Ursachen und Hintergründe haben, um einer einheitlichen Erklärung zugänglich zu sein. Somit lassen sich allenfalls Bedingungen isolieren, die bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlich machen, jedoch nicht zwangsläufig nach sich ziehen.371 Es begegnet also grundsätzlichen Bedenken, einzelne Merkmale oder Merkmalskombinationen zu zwingenden Bedingungen künftiger Straffälligkeit zu erklären. Ein entsprechender Nachweis ist jedenfalls bisher noch nicht gelungen und ± angesichts der Komplexität menschlichen Handelns und der Vielschichtigkeit seiner Bedingungen372 ± möglicherweise überhaupt nicht erreichbar. Das vorhandene objektive Wissen ist also schlicht unzulänglich. II. Einschätzbarkeit menschlichen Verhaltens Die Unzulänglichkeit prognostischen Wissens lässt Zweifel daran aufkommen, dass menschliches Verhalten überhaupt eingeschätzt werden kann, solchen Bedenken tritt jedoch eine unscheinbare Differenzierung entgegen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob ein Umstand in jedem oder nur in einem bestimmten Einzelfall Ursache ist, es muss also insoweit zwischen Äabstrakter³ und Äkonkreter³ Kausalität unterschieden werden. Wenn von Unzulänglichkeit des Wissens gesprochen wird, meint dies das allgemeinverbindliche Wissen, auch ohne aber etwas über alle Fälle wissen zu müssen, lässt sich etwas über den einen Fall wissen. Es kann also im Einzelfall gelten, was nicht für alles gilt, denn gerade dem menschlichen Verhalten ist eine spezifisch individuelle Prägung immanent. Die ___________ 369
Zum Beispiel zur Regungs- oder Bewusstlosigkeit führende Gifte. Vgl. dazu auch Dittmann 2000, S. 68. 371 Siehe auch Volckart 1997, S. 5. Darüber hinaus wird es als unmöglich angesehen, alle Handlungsdeterminanten statistisch zu erfassen (dazu Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1070; Schreiber 1985, S. 1018 f.); vgl. auch Kaufmann 1983, S. 27 ff., 71 f.; Kaufmann 1985, S. 893 f. Insoweit betrifft insbesondere einen Prognostiker der Hinweis von Sarstedt (NJW 1968, 177, 181), dass einem Sachverständigen keine Allwissenheit abverlangt werden kann. Gleichzeitig gehört nach der Vermutung von Heinz (1990, S. 34) besonderer Mut dazu, einem Gericht zu erklären, dass eine Frage nicht geklärt und ein Problem nicht gelöst werden kann. 372 Vgl. dazu Kerner 2004, S. 41; Dahle 2000, S. 79. 370
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Formulierung einer Äindividuellen Handlungstheorie³373 ist nur möglich, wenn es im Einzelfall wiederkehrende Regelmäßigkeiten im Verhalten und seinen Bedingungen gibt und tatsächlich zeigen Menschen in bestimmten Situationen für sie typische Reaktionen374, wie es auch überdauernde, wiederkehrende Wahrnehmungsweisen und Einstellungen gibt. Innerhalb des (sozialen) Handelns lassen sich also Regelmäßigkeiten375, individuelle Verhaltensmuster und Verhaltensbereitschaften beobachten, die angesichts ihrer relativen Stabilität in die Zukunft fortgeschrieben werden können376. Begangene Straftaten sind Beleg dafür, dass es Entstehungsbedingungen für Kriminalität geben muss, auch wenn ein Umstand nicht generell die maßgebliche Bedingung für kriminelles Verhalten ist, kann er dies somit durchaus in einer individuellen Biographie sein377. Wenn also die Prognoseforschung nicht allgemeingültig verhaltensbestimmende Prognosefaktoren identifizieren konnte, so schließt das den Nachweis von Kriminalitätsbedingungen im konkreten Einzelfall nicht aus. Ein Einzelumstand kann in einer Lebensentwicklung offensichtlich in der Weise conditio sine qua non sein, dass sein Hinwegdenken eingetretene Straffälligkeit entfallen lässt. Der fragliche Wirklichkeitsumstand ist hier kriminalitätsförderndes Reagens, das mit anderen zur kriminalitätsauslösenden Verbindung reagiert. Auch eine individuelle Lebensentwicklung kann also eine sichtbare innere Logik haben, auch sie folgt Regelmäßigkeiten, wenn nicht gar Regeln, die aber gerade auf diese eine Person bezogen sind, also nur hier Geltung beanspruchen können. Damit lässt sich auch ein prinzipieller Einwand widerlegen, der Kriminalprognosen immer wieder entgegengehalten wird: Mit ihrem Bezug auf Wirklichkeitskonstanten seien Verhaltensvorhersagen unvereinbar mit dem Axiom der Willensfreiheit378, quasi der inneren Seite der Äim Konjunktiv stehenden³379 Zukunft. Sie besäßen schon deshalb eine prinzipielle Irrtumsanfälligkeit, weil es ___________ 373
Dahle 2000, S. 98; Kröber, NStZ 1999, 593, 597. Siehe Bock (1999, S. 51), der auf die Ärelative Beständigkeit von Persönlichkeit und Charakter³ hinweist. 375 Vgl. Max Weber 1976, S. 14. 376 Dazu Kröber, NStZ 1999, 593, 598. 377 Z. B. weil es immer nur unter Alkoholeinfluss zu Straftaten kommt. 378 Dieser Einwand wird vor allem Ästatistisch-sozialprognostischen Methoden³ entgegengehalten (dazu Albrecht 2000, S. 149); vgl. auch Göppinger 1997, S. 200. 379 Kühl/Schumann (R & P 1989, 126, 132) verwenden diese Formulierung im Zusammenhang mit der Entscheidung nach den §§ 57, 57a StGB bezogen auf jene ÄVollverbüßer³, die nicht rückfällig geworden wären, wenn man auch ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt hätte. 374
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um menschliches Verhalten und damit um Phänomene wie Selbstbestimmung gehe380. Eine solche Skepsis gegenüber der Kriminalprognose kann zunächst psychologisch gedeutet werden, straft die Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens doch eine anthropozentrische Größenidee Lügen, wonach der Mensch so besonders einzigartig ist, dass sein Handeln nicht prognostiziert werden kann.381 Vor allem aber besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Regelhaftigkeit und Determinierung. Auch ohne Zwang kann eine einzige Entscheidung nahe liegen, etwa weil sie allein den ± freiwillig gewählten ± Vorteil verspricht. Wenn alle das Gleiche tun, kann dies auch aus freien Stücken geschehen.382 Gerade die ungehinderte Abwägung von Anreizen und Hemmungen kann im Saldo eine Entscheidung nahe legen und damit trotz unangetasteter Beurteilungsfreiheit zu (abschätzbaren) Regelmäßigkeiten führen.383 Der Mensch hat zudem oft nur die Möglichkeit einer Abwägung, ohne die Verhaltensbedingungen selbst modulieren zu können. Er kann nur zwischen Handlungsmöglichkeiten wählen, nicht unbegrenzt solche Möglichkeiten schaffen oder gestalten. Es gibt keine absolute Willensfreiheit in dem Sinne, dass man tun und lassen kann, was man möchte; die (unterstellte) Handlungsfreiheit ist vielmehr stets eine bloß relative. Damit aber braucht die Verhaltensprognose die Existenz von Willensfreiheit gar nicht zu hinterfragen, denn ihr geht es nur um Regelhaftigkeit menschlichen Verhaltens, die durch Willensfreiheit (sollte sie anzunehmen sein) nicht ausgeschlossen wird. Eine bis in Kategorien wie Willensfreiheit reichende Erklärungstiefe ist bei der Prognose jedenfalls entbehrlich. Grundsätzlich erscheint damit zumindest für Vergangenheit und Gegenwart eine Identifikation von kriminorelevanten Bedingungen in der individuellen ___________ 380
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68. Eine solche erkenntnistheoretische Prognoseskepsis erklärt, relativiert und rechtfertigt, dass es fehlerhafte Prognosen und unzulängliche wissenschaftliche Kenntnisse darüber gibt, vgl. Urbaniok, KR 2003, 169, 170. Siehe auch Bock 1984, S. 101 f. 382 Dies bildet beispielsweise die freiwillige Uniformierung durch Unterwerfung unter modische Bedürfnisse ab. Die Erwartbarkeit vorhersehbarer, beispielsweise vernünftiger Entscheidungen ist nicht nur Voraussetzung im Alltagsleben, sondern auch Ausgangspunkt vielfältiger Konzepte, beispielsweise der ökonomischen Kriminalitätstheorien (dazu Göppinger 1997, S. 144 ff.). 383 Zu Recht weist Arthur Kaufmann (1983, S. 27 f.) darauf hin, dass die Freiheit zur verantwortlichen Selbstbestimmung nicht mit Freiheit im Sinne des Indeterminismus gleichzusetzen ist, denn dies würde Bedingungen, insbesondere Motive des Handelns übergehen. 381
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Biographie denkbar. Sie profitiert maßgeblich davon, dass Erklärung von Kriminalität etwas anderes ist als deren Vorhersage. Für letzteres genügt grundsätzlich die Identifikation von Regelmäßigkeiten, nach Gesetzen muss dann nicht geforscht werden. Lässt sich ein verlässliches Zusammentreffen von Delinquenz und bestimmten Umständen nachweisen, so muss keine Erklärung dafür gefunden werden, um die Beobachtung für eine Zukunftsvorhersage zu nutzen. Es resultiert also ein Erkenntnisgewinn durch den Nachweis der individuellen ÄRegelhaftigkeit³ von Kriminalität, die stets einzelfallbezogen ist, also nur in den Bedingungen des jeweiligen Anwendungsfalls gründet. III. Kontrolle des prognostischen Denkvorgangs 1. Grenzen des Erfahrungswissens Der Hinweis auf Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens betrifft nur das ÄOb³ einer Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens, lässt aber das ÄWie³ offen. Im Hinblick darauf veranlasst die Unzulänglichkeit des prognostischen Wissens zunächst allein die nüchterne Feststellung, dass keine Kausalbeziehung zwischen Prognosefaktoren und Prognoseergebnis dargetan werden konnte. Eine solche Kausalbeziehung zwischen zwei Umständen ist dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhandensein des einen Umstands notwendig für das Auftreten des anderen ist; eben dies aber konnte für eine Beziehung von Einzelbedingung und künftiger Straffälligkeit bisher nicht allgemeingültig festgestellt werden. Fehlt jedoch eine Kausalbeziehung, kann ein gemeinsames Auftreten zweier Umstände lediglich mit einer bestimmten Häufigkeit angegeben werden. Sie ist hier mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit möglich, aber nicht gewiss. Unterhält ein Umstand also keine Kausalbeziehung zur Straffälligkeit, so schließt er sie weder aus, noch bedingt er sie. Er hält vielmehr stets die Möglichkeit bereit, dass Straffälligkeit eintritt oder dies eben nicht geschieht. Für die Voraussage einer Tatbegehung im Einzelfall eignet er sich nicht, vielmehr lässt er lediglich die im Anwendungsfall wertlose Aussage zu, er könne mit Straffälligkeit einhergehen oder nicht. Damit steht die Prognose vor einem methodischen Grundproblem. Wie jede Form der folgerichtigen Erkenntnisgewinnung sind auch kriminalprognostische Überlegungen an die Gesetze der Logik gebunden, die wiederum auf der Schlussfolgerung aus gegebenen, als richtig erkannten Aussagen beruhen. Prognosen sind Behauptungen über ein zukünftiges Geschehen, zu dem ein logischer Zugang verwehrt wäre, wenn nicht fassbare Bedingungen der gegenwärtigen Wirklichkeit den Schluss auf das Zukünftige zuließen. Angesichts fehlender Kausalbeziehungen bleibt für die Kriminalprognostik aber nur der Vergleich des Einzelfalls mit individuellen oder kollektiven Erfahrungen, die Vorhersagen müssen also unabhängig von der Prognosemethode mit
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Erfahrungswissen operieren. Bei den statistischen Prognosen bedeutet die Auswahl der prognoserelevanten Merkmale und ihre Beziehung auf einen Einzelfall nichts anderes als die Formulierung eines Erfahrungssatzes.384 Die intuitive Prognose gründet zwar im Gegensatz zu statistischer und klinischer Prognose nicht auf bestimmten wissenschaftlichen Regeln, nimmt aber ebenso wie die beiden anderen Prognosearten auf das Erfahrungswissen von (populär-) wissenschaftlicher Aus-, Fort- und Weiterbildung bzw. einer langjährigen Berufstätigkeit Bezug385. Die klinische Prognose schließlich gleicht den Einzelfall mit den allgemeinen Erfahrungsregeln der jeweiligen Fachwissenschaft ab386, nutzt also ausdrücklich empirische Kenntnisse. Diese Abhängigkeit der Prognose vom Erfahrungswissen bedingt Besonderheiten der Erkenntnismöglichkeiten. Nach klassischem Wissenschaftsideal stellen Vorhersagen über zukünftige Ereignisse Anwendungsfälle von Theorien auf konkrete Problemstellungen dar. Eine Voraussage wird demnach mit Hilfe transparenter Regeln aus der zugrunde liegenden Theorie abgeleitet und auf den vorherzusagenden Gegenstand bezogen, in diesem Sinne setzt eine Prognose also die theoretische Erklärung des fraglichen Phänomens voraus. Zwischen Erklärung und Prognose besteht insoweit kein prinzipieller Unterschied; jedes zur Erklärung geeignete System kann grundsätzlich auch zur Vorhersage verwendet werden387. Dieses allgemeine Prognosemodell wird auch zur Charakterisierung wissenschaftlicher Kriminalprognosen herangezogen.388 Dabei wird darauf verwiesen, dass es auch hier letztlich um die Anwendung von (Handlungs-, Kriminal- oder Rückfall-)Theorien auf konkrete Problemfälle gehe.389 Erfahrungswissen betrifft jedoch Korrelationen, nicht Kausalitäten, Gründe, Zwecke oder Motive. Es hat die Beobachtung eines Zusammenhangs zum Inhalt, behauptet aber keine Ursächlichkeit und verkörpert damit stets eine Wahrscheinlichkeitsaussage. So häufig eine Beobachtung auch gemacht worden ist, angesichts einer fehlenden Ursachenkenntnis gibt es keine Gewähr dafür, dass sich die Beobachtung auch in der Zukunft wiederholt, dass das Wissen also in die Zukunft hinein verlängert werden kann. Es kann immer nur wahrscheinlich, nicht aber gewiss sein, dass die getroffene Aussage allumfassend gilt. Entspre___________ 384
Volckart 1997, S. 6 ff. Bock 2000, S. 176 ff., der auch darauf hinweist, dass die Bezeichnung Äintuitiv³ damit irreführend ist. 386 Bock 2000, S. 176. 387 Albert 1966, S.127. 388 Volckart, R & P 1998, 3 f. 389 Dahle 2000, S. 78 ff. 385
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chend sind Theorien mit generellem Geltungsanspruch, das heißt als Formulierung allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten, bei Verhaltensprognosen die Ausnahme. Anders als Äklassische“ Theorien beinhalten verhaltens- oder überhaupt sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze kaum je Hypothesen über erschöpfende, das heißt notwendige und hinreichende Kausalzusammenhänge. Die theoretisch postulierten Beziehungen sind in aller Regel stochastischer Natur und erlauben damit von vornherein nur Aussagen in Wahrscheinlichkeitsbegriffen390, was bei Kriminalprognosen stets zu berücksichtigen ist391. Die Erfahrungssätze der Verhaltensvorhersagen392 können zudem immer nur Aussagen über die Personengesamtheit machen, die für ihre Formulierung untersucht wurde.393 Da eine solche Untersuchung auf eine handhabbare Größe angewiesen ist, müssen Personenzahl und potenzielle Prädikatoren begrenzt werden, weshalb stets Zweifel an einer umfassenden Gültigkeit bleiben394. Im Gegenteil beziehen sich die verfügbaren Erklärungsansätze in der Regel ± ausdrücklich oder stillschweigend ± auf eingeschränkte Geltungsbereiche, wie beispielsweise bestimmte Personengruppen oder ein bestimmtes (sub-)kulturelles bzw. soziales Umfeld. Vor allem aber betonen sie gewöhnlich nur Einzelaspekte im Bedingungsgeflecht menschlichen Verhaltens, was sie nach der Terminologie von Albert als ÄQuasitheorien“ relativer Gültigkeit ausweist395. Die Ergebnisse werden aus bekannt gewordenen Fällen abgeleitet und können durch jeden weiteren Einzelfall widerlegt werden.396 Um der Zeit- und Ortsgebundenheit von Erfahrungen und damit der Alterung von Erfahrungssätzen Rechnung zu tragen, müssen Erfahrungssätze also immer wieder von neuem überprüft werden.397 ___________ 390
Dahle 2000, S. 81, Fußn. 4. Vgl. auch Volckart, R & P 2002, 105, 105. 392 Nicht zu den Erfahrungssätzen werden in diesem Zusammenhang die so genannten Idealtypen gezählt, auf die später noch Bezug genommen wird. 393 Um den Aussagegehalt von Erfahrungssätzen gegen ein zufälliges Zustandekommen abzudichten, ist daher eine Validierung mit größtmöglicher Zahl von Verlaufsbeschreibungen notwendig, was eine Zusammenarbeit von Instituten und Forschungseinrichtungen ± etwa im Sinne einer Gutachtenbank, in der erstellte Prognosegutachten gesammelt werden ± wünschenswert macht. Die Validierung stößt allerdings bereits bei Grundlagen der wissenschaftlichen Kriminalprognose an ihre Grenzen, weil eine objektive Beschreibung bzw. qualitative und quantitative Feststellung oft nicht möglich ist (Volckart 1997, S. 15 ff.). 394 Volckart 1997, S. 11. 395 Albert 1966, S.132. 396 Volckart 1997, S. 11. 397 Volckart 1997, S. 19. 391
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Eine Garantie der Bestätigung von Erfahrung kann es dabei nicht geben, weil ihre Bedingungen niemals sämtlich wiederkehren.398 Erfahrungswissenschaftliche Aussagen stehen unter dem Vorbehalt einer Erfahrungsprobe, das heißt sie müssen sich an der Wirklichkeit bewähren und können sich im Gegensatz zu normativen Aussagen als falsch erweisen, drücken also Erwartungen an die Wirklichkeit aus, die durch die Realität enttäuscht werden können399. Erfahrungswissen beruht auf Einzelbeobachtungen, denen ein verbindendes Prinzip fehlt und die damit auch als Zufallsprodukt für eine prognostische Schlussfolgerung unbrauchbar sein können400. Wirklichkeitsaussagen in der Verhaltensvorhersage leiden damit unter zwei Nutzbarkeitsmängeln: Erstens beinhalten sie keine zwingende, sondern eine bloß wahrscheinliche Beziehung von künftigem Verhalten und Wirklichkeitskonstante und zweitens sind sie der permanenten Gefahr einer Widerlegung ausgesetzt.401 2. Fehlende Eignung des Syllogismus Die Nutzbarkeitsmängel der prognostischen Wirklichkeitsaussagen sind in methodischer Hinsicht von großer Bedeutung. Kriminalprognostische Aussagen werden auf einen logischen Schluss zurückgeführt, für den auch die Bezeichnung kategorialer oder prognostischer Syllogismus üblich ist. Gemeint ist ein Denkvorgang, dessen erste (auch als Obersatz bezeichnete) Prämisse das einschlägige Erfahrungswissen zusammenfasst und zu der eine zweite Prämisse (Untersatz) hinzutritt, die den Probanden und seine erwarteten Lebensumstände beschreibt. Ein gemeinsamer Begriff beider Prämissen soll einen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere ermöglichen, der als Konklusion bezeichnet wird und dritter Bestandteil ist. Der Proband wird hier also einer Menge zugeordnet, von der man Erfahrungen über ihr Verhalten hat.402
___________ 398
Volckart 1997, S. 5. Bock 2000, S. 24. 400 Volckart 1997, S. 15. 401 Diese Unzulänglichkeiten dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Prognosen Erfahrung fordern. Überall ist die Sicherheit der Zurechnung umso größer, je gesicherter und umfassender die generelle Erkenntnis ist (Max Weber 1985, S. 179). Wertvoll kann Erfahrungswissen schon dadurch sein, dass es Möglichkeiten aufzeigt. Die ÄPhantasie³ hält einen ersten Vorrat von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln bereit (Vgl. dazu auch Max Weber 1985, S. 194; 276 f.), die insbesondere die Art betreffen, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen. Auch Evidenz als Ziel der Erkenntnisbemühungen wird aus Anlass der Erfahrung gewonnen (Vgl. Jaspers 1965, S. 252). 402 Volckart, R & P 2002, 105, 110. 399
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Der Rückgriff auf einen Syllogismus verspricht jedoch für das Problem einer Implementierung von Erfahrungswissen keinen Erfolg, denn der Syllogismus lässt eine Schlussfolgerung für den Einzelfall nur dann zu, wenn er im Obersatz mit allumfassenden Aussagen, nicht aber mit bloß wahrscheinlichen Begriffsbeziehungen operiert. Kriminalität aber kann nicht durch einzelne Bedingungen erklärt werden, es gibt keinen Umstand, der Kriminalität zwangsläufig nach sich zieht. Von vornherein ausgeschlossen ist damit der Obersatz eines Syllogismus in der Form: ÄDas Vorliegen des Umstands A führt zur Straffälligkeit.³ Möglich sind lediglich Obersätze, die eine Wahrscheinlichkeit formulieren in der Art: ÄDas Vorliegen des Umstands A führt mit der Wahrscheinlichkeit X zur Straffälligkeit.³ Eine solche Prämisse sagt jedoch nichts darüber aus, ob der Umstand A auch beim Betroffenen zur Straffälligkeit führen wird, selbst wenn er dieses Verhalten generell wahrscheinlicher als jede andere Handlungsmöglichkeit macht, denn er lässt das tatsächliche Verhalten des Betroffenen grundsätzlich offen. Entsprechend ist die formal logische Eignung der Obersätze, welche die verschiedenen Prognosearten zu nutzen versuchen. Bei der statistischen Prognose hat er die Grundstruktur: ÄDer Umstand A führt nach statistischen Befunden mit der Wahrscheinlichkeit X zur Straffälligkeit.³ Ähnliches lässt sich für die intuitive Prognose formulieren: ÄDer Umstand A führt nach der individuellen Lebenserfahrung mit der Wahrscheinlichkeit X zur Straffälligkeit³, während die klinische Prognose sich beider Gestaltungsarten des Obersatzes, aber keiner eigenen Syllogismusform bedient. Weist der Proband nun den fraglichen Umstand A auf, kann die Ägeltende³ Wahrscheinlichkeit nur auf ihn übertragen werden, wenn wenigstens sichergestellt ist, dass es immer und bei jedem die jeweilige Wahrscheinlichkeit ist, also wenigstens eine allgemeingültige Beziehung von Wirklichkeitsumstand und Wahrscheinlichkeit besteht. Gerade dies aber ist nicht der Fall, denn die Wahrscheinlichkeit besteht nur nach Ästatistischen Befunden³ bzw. Äder individuellen Lebenserfahrung³ und diese Einschränkungen gebieten, die Wahrscheinlichkeit für den Probanden ausdrücklich offen zu lassen, denn er ist weder Objekt der statistischen Befunde, noch der individuellen Lebenserfahrung. Dieses Problem bei Übertragung der im Obersatz getroffenen Wahrscheinlichkeitsaussage auf den Einzelfall besteht bei empirischem Wissen angesichts seiner Widerlegbarkeit und Vergangenheitsorientierung immer. Der Obersatz eines Syllogismus behauptet das wirkliche Vorhandensein einer Begriffsbeziehung, bei einem Realitätsbezug die tatsächliche, in der Wirklichkeit vorhandene Beziehung von Erscheinung und Merkmal dieser Erscheinung. Eine solche Wirklichkeitsaussage lässt sich jedoch nicht auf den Einzelfall übertragen, wenn sie mit empirischem Wissen operiert. Ein solches Wissen erlaubt nicht die Verlängerung aus der Vergangenheit seiner Erlangung in die Gegenwart des An-
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wendungsfalls oder gar die Zukunft künftiger Verhaltensweisen, da der empirische Befund in Ermangelung eines Kausalzusammenhangs keine fortwirkende Geltung für sich in Anspruch nehmen kann. Ein Älogischer Schluss³ auf die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens dadurch, dass der Proband einer aus Erfahrung gewonnenen Kategorie zugeordnet wird, ist somit als Denkschema untauglich.403 Auf keinen Fall dürfen Wahrscheinlichkeitsaussagen einfach zu Gesetzen erklärt werden, denn ihr eingeschränkter Geltungsanspruch lässt einen deduktiven Schluss auf konkret-individuelle Gegebenheiten ja nicht zu404. Der Einzelfall lässt sich nicht unter statistische Erkenntnisse subsumieren405, über seine Rückfallwahrscheinlichkeit sagt die Rückfallhäufigkeit einer bestimmten Tätergruppe eben nichts aus406. Auf einem metaphysischen Missverständnis beruht die Überzeugung, dem Einzelfall wohne eine Tendenz inne, sich den Quoten entsprechend zu verhalten.407 Bei Verwendung einer Wahrscheinlichkeitsaussage als Prämisse eines Syllogismus wird das Problem, die Übereinstimmung von Hypothese und Wirklichkeit zu beweisen, in die statistische Häufigkeitsangabe abgeschoben.408 Ein Syllogismus erlaubt den Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere, Erfahrungswissen aber ist gerade nicht verallgemeinerungsfähig. Der Syllogismus leistet damit keinen Lösungsbeitrag für die spezifischen Probleme der Anwendung von Erfahrungswissen. Er gibt vielmehr die Unsicherheit der Wahrscheinlichkeitsaussage unmittelbar und ungefiltert an die Schlussfolgerung weiter. Empirisches Wissen müsste für die Einbeziehung in einen Syllogismus stets die Bedingungen seiner Erlangung mitteilen, was wegen der Notwendigkeit einer Abstraktion rasch an Grenzen stößt. Es besteht mit anderen Worten ein Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer wirklichkeitsgetreuen Konkretisierung einerseits und einer Abstraktion andererseits, mit deren Unversöhnlichkeit die Hoffnung auf eine erkenntnisleitende Richtlinie schwindet.409 ___________ 403
Anders Volckart 1997, S. 6. Vgl. auch Dahle 2000, S. 79 ff. 405 Jaspers 1965, S. 21. 406 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 276. 407 Bock 1999, S. 632. 408 Schünemann, ZStW 1972, 870, 879. 409 So selbstverständlich diese Erkenntnis in einer Reindarstellung erscheint, so schwierig kann es sein, ihr auch bei den indirekten, verborgenen Formen syllogistischen Vorgehens Beachtung zu schenken. Jede Einordnung des Einzelfalls als Unterfall allgemeinverbindlicher Vorgaben beruht auf einer Subsumtion. Sie jedoch ist immer nur dann zulässig, wenn ihre Prämissen ± beispielsweise Operationalisierungen von Merkmalen eines Kriterienkatalogs ± allgemeine Geltung haben. Fehlt es daran, kann der 404
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
3. Idealtypen als Beitrag zur logischen Kontrolle Auch wenn sich der Blick enttäuscht vom Syllogismus abwenden muss, bietet sich für ein rationales Vorgehen bei der Prognose ein methodisches Hilfsmittel an: Idealtypen nehmen für sich in Anspruch, die Einbeziehung von allgemeinem empirischem Wissen in eine Einzelfallbeurteilung zu ermöglichen. Sie sind fiktive Gebilde im Sinne einer Idealisierung, die das Wesen bzw. die Reinform einer wirklichen Erscheinung zum Ausdruck bringen.410 Ein Idealtyp fußt wie der dritte Begriff in einem Syllogismus auf einer Beobachtung, diese wird jedoch nicht einfach als solche hingenommen, sondern weiter aufbereitet411. Sie wird quasi von den Einzelheiten gesäubert, die für den jeweiligen Betrachtungszusammenhang unwesentlich sind. Während empirisches Wissen für die Einbeziehung in einen Syllogismus also stets die Bedingungen seiner Erlangung mitzuteilen hat, formt sich der Idealtyp gerade durch den Verzicht darauf. Natürlich hängt auch die Konstruktion der Idealtypen von den einbezogenen Erfahrungen und Befunden, beispielsweise den Zufälligkeiten der Stichprobe, ab. Indem die Wirklichkeit bei Bildung von Idealtypen aber über die konkreten Einzelerscheinungen hinaus aufbereitet wird, ergibt sich ein entscheidender Vorteil gegenüber dem Versuch, Erfahrungswissen in Normen oder Gesetze zu gießen: Erfahrungswissen ist nicht nur widerlegbar, sondern in der Regel bereits widerlegt, wenn es direkt auf die konkrete Wirklichkeit Bezug nimmt. Die ungefilterte Realität ist meist zu unspezifisch für die Formulierung unwiderlegbarer Behauptungen. Für eine bestimmte Tätergruppe beispielsweise ist in den seltensten Fällen eine eindeutige Aussage (etwa über den Rückfall) möglich, fast immer müssen Quoten, d. h. Anteile für bestimmte Merkmale bzw. Einzelerscheinungen, angegeben werden, die für die verbleibenden Restanteile nicht gelten. Kategorische Aussagen zur betrachteten Gruppe sind dann aber nicht möglich, ihre Formulierung würde nicht mehr als Scheingewissheiten belegen, die Unsicherheiten des Erfahrungswissens umdeklarieren. Bei Idealtypen entfällt (wenigstens) die Restunsicherheit durch vergangene Abweichungen. Sie reprä-
___________ Einzelfall allenfalls am ÄBeispiel³ der Vorgaben gemessen und in seinem Verhältnis dazu beschrieben werden. 410 Göppinger 1983, S. 183; Bock 1984; Bock 1995, S. 9; Jaspers 1965, S. 469. 411 Göppinger 1983, S. 182; Frommer 1995, S. 142; Bock 1995, S. 9; Göppinger 1997, S. 94 f.; Hendrik Schneider 1996, S. 202; Bock 2000, S. 160 f.; siehe auch den Abschnitt zum Ansatz von Göppinger und Bock.
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sentieren den unwiderlegten, spezifischen Gehalt einer Erscheinung412 und optimieren damit die Nutzbarkeit von Erfahrungswissen, auch wenn sie selbstverständlich nur die Widerlegung in der Vergangenheit, nicht die Widerlegbarkeit für die Zukunft beseitigen. Idealtypen überwinden zudem eine weitere Unzulänglichkeit des Erfahrungswissens durch die Art ihrer Anwendung. Sie sind gedankliche Konstruktionen, die im Verhältnis zum konkreten Einzelgeschehen immer eine Idealisierung darstellen, in der Wirklichkeit also nicht vorkommen. Keinesfalls dürfen sie als Regel missverstanden werden, deren Anwendungsfall die Realität ist. Einen Schluss vom Allgemeinen zum Besonderem, also einen Deduktions- oder Subsumtionsschluss, lassen sie nicht zu; sie sollen nicht mit der Wirklichkeit zur Deckung gebracht werden. Damit korrespondiert ihr Unterschied zur Gattung, auf den Jaspers hinzuweisen für unerlässlich hielt. Zu einer Gattung kann ein Anwendungsfall gehören, einem Typus kann er (nur) mehr oder weniger entsprechen. Während Gattung der Begriff einer wirklich vorhandenen, abgrenzbaren Art ist, bezeichnet Typus ein fiktives Gebilde, an dem ein Einzelfall gemessen, in das er aber nicht eingeordnet werden kann413. Die Wirklichkeit soll hier auf Modellvorstellungen bezogen werden, die als gedankliche Konstruktionen der Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen Gegebenheiten dienen.414 Die Anwendung von Idealtypen verlangt, dass jeweils geprüft wird, wie das Verhältnis des Einzelgeschehens zum Idealtyp tatsächlich aussieht. Idealtypen bilden einen Vergleichsmaßstab, an dem die Wirklichkeit in ihren Annäherungen und Differenzen gemessen werden kann. Die Realität lässt sich diesem Vergleichsmaßstab nicht zuordnen, jedoch in ihrem Verhältnis zu ihm veranschaulichen und so erfassen sowie für andere nachvollziehbar beschreiben. Es ergibt sich so eine Möglichkeit zur logischen, begrifflich kontrollierten Urteils-
___________ 412 Hempel hingegen hielt den Idealtypen entgegen, dass es ihnen an Klarheit und Präzision mangele (vgl. Frommer 1995, S. 137). Dem Idealtyp geht es aber gerade um Konkretisierung, nicht um Verallgemeinerung. In ihn fließen die Gemeinsamkeiten konkreter Einzelerscheinungen als verbleibender Rest konkreter Übereinstimmungen, nicht in Form eines verallgemeinernden Oberbegriffs ein. Der Idealtyp bestimmt sich also nicht durch die Hinzunahme einer abstrakt-begrifflichen Repräsentation von Gemeinsamkeiten, sondern durch die Herausnahme von Abweichungen auf der Ebene des Konkreten. 413 Jaspers 1965, S. 469; Frommer 1995, S. 141. 414 Max Weber 1985, S. 201; vgl. auch Bock 1995, S. 16; Schallert, DVJJ 1998, 17, 19 f.
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bildung415, ohne dass reale Kausalzusammenhänge bekannt oder allgemeine Gesetze verfügbar sein müssen. Der Idealtyp liefert dabei den allgemeingültigen Bezug, die gemeinsame Perspektive, die eine Urteilsbildung auch ohne kategorische Gesetzmäßigkeiten transparent und kontrollierbar machen kann. Er verkörpert das gemeinsame Richtmaß, das die Objektivierung der Erkenntnisgewinnung fordert. Vor der ÄFolie³ eines Idealtyps hebt sich die Wirklichkeit ab, gleichzeitig ergibt sich ein methodischer Halt, der an eigenen Deutungsmustern vorbeiführt416. Insbesondere die erheblichen Unsicherheiten bei Integration der Befunde, die sich bei vielen Prognosemethoden zeigen, können durch die Verwendung von Idealtypen überwunden werden. Sie liefern Maßstäbe für Beurteilungen, die ohne die Möglichkeit eines Deduktionsschlusses auskommen müssen. Indem die Wirklichkeitsumstände in ihrem Verhältnis zum Idealtyp beschrieben werden, lässt sich prognostische Relevanz im Einzelfall identifizieren. Idealtypen lösen damit das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer wirklichkeitsgetreuen Konkretisierung einerseits und einer Abstraktion andererseits auf und erlauben so eine Implementierung von Erfahrungswissen in die Einzelfallbeurteilung. Indem ein Idealtyp nicht schlicht bejaht oder verneint wird, vermeidet er die starre Weitergabe seiner Gestaltungsform an die Einzelfallbewertung. Er verlangt stets die Einbeziehung der individuellen Einzelfallbedingungen des Beurteilungsfalls, nimmt also gerade auf die individuelle Regelhaftigkeit einer Lebensentwicklung Bezug. Indem er die zur Konstituierung führende Einzelerscheinung von den Sonderbedingungen ihres Auftretens entkleidet, macht er sie gleichzeitig für Zufälliges unangreifbar. Durch Einbeziehung der individuellen Gegebenheiten verspricht die Arbeit mit Idealtypen im Übrigen eine Befriedigung des besonderen, auf das Verständnis des Handlungssinns gerichteten Kausalitätsbedürfnisses417, das bei Vorgängen mit Beteiligung menschlicher Verhaltensweisen besteht. Gerade beim Rückgriff auf Idealtypen wird zudem die menschliche Fähigkeit des Erkennens und Urteilens eingesetzt und damit die notwendige Abgrenzung zu Willkür und Subjektivität erreicht, die in der Forderung nach Rationalität liegt. Idealtypen überwinden somit zwar die besonderen Defizite des prognostischen Wissens und die allgemeinen Unzulänglichkeiten des Erfahrungswissens nicht, ___________ 415
Vgl. Max Weber 1985, S. 201 ff. Vgl. auch Bock 1995, S. 16; Schallert, DVJJ 1998, 17, 19 f. 417 Hier gibt sich das Erkenntnisinteresse nicht mit kausalen Erklärungen zu Art, Umständen oder Häufigkeit des beobachteten Verhaltens zufrieden, sondern strebt nach Deutung, um den Sinn des Handelns zu verstehen, vgl. Bock 1999a, S. 54 f. 416
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liefern aber einen Beitrag zur logischen Kontrolle der Urteilsbildung und führen diese so aus der bloßen Intuition heraus. Mit den Worten von Jaspers418 lässt sich sagen, dass durch Typen fließender Mannigfaltigkeit eine Struktur gegeben wird. Dies prädestiniert Idealtypen für die Einzelfallbeurteilung. Eine Äindividuelle³ Handlungstheorie beansprucht gerade keine allgemeine Geltung, sie verzichtet von vornherein auf die Bewährung in der Wirklichkeit anderer Lebensentwicklungen. Idealtypen aber beanspruchen diese Wirklichkeitserprobung ebenfalls nicht. Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass eine Äindividuelle³ Handlungstheorie mit einer allgemeinen Wirklichkeit außerhalb des Einzelfalls nicht zur Deckung gebracht werden kann. Zum geeigneten Hilfsmittel werden sie dadurch, dass sie einen Vergleichsmaßstab bieten, der das Charakteristische, Eigentümliche oder Besondere des Einzelfalls sichtbar macht. Oft nur bruchstückhaft sichtbare, individuelle Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen müssen auf logische und begrifflich-kontrollierbare Weise bewertet werden können, was eben durch den Bezug auf idealtypisch-modellhafte Begriffe gelingen kann.419 Solche Begriffe helfen insbesondere bei unzulänglichem Wissen. Einer allgemeinen Vorgabe ist nur dann eine Entscheidung zu entnehmen, wenn die Vorgabe allgemeine Geltung beanspruchen kann, in allen übrigen Fällen liefert sie Lösungen nur dann, wenn die Bedingungen ihrer Geltung erfüllt sind. Bei Vorgaben ohne allgemeine Geltung müssen diese Bedingungen damit zunächst bestimmt werden, um im Anschluss daran ihre Erfüllung im Einzelfall feststellen zu können. Werden die Bedingungen einer Geltung aber nicht mitgeteilt, ist die allgemeine Vorgabe ohne Wert, weil ihre Verbindlichkeit offen bleiben muss. Sie kann dann nicht mehr als eine Möglichkeit offenbaren, die sich im Einzelfall allenfalls zur Anregung eignet. Genau dies aber privilegiert den Idealtyp als Leitlinie der prognostischen Erkenntnisgewinnung. Während Vorgaben mit ÄWirklichkeitsanspruch³ im Einzelfall keine Geltung beanspruchen können, stellt der Idealtyp eine Idealisierung mit allgemeiner Geltung dar, einer besonderen Relevanzprüfung bedarf es hier im konkreten Anwendungsfall also nicht. Damit zeigt sich der Idealtyp gleichzeitig als geeignetes Mittel zur Nutzbarmachung von Erfahrungswissen. Dessen Widersetzlichkeit bei der syllogistischen Schlussfolgerung kehrt der Idealtyp ins Gegenteil: Muss Erfahrungswissen für den Obersatz eines Syllogis___________ 418
1965, S. 469. Siehe dazu auch Frommer 1995, S. 141 f.; Frommer/Frommer, Psychologie und Geschichte 1990, 37, 38 f. 419
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mus die Gesamtheit seiner Entstehungsbedingungen mitteilen, wird es umgekehrt von diesen Bedingungen entkleidet, wenn es in einen Idealtyp einfließt. Jaspers hat vor beinahe einhundert Jahren für die psychiatrische Krankheitslehre formuliert, dass eine eindeutige Diagnose nur möglich ist, wenn man vorher von einer klar definierten Krankheit weiß. Scharf abgrenzbare Krankheiten finden sich aber nicht, sondern Änur Typen, die überall in den Einzelfällen ‚Übergänge‘ zeigen³420. Auch für (kriminelle) Lebensentwicklungen gibt es keine trennscharfen, allgemeinen Kategorien, die eine eindeutige Zuordnung erlauben, zuverlässige Operationalisierungen von Lebensentwicklungen oder auch nur von einzelnen Wirklichkeitskonstanten sind hier kaum möglich. Werden Unsicherheiten aber von vermeintlich objektiven Kriterien ± wie scheinbar im Einzelfall gültigen, statistischen Rückfallwahrscheinlichkeiten ± bemäntelt, entsteht eine Scheingewissheit, die sich zudem im Entscheidenden einer Überprüfung entzieht. Ein Typus hingegen lässt sich ebenso klar definieren wie die Differenz zu diesem Typus. Der Beitrag von Idealtypen zur logischen Kontrolle der prognostischen Urteilsbildung lässt sich anhand der ÄMethode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse³ (MIVEA)421 illustrieren. Gleichzeitig wird dabei offenbar, dass dieser Beitrag allein von erfahrungswissenschaftlich gebildeten Idealtypen zu erwarten ist, die gegen gleich lautende Bezeichnungen, etwa den Begriff des Proto- oder Idealtypen bei der ÄPsychopathy Checklist³ nach Hare422, abzugrenzen sind: Die MIVEA überlässt die Konstruktion der Idealtypen und damit der prognostischen Vorgaben nicht ± wie etwa die ÄPsychopathy Checklist³ (PCL) nach Hare ± dem Anwender, sondern nutzt dazu die Methoden und Resultate der empirischen Sozialforschung.423 In die verwendeten Idealtypen fließt so die kollektive Erfahrung der zugrunde liegenden Vergleichsuntersuchung ein und nicht (wie bei der PCL) allein die individuelle Erfahrung des einzelnen Prognostikers. Zudem erfolgt die Idealtypenbildung wissenschaftlich kontrolliert424, nicht nach der subjektiven Einschätzung des Anwenders. Ein Idealtyp im Sinne der MIVEA entsteht aus dem Abgleich mit empirischen Befunden, ist also Ergebnis ___________ 420
Jaspers 1965, S. 476. Göppinger 1983; siehe auch den Abschnitt zum Prognoseansatz von Göppinger und Bock. 422 Vgl. Freese 2000, S. 10. 423 Bock 2000, S. 45 ff. 424 Siehe dazu Hendrik Schneider 1996, S. 204. 421
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einer von wissenschaftlichen Regeln geprägten Forschungsaktivität und nicht einer regellosen individuellen und damit intuitiven Bewertung425. Mit der direkten Aufforderung, auf subjektive Erfahrung zurückzugreifen, leitet die PCL zu einer Idealtypenbildung an, wie sie den Typisierungen des Alltags entspricht426. Dass die Idealtypen der MIVEA hingegen erfahrungswissenschaftlich gebildet wurden, ist schon deshalb von Bedeutung, weil der Erfahrungsvorrat nie in seiner komplexen Fülle, sondern lediglich in bestimmten Aspekten vergegenwärtigt werden kann427. Eine nicht an Regeln bzw. Methoden orientierte Idealtypenbildung läuft damit viel eher Gefahr, die relevante Bewertungsgrundlage nur lückenhaft zu mobilisieren428, was die gängigen Prognoseinstrumente für den prognostischen Beurteilungsvorgang ja insgesamt zu vermeiden suchen429. Gleichzeitig sind die Beschreibungen der MIVEA ± im Gegensatz zu exemplifizierenden bzw. illustrierenden Hinweisen anderer Prognoseinstrumente ± selbst als idealtypische Verhaltensweisen gemeint und liefern so direkt nutzbare Anweisungen für den prognostischen Beurteilungsprozess, nicht Vorstufen idealtypischer Begriffsbildung, denen erst der Anwender Gestalt und Verbindlichkeit als Beurteilungsvorgaben gibt. Dies erklärt auch Unterschiede hinsichtlich des Geltungsanspruchs der prognostischen Anweisungen bei den betrachteten Prognoseverfahren. Bei der PCL etwa kann ein Item auch dann angenommen werden, wenn keines der Charakteristika in der Itembeschreibung erfüllt ist, aber andere Eigenschaften vorliegen, Ädie offensichtlich die Itembeschreibung zum Ausdruck bringen³ 430.
___________ 425
Vgl. Bock 1984, 99 ff.; Göppinger 1997, S. 95 f. Siehe dazu Hendrik Schneider 1996, S. 199 ff.; Göppinger 1997, S. 96. 427 Dazu Hendrik Schneider 1996, S. 199. 428 Es gilt, was bereits im Zusammenhang mit Äintuitiven³ Prognosen ausgeführt wurde: Die subjektive Statistik des Prognostikers kann bereits lückenhaft sein, weil bestimmten Aspekten bisher keine Aufmerksamkeit zuteil wurde, sie kann aber auch negative oder gar positive Erfahrungen mit diesen Aspekten verbuchen. 429 So zum Beispiel Dittmann 2000, S. 84; Rasch 1999, S. 374; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 76. Gleichzeitig garantiert erst die erfahrungswissenschaftliche Kontrolle, was Max Weber (1985, S. 548 f.) in Abgrenzung zur Sinnadäquanz als Kausaladäquanz bezeichnet hat. Um sinnadäquat zu sein, müssen idealtypische Deutungsschemata verstehbar sein; kausaladäquat sind sie nur, wenn sie nicht lediglich einzelne Individuen, sondern tatsächlich den Typus der Gesamtpopulation beschreiben, die Ausgangspunkt der Idealtypenbildung war. 430 Freese 2000, S. 10. 426
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Ähnlich gelockert ist die Bindung an Vorgaben auch bei anderen Prognoseinstrumenten.431 Das HCR-20-Schema etwa verzichtet bewusst auf detaillierte Operationalisierungen, Äum dem Kliniker die Möglichkeit zu geben, individuelle Bewertungen für den jeweiligen Probanden zu ermöglichen³ 432. Rasch will keine erschöpfende inhaltliche Merkmalsliste vorgeben433, Nedopil434 spricht von einer Vorstrukturierung unerlässlicher Gedankengänge, die im Anwendungsfall inhaltlich zu konkretisieren ist. Auch Dittmann weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht alle Kriterien seiner Liste, die ohnehin eine einzelfallabhängige ÄWertigkeit und Vorhersagekraft³ hätten435, Äin jedem Fall sinnvoll anzuwenden und notwendig³ sind436. Dass die MIVEA einen anderen methodischen Anspruch hat, zeigt sich insbesondere in dem Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es den Idealtypen von PCL einerseits und MIVEA andererseits zu eigen ist. Im Rahmen der Beurteilung nach der PCL kann ein Proband, der eine Itembeschreibung sehr gut trifft, als ÄIdealtyp³ für das entsprechende Item dienen437, dieser also Realität sein. Bei der MIVEA hingegen verkörpert der Idealtyp die Wiedergabe des Wesens, der Reinform einer Erscheinung, wie sie in der Wirklichkeit gerade nicht vorkommt.438 Er ist ein fiktives Gebilde, der eine Wirklichkeit mit fließenden Grenzen entspricht439. Idealtypen im Sinne der MIVEA idealisieren Arten, Umstände und Abläufe menschlichen Handelns, indem diese gegenüber dem konkreten Geschehen in sozusagen reiner Form dargestellt werden440. Das Vorliegen eines solchen Idealtyps kann damit nicht nachgewiesen werden, vielmehr ist er ein Begrenzungspfahl des Wirklichen, der einen (im Einzelfall zu bestimmenden) Abstand vom wirklichen Geschehen aufweist. Diese Unabhängigkeit von einer Bewährung in der Realität aber erlaubt es, als Vorgabe für den prog___________ 431
Siehe dazu auch Egg 2002, S. 314; Dahle 2000, S. 97 ff. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. 433 Rasch 1999, S. 37. 434 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188 f. 435 Dittmann 2000, S. 84 (Vorbemerkung 8.). 436 Dittmann 2000, S. 83. 437 Freese 2000, S. 19. 438 Göppinger 1983, S. 183; Bock 1984; Bock 1995, S. 9. 439 So die Formulierung von Jaspers (1965, S. 469) für den ÄTypus³, mit dem insoweit der ÄIdealtypus³ übereinstimmt. Es spricht ohnehin einiges dafür, dass Jaspers sich in wesentlichen Teilen auf das sozialwissenschaftliche Idealtypenkonzept Max Webers bezieht, vgl. z. B. Frommer (1995, S. 137). 440 Bock 1995, S. 9; Göppinger 1997, S. 94 f.; siehe auch Max Weber 1985, S. 194 f; Bock 1984, S. 114 f. 117. 432
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nostischen Beurteilungsvorgang mit allgemeinverbindlichem Geltungsanspruch aufzutreten. IV. Feststellbarkeit des prognostisch Relevanten 1. Notwendigkeit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge Schwierigkeiten der logischen Kontrolle beim prognostischen Denkvorgang unterstreicht ein weiterer Befund: Menschen verhalten sich bei gleichen äußeren Bedingungen ganz unterschiedlich. Den einen beispielsweise spornt Geldmangel zu ehrlicher Arbeit an, den anderen verleitet er zu Straftaten; ein tristes Elternhaus kann Leistungsbereitschaft wecken, aber auch eine resignierte Verweigerungshaltung provozieren. Die Wirksamkeit von äußeren Verhaltensbedingungen weist eine interindividuelle Varianz auf, indem der gleiche Wirklichkeitsumstand mit ganz verschiedenartigen Handlungsweisen einhergeht. Solange diese Unterschiede nicht aus äußerlich sichtbaren Faktoren ableitbar sind, muss man sie einer inneren Haltung zuschreiben. Lange Zeit wurde versucht, menschliches Verhalten ohne Rücksicht auf die mit ihm einhergehenden introspektiven Prozesse zu erklären. Verhalten wurde bevorzugt als quantifizierbare, kausalanalytisch zugängliche Reaktion interpretiert, die auf bestimmte Reize als Ursache zu beziehen sei.441 Innerpsychische Vorgänge aber sind unverzichtbare Grundlage menschlichen Verhaltens. Bereits für Weber war klar, dass Motive und Einstellungen, aber auch bloße ÄStimmungslagen³ einen Einfluss auf Verhalten haben.442 Der Mensch muss einen ÄInput³ zunächst verarbeiten, um überhaupt zu einem ÄOutput³ kommen zu können; Gegebenheiten der äußeren Welt müssen wahrgenommen, verstanden, bewertet und abgewogen werden, damit eine bewusste Reaktion darauf stattfinden kann, exogene Faktoren also ins Bewusstsein integriert werden. Menschliches Handeln bewegt sich unausweichlich in ± zum Beispiel sozialen oder ökonomischen ± Strukturen, die individuell lebensweltlich geprägt sind. Ohne Rücksicht auf diese Prägung ist es nicht verstehbar und seine Erklärung vereinfachend443. Ordnungen der Kultur und Ethik sind für das Individuum nicht et___________ 441
Frommer 1995, S. 140; vgl. auch Graumann 1980, S. 18 f. Max Weber 1995, S. 246 f. Der prognostischen Untersuchungssituation selbst ist ein solcher Einfluss wohlbekannt. Diagnostik und Prognostik sind nur in Zusammenarbeit mit dem Probanden möglich, nicht gegen dessen Willen oder innere Überzeugung. Der Prognostiker kann vom Probanden einen Einblick in das Seelenleben nur erwarten, wenn er eine angemessene Atmosphäre der Offenheit und Ehrlichkeit schafft, vgl. auch Simons, ZfStrVo 2002, 273, 278 zur ÄZwangsbegutachtung³. 443 Bock 2000, S. 31. 442
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was Fremdes, sondern Teil seiner selbst444, die Lebenswelt des Menschen nicht Außenwelt, sondern seine Welt445, die er mit einem subjektiven Sinn verbindet446. Die innere Haltung ist damit notwendiger wenn nicht sogar zentraler Mosaikstein im Verständnis des menschlichen Verhaltens. Ohne die Erfassung seelischer Prozesse kann aus äußeren Verhaltensbedingung in der Regel kein prognostischer Nutzen gezogen werden, eine innere Haltung scheint oft sogar von größerem Interesse zu sein als ein damit korrespondierendes gut sichtbares äußeres Merkmal. Während beispielsweise die Tatverleugnung als solche aus prognostischer Sicht vieles heißen kann, verkleinert sich der Kreis dieser Möglichkeiten deutlich, sollte ein Zusammenhang zur konspirativen Einstellung des organisiert Kriminellen greifbar werden. Es scheint eigentlich gar nicht anders denkbar, als dass individuelles Verhalten mit äußeren Umständen durch eine innere Haltung verbunden ist. Wie soll ein Ableugnen sonst etwas mit der Begehung künftiger Straftaten zu tun haben, wenn nicht über die gemeinsame Wurzel einer gemeinschaftswidrigen Gesinnung? Handlungsimpulse, Handlungspläne und Handlungsmotivationen entstehen aus dem Zusammenspiel innerpsychischer, zum Beispiel affektiver und kognitiver Faktoren. Externe Einflussfaktoren werden erst durch subjektive innerpsychische Vermittlung zum Ausgangspunkt für Handlungen. Verhaltensgrundlage sind also seelische Vorstellungen, die zum fraglichen Zeitpunkt in einer bestimmten Konstellation und handlungsrelevanten Effektstärke vorliegen.447 Auch Delinquenz unterhält Beziehungen zum Seelenleben, wobei neben bewussten gewöhnlich auch unbewusste Vorgänge Bedeutung haben448. Darum
___________ 444
Tölle/Windgassen 2003, S. 26. Schottlaender, zitiert bei Tölle/Windgassen 2003, S. 26. 446 Siehe dazu auch Hendrik Schneider 1996, S. 191. 447 Urbaniok, KR 2003, 169, 171. 448 Bereits 1916 hat Sigmund Freud eine solche seelische Ursache beschrieben. Er behauptete, dass beim so genannten ÄVerbrecher aus Schuldbewusstsein³ das Schuldgefühl dem Verbrechen vorausgehe und nicht wie bei der gewöhnlichen Delinquenz der Tat folge. Ein unbegreifliches, dunkles Schuldempfinden aus seelischen Motiven verursache tiefe Ängste, die durch das Begehen einer realen Straftat mit daraus folgendem fassbaren bewussten Schuldempfinden gelindert werden könnten. Delinquenz (mit berechenbarer Strafreaktion) erfülle damit innerseelisch eine angstvermindernde und regulatorische Funktion (Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 102). 445
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verwundert es nicht, wenn inneren Haltungen kriminalitätshemmende oder -fördernde Bedeutung zugeschrieben wird449 und Sozialisationsleistungen insgesamt (auch) auf die Übernahme bestimmter Haltungen abzielen. Bei den Prognoseinstrumenten spiegelt sich die Notwendigkeit einer Erfassung innerer Haltungen insbesondere in der Bedeutung wider, die dynamischen Faktoren beigemessen wird. Sie stehen oft unter dem Einfluss innerer Haltungen, beispielsweise die innere Auseinandersetzung mit dem Delikt oder die Einstellung hinsichtlich der subkulturellen Identifikation. Der Prognostiker muss sich dem Verhalten des Probanden also mit einem Bewusstsein für die Relevanz innerer Haltungen nähern, was sich am Leugnungsproblem zwanglos illustrieren lässt: Die Tatverleugnung lässt eine unmittelbare Verwertung im Prognoseergebnis nicht zu, da zwischen einzelnen Verhaltensweisen eine endogene Modulation der Verhaltensbedingungen liegt. Ableugnen ist nicht das Gleiche wie Straffälligkeit. Selbst wenn beides auf gemeinsame Verhaltensbedingungen zurückzuführen ist ± etwa weil das Ableugnen die Gefühllosigkeit und Skrupellosigkeit des notorischen Verbrechers zum Ausdruck bringt ± liegt zwischen beiden Verhaltensformen nicht zuletzt eine freie Entscheidung als Ausdruck einer inneren Haltung, auch wenn man damit nur den unaufklärbaren Restbestand der möglichen Verhaltensbedingungen bezeichnet. Gerade das Leugnungsproblem zeigt, dass der Umgang mit greifbaren Wirklichkeitsumständen ± wie eben der Tatverleugnung ± auf eine Erfassung der inneren Haltung angewiesen ist. Zur inneren Haltung gehört auch die ÄWerthaltung³, deren Zusammenhang mit Verhaltensweisen in verschiedenen Lebensbereichen aktuell erforscht wird. Die dabei erzielten Ergebnisse fordern dazu auf, den komplexen Bereich von Einstellungen und Wertorientierungen in Kriminologie und Bezugsdisziplinen viel stärker zu beachten, als dies lange Jahrzehnte der Fall war450. Es gibt vertiefende Bestrebungen, Werteorientierungen und Werthaltungen in eine übergreifende kriminologische Theorienbildung einzubauen451, vieles ist jedoch noch offen. Kerner bezeichnet die angemessene und effektive Vermittlung von Werten als eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, um Auffälligkeit zu verhindern oder ihr entgegenzusetzen.452
___________ 449 So trete beispielsweise Äsoziale Motivierbarkeit³ einem Hang zum Verbrechen entgegen, ÄImpulsivität³ hingegen fördere ihn (Kröber et al., MschrKrim 1993, 227, 236). 450 Kerner 2004, S. 51 ff. 451 Vgl. Hermann 2003; Kerner 2004, S. 60. 452 Kerner 2004, S. 62.
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Dass gerade dem ÄWollen³ als Bestandteil der inneren Haltung so wenig eigenständige Aufmerksamkeit zuteil wird, lässt sich mit Schwerpunkten der Prognoseforschung erklären. Die Mehrzahl der Arbeiten über die Erstellung von Kriminalprognosen hat den psychisch kranken Rechtsbrecher zum Gegenstand453, den Vorsatzbildungen solcher Personen aber steht man mit Skepsis gegenüber, was die prognostische Bedeutung anbelangt. Geht es allerdings um die Prognose normalpsychischer Straftäter, ist die Frage des Wollens insbesondere da von großer Bedeutung, wo Täterpersönlichkeit und -entwicklung völlig unauffällig und keinerlei Beeinträchtigungen in der sozialen und kognitiven Kompetenz feststellbar sind.454 2. Schwierigkeiten mit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge Die Erfassung von inneren Haltungen ist also für die Kriminalprognose von großer Bedeutung, stellt jedoch vor ebenso gewichtige Probleme. Ein inneres Erleben lässt sich nur durch eine Manifestation in der Außenwelt erfassen, kann gleichzeitig aber ganz unterschiedliche Ausdrucksformen haben. Werte, Normen oder innere Haltungen insgesamt bedürfen einer Konkretisierung durch tätiges Handeln, das gleichzeitig aber unspezifisch ist. In der Psychiatrie ist sei langem bekannt, dass Äder Mannigfaltigkeit der Grunderkrankungen [«] eine große Gleichförmigkeit der psychischen Bilder³ gegenübersteht455. Zahlreiche und äußerst verschiedenartige Schädigungsmöglichkeiten des Gehirns führen zu einigen wenigen Äpsychischen Reaktionsformen“456. Selbst bei krankheitsbedingten und damit freiheitsbeschränkten seelischen Vorgängen ist es daher bisher nicht möglich gewesen, spezifische psychopathologische Symptome oder Symptomkombinationen zu identifizieren457, weshalb diagnostische Neutralität bzw. Vieldeutigkeit der äußeren Krankheitsmanifestationen ein ubiquitäres Problem des seelenärztlichen Handelns ist458. Noch mehr verliert sich die Charakteristik äußeren Verhaltens im Möglichkeitsraum einer normalpsychischen inneren Haltung. Bereits alltägliche Verhaltensbeobachtungen machen hier deutlich, dass es grundsätzlich verschiedene ___________ 453
So Simons ZfStrVo 2002, 273, 276 m. w. N. Simons, ZfStrVo 2002, 273, 276 ff.; bei der MIVEA beispielsweise kommt der Erfassung innerer Haltungen ein besonderer Stellenwert zu, wenn eine Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit vorliegt. 455 Bonhoeffer 1910, zitiert bei Tölle/Windgassen 2003, S. 42. 456 Tölle/Windgassen 2003, S. 42. 457 Tölle/Windgassen 2003, S. 41; Brunnhuber/Lieb 2000, S. 40; Huber 1999, S. 25. 458 Huber 1999, S. 49 ff. 454
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Ansätze gibt, Verhalten zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen459. Eine innere Haltung kann also nur über eine unspezifische Manifestation in der Außenwelt erfasst werden; dass dabei sogar die Verbalisierung keine Gewähr für eine innere Haltung bietet, ist für Juristen angesichts ihrer täglichen Schwierigkeiten mit der Diskrepanz von Wort und Gedanke eine Selbstverständlichkeit. Ein einzelner äußerer Umstand lässt also nicht den sicheren Schluss auf eine bestimmte innere Haltung zu, weil eine solche eben nicht allein in einem isolierten äußeren Merkmal zum Ausdruck kommt. Auch die ausdrückliche Bestätigung oder Verneinung einer Haltung ist ± wie jede andere Aussage ± auf der Basis von Wissen und Erfahrung kritisch zu hinterfragen.460 Nicht umsonst fordert die Rechtsprechung beispielsweise bei Ablehnung einer Drogenentziehungskur durch den Delinquenten eine Gesamtwürdigung, die neben der äußeren Haltung auch die Täterpersönlichkeit und weitere Umstände ± namentlich Gründe und Wurzeln des Motivationsmangels ± zu berücksichtigen hat461. Das ÄWollen³ ist kein elaboriertes, an sich messbares Konstrukt und doch Realität. Seine Beurteilung stellt in der prognostischen Praxis ein gravierendes Problem dar, bei dessen Bewältigung selbst sehr erfahrene Prognostiker leicht Äins Schwimmen³ geraten462. Bewertungsprobleme lassen sich dabei konkret am Beispiel der Tatverleugnung beschreiben: Ein ruhig-distanziertes Sprechen über die Tat kann eine Unberührtheit des Täters zum Ausdruck bringen, trägt aber auch die Vermutung, der Täter habe inzwischen mit der Tat abgeschlossen.463 3. Diskrepanzen von prognostischer Relevanz und Objektivierbarkeit Die Manifestation innerer Haltungen bleibt wegen ihrer Unspezifität stets unsicher und eine Feststellung dazu zwangsläufig auf der Ebene von Wahrscheinlichkeitsurteilen. Kaum einmal wird man beweisen können, dass gerade eine be___________ 459
Becker-Carus 2004, S. 1 ff.; dabei hat Blau (GA 1959, 293, 294) bereits 1959 die Vermutung geäußert, dass die Schwierigkeiten hier eher zu- als abnehmen werden. In der nivellierten Gesellschaft des Industriezeitalters würden einerseits konforme Verhaltensmuster entwickelt, die eine äußere Anpassung erleichtern, andererseits bilde ein Überhandnehmen der Privatisierung das Gegengewicht zur Vermassung. Private Bestrebungen und Motive der Mitmenschen würden dadurch immer weniger überschaubar und das mitmenschliche Verständnis zusätzlich noch durch psychische Auffälligkeiten erschwert, mit denen Menschen zunehmend auf den zivilisatorischen Ansturm in Beruf und Freizeit reagierten. 460 Vgl. Kröber, NStZ 1999, 593. 461 Klaus Weber 2003, Vor §§ 29, Rn. 1059 m. w. N. 462 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 276 ff. 463 Kröber 1995, S. 73.
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stimmte Befindlichkeit zwangsläufig und deswegen vom Handelnden unbeeinflussbar zu einer bestimmten Tat führt464, der Ableitungszusammenhang zwischen einem äußeren Umstand und einer inneren Haltung ist also oft nicht belegbar. Relevanz und Messbarkeit sind hier nicht deckungsgleich, vielmehr kommt es auf den Einzelfall an. Insbesondere bei der Erfassung von inneren Haltungen lassen Verallgemeinerungen ± etwa durch klar definierte Handlungsbeschreibungen ± daher einen Wirklichkeitsverlust erwarten. Dabei liegt der Zugang zur inneren Lebenswelt mal mehr, mal weniger frei. So gibt es beispielsweise Straftaten, bei denen die äußeren Tatstrukturen bereits viel über die Täterpersönlichkeit aussagen, bei anderen Verfehlungen hingegen bereitet die überzeugende Darstellung der inneren Tatseite erhebliche Schwierigkeiten465. Schüler-Springorum et al. haben dies auf die Formel gebracht, dass den Persönlichkeitsfaktoren am Zustandekommen des Delikts umso größeres Gewicht beigemessen werden muss, je weniger belastend die auslösende Lebenssituation war.466 Die Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge ist also für die Verhaltensvorhersage unverzichtbar, stellt gleichzeitig aber vor erhebliche Schwierigkeiten. Diese lassen sich in einen übergeordneten Problemzusammenhang einordnen, der die Grenzen von Erfahrungswissen und Syllogismus einbezieht: Auch ohne Objektivierbarkeit oder empirische Absicherung können Tatsachen prognostisch bedeutsam sein.467 Nicht erst für die Feststellung des Ergebnisses, sondern bereits der Grundlagen prognostischer Beurteilungen fehlen allgemeinverbindliche Bewertungsmaßstäbe. Schon im Hinblick auf die Beurteilungsgrundlage müssen Kriminalprognosen eine große Lücke zwischen relevant und bekannt, bedeutsam und sichtbar, erforderlichem und verfügbarem Wissen überwinden. Die ausschließliche Orientierung an harten Daten birgt die Gefahr, in Banalitäten stecken zu bleiben468, das Vordringen zum Bedeutsamen aber führt über den weichen Grund unsicherer Daten.
___________ 464
Vgl. auch Detter, NStZ 1998, 57, 57. Dies ist beispielsweise oft bei einem Lebenszuschnitt der Fall, der als Äungebremstes Leben im Augenblick³ bezeichnet wird und gerade durch Plan- und Ziellosigkeit gekennzeichnet ist (dazu Göppinger 1997, S. 147). Siehe auch Simons, ZfStrVo 2002, 273, 277. 466 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 161. 467 Siehe auch Volckart 1997, S. 17 ff. 468 Rasch 1994, S. 24 ff. 465
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In der Kriminalprognose kann also von größerem Belang sein, was sich weniger objektivieren lässt. Relevanz und Sichtbarkeit sind oft umgekehrt proportional, die gut messbaren Züge der Wirklichkeit müssen nicht auch die sachlich bedeutsamen sein469. Gerade die Beachtung anerkannter Regeln empirischen Forschens kann die praktische Nutzbarkeit kriminologischer Resultate herabsetzen470, denn oft besteht ein Zielkonflikt zwischen formaler und inhaltlicher Qualität der Ergebnisse: Lassen sich die Resultate leicht und sicher ermitteln471, bleiben oftmals die entscheidenden Fragen unbeantwortet. Um die maßgeblichen Antworten zu finden, muss umgekehrt häufig ein schwer objektivierbarer Erkenntnisweg eingeschlagen werden.472 4. Möglichkeiten der Feststellung des prognostisch Relevanten Für die Erfassung von Prognoserelevantem wie von Werten oder Haltungen bedarf es also eines besonderen Zugangs, den eine rein phänomenologische Herangehensweise nicht gewährleistet. Hier muss der hermeneutisch orientierte Versuch unternommen werden, den Sinn hinter den sichtbaren Phänomenen zu erfassen, also zu verstehen bzw. zu erklären.473 Die beschreibende Erfahrungswissenschaft mag klar, eindeutig und kontrollierbar sein474, sie allein trägt aber eine Prognose nicht, weil ihr der Zugang zu entscheidenden prognoserelevanten Kriterien verwehrt ist. Was die Zugangsmittel zur menschlichen Innenwelt betrifft, so hat bereits Jaspers zwischen Objektivem und Subjektivem unterschieden. Als objektiv bezeichnete er dabei jene Anteile des Seelenlebens, die sinnlich wahrnehmbar in Erscheinung treten. Sie könnten ohne Hineinversetzen in Seelisches durch bloßes Denken der Inhalte bzw. unmittelbares Einfühlen in die Ausdrucksbewegung erfasst werden. Das Erkennen von Subjektivem hingegen erfordere ein ___________ 469
Bock 2000, S. 37. Hendrik Schneider 1996, S. 13 ff. 471 Wie dies zum Beispiel bei der statistischen Prognose der Fall ist. 472 Bock 2000, S. 176. 473 Verstehen ist auch notwendig, weil im Hinblick auf menschliches Verhalten ein besonderes Kausalitätsbedürfnis besteht. Bei naturhaft ablaufenden Vorgängen ist dieses Bedürfnis zufrieden gestellt, wenn das Geschehen als Fall einer Regel erklärt werden kann, bei Vorgängen mit Beteiligung von menschlichen Handlungen genügt eine solche Antwort nicht. Hier besteht das Verlangen nach einer Erklärung, die sich auf die sinnhafte Orientierung des Handelns selbst bezieht (Bock 2000, S. 29). Es besteht damit der Wunsch, Verhalten nicht nur zu erklären, sondern auch zu verstehen. Mit Subsumtionen aber kann diesem besonderen Kausalitätsbedürfnis nicht Rechnung getragen werden (vgl. dazu auch Bock 1984, S. 101 f.). 474 Volckart 1997, S. 17. 470
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Hineinversetzen in Seelisches, ein unmittelbares Vergegenwärtigen, wobei hier mit Äsubjektiv³ das eigentlich Seelische gemeint ist, das eben durch Hineinversetzen, Einfühlen oder Miterleben erfahrbar sei475. Diese Abgrenzung von Objektivem und Subjektivem kann auch für Prognosen nutzbar gemacht werden. Fest steht, dass ein Verständnis innerpsychischer Vorgänge den Bezug auf Umstände voraussetzt, die der Proband selbst (mit-) geformt hat. Nur eine eigene Einflussmöglichkeit kann überhaupt eine individuelle Einstellung sichtbar machen, ohne Mitgestaltung durch den Probanden zeigt sich seine Haltung nicht. Daraus muss die Forderung resultieren, kriminorelevante Faktoren möglichst unter Einbeziehung der Reaktionsweisen des Probanden zu erfassen. Es ist also nicht auf abstrakte, bei anderen ± zum Beispiel anhand einer statistischen Verteilung ± ermittelte Einflussfaktoren als solche Bezug zu nehmen, sondern stets die Modulation dieser Faktoren durch den Probanden zu berücksichtigen. Erst das Zusammenspiel von Wirklichkeitskonstante und Probandenreaktion lässt eine Einstellung zu Tage treten, die bei der Verhaltensvorhersage berücksichtigt werden muss. Innere Haltungen stellen vor die besondere Schwierigkeit, äußerlich nicht sicht- und messbare Phänomene intersubjektiv beschreiben zu müssen, wobei die wenigen verfügbaren Anhaltspunkte meist unspezifisch sind. Hier aber kann sich der Prognostiker auf jene Möglichkeiten einlassen, die Jaspers mit dem Erkennen von Subjektivem verbunden hat. Neben einer bloßen sinnlichen Wahrnehmung gibt es nach seinem Dafürhalten das bereits angesprochene ÄVergegenwärtigen³ von Seelischem, mit der Subjektives durch ein Hineinversetzen in Seelisches erfasst werden könne.476 Tatsächlich sind die meisten seelischen Grundmomente jedem ± in größerer oder kleinerer Ausprägung ± bekannt und Seelisches zum Teil vertrauter als manch besondere äußere Situation. Deshalb kann mit Weber davon gesprochen werden, dass es eine Form des ÄNacherlebens³477 gibt, vermöge dessen auch äußerlich nicht sicht- und messbare Phänomene erfasst werden können478. Hinzu kommt eine Beobachtung, die Weber in seinem Begriff des Verstehens zum Ausdruck gebracht hat. Menschliches Handeln kann mit einem subjektiven Sinn verbunden werden, also auf Absichten, Zwecke und Motive zurückgeführt werden. Sie aber lassen sich durch ÄVerstehen³ erfassen, womit eben das Er___________ 475
Jaspers 1965, S. 23. Jaspers 1965, S. 23. In ähnlicher Weise spricht Max Weber (1995, S. 247) von Äintrospektiver³ Nachbildung. 477 Max Weber 1985, S. 111, 121. 478 Vgl. dazu Max Weber 1985, S. 111, 119, 121 f. 476
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kennen der sinnhaften Orientierung des Handelns gemeint ist479. Es ist ein alltäglicher Vorgang, sich in die Person eines anderen so hineinzuversetzen, dass die Aussage gerechtfertigt ist, man verstehe ihn480, wobei gerade die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns ein erhebliches Plus von ÄBerechenbarkeit³ gegenüber nicht deutbaren Naturvorgängen bietet481. Zudem bleibt bei aller biographischen Subjektivität und Einzigartigkeit ein Teil der Erlebniskategorien standardisierbar; jede Gruppe oder Kultur weist eine relative Gleichheit der Lebensverhältnisse auf, die Übereinstimmungen der Wissensvorräte über die Erscheinungen der Lebenswelt erzeugen482. Der Einsatz einer verstehenden Methode, die im Übrigen auch als Deutung bezeichnet werden kann483, ist dabei nicht auf bewusst sinnorientiertes Handeln beschränkt. Bereits Weber unterschied zwischen rationalem Handeln und sozialem Handeln ohne bewussten Sinn, wobei er rationales Handeln als durch klar bewusste Zwecke bei klarer Erkenntnis der Mittel bedingt484 und als Äpragmatischen³ Deutungen zugänglich angesehen hat485. Straftaten haben oft Handlungsanteile in Ädumpfer Halb- oder Unbewusstheit³ ihres gemeinten Sinns, was Kennzeichen jener zweiten Gruppe ist, die Weber als soziales Handeln ohne bewussten Sinn bezeichnet486. Ein solches Handeln ist nicht nur für Delinquenz bei Beeinträchtigungen von Verhaltenskontrolle bzw. Schuldfähigkeit charakteristisch, es betrifft vielmehr auch das weite Feld von Straftaten, die sich aus einem Lebenszuschnitt heraus ergeben, der gerade durch Plan- und Ziellosigkeit im Sinne eines ungebremsten Lebens im Augenblick gekennzeichnet ist487. Auch hier aber besteht nach Weber eine Zugangsmöglichkeit, die er als Äpsychologisches Verstehen³ bezeichnet. Bezugspunkt sind dabei bewusstseinsfähi___________ 479
Max Weber 1985, S. 545 f.; vgl. auch Bock 1984, S. 84; Bock 2000, S. 29; Akpinar, ZJJ 2003, 258, 259. 480 Volckart, R & P 1999, 58, 58. 481 Max Weber 1985, S. 69. Nach Max Weber (1985, S. 64 f.) findet eine verstehende Methode in weiten Bereichen der Erklärung von Naturvorgängen nicht ihresgleichen. Die Berechenbarkeit von Ereignissen in der Sphäre der ÄWetterprophezeiungen³ etwa sei nicht entfernt so Äsicher wie die ´Berechnung` des Handelns einer uns bekannten Person³ (Max Weber 1985, S. 64 f.). 482 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 337 m. w. N. 483 Eine Ausrichtung der Bewertungen an Rationalitätskriterien ist hier insbesondere durch die Verwendung von Idealtypen möglich. 484 Max Weber 1985, S. 127. 485 Max Weber 1995, S. 246. Siehe dazu auch Vollbach 2006. 486 Max Weber 1976, S. 10. 487 Vgl. dazu Göppinger 1997, S. 147.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
ge psychische Vorgänge, die das Handeln beeinflussen, ohne dass diese Beeinflussung selbst bewusst erlebt wird488. Es geht also um handlungswirksame und bewusstseinsfähige, im Handlungszeitpunkt aber nicht bewusste psychologische Vorgänge. Tatsächlich scheitert eine Sinnorientierung des Handelns denklogisch nicht daran, dass sie dem Handelnden im Handlungszeitpunkt nicht bewusst ist. Dies lässt es möglich erscheinen, dass nicht allein zweck- und wertrationales Handeln, sondern auch andere Handlungsorientierungen voll sinnorientiert und verstehbar sind. Weber hat es so formuliert, dass selbst das Äirrationale Walten³ der maßlosesten Affekte genau so gut zu verstehen sei wie der Ablauf rationaler Erwägungen.489 Es gibt also menschliche Gefühlsgewohnheiten, die über typische Sinnzusammenhänge sinnhaft adäqat gedeutet werden können490. Affekte und die aus ihnen folgenden Reaktionen lassen sich emotional nacherleben und so mit einer gewissen Äpsychologischen Evidenz³ 491 verstehen. Jaspers spricht von einem psychologisch-einfühlenden Verstehen, das Äin seelische Zusammenhänge selbst³ hineinführe492 und erkenne, wie Äußerungen oder Handlungen Äals entsprungen aus den Stimmungen, Wünschen, Befürchtungen des Denkenden³ zu erfassen seien493. Auch hier allerdings muss der Bewertungsvorgang soweit wie möglich logisch kontrolliert werden.494 Dazu erweist sich wiederum der Idealtyp als geeignetes Mittel, denn er kann ein ÄEvidenzerlebnis³ intersubjektiv vermittelbar machen, indem die Zuordnung der konkreten Handlung zu einem Typus dieses Handeln beschrieben wird495. V. Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen 1. Die gängige Deutung der prognostischen Aufgabe Die Analyse des Leugnungsproblems erlaubt nicht nur Folgerungen im Hinblick auf Möglichkeiten und Bedingungen einer Verhaltensvorhersage, sondern auch für deren Erkenntnisziel. Strafrechtliche Entlassungsprognosen betreffen Vorhersagen darüber, ob vom Betroffenen die Begehung künftiger ___________ 488
Max Weber 1995, S. 246. Max Weber 1985, 100; vgl. auch ders. 1985, S. 133, 428. 490 Vgl. dazu Max Weber 1985, S. 428. 491 Max Weber 1985, S. 116. 492 Jaspers 1965, S. 253. 493 Jaspers 1965, S. 253. 494 Dazu Max Weber 1985, S. 428. 495 Vgl. auch Hendrik Schneider 1996, S. 205. 489
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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rechtswidriger Taten im Sinn des Strafrechts (vgl. § 11 Nr. 5 StGB) zu erwarten sind.496 Wie bereits dargelegt497 ist eine solche Voraussage allerdings noch auf die Formulierung des Gesetzes zu beziehen, um die Frage beantworten zu können, ob die Entlassung auch Äunter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann³498. Dabei erfordert der Bezug auf die gesetzliche Formulierung einen ± auch als Prognoseentscheidung bezeichneten499 ± Zwischenschritt, bei dem die prognostische Aussage als der gesetzlichen Formulierung genügend oder ungenügend zu bewerten ist500. Dazu wiederum muss im Voraus feststehen, welches Prognoseergebnis einer Verantwortbarkeit im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB entspricht, wann also eine bestimmte Erwartung späterer Straffälligkeit den Anforderungen des Gesetzes für eine vorzeitige Entlassung genügt. Der Maßstab dafür wird überwiegend so bestimmt, dass für jedes mögliche Attribut (vorzeitige Entlassung verantwortbar, nicht verantwortbar etc.) dazugehörige Wahrscheinlichkeitsgrade künftiger Straffälligkeit festgelegt werden. Es wird also zum Beispiel darüber entschieden, ob nur das sichere Ausbleiben von Straffälligkeit oder auch eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit künftiger Legalbewährung für eine günstige Prognose ausreicht, wobei günstig dasjenige ist, was zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgabe genügt501. Welcher Wahrscheinlichkeitsgrad künftiger Straffälligkeit mit welcher Einschätzung der Verantwortbarkeit im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB korrespondiert, ergibt sich bei keiner der gesetzlichen Prognosebestimmungen aus dem Gesetz selbst.502 Entsprechend bemühen sich Rechtsprechung und Lehre, den Wahrscheinlichkeitsgrad zu präzisieren, der zur Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen erforderlich ist. Er wird auch als Prognoseziel bezeichnet503 und offenbart sich bei näherer Betrachtung als Resultat einer Harmonisierung divergierender Interessen. Der Täter hat ein Interesse an einer für ihn günstigen ___________ 496
Bock 2000, S. 173. Siehe Kapitel 1 zur ÄBestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung³. 498 Siehe § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB. 499 Der Unterschied zwischen prognostischer Wahrscheinlichkeitsaussage und deren juristischer Bewertung ist zuerst von Frisch aufgedeckt worden und inzwischen als vorherrschende Sicht anerkannt, vgl. Volckart, R & P 2002, 105, 109 ff. 500 Volckart, R & P 1998, 3 ff., 6; Neubacher NStZ 2001, 449, 450. 501 Volckart 1997, S. 43. 502 Volckart 1997, S. 44. 503 Hendrik Schneider 1996, S. 25. 497
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Rechtsfolge und einer an seinen jeweiligen Defiziten orientierten Maßnahme, was mit dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit in Ausgleich zu bringen ist504. Es muss also eine Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den Belangen der positiven Spezialprävention vorgenommen werden.505 2. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit Für den Prognostiker ist an der gängigen Deutung der prognostischen Aufgabe vor allem wichtig, dass sie ihm eine quantitative Aussage über künftige Straffälligkeit abverlangt. Er soll den Wahrscheinlichkeitsgrad bestimmen, mit dem vom Verurteilten wieder Straftaten zu erwarten sind506, wobei eine solche Wahrscheinlichkeitsaussage die Beziehungen von Wirklichkeitsumständen und fiktiver Straffälligkeit zu ermitteln hat. Die Bedingungen einer Deliktsbegehung sind also zu einem Zeitpunkt zu beurteilen, an dem sie sich nicht realisieren, weshalb Kriminalprognosen nicht allein einen Zusammenhang zwischen bestimmten Bedingungen und Strafbarkeit herzustellen, sondern zudem noch gegenwärtiges Wissen in die Zukunft hinein zu verlängern haben. Stets ist also zu überlegen, ob weiter gilt, was bisher galt; bereits diese zeitliche Diskrepanz von Beurteilung und Relevanz der Wirklichkeitsumstände aber vereitelt eine Allgemeingültigkeit prognostischer Aussagen.
___________ 504
OLG Koblenz - 2 Ws 234/02 v. 19.2.2002, S. 2; OLG Koblenz NStZ-RR 1998, 9, 10; siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 337; Hendrik Schneider 1996, S. 34. 505 Lackner/KühI, § 57 Rn. 9; Schönke/Schröder, § 57 Rn. 15; Gribbohm, in: LKStGB, § 57 Rn. 15 ff. Dabei sind unterschiedliche Tatsachenvariabeln, wie etwa die Schwere der befürchteten Taten oder die Dauer des bereits erlittenen Freiheitsentzugs (BVerfGE 70, 297; Volckart 1997, S. 62; Volckart, R & P 1999, 58, 62), zu berücksichtigen. Hinzu kommen rechtliche Aspekte wie Verhältnismäßigkeitserwägungen oder die Bestimmung von ÄGefährlichkeit“. Sie ist eine Frage der Risiken, welche die Gesellschaft einzugehen bereit ist, und der Grundrechtseingriffe, die dem Einzelnen zugemutet werden (Endres, ZfStrVo 2000, 67, 70.), was alles einer normativen Beurteilung bedarf (vgl. auch Dahle 2000, S. 83.). In der Praxis beeinflussen zudem auch außerrechtliche Umstände die Prognoseentscheidung, zum Beispiel Vorstellungen über die Opportunität einer Freilassung oder übergroße Ängste vor der Entlassung eines nur vermeintlich Ungefährlichen (Endres ZfStrVo 2000, 67; Gretenkord 2001, S. 280 ff.; Volckart, R & P 2002, 105, 109), auch wenn die Bewertung von derartigen sachfremden Rücksichten eigentlich freizuhalten ist (Volckart, R & P 2002, 105, 109.). 506 Mehr als die Formulierung von Wahrscheinlichkeitsaussagen ist schon deshalb nicht möglich, weil von einem gegebenen Zeitpunkt aus niemals alle zukünftigen Bedingungen vorhersehbar (Dittmann 2000, S. 68) und keine allgemeingültigen Erklärungen für Verhalten verfügbar sind (siehe Abschnitt zum Fehlen eines prognosebestimmenden Einzelfaktors).
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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Einschränkungen bestehen hier schon deshalb, weil äußere Ereignisse nur bedingt absehbar sind. In den Verhaltenswissenschaften ist wohl unbestritten, dass menschliches Verhalten nicht allein durch individuelle Eigenarten des Handelnden bestimmt ist, sondern sich darin auch situative Einflüsse realisieren. Die klassische Verhaltensformel bringt dies zum Ausdruck, indem sie Verhalten als Funktion der Interaktion zwischen Person und Situation (V = f [P x S]) beschreibt507. Weil aber nachfolgende Verhaltensdeterminanten, situative Konstellationen und soziale Bezüge nicht erschöpfend vorhersehbar sind508, ist der Mensch in seinem zukünftigen Verhalten nicht vollständig kalkulierbar509. Entwicklungsverläufe können sich unter Umständen gänzlich anders darstellen, als zum Zeitpunkt der Prognosestellung erwartet, auf die Lebenswelt des Probanden dann aber nachhaltige Auswirkungen haben510. Bestimmte Prädiktoren der Prognose liegen in einer Äim Konjunktiv stehenden³ Zukunft, deren Eintritt eben nicht sicher ist.511 Vor allem ist offen, ob es zu einer bestimmten, künftigen Lebenssituation des Probanden überhaupt kommen wird, was auch in den Händen des prognostischen Rechtsanwenders liegt, der über Freiheitsentzug oder Freiheit entscheidet512. Verhaltensvorhersagen müssen daher in gewissem Sinne mechanisch verfahren, indem sie nicht voraussehbare Änderungen der Umwelteinflüsse unberücksichtigt lassen.513 Speziell Kriminalprognosen stehen hier vor besonderen Schwierigkeiten, wenn ihr Hauptziel in der Bestimmung eines Wahrscheinlichkeitsgrades künftiger Straffälligkeit gesehen wird. Straffälligkeit ist ein Verhalten, das nicht nur allgemein, sondern auch in der individuellen Täterbiographie in der Regel eher selten ist.514 Entsprechend fehlt es ± im Gegensatz zu alltäglichen Ereignissen ± hier an einer breiten Erfahrungsbasis, was die Prognostizierbarkeit zusätzlich erschwert.515 Auch sind wegen des Ausnahmecharakters des vorherzusagenden Verhaltens nicht nur alltägliche Umstände, sondern auch Möglichkeiten kritischer Lebensereignisse und anderer Sonderbedingungen von Bedeutung.516 Zu___________ 507
Dahle 2000, S. 80. Dazu z. B. Dittmann 2000, S. 68 f. 509 Siehe auch Blau, JR 1994, 32, 33. 510 Egg 2002, S. 322. 511 Leygraf 1994, S. 479. 512 Vgl. auch Volckart, R & P 1999, 58, 61. 513 Schaffstein/Beulke 2002, S. 97. 514 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68. 515 Rasch 1994, S. 20 ff.; Dahle 2000, S. 82; vgl. auch Urbaniok, KR 2003, 169, 170. 516 Dahle 2000, S. 82. 508
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
dem hat man es im Bereich der Kriminalprognose mit Persönlichkeiten zu tun, deren Problematik unter Umständen gerade in ihrer Impulsivität und Eigenart liegt, stabilisierende situative Bezüge aufzugeben oder hierzu irgendwie gezwungen zu sein.517 Im Hinblick auf die Vorhersagbarkeit situationaler Randbedingungen ist die Kriminalprognose auch aus einem weiteren Grund besonders benachteiligt, auf den Dahle hingewiesen hat. In vielen Anwendungsbereichen psychologischer Verhaltensprognosen beschränkt sich die Prognose von vornherein auf ein mehr oder weniger wohldefiniertes situationales Umfeld. Bei Kriminalprognosen aber gibt der Gesetzgeber für das situative Bezugsfeld der Vorhersage nur vor, dass es um die Frage möglicher Straftaten außerhalb der Mauern gesicherter Einrichtungen geht.518 Schließlich wird auch der angestrebte Geltungszeitraum von Kriminalprognosen mit Argwohn betrachtet. Er ist bei einer Wahrscheinlichkeitssaussage über künftige Straffälligkeit oftmals sehr lang, was die Treffsicherheit verringert. Während es beispielsweise bei der üblichen Wettervorhersage um Zeiträume von wenigen Tagen geht, ist der zeitliche Horizont einer Entlassungsprognose grundsätzlich allein durch die individuelle Lebenserwartung des Beurteilten beschränkt519. Bei Prognosen aber handelt es sich stets um eine Fortschreibung des Ist-Zustandes, die umso besser gelingt, je kürzer der Zeitraum ist, für den sie gelten sollen520. Mit wachsendem Zeitabstand ist notwendigerweise damit zu rechnen, dass das Vorgestellte vom künftig Eintretenden immer stärker abweicht.521 3. Versuch einer Vereinfachung der prognostischen Aufgabe Die Bedenken, denen eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit begegnet, wecken den Wunsch nach einer Vereinfachung der prognostischen Aufgabe. Einen Ansatz dafür legen bei näherem Hinsehen gerade die geschilderten Schwierigkeiten im situativen und zeitlichen Bezugsfeld der Kriminalprognose nahe: Wie oben dargestellt hängt Verhalten stets von bestimmten Situationsbedingungen ab, die notwendig unterstellt werden müssen, wenn künftiges Verhalten vorausgesagt werden soll. Zu den Verhaltensbedin___________ 517
Rasch 1994, S. 20 f. Dahle 2000, S. 82. 519 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68. 520 Schumann 1994, S. 33; Dahle 2000, S. 82. 521 Leygraf 1994, S. 479; Volckart, R & P 1999, 58, 61. 518
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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gungen wiederum gehören auch die Effekte therapeutischer Einflussnahmen, mit denen sich Kriminalprognosen unweigerlich auseinandersetzen müssen. Verhaltensvorhersagen sind nur bei Unterstellung bestimmter äußerer Rahmenbedingungen möglich, etwa eines Fortdauerns des Freiheitsentzugs.522 Mit anderen Worten kann die Entlassungsprognose nur unter Zugrundelegung einer Rechtsfolgenentscheidung (z. B. Entlassung oder nicht) erstellt werden und hat damit zwangsläufig die Auswirkungen unterschiedlicher Interventionen aufzuzeigen. Wenn eine Kriminalprognose zu der Aussage gelangt, Straffälligkeit sei mit dieser oder jener Wahrscheinlichkeit zu erwarten, so unterstellt auch dies stillschweigend bestimmte Verhaltensbedingungen, in der Regel das unüberwachte und unbeeinflusste Leben in Freiheit. Ohne eine Einbeziehung der weiteren Lebensbedingungen ist keine Verhaltensvorhersage denkbar, die Rechtsfolgenentscheidung also Störvariable der eigenen Beurteilungsgrundlage. Der praktische Wert von Prognosen liegt gerade darin, dass sie vor dem Prognostizierten warnen, um ihm entgegenwirken zu können.523 Insoweit besteht eine Paradoxie der Voraussage, indem sie Äsich selbst vernichtende Prophezeiung³ ist524, die Behandlungsmaßnahmen oder ihr Unterlassen unweigerlich mit einschließt.525 Darin erschöpft sich allerdings die Beziehung zwischen Verhaltensvorhersage und Behandlungsmaßnahmen nicht, vielmehr ist diese wechselbezüglich: Intervention ist nicht nur Bedingung der Prognose, sondern Prognose umgekehrt ___________ 522
Im Manual zum HCR-20-Schema beispielsweise wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Risikobeurteilungen nur unter Bezug auf erwartete äußere Umstände möglich sind (siehe Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2, 4). Es müsse klar sein, von welcher tatsächlichen Situation für die zu beurteilende Zukunft auszugehen sei (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 14). Wörtlich heißt es: ÄSo kann sich beispielsweise bei einem Probanden das Risiko intrainstitutioneller Gefährlichkeit deutlich von dem Risiko unterscheiden, welches von ihm in Freiheit ausgeht³ (MüllerIsberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2). Deshalb empfiehlt das Manual Äbedingte³ Einschätzungen, die unterschiedlichen Möglichkeiten für erwartete äußere Lebensumstände ± unter Umständen auch durch alternative Beurteilungen ± Rechnung tragen (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 4). Beispielsweise sei zu berücksichtigen, ob das Gewaltrisiko innerhalb oder außerhalb von Institutionen abgeschätzt werden soll (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 12). 523 Vgl. dazu auch Nedopil 1996, S. 189. 524 Volckart, R & P 1999, 58, 61 m. w. N. 525 Diese Erkenntnis trägt auch zum Verständnis der Möglichkeiten bei, die Treffergenauigkeit von Prognosen (z. B. durch Rückfalluntersuchungen) empirisch zu überprüfen. Weil Prognosen Teil eines Behandlungsprozesses sind, der alles daran setzt, unerwünschte prognostische Entwicklungen zu widerlegen, ist beim Rückfall ein Fehler des Prognostikers stets gegen das Versagen der Behandlungsmaßnahmen abzugrenzen.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
auch Bedingung der Intervention. Eine Behandlung zielt stets darauf ab, eine bestimmte Veränderung zu bewirken, also auf den zukünftigen Verlauf Einfluss zu nehmen. Jeder Therapie wohnt damit ein prognostisches Element inne, eine Behandlung ohne Prognose ist nicht denkbar. Die (vorgelagerte) Diagnose oder Prognose dient nur dem Zweck, die Möglichkeiten einer Verlaufsbeeinflussung abzuschätzen. Vorhersehbarkeit ist also Voraussetzung von Vermeidbarkeit, es besteht eine wechselbezügliche Abhängigkeit von Behandlungsmaßnahmen und prognoserelevanten Eigenschaften des Probanden. Ebenso wie nur die passende Intervention den Betroffenen günstig beeinflusst, erlangt eine Behandlungsmaßnahme ihren Wert erst in Bezug auf die besonderen Stärken und Schwächen des Probanden526. Diese Annahme verfestigt sich durch den Vergleich mit einem anderen Lebensbereich: Wird der Arzt mit einer bestimmten Symptomatik konfrontiert, so bedrängt ihn nicht das Problem der zukünftigen Weiterentwicklung des Beschwerdebildes als solches, sondern die Frage danach, wie eine ganz bestimmte Weiterentwicklung (nämlich der Fortbestand der Beschwerden) zu verhindern bzw. eine Umkehrentwicklung (nämlich die Heilung) zu fördern ist. Er wird nicht ± etwa bei einem fieberhaften Infekt ± zunächst den Kanon der möglichen unbehandelten oder behandelten Verläufe unter Berücksichtigung aller Kausalvarianten durchdeklinieren, sondern den Blick sofort auf die ihm zur Verfügung stehenden Gegenmittel richten. Die zukünftige Weiterentwicklung ist für ihn nur insoweit von Interesse, als sie die Auswahl seiner therapeutischen Maßnahmen bestimmt. Eine detaillierte und zeitaufwändige Prognose des unbehandelten Krankheitsverlaufs würde ihm beinahe zynisch erscheinen, besteht seine Aufgabe doch gerade darin, eben diesen Verlauf bedeutungslos werden zu lassen. Ihm stellt sich also die Frage, welche der Möglichkeiten aus dem unweigerlich begrenzten therapeutischen Bestand indiziert, welches Mittel beim vorliegenden Beschwerdebild geeignet ist. Dies lässt sich ebenso als Frage nach der Eignung des Betroffenen bzw. seines Beschwerdebildes für das Mittel wie umgekehrt nach der Eignung des Mittels für den Betroffenen deuten. Risikoabschätzung und Verlaufsprognose sind jedenfalls nur in der Reichweite von Vorund Nachteilen verfügbarer Therapiemaßnahmen von Bedeutung. Sobald diese Maßnahmen in eine Eignungshierarchie gebracht werden können, sind die
___________ 526
Ein Gefangener ohne Gewaltproblematik beispielsweise ist in einem AntiAggressions-Training fehl am Platz.
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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Überlegungen abgeschlossen, da es ja nur eine Auswahl unter den Therapiemöglichkeiten zu treffen gilt.527 Auch im Gesamtzusammenhang der gesetzgeberischen Intention ist die Frage nach der ± insbesondere unbehandelten ± Weiterentwicklung nur mittelbar von Bedeutung. Auch hier kommt es unmittelbar allein auf das geeignete Mittel zur Verhinderung eines ganz bestimmten Verlaufs, nämlich der künftigen Straffälligkeit, an. In die gesetzgeberische Formulierung Äwenn dies unter Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit verantwortet werden kann³528 muss damit der Bestand der zur Verfügung stehenden Interventionsmittel hineingelesen werden. Es geht nicht um eine abstrakte, von den Einflussmöglichkeiten losgelöste Risikobewertung künftiger Lebensentwicklung, sondern um eine Risikoabschätzung unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel. Die Fragestellung wird also durch die bereitstehenden Maßnahmen begrenzt.529 Die Verknüpfung von Prognose und Behandlung ist damit nicht nur Tatsache, sondern auch Notwendigkeit. Prognostische Aussagen erfolgen ± wie Rasch es ausgedrückt hat ± nicht im Äluftleeren Raum³530, für die Zeit nach der Prognoseerstellung besteht vielmehr für den Vollzug die Verpflichtung, den Übergang in die Freiheit vorzuorganisieren und helfend zu begleiten. Die Kriminalprognose dient dabei der Identifikation von absehbaren Risiken, um deren Eintreffen durch geeignete Gegenmaßnahmen verhindern zu können. Eine ungünstige Prognose wird dadurch in gewisser Weise absichtlich widerlegt, indem Gefahren ± etwa durch geeignete Auflagen oder Weisungen ± minimiert werden.531 Prognosen stehen also im Kontext der Behandlung, ein Interesse gilt ihnen nur im Zusammenhang mit den Erfordernissen der Behandlung. Die Erarbeitung einer Kriminalprognose überlässt nicht alles fatalistisch einer unbekannten Zukunft532, sie ist kein Selbstzweck. Nicht allein die Treffsicherheit der Prognose ist also wichtig, sondern vor allem die Prognose des Probanden selbst533. Inso___________ 527
So ist z. B. die Bestimmung der genauen Infektart einschließlich seines Krankheitsverlaufs völlig unerheblich, sobald die Ansprechbarkeit auf Antibiotika feststeht. 528 § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB. 529 Eine interventionsunabhängige Prognose muss als selbstwerterhöhende Größenphantasie der Strafrechtspflege erscheinen, ließe sie doch die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel völlig außer Acht. 530 Rasch 1994, S. 29. 531 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68. 532 Rasch 1994, S. 29. 533 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 174.
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weit geht es nicht um die Feststellung einer guten oder schlechten Prognose, sondern um die Frage, wie eine grundsätzlich schlechte Prognose durch geeignete Maßnahmen so verbessert werden kann, dass sie eben keine schlechte mehr ist534. Dazu ist nicht einfach ein prognostisches Zustandsbild zu konstatieren, sondern Behandlung in das zu prognostizierende Verhalten zu integrieren.535 Nur in seltenen Extremfällen aber ist durch die klare Bejahung einer weiter bestehenden Gefährlichkeit oder deren eindeutigem Ausschluss die weitere Behandlungsplanung schon vorgegeben. Eine Prognose muss deshalb nicht nur Rahmenbedingungen unterstellen, von denen eine weitere Legalbewährung abhängt, sondern auch auf geeignete Behandlungsmaßnahmen eingehen, durch die Einfluss genommen werden kann536. Im Strafrecht dienen Prognosen dabei nicht nur einer binären Entscheidung über die Bejahung oder Verneinung von Freiheitsentzug.537 Eine solche gedankliche Beschränkung auf die Dichotomie von Freiheit und Unfreiheit wäre falsch, weil der prognostische Rechtsanwender eine ganze Reihe von Möglichkeiten ± zum Beispiel durch Bewährungshilfe, Weisungen oder Auflagen ± hat, um die im Konjunktiv stehenden Bedingungen der prognostischen Aussage planend zu beeinflussen538. Es steht nicht nur das Ob, sondern auch das Wie einer bedingten Freilassung in Rede539, der Prognostiker muss also eine Vorstellung darüber entwickeln, was man mit dem Probanden tun kann540. Eine konstruktive Prognose kommt damit nicht ohne eine Bewertung der vorhandenen Interventionsmöglichkeiten aus. Was auf den ersten Blick als ein Mehr gegenüber einer reinen Verhaltensvorhersage erscheint, verheißt auf den zweiten Blick jedoch die Aussicht auf ein Weniger. Jedenfalls gründet diese Hoffnung auf der ± bereits angedeuteten ± Möglichkeit eines Perspektivenwechsels, den die Verknüpfung von Prognose und Behandlung nahe legt. Behandlungsmaßnahmen können nicht nur aus dem Blickwinkel der Prognose be___________ 534
Schallert, DVJJ 1998, 17, 22. Dittmann (2000, S. 77 ff.) weist zutreffend darauf hin, dass Prognosen sich nicht allein auf einfache Äja/nein Aussagen³ beschränken dürfen, sondern im Sinne einer detaillierten ÄRisikoanalyse³ die Bedingungen aufzeigen sollten, unter denen ein Rückfall wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich ist. 535 Vgl. auch Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 187. 536 Vgl. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81. 537 So aber Schumann 1994, S. 39; dies ist im Übrigen auch dem Vorschlag von Frisch zur Mittelfeldproblematik entgegenzuhalten. 538 Volckart, R & P 1999, 58, 61. 539 Neubacher, NStZ 2001, 449, 452. 540 Und sollte sich dabei nicht mit der leeren Forderung nach einer weiteren langjährigen Therapie begnügen, um seine Arbeit abzusichern (dazu Kröber, NStZ 1999, 593, 598; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81).
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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trachtet werden, sondern umgekehrt diese auch durch die Brille von Einwirkungsmöglichkeiten. Nun besteht ± um das bereits verwendete Bild noch einmal aufzugreifen ± ein bedeutsamer Unterschied zwischen einer ärztlichen und einer kriminologischen Behandlungsprognose: Der Arzt muss grundsätzlich nicht die Interessen unterschiedlicher Beteiligter gegeneinander abwägen541, sondern ist vorrangig dem Wohl des Einzelnen verpflichtet542. Auch die Wahrscheinlichkeitsaussage über künftige Straffälligkeit ist jedoch kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste der Entscheidungsfindung. Sie richtet sich ebenfalls danach, welche der verfügbaren Entscheidungsalternativen die beteiligten ± hier eben auf einen größeren Personenkreis bezogenen ± Belange besser fördert. Dies lässt sich zunächst für jedes Interesse gesondert beurteilen, ohne dass es eines Umwegs über die Identifikation einer absoluten Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit bedarf. Es genügt hier, die Entscheidungsalternativen in eine Zweckmäßigkeitshierarchie zu bringen, was auf ein isoliertes Interesse bezogen keine Schwierigkeiten erwarten lässt. Ausreichend ist dazu ein Vergleich von faktischen Auswirkungen der unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten, wobei eine relationale Betrachtung genügt, welche die Effekte der fraglichen Entscheidungsalternativen hierarchisiert. Einer generellen Aussage über das Verhalten, also eines Umwegs über eine abstrakte Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit, bedarf es dann nicht, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Für das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit beispielsweise genügt die Feststellung, dass eine Maßnahme die Begehung von Straftaten wahrscheinlicher macht als eine andere. Hier aber erscheint die Hierarchie klar: Der Gefangene erhält erst mit der Entlassung überhaupt Gelegenheit, Straftaten zu begehen; eine Freilassung scheint damit die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit stets stärker zu beeinträchtigen als eine Entscheidung für die Fortdauer der Haft. Bei zeitlicher Längsschnittbetrachtung zeigt sich jedoch etwas Anderes: Die Entscheidung zwischen Entlassung oder Nichtentlassung steht nämlich nur bei der lebenslan___________ 541
Dies stellt eigentlich eine Vereinfachung dar, weil die Behandlung durchaus von Allgemeininteressen wie zum Beispiel ökonomischen Bedürfnissen bestimmt sein kann. Für den Argumentationszusammenhang spielt dies jedoch keine Rolle. 542 So der hippokratische Eid (abgedruckt bei Deutsch 1997, S. 681), der nach heutiger Anschauung zwei Grundsätze nicht zur Disposition stellt, nämlich zum einen das Änil nocere³ Prinzip, wonach das Wohl des Betroffenen zu fördern und von ihm Schaden abzuwenden ist (Büchsel MMW 2004, 42; Nedopil, NStZ 1999, 433, 436) und zum anderen den Respekt vor der Autonomie eines Menschen, der sich dem Arzt anvertraut.
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gen Freiheitsstrafe in Rede543, bei der zeitigen Freiheitsstrafe geht es hingegen darum, ob sofort oder später entlassen wird. Hier ist zu entscheiden, ob die Aussetzung der Reststrafe unter dem Aspekt von Rückfall und damit Opferschutz besser ist als eine Vollverbüßung bis zum Strafende. Anders als bei der lebenslangen Freiheitsstrafe ist hier nicht die Frage, ob der Verurteilte überhaupt wieder in Freiheit kommt544, sondern wann dies geschieht. Nichtentlassung zum Entscheidungszeitpunkt bevorzugt damit bei lebenslanger Freiheitsstrafe klar die Sicherheitsinteressen, während es in einer zeitlichen Gesamtbetrachtung bei der zeitigen Freiheitsstrafe nur zu einem Aufschub für Auswirkungen auf Sicherheitsbelange kommt. Eine Vollverbüßung kann sich aber so ungünstig auf die Entwicklung des Straftäters auswirken, dass dieser bei der unvermeidbaren Entlassung nach Vollverbüßung eine viel größere Gefahr darstellt, als zum Zeitpunkt der bedingten vorzeitigen Entlassung545. Zu diesem Zeitpunkt wird der Gefangene zudem in eine beaufsichtigte Freiheit entlassen, deren erste Etappe mit einem noch offenen Strafrest und der Drohung des Widerrufs verbunden ist; solche Druckmittel aber werden aus der Hand gegeben, wenn man ihn Endstrafe verbüßen lässt546. Das Behandlungsinteresse kann also in bestimmten Fällen ebenso wie das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit durch die gleiche Maßnahme ± die vorzeitige Entlassung ± am besten gefördert werden. Umgekehrt kann eine Verweigerung der Haftentlassung den Sicherheitsinteressen und dem Resozialisierungsziel am ehesten entsprechen. Eine grundsätzliche Ablehnung des Strafvollzugs als ineffizient, stigmatisierend oder menschenunwürdig547 würde die realen Bedingungen und Möglichkeiten eines Behandlungsvollzugs verkennen und zudem Menschen Hilfe verweigern, die gerade im Zustand der Freiheit an sich und ihrer Umwelt gescheitert sind548. Oft ist es beispielsweise Teil des sozialen Defizits, dass ein strukturierter Tagesablauf völlig fehlt. Hier ist ein Ausgleich durch Unterbringung im Strafvollzug zu erwarten, wo der Betroffene sich in vorgegebene Abläufe einfügen muss. Manch ein Gefangener schafft erst im ÄSchutzraum³ der Haft einen Schulabschluss und ___________ 543
Hier ist eine lebenslange Freiheitsstrafe im ÄWortsinne³ gemeint, aus Gründen der Argumentation wird also das verfassungsrichterliche Gebot ignoriert, dass jeder Gefangene grundsätzlich die Perspektive haben muss, seine Freiheit wiederzuerlangen. 544 Kröber, NStZ 1999, 593, 593. 545 Vgl. dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69, Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 149. 546 Kröber, NStZ 1999, 593, 593. 547 Dazu z. B. Feest, in: AK-StVollzG, vor § 2 Rn. 7 ff. m. w. N. 548 Kaiser/Schöch 2001, S. 232 m. w. N.
D. Folgerungen aus dem Leugnungsproblem für die Prognosepraxis
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ist hinterher äußerst erleichtert darüber, weil er davon in Freiheit maßgeblich profitiert. Der Strafvollzug sollte folglich nicht von vornherein als für die Behandlung ungeeignet denunziert werden549, die Verweigerung einer bedingten Entlassung kann also im besten Sinne von Behandlungs- und Sicherheitsinteressen sein. In einer Vielzahl von Fällen ist es damit denkbar, dass eine bestimmte Entscheidung in der Hierarchie der vorzugswürdigen Maßnahmen mit Blick auf alle beteiligten Interessen ganz oben steht. Hier erübrigt sich jede weitere Überlegung und damit auch eine solche zur generellen Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit. Erst dann, wenn sich die Interventionshierarchien bei den jeweiligen Interessen unterschiedlich darstellen, kommt es auf eine Abwägung an; allein hier besteht ein Interessensgegensatz, der nur normativ aufgelöst werden kann. Vorrangig ist damit die Interventionswirkung zu bewerten, erst nachrangig die künftige Legalbewährung.550 Keinesfalls aber sollten die Ergebnisse stets (künstlich) zu einer Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit zusammengeführt werden. Vielmehr sollte eine Benennung von kriminologisch bedeutsamen Stärken und Schwächen des Probanden und deren Bezug auf die vorhandenen Maßnahmen im Vordergrund stehen. Es ist also eine ÄRisikokalkulation³ notwendig, die nicht ohne einen Blick in die Zukunft auskommt. Dieser ist jedoch zunächst nur in Reichweite der möglichen Interventionen, nicht im Sinne einer umfassenden Vorhersage aller künftigen Handlungsweisen erforderlich. Maßgeblich ist in erster Linie eine Eignungshierarchie der verfügbaren Maßnahmen, die sich aus den kriminologischen Stärken und Schwächen des Probanden ergibt. Sie verlangt eine relationale Wahrscheinlichkeitsaussage, nicht eine konkrete Angabe von Wahrscheinlichkeitsgraden oder ±kategorien. Liegt der betreffende Fall tatsächlich von der in Frage kommenden Rechtsfolgenalternative her eindeutig, lässt sich damit der Begründungs- und Darstellungsaufwand erheblich reduzieren. Die in Frage kommenden Entscheidungen ___________ 549 Böhm 1986, 33 f.; ders. 2003, S. 9. Siehe auch Böhm/Erhard 1988, S. 217. Böhm (2003, S. 28 f.) weist allerdings auch darauf hin, dass die präventiven Auswirkungen des Strafvollzugs bislang nicht hinreichend untersucht sind. 550 Bildlich gesprochen setzt sich die Matrix der Entscheidungsfindung also aus zwei Ebenen zusammen. Auf der einen siedeln sich die beteiligten Interessen ± d. h. das Behandlungsinteresse des Betroffenen und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ± an, quer dazu verläuft die Ebene der Entscheidungsalternativen. Ein Interessengegensatz besteht nur dann, wenn die gleiche Maßnahme sich gegenläufig auf die Interessen auswirkt. In diesem Fall muss eine normative Interessenabwägung erfolgen, die auch durch das Gewicht des jeweiligen Interesses bestimmt wird.
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spitzen den Erkenntnisvorgang häufig auf klare Alternativen zu, was ein Durchdeklinieren aller prognostischen Möglichkeiten überflüssig macht551. Die denkbaren Auswirkungen von Interventionen betreffen nur ganz bestimmte Handlungsbedingungen, nicht deren Gesamtheit; eine an Interventionen orientierte Prognose ist damit ein Weniger gegenüber einer reinen Verhaltensvorhersage. Wird der Entscheidungszusammenhang der Maßnahmenauswahl berücksichtigt, schränkt dies das zeitliche und situative Bezugsfeld der Vorhersage erheblich ein und widerlegt so darauf bezogene Vorbehalte gegenüber Kriminalprognosen. Daraus ergeben sich unmittelbar praktische Konsequenzen: Eine Prognose ist grundsätzlich an den vorhandenen Interventionsmöglichkeiten auszurichten, die bloße Formulierung einer Erwartung künftiger Lebensentwicklung also ebenso unvollständig wie wertlos.552 Die Prognose muss das Ergebnis einer Abwägung derjenigen Möglichkeiten sein, die als Rechtsfolgen der §§ 57, 57a StGB zulässig sind, denn eine dieser Möglichkeiten wird sich zwingend ergeben und folglich das weitere Leben des Betroffenen mitbestimmen. Es bedarf also keiner abstrakten, sondern einer durch die Mittelauswahl begrenzten Prognose, die sich ebenso als Interventionsprognose wie Interventionsbewertung deuten lässt.553 Stets geht es um eine Bewertung der Konsequenzen, die sich aus den Entscheidungen auf Grundlage der Prognosenorm ergeben. Dabei müssen sämtliche Konsequenzen möglicher Rechtsfolgen der Prognosenorm erfasst werden, was zum Beispiel bei Verweigerung einer vorzeitigen Entlassung eine Abschätzung der Risiken für die Allgemeinheit bei Entlassung zum Zeitpunkt der End___________ 551
Vgl. auch Bock 1995, S. 23 f. Insoweit kann zwischen Gefährlichkeit und Besserungsfähigkeit des Täters unterschieden werden. Während es bei der Gefährlichkeit darum geht, ob vom Täter zukünftig Straftaten zu erwarten sind, richtet sich die Frage der Besserungsfähigkeit darauf, ob der Betroffene zukünftig von Straftaten abgehalten werden kann. Bei der Gefährlichkeitsprognose geht es also um die bloße Erwartung künftiger Straftaten, bei der Interventionsprognose hingegen um die Beeinflussung künftigen Legalverhaltens angesichts einer bestimmten Erwartung künftiger Straftaten. Die Bewertung der Gefährlichkeit verlängert den gegenwärtigen Ist-Zustand in die Zukunft, Überlegungen zur Besserungsfähigkeit beziehen darüber hinaus Interventionen bzw. (Gegen-)maßnahmen mit ein. 553 Eine Quantifizierung bzw. Kategorisierung des Prognoseergebnisses als beispielsweise Ähohe³ oder Ähinreichende³ Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit ist überflüssig, soweit die Rechtsfolgenentscheidung darauf verzichten kann. Es bedarf also nicht stets der Einschätzung, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Ereignisse ± wie etwa Straffälligkeit im Leben des Probanden ± auftreten. Gefragt ist vielmehr, ob hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Ereignisses Straffälligkeit ein Unterschied zwischen den Entscheidungsmöglichkeiten besteht. 552
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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strafe erfordert. So stellt sich etwa die Frage, ob die Verweigerung einer vorzeitigen Entlassung angesichts der fehlenden Erprobung bei endgültiger Entlassung nicht höhere Risiken birgt als die vorzeitige Entlassung mit überwachenden und therapeutischen Auflagen. Immerhin sind ja über die Möglichkeit von Bewährungs-Auflagen und -Weisungen Strukturierung des Alltags, Erprobung und Führung möglich, während der Proband ohne diese Wiedereingliederungsmaßnahmen unmittelbar in die Freiheit gestoßen wird.554 Dabei ändert eine Konkretisierung der Kriminalprognose auf die Bedürfnisse der Mittelauswahl an dem Unterschied von Prognoseergebnis und Prognoseentscheidung555 nichts. Auch wenn dem Recht die Maßnahmenauswahl zugewiesen ist, sind Interventionen einer rein erfahrungswissenschaftlichen Betrachtung zugänglich. Zwar ergibt sich die Rechtsfolgenentscheidung aus der Überlagerung von rechtlicher und erfahrungswissenschaftlicher Bewertung556, auch außerhalb des Rechts kann aber dazu Stellung bezogen werden, welche faktischen Auswirkungen auf den Betroffenen und die Allgemeinheit von einer bestimmten Maßnahme (wie etwa der Entlassung) zu erwarten ist. Ein rein erfahrungswissenschaftlicher Anteil ist damit auch hier insoweit isolierbar, als Urteile über die kriminologischen Stärken und Schwächen des Betroffenen gefällt werden können, die zum reinen Tatsachenbereich gehören.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien I. Notwendigkeit einer Individualisierung Auch Vereinfachungen der prognostischen Aufgabe können nichts an den Schwierigkeiten ändern, die sich daraus ergeben, dass bisher keine inhaltlichen Prognoseregeln mit absoluter Geltung formuliert werden konnten. Da Wirklichkeitsaussagen über Verhaltensbedingungen damit aber im Einzelfall nicht zwingend zutreffen müssen, ist ihre Relevanz und Geltung stets gesondert zu überprüfen. Ihr Zutreffen muss somit für den Einzelfall nachgewiesen werden, der bloße Verweis ± etwa auf einen allgemeinen Erfahrungssatz ± genügt nicht. Erst
___________ 554
Inwieweit die nachträgliche Sicherungsverwahrung zur praxisrelevanten Alternative der Entlassung wird, muss sich noch herausstellen. Gesetzgeber und Rechtsprechung gehen von einer geringen Anzahl denkbarer Fälle aus, vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 10; BGH, Urteil vom 11. Mai 2005 ± 1 StR 37/05 ± S. 7 f. 555 Siehe dazu Kapitel 1 zur ÄBestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung³. 556 Volckart, R & P 1999, 58, 62.
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der Einzelfall aktiviert also die allgemeine Vorgabe als Prämisse einer prognostischen Bewertung.557 Eine solche Prämisse behauptet stets den Zusammenhang verschiedener Umstände, wobei diese grundsätzlich in unterschiedliche kausale Beziehungen zueinander gestellt werden können. So kann ein Umstand für einen anderen alleinige Ursache, Hauptursache oder eine Ursache unter anderen sein. Er kann ebenso notwendige, hinreichende oder wahrscheinlichkeitserhöhende Bedingung sein, wie umgekehrt Wirkung bzw. Effekt eines anderen.558 Merkmale und Umstände sind also aufeinander bezogen und beeinflussen bzw. verändern sich gegenseitig559. Allgemeine Vorgaben zur Inhaltskontrolle der prognostischen Arbeit können nur mögliche Zusammenhänge zwischen Wirklichkeitsumständen und Prognoseergebnis aufzeigen. Auch in einer solchen ÄMöglichkeitsbeziehung³ ohne direkten Ursachenzusammenhang kann das gemeinsame Auftreten von Umständen als Resultat einer Kausalbeziehung gedacht werden. Der Ursachenzusammenhang beschränkt sich hier allerdings nicht auf die betrachteten Umstände ± denn die gehören ja nicht immer, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zusammen ±, für ihr gemeinsames Auftreten muss es vielmehr einen zusätzlichen Grund geben560. Stets erfordert die Voraussage des Zusammentreffens zweier Umstände bei der Verhaltensprognose damit den Bezug auf weitere Faktoren außerhalb der vorgegebenen ÄMöglichkeitsbeziehung³. Das Problem der Tatverleugnung bestätigt diese Annahme: In manchen Fällen lässt sich das Ableugnen ± etwa als Ausdruck von Realitätsferne oder Bagatellisierung ± in einen Zusammenhang mit Straffälligkeit bringen. Bei anderen Probanden scheint es damit nichts zu tun zu haben, indem es beispielsweise die Angst dokumentiert, tragende menschliche Beziehungen durch das Bekenntnis ___________ 557 Hier zeigt sich das ÄWechselverhältnis gegenseitiger Überprüfung³ zwischen Einzelfallprognose und empirischer Sicherung von Einflussfaktoren auf die Gruppenprognose, wie es Kröber (1995, S. 63) formuliert hat. Der Einzelfall kann prognosegerecht verlaufen, obwohl die gewählten Prognosekriterien bedeutungslos waren. Andererseits können bei einer einzelnen Person Faktoren für die weitere Delinquenzentwicklung von Bedeutung sein, die im Rahmen der Untersuchung von Gruppen ohne messbare Wirkung sind. 558 Vgl. dazu auch Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 269 m. w. N. 559 Volckart 1997, S. 36. 560 Dieser zusätzliche Umstand kann entweder allein, das heißt unabhängig von den Ausgangsumständen bestimmende Bedingung sein, er kann sich aber auch mit einem der Ausgangsumstände zur Ursache verbinden, also im Sinne einer Äkumulativen³ Kausalität den Folgeumstand bewirken.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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der Unwahrheit in Frage zu stellen. Diese Beobachtung der kontextuellen Prägung von Wirklichkeitskonstanten lässt sich für die Prognose allgemein formulieren: Die prognostische Relevanz eines Einzelumstands wird offensichtlich durch das Bedingungsgefüge bestimmt, in dem er sich befindet.561 Für diese Äprognostische Multipotenz³ lässt sich eine Fülle von Beispielen finden. So bedeutet Geldmangel bei einem gottesfürchtigen Priester prognostisch etwas anderes als Geldmangel bei einem Drogenabhängigen. Fehlende Mithilfe im elterlichen Haushalt kann eine Vernachlässigung sozialer Pflichten sein, muss dies aber nicht. Vielmehr kommt es hier ebenso auf die einzelne Familie und ihren sozio-kulturellen Hintergrund an, wie bei dem Porsche fahrenden Studenten562. Delinquierte der Betroffene in der Vergangenheit gänzlich unabhängig von den Kriterien Ästabile Beziehung³, Äsicherer Arbeitsplatz³ oder ÄWohnung³, so fehlt im Einzelfall ganz offensichtlich die kriminalitätshemmende Wirkung, die diesen Merkmalen üblicherweise zugeschrieben wird563. Jeder prognostische Einzelumstand geht also für sich betrachtet mit einem Wahrscheinlichkeitsspielraum künftiger Straffälligkeit einher, der sich erst im Zusammenspiel mit weiteren Umständen konkretisiert. Damit ist die prognostische Relevanz eines Einzelumstands stets vom spezifischen Kontext seiner Begleitumstände abhängig.564 Da sich die Einzelumstän___________ 561 Daher verwundert es nicht, dass gängige Prognoseverfahren große Zurückhaltung mit inhaltlichen Vorgaben für den Umgang mit Prognosekriterien üben, z. B. MüllerIsberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51; Rasch 1999, S. 37, Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188 f.; Dittmann 2000, S. 84 (Vorbemerkung 8.). 562 Schallert, DVJJ 1998, 17, 20. Auch das praxisrelevantere Beispiel der Arbeitslosigkeit etwa kann in der individuellen Lebenssituation ganz unterschiedliche Wertigkeit haben. Es kann Teil einer lang andauernden Vernachlässigung des Arbeits- und Leistungsbereichs, aber auch ohne eigenes Zutun einem schlechten Arbeitsmarkt geschuldet sein (siehe Bock NStZ 1990, S. 462). 563 Urbaniok, KR 2003, 169, 173. Bei näherem Hinsehen überrascht die prognostische Vieldeutigkeit auch vermeintlich eindeutiger Wirklichkeitsumstände: So erlangt das Geständnis durch das Angebot der Strafmilderung eine ganz andere prognostische Relevanz als bei Nachweis tiefer Reue; diese wiederum ist als selbstmitleidiges Lamentieren über das eigene Missgeschick etwas ganz anderes als bei Mitleid mit dem Opfer. Mit der Scheidung vom Ehepartner kann das gesamte Lebensgefüge zusammenbrechen (etwa weil das Verlusterlebnis zum Alkohol verführt), Scheidung kann aber auch das Ende einer langen Leidenszeit bedeuten. Ein langes Vorstrafenregister kann ebenso das Relikt einer überwundenen Lebensphase wie Hinweis auf eine verfestigte verbrecherische Grundhaltung sein. Schizophrenie beseitigt möglicherweise die Hemmungen gegenüber einer Deliktsbegehung, eventuell aber auch die Möglichkeit dazu. 564 Eine solche Vorstellung spricht auch aus dem Hinweis im Manual zum HCR-20Schema, wonach das Gewaltrisiko eher Ädurch eine spezifische Kombination bestimmter
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
de in ihrer tatsächlichen prognostischen Relevanz gegenseitig bedingen, ist jeder prognostische Umstand zur Konkretisierung seiner Wahrscheinlichkeit für den Zielumstand Straffälligkeit auf das Hinzutreten weiterer Faktoren angewiesen. Ein Wirklichkeitsumstand darf also nicht für sich alleine, sondern nur im Gesamtgefüge der potentiellen Bedingungen bewertet werden; erst in diesem Beziehungsgefüge der individuellen Gegebenheiten beginnen die Einzelumstände prognostisch zu sprechen. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Umgang mit Prognosekriterien muss damit sein, dass es die individuelle Konstellation der Verhaltensbedingungen ist, welche die Prognoserelevanz eines einzelnen Faktors ausmacht. Das individuell Gültige kann also nur im spezifischen Gesamtzusammenhang der konkreten Gegebenheiten bestimmt werden, Kriterien müssen daher am Einzelfall orientiert bewertet und gewichtet werden. Anderenfalls entsteht das Problem der ÄScheinrelevanzen³, das heißt Merkmale werden als günstig oder ungünstig eingestuft, die möglicherweise für den entsprechenden Einzelfall keinerlei Bedeutung haben565. II. Orientierung an methodischen Vorgaben Forderungen nach Individualisierung und Einzelfallbezug sind nur sinnvoll, wenn sie ± insbesondere mit Blick auf den Aufwand ± umgesetzt werden können. Dem kommt entgegen, dass sich auch aus dem komplexen Bedingungsge___________ Risikomarker zu steigen³ scheine (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 14). 565 Urbaniok, KR 2003, 169, 173. Mit dem Hinweis auf die Einzelfallabhängigkeit der prognostischen Relevanz lassen sich auch weit verbreitete Annahmen widerlegen. Allgemein wird beispielsweise davon ausgegangen, dass deviante Fantasien ein wichtiger rückfallbegünstigender Prädiktor sind. Ob eine Fantasietätigkeit prognostisch ungünstig, bedeutungslos oder sogar günstig ist, hängt allerdings von weiteren Subkriterien ab. Zentrale Bedeutung hat dabei die so genannte ÄHandlungsschwelle³, das heißt die Schwelle zwischen Fantasie und Handlung. Eine durchlässige Handlungsschwelle ist notwendig, damit das Fantasierte zu einem Handlungsimpuls führen kann, es gibt aber Menschen, bei denen diese Handlungsschwelle sehr stabil ist, bei denen Fantasie und Handlung also abgegrenzt voneinander koexistieren können. Ist damit für den ersten Täter eine deviante Fantasie überaus gefährlich, kann sie für den zweiten mit stabiler Handlungsschwelle sogar genau das Gegenteil sein (Urbaniok, KR 2003, 169, 176 ff.). Auch das Lockerungsverhalten ist beispielsweise nur ein Aspekt unter vielen, bei dem es zudem seinerseits wiederum nur auf bestimmte Gesichtspunkte ankommt. Relevant ist hier etwa, wie der Proband mit den dadurch erweiterten sozialen Anforderungen zurechtkommt, wie er seine Außenkontakte entwickelt, sich am Arbeitsplatz verhält oder seine Freizeit nutzt. Dass er die Lockerungen nicht missbraucht hat, ist allenfalls eine zusätzliche Information. Zur Bedeutung von Lockerungsverhalten siehe Kröber, NStZ 1999, 593, 598 m. w. N.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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füge menschlicher Verhaltensweisen uniforme Grundbausteine isolieren lassen, denn alle Einzelfaktoren sind für sich genommen schon einmal da gewesen. Erst aus der Kombination von Einzelmerkmalen entsteht ein einzigartiges Erscheinungsbild, das sich zu ubiquitären Grundbausteinen atomisieren lässt. Einzigartigkeit ergibt sich also nicht aus der Fülle, sondern der Kombination der vorhandenen Möglichkeiten, individuell sind die Konstellationen der vorhandenen Wirklichkeitselemente, nicht diese Elemente selbst. Ebenso wie es der Psychiatrie gelingt, einen psychopathologischen Befund mit bestimmten Grundkategorien zu beschreiben, sollte es daher auch dem Prognostiker möglich sein, mit einer begrenzten Zahl von Aussagemöglichkeiten die Einzigartigkeit der individuellen Verhaltensbedingungen zu erfassen. Damit aber geraten die Überlegungen wieder in das Spannungsfeld von Individualisierung und Standardisierung. Wenn spezifisch-individuelle Gegebenheiten mit bestimmten Grundkategorien bzw. einer begrenzten Zahl von Aussagemöglichkeiten beschrieben werden sollen, so sind dazu allgemeine methodische Vorgaben notwendig. Auch die Prognose ist auf Vorannahmen angewiesen, denn nicht alles kann sich nach den individuellen Gegebenheiten des Einzelfalls richten. Undenkbar ist es, alles zu erfragen oder alle Tests durchzuführen, vielmehr ist menschliche Wahrnehmungskapazität auch hier auf Informationsselektion angewiesen566. Mit ihren Vorgaben fördert Methodik dabei die menschliche Urteilsbildung nicht nur, sondern wirkt auch deren Schwächen bei der Bewertung komplexer Sachverhalte entgegen567. Bei einer Äregellosen“ prognostischen Erkenntnisgewinnung führen solche Urteilsschwächen zu Fehlern, die sich durch psychologische Modelle der Entscheidungsfindung bei komplexer und unübersichtlicher Informationslage beschreiben lassen568. So ist die Tendenz zu selektiver Informationsaufnahme zugunsten vorgefasster Annahmen bekannt.569 Auch kommt es bei kognitiver Überforderung durch eine komplexe, unüberschaubare Informationslage zur ÄKriterienreduktion“570, und Weichenstellungen erfolgen im
___________ 566
Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 269; siehe auch Neisser 1974, 114 ff. zur Äfokalen Aufmerksamkeit³. 567 Dahle 2000, S. 83 ff. 568 Dahle 2000, S. 89. 569 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77; Dahle 2000, S. 89. 570 Vgl. dazu für Prognosen Nowara 1995, S. 37; Kinzig, R & P 1997, 9, 15; Hinz 1987, S. 316 f.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Beurteilungsprozess oft sehr frühzeitig, ohne dass bereits eine hinreichende Informationsgrundlage vorliegt571. Zudem wird erfahrungskompatiblen Informationen ein Vorrang eingeräumt, was eine berufsspezifische Merkmalsauswahl, -bewertung und -gewichtung bedingen kann572. Hier wirkt sich die Neigung aus, all jene Informationen bevorzugt wahrzunehmen, die eigene Erwartungen, Vorerfahrungen oder Vorurteile stützen, während Unvereinbares ausgeblendet wird573. Hinzu kommt eine Dominanz persönlich bedeutsamer Aspekte, was zu Überschätzung der Rückfallrisiken und Betonung personaler Ursachen bei Beurteilung fremden Verhaltens führt574. Auch ist bekannt, dass seltenen Informationen schnell eine unangemessen große Bedeutung beigemessen wird575, die Überschätzung sehr kleiner Wahrscheinlichkeiten beispielsweise zur Überbetonung von Rückfallrisiken bei sehr geringen Basisraten führt576. Solche Urteilsschwächen wurden in der Prognosepraxis vielfach nachgewiesen, wobei vor allem die einseitige Betonung bestimmter Einzelaspekte Anlass zur Kritik gab. Viele Prognostiker neigen beispielsweise dazu, sich vorwiegend auf Persönlichkeit und Lebensgeschichte des Täters zu konzentrieren und dabei bevorzugt auf die Ausführungen des Exploranden abzustellen, ohne in ausreichendem Maße Akten zu berücksichtigen.577 Andere engen die Überlegungen auf das letzte, zur aktuellen Haft oder Unterbringung führende Strafverfahren ein578 oder verlieren umgekehrt im Behandlungsverlauf den eigentlichen Anlass ___________ 571
Schon aus diesem Grund misst der Prognostiker denjenigen Informationen, die er früh über den Probanden erhält, besonderes Gewicht bei. Da dies in aller Regel Informationen zur Vorgeschichte aus der Akte sind, führt die Dominanz früher Informationen im Beurteilungsprozess oft zur Überbewertung der Akteninformationen (siehe dazu Hinz 1987, S. 322; Wyss 1992, S. 83; Dahle 2000, S. 90). Ein hierdurch gewonnener Äerster Eindruck“ aber beeinflusst Suchrichtung, Wahrnehmung und Verarbeitung bei der weiteren Informationsbeschaffung. 572 Dazu Averbeck/Lösel 1994, S. 225; Wyss 1992 m. w. N. 573 Dahle 2000, S. 90. 574 Dahle 2000, S. 90, Tabelle 4.1. 575 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 576 Dahle 2000, S. 90 m. w. N. 577 Urbaniok, KR 2003, 169, 173; Kröber, NStZ 1999, 593, 598. Eine Untersuchung dessen, was sechs Münchner Psychiater in 36 kriminalprognostischen Gutachten für besonders wesentlich gehalten haben (Vgl. Nedopil, Forensia 1986, 167 ff.), erbrachte eine unsystematische Auflistung teils sehr naheliegender pragmatischer, teils psychiatrisch-intuitiver Kriterien. Klassische kriminologische und psychiatrische Kriterien hingegen fehlten oder wurden eher im Randbereich erfasst. Vgl. dazu auch Kröber (1995, S. 63 ff.), der vermutet, dass diese Kriterien als wenig reliabel erfassbar gelten. 578 Kröber, NStZ 1999, 593, 598.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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der Unterbringung aus den Augen und messen dann Einzelaspekten ± wie positivem Vollzugsverhalten oder (scheinbaren) Therapiefortschritten ± unangemessen große Bedeutung bei579. Oftmals werden zudem die Vollzugsrealitäten nicht ausreichend berücksichtigt und therapeutische Möglichkeiten überschätzt.580 Methodische Vorgaben treten solchen Unzulänglichkeiten entgegen, indem sie den Diagnostiker davon abhalten, sich vorschnell auf Beurteilungen festzulegen581. Ein Zwang zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Dimensionen verhindert, was in der Psychologie als so genannter Primacy-Effekt bekannt ist582. Man entgeht der Gefahr, sich mit einigen wenigen Informationen zufrieden zu geben und alle anderen in diesem Sinn zu ordnen583. Ein zuvor festgelegter ÄArbeitsplan³ ist auch deshalb unerlässlich, um nicht vom bloßen Gefühl der Richtigkeit und Vollständigkeit abhängig sein zu müssen. Er verhindert, dass abschließende Bewertungen durch Teilaspekte zu relativ frühen Zeitpunkten des Informationsverarbeitungsprozesses ausgelöst und die übrigen Gesichtspunkte danach nicht mehr ausreichend gewürdigt werden, indem beispielsweise widersprechende Informationen keine Berücksichtigung mehr finden584. Eine elaborierte Methodik gewährleistet die hinreichende inhaltliche Breite der Beurteilungsgrundlage, verlagert prognostische Schlussfolgerungen auf einen Zeitpunkt nach deren Erhebung bzw. Bewertung und bietet Richtlinien für den Bewertungsprozess585. Methoden stehen damit im Dienste der bei Prognosen unerlässlichen Objektivität. Das Gesetz verpflichtet den Prognostiker zur Sachlichkeit586, während Willkür, Zufälligkeiten oder Privattheorien zu vermeiden sind587. Mit Hilfe wissenschaftlicher Methodik muss der Verdacht ausgeräumt werden, dass das zur Verwendung empfohlene Wissen auf etwas anderem als Erfahrung ± also bei-
___________ 579
Dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 67 m. w. N.; Pierschke 1998, S. 188. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 67. 581 Vgl. dazu auch Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 259. 582 Dazu z. B. Nowara, R & P 1995, 67, 72. 583 Rasch 1994, S. 29. 584 So findet sich bei Hinz (1987, S. 146 ff.) eine Zusammenfassung der Unzulänglichkeiten bei der Informationsverarbeitung, die sich bei der Erstellung von Gefährlichkeitsprognosen durch forensische Sachverständige gezeigt haben. 585 Dahle 2000, S. 91. 586 Volckart 1997, S. 6. 587 Dazu z. B. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 580
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
spielsweise auf Offenbarung, Tradition, Metaphysik, Visionen, Vorurteil, Hörensagen oder Bekenntnis ± beruht.588 Prognostiker haben im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit oft gelernt, rasch und inexplizit Probanden zu typisieren. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass insbesondere klinische Praktiker die Befunde häufig eher pragmatisch, weniger bewusst oder formal kontrolliert einer Vorstellung zuordnen, die aus Literaturkenntnis und persönlicher Erfahrung entstanden ist.589 Wie bei Prognosen im Alltag beruht das prognostische Handeln des erfahrenen Praktikers in vielen Fällen weniger auf Fachwissen denn auf Alltagstheorien und Deutungsmustern. Seine Prognosen sind von situativen bzw. interaktiven, jedenfalls aber präkonzeptionellen Faktoren beeinflusst, über deren innere Logik nicht durchgängig Rechenschaft abgegeben wird.590 Wissenschaftlich erhärtete und klinisch bewährte prognostische Kriterien werden nicht immer ausreichend berücksichtigt591, dagegen spielen nicht methodisierbare Anteile eine beachtliche Rolle. Das Ziel größtmöglicher Objektivität aber macht es unerlässlich, so weit es geht mit greifbaren und verbindlichen Beurteilungsvorgaben zu arbeiten.592 Nur eine allgemeingültige, systematische Vorgabe kann Anamnese- oder Befundfehler, Verstöße gegen Denkgesetze oder Defizite in der empirischen Begründung verhindern, wie sie im Zusammenhang mit der Gutachtenpraxis immer wieder beklagt werden593. Methoden obliegt die Organisation des Erkenntnisprozesses in der Weise, dass Ergebnisse Geltung beanspruchen können594, nur auf einer solchen Grundlage werden systematische Beurteilungsverzerrungen bei der ___________ 588
Bock 2000, S. 24 ff. Göppinger 1997, S. 194 f.; Eisenberg 2005, S. 175. 590 Vgl. Bock 2000, S. 190. 591 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 174. 592 Dass damit gearbeitet werden muss, ist ausdrücklich zu betonen. Es wird beklagt, dass Bezüge auf allgemeinverbindliche Vorgaben häufig nur ein ÄÜberbau³ sind, um das Gutachten Äwasserdicht³ zu machen (so Birkhoff, StraFo 2001, 401, 403). Selbst vermeintlich verwendete Prüfungsmethoden kommen in der eigentlichen Bewertung zum Teil gar nicht oder nicht im bezeichneten Umfang zur Anwendung, sondern werden durch andere, nicht benannte Prüfungsmuster ersetzt (Vgl. Jansen, StV 2000, 224, 224 zu aussagepsychologischen Begutachtungen). Dies kann unbeabsichtigt geschehen, methodische Grundlagen können aber auch bewusst als Alibi eingesetzt werden, um nicht methodisierbaren Anteilen der Bewertung Legitimation bzw. Autorität zu verleihen und deren maßgeblichen Einfluss zu kaschieren (Birkhoff, StraFo 2001, 401, 403). 593 Vgl. dazu Heinz 2000, S. 105 ff.; Birkhoff, StraFo 2001, 401, 404; Streng, NStZ 1995, 12, 13. 594 Bock 2000, S. 24 ff. 589
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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Prognosestellung sichtbar595. Je strukturierter das Vorgehen, umso mehr können die darin liegenden Fehlerquellen ausgeschaltet werden.596 Die Einbindung des prognostischen Denkvorgangs in methodische Vorgaben lässt damit am ehesten das richtige Maß an prognostischer Effizienz und Flexibilität erwarten. Eine in sich geschlossene Methodik erlaubt weder zu viele Denk- und Entscheidungsmöglichkeiten, noch umgekehrt den Verzicht auf die Berücksichtigung jedweder Alternative.597 Sie macht sichtbar, wenn die prognostische Entscheidung auf Alltagstheorien oder eine nicht mehr nachvollziehbare theoretische Voreinstellung gründet.598 Derzeit ist allerdings eine Vielfalt der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Kriminalprognosen möglich, die oft zum Widersacher von Berechenbarkeit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit wird599. Dabei kann eine gewisse Vereinheitlichung der Beurteilungsgrundlagen sogar als Gebot der Gleichheit bezeichnet werden.600 Standardisierungen gehören zum Wesen der Methodik, will diese doch eine Vorgehensweise sicherstellen, bei denen Anwender aufgrund der gleichen Informationen auch zu den gleichen Ergebnissen gelangen601. Gerade die Einheitlichkeit beim Vorgehen verspricht daher, dass eine Prognose von den Erhebungen über die Diagnose bis zur Ableitung von Interventionsempfehlungen nachvollziehbar und dokumentierbar ist.602 Dies schafft Transparenz hinsichtlich des Ableitungszusammenhangs der Ergebnisse, fördert die Beurteilungssicherheit und stellt gleichzeitig eine Qualität der Dokumentation sicher603.
___________ 595
Dazu Dahle 2000, S. 91. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 597 Entsprechend heißt es im Manual zum HCR-20-Schema: ÄRisikoabschätzungen sollten einem allgemein verbreiteten und anerkannten Instrument oder Schema folgen [«] die Anwendung von einem oder mehreren bewährten Instrumenten gewährleistet zumindest, dass empirisch gesicherte Kriterien nicht übersehen oder unterbewertet werden.³ (Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 3). 598 Vgl. Heinz 1982, S. 103 f.; Nedopil, NStZ 1999, 433, 434. 599 Siehe dazu z. B. Birkhoff, StraFo 2001, 401, 403. 600 So Volckart 1997, S. 42. 601 Volckart 1997, S. 7 f.; siehe auch Volckart, R & P 1999, 58, 62. 602 Dahle 2000, S. 83 f., 92; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77; Hinz 1987, S. 146 ff. 603 Vgl. auch Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 3. Für einheitliche Beurteilungsvorgaben spricht auch die einfache Feststellung, dass ohnehin die besten Beurteilungsvorgaben eingesetzt werden sollten und diese nicht von Fall zu Fall variiert werden. Standardisierung steht damit im Dienste von Objektivität und Verbindlichkeit des behaupteten Wissens. 596
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Nach einer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Wissensstand sollte der Prognostiker daher zu einer Entscheidung darüber gelangen, woran er sich bei seiner prognostischen Arbeit sachlich orientiert. Er muss inhaltliche Beurteilungsvorgaben haben und die Frage nach deren ÄWarum³ beantworten können, denn nur so kann er seine Ergebnisse ± auch vor sich selbst ± einem kritischen Diskurs zugänglich machen. Er muss ein geschlossenes System von sachlichen Vorgaben zur Verfügung stellen, aus dem sämtliche prognostische Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Er selbst wird maßgeblich von einem solchen ÄKonditionalprogramm³ profitieren, wie es von Luhmann dem ÄZweckprogramm³ gegenübergestellt wurde604. Beim Konditionalprogramm ist die Entscheidung durch eine weitgehende Gebundenheit des Entscheidungsträgers gekennzeichnet, Entscheidungsvoraussetzungen und Handlungsalternativen stehen hier in einem Äerwartbaren Wenn/Dann-Zusammenhang³, so dass dem Entscheidungsträger lediglich die Prüfung der jeweils programmierten Voraussetzungen obliegt.605 Bei Entscheidungen auf Grundlage eines Zweckprogramms hingegen ist der Entscheidungsträger in der Wahl seiner Mittel relativ frei. Hier leitet lediglich ein mehr oder weniger bestimmt vorgegebener Zweck die Vorgehensweise, was zu relativer Freiheit beim ÄOb³ eines Handelns oder der Wahl der Mittel führt.606 Kehrseite dieser Freiheit ist allerdings eine entsprechend hohe Folgenverantwortung des Entscheidungsträgers. Er kann sich nur wegen des vorgegebenen Zieles selbst freisprechen607, während er bei einem Konditionalprogramm von den Folgen seiner Entscheidung umfassend entlastet ist. Bei letzterem nämlich treffen alle wertrelevanten Konsequenzen seines Handelns nicht ihn, sondern denjenigen, der das Programm verfasst hat.608 Methodisches Regelwissen führt also zu einer Entlastung des Prognostikers von den Folgen seiner Entscheidung, weil wertrelevante Konsequenzen des Handelns auf das Programm zurückgeführt werden können. Die weitgehende methodische Gebundenheit im Konditionalprogramm bringt auch hier Entscheidungsvoraussetzungen und Handlungsalternativen in Äeinen erwartbaren Wenn/Dann Zusammenhang³.609 ___________ 604 Luhmann 1987, S. 241; ders., VerwArch 1964, 1, 7 ff. Luhmann bezog seine Überlegungen auf den juristischen Normenbestand, sie sind aber ohne weiteres auf die prognostische Denklogik übertragbar. 605 Luhmann 1987, S. 229 ff. 606 Luhmann 1987, S. 241. 607 Luhmann 1987, S. 241. 608 Luhmann 1987, S. 229 ff. 609 Siehe dazu Luhmann 1987, S. 231 f.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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Sachliche Vorgaben sind also aus ganz unterschiedlichen Gründen geboten und müssen ihrerseits unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Prognoseforschung inhaltlich gerechtfertigt sein, um das derzeit mögliche Maß an Gleichbehandlung, Objektivität, Konsistenz und Transparenz der prognostischen Arbeit zu gewährleisten. Erst dann ist auch dasjenige intersubjektiv vermittelbar, was der Prognostiker berechtigter- und notwendigerweise an Subjektivismen in die prognostische Arbeit einbringt. Nur in der Abbildung auf ein geschlossenes System von sachlichen Vorgaben sind die Beurteilungsspielräume abgrenzbar, die der Prognostiker berechtigt oder unberechtigt in Anspruch nimmt.610 Für diese ÄFreiheitsgrade im Anwendungsfall³ müssen zudem wenigstens Zielvorgaben und Beurteilungskriterien bereitstehen611, damit einzelne Wirklichkeitsumstände wie beispielsweise eine Tatverleugnung nicht Willkür und Ungleichheit veranlassen. III. Anforderungen an methodische Vorgaben 1. Anforderungen an die Herleitung Auch wenn derzeit bei der Auswahl der Prognosemethode eine gewisse Beliebigkeit hinzunehmen ist612, stehen umgekehrt bestimmte Anforderungen daran nicht zur Disposition. Sie lassen sich zwangslos aus den Gründen ableiten, auf denen die Notwendigkeit einer Methodenorientierung aufbaut: Die prognostische Arbeit ist möglichst objektiv, das heißt frei von Vorlieben, Überzeugungen oder anderen subjektiven Impulsen zu verrichten. Der Prognostiker hat über den eigenen Standpunkt Rechenschaft abzulegen und durch Distanzierung von vorwissenschaftlichen Anschauungen das eigene Denken zu disziplinieren. Diese Forderungen disqualifizieren von vornherein ein rein intuitives Vorgehen. Dessen Anerkennung als Methode ist ohnehin umstritten613, der Strafprozess jedenfalls kann sich auf keinen Fall mit einem rein intuitiven Vorgehen als ÄMethode³ bei der Expertise begnügen, weil es hier keine explizierbaren Re___________ 610 Vgl. dazu auch Bock (1995, S. 21), der darauf hinweist, dass in die prognostischen Ergebnisse oft Deutungen über Ursachen und Umgang mit sozialer Auffälligkeit einfließen, durch die der Prognose-Ersteller in seiner Ausbildung geprägt wurde, deren wissenschaftlicher Hintergrund aber umstritten sein kann. Werden solche Interpretationen nicht ausreichend offengelegt, entsteht bei anderen Beteiligten der falsche Eindruck, es handele sich um reine Feststellungen. 611 So Dahle 2000, S. 92. 612 Rasch 1999, S. 374. 613 Dazu Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274; Volckart, R & P 1999, 58, 62; Volckart 1997, S. 7 ff.; Dahle 2000, S. 85, Fußn. 8.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
geln gibt614. Damit fehlt es an der nötigen Überprüf- und Vermittelbarkeit der Ergebnisse, um die Qualität einer Beurteilung im Einzelfall einschätzen zu können615, ein fachlicher und formaler Qualitätsstandard aber muss das Nachvollziehen und Überprüfen der prognostischen Urteilsbildung ermöglichen616 Er hat die Prognosestellung in der Abfolge ihrer einzelnen Schritte nachvollziehbar und prinzipiell überprüfbar wiederzugeben.617 Das Ziel größtmöglicher Objektivität gebietet, die verwendete Methode so weit es geht auf das verfügbare und anerkannte Wissen zurückzuführen, also beurteilungsrelevante Daten über die Entstehungszusammenhänge von Kriminalität und Rückfallgeschehen zu berücksichtigen618. Unsicherheiten rechtfertigen nicht, die Ergebnisse der Prognoseforschung zu ignorieren, denn diese sind in jedem Fall objektiver und sachlicher als das Gutdünken des Prognostikers. Er muss es als seine Pflicht ansehen, zum aktuellen Forschungsstand Stellung zu beziehen und sich für jene wissenschaftlichen Vorgaben entscheiden, die ihm für seine Arbeit am besten geeignet erscheinen. Erfahrungen beschreiben den ÄMöglichkeitsraum³, in dem denkbare Zusammenhänge überhaupt auftreten können, geben also vor, wie sich ein Umstand grundsätzlich realisieren kann. Der Bezug auf gesicherte empirische Befunde sollte also gewährleistet sein, das heißt die verwendeten Kriterien das mögliche Maß erfahrungswissenschaftlicher Absicherung aufweisen619. Die wissenschaftlich fundierte Prognose ist dabei zwangsläufig eine Verbindung zwischen individuellem Vorgehen und Bezugnahme auf erfahrungswissenschaftlich gesicherte Phänomene, bei dem auf empirisches Wissen nicht verzichtet werden kann620. Um das vorhandene Wissen in kontrollierter und nachvollziehbarer Weise nutzen zu können, sollte das System der sachlichen Vorgaben logisch evident, inhaltlich nachvollziehbar und hinsichtlich seiner Angemessenheit prinzipiell (empirisch) überprüfbar sein. Es hat im Einzelfall eine transparente und kontrollierbare Anwendungspraxis zu ermöglichen, die den
___________ 614
Dahle 2000, S. 85. Dahle 2000, S. 89; Schumann 1994, S. 34; Volckart, R & P 1999, 58, 62. 616 Vgl. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 82, Detter, NStZ 1998, 57, 60. 617 Vgl. Endres ZfStrVo 2000, 67; Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261; Nowara, R & P 1995, 67, 70 f. 618 So auch Egg 2002, S. 322. 619 Vgl. Egg 2002, S. 316. 620 Kröber 1995, S. 66. 615
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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Zusammenhang zwischen prognostischem Wissen und prognostiziertem Verhalten sichtbar macht621. 2. Anforderungen an die Beurteilungsgrundlage Die Klage über inhaltlich ungenügende Prognosen ist verbreitet.622 Sie bezieht sich oft auf den Umfang der Befunderhebung623, was die Forderung widerspiegelt, das Relevante vollständig zu erfassen624. Bereits Alltagsbeispiele der Prognose machen dieses Grundprinzip erfolgreicher Prognostik deutlich: Differenzierte Prognosen beinhalten eine umfassende und individuelle Erfassung des Einzelfalles, bei der Einflussfaktoren in ihrer Bedeutung berücksichtigt werden.625 Das notwendige Datenmaterial ist also in der Gesamtheit seiner Dimensionen zu erfassen626, was in Bezug auf Inhalte in gleicher Weise wie für die vorhandenen Datenquellen gilt627. Zur Bestimmung des individuell Gültigen ist die kontextuelle Prägung der Wirklichkeitskonstanten im Längsschnitt des Bedingungsgefüges ebenso nachzuzeichnen wie in dessen Querschnitt. Soweit es das gleichzeitige Nebeneinander von Wirklichkeitsumständen betrifft, müssen korrespondierende Begleitumstände ± zum Beispiel Umweltgegebenheiten, Verhaltensweisen oder Einstellungen des Probanden ± in die Beurteilung einbezogen werden628, wobei nicht nur Risikomerkmale für delinquentes Verhalten, sondern auch solche Faktoren zu beachten sind, die einen positiven, rückfallverhindernden Einfluss ausüben. Sie können dazu führen, dass es trotz gravierender Risiken nicht zu einer delinquenten Entwicklung kommt oder eine bereits eingeschlagene Karriere entgegen der (statistischen) Erwartung vorzeitig endet629.
___________ 621
Dahle 2000, S. 83 ff. Siehe zum Beispiel Schall/Schreibauer NJW 1997, 2412, 2415; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 78. 623 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261; Endres, ZfStrVo 2000, 67, 77. 624 Erste Voraussetzung dafür ist, dass sich der Prognostiker intensiv mit dem Fall beschäftigt, was in der Praxis allerdings wohl nicht immer geschieht (dazu Kröber, NStZ 1999, 593, 598). 625 Urbaniok, KR 2003, 169, 171. 626 Kröber, NStZ 1999, 593 ff. 627 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 261. 628 Hendrik Schneider 1996, S. 77. 629 Dazu z. B. Dahle 2000, S. 107 m. w. N. 622
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Die Fülle der potentiellen Einflussfaktoren macht plausibel, dass die Qualität der Prognose maßgeblich durch die Breite der Prognosegrundlage bestimmt wird, ein schmaler Wirklichkeitsausschnitt hingegen wegen der Vieldeutigkeit prognostischer Umstände als Beurteilungsgrundlage nicht geeignet ist630. Was die inhaltliche Mindestbreite der Querschnittsbetrachtung betrifft, kann ein gewisser Konsens der gängigen Prognosemethoden formuliert werden, wonach eine umfassende Analyse die Bereiche Kindheit und Erziehung, Lebensumfeld, Schule und Beruf, Freizeit, zwischenmenschliche Kontakte, Delinquenz, Krankheiten bzw. Sucht und deren Therapien sowie Verhalten im Vollzug zu berücksichtigen hat.631 Unerlässlich ist zudem eine ÄLängsschnittanalyse³ im Sinne einer retrograden Betrachtung des bisherigen relevanten Verhaltens und seiner Hintergründe632, denn sogar für Hunde hat das BVerfG zugestanden, dass ein Wesenstest nur eine Momentaufnahme vom Verhalten ermöglicht633. Was die zeitlichen Ebenen der Längsschnittbetrachtung angeht, so kann auch hier ein Mindeststandard als Übereinkunft der gängigen Prognosemethoden behauptet werden, der die Ebenen Vorgeschichte, aktuelle Situation, jüngere Entwicklung und Zukunftsperspektive umfasst.634 Notwendig ist also eine Auseinandersetzung mit der Dynamik, die den Straftaten zugrunde liegt, und der Entwicklung des Täters in der Zeit nach Tatbegehung.635 3. Anforderungen an Einzelkriterien Bei Individualprognosen geht es stets um einen einzelnen Menschen in seinen konkreten sozialen Bezügen und Lebensumständen, das heißt darauf bezogen muss das Verhalten erfasst und diagnostisch eingeordnet werden636. Prog___________ 630
Dazu Urteil des BVerfG vom 10. Februar 2004 ± 2 BvR 834/02, B., II. (Rn. 180); BVerfGE 70, 297, 309 f.; BGH, NStZ 2001, 595, 596. 631 Vgl. z. B. Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 175; Kröber, NStZ 1999, 593, 594 ff.; Birkhoff, StraFo 2001, 401, 404; Egg 2002, S. 310 ff. 632 Dazu z. B. Bock 2000, S. 227 ff.; Dahle 2000, S. 98 m. w. N. 633 Urt. des BVerfG zum Kampfhundeimport AZ 1 BvR 1778/01. 634 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 175; Kröber, NStZ 1999, 593, 594 ff.; Birkhoff, StraFo 2001, 401, 404. Schließlich sollte der Prognostiker nicht nur einen Blick auf den Probanden, sondern auch auf sich selbst werfen. Als Teil im Gefüge der prognostischen Bedingungen hat er sich selbst beispielsweise nach möglichen Sympathien oder Antipathien gegenüber dem Probanden zu fragen, denn die zu beurteilende Person ist nicht unabhängig von ihm zu denken (vgl. auch Beier, ZfStrVo 1992, 147, 149). 635 Vgl. Birkhoff, StraFo 2001, 401, 402 m. w. N.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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nosekriterien sind daher möglichst nah an den individuellen Gegebenheiten auszurichten, wenn sie im Einzelfall einen Schluss auf zukünftiges Verhalten zulassen sollen. Von Belang ist nicht der Nachweis von Einzelbedingungen, die allgemein zu Straffälligkeit führen können, sondern der individuelle Wertmaßstab der Legalität. Er ergibt sich nicht aus einem Verhältnis des Individualverhaltens zu außerpersönlichen Bezügen, sondern aus den Binnendifferenzierungen der individuellen Biografie.637 Es sind also nicht die Wirkungen allgemeiner Gesetze über die Entstehung von Straffälligkeit nachzuweisen, sondern konkrete Bedingungen individueller Delinquenz aufzudecken. Der Einzelfall ist nicht Beispiel einer generellen Gesetzmäßigkeit, sondern verkörpert allenfalls eigene Regelmäßigkeiten, die umfassend eine einzigartige Konstellation beschreiben. In Abhängigkeit von der Modulation durch den Probanden kann die Wirksamkeit eines potentiell kriminorelevanten Einflussfaktors im individuellen Lebensschicksal ebenso eintreten wie ausbleiben. Die unmittelbare Anwendung überpersönlicher Gesetzmäßigkeiten ist somit von vornherein sinnlos, da sie die entscheidende Modulation der bestimmenden Determinanten durch den Einzelnen nicht erfasst. Diese aber entscheidet über die Wirksamkeit der Bedingungen. Dabei sind vor allem Verhaltensbereitschaften zu berücksichtigen, deren Einbeziehung einen wichtigen Anhaltspunkt für die prognostische Aussagefähigkeit von Wirklichkeitsumständen, liefert. Diese können ohne Bezug auf das Probandenverhalten auskommen, also unabhängig von dem sein, was der Betroffene tut oder wie er ist638, aber auch eine individuelle Verhaltensweise zum Ausdruck bringen639. Diese zweite Gruppe von Umständen erfasst bereits die Beziehung des Probanden zu einem Einflussfaktor und stellt so einen relationalen Bezug von Individuum und Wirklichkeitskonstante her. Nur ein solcher In___________ 636
Es kann zum Beispiel nicht allgemeingültig formuliert werden, wann der Umgang mit Geld verschwenderisch wird oder eine Beziehung vernachlässigt. Dies ist vielmehr abhängig von materiellen oder emotionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen des Betroffenen, die bei ihm in ganz spezifischer Weise bestehen. 637 Dabei zeigt sich im übrigen die Chance einer günstigen Beeinflussung künftigen Legalverhaltens: Ebenso wie seelisch Gefährdete, zum Beispiel Angstneurotiker, durch Vermeidungsverhalten von bestimmten Reaktionsweisen abgehalten werden, erscheint auch die Vermeidung von Straffälligkeit durch die Modulation der persönlichen Verhaltensbedingungen möglich. 638 Zum Beispiel als Angaben von Geschwisterzahl oder körperlicher Behinderung. 639 So zum Beispiel die Beschreibung einer idealtypischen Verhaltensweise in den Vorgaben der MIVEA dazu, dass sich der Proband aktiv der elterlichen Kontrolle entzieht, Bock 2000, S. 228.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
dividualbezug verspricht, eine innere Beziehung des Probanden zu äußeren Bedingungen zum Ausdruck zu bringen.640 Die subjektive Prägung von Verhalten und seinen Bedingungen wirft dabei ein besonderes Licht auf die Unterscheidung von statischen und dynamischen Prognosekriterien. Ein Blick in die Vergangenheit ist für die Prognose wichtig, denn selten ändert sich alles in einer Biographie. Für sich allein genommen sind Informationen über die Vergangenheit jedoch statisch und retrospektiv, stets muss mit aktuellen Veränderungen ± im Guten wie im Schlechten ± gerechnet werden. Für den Prognostiker ist daher die Veränderlichkeit von Wirklichkeitsumständen von Interesse, auf welche die Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Risikofaktoren Bezug nimmt641. Um statische, also konstante bzw. über die Zeit hinweg relativ stabile Parameter642, handelt es sich beispielsweise bei einem großen Teil der Prognoseparameter des HCR-20-Schemas643, wie etwa die soziobiographischen Variablen Äfrühere Gewalttaten³, Äfrühe Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter³ oder Äinstabile Partnerschaften³. Sie sind ebenso wie andere statische, beispielsweise anamnestische Risikofaktoren per definitionem einer Modifikation nicht oder nur schwer zugänglich. Zeitlich Stabiles erlaubt zwar die Extrapolation vom Vergangenem und Gegenwärtigem auf die Zukunft644, der alleinige Blick auf das Unveränderliche genügt dem Kriminalprognostiker aber nicht. Er würde stets zu einer ungünstigen Prognose kommen, wenn er seine Beurteilung auf statische Kriterien reduziert, denn hier kann alles nur bleiben, wie es vorher schon war645 ± eine ausschließlich auf statische Merkmale gestützte Kriminalprognose käme beispielsweise am Ende einer Behandlung zu keinem anderen Ergebnis als zu ihrem Beginn646. Jede Neubewertung erübrigt sich also, wenn nicht Ädynamische³, also ___________ 640
Man könnte also von prognostischen Umständen erster und zweiter Kategorie sprechen, wenn man nach einer Einbeziehung von Reaktionsweisen des Probanden unterscheidet. 641 Egg 2002, S. 316, siehe auch Abschnitt zum Ansatz von Rasch. 642 Egg 2002, S. 316. 643 Seifert et al., StV 2003, 301, 302. 644 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 72. 645 Vgl. Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 173. 646 Egg 2002, S. 316. Eine rein Ästatische³ Orientierung gerät in die Nähe von Ansätzen, etwa denen von Lombroso, Aschaffenburg oder dem Ehepaar Glueck, die Einzelund Rückfalltaten als Resultat im Wesentlichen identischer, in der Persönlichkeit des Täters liegender Ursache deuten, vgl. auch Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 170.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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grundsätzlich modifizierbare Faktoren647, einbezogen und statische Merkmale auf ihre Fortgeltung, das heißt gegenwärtige Relevanz hin überprüft würden. Veränderliches ist auch deshalb zu erfassen, weil niemand Zweifel daran haben kann, dass Verhalten veränderlich ist ± sei es auf Grund von Willensfreiheit oder der Dynamik von Verhaltensdeterminanten. Ohne eine Erfassung von dynamischen Kriterien aber würde das Verhalten des Probanden, auf das es letztendlich ankommt, ausgeblendet. Zu den veränderlichen Kriterien gehören beispielsweise das Vollzugsverhalten, die innere Auseinandersetzung mit dem Delikt648 oder die Stellungnahme zur Tat. Auch sie ist kein statischer Sachverhalt, sondern entwicklungsfähig649, weil der Täter ja jederzeit anders Stellung beziehen kann. Dynamische Prognosefaktoren rechtfertigen nicht nur eine prognostische Neubewertung, sie sind auch als mögliche Ansatzpunkte und Ziele von Behandlungsmaßnahmen von Interesse, weil sie beeinflusst und oftmals auf die situativen Bedingungen des Rückfalls bezogen werden können. Nicht selten betreffen sie jene Äproximalen³ Ereignisse und Zustände in Person oder Umfeld, die erneute Delinquenz auslösen können650, und markieren gleichzeitig die Grenzen therapeutischer Interventionen651. Der Unterschied zwischen Ästatisch³ und Ädynamisch³ darf damit jedoch auf keinen Fall mit prognostisch Ärelevant³ und Äirrelevant³ gleichgesetzt werden. Selbstverständlich können auch statische Wirklichkeitsumstände die Bereitschaft zur Begehung von Straftaten fördern652, beispielsweise weil eine intellektuelle Minderbegabung die soziale Kompetenz beeinträchtigt. Im Gegenteil erlauben ja nur Wirklichkeits-³Konstanten³ eine Verlängerung in die Zukunft, denn nur ± wenigstens zeitweise ± Beständiges kann auch zukünftig wirksam sein. Andererseits muss sich Veränderliches nicht wandeln, Veränderlichkeit und Zukunftsrelevanz dürfen also nicht miteinander vermischt werden. Menschen ändern sich ebenso, wie sie in wesentlichen Eigenschaften gleich bleiben, beides aber hat die Kriminalprognose sorgsam zu registrieren653.
___________ 647
Egg 2002, S. 316. Seifert et al., StV 2003, 301, 304. 649 Kröber 1995, S. 73. 650 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 72 ff. 651 Egg 2002, S. 316. 652 Sie sind daher angemessen zu berücksichtigen, sofern sie im Einzelfall eine determinierende Bedeutung haben, vgl. Urbaniok, KR 2003, 169, 170. 653 Siehe auch Kröber, NStZ 1999, 593, 593. 648
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Die Unterscheidung zwischen statisch und dynamisch kann damit nicht dazu dienen, bestimmte Wirklichkeitsumstände auszublenden, sondern hilft dabei, ihre Fortwirkung in die Zukunft einzuschätzen. Ein als unveränderlich identifiziertes Kriterium kann der Zukunftsbetrachtung ohne weiteres zugrunde gelegt werden, eine veränderliche Variable hingegen erfordert eine zusätzliche Einschätzung ihrer Fortdauer. Prinzipielle Wandlungsmöglichkeiten einer Person müssen ebenso berücksichtigt werden, wie Veränderungen der Situation, schließlich wird ja sogar aktiv in die Geschehnisse eingegriffen, um sie im gewünschten Sinn zu beeinflussen654. Es ist also grundsätzlich falsch, eine Vorhersage ohne weiteres auf einen veränderlichen Umstand ± wie etwa das Ableugnen der Tat ± zu gründen. Hier ist vielmehr auf die bisher greifbare Dynamik Bezug zu nehmen, also eine zusätzliche Erfassung von Entwicklungstendenzen erforderlich. Bei der Tatleugnung beispielsweise muss der Prognostiker klären, ob dies schon immer die äußere Haltung war und ob sichtbare Veränderungen eine Tendenz für die Zukunft vorgeben. 4. Anforderungen an die Integration von Einzelkriterien In der Anwendung von Einzelvorgaben erschöpft sich die Arbeit des Prognostikers nicht, vielmehr sind die einzelnen Merkmale und Umstände zusätzlich schon deshalb zusammenzuführen, damit Wechselwirkungen erfasset werden. Kriterien dürfen nicht einfach getrennt voneinander beurteilt oder hinsichtlich ihres Vorliegens oder Nichtvorliegens ausgezählt werden, denn sie beeinflussen sich gegenseitig655. Ohne das Erarbeiten eines Gesamtbildes ist kein prognostischer Schluss möglich, wobei diese Arbeit nicht nur auf den Probanden allein, sondern auf ihn in seinen sozialen Bezügen zu beziehen ist656. Das Erarbeiten eines Gesamtbilds ist insbesondere für die Erfassung innerer Haltungen unabdingbar, denn angesichts ihrer vieldeutigen Manifestationen werden sie sich am ehesten in einem Gesamtbild der Lebensumstände abzeichnen. Nur hier zeigen sich die Übereinstimmungen und Regelmäßigkeiten, aus denen die Kontur einer bestimmten Einstellung hervortreten kann. Wenn überhaupt, schimmern die Regeln der individuellen Lebensentwicklung im Gesamtgefüge der Verhaltensbedingungen durch und bringen dadurch möglicherweise auch eine innere Haltung zum Ausdruck. Auch deshalb erscheint unerlässlich, die Vielzahl der Einzelumstände über einen längeren Zeitraum hinweg zu erfas___________ 654
Rasch 1994, S. 20. Volckart 1997, S. 36. 656 Göppinger 1997, S. 209 ff.; Volckart, R & P 1999, 58, 61. 655
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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sen und mit korrespondierenden Begleitumständen abzugleichen. Nur dies wird der Deutung ermöglichen, aus Vieldeutigem Eindeutiges zu machen. Dass die somit notwendige Bewertung der Einzelumstände im Gesamtgefüge der Bedingungen nicht mit der Suche nach der Äletzten³ Bedingung gleichzusetzen ist, ergibt sich aus dem Fehlen einer allgemeinverbindlichen Beziehung von Verhaltensbedingung(en) und Straffälligkeit. Im Einzelfall wird immer etwas anderes zur Delinquenz führen, richtig kann damit aber nur die Gesamtbetrachtung der individuellen Konstellation prognostischer Umstände sein. Es geht um die individuelle Art und Weise, in der sich Menschen auf Umstände der äußeren Lebenssituation einstellen; ihre Lebensentwicklung und -situation kann ein spezifisches Verhältnis von Lebenschancen und Lebensführung zum Ausdruck bringen657. Es macht deshalb keinen Sinn, Einzelfaktoren mit einem rechnerisch ermittelten Mittelwert der Wahrscheinlichkeit zu versehen und beziehungslos nebeneinander zu stellen, um sie dann zu einer Gesamtwahrscheinlichkeit zu summieren. Für eine Prognose genügt es also nicht, mechanisch Merkmale zu addieren, ohne nach ihrer Bedeutung im Gesamtbild zu fragen.658 Von prognostischer Wahrheit spricht der Einzelumstand nur auf seinem Platz im Gefüge der übrigen Verhaltensbedingungen, nur hier wird er als Beitrag zu einer prognostischen Aussage sichtbar. Es kommt also auf den Kontext und die konkreten Modalitäten an, denn erst im komplexen Gesamtbild erschließt sich die prognostische Wertigkeit. Zudem erlaubt nur die Integration der Befunde, auf jeder Zeitebene relevante oder stabile Verhaltensmuster zu erfassen.659 Dies aber stellt vor das Problem einer Auswahl und Interpretation der vorhandenen Informationen.660 Unabdingbar ist eine Bestimmung der individuellen Regelmäßigkeiten, eine Individualisierung der prognostischen Aussagen, der Prognostiker muss also versuchen, auf induktive Weise die individuellen Gesetzmäßigkeiten im Verhalten des Probanden zu bestimmen661. Er muss sich auf die Suche nach der Äindividuellen Handlungstheorie³ 662 begeben, um die im Einzelfall gültigen Wirklichkeitskonstanten zu identifizieren. Dabei muss geklärt werden, welche allgemeinen Verhaltenstendenzen vorliegen. Dafür ist zum Beispiel von Interesse, wie sich dieser Proband typischerweise immer wieder in ___________ 657
Bock 1995, S. 5. Volckart, R & P 1999, 58, 61. 659 Vgl. auch Kröber, NStZ 1999, 593, 598. 660 Dazu Volckart, R & P 1999, 58, 58. 661 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 662 Dahle 2000, S. 98; Kröber, NStZ 1999, 593, 597. 658
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
bestimmte Situationen hineinbringt und in diesen Situationen verhält.663 Es sind überdauernde bzw. wiederkehrende Wahrnehmungsweisen, Einstellungen und Verhaltensmuster zu erfassen, wie sie unter anderem in den jeweiligen Formen des Herangeratens an Tatsituationen deutlich werden664. Erklärungen sind dabei nur bis zu einer bestimmten ÄErklärungstiefe³ möglich und notwendig. Die Aufdeckung eines Zusammenhangs stellt stets von neuem vor die Frage nach dem ÄWarum³. Immer kann der Prognostiker angehalten werden, im Dienste der Verstehbarkeit weiter aufzudecken; er kann vorwärts getrieben werden bis zu dem, was die Welt im innersten zusammenhält. Genügt es beispielsweise als Erklärung für eine Gewaltbereitschaft, dass sie stets mit Alkoholgenuss einhergeht oder ist sie erst mit den Gründen für dieses Zusammentreffen verstehbar? Immer kann weiter gefragt werden, keine oder aber jede Erklärung ist ausreichend. Auch die Unerschöpflichkeit der Bedingungen macht Verstehbarkeit also zur Definitionssache. Für die Vorhersage aber genügt, dass ein zuverlässiges Zusammentreffen bestimmter Umstände klar wird. Dann sind grundsätzlich die Anforderungen erfüllt, die an das verstehende Erarbeiten eines Bildes vom Probanden665 gestellt sind. Allerdings können sich Folgefragen zur Beeinflussbarkeit des identifizierten Zusammentreffens ergeben. Der Prognostiker sollte sich stets um die Aufdeckung von Zusammenhängen bemühen, die einer lenkenden Einflussnahme zugänglich sind666, was jedoch nichts daran ändert, dass das prognostische Interesse grundsätzlich auf einer phänomenologischen Ebene verbleiben kann. Ob es dabei für die Identifikation individueller Bedingungen eines Umwegs über bestehende Erklärungsmodelle bedarf, kann bezweifelt werden. Grundsätzlich sind der Kreativität beim Erlangen von Anregungen für die Analyse keine Grenzen gesetzt667, weshalb Kriminalitätstheorien ebenso Anstöße geben können wie Erkenntnisse zu Tätertypen bzw. -profilen, operative Fallanalysen oder polizeiliche Ermittlungsarbeit668. Keinesfalls aber darf eine Regelmäßigkeit allein aus abstrakten Möglichkeiten abgeleitet werden, vielmehr muss sie in der ___________ 663
Dies verlangen beispielsweise Ärelationale Kriterien³, wie sie die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse vorgibt (dazu Bock 1999, S. 60). 664 Kröber, NStZ 1999, 593, 597. 665 Vgl. dazu Volckart, R & P 1999, 58, 61. 666 Die Erkenntnis beispielsweise, dass ein Gewaltdelikt immer mit Gewaltbereitschaft zusammenfällt, ist ebenso banal wie nutzlos. 667 Der jeweilige Bezug ist allerdings unbedingt zu bezeichnen und zu begründen, was die Abwägung mit anderen Erklärungsansätzen einschließt. 668 Dazu Egg 2002, S. 321.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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konkreten Lebenswirklichkeit des Probanden sichtbar sein. Wenn dies jedoch der Fall ist, bedarf es der Anerkennung durch eine überindividuelle Theorie nicht mehr669. Regeln der individuellen Lebensgestaltung liegen damit als Vergleichsmaßstab wesentlich näher als allgemeine Regeln; im individuellen Beurteilungsfall geht es eben nicht um die Anderen, sondern um den Betroffenen670. Ebenso wie eine Individualisierung der Geltung bei jeder einzelnen Vorgabe vonnöten ist, gilt dies also auch für den Gesamtbestand der Leitlinien. Davon abgesehen macht es die Vielfalt der Kriminalitätstheorien nicht schwer, Erklärungen für Einzelphänomene zu finden.671 Theorien sind oft leicht gemacht672, Konzepte der Kriminologie zum Teil aus einseitigen, spezialwissenschaftlichen Überlegungen und Untersuchungen hervorgegangen673. Warum ein solcher Äwissenschaftlicher Anstrich³ aber die Tragfähigkeit der tatsächlichen Befunde in der prognostischen Beurteilungsgrundlage erhöhen soll, ist nicht ersichtlich. Zudem sind Suggestiveffekte nicht zu unterschätzen. Dem nach Hilfestellung dürstenden Prognostiker erscheint im gedruckten Wort schnell das Trugbild von Zusammenhängen, die mit der nüchternen Wirklichkeit nichts gemein haben. Allzu leicht gerät er in Versuchung, der Fata Morgana einer plausiblen Erklärung auf dem geraden Weg eines einseitigen Erkenntnisinteresses nachzueilen, der ihn immer mehr von der Realität wegführt. Bei der Bewertung von seelischen Auffälligkeiten stand für Göppinger bereits 1961 fest, dass der objektive Aussagewert umso geringer ist, je eindeutiger die Suche nach Zusammenhängen von Anfang an auf dem Grundbezug einer bestimmten Theorie baut.674 Zuvor hatte schon Jaspers in der Weise vor Kate___________ 669 Allenfalls kann die Berücksichtigung von Theorien damit ± ähnlich wie Kriterienlisten ± eine inhaltliche Mindestbreite der Betrachtung sicherstellen. Auch bei seinen Erklärungen kann dem Prognostiker nur in dem geholfen werden, was sein kann, nicht aber in dem, was ist. 670 Entsprechend spricht Dahle davon, dass die Güte der Prognose von der Relevanz der herangezogenen Erklärungskonzepte für den vorliegenden Einzelfall, der ÄSpezifität³ mitbestimmt werden (Dahle 2000, S. 80). Sie hänge mit dem ÄErschöpfungsgrad³ der Erklärungsmodelle bei Erfassung der individuell relevanten Gegebenheiten zusammen. 671 Umgekehrt ist es schwierig, eine individuelle Handlungstheorie zu formulieren, die im Verhältnis zu bewährten Theorien (die als solche zunächst klassifiziert werden müssten) und Erfahrungen widerspruchsfrei ist, wie Dahle (2000, S. 99) dies fordert. So weist Dittmann (2000, S. 68) darauf hin, dass es keine einheitliche Handlungstheorie für menschliches Verhalten gibt, vielmehr verschiedene Schulen unterschiedliche und teils widersprüchliche Modelle anbieten. 672 Vgl. dazu z. B. Jaspers 1965, S. 20 f. 673 Göppinger 1997, S. 209. 674 Göppinger, NJW 1961, 241, 244.
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gorisierungen gewarnt, dass das Etikett einer Diagnose nicht zur Hauptsache einer psychopathologischen Betrachtung gemacht werde dürfe. Die diagnostische Kategorie sei das Letzte und Unwesentlichste bei der Auffassung eines Falles. Hier komme es auf Analyse an und darauf, dass Ädas Chaos der Erscheinungen nicht durch einen diagnostischen Namen für die Erkenntnis totgeschlagen [«] wird³675. In Anlehnung an Jaspers lässt sich daher sagen, dass vor allem die vollständige Erfassung des Einzelfalls wichtig ist, was Kategorisierungen entweder zur Simplizität oder Unmöglichkeit macht676. Die Zuordnung zu Kategorie oder Erklärungsansatz ist ein (Hilfs-)Mittel, nicht der eigentliche Zweck prognostischer Arbeit.677 Auch deshalb überrascht nicht, dass ein Klassifikationssystem zur primären individuellen Diagnostik oder Prognostik nicht benutzt werden kann678, auch wenn ein wechselbezüglicher Nutzen besteht. Ohne jeden Zweifel nämlich profitiert individuelle Diagnostik von verallgemeinerten wissenschaftlichen Erfahrungen ebenso wie umgekehrt wesentliche Erfahrungen der klinischen Diagnostik in eine Klassifikation eingehen679. Grenzen von Kategorisierungen in der Einzelfallbeurteilung veranlassen einen Blick darauf, was von einer abschließenden prognostischen Beurteilung überhaupt erwartet werden kann. Ungenauigkeiten sind hier inakzeptabel680, was jedoch die Forderung nach Klarheit der Resultate angeht, ist streng zwischen Inhalt und Gegenstand von prognostischen Bewertungen zu trennen. Während klar sein muss, was der Prognostiker über seinen Betrachtungsgegenstand aussagt, kann dieser Gegenstand selbst höchst unklar bleiben, ohne dass dies ein Mangel der Prognose ist. Eine eindeutige Antwort kann auch darin bestehen, dass nicht alles klar ist, soweit dies wiederum unmissverständlich gesagt und begründet wird. ___________ 675
Jaspers 1965, S. 18. Jaspers (1965, S. 511 f.) hat Vergleichbares zur Diagnostik von Psychopathien ausgeführt, die nach seinen Worten vor der Schwierigkeit steht, Äin den endlos ineinander übergehenden und zerfließenden Phänomenen eine diagnostisch verwertbare Ordnung zu gewinnen³ (so Jaspers 1965, S. 510). 677 Entsprechend verlangt beispielsweise die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse, dass im Rahmen der prognostischen Folgerungen eine individuelle Basisprognose erarbeitet wird. Sie dient der Erfassung von solchen Abweichungen im konkreten Verhalten des individuellen Täters, die sich gegenüber den charakteristischen Ausprägungen jener Kategorie zeigen, denen der Proband zuvor im Hinblick auf Tat und Lebenszuschnitt zugeordnet wurde (siehe dazu Bock 2000, S. 310 f.). 678 Vgl. dazu Tölle/Windgassen 2003, S. 47 f. 679 So Tölle/Windgassen 2003, S. 47 f. 680 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274. 676
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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Gerade was die Erfassung des Betrachtungsgegenstands angeht, sind die Beteiligten also vor einer unangemessenen Erwartungshaltung gegenüber dem Kriminalprognostiker zu warnen.681 Hier gilt, was Kurt Schneider in anderem Zusammenhang einmal geäußert hat: ÄMißtrauen Sie einem Sachverständigen, der zu viel beantworten kann [«] Wenn alles ‚aufgeht‘, ist das nicht stets ein Lob für das Gutachten. Man muß offen lassen, was man nicht ohne Gewalt schließen kann³682. Uneindeutigkeiten in der Wirklichkeit und generelle Unzulänglichkeiten der Prognostik können nicht dadurch beseitigt werden, dass sich der Prognostiker durch Vereinfachungen darüber hinwegsetzt. Es darf nicht pauschalisiert werden, um eindeutige Ergebnisse zu erlangen, denn dies würde unweigerlich zu Verfälschungen der Wirklichkeit führen. IV. Beachtung der Grenzen methodischer Vorgaben Die Warnung vor Vereinfachungen bei prognostischen Beurteilungen leitet zu den Grenzen methodischer Vorgaben über. Genauso wie Methodik bestimmte Mindestanforderungen erfüllen sollte, gibt es ein Zuviel davon bei der prognostischen Arbeit. Diese hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die individuelle Prägung von prognostischer Relevanz Einschränkungen bei der Operationalisierbarkeit prognostischer Kriterien bedingt. Die Geltung prognostischer Aussagen ist im Einzelfall nur dann garantiert, wenn sie den Probanden in seinen sozialen Bezügen und konkreten Lebensumständen einbeziehen, dies aber macht von individuellen Einflüssen abhängig, die sich allgemeinverbindlichen Umschreibungen gerade entziehen683. Der oben beschriebene Zielkonflikt zwischen Relevanz und Objektivierbarkeit tritt damit offen zutage: Soll die Art und Weise, in der sich Menschen auf Umstände der äußeren Lebenssituation einstellen, in die Beschreibung der prognostischen Kriterien684 einfließen, muss auf konkretisierende Formulierungen verzichtet werden, denn damit lassen sich kaum alle denkbaren Eventualitäten abdecken685. Um Konstanz und Einheitlichkeit der Beurteilung zu ermöglichen, sind vielmehr Umschreibungen des Bedeutungsgehalts und Beispiele für die wesentlichen Feststellungen notwendig.686 ___________ 681 Dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68; Siehe auch Spann, DAR 1980, 309, 310; Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1070. 682 Kurt Schneider 1956, S. 29. 683 Vgl. dazu Bock 1995, S. 14. 684 Sie sind dann relationale Kriterien, siehe Bock 1995, S. 5. 685 Vgl. Dahle 2000, S. 92. 686 Siehe dazu Bock 1995, S. 14. Damit aber offenbaren Individuumsbezug und Standardisierung allgemein ihre Gegensätzlichkeit. Mit zunehmender Reglementierung ge-
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Die fehlende Sichtbarkeit von Relevantem stellt die Prognostik dabei vor ähnliche Beurteilungsschwierigkeiten wie die Erkenntnisbemühungen in der Psychiatrie. Diese maß Krankheitssystemen zunächst relativ geringes Gewicht bei, als dann aber Anfang der 1960er Jahre ein stärkeres Interesse an Vergleichbarkeit und Übereinstimmung psychiatrischer Diagnosen erwachte, begann man in den Vereinigten Staaten mit der Entwicklung des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM)687. Der federführenden American Psychiatrie Association diente dabei Carl G. Hempel als Berater, der ein Vertreter der Wissenschaftstheorie des Logischen Empirismus war. Diese Theorie ging zum einen davon aus, dass wissenschaftliche Begriffe Beschreibungen liefern müssen, die sich auf direkt beobachtbare Merkmale der zu untersuchenden Gegenstände beziehen, zum anderen sah sie das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis darin, Ereignisse auf der Basis genereller Gesetze und Theorien zu erklären bzw. vorauszusagen.688 Solche Vorstellungen wirkten sich auf die psychiatrische Diagnostik aus. Zum einen resultierte daraus die Forderung nach semantischen Definitionen, deren wesentliches Merkmal in klaren Kriterien und Verwendungsregeln besteht. Darüber hinaus mussten sich die diagnostischen Merkmale in allgemeine Gesetze und Theorien einordnen lassen, um in das ÄDiagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders³ aufgenommen zu werden.689 Die Klassen des DSM sind zwar nicht so konzipiert, dass für jede Diagnose jedes definierte Kriterium zwingend erforderlich ist, sondern sie sind als Äpolythetische³ Klassen gemeint, bei denen nur eine variable Teilmenge der Kriterien erfüllt sein muss und unterschiedliche Merkmalskombinationen möglich sind. Diese Prinzipien ändern allerdings nichts daran, dass die Items des Manuals auf beobachtbare Verhaltensmerkmale beschränkt sind690. ___________ winnen zwar Transparenz, Objektivität und Kontrollierbarkeit an Gewicht, gleichzeitig mindert sich aber jene Flexibilität, die für eine Adaptation des Vorgehens an die Einzelfallbedingungen erforderlich wäre. Umgekehrt erfordert Flexibilität Freiheitsgrade, die mit einem Verlust an Reglementierung und Standardisierung einhergehen (Dahle 2000, S. 92). Dies ist keine Eigenheit der Kriminalprognose. Während beispielsweise auf dem Gebiet der Wettervorhersage die Äsynoptische³ Methode auf die menschliche Analyse und Interpretation von Daten setzt, verlässt sich die Änumerische³ Methode auf ein automatisiertes, mathematisches Vorgehen bei der Datenintegration (Endres, ZfStrVo 2000, 67, 68). 687 American Psychiatrie Association (1952; 1958; 1980), APA 1995; Frommer 1995, S. 136. 688 Frommer 1995, S. 136. 689 Frommer 1995, S. 136 f. m. w. N. 690 Frommer 1995, S. 137 f.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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Nun warnte Jaspers die Psychopathologie bereits 1923 davor, sich allein auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände zu beziehen.691 Eine gegenstandsadäquate Beschreibungsebene muss vielmehr (wie gezeigt) ein Verständnis des Erlebens einschließlich der Wertewelt ermöglichen692 und dabei über die Möglichkeiten einer rein verhaltensorientierten Diagnostik hinausgehen, um auch innerpsychische Gefühls- und Sinnzusammenhänge zu erfassen. Es sind Werte und Normen beachtlich, unter deren Blickwinkel der Betreffende sich selbst, seine Biographie und die Welt interpretiert.693 Eine verhaltensorientierte operationale Diagnostik stößt daher an störende Grenzen. Stets erschöpfen sich die Beschreibungen in der Bezugnahme auf beobachtbare Verhaltensmerkmale, weshalb subjektive Erlebniszusammenhänge und ihre implikativen Sinnstrukturen schwer Eingang finden694. Auch für eine psychiatrische oder kriminologische Diagnose aber sind neben Symptomen auf der Verhaltensebene oft schwer operationalisierbare, beispielsweise psychodynamische Befunde bestimmend. Insbesondere können Tatsachen auch ohne empirische Absicherung Relevanz haben695 und viele Einzelaspekte ± wie etwa die Daten eines Persönlichkeitsbildes ± dem Einfluss situativer Bedingungen696 unterworfen sein697. Daher ist in der Psychiatrie schon vor langem die Erkenntnis gereift, dass sich verallgemeinerte Daten auf einen konkreten Menschen nicht übertragen lassen, ohne dessen Individualität größtenteils zu verlieren698. Dies aber hat Konsequenzen für die Einzelfallbeurteilung in Psychiatrie und Kriminologie. Diagnostik muss vom einzelnen Menschen ausgehen und dabei idiographisch sowie pluridimensional arbeiten, während ein nomothetisches und reduktionistisches Vorgehen der Klassifikation vorbehalten bleibt. Diese kann auf relativ leicht
___________ 691
Siehe dazu z. B. Jaspers 1965, S. 18, 23. Vgl. den Abschnitt zur ÄNotwendigkeit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge³. 693 So Frommer (1995, S. 138) zu problemangemessenen Interventionen bei seelischen Krisen. Interventionen bei der Äsozialen Krise³ Delinquenz stehen vor den gleichen Schwierigkeiten. 694 Frommer 1995, S. 138. 695 Vgl. dazu z. B. Volckart 1997, S. 16 ff. 696 Zum Beispiel die Kooperationsbereitschaft des Beschuldigten. 697 Vgl. Haddenbrock NJW 1981, 1302, 1303. 698 Dazu Tölle/Windgassen 2003, S. 46 ff. 692
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bestimmbare Merkmale beschränkt und auf verallgemeinerte Erfahrungen bezogen sein, die Diagnostik hingegen nicht.699 Die Verwendung formalisierter Prognoseinstrumente mit weitgehend festgelegten und in Manualen beschriebenen Kriterien birgt daher eine Gefahr, die mit den Begriffen ÄWirklichkeitsverlust³ oder ÄMethodologismus³ beschrieben werden kann700. Durch Überbetonung methodischer Bedürfnisse kann es zum Verlust schwer zugänglicher Wirklichkeitsausschnitte und damit dazu kommen, dass der Gegenstand den Methoden angepasst wird und nicht umgekehrt.701 Sachlich bedeutsam ist nicht nur, was messbar ist702, Methodik ist Mittel zum Zweck und ihre Überbetonung im Sinne von methodischem Bürokratismus703 ebenso unerwünscht wie eine unzureichende Beachtung. Vorangestellte methodische Festlegungen dürfen nicht zur Folge haben, dass Prognoserelevantes ausgeblendet wird. Beim Einsatz von formalisierten diagnostischen Klassifikationssystemen und Prognoseinstrumenten darf es also nicht dazu kommen, dass Wesentliches unberücksichtigt bleibt, weil es sich bestimmten Rationalitätskriterien entzieht. Die Inkaufnahme eines solchen ÄWirklichkeitsverlustes³704 würde verkennen, dass nicht methodische Strenge, sondern prognostische Wahrheit die wichtigste Leitlinie der prognostischen Arbeit ist. Wird die Wirklichkeit zu sperrig für gewissenhafte methodische Anforderungen, müssen diese zurückstehen. Methodik kann also die prognostischen Bewertungen nicht im Einzelnen steuern; sie kann Umfang und Struktur des Beurteilungsvorgangs bestimmen, nicht aber konkrete Ergebnisse für den Einzelfall. V. Wissenschaftlichkeit außerhalb methodischer Vorgaben 1. Anerkennung von Subjektivismen Es ist also nicht zu erwarten, dass der Erkenntnisvorgang bis ins Einzelne von formalen und verbindlichen Regeln angeleitet wird. Fehlende allgemeine Leitlinien müssen daher durch subjektive Gewissheiten und Erfahrungen ergänzt werden, um eine Prognose zu ermöglichen. Mit anderen Worten macht die Un___________ 699
Vgl. Tölle/Windgassen 2003, S. 46. Bock 1984, S. 99; Bock 2000, S. 37 ff., S. 48. 701 Bock 2000, S. 37. 702 Bock 2000, S. 37. 703 Dazu Bock 1984, S. 99; Bock 2000, S. 37 ff., S. 48; vgl. auch Göppinger 1997, S. 68 ff. 704 Bock 1984, S. 99; Siehe auch Bock 2000, S. 37 ff., S. 48. 700
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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zulänglichkeit des prognostischen Wissens Intuition und Erfahrung im prognostischen Beurteilungsprozess zu unverzichtbaren Informationsquellen, die insbesondere eine differenzierte und kreative Gesamterfassung auch subtiler Informationen speisen.705 Dabei kann nicht erwünscht sein, Subjektivismen ± etwa durch pseudowissenschaftliche Bezüge ± zu verschleiern706, Objektives darf also nicht in Scheingewissheiten hinein verlängert werden, um notwendige subjektive Anteile zu überspielen. Die Abhängigkeit von Subjektivismen wird nicht dadurch überwunden, dass man sie in vermeintlichen Regeln oder Methoden versteckt bzw. das vorhandene Wissen zum ausreichenden Wissen umdeklariert. Eine Aussonderung von Intuition und Erfahrung als generell unzulässig müsste also unweigerlich zur Verfälschung des prognostischen Beurteilungsvorgangs führen, indem entweder Unzulänglichkeiten kaschiert707 oder Prognoserelevantes übergangen würde. Verhaltensvorhersagen profitieren somit vom besonderen Wissens- und Erfahrungsschatz desjenigen, der in der Menschenbeurteilung geübt ist.708 Entsprechend geht die gegenwärtige forensische Praxis überwiegend davon aus, dass die Kriminalprognose ein hohes Maß an klinisch-diagnostischer und therapeutischer Erfahrung erfordert709. Um Daten zu einem Urteil zu integrieren, muss der Prognostiker auf seine Äsubjektive Statistik³ 710 zurückgreifen, in der persönliche Erfahrungen gespeichert sind711. Insbesondere die Anwendung von ___________ 705 Vgl. Urbaniok, KR 2003, 169, 175. Bereits die Vollständigkeit der Sachverhaltsermittlung ist nur intuitiv zu erfassen und die Erfassung innerer Haltungen ebenso wie die verstehende Erfassung der Täterpersönlichkeit ohne intuitive Anteile nicht denkbar (dazu auch Akpinar ZJJ 2003, 258, 259). 706 Unbedingt zu vermeiden ist beispielsweise, durch künstliche Verkomplizierungen Defizite der sachlichen Substanz überspielen zu wollen (dazu Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1071). 707 Was nicht nur für die Adressaten der Prognose, sondern auch für den Prognostiker selbst zum gravierenden Problem werden kann. Wie sich oben bei Analyse von Schwächen menschlicher Urteilsfindung zeigte, ist das menschliche Erkenntnisinteresse ohnehin schnell befriedigt und verleitet dann zu einseitiger Ergebnisfindung im Sinne von Vorannahmen. 708 Bresser 1990, S. 336 f. 709 Egg 2002, S. 316; Rasch 1994, S. 24. Manuale zur prognoseorientierten Diagnostik fordern daher regelmäßig, dass der Anwender über klinische Erfahrung verfügt, vgl. zum Beispiel Freese 2000, S. 7; Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2, 15; Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 37. 710 So eine Formulierung von Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75. 711 Rasch 1994, S. 24.
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Kriterienkatalogen ist damit unweigerlich von Erfahrung und Intuition des Gutachters abhängig712; ohne sie geht es offensichtlich nicht, weshalb die Erstellung von entscheidungserheblichen Kriminalprognosen auch ausgewiesenen Fachleuten vorbehalten wird713. 2. Notwendigkeit der Kontrolle von Subjektivismen Andererseits verzichtet ein intuitives Vorgehen auf Regeln zur Leitung des Beurteilungsprozesses.714 Wenn Begriffsbestimmungen die Intuition als Ergebnis personenspezifischer, nicht explizierbarer Urteile715 oder gar als irrationalmystische Erkenntnismöglichkeit kennzeichnen716, wird deutlich, dass hier die Leitlinien der Erkenntnisgewinnung im Verborgenen bleiben. Angesichts der erheblichen Unzulänglichkeiten der Intuition717 kann damit kein Zweifel daran bestehen, dass sie nur letztes Mittel sein kann, wenn Relevantes sonst nicht fassbar ist. Deshalb muss stets der Versuch zur Überwindung einer intuitiven Urteilsbildung unternommen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Evidenz zunächst als ausreichendes Erkenntnisziel anzuerkennen ist. Nur auf ihrer Grundlage kann eine notwendige Entscheidung getroffen werden, soweit ein Mehr an Objektivität nicht erreichbar ist, Evidenz muss dann ausreichende Bedingung der (prognostischen) Gewissheit sein718. Allerdings ist nicht unbedingt wahr, was einleuchtet.719 Soweit ___________ 712
So auch Urbaniok, KR 2003, 169, 179. Kröber, NStZ 1999, 593, 593. Gleichzeitig unterstreicht dies die Notwendigkeit eines Erfahrungsaustauschs, der auch vor den Grenzen einzelner Fachdisziplinen nicht Halt machen sollte. 714 Dahle 2000, S. 88; Egg 2002, S. 310; Schaffstein/Beulke 2002, S. 95. 715 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274. 716 Volckart, R & P 1999, 58, 59. 717 Die individuelle Erfahrungssammlung erfolgt selektiv. Sie speichert zum Teil nur als relevant, was in die eigenen Erfahrungen bzw. in das bisherige Erfahrungsbild passt und damit, anders ausgedrückt, bestehende Vorurteile bestätigt (Rasch 1994, S. 24). Auch deshalb muss der Prognostiker ± etwa durch Systematik oder Begrifflichkeit ± gezwungen werden, sich von seinen Subjektivismen zu distanzieren. 718 Damit steht der Prognostiker im Übrigen nicht allein. Der Arzt behandelt, ohne eine Gewissheit von der hilfreichen Wirksamkeit seines Tuns zu haben, der Jurist urteilt, ohne eine Gewähr für die Richtigkeit seiner Entscheidungen zu haben (vgl. dazu auch § 261 StPO), dem Psychologen fehlt die Garantie für seine Beurteilungsregeln ± überall ist man tätig, ohne eine bewiesene Erklärung für alles zu brauchen. 719 Bock 1984, S. 67; Tölle/Windgassen 2003, S. 10. Vielmehr ist es zumeist gewagt, aus der Plausibilität auf die Realität eines Vorgangs zu schließen; gewöhnlich fehlt zumindest die Gewissheit, dass ein anderes nicht möglich sei (Bockelmann, GA 1955, 321, 330). Was evident ist, muss deswegen nicht gültig sein (Bock 1984, S. 67). Eine Äsinn713
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möglich sollte das Urteil über die Realität eines verständlichen Zusammenhangs im Einzelfall daher nicht allein auf dessen Evidenz beruhen, sondern möglichst auf das Äobjektive Material greifbarer Anhaltspunkte³ zurückgeführt werden720. Insoweit ist das Eintreten des Evidenzerlebnisses von seiner Vermittlung zu unterscheiden bzw. ± wie Weber es ausgedrückt hat ± die Stellungnahme des erlebenden Subjekts durch das kausale Verstehen des deutenden Wissenschaftlers zu ersetzen721. Im Hinblick auf die Vermittlung des Evidenzerlebnisses muss also stets der Versuch unternommen werden, den Erkenntnissen durch strenge empirische Überprüfung, Kontrolle und Verifizierung Objektivität zu verleihen. Ohne verbindliche Inhalte können natürlich stets nur größtmögliche Objektivitätsannäherungen erreicht werden, die aber immer noch etwas anderes als Subjektivität oder gar Willkür sind. Unzulänglichkeiten der Vorhersageregeln geben dem Prognostiker keinen Freibrief dafür, über mögliche Ursachen zu spekulieren oder persönliche Mutmaßungen zur Grundlage seiner Beurteilungen zu machen. Dass eine Überzeugung nach außen hin zu begründen ist, ergibt sich dabei schon aus der Notwendigkeit einer Überprüfung durch Verfahrensbeteiligte, Obergerichte und Öffentlichkeit.722 Die prognostische Bewertung ist verständlich und plausibel zu machen723, denn nur so können prognostische Bewertungen kontrolliert werden724. Evidenzerlebnisse müssen Äin begrifflich vergegenständlichte Form gebracht und der Überprüfung zugänglich gemacht werden³725.
___________ haft noch so evidente Deutung kann als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen: auch die kausal gültige Deutung sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese³ (Max Weber 1976, S. 4). 720 So die Formulierung von Jaspers 1965, S. 252. 721 Max Weber 1985, S. 91. 722 Für die richterliche Überzeugungsbildung wird eine möglichst hohe rationale Transparenz gefordert (so Jerouschek, GA 1992, 493, 505), wobei die objektive Komponente von der neueren Rechtsprechung des BGH in zunehmendem Maße betont wird (Vgl. Steinke, NStZ 1994, 16, 16). Auch prognostische Bewertungen profitieren von solchen Objektivierungen. 723 Die entsprechende Forderung von Mauthe (DRiZ 99, 262, 268 f.) zur Beurteilung der Schuldfähigkeit ist ohne weiteres auf Kriminalprognosen übertragbar. 724 Insbesondere dieses Qualitätskriterium wird einem Äsehr erheblichen Teil³ der Prognosegutachten abgesprochen (vgl. Volckart, StV 2001, 27, 28), wobei die gegenwärtige Praxis der Prognosebegutachtung hinsichtlich der Ergebnisdarstellung insgesamt kein hohes Ansehen genießt (Volckart 1997, S. 16) ± manches Gutachten lasse sich leichter wiegen als lesen. 725 Bock 1984, S. 120.
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
In Anlehnung an Max Weber726 kann formuliert werden, dass das ahnende Erfassen zum Objekt von Urteilen gemacht werden muss, die dem Inhalt nach nicht mehr bloß Ägefühlt³ werden dürfen, sondern als Ägeltend³ anerkannt werden müssen. Das Gefühlte hat nur dann Wert, wenn es sich in Äbestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile³, das heißt in Ä ‚begrifflich‘ geformte ‚Erfahrung‘ ³ umsetzen und so kontrollieren lässt727. 3. Mittel zur Kontrolle von Subjektivismen Die notwendige Kontrolle von Subjektivismen verpflichtet den Prognostiker an erster Stelle dazu, soweit es geht Bezüge auf Erfahrung oder Intuition zu benennen. Wo methodische Vorgaben enden, gelten zudem weitere Leitlinien der erfahrungswissenschaftlichen Einzelfallbeurteilung. So ist eine Kontrolle bei Fehlen sachlich-inhaltlicher Vorgaben durch formale Kriterien, das heißt durch eine äußerliche Überprüfung der Denkabläufe möglich. Auch der Prognostiker ist auf die Logik als allgemein verfügbares Mittel der Erkenntnisfähigkeit angewiesen und bei seinen Wertungen einer Rationalitätskontrolle zugänglich. Zur logischen Kontrolle bei der Ausfüllung von Beurteilungsspielräumen leisten insbesondere Idealtypen einen wesentlichen Beitrag. Sie entsprechen jenen Anforderungen, die allgemeinverbindliche Vorgaben für den prognostischen Urteilsprozess erfüllen sollten, um der Wirklichkeit im Spannungsfeld von Relevanz und Objektivierbarkeit gerecht zu werden: Grundsätzlich muss ein prognostischer Beurteilungsmaßstab im Dienste der Objektivität einerseits feststehen und andererseits den Beurteilungsvorgang steuern, gleichzeitig aber die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten erlauben. Dies trifft auf erfahrungswissenschaftlich gebildete Idealtypen zu, denn sie stehen nicht zur Disposition, steuern den Beurteilungsvorgang umfassend ± indem sie ihn nur in ihrem Bezugsrahmen ermöglichen ± und haben gleichzeitig die spezifischen Bedingungen des Einzelfalls zum Gegenstand. Der Nutzungsvorteil von Idealtypen behauptet sich also gerade an der Grenzfläche von Standardisierung und Individualisierung. Damit zeigt sich, dass die Deutung von Wirklichkeitsumständen keinesfalls Einfallstor für unkontrollierbare, willkürliche oder subjektive Beurteilungsvorgänge sein muss, sondern dass auch solche Interpretationen von klaren Regeln geleitet sein können. Insoweit kann also nicht von einer Rivalität zwischen In-
___________ 726 727
1985, S. 104. Max Weber 1985, S. 119.
E. Allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien
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dividualisierung und rationaler Schlussfolgerung gesprochen728 oder das Verstehen individueller Bedingungen mit Subjektivität und Willkür gleichgesetzt werden. 4. Erarbeiten eines Ableitungszusammenhangs Schon mehrfach war davon die Rede, dass individuell Gültiges bei der Prognose nur aus dem spezifischen Gesamtzusammenhang der konkreten Gegebenheiten spricht. An dieser kontextuellen Prägung ist die prognostische Wertigkeit der einzelnen Wirklichkeitsumstände zu orientierten, die also stets im Blick auf die konkreten Lebensverhältnisse des Probanden zu bewerten ist729. Sowohl logische als auch erfahrungsorientierte Ableitungen erlauben es dabei, die Beziehungen von Wirklichkeitsumständen intersubjektiv nachvollziehbar zu beschreiben. Dass beispielsweise eine Tatverleugnung mit Bagatellisierungstendenzen, aber auch mit tiefer Beschämung in Verbindung gebracht werden kann, ist in der Erfahrung verankert. Dass ein Abstreiten nicht mit der Überzeugung fehlender Täterschaft einhergehen muss, legt die Logik nahe. Im Rahmen der notwendigen Herleitungen kann eine Vielzahl an erklärenden Erkenntnissen prognostischen Wert erlangen, etwa dass die Verbalisationsfähigkeit von intellektuellen Kapazitäten abhängig ist oder ein Leugnen durch fehlende Unrechtseinsicht bedingt sein kann. Gerade wenn das für eine Regelanwendung Relevante nicht abgrenzbar ist, muss ein Verständnis für die menschlichen Interaktionsprozesse und die Lebenswelt des Einzelnen entwickelt werden, indem auf Lebensnähe, Detailkenntnis und Authentizität geachtet wird.730 Wird mit der prognostischen Relevanz eines Umstands argumentiert, ist für den Einzelfall stets ein Grund dafür anzugeben, warum der fragliche Umstand als mögliche Bedingung künftiger Delinquenz angesehen wird. Der Prognostiker muss also im Sinne einer ÄRelevanzprüfung³ den Ableitungszusammenhang von Straffälligkeit und verwertetem prognostischem Kriterium im Gefüge der konkret-individuellen Verhaltensbedingungen aufzeigen.731 Der Einzelumstand muss somit im Bedingungsgefüge der Lebenswirklichkeit des Probanden zum Sprechen gebracht bzw. an den Begriff der Straffälligkeit herangeführt werden. Für jeden prognostischen Umstand ± und mag er Straffälligkeit noch so wahr___________ 728
So Volckart 1997, S. 9 ff. Schallert, DVJJ 1998, 17, 20. 730 Vgl. auch Bock 2000, S. 30 ff. 731 Eine solche Relevanzprüfung beinhaltet beispielsweise der von Urbaniok vorgestellte TRET, vgl. Urbaniok, KR 2003, 169, 173, siehe auch FOTRES (Urbaniok 2004). 729
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Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
scheinlich machen ± muss angegeben werden, warum er im Einzelfall mit Straffälligkeit in Zusammenhang stehen soll. Weil ein einzelner Faktor als solcher niemals für ein bestimmtes Prognoseergebnis spricht, muss stets der Ableitungszusammenhang dargelegt werden, der vom fraglichen Umstand zu einer bestimmten Einschätzung künftiger Straffälligkeit führt. Dies ist nichts anderes als ein Gebot der Logik, denn wenn ein Umstand ± wie stets bei den prognostischen Wirklichkeitskonstanten ± unterschiedliche Verknüpfungen zulässt, so ist die gewählte Verknüpfung durch Aufzeigen der Bindeglieder zu begründen. Die prognostische Relevanz eines Umstandes spricht also niemals für sich, sondern ist stets unter Benennung seiner Vermittlung zum Prognoseergebnis aufzuzeigen. Die kriminogene Bedeutung von Einzelumständen und Bedingungskonstellationen ist zu bejahen oder zu verneinen, indem Gründe dargelegt werden, die Umstand bzw. Konstellation mit Straffälligkeit verbinden.732 Insoweit offenbart die pauschale Annahme, ein leugnender Straftäter habe grundsätzlich eine schlechte Prognose, ein grundlegendes Missverständnis über die prognostische Arbeitsweise. Die Forderung nach einem Ableitungszusammenhang korrespondiert mit einem Grundsatz, den Juristen täglich im Zusammenhang mit der Verwertung von Indizien beherzigen. Für sie besteht das leitende Prinzip jeder mittelbaren Beweisführung darin, die unmittelbar erheblichen Tatsachen ± die das eigentliche Beweisziel bilden ± als die praktisch allein mögliche Erklärung der bewiesenen indizierenden Tatsachen anzusehen.733 Eine ähnliche Plausibilität ist auch vom Prognostiker zu fordern. Prognostische Schlussfolgerungen müssen sich als die praktisch einzig sinnvolle Erklärung aus den verbindlichen Beurteilungsmaßstäben ableiten. Gelingt dies nicht, sollte der Prognostiker mit Vermutungen eher Zurückhaltung üben, bevor er mit rein subjektiven Vorstellungen zu Eingriffen in den Rechtskreis des Probanden beiträgt. Dabei verspricht das Erarbeiten solcher Ableitungszusammenhänge auch einen Effizienzgewinn. Da es der Kriminalprognose nur um kriminorelevante Bezüge geht, müssen nicht alle denkbaren Zusammenhänge zwischen den vorhandenen Wirklichkeitsumständen hergestellt werden, denn viele führen auch von der Straffälligkeit weg. Nicht alles kann mit Straffälligkeit in Verbindung gebracht werden, die Ursachenforschung endet möglicherweise weit davor. Zudem gibt es nicht für jeden Einzelumstand eine unendliche Vielfalt von Bezügen, sondern begrenzte Kombinationsmöglichkeiten. ___________ 732
Beispielsweise die Tatverleugnung mit Bagatellisierungstendenzen, die wiederum Hemmungen gegenüber Straftaten herabsetzen. 733 Engisch 1997, S. 59.
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Gerade eine an prognostischer Relevanz orientierte Aufbereitung von Wirklichkeitskonstanten trägt deshalb dazu bei, frühzeitig Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen und die prognostische Arbeit effizienter zu gestalten. Die Erfassung des Bedingungsgefüges lässt auch deshalb erhebliche ökonomische Vorteile in der Beurteilung erwarten, weil sie unweigerlich zu einer Reduktion der notwendig verwerteten Wirklichkeitskonstanten führt. Wird beispielsweise für ein Geständnis allein die Motivation möglicher Strafmilderung sichtbar, so fällt es als prognostischer Umstand aus. Es taugt weder zur Begründung einer Delinquenzerwartung, noch gibt es einer Abkehr von Fehleinstellungen Ausdruck. Die Orientierung an einem individuellen Ableitungszusammenhang hilft somit dabei, den Aufwand der prognostischen Arbeit auf das Vertretbare zu beschränken.
F. Empfehlungen für den Umgang mit der Tatverleugnung I. Denklogische Betrachtungsebenen des Ableugnens Die allgemeinen Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien sind nun für das Problem der Tatverleugnung nutzbar zu machen. Stets hängt die prognostische Wirksamkeit eines Einzelfaktors vom Stellenwert ab, den er im spezifisch-individuellen Gesamtgefüge der Verhaltensbedingungen hat. Damit kann auch der Tatverleugnung nicht generell eine bestimmte prognostische Wertigkeit zugeschrieben werden, sondern nur bei entsprechender Funktion im jeweiligen Lebenszuschnitt. Dass ein Leugnen selbst direkt zur Straftat führt, erscheint dabei von vornherein abwegig.734 Als unmittelbare Ursache vergangener Straftaten taugt es schon deshalb nicht, weil erst eine begangene Straftat abgeleugnet werden kann. Im Ableugnen aber den Grund künftiger Delinquenz zu sehen, ist schwer vorstellbar; es wirkt eher bizarr, dass jemand nur deshalb das Strafgesetz verletzt, weil er zuvor eine Straftat geleugnet hat735. Gerade weil es keine einfachen Regeln für den prognostischen Umgang mit der Tatverleugnung gibt, ist vom Erfahrungswissenschaftler daher im konkreten Fall eine differenzierte Bewertung dieses Umstands zu verlangen.736 Er ist ver___________ 734 Ebenso wenig ist zu erwarten, dass jemand nur deshalb etwas nicht wieder tut, weil er es bekannt hat (vgl. dazu Beier, ZfStrVo 1999, 148, 149). 735 Insoweit lässt sich auch rational begründen, was in der Kommentierung zum SVR-20-Schema auf sexuelle Gewalttaten bezogen zum Ausdruck kommt (vgl. MüllerIsberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 75.), dass sich nämlich eine Tatverleugnung allenfalls als Risikomarker für andere prognoserelevante Umstände eignet. 736 Würde die Tatverleugnung selbst die prognostische Schlussfolgerung unmittelbar und eindeutig bestimmen, d. h. direkt das Prognoseergebnis vorgeben, bedürfte es keines Umweges über andere Kriterien wie etwa Bagatellisierungs- und Verleugnungsten-
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pflichtet, die besondere Konstellation des ÄLeugnens³ der Tat zu berücksichtigen, differenzierend prognostisch zu würdigen und nachvollziehbar darzulegen.737 Dazu erscheint es zunächst hilfreich, quasi vor die Klammer gezogen einige Überlegungen zu möglichen Erscheinungsformen des Ableugnens anzustellen. Der Duden bezeichnet als Äleugnen³ einerseits ein Verhalten, mit dem eine Anschuldigung oder Behauptung für nicht zutreffend oder bestehend erklärt wird. Darüber hinaus könne leugnen auch heißen, Offenkundiges wider besseres Wissen bzw. allgemein Anerkanntes nicht gelten zu lassen.738 Ein Ableugnen ist also stets die Behauptung, etwas sei unrichtig. Darüber hinaus bringt die zweite Umschreibung ein kognitives Element zum Ausdruck, nämlich dass der Leugnende es eigentlich besser wisse. Diese zweite Definition umfasst zudem noch ein weiteres Merkmal, das auch der dritten Begriffsbestimmung zueigen ist: Es gebe eine allgemeine Übereinkunft über den Gegenstand des Leugnens, denn dieser sei Äoffenkundig³ bzw. Äallgemein anerkannt³. Im Zusammenhang mit dem Leugnungsproblem geht es also immer um einen Menschen, der gegenüber einem strafrechtlichen Vorwurf die Haltung vermittelt: ÄIch habe es (so) nicht getan³. Stets liegt ein sichtbarer Widerspruch gegen die erhobene Anschuldigung vor. Nun ist das Inventar der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten nicht mit sprachlichen Äußerungen erschöpft, vielmehr sind andere Bekundungen wie Gestik oder Mimik bisweilen sogar von weitaus höherer Aussagekraft. Davon wissen insbesondere Berufsangehörige, die sich ± wie auch Juristen ± dem Versuch stellen müssen, etwas über die seelischen Vorgänge im Inneren eines Menschen zu erfahren. Dabei offenbart die Notwendigkeit einer Wahrnehmung nonverbaler Äußerungen eine Differenzierung, die gerade das Alltagsleben des Rechtskundigen in besonderer Weise prägt: Was ein Mensch sagt, muss nicht mit dem übereinstimmen, was er denkt. Wort und Gedanke fallen vielmehr oft auseinander, was ein einziger Blick in juristische Bibliotheken offenbart, in der ganze Regale für Empfehlungen zur Bewertung des Wahrheitsgehaltes von Äußerungen reserviert sind. Wer sagt: ÄIch habe es nicht (so) getan³ kann innerlich ebenso von der fehlenden Berechtigung des Schuldvorwurfs ausgehen wie er ihn akzeptieren kann. ___________ denzen (so OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346 ff.), die Einsicht in das Tatunrecht (OLG Hamm, StV 1997, 92, 92) oder Schuldverarbeitung (OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff., OLG Hamm, StV 1997, 92). 737 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 738 Duden 1999, S. 2461.
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Dabei kann die Äußerung nicht nur in Beziehung zur inneren Haltung des Sprechers gesetzt, sondern auch mit dem Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs verglichen werden: Der Betroffene kann das von ihm in Abrede gestellte Verhalten tatsächlich begangen, aber auch nicht begangen haben, es besteht also ein Unterschied zwischen dem ÄAbleugnen³ einer begangenen Tat und dem ÄAbstreiten³ einer nicht begangenen Tat. Weil letzteres als ungünstiger prognostischer Umstand grotesk wirkt739, geht es im Zusammenhang mit dem Leugnungsproblem nur um das Ableugnen, also die ausdrückliche Verneinung von wirklicher früherer Straffälligkeit740. Dabei legt der Bezug zur Tat nahe, das Ableugnen auch mit der Autorität der Beweislage in Beziehung zu setzen. So kann der Proband mit seiner Sicht gegen naturwissenschaftlich gesicherte kriminalistische Beweise antreten, aber auch (lediglich) die Behauptungen von Zeugen anzweifeln, bei denen grundsätzlich Irrtümer oder auch bewusste Falschaussagen möglich sind.741 Die Rechtsprechung musste darüber hinaus bereits erfahren, dass ein Ableugnen nicht nur im Ganzen denkbar, sondern auch auf Teile des Schuldvorwurfs beschränkbar ist: Der eine behauptet vehement, unschuldig zu sein742 und sucht dies sogar mit allen prozessualen Mitteln zu beweisen743, der andere räumt zwar das äußere Geschehen ein, verwahrt sich aber gegen dessen strafrechtliche Qualifizierung744. Es kann eine Tötung eingestanden, aber die vorgeworfene Habgier ± ebenso wie jede andere Motivation ± bestritten werden745, es kann die Form der Tatbeteiligung ebenso wie die Vorsatzform in Abrede ge___________ 739
Das wissentliche Einräumen einer nicht begangenen Tat wäre prognostisch sogar bedenklich. Es ist nicht Ausdruck eigener Überzeugungsbildung, sondern einer Anpassung wider besseren Wissens an fremde Erwartungen. Es widerspräche also der eigenen Überzeugung, dem Gerechtigkeitsgefühl und der Selbstachtung. 740 Die Feststellung, ob ein Ableugnen oder ein Abstreiten vorliegt, ist ein eigenständiges Problem, das den Prognostiker beispielsweise im Zusammenhang mit der Bindung an vorangegangene rechtskräftige Feststellungen beschäftigen kann (siehe dazu den Abschnitt zu Tatverleugnung und Rechtskraft im nächsten Kapitel). Im Rahmen der abstrakten Systematisierung denklogischer Betrachtungsebenen eines Ableugnens kann es außer Betracht bleiben. 741 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 742 Vgl. z.B. OLG Hamm, StV 1988, 348, 349; OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 743 Vgl. OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34. 744 OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002. 745 So befindet sich im Vollzug eine zahlenmäßig nicht geringe Gruppe von Kapitalverbrechern, die das äußere Tatgeschehen kaum in Frage stellen, wesentliche motivationale Komponenten der Tat aber verleugnen bzw. uminterpretieren. Mancher lebt lieber mit der Klassifizierung seiner Tat als Raubmord, als dass er starke affektive Komponenten für sich annehmen würde (Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161; Beier, ZfStrVo 1999, 148, 149).
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stellt werden oder (lediglich) bagatellisiert statt verleugnet werden. Es gibt also nicht allein eine Dichotomie von Einräumen oder Ableugnen der Tat, sondern unterschiedliche Grade der Tatverleugnung. Sie finden sich nicht nur im Hinblick darauf, wie umfassend ein Leugnen dem Tatvorwurf entgegentritt, sondern auch mit welcher Vehemenz bzw. Intensität dies jeweils geschieht, mit welcher ÄLeugnungstiefe³ neben der ÄLeugnungsbreite³ also das Tatgeschehen in Abrede gestellt wird. Das Prognosemanual zum ÄFOTRES³ von Urbaniok bringt dies differenziert zum Ausdruck, indem es beispielsweise zwischen Äaktiver Verschleierung³ 746 und Verantwortungsverweigerung unterscheidet747 und besonders darauf hinweist, dass die Distanzierung von einer Tat nicht automatisch Verantwortungsübernahme bedeutet748, vielmehr stets der Einfluss von strategischen Überlegungen auf das Aussageverhalten749 oder dessen Dynamik im Zeitverlauf750 zu beachten ist. Es kann also auch in quantitativer Weise unterschiedlich abgestritten werden, so dass nicht nur das Ob des Ableugnens, sondern auch das Wie als mögliches prognostisches Differenzierungskriterium zur Kenntnis genommen werden muss. In der Praxis spielt dieses Differenzierungskriterium eine große Rolle. Oft beharren leugnende Täter nicht grundsätzlich auf ihrer Nicht-Täterschaft, vielmehr scheint dies eher für diejenigen bezeichnend zu sein, die tatsächlich unschuldig sind. Täter neigen eher dazu, Details und Einzelaspekte von Tatvorwürfen unter vorher abgewogener Begründung zu kritisieren; häufig erfolgen auch Anklagen und Beschwerden, nicht ordnungsgemäß begutachtet oder diesbezüglich falsch verstanden worden zu sein. Insbesondere wird ± vor allem bei Kapitaldelikten ± das äußere Tatgeschehen oft nicht in Frage gestellt, jedoch eine wesentliche motivationale Komponente bestritten oder uminterpretiert. Mancher lebt beispielsweise lieber mit der Klassifizierung seiner Tat als Raubmord, als für das Geschehen eine starke affektive Komponente einzuräumen. Insbesondere für eine Gruppe schwer narzisstisch-persönlichkeitsgestörter Straftäter ist beschrieben, dass sie das äußere Tatgeschehen zwar nicht leugne, aber beinahe im Sinne einer vollständigen Umdeutung karikiere.751
___________ 746
Urbaniok 2004, S. 374 f. Urbaniok 2004, S. 376 f. 748 Urbaniok 2004, S. 368. 749 Urbaniok 2004, S. 362. 750 Urbaniok 2004, S. 362. 751 Zu allem siehe Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 159 ff. 747
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Zusammenfassend lässt sich die äußere Haltung des Verurteilten also nicht nur in Beziehung zum tatsächlichen Geschehen und zur inneren Haltung setzen, sondern zusätzlich hinsichtlich der Reichweite des Ableugnens kategorisieren. Daraus ergeben sich drei denklogische Differenzierungen des Ableugnens, von denen hier jedoch nur zwei von Interesse sind: Die Äußerung kann zum einen damit beschrieben werden, dass sie den Tatvorwurf vollständig oder nur teilweise in Abrede stellt. Zum anderen kann sie wiedergeben, was der Betroffene tatsächlich denkt oder eben nicht denkt. Für das Leugnungsproblem ist also einerseits die quantitative Beziehung von Äußerung und Tatvorwurf, andererseits die qualitative Beziehung von Äußerung und innerer Haltung bedeutsam. Diese Überlegungen zu Ob und Wie des Leugnens führen zu einer Tätergruppe, die sich zum Tatvorwurf ± im Ganzen oder zu Teilen davon ± überhaupt nicht äußert, dazu also schlicht schweigt. Hier wird man zuallererst überlegen müssen, ob dieses Schweigen nun ein Ableugnen oder ein Einräumen des Tatvorwurfs ist. Fest steht, dass sich die Möglichkeiten einer sichtbaren Haltung zum Schuldvorwurf nicht in einem Einräumen oder Ableugnen der Tat erschöpfen, sondern dazu auch das Fehlen einer erkennbaren (verbalen oder sogar auch nonverbalen) Reaktion gehört. Im Gegenteil lassen sich vom Individualfall aus kaum verallgemeinerbare Regeln ableiten, was die Schilderung des Tatgeschehens angeht. Oft fallen leugnende Strafgefangene durch demonstrative Hinweise auf ihre Nicht-Täterschaft auf, sie tun es häufig aber auch durch ihre Verschlossenheit.752 Fehlende Angaben über das Tatgeschehen sind damit zunächst einmal daraufhin zu untersuchen, ob sie unter prognostischem Blickwinkel mit einem Ableugnen oder Einräumen der Tat gleichzusetzen sind. Es ist das Mittel darzulegen, das der Täter für den Ausdruck seiner Haltung nutzt, woran eine Festlegung gelegentlich scheitern wird. Wenn im Folgenden ohne weitere Zusätze von Ableugnen oder Eingeständnis die Rede ist, so meint dies auch das schweigende Leugnen oder Einräumen der Tat. Nur in dieser sinnorientierten Sichtweise ist das Eingestehen der Tat das Spiegelbild des Ableugnens, wohingegen die Orientierung an den Verbaläußerungen eine Trias von Eingeständnis, Leugnen und Schweigen ergibt. Dabei ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die äußere Haltung uneindeutig ist, das heißt zweifelsfrei weder als Ausdruck eines Eingeständnisses, noch eines Leugnens erscheint. Ist eine Tatverleugnung zum Ausdruck gekommen, so kann dies auf zwei Wegen Einfluss auf das Prognoseergebnis haben: Ein Ableugnen kann bestimmte Resultate bedingen oder ausschließen, also prognostische Zuschreibungen ___________ 752
Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 159 f.
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nach sich ziehen oder damit unvereinbar sein. Auch über den Ausschluss von Alternativ-Möglichkeiten kann die Berücksichtigung des Ableugnens ein ganz bestimmtes Ergebnis nahe legen; dabei ist vor allem die Wirkung der Tatverleugnung als prognostisches Zugangshindernis von Bedeutung, wie die Rechtsprechung zum Leugnungsproblem zeigt. Hier wird damit argumentiert, dass eine Tatverleugnung die Klärung und Aufarbeitung prognoserelevanter Gesichtspunkte, beispielsweise der Tatursachen, verhindert und dadurch der Angabe von Wahrscheinlichkeiten künftiger Straffälligkeit entgegensteht.753 II. Ableugnen im Kontext der prognostischen Beurteilungsgrundlage Auch wenn ein Ableugnen nicht direkt ein Prognoseergebnis vorgibt, ist seine Verknüpfung mit einem oder mehreren Einflussfaktoren der Straffälligkeit denkbar, worauf auch die Rechtsprechung abstellt754. Es sind also Beziehungen des Ableugnens zu jenen Wirklichkeitsumständen zu erfassen, die im Einzelfall greifbar sind. Insbesondere ist nach möglichen Ursachen der Tatverleugnung zu fragen, etwa nach realen Vorteilen755, die sich für den Probanden daraus ergeben. Dabei ist vorab vor der Gefahr eines Zirkelschlusses zu warnen. Merkmale und Umstände sind aufeinander bezogen und beeinflussen bzw. verändern sich gegenseitig756. Bei Deutung einer Tatverleugnung und damit zusammenhängender Wirklichkeitsumstände ist deshalb stets die Möglichkeit zu prüfen, ob Relevanz nicht durch eine Wechselbezüglichkeit entsteht, die es erst nachzuweisen gilt. Wenn beispielsweise das OLG Hamm dem Leugnen der Tat erst im Zusammenhang mit anderen Äbedeutenden³ Umständen prognostische Relevanz zuschreibt757, so darf sich die Bedeutung der Begleitumstände nicht erst aus der Verbindung mit einem Ableugnen ergeben. Dass es hier an einer eigenständigen Bedeutung fehlt, kann leicht übersehen werden, zum Beispiel indem eine fehlende Mitwirkungsbereitschaft am Ableugnen festgemacht und dieses wiederum wegen fehlender Mitwirkungsbereitschaft für prognostisch relevant gehalten ___________ 753
OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347; OLG Koblenz ± 2 Ws 416/02 v. 27.5.2002; OLG Koblenz – 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002, S. 2; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 2 ff.; BVerfG, NStZ 1998, 373 ff. 754 Zum Beispiel in einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt (NStZ-RR 1999, 346, 347), wo der Gutachter massive Bagatellisierungs- und Verleugnungstendenzen des Verurteilten aus dem Umstand folgerte, dass der Veurteilte hinsichtlich der abgeurteilten Tat im wesentlichen die Einlassung wiederholte, die er bereits im Erkenntnisverfahren vorgebracht hatte und die den rechtskräftigen Urteilsfeststellungen widersprachen. 755 Vgl. dazu Urbaniok 2004, S. 362. 756 Volckart 1997, S. 36. 757 OLG Hamm, NStZ 1989, 27 ff.
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wird. Hier schützt eine Äconditio sine qua non³-Probe vor Irrtümern; die Tatverleugnung ist hinweg zu denken, um zu sehen, ob damit die eigenständige Bedeutung des Begleitumstands steht oder fällt. Soll nun aus der Tatverleugnung eine prognostische Schlussfolgerung gezogen werden, ist ± wie der Blick in die gängigen Prognosemanuale gezeigt hatte ± eine Vielzahl von Möglichkeiten zu bedenken758, etwa eine Tatverleugnung als Ausdruck charakterlicher Fehlhaltungen759, Mangel an Einsicht760, negativer Einstellungen761, Defiziten der Behandlung762 oder seelischen Auffälligkeiten763. Darüber hinaus sind Einflüsse auf die Entscheidung für das Ableugnen selbst zu bedenken, kann hier doch beispielsweise bereits ein so unscheinbares Kriterium wie das Lebensalter über den damit einhergehenden Reifestand von Bedeutung sein. Auch sind individuelle Unterschiede zu berücksichtigen, die hinsichtlich der Ausdrucksfähigkeit und -bereitschaft bestehen, denn es ist nicht für jeden in gleicher Weise leicht, über Gefühle oder Verfehlungen zu sprechen764. Insbesondere erscheint ein Zusammenhang zum vorgeworfenen Delikt und seiner Schwere plausibel, wird doch das Zugeständnis einer leichten Verfehlung leichter fallen als dasjenige einer schweren. Auch verbessert ein Ableugnen möglicherweise die unmittelbare Lebenssituation erheblich, etwa weil sie die Gunst naher Angehöriger erhält765, umgekehrt muss gegebenenfalls mit unmittelbaren Verschlechterungen bei Eingeständnis der vorgeworfenen Tat gerech___________ 758 Schon bevor es dazu kommt, können Unterschiede darin liegen, welche Aufmerksamkeit einer Tatverleugnung überhaupt zuteil wird, denn ihr Stellenwert für Prognose oder Intervention muss nicht stets gleich sein. Er wird möglicherweise von der Dichte anderer prognostischer Kriterien bestimmt, was Unterschiede zwischen einzelnen Tätergruppen ± wie etwa sozial unauffälligen Pädophilen (Dazu Bock 2000, S. 438) einerseits und Äpolytrop kriminellen Notzüchtern³ (Vgl. Bock 2000, S. 291) andererseits ± bedingen kann. Auch erscheint denkbar, dass ein Ableugnen bestimmten Therapieformen entgegensteht, andere aber unberührt lässt (Siehe dazu auch den Abschnitt zur kriminalprognostischen Bedeutung des Geständnisses). 759 Freese 2000, S. 19. 760 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36. 761 Freese 2000, S. 20; Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 36 f. 762 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 40. 763 Rasch 1999, S. 375 f.; Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 11. 764 Dies legt auch nahe, dass ein Eingeständnis der Tat gegenüber einer Vertrauenspersonen nicht ausgeschlossen ist, wenn der Prognostiker davon nichts erfährt; siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 765 Siehe dazu Beier, ZfStrVo 1999, 148, 149 f.
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net werden, etwa weil ein ÄKinderschänder³ damit zum Abschaum für die Mitgefangenen wird. Eine Tatverleugnung kann somit sogar eine Anpassungsbereitschaft an fremde Erwartungen und Bedürfnisse signalisieren. Zwar ist Ableugnen nicht gerade Ausdruck von Loyalität gegenüber staatlichen Geboten, es kann aber von einem Gemeinschaftssinn im Hinblick auf näher liegende Sozialbezüge zeugen. Zumindest einer Orientierung an der Familie wird man dabei eine stabilisierende Funktion nicht von vornherein absprechen können, auch ist es nicht grundsätzlich evident verwerflich, die Stellung in der Familie für wichtiger als das Verhältnis zum Staat anzusehen ± selbst wenn natürlich die Erfüllung bestimmter rechtlicher Forderungen nicht in das Belieben des Familiensinns gestellt ist766. Es trifft jedenfalls auf Verständnis, dass ein an der Grenze der Legalität Gestrauchelter eher vertraute Hände der unmittelbaren Umgebung ergreift, als an abstrakten Geboten und Verboten Halt zu suchen, die aus einer anonymen staatlichen Ordnung herausragen.767 Über die innere Bereitschaft zur Begehung weiterer Straftaten sagt dies jedenfalls ebensowenig aus wie ein Leugnen aus Angst vor Repressalien durch Mitgefangene oder Angehörige. Tatverleugnung als solche bringt also weder von vornherein eine fehlende Akzeptanz der strafrechtlichen Handlungsgebote und -verbote zum Ausdruck, noch kündigt sie zwingend die Grundregeln im Verhältnis von Staat und Bürger auf. Aus der Verweigerung eines Eingeständnisses die fehlende Bereitschaft zur Anerkennung der strafrechtlichen Handlungsvorgaben oder gar eine völlige soziale Ausgrenzung zu folgern, ist ± wie bei jeder anderen Zuordnung des Ableugnens ± eine begründungsbedürftige Behauptung. Es kann nachvollziehbare Gründe dafür geben, eine tatsächlich begangene Tat trotz besseren Wissens in Abrede zu stellen, mit anderen Worten muss es nicht die hartleibige Resistenz des verstockten Verbrechens sein, die darin ihre Fratze zeigt. Den allgemeinen Empfehlungen zum Umgang mit prognostischen Umständen gemäß sollte zur Aufbereitung des Ableugnens auch eine Längsschnittsbetrachtung erfolgen, das heißt die Tatverleugnung in der Verlaufsdynamik der ___________ 766
Was aber für die Forderung nach einem Eingeständnis zu prüfen wäre. Der Gesetzgeber selbst scheint ein Bewusstsein dafür zu haben, dass die innere Verbundenheit für rechtliche Normen bisweilen hinter anderen Bezügen zurücksteht. Zumindest lässt sich die Fassung der Eidesformel nach § 66 c StPO so interpretieren, fordert sie doch einen Schwur bei ÄGott dem Allmächtigen und Allwissenden³ und nicht etwa bei den Äin der Rechtsordnung verkörperten Werten³ oder ähnliches. Dies bringt zumindest ein Verständnis dafür zum Ausdruck, dass rechtlichen Gebote und Verbote nicht die greifbarste Handlungsorientierung sein müssen. 767
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Tatauseinandersetzung verortet werden768. Dabei ist zunächst oft eine ungünstige Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der Tat feststellbar, bei welcher der Täter vorübergehend Phasen massiver Verdrängung und Verleugnung durchläuft. Ebenso wie dies muss es nicht von vornherein bedenklich sein, wenn er nach Jahrzehnten einen gewissen Abschluss mit dem Geschehen gefunden hat769. Es spricht ohnehin einiges dafür, das prognostisch Relevante nicht in einem bestimmten Status quo der Tatauseinandersetzung (wie eben dem Ableugnen), sondern vor allem in der Dynamik dieser Auseinandersetzung zu sehen ist770. Kröber bezeichnet als Faustregel, dass Hoffnung auf eine positive Wende besteht, solange bei einem Gefangenen noch eine Entwicklung in der Tatauseinandersetzung zu erkennen ist.771 Entwicklungen erscheinen völlig unverzichtbar, wird dem Täter doch schon am Beginn der Tatauseinandersetzung eine Haltungsänderung abverlangt. Zum Zeitpunkt der Straftat nämlich war er zu delinquentem Verhalten bereit, dieses für ihn also akzeptabel. Eine solche Haltung aber muss sich ändern, damit überhaupt ein Änderungsbedarf und damit ein Anlass zur Tatauseinandersetzung entstehen. Zum Tatzeitpunkt jedenfalls fehlt die Einsicht, dass Straffälligkeit inakzeptabel ist, oder diese Vorstellung wird übergangen. Erst sie jedoch stößt die ernsthafte Tatauseinandersetzung an. Ein Bewältigungsbedarf fehlt, solange das Geschehene annehmbar ist; er stellt sich erst mit der verstörenden Einsicht ein, etwas Unannehmbares getan zu haben. Diese Einsicht muss also zuerst auf den richtigen Platz gelangen, dann aber gerät das Selbstbild ins Wanken. Der Täter steht plötzlich vor einem Ansturm beängstigender Fragen, etwa: Wie konnte alles geschehen? Wie lebe ich mit der Schuld? Wie kann ich so etwas verhindern? Kurz gesagt wird die innere Ordnung so kräftig durcheinander geschüttelt, dass einiges zu Bruch geht und Mühe sowie vor allem Zeit erforderlich sind, das Verbleibende zurecht zu rücken. Die wirklich ungünstigen Verläufe sieht Kröber dementsprechend in Fällen, in denen keine Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der Tat erkennbar ist.772 Eine Dynamik ist zwingend, wobei die rasche Erfüllung bestimmter Än___________ 768
Vgl. dazu auch Urbaniok 2004, S. 362. Kröber 1995, S. 75. 770 Eisenberg 2005, S. 535. 771 Kröber 1995, S. 76. 772 Kröber 1995, S. 73. Leferenz (1972, S. 1377 f.) stellte zu den Probanden mit ÄGemüts- und Bindungsschwäche³ fest, dass hier Äeine kriminalpädagogische oder -therapeutische Einwirkung zum Scheitern verurteilt [ist], weil die hierzu notwendige ‚echte Begegnung‘ mit dem Probanden nicht hergestellt werden kann³. 769
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derungserwartungen verdächtig erscheinen kann. Je leichter sich Haltungsänderungen einstellen, desto unberechenbarer wird der Betroffene; je schneller und unproblematischer der Läuterungsprozess, desto müheloser scheint auch der Weg in die umgekehrte Richtung zurückgelegt. Wer sich behände darin fügt, etwas Inakzeptables getan zu haben, erlebt offensichtlich nur geringe innere Spannungen. III. Differenzierung von innerer und äußerer Haltung Eine differenzierte Bewertung der Tatverleugnung hat insbesondere dem bereits erwähnten773 Umstand Rechnung zu tragen, dass zwischen innerer und äußerer Haltung zu unterscheiden ist, wenn die prognostische Relevanz eines Verhaltens bestimmt werden soll. Dabei irritiert möglicherweise, im Zusammenhang mit der Tatverleugnung den ausdrücklichen Hinweis auf diese Differenzierung zu finden, stellt ein Ableugnen doch stets eine äußere Haltung wider besseren Wissens dar. Obwohl hier jemand weiß, was er getan hat, versucht er es anders darzustellen774, einer Tatverleugnung ist also die Diskrepanz von Wort und Gedanke immanent. Dass diese Diskrepanz dennoch gesondert diskutiert werden soll, ist einer Unterscheidung innerhalb der Differenzierung geschuldet, die leicht in Vergessenheit gerät: Die innere Haltung umfasst nicht nur eine Vorstellung vom Geschehen, sondern auch eine Bewertung dieses Geschehens. Das Geäußerte kann damit nicht nur im Widerspruch zum Wissen um das wirkliche Tatgeschehen stehen, sondern auch der subjektiven Bewertung dieses Geschehens widersprechen. Wer sich nach außen hin von seiner Tat distanziert, kann sie vor seinem forum internum längst angenommen und bearbeitet haben775, eine Auseinandersetzung mit der Tat ist also keinesfalls auf das Eingeständnis beschränkt. Der Prognostiker hat die äußere Haltung damit ebenso auf die Vorstellung von der Tat wie auf deren Bewertung abzubilden. Selbst wenn für ihn der Widerspruch von äußerer Haltung und Tatgeschehen feststeht, muss er die äußere Haltung noch weiter hinterfragen und feststellen, ob sie auch mit einer entsprechenden Bewertung des Tatgeschehens korrespondiert. Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass ein Aussprechen gerade beschämender Dinge sehr viel Überwindung kosten kann. Mancher, der unter seiner eigenen Täterschaft leidet, spricht nur sehr ungern über die Tatabläufe und
___________ 773 Vgl. zum Beispiel den Abschnitt zur Erfassung innerer Haltungen oder zu den denklogischen Betrachtungsebenen des Ableugnens. 774 Duden 1999, S. 2416 (Stichwort: Äleugnen³). 775 Siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340.
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lässt schmerzliche oder beschämende Details allzu gerne weg.776 Es kann im Einzelfall sehr nachvollziehbare Gründe dafür geben, die Taten schon vor sich selber, jedenfalls aber vor Dritten nicht zugeben zu wollen.777 In diesem Zusammenhang sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die wiederholte Erörterung eines Erlebnisses oder einer Wahrnehmung die Unbefangenheit der Aussageperson trüben und schließlich aufheben kann778. Bestehende Abwehrinterpretationen etwa können fixiert werden, wenn immer und immer wieder eine Aussage zum Tatablauf eingefordert wird.779 Das Stichwort Aussage führt auf ein Arbeitsgebiet, dessen bloße Existenz daran gemahnt, wie verfehlt ein einseitiger Umgang mit einer Tatverleugnung ist. Sämtliche Vorbehalte, die von der Aussagepsychologie generell den Schilderungen eines Geschehens entgegengebracht werden, haben auch ihre Berechtigung bei Selbstschilderungen. Hier liegt sogar die Überlegung nahe, dass direkte Beteiligung an bzw. unmittelbare Einbeziehung in das Geschehen in besonderem Maße Objektivität bzw. Fehlerfreiheit hindert. Soziale Erwünschtheit jedenfalls prägt das Mitteilungsverhalten und filtert Inhalte bzw. deren Ausprägung.780 Jeder einigermaßen sozial angepasste Proband präsentiert sich so, wie er es für geschickt und tunlich hält, die dargebotene Oberfläche kann also mehr oder weniger geschönt sein, weshalb der Prognostiker dahinter gelangen muss781. Der Täter verfolgt als Interaktionspartner im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren nicht als Hauptziel, an einer richtigen Entscheidung mitzuarbeiten. Er handelt vielmehr mit Blick auf persönliche Interessen, will beispielsweise möglichst ungeschoren davonkommen, was ihm in gewissem Rahmen auch zugestanden wird. Dem Idealbild des redlichen und nach wahren Erkenntnissen strebenden Argumentationspartners entspricht er damit jedenfalls nicht782. Eine Prognose verlangt deshalb etwas, das Kröber als ÄDiskrepanzdiagnostik³ bezeichnet: Friktionen zwischen Selbstdarstellung und Realität sind zu beachten783, Aussagen des Probanden auf der Basis von diagnostischkriminologischem Wissen und Erfahrungen kritisch zu hinterfragen, was insbe___________ 776
Kröber 1995, S. 73. Kerner 2004, S. 43. So kann das Ableugnen schlicht am Untersucher liegen, zu dem kein Vertrauen besteht (Beier, ZfStrVo 1999, 148, 149 f.). 778 Bockelmann, GA 1955, 321, 333. 779 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 160. 780 Urbaniok, KR 2003, 169, 177. 781 Kröber, NStZ 1999, 593, 595 ff. 782 Vgl. Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1068. 783 Kröber, NStZ 1999, 593, 595 ff. 777
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sondere für solche persönlich-intimer Natur gilt. Insoweit trifft es auch hier zu, dass alle Daten auf ihre Schlüssigkeit hin zu bewerten sind784. Prognosen müssen sich also dem grundsätzlichen Problem stellen, den Wahrheitsgehalt der Probandenangaben zu hinterfragen785, auch wenn darüber geklagt wird, dass dieser Aspekt in der Literatur eher Änebenher³ erledigt wird786. Keinesfalls dürfen die Aussagen des Verurteilten grundsätzlich so genommen werden, wie sie sind und dann unmittelbar zur Grundlage des Beurteilungsprozesses gemacht werden. Dabei kann ein Hinterfragen der Probandenangaben bereits in der Exploration beginnen. Der Prognostiker sollte nachfragen, in kontroverse Erörterungen eintreten und diskutieren, also nicht allein einem Frage-Antwort-Erzähl-Modus folgen.787 Im Gespräch können dem Gefangenen insbesondere die Relativität des eigenen Tatbildes nahe gebracht und Möglichkeiten gezeigt werden, dieses Bild neu zu organisieren.788 Eine kritische Einstellung empfiehlt sich dem Prognostiker über Verbaläußerungen hinaus gegenüber der gesamten äußeren Haltung des Probanden. So ist es bekannt, dass die engagierte Mitarbeit an einer Therapie leicht freundliche Einstellungen hervorruft und einen größeren Therapiefortschritt vortäuschen kann, als tatsachlich erreicht worden ist.789 Äußere Anpassung an den Vollzug wird möglicherweise völlig unberechtigt als Erziehungs- und Resozialisierungserfolg verstanden, auch wenn es ganz offensichtlich mit der früheren Straftat nicht viel zu tun hatte.790 So kann beispielsweise eine aggressive Handlungsbereitschaft ohne weiteres durch gute Vollzugsanpassung verdeckt und subjektiv vollkommen abgespalten bzw. negiert werden.791 Anzeichen für eine Neuorientierung sind also nicht einfach Wohlverhalten im Strafvollzug oder verbale Distanzierung von der Vergangenheit.792
___________ 784 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 278. Dabei muss eine Diskrepanzdiagnostik, was die äußere Haltung zur Tat angeht, selbstverständlich in beide Richtungen gehen. Ein Geständnis ist ebenso zu hinterfragen wie eine Tatverleugnung. 785 Dies sollte soweit es geht ohne Vorannahmen (wie etwa die moralisierende Vermutung, dass der Proband intentional lügt) geschehen. 786 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 277. 787 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 278. 788 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 338. 789 Volckart, R & P 1999, 58, 63. 790 Schmitt, BewHi 1996, 3, 3. 791 Kröber 1995, S. 76. 792 Tenckhoff, DRiZ 1982, 95, 101.
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Äußerungen und Verhalten des Probanden sind damit zwar Grundlage der prognostischen Auseinandersetzung, ihr Stellenwert aber auf keinen Fall zu überschätzen. Im Gegenteil profitiert die Prognose, wenn sie auf eine gewisse Unabhängigkeit davon bedacht ist. Juristen beispielsweise treffen ± etwa mit Beweis- oder Verwertungsregeln ± handfeste Maßnahmen, um von den Probandenangaben unabhängig zu sein793, was auch dem Prognostiker gut zu Gesicht stünde. Oft begibt er sich in eine beinah naiv anmutende Abhängigkeit von dem, was der Proband ihm anbietet; eine Überprüfung findet selbst dann nicht statt, wenn eine Möglichkeit dazu bestünde794. Die bisherigen Überlegungen zu Vollzugsverhalten oder der Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Haltung haben jedoch gezeigt, wie brüchig und unberechenbar das Probandenverhalten als Grundlage für die prognostische Beurteilung ist. Wie ein Hinterfragen von Äußerungen bzw. äußerer Haltung zu erfolgen hat, dafür können wegen der Abhängigkeit von Einzelfallbedingungen nur Anregungen gegeben werden. So lassen sich beispielsweise mithilfe von Persönlichkeitstests Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdbild oder Anhaltspunkte für die Vereinbarkeit von Tat und Selbstbild erfassen. Auch kann eine Überlegung dazu hilfreich sein, welche realen Vor- oder Nachteile mit einer Tatverleugnung verbunden sind. Der Proband kann darüber hinaus um Erklärungen für die sichtbaren Diskrepanzen gebeten werden, beispielsweise durch die Frage, wie es zu Differenzen zwischen seiner Tatdarstellung und anderen Tatschilderungen gekommen ist. Im Übrigen ist im Zweifel eher darauf zu verzichten, die prognostische Einschätzung auf das unsichere Fundament des Probandenverhaltens in Strafverfahren bzw. Behandlungsprozess zu stellen. IV. Differenzierung von Können und Wollen Das Hinterfragen der äußeren Haltung profitiert vor allem vom Bewusstsein dafür, dass menschliches Verhalten von Können und Wollen bestimmt ist, so auch das Eingeständnis der Tat. Was das Können betrifft, so lassen sich hier formal drei Ebenen unterscheiden, auf denen sich eine Befähigung des Täters auf das Tateingeständnis auswirkt. Die erste Ebene wird durch die Kompetenzen bestimmt, die eigene Täterschaft anzuerkennen, den Tatablauf kognitiv richtig zu erfassen und wirklichkeitsgerecht sprachlich darzustellen. Die zweite Ebene betrifft die Fähigkeit, sich emotional und als Person zu der Tat zu verhalten, also Stellung zu beziehen. Auf Ebene drei schließlich geht es um die Befähigung, die Tat zu verstehen.795 Die Tat muss sich also im Bewusstsein abbil___________ 793 Die StPO verzichtet darauf, die Wahrheitsfindung von Aussagen des Beschuldigten abhängig zu machen, vgl. Fezer 1993, S. 669, 677. 794 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 278. 795 Kröber 1995, S. 73.
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den, dem eigenen Selbst zugeordnet und dies alles kommuniziert werden, was sämtlich am Können des Täters scheitern kann. So abwegig zunächst die Möglichkeit erscheint, dass der verurteilte Täter sich die eigene Tat falsch oder gar nicht vorstellt796, so ergeben sich bei näherem Hinsehen doch plausible Möglichkeiten dafür. Bereits das Erlebnis der Tat ist nicht identisch mit dem Geschehnis. Es muss also geprüft werden, was vom Tatgeschehen und Selbsterleben dem Täter eigentlich erinnerbar, verwertbar und integrierbar ist.797 Insbesondere für Teilaspekte des strafwürdigen Geschehens wird dabei eine Determination der Erinnerungsfunktionen plausibel, denn die Fehl- oder Umdeutung einzelner Komponenten der Straftat ist eher nachvollziehbar, als dass ein Täter die gesamte Tat nicht mehr erinnern kann. So kann es beispielsweise zur mangelnden Integration des Tatgeschehens in das eigene Selbst unter motivischer Unklarheit, aber auch zur eingeschränkten Zuschreibung von Verantwortlichkeit kommen798. Das Taterlebnis kann sogleich von den Tatfolgen verwischt oder vom Erlebnis der Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Institution überlagert sein. Es ist also schon deshalb nicht selbstverständlich, dass das Tatbild aus den Urteilsfeststellungen für den Täter erreichbar ist799. Bereits hier kann die prognostische Verwertung ansetzen. So wird die Kongruenz zwischen Selbst- und Fremdbild als Anzeichen einer günstigen Prognose gedeutet800 und umgekehrt die Rückfallgefahr höher eingeschätzt, wenn der Täter sich sein Handeln motivisch, situativ und persönlich so gar nicht erklären kann801. Auch wird man das Konfliktpotential zu berücksichtigen haben, das eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild möglicherweise birgt. Sie kann zwar motivational völlig irrelevante Aspekte betreffen, hat als solche also noch keinen prognostischen Aussagegehalt. Notwendig ist jedoch insbesondere die Erfassung von Abwehr- oder Neutralisierungsmechanismen, die bei der Motivrekonstruktion für eigenes Handeln von Bedeutung sind802. Kriminelle neutralisieren in ihren Selbstdarstellungen oftmals die Tatsache ihrer Kriminalität; sie
___________ 796
Wenn er es nicht weiß, wer soll es dann wissen? Kröber 1995, S. 72. 798 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161. 799 Kröber 1995, S. 72. 800 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 277. 801 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 160. 802 Sykes/Matza 1979. 797
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führen Geschichten der eigenen Schuldlosigkeit oder ungünstige Lebensumstände an, die ihre Normalität trotz Kriminalität plausibel darstellen sollen803. Ohnehin ist zu berücksichtigen, dass der Verurteilte nicht eine abgeschlossene und unveränderliche Erfahrung seiner Tat in den Vollzug mitbringt804. Das Vorstellungsbild des Gefangenen weist vielmehr eine gewisse Dynamik auf, in deren Rahmen Überzeugungen entstehen können, die im Gegensatz zu den Zuschreibungen des Strafurteils stehen. Erinnerung ist kein zuverlässiger Speicher von Erlebtem, sondern unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, die zur Verfälschung der Inhalte führen. Unter anderem wird die Erinnerung von Sozial- und Moralvorstellungen geprägt. Daraus aber lässt sich das ± vielleicht überraschende ± Argument ableiten, dass eine Verfälschung des Tatbildes sogar Ausdruck zunehmender Kriminoresistenz sein kann. Immerhin geht eine ÄGesundung³ der Sozial- und Moralvorstellungen mit Veränderungen einher, die neue Determinanten der Erinnerungsfunktion schaffen, was schon mit Blick auf das Selbstbild eine Verfälschung der Erinnerung plausibel macht. Im Übrigen können die Tat oder Anteile davon dem Gefangenen selbst Rätsel aufgeben805, schließlich sah es bereits Weber als Voraussetzung für die Kommunikation von Gefühlslagen an, dass die Bestimmungsgründe des Verhaltens bewusstseinsfähig sind806. Bei einer Prognose muss es daher ganz wesentlich auch um die Herausarbeitung von Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdbild bzw. um das Ausmaß der Realitätsbezogenheit in der Selbsteinschätzung gehen807. Auch für das Wollen als Hindernis eines Tateingeständnisses kann es ausgesprochen nachvollziehbare, prognostisch neutrale Gründe geben. Zur vollzuglichen Situation gehört beispielsweise die Angst vor Deprivationsbedingungen ohne adäquate Kontakt- und Gesprächsmöglichkeiten, auch sind subkulturelle Angriffe zu beachten, denen besonders Sexualstraftäter ausgesetzt sind808. Sie stehen in der Gefangenenhierarchie ganz unten, werden vielfach ausgegrenzt und sind manchmal sogar körperlichen Übergriffen ausgesetzt. Aus Angst, in ___________ 803
Bock 2000, S. 75 f.; Meier 2003, S. 62 f.; Siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 804 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336. 805 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161. 806 Max Weber 1976, S. 4. Die Möglichkeit, dass eigene Taten sogar schlicht in Vergessenheit geraten, wird im Zusammenhang mit Untersuchungen zur selbst berichteten Kriminalität diskutiert (Kerner 2004, S. 43). Allerdings erscheint dies eher unwahrscheinlich für Taten mit so einschneidenden Folgen, wie Insassen des Vollzugs sie erlebt haben. 807 Simons, ZfStrVo 2002, 273, 276. 808 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161.
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eine solche Situation zu kommen, verschweigen daher viele Sexualdelinquenten ihr Delikt809. Mitunter fürchten Strafgefangene auch den Abbruch des Kontakts zum sozialen Nahraum, wenn sie ihre Täterschaft zugeben. Oft wird ihnen ein Äsag mir, dass Du es nicht gewesen bist³ angetragen, da auf der Gegenseite selber Verleugnungstendenzen bestehen.810 Auch ist einsehbar, wenn Gefangene wenig über sich mitteilen, damit daraus keine negativen Schlüsse gezogen werden können811. Jeder Täter muss in gewissem Umfang zu einer Bewältigung der Tat imstande sein, wenn er in sozial adäquater Weise auch mit einem gewissen Selbstvertrauen weiterleben will. Seine Schilderungen werden immer auch von seiner veränderten Zukunfts- und Lebensperspektive geprägt sein, für deren Bewahrung er sich distanzieren und in Maßen verdrängen will812. V. Ausstrahlungswirkung vorangegangener Prognosen Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Umgang mit der Tatverleugnung findet sich in der Rechtsprechung ein Hinweis, den man unter dem Begriff der ÄAusstrahlungswirkung³ vorangegangener Prognosen einordnen kann. Das OLG Saarbrücken etwa nimmt darauf Bezug, dass bei der Anordnung von Vollzugslockerungen nach § 11 Abs. 2 StVollzG eine Prognose zu stellen ist, die sich dann Änicht als unrichtig³ erweise, wenn sich der Verurteilte bei der Lockerungsmaßnahme bewährt813. Damit steht die Frage im Raum, in welchem Verhältnis die Entlassungsprognose zu vorgelagerten Lockerungsprognosen steht. Muss einem leugnenden Täter jede Lockerung versagt werden? Ist umgekehrt die ÄBewährung³ bei einer Lockerung der entscheidende Hinweis für die Entlassungsprognose? In der Praxis jedenfalls ist eine solche vorherige ÄBewährung³ in Vollzugslockerungen oft (allerdings nicht immer und zwangsläufig) Voraussetzung für die Aussetzung des Strafrests, die Gewährung von Vollzugslockerungen wird also als wichtige Weichenstellung in Richtung auf eine vorzeitige Entlassung gesehen. Umgekehrt ist für die Vollzugsanstalt die Aussicht auf eine bevorstehende Entlassung in absehbarer Zeit in der Regel Voraussetzung dafür, mit ___________ 809
Schmitt, BewHi 1996, 3, 5 ff. und 10; Schmitt geht davon aus, dass lediglich ein Drittel der wegen Sexualstraftaten Inhaftierten zu ihren Taten steht, ein weiteres Drittel lediglich Teilaspekte zugibt und das verbleibende Drittel die Tat leugnet. 810 Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161. 811 Schmitt, BewHi 1996, 3, 9. 812 Kröber 1995, S. 75. 813 OLG Saarbrücken, NJW 1999, 438, 438.
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Vollzugslockerungen zu beginnen. Die ÄErprobung³ in solchen Lockerungen gilt also als Vorstufe zur Entlassung im Sinne einer Überprüfung des Behandlungserfolgs814, ohne Erprobung nehme der Betroffene bei seiner Entlassung eine etwa fortbestehende Gefährlichkeit Äin die Freiheit mit hinaus³815. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesentliche Unterschiede zwischen Lockerungs- und Entlassungsprognosen bestehen. Zunächst einmal verdeutlicht bereits die Verschiedenheit der Entscheidungsträger ± Vollzugsbehörde oder Strafvollstreckungskammer ±, dass Lockerungs- und Entlassungsprognose formal unabhängig sind.816 Auch inhaltlich zeigen sich erhebliche Unterschiede. Eine Verhaltensprognose bei Außenbeschäftigung, Ausgang oder Urlaub ist zeitlich und situativ stärker eingegrenzt als eine Prognose bei Entlassung.817 Lockerungsprognosen können sich auf einen hohen Grad von Bekanntheit des Probanden und auf eine genaue Kenntnis relativ konstanter situativer Bedingungen stützen.818 Es stehen mehr Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung und eventuell auftretende Konflikte bzw. Anreize sind besser überschaubar. Die Risiken sind also insgesamt besser kontrollierbar als bei Entlassungsprognosen819, Lockerungen eben nicht der letzte Schritt in die ganze Freiheit, sondern vorausgehende Schritte in eine Teilfreiheit820. VI. Ausgewählte Ableitungszusammenhänge von Ableugnen und Prognoseergebnis 1. Tatverleugnung als Beurteilungshindernis Ein konkreter Ableitungszusammenhang zwischen Tatverleugnung und Prognoseergebnis kann sich bereits daraus ergeben, dass ein Ableugnen Beurteilungshindernis ist. Eine Vielzahl von prognostischen Kriterien existiert allerdings unabhängig von den Äußerungen des Probanden, weshalb ohne ein Eingehen darauf die fehlende Möglichkeit einer Prognoseerstellung erklärungsbe___________ 814
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81 ff., der auch darauf hinweist, dass dieser Gedanke in den Gesetzesbestimmungen keine ausdrückliche Stütze findet. Im Gegenteil lege § 11 StVollzG tendenziell sogar einen strengeren Maßstab an als § 57 StGB, der explizit eine Güterabwägung verlange. Ganz offensichtlich bestehen auch Unterschiede im Hinblick auf die psychologische Lage, in denen die Entscheidungen nach § 11 StVollzG und § 57 StGB getroffen werden. 815 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 166. 816 Dazu Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81 ff. 817 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81. 818 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 166. 819 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81. 820 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 187.
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dürftig ist. Anderenfalls würde auf die Masse der prognostischen Kriterien verzichtet, die neben der äußeren Haltung des Probanden den prognoserelevanten Bereich seiner seelischen Landkarte konturieren. Eine Tatverleugnung erscheint auch nicht von vornherein als Zugangshindernis für Erkenntnisse über das Tatgeschehen einschließlich der Beziehung des Täters dazu. Anderenfalls wären die Probandenangaben unverzichtbare Bedingung einer Erfassung der äußeren und inneren Tatseite, was aber schon deshalb nicht sein kann, weil die vorhandenen Erkenntnisse über die Tat für ein Strafurteil offensichtlich ausgereicht haben. Damit ist bei Einstufung der Tatverleugnung als Zugangshindernis zumindest erklärungsbedürftig, was der Prognostiker gänzlich anderes als der strafende Richter wissen möchte. Zudem kann aus einem anderen Grund nicht davon gesprochen werden, dass ein Ableugnen grundsätzlich den Zugang zu Probandenvorstellungen über das Tatgeschehen vollständig blockiert. Der Betroffene muss nämlich einen Gegenentwurf anbieten und sei es nur durch sein Schweigen. Auch wenn der Proband zur eigentlichen Tat kaum etwas sagen will oder kann, erschließt sich der Inhalt dieser Äblack box³ nicht selten aus einer verstehenden Erarbeitung der Biographie zuvor und seither.821 Zudem wird der Proband wohl zu der Frage Stellung beziehen, wie es denn überhaupt zu Verdächtigung und Aburteilung gekommen ist. Bei einer teilweisen Tatverleugnung geht zudem die Haltung zur Tat oft implizit aus der Schilderung des Tatablaufs hervor. So können wichtige Sachverhalte weggelassen, bagatellisiert oder beschönigt, Abläufe umgeordnet oder neu zusammengesetzt werden. So etwas aber offenbart im Abgleich mit der Beweislage möglicherweise wesentliche Aspekte der inneren Haltung, die Stellungnahme des Probanden zur Tat ist insoweit also weniger von der reinen Faktenschilderung als von den impliziten Bewertungen und Bezugnahmen her eine bedeutsame Information822. Auf eine kriminalistische oder rechtsdogmatische Genauigkeit kommt es dabei nicht so sehr an, vielmehr zeigt sich die emotionale und personale Stellungnahme des Betroffenen zur Tat deutlicher darin, wie er in juristisch untechnischem Sinne seine Schuld sieht, wobei es dafür eine Fülle von Möglichkeiten gibt. So kann die von ihm angebotene Interpretation der Tat beispielsweise Schuldzurückweisung oder Signal sein, aus einer Katastrophe nichts gelernt zu haben. Sie dient möglicherweise dazu, das Problem für weitere Auseinanderset___________ 821 822
So Kröber 1995, S. 77. Kröber 1995, S. 77.
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zungen offen zu halten oder soll im Gegenteil helfen, einen vorläufigen Abschluss zu finden, um sich nicht an der Tat zu verzehren, sondern einen neuen Weg einschlagen zu können823. Ohnehin würde eine grundsätzliche Abhängigkeit des Prognoseergebnisses vom Probandenverhalten den Versuch einer Objektivierung schutzlos den Möglichkeiten einer Irreführung ausliefern. Dies aber ist mit dem wissenschaftlichen Anspruch einer prognostischen Bewertung unvereinbar. Es käme einer Bankrotterklärung der beteiligten Fachdisziplinen gleich, wenn sich der Zugang zum Bedeutsamen nur über Hinweise des Betroffenen zeigte. Wären Verhaltensbeurteilungen zwingend auf die Mitarbeit des Betroffenen angewiesen, hinge die Gestaltung der Resultate von seiner Gunst ab, was eine Vereinigung von Untersuchungsgegenstand und -ergebnis bedeuten würde824. Mit dem Extrembeispiel eines halluzinierenden Patienten ist daher auch schnell belegt, warum Probandenangaben nicht unmittelbar und ungefiltert in das Ergebnis einfließen sollten, denn anderenfalls müsste der Untersucher beispielsweise beim Teufelswahn festhalten, dass er dem Leibhaftigen gegenübergestanden habe. Im Grunde genommen tritt hier keine andere Differenzierung zu Tage als bereits bei Systematisierung des Leugnungsproblems festgestellt: Was ein Mensch nach außen trägt, ist nicht zwingend dasjenige, was wirklich in ihm vorgeht, und dies ist dem Juristen ebenso wie dem Erfahrungswissenschaftler nur allzu geläufig. Eine unmittelbare Berücksichtigung des Leugnens als Beurteilungshindernis widerspricht also ebenso juristischen wie erfahrungswissenschaftlichen Grundvorstellungen über die kritische Auseinandersetzung mit der äußeren Haltung eines Menschen. Insbesondere eine Verbaläußerung ist kritisch zu würdigen und kein Grund dafür ersichtlich, warum dies bei der Frage des Ableugnens anders sein sollte. Der Proband ist mit anderen Worten möglichst objektiv zu erfassen, damit aber verträgt sich der unreflektierte Bezug auf das Probandenverhalten nicht. Auch eine Mauer des Schweigens verwehrt nicht notwendig den Zugang zu dem, was sich dahinter verbirgt, weisen doch beispielsweise oft nonverbale Äußerungen einen Weg, an dessen Ende sich die Unvollständigkeit der Umschließung zeigt. Es kann somit nicht die Rede davon sein, dass der Zugang zu den relevanten prognostischen Kriterien zwingend über die Probandenangaben führt und damit eine Tatverleugnung diese Tür versperren muss. Keinesfalls ist es also so, dass aufgrund einer Tatverleugnung grundsätzlich Klärung bzw. Aufar___________ 823
Kröber 1995, S. 73. Ganz von dem Umstand abgesehen, dass es überhaupt keine Gewähr für die Richtigkeit der Probandenangaben gibt, selbst wenn dieser guten Willens ist. 824
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beitung der Tatursachen unmöglich und daher die notwendige Sicherheit bei der Prognoseerstellung nicht erreichbar sei825. Allein mit dem bloßen Hinweis auf ein Ableugnen lässt sich also ein relevantes Fehlen von prognostischen Beurteilungsmöglichkeiten nicht begründen. Das Gespräch mit dem Probanden über die Tat gibt vielmehr nicht nur bei einem Geständnis Aufschluss über Haltungen oder Gewissensbildung, sondern beleuchtet wesentliche Aspekte der Persönlichkeit auch bei einem Ableugnen. Auch dann ist es ein so wichtiger Schritt zum Verständnis von Persönlichkeit und Lebensschicksal des Probanden, dass Kröber von einem ÄKnotenpunkt der Exploration³ spricht826. Auf keinen Fall darf es um Unterwerfung, Reuebekundungen oder eine Ärichtige³ Einstellung zur Tat gehen. Es sollte berücksichtigt werden, dass gerade die Forderung nach einem Tateingeständnis selbst ein Beurteilungshindernis schaffen kann, denn sie birgt die Gefahr, Verfälschungen der prognostischen Beurteilungsgrundlagen zu provozieren, indem der Gefangene sich möglicherweise nicht mehr so zeigt, wie er eigentlich ist. Unter Umständen unterwirft er sich dem äußeren Druck einer Geständnisforderung, trifft also keine freie Entscheidung mehr hinsichtlich seines Verhaltens. 2. Zur kriminalprognostischen Bedeutung der Tatursachen Überlegungen zur Tatverleugnung als Beurteilungshinderns sind eng mit der Frage verknüpft, welche prognostische Relevanz die früheren Strafbarkeitsbedingungen haben. Möglicherweise sind sie unabdingbare Voraussetzung prognostischer Gewähr, denn künftige Straffälligkeit scheint mit nichts enger verbunden als mit den Verhaltensbedingungen begangener Straftaten. Sie sind Beleg dafür, dass es in der individuellen Biographie Gründe für Straffälligkeit gibt; ganz offensichtlich besteht unter Bedingungen wie zum Zeitpunkt der Tatbegehung eine Delinquenzgefahr. Die Straftat beweist quasi, dass bestimmte Verhaltensbedingungen den Probanden zur Straftat verleiten, eine Persistenz der Tatumstände also zur Straffälligkeit führen muss. Ein Gleichbleiben der Bedingungen kann es jedoch schon deshalb nicht geben, weil die Tat selbst neue Bedingungen schafft, etwa weil eine Reaktion darauf erfolgt827. Die in die Tatbegehung einmündende Gefährlichkeit mit ihrem ___________ 825
So OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 2 ff. Kröber 1995, S. 79. 827 Und sei es nur dahingehend, dass der Betroffene sich durch den Erfolg seiner Tat bestätigt fühlt. 826
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besonderen Bedingungsgefüge ist also im Moment dieser Tatbegehung überholt. Bei der Prognoseerstellung aber geht es grundsätzlich um aktuelle, nicht um frühere Einstellungen zum geltenden Recht, die Klärung der Ähistorischen³ Tatursachen liefert jedoch nur eine Aussage zu letzteren. Sie kann deshalb von großem Interesse für die Prognoseerstellung sein, weil sie individuelle Bedingungen von Straffälligkeit dokumentiert, die aber stets auf ihre Aktualität hin geprüft werden müssen. Das frühere Geschehen hat höchstens Indizwert; es kann eine gezielte Untersuchung ermöglichen, nicht jedoch einen aktuellen Zustand bestätigen. Hier gilt, was bereits im Zusammenhang mit den Anforderungen an methodische Einzelvorgaben dargelegt wurde: Der Blick in die Vergangenheit ist bei Prognosen nicht nur notwendig828, sondern auch deshalb sinnvoll, weil sich selten alles in einer Biographie ändert. Die erfahrungswissenschaftliche Prognose hat jedoch die Bewertung der aktuellen kriminellen Gefährdung zum Ziel, weshalb prognostisch relevante Umstände nicht nur ermittelt, sondern auch in ihrer aktuellen Bedeutung für die gegenwärtige Lebenswirklichkeit des Probanden zu bestimmen sind. Verhaltensweisen und Lebensumstände müssen im Beurteilungszeitpunkt wirksam sein, wenn sie prognostische Relevanz haben wollen, denn ohne gegenwärtige Geltung gibt es keine Anhaltspunkte für zukünftige Wirkung. Die Sicherheit der Prognoseerstellung steht und fällt daher nicht mit Klärung und Aufarbeitung historischer Tatursachen, sondern mit Kenntnissen über die aktuelle Bereitschaft zur Deliktsbegehung. Erklärung und Vorhersage von Kriminalität sind insoweit gegeneinander abzugrenzen, die Beziehung eines Wirklichkeitsumstands zu begangenen Straftaten etwas anderes als die zu fiktiven Straftaten. Die Kriminalprognose hat nicht zur Aufgabe, Kriminalität im Einzelfall zu erklären, sondern vorauszusagen. Dafür sind die situativen äußeren Umstände der früheren Tat ohne Bedeutung, relevant sind allein persistierende kriminorelevante Umstände, die auch aktuell eine Manifestation erwarten lassen. Maßgeblicher Gegenstand des prognostischen Interesses ist also die bestehende Fehl-Haltung, nicht das frühere Fehl-Verhalten. Die Straftat ist Ausdruck von Verhaltenstendenzen, die es zu beeinflussen gilt.829 Sie sind vorrangig von Interesse, nicht das frühere Tatgeschehen als statisches Kriterium, auch wenn die Art der Tatbegehung eine hervorragende Informationsquelle bieten kann830. Die Erforschung der Tat ist aus kriminologi___________ 828
Dazu z. B. Urbaniok, KR 2003, 169, 170. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 337. 830 Urbaniok, KR 2003, 169, 173. 829
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scher Sicht also von Persönlichkeit und Lebensverhältnissen des Täters nicht zu trennen831, wobei die Tat auf grundlegende Persönlichkeitsmerkmale, aber auch auf eher situative oder lebensphasische Bedingungen zurückzuführen sein kann832. Entsprechend wird traditionell danach geschaut, ob eher überdauernde, persönlichkeitseigene Faktoren für die Tat(en) verantwortlich waren oder eher vorübergehende, gar unwiederholbare, situative Faktoren.833 Stets ist herauszuarbeiten, worin die Ädurch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit“834 bestanden hat, wobei davor gewarnt wird, den Bereich des Situativen und Unwiederholbaren zu überschätzen835. Es ist also danach zu fragen, welche überdauernden Wahrnehmungsweisen, Einstellungen und Verhaltensmuster an die frühere Delinquenz herangeführt und die Entscheidung zum Delikt unmittelbar gefördert haben.836 Insofern interessiert die Tat nicht unter der Fragestellung, wie der Täter sich mit ihr inzwischen auseinandergesetzt hat, sondern einzig im Hinblick darauf, ob eine Wiederholung zu erwarten ist837. Entsprechend kann eine vorzeitige Entlassung eher verantwortet werden, wenn die frühere Tat in hohem Umfang Ausdruck einmaliger, situativer Bedingungen war.838 Als Aussage darüber, nicht jedoch um ihrer selbst willen, ist die Auseinandersetzung mit der Tat von Interesse. Liegt jedoch tatsächlich eine Fehlhaltung und nicht (nur) ein einmaliges Fehlverhalten vor, so ist zu erwarten, dass sie auch weiterhin aufgespürt werden kann. Insbesondere erschließen sich persistierende Verhaltensbedingungen ohne das Bekenntnis zum früheren Geschehen, zumindest ist die Ermittlungsmöglichkeit nicht an das ausdrückliche Zugeständnis einer Täterschaft geknüpft. Eine Grundeinstellung beschränkt sich gerade nicht auf eine spezielle Handlungsform839, sondern prägt ihrem Wesen nach das Denken und Handeln840. Ihre Erfassung muss nicht zwingend auf eine unmittelbare Erörterung des Tatgeschehens angewiesen sein, ein übermäßiger Hang zum Geld beispielsweise wird sich ___________ 831
Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 335. Kröber 1995, S. 72. 833 Rasch 1999, S. 376. 834 So die Formulierung in § 454 Abs. 2 S. 2 StPO. 835 Kröber, NStZ 1999, 593, 597. 836 Kröber, NStZ 1999, 593, 594. 837 Dazu Kröber 1995, S. 72. 838 Kröber 1995, S. 77. 839 Wie etwa Straffälligkeit, die ohnehin nur durch die Verletzung des Strafgesetzes charakterisiert ist, also ihrerseits eine unüberschaubare Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten zulässt. 840 Duden 1999, S. 1653 (Stichwort: ÄHaltung³). 832
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auch ohne einen Bezug auf Straftaten zeigen841. Der Nachweis einer solchen Fehlhaltung außerhalb einer Straftat ist im Übrigen eine selbstverständliche Grundannahme der Kriminalprognose. Als Vorhersage künftiger Straffälligkeit wird sie in einer deliktsfreien Gegenwart erstellt und wäre von vornherein unmöglich, wenn sie Deliktsbedingungen nur in straffälligem Verhalten selbst erkennen würde. Die Kenntnis früherer Täterschaft ist prognostisch also etwas völlig anderes als der Einblick in kriminorelevante Grundhaltungen, über die der Hinweis auf die Tatverleugnung selbst folglich nichts aussagt. Auch Befürworter einer negativen Berücksichtigung des Ableugnens können im Leugnen nur den Ausdruck bestimmter Fehlhaltungen sehen, wie etwa mangelnde Reue oder fehlende Einsicht in das Tatunrecht. Deshalb verlangt die prognostische Bewertung der Tatverleugnung eine Auseinandersetzung damit, ob die fraglichen Fehlhaltungen bestehen, das heißt möglicherweise auch andere Ausdrucksformen haben. Darauf ist abzustellen, nicht auf das Fehlen eines Geständnisses. 3. Zur kriminalprognostischen Bedeutung des Geständnisses Vom Geständnis war bei Erarbeitung der denklogischen Betrachtungsebenen des Ableugnens schon einmal als Gegenbegriff des (auch schweigenden) Ableugnens die Rede. Was sich aus prognostischer Sicht mit dem Eingeständnis der Tat verbindet, ist möglicherweise das Negativ zum prognostischen Bild des Ableugnens und verdient daher die Aufmerksamkeit des Leugnungsproblems. Tatsächlich erscheint das Geständnis in manchem als Antipode der Tatverleugnung: Drückt dieses eine Unterwerfung unter religiöse bzw. kulturkreisbedingte Regeln aus, ist jene nur unter Missachtung dieser Regeln denkbar. Hält die Rücksicht auf Angehörige ein Leugnen aufrecht, kündigt ein Geständnis diese Rücksichtsnahme auf; den aus Angst vor Mitgefangenen verschlossenen Mund öffnet nur das notwendige Quäntchen Mut. Dabei muss diese Wechselseitigkeit von Geständnis und Ableugnen gar nicht als zwingend behauptet werden, um einem Geständnis ganz unterschiedliche prognostische Wertigkeiten zuschreiben zu können842. Dass ein Einräumen der Tat prognostisch günstig ist, erscheint daher zunächst ebenso als bloße Behauptung wie diejenige von der ungünstigen Wirkung eines Ableugnens. Allerdings liegt die prognostisch günstige Bewertung des Tateingeständnisses nahe, impliziert dieses doch aktive, bekundete Unterordnung unter die Macht und den ge___________ 841 Zumal der Proband hinsichtlich der Erörterung des Tatgeschehens ja gewarnt ist und in diesem Zusammenhang ggf. größere Zurückhaltung übt. 842 Vgl. dazu die differenzierten Vorgaben des ÄFOTRES³ zur Analyse eines Tateingeständnisses (Urbaniok 2004, S. 371 ff.). Siehe auch Enßlin 2003, S. 260 f. m. w. N.
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sellschaftlichen Kanon. Insoweit verwundert nicht, dass ÄGeständniszwang³ vormals als Teil von Erziehung und Charakterbildung ± etwa in Beichtstühlen ± geübt wurde und auch heute noch Bedeutung hat, indem er als ÄGeständnisdrang³ oder ÄGeständnisarbeit³ in verschiedene Bereiche der Pädagogik oder Therapie eingebunden ist. Dies ist auch für die Strafjustiz von Belang, will sie doch ebenfalls bessern, erziehen oder heilen. So liegt der Zusammenhang nahe: Ohne Geständnis keine Einsicht, ohne Einsicht keine Besserung843. Auch der Mangel an Literatur zur prognostischen Bedeutung des Geständnisses scheint zu belegen, dass eine günstige Bewertung selbstverständlich ist.844 Zudem sprechen einfache Beobachtungen aus dem Alltag dafür: In der direkten Begegnung zwischen zwei Menschen ermöglicht das Geständnis, ein Zerwürfnis zu beenden; es bietet Befreiung von Gewissenslasten und stellt in Aussicht, unter Inkaufnahme einer Sanktion die verständnisvolle Zuwendung des anderen zu erreichen.845 Entsprechend lassen sich aus gerichtlichen Entscheidungen Gesichtspunkte identifizieren, die in möglichem Zusammenhang mit einer positiven prognostischen Geständniswirkung stehen. Wenn etwa von Selbstkritik846, Realitätseinschätzung847, Unrechtseinsicht848, Schuldverarbeitung oder sozialer Anpassung849 die Rede ist, lässt sich das leicht mit einem Geständnis in Verbindung bringen und durch Begriffe wie Scham, Reue oder Mitleid ohne Schwierigkeiten erweitern. Jedoch zeichnen auch andere Begriffe einen Weg zum Geständnis vor, die weniger mit günstigen prognostischen Wirkungen in Verbindung stehen. Vor allem unter den Bedingungen des Strafverfahrens liegen die Dinge etwas anders, wofür die Rechtsprechung mit dem Stichwort des taktischen Geständnisses ebenfalls ein Beispiel gibt850. Ein solches Einräumen der Tat steht eher mit realen Gegenleistungen (wie zum Beispiel Strafmilderung) als mit edelmütigen Motiven (wie etwa Läuterung oder Befreiung von einer Gewissenslast) in Beziehung. Im Saldo einer vordergründigen Vorteilserlangung können ganz pragmatische und eigennützige Motive ein Geständnis wesentlich ratsamer erscheinen lassen als ein Leugnen, etwa weil der Prozessverlauf nur bei einem Tatbe___________ 843
Vgl. Kröber 1995, S. 69. So Kröber 1995, S. 70. 845 Kröber 1995, S. 69. 846 OLG Hamm, StV 1988, 348, 349. 847 OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 848 OLG Hamm, StV 1997, 92, 92. 849 OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. 850 OLG Koblenz - 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002. 844
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kenntnis noch auf Milde hoffen lässt851. Auch die Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung kann eher zum Ablegen eines Geständnisses verleiten, als der Wunsch, dem Opfer oder seinen Angehörigen damit eine lang ersehnte Klarheit zu verschaffen. Ohne die Aufzählung fortführen zu müssen, werden damit unmittelbare, greifbare, aber prognostisch bedeutungslose oder gar ungünstige Motive sichtbar, die zu einem Eingeständnis verleiten können852. So sehr dies zur Entzauberung des Tateingeständnisses auch beiträgt, das reziproke Verhältnis von unmittelbar realem und mittelbar prognostischem Wert lässt sich ohne weiteres erklären: Je weniger greifbar die Vorteile eines Geständnisses sind, desto stärker muss die ideelle Motivation für ein öffentliches Schuldbekenntnis sein.853 Ein Defizit an vordergründig-sichtbaren Vorteilen macht eine Selbstbezichtigung nur bei Überwiegen an innerlich-verborgenen Anreizen plausibel, anderenfalls würde die Gesamtheit der Motivationen und Hemmungen nicht im Saldo eine Entscheidung für das Geständnis erbringen. Gleiches gilt auch für das Ableugnen der Tat, weshalb das OLG Saarbrücken854 völlig zu Recht nach realen Vorteilen durch eine Tatverleugnung fragt. Denkbar ist auch, auf den prognostischen Nutzen der Verbalisation selbst abzustellen, wie es Stüttgen855 mit Blick auf Maßregelpatienten tut. Er behauptet, die sprachliche Darstellung eines Verhaltens beinhalte ein retardierendes Moment, das sich zwischen Impulshaftigkeit und Tatdurchführung denken ließe. Es bilde eine Barriere gegen die Tatbegehung, die bei psychisch kranken Straftätern als Folge der Krankheit zu Teilen oder im Ganzen fehle. Je detaillierter nun ein Maßregelpatient seinen Tathergang verbalszenisch darstellen könne, desto mehr sei er in der Lage, sich von seinem unmittelbaren Tatverhalten zu distanzieren. Dieser Auffassung von Stüttgen hat Kröber allerdings zu Recht entgegengehalten, dass sich psychische Krankheit nicht auf Impulsivität reduzieren lasse. Dies steht beispielsweise im Widerspruch zu den oftmals lan___________ 851
Siehe auch Kröber 1995, S. 69, der auch auf den großen Nutzen Bezug nimmt, der ein solches Geständnis dennoch hochwillkommen macht: Es kann ± insbesondere In Prozessen wegen Sexualstraftaten gegen Frauen oder Kinder ± die weitere Beweisaufnahme und damit den Geschädigten eine Einvernahme als Zeugen mit Erörterung traumatischer Erfahrungen ersparen. 852 Dabei wird u. U. auch eingeräumt, was garnicht begangen wurde, weil beispielsweise das Geltungsbedürfnis des Trittbrettfahrers durchschlägt oder Ritterlichkeit andere vor Ungemach schützen soll. 853 Es gelten also ähnliche Abhängigkeiten im Verhältnis von innerer Haltung und äußerem Druck, wie sie von Schüler-Springorum et al. (MschKrim 1996, 147, 161) im Hinblick auf das Zustandekommen des Delikts formuliert wurden. 854 NJW 1999, 438, 438. 855 Zitiert bei Kröber 1995, S. 77.
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gen und eingehend geplanten, psychotisch motivierten Taten, welche die Patienten zudem oft recht gut erläutern können.856 Um den prognostischen Wert eines Geständnisses zu erfassen, muss daher ± wie bei der Tatverleugnung ± nach den unmittelbaren und greifbaren Vorteilen gefragt werden, die der Geständige durch sein Bekenntnis erlangt. Dabei erscheint manches Eingeständnis gerade nach anfänglichem Leugnen in einem anderen Licht. Registriert der Betroffene beispielsweise eine Geständniserwartung der Entscheidungsträger, so gibt er einem sorglosen Umgang mit der Wahrheit Ausdruck, wenn er die Erwartung allein zur Verbesserung seiner Erfolgsaussichten erfüllt. Wahrhaftigkeit wird hier funktionalisiert, ein fehlender Sinn für ihre Bedeutung durch Gleichgültigkeit dokumentiert. Ein Einräumen der Tat in dieser Situation ist nicht Ausdruck eigener und notwendiger Überzeugungsbildung, sondern eilfertige Anpassung an Organisationserwartungen. Dabei ist soeben mit dem Vorverhalten ein Gesichtspunkt zur Sprache gekommen, der für den Umgang mit der Tatverleugnung von wesentlicher Bedeutung ist: Wer nach anfänglichem Leugnen gestehen will, muss sich nicht nur der Tat, sondern auch der Lüge bezichtigen. Dies aber ist möglicherweise die wesentlich größere Hürde, weil der Makel der Unwahrheit in der aktuellen Lebenssituation stärker beeinträchtigt als die ± bereits faktische ± Identität des Verbrechers. Über die Grenzen von Religion, Moral oder Gesetz hinweg kommt deutlich eine Missbilligung gegenüber der Unaufrichtigkeit zum Ausdruck. Die Beziehung zu den ÄOpfern³ des Leugnens kann die Lebenswirklichkeit des Probanden wesentlich stärker bestimmen als die Beziehung zu den Opfern der Straftat, das heißt die sozialen Bezüge durch das Bekenntnis zur Unwahrheit wesentlich stärker beschädigt werden als durch das Bekenntnis zur Straftat.857 Der anfänglich leugnende Täter hat zudem das Problem, dass die Änderung der äußeren Haltung nicht nur Auswirkungen auf das Fremd-, sondern auch auf das Selbstbild haben kann. Er hat möglicherweise eine achtbare und stabile Identität nur dadurch erlangt, dass er sich nach außen hin von der Tat distanzie___________ 856
Kröber 1995, S. 77. Darauf nimmt auch das OLG Hamm (StV 1988, 348, 349) Bezug indem es betont, dass dem Verurteilten sehr viel daran liege, sein Gesicht als zu Unrecht Verurteilter zu wahren. Es sei zu berücksichtigen, dass die Angehörigen zu ihm halten und an seine Unschuld glauben, was den Verurteilten daran hindere, seine Schuld einzugestehen, wenn er nicht eine Abwendung seiner Familienangehörigen in Kauf nehmen wolle. Das Gericht sieht darin sogar einen wichtigen Anreiz für künftiges Legalverhalten, weil der Verurteilte damit seine Familienangehörigen in ihrer Überzeugung von seiner Unschuld bestärken würde. 857
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ren konnte, mit dem Eingeständnis aber wird ihm dann der Glaube an sich selbst genommen858. 4. Zur kriminalprognostischen Bedeutung von Reue und Scham Gerade die Wirkungen eines Schuldbekenntnisses veranschaulichen den Unterschied von forum internum und forum externum: Zur Scham als interner Kontrollschranke kommt noch die konkret erlebte Scham gegenüber anderen859, was ± ebenso wie jede andere negative Auswirkung der äußeren Verantwortungsübernahme ± davon abhalten kann, etwas von der Unrechtseinsicht und den damit verbundenen Gefühlen sichtbar zu machen. Dies kann auch dann gelten, wenn innerlich bereits eine ausreichende Barriere gegenüber erneuter Straffälligkeit aufgerichtet wurde, so dass eine Verleugnung bzw. Bagatellisierung nach außen einer vorhandenen Unrechtseinsicht nicht entgegenstehen muss. Gerade für die Reue gilt, dass eine Wirkung vor dem forum internum nicht auch auf das forum externum durchschlagen muss, da durchaus Motive denkbar sind, aus denen heraus der reumütige Betroffene eine begangene Tat ableugnet. In der prognostischen Beurteilung ist es daher gerade beim Bezug auf Reue und Scham unerlässlich, korrespondierende Bedingungen zu berücksichtigen. Hinzuweisen ist hier zunächst auf den wesentlichen Unterschied von Tatreue und Tatfolgenreue; der Täter kann die Straftat aus sozialen oder moralischen Gründen für inakzeptabel halten, er kann aber auch nur über die Folgen bestürzt sein, die ihn ± etwa durch Freiheitsentzug oder entgangene Vorteile ± getroffen haben. Was also Gegenstand der Reue ist, wird damit selbst bei einem Bekenntnis dazu näher zu bestimmen sein. Reue steht in unmittelbarer Nähe zur Scham und damit zu einem Gefühl, das ein Eingeständnis eigener Verfehlungen eher erschwert. Reue ist das tiefe Bedauern über ein als falsch empfundenes, früheres Verhalten860 und damit der Scham als jenem quälenden Gefühl sehr ähnlich, sich eine Blöße durch Versagen gegeben zu haben861. Scham bezieht sich auf eine wahrgenommene Schwä___________ 858
Siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. Insoweit ist zwischen imaginärer und tatsächlicher Konfrontation mit der Außenwelt zu unterscheiden: Menschen schämen sich vor Anderen für etwas, haben dabei also stets externe Bezugspersonen im Blick. Die Beziehung zu ihnen kann aber auf die Vorstellung beschränkt bleiben, dass heißt auch als fiktive, (bloß) intrapsychische Interaktion stattfinden. Es genügt also der imaginierte Blick eines imaginären anderen zur Entstehung von Schamgefühlen, ohne dass die Außenwelt tatsächlich Kenntnis nehmen oder reagieren muss (vgl. Raub 1997, S. 29, Karstedt 1996, S. 23, Münster 2006). 860 Duden 1999, S. 3188. 861 Duden 1999, S. 3319. 859
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che, die sich vor einem inneren Ideal oder einer anderen Personen gezeigt hat, stets besteht das Schamerlebnis in einer Erniedrigung oder Kränkung des Selbstgefühls bzw. Selbstwertgefühls.862 In der hilflosen Lage einer ÄSchamszene³ entsteht das Bedürfnis, sich den Augen der anderen zu entziehen bzw. Äin die Erde zu versinken³.863 Dabei ist Schamhaftigkeit ein unverzichtbarer Schutz gegen traumatische Entblößung vor sich oder anderen, um den verletzlichen Persönlichkeitskern im Sinne einer Äinneren Grenze³ vor Beschädigungen zu bewahren.864 So wird plausibel, womit im Zusammenhang der notwendigen Differenzierung von innerer und äußerer Haltung bereits argumentiert wurde, dass nämlich ein Aussprechen gerade beschämender Dinge sehr viel Überwindung kosten kann865. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass das Ansprechen einer Verfehlung Scham und Schuldgefühle verursacht, solche negativen Gefühle aber wirken sich als Hemmnis aus und erschweren dem Täter, wirklich offen zu sein866. Dies kann soweit gehen, dass er zu einer Konfrontation mit dem Tatgeschehen zunächst gar nicht in der Lage ist.867 Mancher kann aus seinem Selbstverständnis heraus nicht damit leben, eine Tat wie die eigene begangen zu haben, bezieht sich das Inkompatible dann auch noch auf den affektiven Anteil des Tatgeschehens, so erscheint dieser oft als persönlichkeitsfremd. Leugnen lässt sich damit sogar gerade als Ausdruck von Scham denken, denn Distanzierung von einem Umstand kann auch bedeuten, dass man ihn ± wie zum Beispiel eine Tatbegehung ± von sich weist. Auch so kann man hinsichtlich des Tatvorwurfs dokumentieren, dass man ihn als inakzeptabel für die eigene Person ansieht. So betrachtet wird Leugnen zur Abkehr, zur deutlichen Abwendung vom fraglichen Verhalten, da es als völlig unvereinbar mit dem eigenen Selbst erscheint868, auch wenn dies natürlich Bedenken hinsichtlich der Realitätseinschätzung weckt. Etwas provokativ lässt sich damit formulieren, dass eine routinierte, teilnahmslose Präsentation eigener Schuld fragwürdiger erscheinen kann als schamhaftes Ableugnen, zumal mitunter auch die latente Furcht be-
___________ 862
Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 104 ff. Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 105. 864 Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 105 m. w. N. 865 Vgl. dazu Kröber 1995, S. 73. 866 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 154. 867 Kröber 1995, S. 72. 868 Dies soll prognoserelevante Auswirkungen auf und durch eine Realitätseinschätzung hier ausdrücklich offenlassen. 863
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steht, mit der Zuschreibung der Tat als verrückt bzw. psychisch gestört zu gelten869. Die Tatverleugnung lässt sich damit ebenso als Symptom der Reuelosigkeit wie als Ausdruck von Scham und damit einer besonderen Distanz zum Geschehenen interpretieren, so dass ein eindeutiger Zusammenhang von Ableugnen und Reue bzw. Scham verneint werden muss. Etikettierungsansätze870 jedenfalls bestärken in einer solchen Ansicht; in ihrem Sinne lässt sich ein Leugnen auch als Notwendigkeit zum Erhalt einer achtbaren Identität deuten, indem es die eilfertige Übernahme des Stigmas hindert. Selbst bei kontrafaktischem Lügen kann daraus zumindest sprechen, dass der Proband an sich glaubt.871 Gerade wenn ein Gefangener trotz überwältigender Beweise in Äabsurder³ Weise seine Tat leugnet, lässt sich dies damit erklären, dass ein Schuldeingeständnis nicht primär eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld bedeuten muss, sondern eher als Beschämung und Verschärfung der Selbstwertbeschädigung erlebt wird872. Statt mit Beschuldigung und Schuldannahme kann der Gefangene ein Tateingeständnis in erster Linie mit Beschämung und Annahme eines unakzeptablen Selbst-Anteiles verbinden873, ohne dass daraus eine Aussage über das künftige Legalverhalten abgeleitet werden kann. Überzogene Selbsterforschung und Selbstbezichtigung aber nehmen dem Probanden möglicherweise den verbleibenden Rest des Glaubens an sich selbst.874 Zudem müssen es nicht unbedingt die Instanzen der Strafrechtspflege sein, gegenüber denen sich der Betroffene reumütig zeigt. Leugnen gegenüber Vollzugsbediensteten, Richtern oder Sachverständigen heißt nicht automatisch unterbliebenes Eingeständnis der eigenen Schuld, denn möglicherweise ist dies gegenüber einer Person des Vertrauens längst erfolgt875. Studien und Theorien jedenfalls belegen die Möglichkeit, dass der Strafrechtspflege eine bloß nach___________ 869
Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161. Dazu Göppinger 1997, S. 133 ff.; Albrecht 1999, S. 42 f.; Bock 2000, S. 80 ff. 871 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 872 Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 107. 873 Deshalb wird auch von Selbstanklage oder Selbstbezichtigung gesprochen, denn das Geständnis ist mehr als die bloße Schilderung belastender Tatsachen. Nach Einschätzung von Verrel (NStZ 1997, 415, 419) wird es im Regelfall als demütigend empfunden, ein Fehlverhalten gerade Ämit eigenen Worten³ einräumen, sich durch die Darlegung seiner Tat gleichsam selbst als Straftäter kennzeichnen zu müssen, siehe auch Puppe GA 1978, 299 u. 304. 874 Siehe auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 875 Vgl. Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 870
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rangige Bedeutung bei der Sozialkontrolle zukommt.876 So gibt es Untersuchungen zu der Frage, welchen Stellenwert das Strafrecht im Gefüge anderer Instanzen der Sozialkontrolle bei jungen Menschen hat. Sie zeigen, dass im Zentrum von Selbstkorrekturmechanismen nach der Tatbegehung das Selbstkonzept steht, das auf emotional positiv besetzte Bezugspersonen und darauf ausgerichtet ist, wie diese beim Offenbarwerden des Fehlverhaltens ± nach der Einschätzung des Betroffenen ± reagieren. Die Vorstellung von erwarteten Reaktionen ist danach weniger von den Gesichtspunkten Schuld und Strafe, als vielmehr von Begriffen wie Enttäuschung und Scham bestimmt877. Einen vergleichbaren Stellenwert der formellen Sozialkontrolle unterstellt auch das Konzept von Braithwaite878, das den Begriff Äshame³ sogar im Titel führt. Es erhebt die beiden Begriffe Äinterdependency³ und Äcommunitarianism³ zur Voraussetzung dafür, dass Äshaming³ seine reintegrative Kraft entfalten kann.879 ÄInterdependency³ meint dabei die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen innerhalb eines Gefüges sozialer Beziehungen, die beispielsweise zu Eltern, Schule, Nachbarschaft oder Arbeitgeber gepflegt werden.880 Spiegelbild derartiger Beziehungen sei auf gesellschaftsstruktureller Seite das so genannte Äcommunitarianism³, wobei in stark kommunitaristischen Gesellschaften nach Braithwaite die Beziehungen durch wechselseitige Abhängigkeit, Hilfsbereitschaft und Vertrauen gekennzeichnet sind. Loyalität zur Gemeinschaft stehe hier über den Interessen des Einzelnen, maßgeblich sei nicht die Bedrohung der Autonomie durch Strafe, sondern die Wirkung gegenseitiger Verpflichtungen und Beziehungen.881 Nur in stark kommunitaristischen Gesellschaften mit ausgeprägten wechselseitigen Abhängigkeiten aber sei Äshaming³ notwendig reintegrativ882; von formeller Sozialkontrolle ist hier nur am Rande die Rede. Es gibt also nicht wenige Anhaltspunkte dafür, dass bestimmten sozialen Beziehungen außerhalb der formellen Sozialkontrolle höherer Stellenwert als dieser selbst zukommt. Insoweit hat es auch einen erzieherischen Sinn, dass der Staat mit seinen Forderungen nicht in bestimmte Bereiche der persönlichen Le___________ 876 Böse, GA 2002, 98, 107; Rehbinder 2000, S. 141 f.; Scheff 1988, S. 395 ff.; Bergmann 1987, S. 197; Schöch 1985, S. 1081, 1096. 877 Kerner 2004, S. 43 ff. 878 ÄCrime, Shame and reintegration³, Braithwaite 1989. Vgl. zur deutschen Rezeption umfassend Münster 2006. 879 Braithwaite 1989, S. 84 ff. 880 Braithwaite 1989, S. 98 ff. 881 Braithwaite 1989, S. 85, 100 ff. 882 Braithwaite 1989, S. 87 ff.
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bensgestaltung eindringt883. Mit Erwartungen an Reue und Scham ist jedenfalls schon deshalb Zurückhaltung geboten, weil es hier um freiwillige, autonome Leistungen geht, die allenfalls gefördert, nicht aber erzwungen werden können884. Mit Zwangsmitteln lässt sich keine innere Weiterentwicklung oder seelische Reifung, sondern allenfalls ein Scheinerfolg erzielen, der den Schaden möglicherweise noch verschlimmert.885 Auf künftiges Legalverhalten wirken sich Bußbereitschaft, Reue oder Einsicht ohnehin nur aus, wenn sie die Bereitschaft zur Begehung von Straftaten erreichen, was nicht selbstverständlich ist. Dem Verurteilten müssen dazu immerhin die Motivationsprozesse verständlich sein, die bei seiner Tat abgelaufen sind, was jenseits seiner geistig-seelischen Möglichkeiten liegen kann886. 5. Zur kriminalprognostischen Bedeutung der Realitätseinschätzung Bei Erarbeitung der denklogischen Betrachtungsebenen einer Tatverleugnung war bereits von den Äquantitativen³ Aspekten des Ableugnens die Rede, die sich dort aus der Beziehung von Äußerung und Tatvorwurf ergaben. Ebenfalls mit der Reichweite des Ableugnens lässt sich die Beziehung von Äußerung und Beweislage kategorisieren, denn der Proband kann mit seiner Sicht gegen Beweise von unterschiedlicher Objektivität antreten: Naturwissenschaftlich gesicherte kriminalistische Erkenntnisse können von ihm ebenso wie Behauptungen von Zeugen angezweifelt werden, seine Version sich also in unterschiedlich großen Möglichkeitsräumen für Verfahrensmängel der Beweiswürdigung bewegen887. Diese zusätzliche Beschreibung des Leugnens ist zumindest im Hinblick darauf relevant, dass der Proband ± unabhängig von prozessualen Möglichkeiten ± mit einer mehr oder weniger großen Überzeugungskraft seiner Version rechnen muss. Gerade bei offensichtlicher Täterschaft kann ein Ableugnen als Ausdruck einer Fehleinstellung gegenüber den Instanzen der Sozialkontrolle erscheinen, soweit der Verurteilte deren Arbeitsergebnissen nichts als störrische Nichtbeachtung entgegenzusetzen hat. In diesem Sinne stellt das OLG Hamm zu Recht ___________ 883
Im Strafvollzug verpflichtet das Gesetz ausdrücklich zur Zurückhaltung, wenn es um die Beziehungen des Gefangenen zu Angehörigen geht. So ist nach § 25 Nr. 2 StVollzG sogar ein schädlicher Einfluss von Angehörigen in Kauf zu nehmen, ohne dass deren Besuch ± wie der von anderen Besuchern ± untersagt werden kann. 884 Entsprechende Erwartungen aber können die Wahrscheinlichkeit irrelevanter Lippenbekenntnisse erhöhen (Beier, ZfStrVo 1999, 148, 150). 885 Auchter/Hilgers, MSchrKrim 1994, 102, 103. 886 Eisenberg, NStZ 1989, 366, 366; Preusker 1986, S. 17; zur geforderten Persönlichkeitsleistung auch Peters, JR 1978, 177, 180. 887 Vgl. dazu Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340.
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fest, dass angesichts erdrückender Beweise ein Leugnen auf erhebliche Mängel an Realitätseinschätzung deuten kann, die ihrerseits wiederum einen Schluss auf die Unfähigkeit eines Menschen zur sozial-angepassten Bewältigung des Lebens zulassen.888 Auch für eine solche Feststellung ist jedoch der Unterschied von innerer und äußerer Haltung beachtlich: Gerade die Vorstellung, es wüssten Ädoch ohnehin alle Bescheid³ und deswegen sei ja auch verurteilt worden, kann die Aufforderung zur förmlichen Verantwortungsübernahme als demütigendes Ritual einer zusätzlichen Stigmatisierung erscheinen lassen. In einer entsprechenden Trotzhaltung wird die Frage nach der künftigen Straffälligkeit daher nicht zwingend ein Indiz mangelnder Realitätseinschätzung sehen können. Ob sich die Fähigkeit zur sozialen Anpassung und Lebensbewältigung in der Unterwerfung unter prozessuale Integrationserwartungen äußert, ist ebenfalls begründungsbedürftig und auch der prognostische Stellenwert einer Realitätseinschätzung als solcher nicht eindeutig. Immerhin leben viele Nicht-Delinquente ebenfalls hinsichtlich wichtiger Lebensereignisse mit Verleugnung und Uminterpretation, was Legalität und Alltagsbewältigung offensichtlich nicht ausschließt.889 6. Zur kriminalprognostischen Bedeutung einer Selbsterkenntnis Auch im Problem der Tatverleugnung zeichnet sich eine Rivalität von kriminologischem Wissensbestand und Alltagsvorstellung890 ab, etwa wenn Selbsterkenntnis als erster Schritt zur Besserung gehandelt wird. Ohne jeden Zweifel können (Ver-)Besserungen durch die Kenntnis dessen gefördert werden, was zuvor unzureichend, mangelhaft oder falsch war. Es bedarf keiner näheren Begründung, dass die Selbsterkenntnis des Straftäters über das Inakzeptable seines Handelns eine tragende Stütze im Fundament der Resozialisierung sein kann. Ist aber die Einsicht in einen Fehler notwendige Voraussetzung für seine Vermeidung? Können nicht auch Verhaltensweisen umgangen werden, von deren Berechtigung man eigentlich überzeugt ist, zum Beispiel weil deren nachteilige Auswirkungen inzwischen am eigenen Leib spürbar wurden? Für die Prognose jedenfalls kommt es allein darauf an, dass der Betroffene in Zukunft von Straffälligkeit abgehalten wird. Dazu ist nicht zwingend die Einsicht erforderlich, dass vergangenes Verhalten fehlerhaft war. Möglicherweise schützt bereits eine traumatische Hafterfahrung, ohne dass der Täter von seiner Überzeugung abrücken muss, damals das Richtige getan zu haben, er wünscht ___________ 888
OLG Hamm, NStZ 1989, 27, 28. Hinrichs, ZfStrVo 1993, 159, 161 ff. 890 Siehe dazu Göppinger 1997, S. 48, 100. 889
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nur eben keine Wiederholung mehr. Die Barrieren der Straffälligkeit sind also zu erfassen, bevor die Selbsterkenntnis zur unabdingbaren Voraussetzung der Umkehrleistung erklärt wird. Dabei sind die Vergangenheit und Einsichten dazu auch hier nur dann von prognostischem Interesse, wenn sie Zukunftsrelevanz besitzen. Möglicherweise ist zum Beispiel eine Tatwiederholung ± etwa bei Eskalation eines langjährigen Beziehungskonflikts in einer einzigartigen Konstellation ± so abwegig, dass mit ihr vernünftigerweise nicht gerechnet werden muss und sie daher keine Prognoserelevanz besitzt.891 Beim Blick auf den Stellenwert der Tat in der Lebenssituation des Probanden zeigen sich häufig Kriterien, die eine Wiederholung nicht erwarten lassen, zum Beispiel weil es den wenigen sozialen Bezügen des Probanden an der Intensität fehlt, die frühere Konflikte erforderten892. Damit ist die Wahrscheinlichkeit der Tatwiederholung aber auch ein wichtiges Kriterium bei Bewertung der Tatverleugnung. Stets hat die Prognose den Zusammenhang mit dem begangenen Delikt zu berücksichtigen; durch dieses veranlasst ist zu beurteilen, ob bzw. welche Straftaten vom Täter in Zukunft drohen und wie erneute Straffälligkeit verhindert werden kann893. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Ableugnen den Weg zur inneren Haltung versperrt. Hier ist die ausschlaggebende Bedeutung der Probandenangaben für die Rekonstruktion der inneren Tatseite darzulegen, wenn das Ableugnen als absolutes Zugangshindernis gewertet werden soll. Zudem kommen abermals grundsätzliche Differenzierungen ins Spiel, die bei der Bewertung von Verhalten im Kontext der prognostischen Beurteilungsgrundlage von Bedeutung sind. So lässt der Unterschied von Können und Wol___________ 891 Diese ÄWiederholungsgefahr³ wurde in der Rechtsprechung zum Leugnungsproblem berücksichtigt; zum Beispiel findet sich in einer Entscheidung des OLG Hamm (StV 1988, 348, 349) der Hinweis auf die Situationsbezogenheit der Tat im persönlichen Lebenskreis des Verurteilen. Zur Tat sei es auf Grundlage der damals äußerst schlechten sozialen Verhältnisse des Täters gekommen, insbesondere hätten eine völlig zerrüttete Beziehung zur Ehefrau und ein daraus resultierender wenig differenzierter Umgang unter den Ehepartnern vorgelegen. Es sei deshalb davon auszugehen, dass der Verurteilte gegenüber seinen minderjährigen Töchtern ± den Tatopfern ± eine mehr oder weniger unbekümmerte Triebhaftigkeit ausgelebt habe, was aufgrund der vorliegenden Anhaltspunkte nicht nochmals zu erwarten sei. 892 Hier kommen wieder die Unterschiede in der prognostischen Relevanz von überdauernden Umständen auf der einen und vorübergehenden bzw. situativen Faktoren auf der anderen Seite ins Spiel; siehe dazu auch den Abschnitt ÄZur kriminalprognostischen Bedeutung der Tatursachen³; Kröber 1995, S. 72; Rasch 1999, S. 376; Kröber, NStZ 1999, 593, 594. 893 Bock 2000, S. 183.
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len die Notwendigkeit einer läuternden Selbsterkenntnis im Einzelfall möglicherweise deshalb fragwürdig erscheinen, weil für den Betroffenen die tiefer liegenden Ursachen seiner Kriminalität nicht erreichbar sind. Auch ist zu bedenken, dass schonungslose Selbsterkenntnis die Stabilität von seelischem Gleichgewicht und individuellem Lebenszuschnitt stören kann; unweigerlich geht sie jedenfalls mit Erschütterungen des eigenen Selbstbildes einher. Schließlich birgt die Forderung nach Selbsterkenntnis die Gefahr einer überzogenen Selbsterforschung894: Das Erkenntnisverfahren hat sich bereits mit der Motivationsstruktur und ihren Bedingungen auseinandergesetzt895; weiß der Täter dem nichts hinzuzufügen, so führt die Forderung nach Selbsterkenntnis unter Umständen zu verzweifelter Ratlosigkeit darüber, was noch Gegenstand einer Erkenntnis sein kann, wenn es nicht nur um einen formalen Akt der Selbstbezichtigung gehen soll.
G. Fazit zum Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft Es zeigte sich, dass eine Tatverleugnung ganz unterschiedliche prognostische Relevanz haben kann. Auf keinen Fall ist schematisch mit dem umzugehen, was der Täter über die Tat berichtet.896 Wenn Bresser die mangelnde Bereitschaft zur Aussprache über die Tat als prognostisch nicht verwertbar bezeichnet897, so ist diese Aussage um ein Äals solches³ zu ergänzen. Die Tatverleugnung als solche erlaubt keine prognostische Aussage898, kann aber in unterschiedlichen Ableitungszusammenhängen zu künftiger Straffälligkeit stehen. Allerdings ist sie hier stets auf die Vermittlung durch andere prognostische Bedeutsamkeiten angewiesen, die in der Regel wesentlich deutlicher als durch ein Ableugnen zum Ausdruck kommen. Dabei ist das Risiko von Zirkelschlüssen zu beachten, um den prognostischen Aussagewert des Ableugnens nicht mit einem Zusammenhang zu solchen Umständen zu begründen, die ihre Prognoserelevanz ihrerseits nur dem Ableugnen verdanken. Als ÄVermittler³ im Ableitungszusammenhang der Rückfallrisiken kommen in erster Linie innere Haltungen wie zum Beispiel Mitwirkungsbereitschaft, Reue oder Selbsterkenntnis in Betracht. Diese lassen sich wegen der Unspezifität ihrer Manifestationen ohnehin schwer erschließen, solche Haltungen aber ___________ 894
Vgl. auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. Und beispielsweise dem Mörder Habgier oder Verdeckungsabsicht attestiert. 896 Siehe auch Kröber 1995, S. 75. 897 Bresser 1990, S. 342 f.; Kröber 1995, S. 75. 898 Vgl. auch Kröber, NStZ 1999, 593, 598. 895
G. Fazit zum Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
187
aus einem Verhalten des Probanden im Vollzug zu folgern, ist schon wegen situativer Einflüsse auf dessen Können und Wollen mit besonderen, zusätzlichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden899. Sie konterkarieren das Ziel, durch einfache Kriterien ± wie eben einer Tatverleugnung ± eine effiziente prognostische Arbeit zu ermöglichen, führen auf ein komplexes erfahrungswissenschaftliches Problemfeld und verleiten zusätzlich noch zu einem Aushandeln von prognostischen Kriterien in einem Interaktionsprozess900. Dies alles lässt oft ratsam erscheinen, bei der prognostischen Beurteilung vorrangig auf etwas Anderes als eine Tatverleugnung abzustellen. Keinesfalls dürfen Probandenverhalten und -haltung zum scheinoperationalisierten Platzhalter einer um Transparenz und Effektivität bemühten Kriminalprognose werden. Haltung und Verhalten des Probanden sind stets kritisch zu hinterfragen, insbesondere Momentaufnahmen davon haben kaum prognostischen Aussagewert. Hier eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren, bedeutet einen großen Gewinn für Verhaltensprognosen. Wird mit der prognostischen Bedeutung der Tatverleugnung argumentiert, so ist stets ± wie bei jedem anderen prognoserelevanten Umstand auch ± der Ableitungszusammenhang zur künftigen Gefährlichkeit konkret aufzuzeigen. Die Tatverleugnung ist in das Mosaik der spezifischindividuellen Gegebenheiten einzufügen, wobei andere Deutungsmöglichkeiten als die angebotene auszuschließen sind. Daher kann es sein, dass ein Ableugnen mehr zur Aussage über den Prognostiker als über den Probanden beiträgt. Eine Tatverleugnung sagt unter Umständen nichts für die Prognose, der Umgang damit jedoch stets etwas über die Prognose. Anhand dieses Kriteriums lässt sich leicht die Einhaltung bestimmter Qualitätsanforderungen nachvollziehen, die an eine Kriminalprognose zu stellen sind. Dabei kann es auch subtile Versäumnisse im prognostischen Ableitungszusammenhang geben; soweit beispielsweise die prognostische Relevanz des Ableugnens mit einer fehlenden Mitwirkungsbereitschaft bzw. Therapiewilligkeit begründet wird, muss selbstverständlich auch die Notwendigkeit einer Therapie und deren Abhängigkeit vom Tateingeständnis dargetan werden. Prognostische Schlussfolgerungen aus dem Ableugnen haben sich stets der Frage zu stellen, was sich mit einem Tateingeständnis daran ändern würde. Wird die Tatverleugnung beispielsweise als negativ prognostischer Faktor behauptet, so muss der Unterschied gegenüber einer Situation mit Tateingeständnis als prognostisch relevant begründet werden. Dabei ist Klarheit notwendig, ___________ 899
Siehe zur Aussagekraft des Vollzugsverhaltens Eisenberg 2005, S. 175, 535; Göppinger 1997, S. 446 f.; Schmitt, BewHi 1996, 3, 7; Platz, StV 1996, 234 f. 900 Siehe dazu Hendrik Schneider, ZfStrVo 2004, 139, 140 f.
188
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
Zweideutiges hingegen gebietet eine Selbstbeschränkung des Prognostikers, indem subjektive Unsicherheiten benannt und die Aussagen auf das Mögliche begrenzt werden901. Diese Forderung ist an die gesamte Prognosepraxis bzw. -forschung zu richten, über die bei der Frage nach der erfahrungswissenschaftlichen Wertigkeit einer Tatverleugnung einiges zu erfahren war. Es zeigte sich, dass die prognostische Arbeit stets im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Individualisierung stattfindet, was einer Unzulänglichkeit des allgemein verfügbaren Wissens geschuldet ist. Was nämlich über das menschliche Verhalten und die Bedingungen von Straftaten mit allgemeiner Geltung behauptet werden kann, ist nach wie vor zu lückenhaft, um daraus im Einzelfall umfassende prognostische Aussagen ableiten zu können. Insbesondere fehlen Gesetzmäßigkeiten, wie sie Syllogismen i. S. der klassischen Logik erfordern, weshalb für die Einschätzung menschlichen Verhaltens nur der Bezug auf Erfahrungswissen bleibt. Dieses Wissen aber weist maßgebliche Anwendungsmängel auf, etwa indem es bloß wahrscheinliche, nicht aber gewisse Aussagen ermöglicht. Wegen der Defizite im allgemeinen Wissen gelingt die Erfüllung der prognostischen Aufgabe daher allenfalls bei größtmöglichem Einzelfallbezug. Insoweit lässt sich der Befund zur prognostischen Wertigkeit einer Tatverleugnung verallgemeinern: Ebenso wenig wie sie gibt irgendein anderes Prognosekriterium als solches die Einschätzung künftiger Gefährlichkeit vor, in jedem Einzelfall ist vielmehr die prognostische Relevanz gesondert zu prüfen. Dabei kann ihre Konkretisierung nur bei einer Gesamtbetrachung der individuellen Bedingungen gelingen, denn die Bewertung einer bloß möglichen Kausalbeziehung erfordert stets den Bezug auf Umgebungsvariablen, was die Maßgeblichkeit des konkret-individuellen Bedingungsgefüges erklärt. Gleichzeitig aber ist der Prognostiker ± schon um Willkür und Ungleichbehandlung zu vermeiden ± bestmöglicher Objektivität verpflichtet. Dies wiederum verlangt eine Orientierung an allgemeinverbindlichen Vorgaben, weil diese die notwendige Breite der Befunderhebung sicherstellen, allgemeinen menschlichen Urteilsschwächen entgegentreten und Transparenz bzw. Nachvollziehbarkeit des Erkenntniswegs garantieren. Einerseits soll die Prognostik damit auf möglichst objektive Beurteilungsvorgaben zurückgreifen, deren Verbindlichkeit also gerade nicht vom Einzelfall abhängt, gleichzeitig aber ist umgekehrt ein maximaler Individualbezug gefragt. Ein Standard soll den Zugang zum Einzig-
___________ 901
Vgl. auch Simons, ZfStrVo 2002, 273, 275, der sich in diesem Sinne zu den Geboten der kriminalprognostischen Begutachtung geäußert hat.
G. Fazit zum Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
189
artigen gewährleisten und dieses maßgebend sein, obwohl es gerade keine generelle Gültigkeit hat. Diesen Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit einer wirklichkeitsgetreuen Konkretisierung einerseits und einer Abstraktion andererseits lösen die gängigen Prognoseverfahren nicht auf. Sie sehen vielmehr eine Kombination von Regelorientierung und Regelverzicht vor, denn wo ihre allgemeinverbindlichen Vorgaben enden, verlangen sie einen Rückgriff auf das subjektive Wissen des Prognostikers, beispielsweise auf seine (klinische) Erfahrung. Gleichzeitig übt die gegenwärtige Prognosepraxis Zurückhaltung mit inhaltlichen Vorgaben von allgemeinverbindlicher Geltung. Anweisungen bleiben auf der Ebene von allgemeinen Arbeitsanleitungen und Leitlinien902, indem ± teilweise mit ausdrücklichem Hinweis darauf, Äindividuelle Bewertungen für den jeweiligen Probanden zu ermöglichen³903 ± Erläuterungen lediglich ÄWesen und Zielrichtung der Items beschreiben³904 oder Änaturgemäß³ nur ÄVorschläge, bloße Beispiele³ für Eigenschaften sein wollen905, die einen Äintuitiv geprägten Wahrnehmungs- und Erkenntnisbereich³ unbeeinflusst lassen906. Ein solcher Bereich verbleibt auch bei Zusammenführung von Einzelbeurteilungen zu einem Gesamtergebnis, etwa wenn darüber eine nicht näher beschriebene Äspezifische Kombination bestimmter Risikofaktoren³907 entscheidet oder für vorgegebene Risikokategorien feste Summenwerte fehlen, um die individuelle Gewichtung einzelner Items nicht zu hindern908. Mit solchen Beurteilungsfreiheiten korrespondiert eine Verantwortungsübernahme, die man Experten vorbehält. Entsprechend wiederholen sich die Hinweise darauf, dass die vorhandenen Hilfsmittel ein beträchtliches Maß an Kenntnissen und Erfahrung in der psychowissenschaftlichen Arbeit voraussetzen, individuelle Beurteilungskompetenzen also unverzichtbar sind909. ___________ 902
Dazu auch Egg 2002, S. 323. Siehe Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. 904 Siehe Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. 905 So Freese 2000, S. 10. 906 Vgl. dazu Urbaniok 2004, S. 56. 907 Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 44. 908 Vgl. dazu Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 13 f.; MüllerIsberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 31; siehe auch Endres, ZfStrVo 2000, 67, 75 ff.; Egg 2002, S. 323. 909 Vgl. zum Beispiel Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 2, 15; Urbaniok 2004, S. 49; Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188. 903
190
Kap. 2: Das Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
In alldem liegt kein Widerspruch zum Selbstverständnis der gängigen Arbeitsanleitungen, die größeren Erwartungen an die Leistungsfähigkeit ausdrücklich entgegentreten. Vorgaben seien Äeine Grundlage für möglichst umfassende Risikoeinschätzungen³, die Ävorrangig als Ausgangspunkt und nicht als Endpunkt einer prognostischen Beurteilung³ dienen sollten910. Es gehe um eine ÄAnleitung zur Untersuchung³911, ein ÄAide-mémoire³912, das keinen ÄErsatz für das nicht zu unterschätzende intuitive Prognosewissen erfahrener Beurteiler³ geben könne913. Prognostische Beurteilungsfähigkeiten eines Untersuchers sollen gefördert914 bzw. vorstrukturiert915, jedoch nicht umfassend durch eine erschöpfende inhaltliche Merkmalsliste kontrolliert werden916. Ein Rückgriff auf die subjektiv-individuelle Urteilskraft des Prognostikers ist also unverzichtbar, gleichzeitig damit aber im Umgang mit Einzelumständen alles möglich. Auch das individuelle Wissen eines Experten nämlich kann lückenhaft sein, weil er dem Umstand bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, es kann aber auch negative wie positive Erfahrungen mit diesem Umstand verbuchen. Umso wichtiger ist es, den Prognostiker auch bei Beurteilungsspielräumen zur begrifflich kontrollierten Urteilsbildung zu verpflichten. Dies kann beispielsweise durch erfahrungswissenschaftliche Idealtypen, aber auch durch die differenzierten Kriterien geschehen, welche die Rechtswissenschaft zur Ausfüllung von Ermessenspielräumen zur Verfügung stellt. Vor allem aber ist eine Orientierung an Mindestvoraussetzungen zu fordern, die Vorgaben bzw. Anleitungen für den prognostischen Beurteilungsprozess zu erfüllen haben. Sie sollten es erlauben, den konkreten Beurteilungsfall mit dem relevanten Erfahrungswissen zu vergleichen, dabei seine individuellen Besonderheiten zu erfassen und für andere nachvollziehbar zu beschreiben. Dies erfordert eine einheitliche, erfahrungswissenschaftlich abgesicherte und klar strukturierte Systematik, anhand derer der gesamte Erkenntnisweg in einem transparenten Ableitungszusammenhang dokumentiert werden kann. Die Beurteilungsvorgaben sollten feststehen und die prognostische Urteilsbildung steu___________ 910
Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 1. 912 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 8. 913 Müller-Isberner/Jöckel/Gonzalez Cabeza 1998, S. 51. 914 Urbaniok 2004, S. 49. 915 Nedopil 1992, S. 60; ders. 1996, S. 188 f.; vgl. auch Egg 2002, S. 314; Dahle 2000a, S. 97 ff. 916 Rasch 1999, S. 374. 911
G. Fazit zum Problem der Tatverleugnung in der Erfahrungswissenschaft
191
ern, gleichzeitig aber die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten erlauben. Neben einer Offenheit für aktuelle Veränderungen ist dabei auch die Möglichkeit sicherzustellen, nicht nur die prognostisch relevanten Schwächen des Probanden, sondern auch seine Stärken zu erfassen. Solchen Vorgaben sollte sich der Prognostiker verpflichtet fühlen, um nicht zu Willkür und Ungleichbehandlung beizutragen.
Kapitel 3
Das Problem der Tatverleugnung im Recht A. Tatverleugnung als gesetzlicher Prognoseumstand Die Ergebnisse zur Berücksichtigung der Tatverleugnung in der erfahrungswissenschaftlichen Kriminalprognose beantworten noch nicht die Frage, welche Auswirkungen das Ableugnen in der Einschätzung künftiger Legalbewährung nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB hat. Die erfahrungswissenschaftliche Kriminalprognose wurde zur Abschichtung der Problemebenen aus der Prognosenorm herausgelöst, zur umfassenden Bearbeitung des Leugnungsproblems muss sie nun wieder in die Norm eingebettet werden. Die Erfahrungswissenschaft hat sich damit rechtlichen Einflüssen zu stellen und gerät in das Spannungsfeld des Rechts; es entsteht ein Dualismus von Rechts- und Erfahrungswissenschaft, der möglicherweise ein Konkurrenzverhältnis schafft. Aus der Differenzierung von erfahrungswissenschaftlicher und rechtlich eingebundener Verhaltensvorhersage ergeben sich ein enger und ein weiter Begriff der Kriminalprognose. Wenn davon die Rede ist, dass die Kriminalprognose einen erfahrungswissenschaftlichen Denkvorgang mit der Prozessrechtsdogmatik und damit zwei ganz unterschiedliche wissenschaftstheoretische Systemwelten miteinander verschränkt1, so versteht sich dies unter Zugrundelegung eines weiten Prognosebegriffs. Er berücksichtigt rechtsdogmatische Vorgaben und bezieht die Prognose im engeren Sinn als rein erfahrungswissenschaftliche Vorhersage künftiger Straffälligkeit mit ein. Nur im Sinne der weiten Begriffsbestimmung gilt die Aussage, die Kriminalprognose sei ein nicht ausschließlich erfahrungswissenschaftlicher Vorgang, sondern zugleich ein Vorgang der Rechtsanwendung, der vom Beweisrecht und materiellrechtlichen Regeln gesteuert ist2. Wenn im Folgenden jedoch ohne weitere Zusätze von Kriminalprognose die Rede ist, so meint dies die rein erfahrungswissenschaftliche Prognose, um die Grenzflächen von erfahrungswissenschaftlichem und rechtsdogmatischem Denkvorgang zu erhalten.
___________ 1 2
Volckart 1997, S. 4. Volckart 1997, S. 3.
A. Tatverleugnung als gesetzlicher Prognoseumstand
193
Die Rechtsfolge der §§ 57, 57 a StGB betrifft eine Aussage über die Rechtmäßigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung. Sie ist das Ergebnis einer Normanwendung und damit einer rechtlichen Bewertung, die sich an unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben orientiert. Möglicherweise zwingen diese Vorgaben dazu, das Ableugnen isoliert von erfahrungswissenschaftlichen Kriterien in bestimmter Weise in der Rechtsfolge der Prognosenorm zu berücksichtigen, wobei dies in Abhängigkeit von einer Kriminalprognose, aber auch unabhängig davon denkbar ist. Nach der im ersten Kapitel beschriebenen Einschränkung wird das Problem der Tatverleugnung hier nur im Rahmen prognostischer Überlegungen erörtert; außerprognostische ÄEintrittsstellen³, über die ein Ableugnen die Rechtsfolge der §§ 57, 57 a StGB auf anderem Wege als über die Einschätzung künftiger Legalbewährung beeinflussen könnte, bleiben also unberücksichtigt. Die augenfälligste Einflussmöglichkeit würde sich ergeben, wenn bereits der Wortlaut der §§ 57, 57 a StGB einen bestimmten Umgang mit dem Ableugnen in der Prognose vorgäbe. Die fraglichen Vorschriften aber enthalten keinen Hinweis auf die prognostische Verwertung von Verbaläußerungen des Probanden oder gar auf die Berücksichtigung einer Tatverleugnung. Allerdings kann dieses Schweigen des Gesetzes als Beleg dafür genommen werden, dass eine Tatverleugnung die vorzeitige Entlassung nicht hindert. Dies brachte das OLG Hamm schon vor 50 Jahren mit seiner Feststellung zum Ausdruck, dass nach dem Gesetzeswortlaut die ÄWohltat der bedingten Entlassung³ nicht allein dem geständigen Täter zugute komme3. Tatsächlich bedürfte es des Umwegs über die Verantwortbarkeitsklausel des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nicht, wenn eine Tatverleugnung stets die vorzeitige Entlassung hindern würde. Hätte der Gesetzgeber dies aber gewollt, wäre ein Geständnis Entscheidungsvoraussetzung der §§ 57, 57 a StGB. Stets ist eine wirklichkeitsorientierte Voraussage künftiger Straffälligkeit notwendig4, die als Prognoseergebnis die Rechtsfolge der Prognosenorm (mit)bestimmt. Insoweit lässt sich die vorgestellte Analyse der Binnenstruktur des § 57 StGB5 auf alle Prognosenormen6 übertragen, die hier erarbeitete Stu___________ 3
OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34. Wobei eine gängige Einteilung der gesetzlich geforderten Prognosen zwischen Urteils-, Entlassungs- und Gefährlichkeitsprognosen unterscheidet, vgl. z.B. Bock 2000, S. 182 ff. 5 Siehe 1. Kapitel zur Bestimmung und Eingrenzung des Problems der Tatverleugnung. 6 Zu ihnen gehören beispielsweise die §§ 56 ff. und 59 Abs. 1 StGB. Prognostische Elemente prägen die Strafzumessung nach § 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 StGB oder das Recht der Maßregeln, hier wird insbesondere den §§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1, 66 Abs. 1, 68 4
194
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
fenfolge der Einbindung erfahrungswissenschaftlicher Prognoseaussagen also gleichsam als Folie über andere prognoseorientierte Vorschriften legen. Allerdings ist auch diesen Normen keine direkte Aussage über die Bewertung der Tatverleugnung zu entnehmen, so dass sich bei einem ersten Blick keine neuen Erkenntnisse für das Leugnungsproblem ergeben. Dazu ist vielmehr ein zweiter Blick auf die Vorstellungen notwendig, die der Gesetzgeber über die Kriminalprognose zum Ausdruck gebracht hat. § 57 Abs. 1 S. 2 StGB nennt beispielhaft7 prognoserelevante Umstände8, die teilweise durchaus in Zusammenhang mit einer Tatverleugnung stehen können. So ist diese etwa als Ausdruck einer kritikunfähigen Persönlichkeit oder als besondere Form des Vollzugsverhaltens denkbar, was nach dem Gesetzeswortlaut von Belang ist, der Persönlichkeit bzw. Vollzugsverhalten des Verurteilten berücksichtigt sehen will. Wichtiger als solche inhaltlichen Bezüge ist allerdings eine allgemeine methodische Grundaussage des ÄKriterienkatalogs³ nach § 57 Abs. 1 S. 2 StGB: Mit der Aufzählung von prognostischen Variablen, die zu berücksichtigen Äsind³, gibt der Gesetzgeber den unmissverständlichen Hinweis, dass grundsätzlich eine Bedingungsmehrheit Beachtung finden muss, der Bezug auf ein Einzelkriterium die Entscheidung also nicht trägt. Somit befreit auch eine Tatverleugnung nicht von der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Verurteilten, seinem Vorleben oder den anderen in § 57 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Kriterien. Diese Äsind [«] zu berücksichtigen³9, eine Auseinandersetzung mit ihnen ist also obligat und kommt nicht ± wie beispielsweise bei den Strafzumessungsgründen nach § 46 Abs. 2 StGB ± lediglich Äin Betracht³. Keines der vom Gesetz beispielhaft aufgezählten Umstände sperrt somit den Rückgriff auf andere Kriterien. Jede der vom Gesetz erwähnten Variablen muss berücksichtigt werden, so dass auch der Gesetzgeber der Vorstellung von kau___________ Abs. 1, 70 Abs. 1 StGB ein prognostischer Gehalt zugesprochen (Tröndle/Fischer, § 63 Rn. 13; ders., § 64 Rn. 12; ders., § 66 Rn. 22; ders., § 68 Rn. 5; siehe auch Hendrik Schneider 1996, S. 18 ff.). Auch Normen außerhalb des StGB können ohne Individualprognosen nicht angewendet werden, wie beispielsweise die vom JGG vorgesehene Sanktionswahl zeigt (vgl. dazu §§ 5 Abs. 1 und 2, 10 Abs. 1, 13 Abs. 1, 17 Abs. 2, 18 Abs. 2, 21 Abs. 1, 88 Abs. 1 JGG.). Insbesondere im strafrechtlichen Sanktionssystem besteht eine ausgeprägte kriminalprognostische Bedarfslage (Volckart 1997, S. 2; Kaiser 1996, S. 957 f.; Eisenberg 2005, S. 172.). 7 Schönke/Schröder, § 56 Rn. 16; Gribbohm, in: LK-StGB, § 57 Rn. 20. 8 OLG Hamm, StV 1988, 348, 348; OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 9, 10. 9 Vgl. §§ 56 Abs. 1 S. 2, 57 Abs. 1 S. 2, 21 Abs. 1 Satz 2 JGG.
A. Tatverleugnung als gesetzlicher Prognoseumstand
195
salen oder ergebnisbestimmenden Einzelkriterien eine klare Absage erteilt und eine Gesamtwürdigung der prognostischen Umstände fordert10. Dass § 57 Abs. 1 S. 2 StGB dabei Kriterien Änamentlich³ vorgibt, unterstreicht die gesetzgeberische Forderung nach einer differenzierten und multifaktoriellen Beurteilungsgrundlage. Eine Tatverleugnung entbindet damit nicht von der Verpflichtung, zumindest auf die gesetzlich bezeichneten prognostischen Umstände einzugehen. Eine negative Prognose darf also nicht ausschließlich mit einer Tatverleugnung begründet werden, ohne dass auf die anderen gesetzlichen Prognosekriterien eingegangen wird. Dafür spricht auch § 454 Abs. 2 StPO, der eine Heranziehung von Sachverständigen bei Kriminalprognosen regeln. Würde das Ableugnen für sich genommen das Prognoseergebnis vorwegnehmen, dann wäre die Beauftragung eines Gutachters ohne Sinn, denn dieser könnte zu keinem anderen Ergebnis kommen, hätte also entweder keine Aufgabe oder würde überflüssige Arbeit verrichten.11 Auch andere Normen dokumentieren die Unabhängigkeit von Prognoseergebnis und Tatverleugnung. So könnte es beispielsweise beim leugnenden Gefangenen keine Vollzugslockerungen nach § 11 StVollzG geben, würde das Ableugnen stets eine schlechte Prognose bedeuten, eine Geständnisforderung erhebt aber auch § 11 StVollzG nicht. Ganz generell geht der Gesetzgeber offensichtlich für keinen Wirklichkeitsumstand davon aus, dass er allein über das künftige Legalverhalten entscheidet. So ist sogar die Straffälligkeit selbst kein Kriterium, das von vornherein prognostisch ungünstig sein muss, anderenfalls würde der Gesetzgeber auf weitere prognostische Überlegungen verzichten. Abgesehen davon enthält das Gesetz ± zum Beispiel in den §§ 56 Abs. 1 Satz 2, 21 Abs. 1 S. 2 JGG ± jeweils nur einzelne Anhaltspunkte für die Beurteilung der Täterpersönlichkeit12 und die dafür notwendigen Erhebungen und gibt damit ___________ 10
Die Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung betonen u. a. OLG Hamm, StV 1988, 348, 348; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 346. Dieses eindeutige gesetzgeberische Votum macht im Übrigen deutlich, dass der ausschließliche Einsatz eines Prognoseinstruments bei der Entscheidung nach den §§ 57, 57 a StGB nur dann rechtmäßig sein kann, wenn dabei sämtliche Kriterien des § 57 Abs. 1 S. 2 StGB Berücksichtigung finden. 11 § 454 Abs. 2 StPO ist übrigens noch eine weitere Aussage über die Prognose zu entnehmen: Wenn § 454 Abs. 2 Satz 2 StPO eine Antwort auf die Frage verlangt, ob die in der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, so wird deutlich, dass auch der Gesetzgeber sich nicht nur mit statischen Prognosekriterien zufrieden gibt. Auch er fordert vielmehr die Einbeziehung dynamischer Variablen, wenn er für den Tatzeitpunkt eine Gefährlichkeit unterstellt, die später nicht mehr vorhanden sein muss. 12 Vgl. Hendrik Schneider 1996, S. 38.
196
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
lediglich grobe Hinweise für die prognostische Arbeit. Stets fehlen Aussagen darüber, wie die einzelnen Gesichtspunkte zu würdigen sind, welche prognostische Relevanz sie allgemein haben oder welches Gewicht sie im Einzelfall besitzen. Zudem liegen überwiegend ausfüllungsbedürftige Begriffe vor13, weshalb von einer gesetzlichen Vorgabe für die Bewertung einzelner Umstände nicht die Rede sein kann14. Die Zurückhaltung des Gesetzes überrascht allerdings nicht, würde anderenfalls ± etwa durch Festschreibung prognostischer Kriterien ± eine Abhängigkeit vom jeweiligen Stand der Wissenschaft geschaffen, die schon wegen Aktualisierungsnotwendigkeiten nicht dienlich sein kann. Im Zusammenhang offenbart das Gesetz zudem eine Vorstellung vom Stellenwert des Täterverhaltens im Strafverfahren, die auch für den Umgang mit der Tatverleugnung von Interesse ist: Das Recht macht Entscheidungen mit erheblicher Tragweite nicht von ungeprüften Angaben des Delinquenten abhängig. Gerade der Strafprozess darf sich nicht dessen Verbaläußerungen ausliefern, anderenfalls wäre beispielsweise die Verurteilung eines leugnenden oder schweigenden Täters nicht möglich15. Für den Gesetzgeber ist der Unterschied von Vorliegen und Offenbarung einer subjektiven Wahrheit selbstverständlich; er trägt ihr in vielen Situationen Rechnung, zum Beispiel indem er sich bei der Beweiswürdigung nicht allein mit dem äußeren Verhalten begnügt. Eine andere Handhabung im Vollstreckungsverfahren aber würde die Entscheidung hier in eine besondere, vom Erkenntnisverfahren abweichende Abhängigkeit von den Probandenangaben bringen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Prognostiker die Angaben des Probanden ± zum Beispiel durch Einvernahme weiterer Zeugen ± in der Regel nicht weiter verifiziert. Entsprechend dokumentiert der Gesetzgeber an unterschiedlichen Stellen eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Äußerungen und Haltungen des Verurteilten: Das Strafvollzugsgesetz erwähnt die Notwendigkeit eines Geständnisses mit keinem Wort. Die verbalisierte Haltung gegenüber der eigenen Tat ist hier ___________ 13
Bock 2000, S. 183. Hierzu passt die schon einmal im 1. Kapitel erwähnte Einschätzung von Volckart (1997, S. 60), dass die gesetzlichen Umschreibungen die notwendigen Differenzierungen unvollkommen oder überhaupt nicht zum Ausdruck bringen. 15 Dass auch die Klärung der Tatursachen ohne Beschuldigtenäußerungen auskommt, zeigt die Fülle der Verurteilungen von leugnenden Tätern unter Einbeziehung festgestellter Beweggründe und Absichten (z. B. die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe). Wenn aber die Klärung der Tatgenese im Erkenntnisverfahren ohne die Mithilfe des Angeklagten zur Verurteilung ausreicht, so muss das klärungsbedürftige Defizit im Rahmen der Prognoseerstellung zumindest begründet werden ± auch wenn mit dieser Forderung der Unterschied von strafrechtsdogmatischer und prognostischer Ursachenforschung nicht in Abrede gestellt wird. 14
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
197
also weder Gradmesser einer Resozialisierungswirkung noch Beurteilungsgrundlage für eine der Entscheidungen, die vom Verhalten des Probanden abhängig gemacht werden16.
B. Tatverleugnung und Rechtskraft I. Relevanz der Rechtskraft für das Leugnungsproblem Für die Annahme früherer Straffälligkeit kann sich die erfahrungswissenschaftliche Kriminalprognose nicht mit einem rechtskräftigen Urteil zufrieden geben, sondern braucht Gewissheit über die tatsächliche Tatbegehung durch den Probanden.17 Sie baut nicht auf der bloßen Tatsache früherer Verurteilungen sondern darauf auf, dass der Proband die abgeurteilte(n) Tat(en) auch wirklich begangen hat.18 So empfiehlt beispielsweise Rasch eine Analyse der Auslösetat insbesondere im Hinblick auf situative Momente19, während Urbaniok die Art der Tatbegehung als hervorragende Informationsquelle bezeichnet20. Von mindestens ebenso großer prognostischer Bedeutung wie frühere Tatursachen ist zudem die unterschiedliche prognostische Relevanz von Ableugnen einer begangenen und Abstreiten einer nicht begangenen Tat.21 Auch das Gesetz weist der Straftat einen hohen prognostischen Stellenwert zu. Jeder Mensch verkörpert ein mögliches Delinquenzrisiko, denn dauernd treten neue Ersttäter in Erscheinung. Um das Risiko einer Ersttat geht es im Umfeld des Strafrechts bei prognostischen Einschätzungen jedoch in aller Regel nicht, sondern in erster Linie um Kriminalprognosen über Personen, die bereits einschlägig in Erscheinung getreten sind, das heißt um Rückfallprognosen22. Verhaltensvorhersagen im prädeliktischen Stadium oder kriminologische Kollektivprognosen werden hingegen allenfalls am Rande berührt.23 Die zur Verurteilung bzw. Unterbringung führende so genannte Anlasstat bzw. die Karriere ___________ 16 Wie zum Beispiel die Möglichkeit von Lockerungen des Vollzugs nach § 11 StVollzG. 17 Volckart 1997, S. 24. 18 Volckart 1993, S. 106 ff. 19 Rasch 1999, S. 374, 376. 20 Urbaniok, KR 2003, 169, 173. Vgl. auch den Abschnitt zur kriminalprognostischen Bedeutung der Tatursachen. 21 Siehe auch dazu vorangegangenes Kapitel. 22 Volckart, R & P 2002, 105, 106. 23 Dahle 2000, S. 78. Allerdings hält die Kriminologie auch dafür mit den ÄSyndromen krimineller Gefährdung³ differenzierte Beurteilungskriterien bereit, siehe Göppinger 1997, S. 456 ff.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
solcher Taten ist Bezugspunkt für eine Erörterung der Gefährlichkeit24, die Straftat bezeichnet insoweit einen Umschlagpunkt auf dem Kontinuum der Objektivierbarkeit von Delinquenzrisiken. Die Annahme der fehlenden Befähigung zu einem Leben ohne Straftaten knüpft an den Verstoß gegen ein Strafgesetz an; demgemäß soll der Gefangene nach § 2 S. 1 StVollzG Äfähig werden³, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen, weil er eben dazu offensichtlich noch nicht Äfähig ist³25. Im Zeitpunkt einer Prognosestellung im Rahmen der §§ 57, 57a StGB liegt eine strafrechtliche Antwort auf die Frage vor, ob der Proband die Tat begangen hat oder nicht. Sollte der Prognostiker an diese Bewertung gebunden sein, ergibt sich für ihn die Abgrenzung von Ableugnen und Abstreiten daraus. Umgekehrt kann und muss der Prognostiker ohne die Bindung an die rechtliche Bewertung eine eigene Vorstellung von der tatsächlichen Tatbegehung durch den Probanden entwickeln. Daher ist es auch für die Leugnungsfrage von großer Bedeutung, ob und wenn ja in welchem Maße die Entscheidung nach § 57 StGB bzw. § 57 a StGB an die Feststellungen des vorausgehenden tatrichterlichen Urteils gebunden ist. Eine Bewertung der Tatverleugnung führt also über das Rechtskraftproblem, wobei es dabei nicht nur um eine Widerlegung, sondern auch um eine Ergänzung der Urteilsfeststellung gehen kann. Zur Frage der Tatbegehung kann die Prognose eine Aussage ohnehin nicht vermeiden. Sie trägt stets Indizien für oder gegen eine Täterschaft vor, etwa indem die notwendige Persönlichkeitsanalyse eine Täterschaft kriminologisch eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich macht26. Die prognostische Stellungnahme zeichnet ein Bild davon, ob eine bestrittene Täterschaft zum Probanden passt oder nicht.27 Der Prognostiker kann sich hier nicht neutral verhalten, da ihm auch die Unterstellung eines Sachverhalts eine Bewertung abverlangt: Entweder bekräftigt die Prognose die angenommene Sachlage ± die in irgendeiner Wechselwirkung zur prognostischen Fragestellung stehen muss, anderenfalls wäre ihre Unterstellung überflüssig ± oder sie deckt Umstände auf, die gegen ___________ 24
Simons, ZfStrVo 2002, 273, 274. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 335. 26 Vgl. Haddenbrock NJW 1981, 1302, 1303. 27 Dies kann nach eigenen Erfahrungen auch im Ermittlungs- bzw. Erkenntnisverfahren von Belang sein, insbesondere wenn naturwissenschaftlich gesicherte kriminalistische Beweise für die Täterschaft fehlen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit hier ein Nutzungspotential prognostischen Wissens existiert, dass stärkere Beachtung finden sollte, was im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht weiter vertieft werden kann (vgl. jedoch die Überlegungen zu Parallelen von Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit im Abschnitt zu ÄTatverleugnung und Zweifelssatz³ unten). 25
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
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die Unterstellung sprechen.28 Wegen der fehlenden Möglichkeit, Neutralität gegenüber der Frage der Täterschaft zu wahren, wird der Prognostiker sogar gelegentlich davor gewarnt, zum unwillkürlichen Indizienbeschaffer umfunktioniert zu werden29. In dieser Warnung klingt schon an, dass der Prognostiker sich mit vorangegangenen Zuschreibungen und Informationen oft nicht begnügen kann. Die Beurteilung früherer Gefährlichkeit erfordert vielmehr nicht selten eine aufwendige retrospektive Rekonstruktion der kriminologischen, psychologischen und situativen Tathintergründe. Hier aber leisten zuweilen weder das Urteil noch frühere Gutachten eine wesentliche Hilfestellung30 und zwar nicht allein deshalb, weil Angaben fehlen, sondern auch weil sie fragwürdig erscheinen. Der Prognostiker hat nicht selten Zweifel darüber, ob früher getroffene (Urteils-) Feststellungen die Realität zutreffend wiedergeben und dies oft gerade in besonders heiklen Fällen31. Vor allem die motivationalen Voraussetzungen der Tat werden oft so unzureichend erfasst, dass Rasch sogar davon sprach, der betreffende Täter könne sich eigentlich immer falsch verurteilt fühlen32. Der Prognostiker kann dabei in einen Konflikt zwischen bisweilen recht massiven Indizien einerseits und dem anders lautenden Urteil andererseits geraten, etwa wenn Zeugenaussagen und polizeiliche Ermittlungen deutliche Hinweise auf eine bestimmte Motivation ergeben, man sich dann in der Hauptverhandlung aber auf die für den Angeklagten freundlichste Version einigt33. Dabei müssen es nicht die Äußerungen des Probanden sein, die den Prognostiker an vorliegenden Feststellungen zweifeln lassen; keinesfalls denkt er also immer nur dann über die Bindungswirkung vorangegangener Feststellungen nach, wenn der Verurteilte ableugnet. Insoweit betrifft die Tatverleugnung daher einen speziellen (Extrem-)Fall in einem allgemeinen Problemzusammenhang, insbesondere im Falle der Tatverleugnung aber wird der Prognostiker vor die Frage gestellt, ob er an die Feststellungen des Urteils gebunden ist. ___________ 28
Siehe auch Dippel 1986, S. 138. Sarstedt, NJW 1968, 177, 181 f.; Haddenbrock NJW 1981, 1302, 1303. 30 Kröber 1995, S. 77. 31 Wie etwa bei der prognostischen Beurteilung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Mördern, siehe Rasch 1994, S. 19. 32 Rasch 1994, S. 19. Tatsächlich finden sich in der Rechtsprechung Hinweise für Fehlzuschreibungen von erheblicher kriminologischer Relevanz, siehe Volckart 1993, S. 105 m. w. N. 33 Kröber, NStZ 1999, 593, 595. 29
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Regelmäßig wird dazu in Rechtsprechung und Literatur erklärt, die Tatsachengrundlage der Prognose dürfe den Urteilsfeststellungen nicht widersprechen34, die einmal getroffenen Feststellungen stünden also nicht erneut zur Disposition. Dieses Ergebnis wird auch als Beweistatsachenverbot interpretiert; dem Richter sei es auf Grund einer Vorentscheidung verwehrt, Tatsachen selbst zu überprüfen.35 Andererseits wird auch die Auffassung vertreten, dass vom vorangegangenen Urteil nur der Entscheidungsausspruch, nicht jedoch die Urteilsfeststellungen bindend seien.36 Uneinigkeit besteht zudem nicht nur im Hinblick auf Widersprüche, sondern auch auf Ergänzungen der Urteilsfeststellungen. Teils wird es als zulässig und geboten angesehen, dass die Prognose alte, im früheren Urteil übergangene Tatsachen zugrunde legen darf37, teils wird dies aber auch abgelehnt38. II. Meinungen zur Rechtskraftwirkung 1. Materiellrechtliche Rechtskrafttheorie Die Frage, ob Prognose nach den §§ 57, 57a StGB, 454 StPO an die Feststellungen aus dem vollstreckten Urteil gebunden ist, bezieht sich auf den Umfang der materiellen Rechtskraft dieses Verdikts, die von den heute vertretenen Rechtskrafttheorien unterschiedlich beurteilt wird. Dabei bietet das Leugnungsproblem einen der wenigen Ausnahmefälle, in denen die geäußerten Ansichten zu voneinander abweichenden Resultaten führen und daher auch praktisch relevant werden.39
___________ 34 OLG Koblenz, MDR 1981, 870; OLG Braunschweig, StV 1983, 338, 338: OLG Celle, NStZ 1986, 456, 457; Hanack, in: LK-StGB, § 67 Rn. 69; Schönke/Schröder, § 67 Rn. 10; Tröndle/Fischer, § 67 Rn. 9; Lackner/Kühl, § 67 Rn. 6; Siehe dazu auch Horn, JR 1979, 77 (zu § 67 Abs. 3 StGB); ders. JR 1983, 380, 381 (zur Schuldklausel des § 57 a StGB); Volckart 1993, S. 105; Peters 1985, S. 495 ff.; Peters 1974, S. 2 ff.; ähnlich auch Zazcyk, GA 1988, 356, 366 f.; Volckart 1997, S. 23 ff. 35 Spendel, NJW 1966, 1102, 1104; Otto, GA 1970, 289, 293; Volckart allerdings wendet sich gegen den Begriff des Beweisverbots, vgl. Volckart 1993, S. 107. 36 RGSt 33, 303, 304 f.; RGSt 44, 254, 256 f.; BGH, JR 1998, 117 mit krit. Anm. Loos JR 1998, 118 f.; Bruns 1961, S. 610 ff.; Schäfer 2000, Rn. 1627 ff.; Schmidt, JZ 1968, 681 ff.; Niese 1950, S. 109 ff.; Henkel 1968, S. 385; Otto, GA 1970, 289, 293; Alsberg/Nüsel/Meyer 1983, S. 433 ff. 37 Horn, JR 1979, 77, 78. 38 BVerfG, NStZ 1992, 484, 486: außerdem Müller-Dietz, StV 1983, 162, 165; Volckart 1993, S. 106. 39 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 338.
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
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In der Literatur wurde zunächst die so genannte materiellrechtliche Rechtskrafttheorie vertreten, wonach nicht nur der Entscheidungsausspruch, sondern auch dessen Begründung in Rechtskraft erwächst.40 Soweit die Tatbegehung in einem rechtskräftigen Urteil festgestellt ist, muss nach dieser Ansicht auch in nachfolgenden Entscheidungen davon ausgegangen werden, was damit gerechtfertigt wurde, dass ein Urteil als souveräner Staatsakt kraft des Grundsatzes der ÄEinmaligkeit definitiver Staatsaktion³ von keiner höheren Instanz in Zweifel gezogen werden dürfe41. 2. Prozessuale Gestaltungstheorie Auch heute noch wird mit der prozessualen Gestaltungstheorie ein Ansatz vertreten, der die Rechtskraftwirkungen auch auf die tatsächlichen Feststellungen des vollrechtskräftigen Urteils erstreckt sieht42, allerdings nur in Fällen der Identität von Person und Tat. Daher ist die prozessuale Gestaltungstheorie außerhalb des Strafzumessungsrechts43 grundsätzlich von geringer praktischer Relevanz, im Zusammenhang mit dem Leugnungsproblem erlangt sie jedoch Bedeutung, da der Verurteilte im Strafvollstreckungsverfahren nicht mehr seine Schuldlosigkeit geltend machen kann, sollte sich die Rechtskraft auch auf die tatsächlichen Feststellungen erstrecken. Zur Begründung wird hier angeführt, dass die rechtskräftige Verurteilung zwar nicht neues materielles Strafrecht schaffe (indem es zum Beispiel den Schuldigen zum Unschuldigen macht), aber die materielle Rechtslage durch eine Einwirkung auf den Status des Betroffenen gestalte.44 3. Ansicht von Volckart Volckart differenziert hinsichtlich der Bindungswirkung der Urteilsgründe zwischen Feststellungen zur Tat und solchen zu sonstigen Tatsachen45, wobei er die Grenze zwischen beiden Kategorien am prozessrechtlichen Tatbegriff nach § 264 StPO orientiert46. Als Feststellungen zur Tat im Sinne seiner Rechtskraft___________ 40
Binding 1915, S. 303 ff. Binding 1915, S. 303 ff. 42 Peters 1985, S. 495 ff.; Peters 1974, S. 2 ff.; ähnlich auch Zazcyk, GA 1988, 356, 366 f. sowie Grunsky 1968, S. 223 ff. 43 Nach dieser Theorie kann sich der Verurteilte in einem neuen Verfahren beispielsweise gegen die strafzumessungswirksame Berücksichtigung einer einschlägigen Vorverurteilung nicht mehr mit dem Einwand verteidigen, im ersten Verfahren zu Unrecht verurteilt worden zu sein. 44 Peters 1985, S. 502 f.; Zazcyk, GA 1988, 356, 366 f. 45 Volckart 1993, S. 106 ff.; Volckart 1997, S. 24. 46 Volckart 1993, S. 108. 41
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
beurteilung sieht er dementsprechend alles an, was bei natürlicher Betrachtungsweise zum Tatgeschehen gehört. Dies bezieht das gesamte Täterverhalten im Zusammenhang mit der Tatbegehung ein, so weit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt.47 Es erfasst alle Tatsachen, die gesetzliche Merkmale der Straftat i. S. d. § 267 StPO ausfüllen, bei Verurteilung zudem das Fehlen von Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen.48 All dies sei bei rechtskräftiger Aburteilung ± zu Lasten und zu Gunsten des Verurteilten ± als geschehen hinzunehmen49, jedoch gebe es davon eine wichtige Ausnahme: Den Grundsätzen der Rechtsprechung zu den §§ 63, 64 StGB entsprechend50 seien nämlich Feststellungen über Bestehen und Ausmaß von psychischen Störungen i.S.d. §§ 20, 21 StGB nicht der Rechtskraft fähig. Zudem sei der maßgebliche Unterschied zwischen Annahme und Beurteilung von Tatsachen zu beachten; eine andere Bewertung der Urteilstatsachen stehe dem Prognostiker jederzeit frei, die Bindungswirkung betreffe also von vornherein allein die Tatsachenannahmen51. Zu den sonstigen Feststellungen zählt Volckart Erkenntnisse, die Vorgeschichte von Tat und Täter betreffen und in der Regel für die Rechtsfolgenentscheidung bedeutsam sind.52 Soweit sie in anderen als dem in Vollstreckung begriffenen Urteil enthalten wären, fehle es an einer Bindung für die Kriminalprognose, die fraglichen Tatsachen seien lediglich als Hinweise dafür anzusehen.53 Soweit es um sonstige Tatsachen aus dem zu vollstreckenden Urteil geht, differenziert Volckart noch einmal, indem er spätere Abweichungen von den Urteilsfeststellungen zu Lasten des Verurteilten ablehnt, zu seinen Gunsten aber für möglich hält. Insbesondere dürfe der nachfolgende Rechtsanwender bessere erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse über die Tatsachen anwenden.54 Zulässig und gegebenenfalls sogar unerlässlich seien auch Ergänzungen der Äsons-
___________ 47
BGH 13, 320, 324; 23, 141, 145; 32, 215, 216; BGH, NJW 1981, 997; BGH, NStZ 83, 87; 84, 469; 95, 351; BGH, StV 85, 181; Meyer-Goßner, § 264 Rn. 2. 48 Volckart 1997, S. 23. 49 Volckart 1993, S. 107 ff. 50 Z. B. OLG Nürnberg, MDR 1961, 342: OLG Frankfurt, NJW 1978, 2347; OLG Hamm, NStZ 1982, 300. 51 Volckart 1997, S. 28 ff. 52 Volckart 1993, S. 106; Volckart 1997, S. 23. 53 Volckart 1997, S. 28. 54 Volckart 1997, S. 29.
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
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tigen Feststellungen³, wenn das Urteil nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzte Gründe habe oder sonst lakonisch kurz oder lückenhaft sei.55 Zur Begründung für die Differenzierung zwischen Feststellungen zur Tat und sonstigen Feststellungen nimmt Volckart auf den Anknüpfungspunkt der Rechtskraftwirkung Bezug. Dieser werde nach einhelliger Überzeugung durch den Entscheidungssatz des Urteils gebildet und ergreife die Äsonstigen Feststellungen³ nicht. Nur die Verurteilung selbst erwachse danach in Rechtskraft, nicht aber die ihr zugrunde liegenden Feststellungen.56 In der Rechtskraft des Entscheidungssatzes stecke jedoch implizit, von welcher Tat dieser Entscheidungssatz handele, weshalb die Rechtskraft deshalb auch den ÄProzessgegenstand³ des Urteils ergreife.57 Die Bindungswirkung von Tatfeststellungen folge ± so Volckart ± aus der Beendigungswirkung der Rechtskraft, der Vorrang gegenüber Gerechtigkeitserwägungen gebühre. Maßgebliche Kriterien für die Bindung an die Feststellungen zur Tat seien die volle Entwicklung des Beweisantragsrechts in der Hauptverhandlung58 und dessen Erstreckung auf die Tatsachengrundlagen der Rechtsfolgenentscheidung59. Könnte über rechtskräftig abgeurteilte Taten erneut Beweis erhoben werden, würde die Beendigungswirkung aufgehoben, wegen der es die Rechtsfigur der Rechtskraft in erster Linie gebe.60 Schon deshalb müsse sich die Verhaltensvorhersage eine eigene Antwort auf die Frage der tatsächlichen Tatbegehung versagen, anderenfalls drohe die Wiederholung des früheren Strafverfahrens. Auch wegen ihrer Funktion bei Steuerung der strafrechtlichen Sanktionen habe die Kriminalprognose ± in späteren Verfahrensabschnitten ebenso wie in anderen, nachfolgenden Verfahren ± von den Feststellungen zur Tat auszugehen. Ein strafgerichtliches Urteil dürfe zudem aus Gründen der Gerechtigkeit in seinen verschiedenen Teilen keine einander widersprechenden Feststellungen aufweisen.61 Die Sonderbehandlung von Feststellungen zu psychischen Störungen i.S.d. §§ 20, 21 StGB folge aus § 67 Abs. 3 StGB, wonach die verbesserte Möglichkeit zur Beurteilung bekannter Umstände eine abweichende Folgeentscheidung rechtfertige. In diesem Sinn habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, ___________ 55
Horn, JR 1979, 77, 78; Volckart, R & P 1986, 144, 145; Volckart 1993, S. 109. Volckart 1993, S. 106; siehe auch Bruns 1961, S. 602. 57 Volckart 1997, S. 24 bis 26; Volckart 1993, S. 107. 58 Grünwald 1964, S. 45, 66 ff.; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, S. 416. 59 Vgl. Volckart 1993, S. 106 m. w. N. 60 Volckart 1993, S. 107. 61 Volckart 1993, S. 108. 56
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
indem es bei fehlenden Erfolgsaussichten der Behandlung die Beendigung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gefordert habe62. Bei Rekonstruktion der Vergangenheit könne es zwar grundsätzlich verschiedene systemimmanente Wahrheiten geben63, hinsichtlich des Vorhandenseins und der Art von psychischen Störungen sei jedoch nur das psychiatrisch psychologische Erkenntnissystem maßgeblich. Liege eine Erkrankung aus medizinischer Sicht nicht vor, so mache ihre Behandlung verfahrensrechtlich keinen Sinn64; im Gegenteil sei es auch prozessrechtlich ein Unding, einen Patienten wegen einer Krankheit zu behandeln, die er gar nicht habe65. Seine Ablehnung von Abweichungen bei sonstigen Urteilsfeststellungen zu Lasten des Verurteilten rechtfertigt Volckart damit, dass eine strafgerichtliche Verurteilung sich aus Gründen der Fairness nicht auf einander widersprechenden Feststellungen berufen dürfe. Es wäre unerträglich, den Täter im gleichen Verfahren mit Gegensätzen zu jenen Ergebnissen zu konfrontieren, die er im Strengbeweisverfahren der Hauptverhandlung errungen habe. Insoweit könne es nicht die Aufgabe der Strafvollstreckungskammer sein, Erkenntnisse ähnlich dem Wiederaufnahmeverfahren zu Lasten des Verurteilten zu korrigieren.66 Dies sei insbesondere für Vollstreckung und Vollzug relevant, die als unselbstständige Abschnitte desselben Verfahrens allein der Durchsetzung des Urteils dienten. Anderenfalls werde der Staat wortbrüchig und verletze die Gebote der Fairness und Rechtsstaatlichkeit. Einer Rücksichtnahme darauf bedürfe es hingegen bei Abweichungen zugunsten des Verurteilten nicht.67 Der Staatsanwaltschaft fehle ein entsprechendes Schutzbedürfnis, weil sie nicht Partei und daher nicht auf den entsprechenden Schutz der Parteistellung angewiesen sei. Von den Tatsachenannahmen des Urteils abweichende Feststellungen zu Gunsten des Probanden würden nicht zu Lasten der Staatsanwaltschaft getroffen, die gem. § 160 Abs. 2 StPO auch zu Gunsten des Straftäters zur Wahrheit verpflichtet sei.68 Von einem bloßen Schweigen der Urteilsgründe schließlich gehe keine Schutzwirkung für den Verurteilten aus, weshalb als Ergänzungen sowohl prognostisch günstige wie auch ungünstige Äsonstige Feststellungen³ in Betracht kämen.69 Insbesondere ___________ 62
Vgl. BVerfGE 91, 1. Volckart verweist auf Luhmann 1969, 17 ff. 64 Volckart 1997, S. 26 ff. 65 Volckart 1993, S. 108. 66 So auch Müller-Dietz StV 1983, 162, 165. 67 Volckart 1993, S. 108 ff. 68 Volckart 1997, S. 29. 69 Volckart 1993, S. 109. 63
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
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die gesetzliche Befugnis zur verkürzten Begründung des Urteils nach allseitigem Rechtsmittelverzicht dürfe verfahrensrechtlich betrachtet weder Vollstreckung noch Vollzug präjudizieren. 4. Ansichten von Zazcyk, Bock und Schneider Zazcyk schreibt dem Strafurteil ± wie die prozessuale Gestaltungstheorie ± insoweit eine rechtsgestaltende Statuswirkung zu, als es grundsätzlich eine Bindungswirkung für das materielle Strafrecht entfalte.70 Es bewirke Ädie konkrete Gestaltung der Rechtsbeziehung Staat (als verfasster Allgemeinheit) und dem einzelnen Staatsbürger in ihrem Fundament³, die Entscheidung sei damit Statusurteil.71 Diese Wirkung entfiele jedoch, wenn Wiederaufnahmegründe vorgetragen würden. Auch Bock und Schneider beziehen Qualität und Substanz des Leugnens in die Überlegungen mit ein.72 Grundsätzlich besteht ihrer Ansicht nach eine Bindung der Vollstreckungsentscheidung an die tatsächlichen Feststellungen des vollstreckten Urteils, eine Ausnahme gelte aber, wenn das Leugnen der Tat im Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer hinreichend substantiiert sei und konkrete Anknüpfungspunkte für eine Fehlentscheidung erkennen ließe. Die Grenze zwischen unbeachtlichen und beachtlichen Angriffen auf die vorangegangen Urteilsfeststellungen ergebe sich dabei aus den Wiederaufnahmegründen zugunsten des Verurteilten nach § 359 StPO. Dabei verdiene vor allem § 359 Nr. 5 StPO das besondere Augenmerk der Strafvollstreckungskammer, die neuen, vom Verurteilten beigebrachten Tatsachen oder Beweismittel nachgehen müsse, soweit diese Äallein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung [...] oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung³ zu begründen geeignet seien. Das Vollstreckungsgericht dürfe dem Leugnen also nicht von vornherein jede Substanz absprechen. 5. Prozessrechtliche Rechtskrafttheorie Die wohl überwiegend vertretene prozessrechtliche Rechtskrafttheorie bezieht im Gegensatz zu den vorigen Meinungen grundsätzlich nur den Urteilstenor, nicht aber weitere Feststellungen in die Rechtskraft ein.73 Eine Bindung der Vollstreckungskammer an die erstinstanzliche Bewertung der Tatbegehung be___________ 70
Zazcyk, GA 1988, 356, 371; siehe auch Roxin 1998, § 50, Rn. 10; Loos, JR 1998, 118 f. 71 Zazcyk, GA 1988, 356, 367. 72 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 338 ff. 73 Bruns 1961, S. 608; Schäfer 2000, Rn. 1627 ff.; Niese 1950, S. 109 ff.; Henkel 1968, S. 385; Otto, GA 1970, 289, 293; Alsberg/Nüse/Meyer 1983, S. 433 ff.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
steht danach also nicht. Eine Ausnahme davon sieht die prozessrechtliche Rechtskrafttheorie allerdings bei teilrechtsfähigen Urteilen. Hier entzieht sie auch die Feststellungen der Entscheidungsgründe einer erneuten Bewertung74, diese Ausnahme ist jedoch für das Leugnungsproblem ohne Bedeutung. Funktion der materiellen Rechtskraft ist nach der prozessrechtlichen Rechtskrafttheorie allein der Schutz des Angeklagten vor erneuter Strafverfolgung wegen derselben Tat, was sich als Beitrag zur Verwirklichung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 3 GG verstehe. Die Feststellungen in den Urteilsgründen seien nur insoweit relevant, als sie das von der Sperrwirkung erfasste Geschehen eingrenzten. Eine weitergehende Bindungswirkung scheitere bereits daran, dass das Urteil die tatsächliche materielle Rechtslage nicht verändern könne. Der Täter werde bei Erfüllung der Strafbarkeitsvoraussetzungen vielmehr ohne Rücksicht darauf strafbar, ob ihm seine Tat im Strafprozess nachgewiesen werden könne. Die zu Unrecht ergehende Verurteilung mache den Nichtschuldigen ebenso wenig schuldig, wie umgekehrt der zu Unrecht ausgesprochene Freispruch Schuld und Strafbarkeit des Täters beseitige.75 6. Position der Rechtsprechung Die Rechtsprechung hat sich zur Reichweite der Rechtskraft noch nicht eindeutig geäußert. Sie handhabt sie teilweise im Ergebnis wie die prozessrechtliche Rechtskrafttheorie76, folgt aber auch ± ohne nähere Begründung ± der prozessualen Gestaltungstheorie77. Einen ähnlichen Ansatz wie Zazcyk, Bock und Schneider vertritt der BGH zum Strafzumessungsrecht78. Das BVerfG hat die Bindungswirkung der Urteilsfeststellung mit dem Hinweis auf das Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens begründet und zudem darauf hingewiesen, dass das Vollstreckungsverfahren keine hinreichende Gewähr der Zuverlässigkeit biete.79 Soweit sich die Gerichte im Rahmen des Leugnungsproblems dazu äußern, wird hinsichtlich der Tatbegehung ± ohne weitere Ausführungen dazu ± überwiegend von einer Verbindlichkeit der vorangegangenen rechtlichen Bewertungen ausgegangen. Eine rechtskräftige Aburteilung als Täter erlaube da___________ 74
Schäfer 2000, Rn. 1669; Bruns 1961, S. 602 ff.; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 187; BGHSt 7, 283, 284 f.; BGHSt 10, 71, 72 f.; BGHSt 24, 274, 275; BGHSt 28, 119, 121; OLG Saarbrücken, NJW 1958, 1740. 75 Henkel 1968, S. 192; vgl. auch Abel 1961, S. 13. 76 RGSt 33, 303, 304 f.; RGSt 44, 254, 257; BGHSt 30, 378, 383. 77 OLG Koblenz, MDR 1981, 870; OLG Braunschweig, StV 1983, 338 ff.; OLG Celle, NStZ 1986, 456. 78 BGHSt 43, 106, 108 f. 79 BVerfG, NStZ 1992, 484 ff.; Volckart 1993, S. 106.
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
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nach auch dem Vollstreckungsgericht nur die Annahme der Täterschaft in der im Urteil festgestellten Form.80 III. Rechtskraft und Interessen Es zeigt sich also deutlich, dass die Rechtssicherheit in einem Spannungsverhältnis zur materiellen Gerechtigkeit steht.81 Diese Belange reiben im Fundament der Rechtskraft an manchen Stellen so aneinander, dass sie in eine Rangordnung gebracht werden müssen, die vor allem vom Nutzen der Beendigungswirkung bestimmt wird. Diese Wirkung privilegiert das Interesse am Rechtsfrieden, das darüber hinaus auf ein berechtigtes Anliegen zielt: Müsste im Vollstreckungsverfahren abermals einem Bestreiten früherer Taten nachgegangen werden, so käme es möglicherweise zur Wiederholung des vorangegangenen Strafprozesses, was schon mit Blick auf die Belastbarkeit der Strafvollstreckungskammern inakzeptabel ist. Andererseits hat sich im deutschen Strafprozess das Prinzip der materiellen Wahrheit durchgesetzt.82 Ziel ist hier nicht nur ein formal gerechtes, das heißt rechtstechnisch einwandfreies Urteil, sondern ein solches, das auch materiell der idealen Gerechtigkeit möglichst angenähert ist. Gerechtigkeit aber kann nur geübt werden, wenn sich das Festgestellte mit dem objektiv Gegebenen möglichst deckt. Eine Annäherung an den wahren Sachverhalt ist daher grundsätzlich mit allen Methoden zu versuchen, die zugänglich und mit der StPO Änach Geist und Buchstaben³ zu vereinbaren sind.83 Eine Vorrangstellung der Gerechtigkeit lässt sich also mit der Forderung nach umfassender Ermittlungs- bzw. Bewertungsfreiheit bei der Prognose begründen. Ihr stellt sich eine Bindungswirkung zumindest dann als dogmatisches Hindernis in den Weg, wenn sie nicht gleichzeitig erfahrungswissenschaftlich begründet ist. Was nun den Interessenausgleich betrifft, ist mit der prozessrechtlichen Rechtskrafttheorie zunächst festzustellen, dass ein Urteil die tatsächliche materielle Rechtslage nicht verändern kann. Dass es den Status des Betroffenen gestaltet84, ist insoweit ebenso eine Hilfskonstruktion wie die Annahme, das Urteil
___________ 80
Vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 346 ff.; OLG Koblenz – 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002. 81 Vgl. auch Schünemann, ZStW 1972, 870, 889. 82 Fezer 1993, S. 668; Blau, GA 1959, 293, 295. 83 Blau, GA 1959, 293, 295. 84 So die prozessuale Gestaltungstheorie.
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sei ein souveräner Staatsakt85; beides sagt nichts über den Stellenwert der beteiligten Interessen aus. Volckart wägt mit den Geboten der Fairness und Rechtsstaatlichkeit ab, wirft sie jedoch nur in eine Waagschale. Dabei können beide Interessen nicht nur für die Einheit, sondern auch für die Wahrhaftigkeit der Tatsachengrundlage in Anspruch genommen werden. Dies lässt sich mit Hilfe eines Arguments unterstreichen, für das Volckart selbst den Anstoß gibt: Es ist zwar zu vermeiden, dass der Staat sein Wort brechen muss, das Festhalten am falschen Wort erscheint jedoch ebenso wenig vorzugswürdig. Aus diesem Grund hilft auch die zunächst handfest und stabil erscheinende Forderung von Volckart nicht weiter, widersprüchliche Feststellungen im Strafprozess zu vermeiden. Auch hier zeigen sich gefährliche Bruchspalten bei dem Versuch, das Problem der Rechtskraft darauf abzustützen: Einmal getroffene Feststellungen können falsch und damit ein Festhalten daran in deutlichen Widerspruch zu Fairness und Rechtsstaatlichkeit geraten. Auch der Vorschlag, hinsichtlich der Bindungswirkung zwischen Urteilsfeststellungen zur Tat und zu sonstigen Tatsachen zu unterscheiden, bringt hier nicht weiter und erscheint zudem unzweckmäßig. Zum einen ergeben sich daraus nämlich erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten86, zum anderen liegt dafür keine sachliche Rechtfertigung vor. Mit dem Tenor eines Strafurteils kann die Differenzierung jedenfalls nicht begründet werden, denn in ihm steckt nicht nur, von welcher Tat dieser Entscheidungssatz handelt, sondern auch, wie mit dieser Tat umzugehen ist. Der Entscheidungssatz enthält implizit alles, was die Begründung abhandelt, denn anderes als Entscheidungserhebliches muss weder im Verfahren, noch in den Urteilsgründen bearbeitet werden87. Auch die Auffassung von Volckart beantwortet also nicht abschließend, ob die Wahrheitssuche im Dienste der Rechtssicherheit beendet werden darf. Daher ist über die vorgetragenen Argumente hinaus unvermeidlich, den Stellenwert genauer zu untersuchen, den der Gesetzgeber Gerechtigkeit und Rechtsfrieden bei den Wirklichkeitsannäherungen im Strafverfahren zuweist.
___________ 85
So die materiellrechtliche Rechtskrafttheorie. Sie offenbart bereits der hitzige Streit um den Tatbegriff des § 264 StPO. 87 Vgl. dazu §§ 34, 267 StPO; siehe auch Meyer-Goßner, § 34 Rn. 1; ders., § 267 Rn. 1. 86
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IV. Wirklichkeitsannäherungen im Strafprozess 1. Grenzen des Könnens bei Wirklichkeitsannäherungen Begrenzungen der Wahrheitssuche wären von vornherein ausgeschlossen, wenn größtmögliche Wirklichkeitsannäherungen bedingungsloses Ziel strafprozessualer Erkenntnis wären. Dies ist jedoch nicht der Fall, auch wenn die Erforschung der Wahrheit nach § 244 Abs. 2 StPO ausdrückliches Ziel ist88. Erforschung bedeutet nämlich nicht Feststellung der absoluten, allgemeinverbindlichen Wahrheit und diese ist menschlichen Erkenntnismöglichkeiten grundsätzlich nicht zugänglich: Wahrheitsunterschiede beginnen bereits mit der Wahrnehmung. Schon wegen ihrer nicht greifbaren Komplexität ist Realität nur zu verstehen, wenn sie in Ausschnitten im Bewusstsein abgebildet wird. Sie ist zu vielfältig und vielschichtig, als dass sie vollständig erfasst werden könnte. Mit den Worten von Weber kann Wirklichkeit als Äunendliche Fülle des Geschehens³89, als Äschlechthin unendliche Manigfaltigkeit³90 bezeichnet werden. Diese absolute Unendlichkeit bleibt ungemindert auch dann bestehen, wenn ein einzelnes Objekt isoliert ins Auge gefasst wird. Bereits daran muss der Versuch scheitern, das Einzelne erschöpfend in all seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben; erst recht lässt es sich nicht in seiner kausalen Bedingtheit erfassen91. Auch physiologisch ist die Wahrnehmung der Realität nur in Ausschnitten möglich; zum Beispiel erlauben unsere sensorischen Fähigkeiten nicht, die Molekularstruktur oder magnetische Eigenschaft eines Gegenstands wahrzunehmen92. Für den Menschen entsteht der Gegenstand erst dadurch, dass er wahrgenommen bzw. erfahren wird93, der Bereich überhaupt möglicher Erfahrung aber ist unendlich viel größer und differenzierter als jeder (wissenschaftliche) Betrachtungsgegenstand sein kann94. Daraus folgt die Unmöglichkeit, Wirklichkeit objektiv zu erfassen und zu beschreiben. Die Gegenstände unseres Erkenntnis___________ 88
Fezer 1995, S. 164; auch an anderen Stellen ± etwa in § 160 Abs. 2 StPO wird die Forderung nach umfassender Sachverhaltsermittlung deutlich. 89 Max Weber 1985, S. 213. 90 Max Weber 1985, S. 171. 91 Max Weber 1985, S. 171. 92 Dass solche Gegebenheiten unter Umständen durch Hilfsmittel erfasst werden können, ist nur beim tatsächlichen Einsatz dieser Mittel relevant. 93 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336 ff. 94 Bock 2000, S. 25 ff.
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interesses können nicht unverändert in das Bewusstsein importiert werden, eine Ästoffliche³ Entsprechung von Erkenntnisobjekt und Bewusstseinsinhalt ist vielmehr ausgeschlossen. Stets ist eine ÄÜbersetzungsarbeit³ notwendig, die Wahrnehmung und Erkenntnisobjekt miteinander verbindet. Menschliche Wahrnehmungskapazität ist dabei auf Informationsselektion und -verarbeitung angewiesen95, die Realität muss zunächst durch den Filter der Abstraktion und damit ± allein wegen der notwendigen Selektion ± einer Bewertung gehen. In das Bewusstsein kann damit aber nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur eine Auffassung davon Eingang finden, weshalb Erkenntnis ± auch im Strafverfahren ± nur auf der Suche nach einer Wahrheitsvorstellung, nicht nach der Wahrheit selbst sein kann. Auch wenn Wahrheit damit nicht als Idee relativ sein muss, ist sie es in dem Charakter, der für die menschliche Kommunikation entscheidet96. In einem gewissen Rahmen sind unterschiedliche Erfahrungen eines Gegenstandes oder einer Situation in den Bedingungen menschlicher Wahrnehmung zwangsläufig angelegt, also nicht grundsätzlich eine Frage Ärichtiger³ oder Äfalscher³ Erfahrung97. Relativität und Subjektivität der Wirklichkeitsannäherung ermöglichen vielmehr ein Nebeneinander verschiedener Wahrheiten, weshalb auch jede Wissenschaft zu der selbstkritischen Einsicht gelangen muss, dass der Zugriff auf die Wirklichkeit fragmentarisch und vorläufig, das heißt immer auch anders möglich ist98. Objektivität ist also grundsätzlich nicht erreichbar und kann folglich auch im Strafprozess nicht allgemeinverbindlicher Maßstab sein. Objektive Wahrheit nicht finden zu können, heißt jedoch keineswegs, sie nicht suchen zu müssen. Die Einsicht, Wahrheit nicht objektiv festschreiben zu können, rechtfertigt vor allem nicht, alles relativieren zu dürfen. Eine Äapologetische Sicht auf ‚erfundene Wirklichkeit‘ ³99 ist unangemessen und erlaubt keinesfalls, jede Erkenntnis als unverbindlich abzutun. Dem stellt sich als erstes die Einsicht entgegen, dass Objektivität bei der Befriedigung eines Wirklichkeitsanspruchs immer vorzugswürdig ist und es davon ein Mehr oder Weniger gibt.
___________ 95
Vgl. dazu Neisser 1974, S. 120 ff. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336 m. w. N. 97 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 337. 98 Bock 2000, S. 48. 99 Beier, ZfStrVo 1995, 335, 337. 96
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Es besteht also grundsätzlich ± wie in der Erfahrungswissenschaft100 ± eine Verpflichtung zu größtmöglicher Objektivität; Zielorientierung und Zielerreichung sind insoweit strikt zu trennen. Auch wenn eine objektive Festschreibung der Wahrheit nicht möglich ist, muss die Wahrheitssuche ± nicht nur im Strafprozess ± grundsätzlich an diesem Ziel ausgerichtet werden. Sind Relativität und Subjektivität auch dort hinzunehmen, wo sie unvermeidbar sind, muss andererseits doch alles für ihre Vermeidung getan werden. Auch wenn die Wirklichkeit nicht gänzlich erfasst werden kann, ist eine größtmögliche Annäherung daran wünschenswert. Die Verpflichtung zur strafprozessualen Wahrheitserforschung bedeutet also, im Rahmen der vom Gesetzgeber festgeschriebenen Bedingungen alles für möglichst wirklichkeitsnahe Feststellungen zu tun. Dies verlangt allerdings nicht, eine allgemeingültige Wahrheit tatsächlich zu finden oder den objektiven Sachverhalt tatsächlich aufzuklären101. Die StPO spricht an keiner Stelle davon, dass die Wahrheit festzustellen ist ± in § 244 Abs. 2 StPO etwa ist (nur) von dem die Rede, was das Gericht Äzur Erforschung der Wahrheit³ zu unternehmen hat, strafgerichtliche Feststellungen können und wollen also keine objektive Wahrheit für sich in Anspruch nehmen. Wahrheit ist unendlich, Objektivität damit unerreichbar und eine Wahrheitsvorstellung stets subjektiv102. Die Suche nach der Wahrheit endet also nie, woraus sich die zwingende Notwendigkeit ergibt, die Wahrheitssuche im Dienste der Rechtssicherheit zu begrenzen. Diese ist also berechtigte und notwendige Schranke der materiellen Gerechtigkeit, Objektivitätsmängel als solche tragen somit keinen dogmatischen Einwand, sind sie doch unvermeidlich. 2. Grenzen des Wollens bei Wirklichkeitsannäherungen Strafprozessuale Wahrheitsfindung trifft nicht nur an Grenzen des Könnens, sondern auch des Wollens: Wahrheit will nicht um jeden Preis ermittelt werden103, höherwertige Interessen versperren vielmehr einen Teil des Weges zur Wahrheit104. Sie ist nicht zwingend das höchste Gut, wobei sowohl die Rechts___________ 100 Vgl. aus dem vorigen Kapitel dazu den Abschnitt zur Notwendigkeit der Kontrolle von Subjektivismen im Zusammenhang mit den allgemeinen Empfehlungen für den Umgang mit Prognosekriterien. 101 Dazu Fezer 1993, S. 668; Otto, GA 1970, 289, 297. 102 Vgl. auch Eisenberg, NStZ 1989, 366, 367. 103 BGHSt 14, 358, 365; 31, 304, 309; 38, 214, 220 Renzikowski, JZ 1997, 710, 714; Volckart 1993, S. 103; Arndt, NJW 1966, 869, 870; genauso will das Recht nicht um jeden Preis verteidigt werden. 104 Was auch für jeden Prognostiker eine Selbstverständlichkeit ist, würde er beispielsweise niemals körperliche Gewalt oder Lüge zu den legitimen Mitteln seiner Wahrheitsfindung zählen.
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wissenschaft als auch die Erfahrungswissenschaft den Verzicht auf eine Erforschung der Wahrheit kennen. Die Wahrheit steht in einem Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen ihrer Feststellung und anderen Werten, die der Wahrheitsermittlung unter Rücksichtnahme auf bestimmte Schutzgüter, zum Beispiel Schweigerechte des Angeklagten, Fesseln anlegt. Spendel hat es so ausgedrückt, dass der Wissenschaftler oft die Wahrheit infolge der Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens nicht aufdecken kann, während der Richter dies zuweilen auf Grund der Weisheit rechtlicher Regelung nicht darf.105 Im Strafprozess geht es niemals nur um Erkenntnis, sondern immer auch und sehr wesentlich um die Gewährleistung des sozialen Friedens106. Erkenntnis-, Vollstreckungs- und Vollzugsverfahren sind um die Gewinnung von richtigen Urteilen bemüht, diese ÄRichtigkeit³ kann aber in materieller Wahrheit ebenso wie in einer friedensstiftenden Funktion liegen107. Das Strafverfahren dient also nicht allein dem Ziel der Wahrheitserforschung, sondern muss auch anderen Anforderungen genügen, etwa der Achtung von privaten oder staatlichen Interessen108. Der erweiterten Aufgabenstellung entspricht eine eingeschränkte Wahrheitsfindung, indem die Wahrheit im Strafprozess nur Äjustizförmig³ erforscht werden darf109. Dem Interesse an möglichst objektiver Wahrheitsermittlung sind sowohl durch Rücksichten auf das Staatswohl, als auch durch gewisse Interessen des Äsimplen Privaten³ Schranken gesetzt, etwa durch den Schutz der Persönlichkeit oder bestimmte Vertrauensstellungen110. Es gibt eine Vielzahl von Beweisbeschränkungen, die zur Sicherung und Konkretisierung der Grundrechte entwickelt wurden und höher als die Aufklärungspflicht stehen können.111 Der Zweck der prozessualen Wahrheitserforschung darf also nicht jedes Mittel des tatsächlich möglichen Beweises rechtfertigen.112
___________ 105
Spendel, NJW 1966, 1102, 1103. Kaufmann (JZ 1985, 1065, 1068), der auch darauf hinweist, dass diese Gewährleistung von sozialem Frieden ohne Aufbietung von Macht nicht erreichbar ist. 107 Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1067. 108 Spendel, NJW 1966, 1102, 1103. Objektivität der Tatsachen kann im Gegenteil eher als mittelbarer Beitrag zu Belangen ± wie etwa der Gerechtigkeit ± gedeutet werden, um die es dem Recht eigentlich geht. 109 Blau, GA 1959, 293, 296. 110 Otto, GA 1970, 289, 289. 111 Vgl. auch Spendel, JuS 1964, 465, 467 ff.; Volckart 1993, S. 110. 112 Spendel, NJW 1966, 1102, 1105. 106
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Insoweit ist der Straffall nicht ein Ärein wissenschaftliches Problem“ und die richterliche Tätigkeit nicht völlig freie Forschung, selbst der Äformalen“ Wirklichkeitserkenntnis sind zugunsten anderer, rechtlich wichtiger erscheinender Werte Grenzen gezogen113. Im Strafprozess gibt es also wertbezogene Einschränkungen der Wahrheitsfindung, die allerdings wegen der grundsätzlichen Anerkennung möglichst objektiver Wahrheitsermittlung stets sachlich gerechtfertigt sein müssen. Zudem wird die strafprozessuale Wahrheitssuche nicht nur eingeschränkt, sondern zuweilen vollständig aufgegeben, weil das Verfahren eingestellt oder wegen einer Absprache beendet wird114. 3. Disponibilität von Wahrheit im Prozess Es wird also insgesamt deutlich, dass die Objektivität der Tatsachengrundlage und damit die materielle Gerechtigkeit im Strafprozess auf notwendige und berechtigte Beschränkungen des Könnens und Wollens treffen. Auch im Hinblick auf die Prognose kann von einer Ermittlungs- bzw. Bewertungsfreiheit somit nicht die Rede sein, vielmehr zeigt sich deutlich, dass der Gesetzgeber die Wahrheitsermittlung zur Disposition stellt. Seine umfangreichen und detaillierten Regelungen dazu sind auch ein Tribut an Subjektivität und Relativität von Wahrheitsergebnissen; gäbe es die eine, objektive Wahrheit, stünde sie nicht zur Disposition und könnte nicht einfach durch eine andere ersetzt werden. Jedes ÄRechtsprinzip³ modifiziert das reine, ontologische Wahrheitsinteresse, Regelungen zur Wahrheitsfindung implizieren also die Anerkennung einer Definierbarkeit von Wahrheit. Gerade die gesetzlichen Prognosekriterien ± etwa die vorgegebenen Betrachtungsgegenstände in § 57 Abs. 1 S. 2 StGB ± bringen zum Ausdruck, dass Feststellungen zur Wirklichkeit auf Vorentscheidungen beruhen. Sie machen Vorgaben für Schlussfolgerungen im Tatsächlichen, bestimmen also, wie Wirklichkeit zu erfassen bzw. zu konstruieren ist. Auch das vorliegende Problem selbst, die Annahme einer Bindungswirkung, impliziert eine Disponibilität von Wahrheit und Erkenntnis. Überhaupt kann die Wahrheitsfindung im Prozess als vornehmlich dialogisch bzw. dialektisch gekennzeichnet werden. Nicht erst die rechtliche, sondern schon die tatsächliche Wahrheit wird hier nämlich durch das Gegeneinander von Anklage und Verteidigung und damit durch den Widerstreit von These und Antithese gefunden.115 Dabei ist der juristische Diskurs auch auf eine Entschei___________ 113 114
Spendel, NJW 1966, 1102, 1103. Vgl. dazu Albrecht, DRiZ 1998, 326, 330; Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21,
25 ff. 115
Spendel, JuS 1964, 465, 467; Spendel, NJW 1966, 1102, 1103.
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dungsfindung bei Nichtwissen angewiesen.116 Er dient einer konsensfähigen Problembewältigung durch verschiedene Subjekte und nicht der absoluten Wahrheitsfindung. Er ist nicht primär auf wissenschaftliche Exploration und Erforschung ausgerichtet, sondern der sozialen Kommunikation nachgebildet und damit von Vereinfachungen, Vorannahmen und Zuordnungsregeln geprägt117. Besonders deutlich zeigt sich die Disponibilität der Wahrheit im Einflussbereich der Prozessökonomie: Frühere Zeugenaussagen oder Einlassungen haben oftmals keinen Eingang in das Urteil gefunden, und zwar nicht etwa, weil sie widerlegt wurden, sondern weil sie für das Urteil nicht erforderlich waren. Zeugenvernehmungen können durch Fakten überflüssig werden, die zwischen den Prozessbeteiligten unstreitig sind; auch können sie unberücksichtigt bleiben, damit Rechtsmittel vermieden werden. Juristische Zuschreibungen werden zudem durch Verfahrenseinstellungen ± zum Beispiel nach § 154 Abs. 1 StPO ± definiert. Bisweilen kommt es so dazu, dass nur ein Bruchteil der begangenen Taten abgeurteilt wird und dieser Teil kriminologisch überhaupt nichts aussagt, während die Gesamtheit der Taten ein diagnostisch eindeutiges Bild zeichnet. Ein einschlägiger Rückfall kann so juristisch gesehen gar nicht existent sein, obwohl er prognostisch hochbedeutsam ist.118 Solche Konstellationen sind von einer hohen praktischen Relevanz, zu der die derzeitige Überlastung der Strafjustiz erheblich beiträgt119. Sie zwingt dazu, die strafrechtliche Entscheidungspraxis zunehmend weg von einer streng am Gesetz orientierten Gleichbehandlung und hin zu informellen Erledigungsstrategien zu verlagern. Es wird eine Tendenz Äweg vom Normativen ± hin zum Informellen³120 beobachtet, die nicht nur Verfahrenseinstellungen121, sondern auch Absprachen im Strafprozess zum festen Bestandteil der Strafrechtspflege machen122. Bei solchen ÄDeals³ aber endet ein Anspruch des Urteils auf Richtigkeitsgewähr oftmals; hier wird ganz offensichtlich, dass der Suche nach materieller Wahrheit Grenzen gesetzt werden, mögen sie dogmatisch zum Teil auch umstritten sein.
___________ 116
Nach Nedopil (NStZ 1999, 433, 438) ist er sogar darauf ausgerichtet. Nedopil, NStZ 1999, 433, 438. 118 Vgl. Kröber, NStZ 1999, 593, 595. 119 Bereits 2002 wurde davon ausgegangen, dass in Deutschland 16 % Richter und Staatsanwälte fehlen, vgl. DRiZ 2002, 284. 120 Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 25. 121 Dazu Albrecht, DRiZ 1998, 326, 330. 122 Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 25 f. 117
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Die Relativität der Wahrheitsfeststellungen kommt im Prozess schließlich vor allem darin zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber den Erfolg der Wahrheitsermittlung an eine Person bindet. Es geht stets um die Wahrheit, von deren Vorliegen die jeweilige erkennende Richterperson überzeugt ist123, wobei es nicht einmal deren (letzter) Gewissheit bedarf124. Eine Überzeugung aber kann unstreitig auf unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und -möglichkeiten gründen, weshalb bei der forensischen Wahrheit prinzipiell nur von einer relativobjektiven Wahrheit gesprochen werden kann125. Das Gesetz schaltet sich also an ganz unterschiedlichen Stellen ein, um die unendlich fortsetzbare und damit notwendig einzugrenzende Wahrheitssuche in ihrer Reichweite zu bestimmen. Indem der Gesetzgeber von seiner Befugnis, die Bedingungen der prozessualen Wahrheitssuche festzulegen, deutlich sichtbar Gebrauch gemacht hat, adelt er die justizförmig feststellte Wahrheit mit der Richtigkeitsgewähr des von ihm ausgestalteten Verfahrens. V. Neubewertung getroffener Entscheidungen 1. Wille des Gesetzgebers zur Neubewertung Die (unvermeidbare) Relativität der forensischen Wahrheit bedingt, dass Wahrheitssuche im Dienste der Rechtssicherheit zu begrenzen ist. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, unter welchen Bedingungen ein Vorrang des Rechtsfriedens anzunehmen ist, weshalb die Suche nach weiteren Hinweisen fortzusetzen ist. Sie findet einen greifbaren Anhaltspunkt darin, dass die Entscheidungen nach den §§ 57, 57 a StGB in einem Zusammenhang mit vorangegangenen Entscheidungen stehen; vor einer Entlassungsprognose nach den §§ 57 StGB, 454 StPO ist der jeweilige Proband stets mindestens schon einmal prognostisch beurteilt worden. Entsprechende Erwägungen werden bereits bei der Strafzumessung nach § 46 StGB vom Strafrichter verlangt, indem ihm aufgegeben wird, die Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft abzuschätzen126. In der Regel gehen einer Entscheidung über die Entlassung zudem Lockerungen nach § 11 StVollzG voraus, die ebenfalls eine Prognose des künftigen Legalverhaltens notwendig machen.127
___________ 123
Vgl. § 261 StPO. Eisenberg, NStZ 1989, 366, 367. 125 Eisenberg, NStZ 1989, 366, 366; vgl. auch Schreiber, ZStW 1976, 117, 123. 126 Rasch 1994, S. 19. 127 Siehe dazu auch den Abschnitt zur Ausstrahlungswirkung vorangegangener Prognosen im vorigen Kapitel. 124
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Formal sind diese vorangestellten Verhaltensvorhersagen von der Entlassungsprognose unabhängig, wie bereits die Verschiedenheit der Entscheidungsträger128 verdeutlicht.129 Zum Teil allerdings müssen ± vom Gesetz sogar ausdrücklich eingefordert ± die gleichen Umstände eingestellt werden, wie bei den prognostischen Überlegungen im Rahmen der §§ 57, 57 a StGB. Damit offenbart der Gesetzgeber den Willen, bestimmte Einschätzungen neu überdenken zu lassen. Die §§ 57, 57 a StGB beziehen sich also auf vorangegangene Bewertungen, die insoweit unter Vorbehalt stehen, als später ihre abermalige Beurteilung vorgesehen ist. Insbesondere erhebt der Gesetzgeber bereits bei den Zumessungserwägungen i. S. d. § 46 StGB die Forderung einer vorausschauenden Beurteilung des künftigen Legalverhaltens, die er später im Rahmen der Aussetzungsentscheidung wiederholt.130 2. Neubewertung wegen Veränderungen der Wirklichkeit Sinnvoll ist eine solche Neubewertung schon deshalb, weil Kriminalprognosen auf dynamische Wirklichkeitsumstände Bezug nehmen131, die sich in der Zeit nach der Verurteilung verändert haben können. Schon aus diesem Grund nimmt die Prognosesicherheit im zeitlichen Verlauf kontinuierlich ab132, weshalb empfohlen wird, den Vorhersagezeitraum von prognostischen Aussagen einzuschränken133. Aus dieser Perspektive erscheint die Prognose nach § 57 StGB als notwendige Aktualisierung jener Verhaltensvorhersagen, die im Rahmen von Strafzumessung oder Lockerungsentscheidungen erarbeitet wurden. Gleichzeitig kommt die Bindung an Feststellungen über dynamische Umstände
___________ 128
Tatrichter, Vollzugsbehörde oder Strafvollstreckungskammer. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 81 ff. 130 Eine solche Aufforderung zur Neubewertung bereits beurteilter Umstände ist keine einzigartige Besonderheit, vielmehr fordert das Gesetz an unterschiedlichen Stellen ausdrücklich dazu auf. Ein Beispiel dafür gibt § 67 Abs. 3 StGB, wonach Maßregeln geändert werden können, wenn Umstände in der Person des Verurteilten dies angezeigt erscheinen lassen, womit Volckart die Sonderbehandlung von Feststellungen zu psychischen Störungen begründet (Vgl. Volckart 1997, S. 26 ff.). 131 Siehe dazu auch den Abschnitt zu Anforderungen an methodische Vorgaben im vorigen Kapitel. 132 Vgl. auch den Abschnitt zum Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen im vorigen Kapitel. 133 Egg 2002, S. 316. 129
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schon deshalb nicht in Betracht, weil hier lediglich etwas über Zustände zu einem bestimmten Beurteilungszeitpunkt ausgesagt werden kann.134 Davon betroffen sind Tatsachen wie beispielsweise die Entwicklung des Verurteilten im Vollzug, mit denen sich der Prognostiker auseinanderzusetzen hat und deren Einbeziehung der Gesetzgeber ausdrücklich will135. Der Prognostiker soll insbesondere feststellen, ob die bei Tatbegehung vorhandene Persönlichkeitsstruktur während und infolge des langjährigen Freiheitsentzugs eine Veränderung erfahren hat, die für die Sozialprognose erheblich ist.136 Somit kann zwischen alten und neuen Anteilen der prognostischen Beurteilungsgrundlage unterschieden werden.137 Dabei liegen Modifikationen der Beurteilungsgrundlage auf der Hand, verwendet die Strafrechtspflege nach Rechtskraft des Urteils ihre Ressourcen doch darauf, den Verurteilten zu bessern. Seine Fortschritte müssen ebenso wie das gesamte Vollzugsverhalten in eine prognostische Neubewertung einfließen. Nach Blau ist bei der Strafaussetzung prognostisch sogar allein zu erwägen, ob bei dem Verurteilten ein Gesinnungswandel feststellbar ist oder nicht138, was an eine grundsätzliche Frage heranführt: Ist eine bestimmte Gesinnung zum Tatzeitpunkt als feste Größe zu unterstellen, oder stellt die Beurteilung eines Gesinnungswandels auch die Haltung zum Tatzeitpunkt erneut zur Disposition? Die Antwort darauf ist für die Leugnungsfrage von grundlegender Bedeutung. Es ist eine Entscheidung darüber notwendig, ob der Prognostiker sich bei der gesetzlich geforderten Neubewertung nur mit neuen Tatsachen, oder auch noch einmal mit den bereits bekannten auseinander zu setzen hat.139 Fraglich ist also, ob vorhandene prognostische Beurteilungen und ihre Grundlagen insgesamt oder nur bei Ämateriellen³ Veränderungen zur Disposition stehen. Beide Möglichkeiten kommen bei einem ersten Blick in das Gesetz in Betracht. Das Strafgesetzbuch fordert nicht einfach, die Geschehnisse nach dem Urteil mit der ersten Kriminalprognose abzugleichen, sondern verlangt ausdrücklich die abermalige Berücksichtigung von Umständen, die auch schon für ___________ 134
Dies bringt das Jugendgerichtsgesetz deutlich zum Ausdruck, indem es beispielsweise die nachträgliche Änderung von Weisungen (vgl. § 11 Abs. 2 JGG) oder Auflagen (§ 15 Abs. 3 S. 1 JGG) aus erzieherischen Gründen gestattet. 135 Horn JR 1979, 77, 78. 136 BGH, JR 1994, 30, 31. 137 Volckart 1993, S. 105. 138 So Blau, JR 1994, 32, 33. 139 Dies ist schon deshalb von Bedeutung, weil jemand sich oder andere durch späteres Verhalten ÄLügen³ strafen kann.
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die Strafzumessung relevant waren140. Dies lässt sich einerseits so deuten, dass es bei der wiederholten Beurteilung nicht nur um die Entwicklung nach der Urteilsfällung, sondern erneut um eine umfassende Bewertung geht. Umgekehrt kann die notwendige Berücksichtigung auch darin gesehen werden, dass die neuen Tatsachen in den Kontext der Gegebenheiten eingeordnet werden, ohne dass bereits getroffene Feststellungen noch einmal zur Disposition stehen. 3. Neubewertung wegen Veränderungen in der Beurteilung der Wirklichkeit Fest steht, dass die Aufforderung zur Neubewertung nur sinnvoll ist, wenn sie eine Dynamik der Bewertungsgrundlagen unterstellt. Diese wiederum ist nicht nur als Veränderung der Wirklichkeit141, sondern auch ± bei gleich bleibender Realität ± als Veränderung der Beurteilung dieser Wirklichkeit142 denkbar, wobei die zweite Möglichkeit das Können und Wollen, also die Beurteilungsmöglichkeiten und das Beurteilungsinteresse betreffen kann. Volckart begründet die fehlende Bindungswirkung von Feststellungen zu den Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB damit, dass nach dem Gedanken des § 67 Abs. 3 StGB eine erneute Bewertung durch veränderte Beurteilungsmöglichkeit gerechtfertig sei. Warum aber soll die bessere Beurteilung bekannter Umstände nicht auch bei der Prognose eine abweichende Folgeentscheidung rechtfertigen? Wenn es ein Unding ist, einen Patienten wegen einer nicht vorhandenen Krankheit zu behandeln143, so ist es auch ein Unding, einen Gefangenen wegen nicht vorhandener Dissozialität zu resozialisieren. Ohne den dafür vorgesehenen Anlass ist jede Maßnahme verfehlt, was für eine Behandlung unabhängig davon gilt, ob die Behandlungsnotwendigkeit durch Erkrankung oder Straffälligkeit besteht. Dabei können neue Beurteilungsmöglichkeiten bei der Verhaltensvorhersage schon durch die Person des Urteilenden bedingt sein. Volckart144 räumt der Psychiatrie einen Beurteilungsvorrang bei Fragen der Schuldfähigkeit ein, was für Prognosen an einen entsprechenden Vorrang des kriminologischen Erkenntnissystems denken lässt. Vor allem aber kommen neben personenbezogenen auch sachliche Gründe dafür in Betracht, dass zu einem späteren Zeitpunkt bes___________ 140
So etwa das ÄVorleben³ des Täters, zu dessen Berücksichtigung sowohl § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, als auch § 57 Abs. 1 S. 2 StGB ausdrücklich auffordert. 141 Zum Beispiel durch Resozialisierung des Verurteilten. 142 Etwa aufgrund der Beobachtungen von Verhaltensgewohnheiten des Verurteilten im Vollzug. 143 Volckart 1993, S. 108. 144 1997, S. 26 ff.
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ser beurteilt werden kann. Aus dem Blickwinkel der Beurteilungsmöglichkeiten werden nämlich zwei Kategorien von Feststellungen sichtbar: Das vollstreckte Urteil enthält einerseits Aussagen zu Tatsachen, die im Beurteilungszeitpunkt bereits abgeschlossen sind, beispielsweise die ausgeführte Tathandlung. In die tatrichterliche Bewertung fließen aber auch Feststellungen mit fortwirkendem Wirklichkeitsgehalt ein, wie dies zum Beispiel bei bestimmten inneren Haltungen145 der Fall sein kann. Während sich die Beurteilungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Vergangene bereits durch den zeitlichen Abstand einschränken, erweitern sie sich umgekehrt bei Überdauerndem durch wiederholte Wahrnehmungsmöglichkeiten. Ein einmaliges, historisches Geschehen verblasst mit zunehmendem Zeitablauf, konstante Gegebenheiten wie etwa Verhaltensmuster hingegen zeichnen sich damit immer deutlicher ab. Deshalb geben Unterschiede der Beurteilungsmöglichkeiten einen gewissen Anhaltspunkt für die Zuverlässigkeit von Wahrheitsvorstellungen. Mit zunehmendem Zeitablauf entfernt sich bei einmaliger Manifestation die Beurteilungsmöglichkeit vom Betrachtungsgegenstand, während Wiederkehrendes über eine gewisse Zeit hinweg besser beurteilt werden kann. Aus diesem Grund wird sich ein späterer Entscheidungsträger bei einem einmaligen historischen Ereignis eher Zurückhaltung auferlegen, als bei der Beurteilung einer Wirklichkeitskonstante, für deren Einschätzung er mit zunehmendem Zeitablauf Autorität in Anspruch nehmen kann. Vor allem aber gibt es nicht nur statische und dynamische Prognosekriterien146, sondern auch statische und dynamische Beurteilungsmöglichkeiten. Auf manchen Wirklichkeitsumstand kann in immer gleicher Weise zugegriffen werden, andere dagegen sind mal besser und mal schlechter zu fassen. Nicht nur eine prognostische Variable, sondern auch ihre Manifestation kann statisch und dynamisch sein ± und dies, ohne dass die Veränderlichkeit von Variable und Manifestation übereinstimmen muss. Bestimmte Umstände treten in immer gleicher Weise in Erscheinung, während andere darin veränderlich sind. Diese Feststellung ist vor allem in Bezug auf statische Wirklichkeitsumstände von Bedeutung, denn dynamische rechtfertigen durch ihre Aktualisierungsnotwendigkeit ± wie oben dargelegt147 ± ohnehin eine Neubewertung.148 Die ___________ 145
Mit diesen stehen wiederum Begriffe wie beispielsweise ÄHang³ oder Äkriminelle Energie³ in Zusammenhang. 146 Siehe dazu auch den Teil zum Umgang mit dem Ableugnen in verschiedenen Prognoseverfahren und den Abschnitt zu Anforderungen an methodische Vorgaben im vorigen Kapitel. 147 Siehe den Abschnitt zu Neubewertungen wegen Veränderungen der Wirklichkeit.
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Frage der Bindungswirkung profitiert von der Differenzierung zwischen Wirklichkeitsumstand und seiner Manifestation also bei statischen Wirklichkeitsumständen. Auch hier zeigt sich nämlich, dass ein solcher Umstand nicht stets in gleicher Weise sichtbar werden muss, was insbesondere dann gilt, wenn er sich immer nur mittelbar bzw. nur in Teilen zeigt, wovon bereits die Diagnoseinstrumente der Psychiatrie Zeugnis geben. Eine Verletzung des Stirnhirns beispielsweise kann in einer flachen Fröhlichkeit zum Ausdruck kommen, der im nächsten Moment ein ± durch den gleichen pathologischen Zustand bedingter ± Wutausbruch folgt.149 Entsprechend gehen Psychiatrie und Kriminologie übereinstimmend davon aus, dass Persönlichkeitsbeurteilungen von einer Langzeitbetrachtung profitieren.150 Ganz offensichtlich gibt es also Wirklichkeitsumstände, bei denen sich die Beurteilungsmöglichkeit mit Zeitablauf nicht verschlechtert, sondern verbessert. Davon kann ausgegangen werden, wenn sich der Umstand wiederholt manifestiert und diese Wiederholung einen Erkenntnisgewinn erwarten lässt. Letzteres wird vor allem bei einer dynamischen Manifestation plausibel, zeigt sich hier doch etwas Neues vom Betrachtungsgegenstand, was erneute Erkenntnisbemühungen nach verlängertem Beobachtungszeitraum plausibel macht151. Neubewertungen erscheinen hier sinnvoll, um den verbesserten Beurteilungsmöglichkeiten in der Langzeitbetrachtung Rechnung zu tragen. Dabei darf der Unterschied zwischen statischer und dynamischer Manifestation nicht aus der Perspektive des erkennenden Subjekts bestimmt, das heißt die Erfahrung der Manifestation nicht mit der Manifestation selbst verwechselt ___________ 148
Dabei wird Dynamisches durch Statisches möglicherweise verdeckt, wie gerade das Ableugnen der Tat zeigt: So kann sich die maßgebliche, in der Tatverleugnung zum Ausdruck gekommene kriminorelevante Haltung verflüchtigt haben, der Verurteilte aber bei seinem Leugnen bleiben, weil er sich sonst zudem noch der Lüge bezichtigen müsste. 149 Vgl. Weltgesundheitsorganisation 1993, S. 83. 150 Stellvertretend Tölle/Windgassen 2003, S. 41; Göppinger 1997, S. 336, 413. Im Manual zum ÄPCL-SV³ heißt es beispielsweise: ÄDie Items sollen nicht nur auf der Basis des gegenwärtigen Bildes eingeschätzt werden, das die Person gerade bietet. Das gegenwärtige Bild könnte wegen extremer situativer Faktoren, [«] untypisch für das übliche Funktionieren sein.³ (Freese 2000, S. 10) 151 Damit lässt sich auch die besondere Zurückhaltung erklären, die bei Wirklichkeitsaussagen über erfahrungswissenschaftliche Sachverhalte geübt wird. Hier würden oft (nur) Lösungen mittlerer Reichweite angestrebt, die auf Weiterentwicklung und regelmäßige Korrektur angelegt seien (Birkhoff, StraFo 2001, 401, 406). Erfahrungswissenschaftlich relevante Umstände manifestieren sich häufig in unberechenbarer und schwer greifbarer Weise, hier liegen also dynamische und unzuverlässige Manifestationen vor.
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werden. Erfahrung im Sinne Ägeronnener³ Wahrnehmung ist niemals abgeschlossen, sondern ständigen Veränderungen unterworfen, die beispielsweise aus nochmaliger sinnlicher Wahrnehmung oder der Kommunikation mit anderen Menschen resultieren können152. Auch eine statische Manifestation erscheint damit aus der Perspektive des erkennenden Subjekts in gewissem Sinne dynamisch, ein Unterschied wird nur bei einer Betrachtung sichtbar, die von der subjektiven Erfahrung unabhängig ist, also auf die abstrakte Manifestationsmöglichkeit abstellt. 4. Verändertes Beurteilungsinteresse als Notwendigkeit der Wahrheitssuche Die Wahrnehmung neuer Beurteilungsmöglichkeiten kann nur dann zulässig sein, wenn der Gesetzgeber dazu auffordert, denn ihm obliegt grundsätzlich die Ausgestaltung der Wahrheitssuche im Prozess. Er muss auch das Interesse festschreiben, unter dem Wirklichkeitsannäherungen stattfinden, wenn er die unendlich fortsetzbare Suche nach der Wahrheit beenden will. Anderenfalls ließe sich mit der Behauptung eines abweichenden Beurteilungsinteresses stets die Bindungswirkung getroffener Feststellungen unterlaufen. Der Gesetzgeber hat jedoch im vierten Buch der Strafprozessordnung ausdrücklich geregelt, wann er eine erneute Beurteilung rechtskräftig festgestellter Tatsachen in einem Strafverfahren wünscht. Über die dort genannten Voraussetzungen hinaus ergeben sich allerdings für die Entlassungsprognose verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass im Hinblick auf dynamisch manifestierte Wirklichkeitsumstände ein neues Beurteilungsinteresse zur Wahrnehmung verbesserter Beurteilungsmöglichkeiten zugelassen ist. Dafür spricht bereits das aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitende Ziel der materiellen Wahrheitssuche, eine größtmögliche Annäherung an das objektiv Gegebene zu erreichen153. Diesem Ziel würde es widersprechen, von vornherein vorhersehbare Verbesserungen der Beurteilungsmöglichkeiten aus der Hand zu geben. Dann aber liegt nahe, Feststellungen über solche Wirklichkeitsumstände aus der Bindungswirkung herauszunehmen, die zu einem späteren Zeitpunkt besser beurteilt werden können. Wahrheit ist stets relativ, abweichende Beurteilungen sind also immer möglich, was jedoch nicht rechtfertigt, greifbare Verbesserungen der Wahrheitsermittlung ungenutzt zu lassen.
___________ 152 153
Vgl. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336 f. m. w. N. Fezer 1993, S. 668; Blau, GA 1959, 293, 295.
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5. § 454 StPO als Ausdruck veränderten Beurteilungsinteresses Eine Bestätigung dafür gibt auch § 454 Abs. 2 StPO. Er schreibt vor, dass bei Entlassungsprognosen ein Sachverständiger hinzuzuziehen ist, wenn es um die Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe oder Inhaftierung wegen bestimmter Sexualdelikte geht. Die Sachverständigentätigkeit würde die rechtskräftigen Feststellungen dann nicht berühren, wenn die Gutachterbestellung allein wegen der Schwierigkeiten bei Beurteilung von Wirklichkeitsänderungen nach Urteilsfällung angeordnet wäre. Auf diesen dynamischen Anteil der prognostischen Beurteilungsgrundlage stellt § 454 Abs. 2 S. 2 StPO ausdrücklich ab, indem er dem Sachverständigen ein Eingehen auf die Frage abverlangt, Äob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, daß dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht.³ § 454 Abs. 2 S. 2 StGB spricht allerdings auch davon, dass der Sachverständige sich Änamentlich³ zu dieser Frage zu äußern hat, erwartet also ein Eingehen auf weitere Gesichtspunkte. Eine Beschränkung der Sachverständigentätigkeit auf die Beurteilung von dynamischen Wirklichkeitsumständen ist dem Gesetz damit nicht zu entnehmen und entspricht auch nicht der Prognosepraxis154. Im Gegenteil würde es zu kurz greifen, das gesetzliche Gebot zur wiederholten Überprüfung von Prognosen allein zum Votum für dynamische Variablen umzudeuten. Dafür sprechen vor allem die Zweifel an der prognostischen Aussagekraft dessen, was seit der letzten prognostischen Beurteilung hauptsächlich neu ist, nämlich des Vollzugsverhaltens. Die Bewährung von Sexualstraftätern im Anstaltsalltag bezeichnet beispielsweise Schmitt als prognostisch überwiegend bedeutungslos155; Platz wiederum kennzeichnet es als ein Äeher vergebliches Bemühen³, aus dem Verhalten von Patienten im Maßregelvollzug auf das künftige Legalverhalten schließen zu wollen156, während Göppinger auf die atmosphärischen Besonderheiten des Haftaufenthalts mit einem ÄSchonklima³157 einerseits und einem ÄReizklima³158 andererseits sowie den Umstand hinweist, dass die haftbedingte Einengung nur einen verhältnismäßig geringen Spielraum zur freien Entfaltung belässt159. Eisenberg spricht insgesamt vom Vollzugsver___________ 154
Vgl. dazu die Anforderungen an die Prognoseerstellung aus dem vorigen Kapitel. Schmitt, BewHi 1996, 3, 7. Er bringt das Beispiel, dass ein Sexualstraftäter, der in der Haft erfolgreich eine Lehre absolviere, danach eben ein Sexualstraftäter mit abgeschlossener Lehre sei. Es wäre allerdings falsch, dem Strafvollzug jede Möglichkeit der günstigen Einflussnahme abzusprechen (dazu Schöch, ZStW 92 (1980), 146, 172 f.). 156 Platz, StV 1996, 234 f. 157 Es bestimme vor allem Leistungs- und Freizeitbereich. 158 Mit Besonderheiten der Überwachung, Reglementierung und Provokationen durch Mithäftlinge. 159 Göppinger 1997, S. 446. 155
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halten als einem in der Regel unsicheren Erkenntnismittel160; eine reibungslose Integration in den Anstaltsbetrieb ließe ebenso wenig ohne weiteres günstige Schlüsse zu, wie ein Aufbegehren, isoliert betrachtet sei das ÄVollzugsverhalten³ daher prognostisch weitgehend unergiebig161. Nach all diesen Auffassungen kommt es wenig auf dasjenige an, was sich nach Urteilsfällung verändert hat.162 Dafür spricht auch die Überlegung, dass Bewährung eben eine Bewährung in Freiheit ist, es dann aber in dem neuen Beobachtungszeitraum mehr um Haltungen und Verhaltensmuster gehen muss. Sie sind selbstverständlich auch Veränderungen zugänglich, gleichzeitig profitiert ihre Beurteilung aber ± ob verändert oder nicht ± von einem längeren Beobachtungszeitraum. Je ausgedehnter die erfasste Zeitstrecke ist, desto zuverlässiger lassen sich konstante Verhaltensmuster im Längsschnitt, aber auch Veränderungen im Querschnitt erfassen.163 6. Sachverständigenbestellung und Beurteilungsinteresse Auch die Heranziehung eines Sachverständigen also solche spricht für einen gesetzgeberischen Willen zur Neubewertung. Soweit die Vorstellungen eines Gutachters in Gegensatz zu rechtskräftigen Feststellungen geraten, erscheinen rechtsdogmatische Anweisungen der Wahrheitserforschung im Verhältnis zu einer Fremdwissenschaft blasser als in rein rechtlicher Betrachtung.164 § 244 Abs. 4 S. 1 StPO ist nämlich zu entnehmen, dass ein Sachverständiger dem Gericht fehlende Sachkunde vom eigenen Wissenssystem her zu vermitteln und damit
___________ 160 Eisenberg 2005, S. 175, 535; siehe auch Eisenberg/Ohder 1987, S. 43; Böhm/ Erhard 1988, S. 191, 222. 161 Eisenberg, NStZ 1989, 366, 366. 162 Dass Vollzugsverhalten umgekehrt einen erheblichen Eigenwert in den Zuschreibungen der formellen Sozialkontrolle bewirken kann, darauf weist RASCH (1994, S. 26) hin. Gerichte und Gutachter würden dazu neigen, Täter in den Maßregelvollzug nach § 63 StGB einzuweisen, obwohl die höchstrichterlich ermittelten Kriterien dafür nicht erfüllt wären. Sei das Urteil rechtskräftig, verlören diese Mängel des Urteils an Bedeutung und die Unterbringung entwickele ihre eigene Dynamik, z. B. mit disziplinarischen Verstößen oder Entweichungen. Sie wiederum würde eine Empfehlung der Fortdauer einer Unterbringung veranlassen, die eigentlich gar nicht hätte angeordnet werden dürfen, vgl. auch Konrad, NStZ 1991, 315 ff. 163 Vgl. Kröber, NStZ 1999, 593, 598. 164 Fincke (ZStW 1974, 656, 657 f.) meint beispielsweise, dass es für den Sachverständigen gerade zur Erfüllung des Gutachtenauftrags unvermeidlich sei, sich im Rahmen der Exploration eine eigene Tatsachengrundlage hinsichtlich der prozessgegenständlichen Tat zu schaffen.
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den juristischen Entscheidungsträger bei der Beurteilung einer Beweisfrage zu unterstützen hat.165 Damit gehört ± im Übrigen auch begrifflich ± zur Person des Sachverständigen, dass sie auf einem bestimmten Wissensgebiet einen Sachverstand hat und diesen übermittelt bzw. anwendet.166 Die Heranziehung eines Sachverständigen beinhaltet also gerade, dass hier jemand eine Tätigkeit vollbringt, welche das Gericht selbst so nicht vornehmen kann. Es wird also explizit zu Feststellungen aufgefordert, die so vorher nicht getroffen wurden, was zwangsläufig neue Wahrheitsvorstellungen mit sich bringt, auch wenn sich Gericht und Sachverständiger oft mit den gleichen Fragen beschäftigen.167 Unterwirft die Strafrechtspraxis den Prognosegutachter dabei einem originär normativen Entscheidungszwang, so können sich zahlreiche Verwerfungen auf dem Boden der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit zeigen. Hier können die Erarbeitungsregeln kollidieren, indem die Leitlinien der erfahrungswissenschaftlichen Tätigkeit in Konflikt mit der Rechtsdogmatik geraten. Gerade das Problem der Rechtskraft gibt dafür ein Beispiel, denn bereits die eigenständige Abgrenzung von Ableugnen und Abstreiten ist dem Sachverständigen nur gestattet, wenn er nicht an die vorangehenden juristischen Bewertungen gebunden ist. Beim Aufeinandertreffen verbindlicher Regeln muss wenigstens eine für die Auflösung der Divergenz zurücktreten, die Beteiligten aber fühlen sich ihren Beurteilungsgrundlagen verpflichtet. Die Verbindlichkeit der Entscheidungsregeln verbietet ihre Umgehung, eine Suspendierung wird als unsachgemäße Modifikation der fachlichen Bewertung empfunden. Bei Zurücksetzung seiner Bewertungsmaßstäbe hinter Unterstellungen des Rechts sieht sich der prognostische Sachverständige zwar zum Einbringen von Fachwissen aufgefordert, aber gleichzeitig am sachgerechten Einsatz dieses Wissens gehindert. Er muss sich fragen, ob er Diener der eigenen oder der rechtlichen Wahrheit ist. Dabei kann ihm jede Veränderung des rein erfahrungswissenschaftlichen Gutachtenergebnisses durch rechtliche Vorgaben als Umgehung der eigentlichen Prognose erscheinen, da das Ergebnis nicht mehr die Äreine³ erfahrungswissenschaftliche Wahrheit widerspiegelt. Insoweit stehen rechtsdogmatische Erfordernisse einer vollen Nutzung des besonderen Sachverstands entgegen. ___________ 165 Sandvoß, ArtzR 2003, 176, 176; Fezer 1995, S. 159; Jessnitzer, StV 1982, 177, 177; Gössel, DRiZ 1980, 363, 363. 166 Meyer-Goßner, Vor § 72 Rn. 1 und 3 m. w. N. 167 Vgl. BGHSt 13, 1, 2 ff. Nach Ansicht von Undeutsch (1957, S. 200) vermag sogar häufig Äerst die Exploration durch den Sachverständigen eine unverfälschte, ehrliche und vollständige Schilderung des Geschehenen herbeizuführen³.
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Dies wiegt umso schwerer, als für den Sachverständigen die berufsethische und nach § 79 Abs. 2 StPO auch rechtliche Verpflichtung besteht, sein Gutachten Äunparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen³ abzugeben168. Was allerdings das Äbeste³ Wissen ist, lässt die StPO offen. Auf den ersten Blick könnte man darin dasjenige sehen, was den Maßstäben der jeweiligen Fachdisziplin am ehesten entspricht. Diese Lesart wird durch den Hinweis auf das ÄGewissen³ erhärtet, kann doch in einer Entscheidung für einen Beruf auch eine Gewissensentscheidung liegen, die wiederum eine besondere Verbundenheit mit den Leitsätzen des eigenen Fachs plausibel macht. Allerdings meint Äbestes Wissen und Gewissen³ im Sinne des § 79 Abs. 2 StPO nicht zwingend erfahrungswissenschaftliche Sterilität. Der Sachverständige weiß, dass er in einem prozessualen Kontext tätig wird, er ist sich bei entsprechender Anleitung dessen bewusst, dass die Regeln seines Fachs nicht umfassende Geltung beanspruchen können. Die Formulierung des § 79 Abs. 2 StPO kann damit auch ein Wissen meinen, das durch Einbeziehung von prozessualem Kontext und rechtsdogmatischen Vorgaben zum Äbesten³ wird. Wenn dem Sachverständigen jedoch Wahrheitsvorgaben gemacht werden, die seine gesamte Arbeit fragwürdig werden lassen, verliert seine Einbeziehung in die Entscheidungsfindung ihren Sinn.169 Hier darf eine Bindungswirkung nicht von vornherein Erkenntnismöglichkeiten vereiteln, etwa wenn beiläufig vom Juristen als Laien Befunde zu Umständen erhoben werden, denen ein Sachkundiger widersprechen muss. Würde jede richterliche Feststellung eigene Bewertungen durch den Prognostiker sperren, so wären seiner Beurteilungskompetenz auch Umstände entzogen, über die sich das Tatgericht ± unter Umständen sogar nur beiläufig ± ein Bild gemacht, dabei aber mangels notwendiger Sachkunde wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat. Ist ein solcher Umstand von zentraler Bedeutung für die Gutachtenfrage, darf dem prognostischen Sachverständigen nicht durch eine Bindung an die richterliche Beurteilung die ordnungsgemäße Erfüllung der ihm zugewiesenen Aufgabe verwehrt sein. Diese Fälle aber lassen sich zwanglos auf die Beurteilung von dynamisch manifestierten Wirklichkeitsumständen beschränken, was die vorgeschlagene Konzeption bestätigt.
___________ 168
Cabanis, NJW 1978, 2329, 2330. Volckart assoziiert mit der Unterwerfung des Sachverständigen unter beweisrechtliche Beschränkungen das Ansinnen der Kirche durch Papst Urban VIII und Kardinal Bellarmino gegenüber Galilei, nach ihren Regeln zu denken und nicht danach, was seine wissenschaftlichen Erkenntnisse ihm nahe legten (Volckart 1993, S. 110). 169
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7. Verändertes Beurteilungsinteresse bei Entlassungsprognosen § 454 Abs. 2 StPO verleitet darüber hinaus zu der Annahme, dass nicht nur in den Fällen der Interdisziplinarität, sondern ganz allgemein ein Unterschied zwischen der Entlassungsprognose und vorangegangenen prognostischen Bewertungen besteht: Nach dieser Vorschrift sind Fälle denkbar, in denen die Kriminalprognose im Erkenntnisverfahren auch dann ohne Gutachterbestellung auskommen kann, wenn sie im Zusammenhang mit der Entscheidung über eine vorzeitige Entlassung nur mit Hilfe eines Sachverständigen erarbeitet werden darf. Die Entlassungsprognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB unterscheidet sich von vorangegangenen prognostischen Beurteilungen also zumindest dadurch, dass sie aus Sicht des Gesetzgebers eher die Beratung durch einen Sachverständigen notwendig macht. Betrachtet man die Bedingungen der Gutachterbestellung nach § 454 Abs. 2 StPO genauer, so ergeben sich abgesehen davon, dass es um lebenslange Freiheitsstrafen und solche wegen bestimmter Sexualdelikte geht, keine Unterschiede zu sonstigen Entlassungsprognosen, bei denen keine Sachverständigenheranziehung vorgeschrieben ist. Verschiedenheiten von lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe betreffen in prognostischer Hinsicht vor allem das Gewicht der zugrunde liegenden Verfehlung. Psychische Auffälligkeiten hingegen sind ebenso wenig zwingende Sonderbedingungen wie besondere soziale oder andere prognostische Umstände. Allein die Länge des Haftaufenthalts kann mit besonderen Schwierigkeiten der Prognoseerstellung in Zusammenhang gebracht werden, zum Beispiel weil es lange an der Möglichkeit zur Bewährung in Freiheit gefehlt hat. Darüber hinaus wird hier die obligate Gutachterbestellung nicht durch einen inhaltlich bestimmten Einsatzbereich, also einen besonderen Betrachtungsgegenstand plausibel. Aus dem Gesetz gehen vielmehr keine Eigenheiten bzw. Erfordernisse der Prognoseerstellung hervor, die einen klar abgrenzbaren und damit kennzeichnenden Einsatzbereich des Sonderwissens definieren. Ist es jedoch nicht eine besondere Qualität des prognostischen Betrachtungsgegenstands, liegt eine besondere Intensität in der Auseinandersetzung damit als Rechtfertigung für die obligate Sachverständigenheranziehung nahe. Der Gesetzgeber verlangt ganz offensichtlich in den Fällen des § 454 Abs. 2 StPO, die prognostischen Erkenntnisbemühungen bei der Entlassungsprognose gegenüber vorangegangenen prognostischen Beurteilungen zu intensivieren. Damit schreibt er eine Steigerung des Wissensbedarfs fest, die auch für die Fälle ohne obligate Sachverständigenheranziehung plausibel wird. Entsteht der besondere Wissensbedarf in den Fällen der lebenslangen Freiheitsstrafe erst bei der Entlassungsprognose, so gilt dies auch in den übrigen Fällen, denn sachliche Unterschiede zwischen den Prognosekonstellationen sind dem Gesetz nicht zu ent-
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nehmen, soweit es das Verhältnis von Entlassungsprognose und vorangegangenen Prognosebeurteilungen betrifft. 8. Einschränkungen der Bindungswirkung bei Persönlichkeitsbeurteilungen Einschränkungen der Bindungswirkung vorangegangener Entscheidungen bei persönlichkeitsabhängigen Beurteilungen finden sich darüber hinaus an ganz unterschiedlichen Stellen im Gesetz: Während etwa nach § 51 Abs. 1 BZRG dem Verurteilten die frühere Tat nach Tilgung grundsätzlich nicht mehr vorgehalten werden darf, gilt nach § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG eine Ausnahme für ÄGutachten über den Geisteszustand des Betroffenen³. Vom ÄZustand³ des Betroffenen spricht auch § 246a StPO, der Prognosefragen einbezieht, was für den ÄGeisteszustand³ in § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG nicht anders sein kann170. Ein anderes Beispiel gibt § 11 Abs. 2 JGG, der dem Richter erlaubt, durch rechtskräftige Entscheidung auferlegte Weisungen im Sinne des § 10 JGG abzuändern, wenn dies aus Gründen der Erziehung geboten ist. Die §§ 105 Abs. 2, 31 Abs. 2 S. 1 JGG wiederum erlauben mit Blick auf persönlichkeitsabhängige Erziehungsbedürfnisse, eine bereits rechtskräftige Verurteilung nachträglich abzuändern.171 Auch ist gem. § 67 Abs. 3 StGB die Reihenfolge der Vollstreckung bei Anordnung von stationären Maßregeln nach den §§ 63 und 64 StGB nachträglich bestimmbar, soweit ÄUmstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen³. Nach § 27 JGG können persönlichkeitsabhängige Beurteilungen ± wie hier die Feststellung von Äschädlichen Neigungen³ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG ± sogar gänzlich offen bleiben. Deutlich zeichnet sich also eine besondere Zurückhaltung des Gesetzgebers ab, soweit es um bindende Feststellungen zu persönlichkeitsabhängigen Umständen geht. Dies lässt sich zwanglos mit der Dynamik von Beurteilungsmöglichkeiten erklären: Gerade die Persönlichkeitsbeurteilung ist von einem Bezug auf dynamisch manifestierte Wirklichkeitsumstände geprägt.172 Innere Haltungen sind nur durch ihre Manifestation in der Außenwelt zu erfassen, können gleichzeitig aber ganz unterschiedliche Ausdrucksformen haben173. Angesichts ___________ 170
Volckart 1997, S. 27. Siehe dazu Eisenberg 2006, § 105 Rn. 44. Die Beurteilung des Entwicklungsstandes nach § 105 Abs. 1 JGG entfaltet im Übrigen keine Bindungswirkung (Eisenberg 2006, § 105 Rn. 12). 172 Entsprechend heißt es in § 7 Abs. 3 S. 1 StVollzG ausdrücklich, dass der Vollzugsplan durch Fortschreibung Ämit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten³ ist. 173 Siehe dazu den Abschnitt zu Schwierigkeiten mit der Erfassung innerer Haltungen und Vorgänge im vorigen Kapitel. 171
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ihrer vieldeutigen Manifestationen werden sie sich umso eher abzeichnen, je größer der Beurteilungszeitraum ist.174 So wird die gesetzliche Zurückhaltung plausibel: Der Zeitablauf verbessert die Beurteilungsgrundlage bei dynamisch manifestierten Wirklichkeitsumständen und rechtfertigt so gerade bei Persönlichkeitsbeurteilungen ein erneutes und ggf. intensiveres Bemühen um eine Erfassung. 9. Voraussetzungen einer Neubewertung Trotz fehlender Bindungswirkung bei dynamisch manifestierten Wirklichkeitsumständen droht nicht die Gefahr, dass im Vollstreckungsverfahren abermals einem Bestreiten früherer Taten nachgegangen werden muss.175 Im Gegenteil bewährt sich auch hier die vorgeschlagene Berücksichtigung der Dynamik von Beurteilungsmöglichkeiten, denn sie macht unmittelbar plausibel, wenn der Prognostiker berechtigten Anlass für eine Neubewertung hat. Fehlende Bindungswirkung heißt nämlich nicht, dass die Feststellungen des Urteils keine Relevanz haben und darüber nach Belieben hinweg gegangen werden kann. Die Urteilsfeststellungen stehen vielmehr in der Weise im Raum, dass ihre Widerlegung einen Gegenvortrag erfordert, der sich nur bei entsprechender Substanz durch verbesserte Beurteilungsmöglichkeiten durchsetzen kann.176 Inwieweit sich dabei aus dem erfahrungswissenschaftlichen Blickwinkel ein besseres Verständnis gegenüber den Urteilsfeststellungen ergeben soll, ist im Einzelfall von einer gründlichen und kritischen Herleitung abhängig. Der Prognostiker wird sich nur in den seltensten Fällen veranlasst sehen, vorangegangene Bewertungen auch für den früheren Beurteilungszeitpunkt widerlegen zu wollen. Für ihn sind die vorhandenen Feststellungen in dem Sinne beachtlich, dass sie zu einer besseren Beurteilungsmöglichkeit und einem weitergehenden Wissen verpflichten, wenn er sie beseitigen will. Dazu muss er gegen eine Beweislage antreten, für die eine Sachnähe sprechen kann, die erst einmal beseitigt werden muss. ___________ 174
Siehe dazu den Abschnitt zu Anforderungen an methodische Vorgaben im vorigen Kapitel. 175 Rasch (1994, S. 18 ff.) hingegen bezeichnet die Entscheidung über die vorzeitige Entlassung nach § 57a StGB als ÄReprise der Hauptverhandlung³, allerdings ohne deren rechtliche Absicherung. Streng genommen müsse man noch einmal in die Beweisaufnahme eintreten, beispielsweise einen psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit und Motivation und Dynamik der Tat hören. 176 Ein Psychowissenschaftler wird beispielsweise nichts zur kriminaltechnischen Verwertung von Fußabdrücken beitragen können, sehr wohl aber zur Beurteilung von inneren Tatsachen, Einstellungen oder Haltungen des Probanden, verdankt er seine Hinzuziehung ja gerade seinem darauf bezogenen Sonderwissen.
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Dies gilt auch mit Blick auf die Substanz eines Ableugnens. Der Prognostiker kommt bei Entlassungsprognosen erst lange nach Rekonstruktion des Geschehens durch das Tatgericht zum Einsatz und muss daher bereits wegen des Zeitablaufs eine Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten hinnehmen. Völlig überflüssig ist die wiederholte Erörterung von Einzelfragen, die das Erkenntnisverfahren bereits geklärt hat, denn selbst in diesem Verfahrensabschnitt ist die Beweiserhebung über bereits ermittelte Tatsachen ausgeschlossen (vgl. § 244 Abs. 3 StPO). Einem Sachverständigen obliegen Feststellungen zudem nur in seinem eigenen Aufgabenbereich. Dazu gehört die Würdigung von Widersprüchen zwischen Probandenangaben und anderen Beweisergebnissen nur, wenn sie unterschiedliche gutachterliche Schlussfolgerungen nahe legen. Hier können sie zu alternativen Beurteilungen führen177, in zweifelhaften Fällen muss der Sachverständige ggf. also mehrere Sachverhaltsalternativen erörtern178. Er sollte zumindest seinen Eindruck nicht verschweigen, wenn etwas möglicherweise übersehen wurde.179 In diesem Zusammenhang ist auf den Unterschied von Feststellung und Bewertung von Tatsachen hinzuweisen. Nährt eine Neubewertung vorhandener Tatsachen den Verdacht, dass diese Tatsachen auch bei der früheren Verurteilung hätten anders bewertet werden können, so zwingt dies nicht dazu, dem Verdacht über die prognostische Beurteilung hinaus nachzugehen. VI. Das Problem der Rechtskraft aus erkenntnistheoretischer Sicht 1. Erkenntnisinteresse als Wahrheitsbedingung Ohnehin relativieren erkenntnistheoretische Überlegungen die Relevanz des vorliegenden Rechtskraftproblems: Die oben hergeleitete180 Unmöglichkeit einer Erfassung objektiver Wahrheit bedingt, dass die Wirklichkeit stets unter einem ganz bestimmten Blickwinkel gesichtet werden muss. Alle denkende Erkenntnis setzt stillschweigend voraus, dass jeweils nur ein endlicher Teil der Wirklichkeit den Gegenstand der (wissenschaftlichen) Erkenntnis bildet. Nur er ist Äwesentlich³ im Sinne von Äwissenswert³; in das ÄChaos bringt nur der Umstand Ordnung, dass in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat³.181 ___________ 177
Nedopil 2000, S. 15. So auch Volckart 1997, S. 21. 179 Kröber, NStZ 1999, 593, 595. 180 Siehe Abschnitt zu Wirklichkeitsannäherungen im Strafprozess. 181 Max Weber 1985, S. 177 f. 178
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Wirklichkeitsannäherungen verlangen damit stets eine Entscheidung darüber, was an der Wirklichkeit überhaupt wissenswert ist.182 ÄDie Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele³183 weist dem Forscher die Richtung der Arbeit, was unerlässlich macht, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können184. Dazu wiederum muss es ein Auswahlkriterium geben, das eine Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem ermöglicht. Zur Wahrheitsermittlung ist also ein erkenntnisleitendes Interesse notwendig, das eine Differenzierung der vorhandenen Wirklichkeitsumstände erlaubt. Auf ihre Bedeutung für dieses Interesse hin wird die Realität untersucht. Vorstellungen von der Wirklichkeit sind also den Bedürfnissen eines bestimmten Erkenntnisinteresses angepasst, das Wirklichkeitsumstände auswählt und zu einer Wahrheit zusammenfasst. Ein erkenntnisleitendes Interesse muss den bedeutsamen Wirklichkeitsausschnitt vorgeben und die Relevanz der Wirklichkeitsumstände bestimmen, womit Spielräume für Variationen entstehen185. Ein Wirklichkeitsumstand kann nicht nur auf eine Weise richtig wahrgenommen und beschrieben werden, vielmehr ist jede Erscheinung der Lebenswelt unter vielfältigen Gesichtspunkten erfassbar.186. Konkurriert ein Erkenntnisinteresse im Hinblick auf den gleichen Gegenstand mit einem anderen, so erscheinen unterschiedliche Wahrheiten beinahe unvermeidlich. Mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse korrespondieren ganz unterschiedliche Wirklichkeitsausschnitte, weil es ja stets um etwas ganz Bestimmtes geht. Durch Selektion entstehen Wahrheitsunterschiede; wird das Licht der Aufmerksamkeit anders gerichtet, beleuchtet es andere Gegebenheiten. Die durch Erfahrung vermittelte Welt wird so vom Menschen selbst ± symbolisch und begrifflich ± gestaltet und geformt187 und durch jene Fragestellung bestimmt, die sie zum Gegenstand des Erkenntnisinteresses macht. Dieses Wissen um die Abhängigkeit der Wahrheitsvorstellung vom Erkenntnisinteresse schränkt die Reichweite des vorliegenden Rechtskraftproblems erheblich ein: Bildet jedes Erkenntnisinteresse die Wirklichkeit aus einem ganz bestimmten Blickwinkel im Vorstellungsbild ab, kann dies anders motivierte
___________ 182
Bock 2000, S. 25 ff. So Max Weber 1985, S. 182. 184 Max Weber 1985, S. 178 ff. 185 Thalmann, ZfStrVo 2002, 259, 269. 186 Dazu Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 337 m. w. N. 187 Bock 2000, S. 25. 183
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Realitätsvorstellungen vom gleichen Gegenstand nicht ausschließen.188 Feststellungen zu einem Umstand sind für andere Befunde dazu überhaupt nur dann relevant, wenn sie mit dem gleichen erkenntnisleitenden Interesse korrespondieren. Getroffene Feststellungen können Bindungswirkung im Zusammenhang ihrer Fragestellung beanspruchen, nicht aber abweichende Vorstellungen vereiteln, die sich berechtigterweise aus einem anderen Blickwinkel ergeben. Nur vor dem Hintergrund der zu ihr gehörenden Ermittlungsfrage kann eine Feststellung also Geltung beanspruchen und Zweifel verwerfen. Rechtskraftwirkung ist damit ± auch bei der gleichen Tat und dem gleichen Täter ± nur denkbar, wenn es um die gleiche Fragestellung geht. Zwei Feststellungen stehen nicht schon dann im Widerspruch zueinander, wenn sie Unterschiedliches über den gleichen Wirklichkeitsumstand aussagen; sie müssen zusätzlich mit dem gleichen Erkenntnisinteresse korrespondieren, damit bei abweichender Bewertung des gleichen Wirklichkeitselements von einem Gegensatz gesprochen werden kann. Dies ist stets zu beachten, wenn es um die Bindungswirkung geht. Über sie ist bei Aussagen über den gleichen Betrachtungsgegenstand immer erst dann zu entscheiden, wenn eine Konkurrenz von Wahrheitsvorstellungen wegen des gleichen Erkenntnisinteresses feststeht. Problem der Rechtskraftwirkung ist nicht die Verbindlichkeit des vorliegenden Schuld- und Rechtsfolgenausspruchs, sondern die Bindungswirkung einzelner Feststellungen auf dem Weg dorthin. Um Strafwürdigkeit oder künftige kriminelle Gefährdung bewerten zu können, müssen zahllose Einzelfragen ± beispielsweise nach Täterschaft, Tatmotiven oder Entschuldigungsgründen ± beantwortet werden. Die dargelegten Kennzeichen der Wahrheitsermittlung gelten auch bei diesen Einzelbewertungen, die einem Strafurteil oder Prognoseergebnis vorausgehen; im Hinblick darauf müssen ebenfalls Wirklichkeitsausschnitte gebildet werden, denn auch hier ist absolute Objektivität zu sperrig für das Vorstellungsbild. Jedes Einzelproblem bedingt ein bestimmtes erkenntnisleitendes Interesse, das wiederum eine spezifische Selektion der Wirklichkeit nach sich zieht. So entstehen unterschiedliche Wirklichkeitsausschnitte, die als Wahrheiten zu Äihrer³ Fragestellung gehören. Eine andere Frage bedeutet einen anderen Wirklichkeitsausschnitt und damit einen anderen Teil der Wahrheit. Prognosen sind an der Realität in erster Linie aus der Sicht künftiger Straffälligkeit interessiert. Sie suchen zu einem Lebenssachverhalt, den das erkennende Gericht im Urteil aus dem Blickwinkel der Strafwürdigkeit festschreibt, teilweise einen kategorial anderen Zugang. Wenn der Prognostiker beispielsweise nach ___________ 188
Dabei kann in Frage gestellt werden, ob es den jeweiligen Gegenstand als gleichen überhaupt gibt.
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einer gemeinschaftlichen Tatbegehung fragt, so zielt das auf Erkenntnisse über eine kriminelle Verfestigung ab189, die von der Strafwürdigkeit des Geschehens völlig unabhängig sein kann. Den Prognostiker interessiert hier weniger die rechtsdogmatisch saubere Kategorisierung des Tatunrechts innerhalb der möglichen Beteiligungsformen, als vielmehr die Bedeutung der Delinquenz im Längsschnittbild der individuellen Lebensentwicklung. Er wird auf die wechselseitige Stimulanz und Bestärkung im Sinne einer Gruppendynamik abstellen190, wofür die Zurechnungskriterien des § 25 Abs. 2 StGB völlig bedeutungslos sein können. Wenn also das Strafurteil in materiell-rechtlichem Sinn von gemeinschaftlicher Tatbegehung spricht, muss das nicht mit der gleich lautenden Feststellung eines Prognostikers gleichzusetzen sein. Dass Unterschiede der Fragestellung bisweilen erst auf den zweiten Blick erkennbar werden, bietet Anlass zu Missverständnissen. Es muss erst einmal klar werden, dass der Prognostiker mit einer ÄMittäterschaft³ nicht das bewusste und gewollte Zusammenwirken aufgrund eines gemeinsamen Tatplans bei Gleichwertigkeit der Verursachungsbeiträge meint, wie dies das materielle Strafrecht fordert191. Grundsätzlich kann der gleiche Begriff in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse ganz unterschiedliche Wirklichkeitsumstände repräsentieren.192 Beteiligte können dann meinen, beim Gebrauch derselben Wörter vom selben zu reden, ohne zu erkennen, dass sie die Betrachtungsgegenstände möglicherweise ganz unterschiedlich wahrnehmen.193 Dabei sind Juristen grundsätzlich an Wirklichkeitsvorstellungen nur insoweit interessiert, als diese Voraussetzung der angewendeten Normen sind. Entsprechend hat van der Ven eine ÄEntfremdung³ zwischen der ÄWelt der Wirklichkeit³ und der ÄWelt der juristischen Relevanz³ diagnostiziert.194 2. Wahrheitsvorstellungen in der Interdisziplinarität Besonders deutlich zeigt sich der Zusammenhang von Erkenntnisinteresse und Wahrheitsvorstellung in der Interdisziplinarität: Teilweise werden Einschätzungen zukünftiger Gefährlichkeit von Juristen aufgrund eigener Sachkunde geleistet, teilweise wird dazu auch die Hilfe von Sachverständigen in An___________ 189
Vgl. Bock 2000, S. 241 ff. Bock 2000, S. 243. 191 Wessels/Beulke 2004, S. 185 f. m. w. N. 192 Unter dem Gesichtspunkt der Stabilität beispielsweise ist der Ärichtige Tisch³ etwas anderes als unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik. 193 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 338 m. w. N. 194 van der Ven 1974, S. 465. 190
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spruch genommen195. Wird das Recht bei seinen Verhaltensvorhersagen von Fremdwissenschaften unterstützt, tritt damit zu den allgemeinen Variationsmöglichkeiten des Erkenntnisinteresses noch der Unterschied von Laie und Fachmann. Auch Sonderwissen nämlich überwindet selbstverständlich die allgemeinen Unzulänglichkeiten menschlicher Wirklichkeitsannäherungen nicht. Insbesondere kann kein wissenschaftlicher Betrachtungsgegenstand so umfassend und differenziert sein wie der Bereich überhaupt möglicher Erfahrung, auch Wissenschaft ihren Gegenstand somit nicht einfach abbilden. Wie bei unwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen ist vielmehr eine Entscheidung darüber notwendig, was an der Wirklichkeit überhaupt wissenswert ist196, die Wahrnehmung der Realität also auch hier an Ordnungsleistungen des Subjekts geknüpft. Wissenschaft ist damit Ädenkende Ordnung des Wirklichen³197, die zur Handhabung der Realität ebenfalls auf abstrakte Abbilder davon angewiesen ist. Auch hier werden also bestimmte Vorentscheidungen als Hilfsmittel im Umgang mit der Wirklichkeit notwendig, die unvermeidlich mit einem Wirklichkeitsverlust beim Versuch der Realitätserfassung einhergehen198. Da sich Wissenschaften aber in ihren Betrachtungsgegenständen unterscheiden, bringen sie zwangsläufig auch unterschiedliche Wirklichkeitsvorstellungen hervor. Auf der wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Ebene haben Human- und Rechtswissenschaften so unterschiedliche Sichtweisen, dass sogar davon gesprochen wird, hier bleibe die Auseinandersetzung zwischen Strafrecht und Verhaltenswissenschaften ihrem Wesen nach auf Permanenz angelegt199. Dabei beginnen Unterschiede zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft bereits bei den Wirklichkeitsansprüchen. Erfahrungswissenschaft hat das Ziel, die Wirklichkeit zu erfassen, und muss ihre Aussagen damit anders absichern und begründen, als normative oder dogmatische Wissenschaften.200 Die juristische Bewertung eines Umstands hängt in erster Linie von der Übereinstimmung mit rechtlichen und ethischen Wertungen ab.201 Der Erfahrungswissenschaftler ___________ 195
In den Fällen des § 454 Abs. 2 StPO besteht sogar eine Verpflichtung dazu. Bock 2000, S. 25 ff. 197 Bock 2000, S. 25. 198 Bock 2000, S. 37. 199 Rasch, NStZ 1992, 257, 257; Nedopil, NStZ 1999, 433, 435 ff. 200 Bock 2000, S. 24. 201 Bock 2000, S. 24. 196
234
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
hingegen blickt eher auf das Sein202 als der Jurist, dessen normativ dogmatische Grundhaltung hauptsächlich durch einen Wert- bzw. Soll-Bezug gekennzeichnet ist. Das ÄReich des Sollens³ und das ÄReich des Seins³ aber sind grundverschiedene Systemwelten: Im einen regiert das Normative, das Gedachte, während das andere vom Materialen, vom Wirklichen geprägt wird.203 Wirklichkeitswissenschaft ist beispielsweise an einem Handel mit der Wahrheit nicht interessiert, wie er in Form von Prozessabsprachen stattfinden kann. Wirklichkeitsaussagen der Erfahrungswissenschaft müssen sich in der Realität, nicht in einer Rechtsfolgenorientierung bewähren. Hinzu kommt, dass Sachverständige und Juristen nicht nur in sachlicher, sondern auch in persönlicher Hinsicht unterschiedliche Beziehungen zum Untersuchungsgegenstand unterhalten. Der Gutachter soll verstehen, nicht ± wie das Gericht ± verurteilen, beides aber ist so unterschiedlich, dass es vernünftigerweise verschiedenen Personen zugewiesen wird.204 Die Unterschiede der Wirklichkeitskonstruktion erhalten in einer interdisziplinär erarbeiteten Prognoseentscheidung somit eine neue Dimension, indem fachspezifische Perspektiven ganz eigene Wirklichkeitsausschnitte im Blick haben. Besonders deutlich zeigen sich in der Interdisziplinarität auch Unterschiede der Begrifflichkeit. Juristische Feststellungen operieren zum Teil mit systemimmanenten Bezeichnungen, die in der Alltagssprache oder dem Gefüge eines anderen Lehrgebäudes abweichende Bedeutung haben. ÄTat³ beispielsweise ist für den erfahrungswissenschaftlichen Sachverständigen die untechnische Bezeichnung für ein bestimmtes Geschehen bzw. Verhalten des Probanden, jedoch nicht die rechtskräftige Straftat.205 Hier gilt in besonderem Maß, dass hinter dem gleichen Etikett oft in Abhängigkeit vom Blickwinkel völlig Unterschiedliches sichtbar wird. Dieselben Begriffe können und werden mit unterschiedlicher Bedeutung gebraucht206, was bereits bei Grundbegriffen wie Verhalten, Willensfreiheit, Verbrechen oder Krankheit beginnt. Wäre keine Umdeutung gestattet, müsste der Begriff im eigenen Wissensgebiet mit dem Sinngehalt des fremden Erkenntnissystems verwendet werden, was wegen der Bedeutungsunterschiede unweigerlich zu Verfälschungen der eigenen Wahrheit führt. Solche Überlegungen dämpfen vor allem die Erwartung von Wahrheitskonkurrenzen zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft. Sie machen ohne wei___________ 202
Arbab-Zadeh, NJW 1970, 1214, 1217. Volckart, R & P 2002, 105, 108. 204 Nedopil, NStZ 1999, 433, 435. 205 Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 206 Vgl. auch Bock/Schneider, NStZ 2003, 337, 340. 203
B. Tatverleugnung und Rechtskraft
235
teres plausibel, dass eine laienhafte Zuschreibung nicht gegen eine Expertenbeurteilung antritt, vielmehr der Sinngehalt von Begriffen je nach Erkenntnissystem und -möglichkeiten variiert. Es gibt nicht den einen Begriff von Äsozialer Inkompetenz³ oder ÄRücksichtslosigkeit³, kommt es darauf aber zur Erfüllung des Gutachtenauftrags an, so ist ein Wahrheitsunterschied ja gerade intendiert. Im Hinblick auf den jeweiligen Betrachtungsgegenstand geht es um fachwissenschaftliche Gewähr und damit um den Unterschied von Laie und Fachmann, deren unterschiedliche Urteilsregeln aber müssen berücksichtigt werden, wenn es um die Feststellung von Unstimmigkeiten geht. Dabei obliegt dem Sachverständigen, die Unterschiede der Sichtweisen aufzuzeigen, denn nur er kann die Differenz von Laien- und Expertensicht erfassen. 3. Intensität des Erkenntnisinteresses als Wahrheitsbedingung Im Übrigen sind Unterschiede des Erkenntnisinteresses nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht zu beachten: Wenn die Wahrheit unendlich ist207, dann sind es auch die Bemühungen ihrer Erfassung. Die Wahrheitssuche ist also stets zu begrenzen, immer muss ein Kompromiss zwischen Aufwand und Nutzen gefunden werden. Ein Erkenntnisinteresse kann damit nicht nur durch seine Zielsetzung, sondern auch durch seine Reichweite beschrieben werden, ist also gewissermaßen qualitativ und quantitativ klassifizierbar. Auch letzteres ist dabei für die Ausbildung von Wirklichkeitsvorstellungen von größter Bedeutung, wie sich am Unterschied zwischen Äwahr³ und Ärichtig³ zeigt: Richtige Entscheidungsgrundlage ist ein Sachverhalt nur, wenn er wahr und vollständig ist. Der reine Wahrheitsgehalt einer Tatsachengrundlage bürgt nicht dafür, dass damit auch der richtige Sachverhalt vorliegt, die Tatsachengrundlage muss vielmehr zudem noch vollständig sein, das heißt alle entscheidungserheblichen Wirklichkeitsumstände enthalten. Da diese Entscheidungserheblichkeit aber von Problemstellung zu Problemstellung variiert208, sind die Vollständigkeit und damit die Richtigkeit eines Sachverhalts vom Blickwinkel der Fragestellung abhängig. Was als andere Wahrheit bezeichnet wird, kann daher aus Unterschieden der Vollständigkeit in einem bestimmten Zweckzusammenhang resultieren. Auch aus dem Blickwinkel eines einzelnen Erkenntnisinteresses ist die Erfassung objektiver, umfassender Wahrheit eine unerreichbare Aufgabe, weil es ___________ 207
Max Weber 1985, S. 171 ff.; Bock 2000, S. 25 ff. Die Feststellung von Strafbarkeit beispielsweise andere Fragen aufwirft als die Kriminalprognose. 208
236
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
keine Gewissheit darüber geben kann, dass ausnahmslos alle entscheidungserheblichen Tatsachen erfasst wurden. Die Vollständigkeit eines Sachverhalts ist nur einem Wahrscheinlichkeitsurteil zugänglich, da bereits die mögliche Unkenntnis relevanter Wirklichkeitsumstände eine Gewissheit von vornherein ausschließt. Diese Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnisfähigkeit trifft nicht nur das Gericht, sondern jeden Wahrheitssuchenden. Das Kontinuum der vollständigen Wahrheitsermittlung illustriert gerade die Kriminalprognose beispielhaft, indem sie mit einem unüberschaubaren Facettenreichtum der Wirklichkeit konfrontiert. Auch die strafprozessuale Wahrheitssuche muss damit einen Kompromiss zwischen Aufwand und Nutzen der Tatsachenaufklärung treffen und wird damit durch (prozess-)ökonomische Gesichtspunkte mitbestimmt.209 Ein gewisser Anteil möglicherweise entscheidungserheblicher Fakten lässt sich nur mit unverhältnismäßigem Aufwand ermitteln, weshalb die Wahrheitsfindung davor berechtigterweise halt macht. Als Maßstab der Anstrengungen kann dabei die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO bzw. die Verletzung der Aufklärungspflicht als Revisionsgrund gelten.210 Der Kompromiss zwischen Aufwand und Nutzen der Wahrheitserforschung fordert also sein Recht und gebietet der Ursachenforschung aus prozessökonomischen Gründen an einem bestimmten Punkt Einhalt. Dass die Sachverhaltsaufklärung von Notwendigem und Möglichem bestimmt wird, hat das BVerfG speziell im Zusammenhang mit der Entlassungsentscheidung nach den §§ 57, 57a StGB für die Prognose klargestellt. Es wies daraufhin, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben umso bedeutsamer werden, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert.211 Insbesondere bei lebenslanger Freiheitsstrafe gewinne der Anspruch des Verurteilten auf Achtung seiner Menschenwürde und seiner freien Persönlichkeit zunehmendes Gewicht, was sich auch auf die Anforderungen an die für eine Prognose notwendige Sachverhaltsaufklärung auswirken müsse. Es sei Äeine besonders sorgfältige und eingehende Prüfung aller relevanten Umstände³ notwendig212, ___________ 209
Dass gleiches auch für die Erfahrungswissenschaft gilt, kommt beispielsweise im Manual zum ÄSVR-20³ so zum Ausdruck: ÄDie Ausführlichkeit der Untersuchung wird in Abhängigkeit des Zweckes und Fragestellung variieren. Untersuchungen für klinische Zwecke müssen z. B. höheren Standards genügen als solche für die Forschung. Es ist jedoch auch im klinischen Bereich unmöglich und nicht immer nötig, in jedem Fall äußerst gründliche Untersuchungen durchzuführen.³ (Müller-Isberner/Gonzalez Cabeza/Eucker 2000, S. 39) 210 Fezer 1995, S. 164; Meyer-Goßner, § 244 Rn. 12. 211 BVerfG, NStZ 1998, 373, 375; NJW 1986, 767. 212 BVerfG, NStZ 1998, 373, 374.
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
237
die Aufforderung nach zureichender richterlicher Sachaufklärung erhalte hier den Rang eines Verfassungsgebotes213. Das ÄBesondere³ an der Sachverhaltsaufklärung macht aber nur Sinn, wenn es ein zulässiges Mittelmaß und damit ein weniger aufwendiges Vorgehen gibt. Wahrheitsvorstellungen hängen also nicht nur von einer Festlegung des Erkenntnisinteresses, sondern auch von der Reichweite der Ermittlungstätigkeit ab.214 Hier aber unterscheidet sich die Tätigkeit im Erkenntnisverfahren von derjenigen der Strafvollstreckungskammer. So ist etwa das Interesse an der inneren Tatseite im Kontext der tatrichterlichen Entscheidung ein anderes, als im Zusammenhang einer Prognoseerstellung215. Auch ist früheren Bewertungen keineswegs immer die Bedeutung beizumessen, die sie zum vormaligen Beurteilungszeitpunkt zu Recht hatten. So kommt beispielsweise den Umständen der Tat nach einem lang andauernden Vollzug nur noch eine eingeschränkte Aussagekraft zu216, während andere Umstände ± etwa die augenblicklichen Lebensverhältnisse des Verurteilten ± an Bedeutung gewinnen217. Das Urteil schreibt damit nicht nur unter materiell-rechtlichen, sondern auch unter prozessökonomischen Gesichtspunkten fest. Es repräsentiert nicht nur einen anderen Gegenstand des Erkenntnisinteresses, sondern auch eine andere Ressourcenverteilung bzw. Schwerpunktsetzung.
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz I. Relevanz des Zweifelssatzes für das Leugnungsproblem Gerade eine Tatverleugnung kann zu Unsicherheiten über das zukünftige Legalbewährungsverhalten des Täters führen, etwa weil die prognostische Relevanz des Leugnens selbst nicht klar oder der Zugang zu einer bestimmten inneren Haltung nicht möglich ist. Unsicherheiten werden bereits für die Aussagekraft einzelner Prognosefaktoren plausibel218, erst recht aber für das Zusammenführen und Abwägen aller Gesichtspunkte in Beachtung möglicher Wech___________ 213
BVerfG, NStZ 1998, 373, 374. Auch der besondere Ermittlungsauftrag in § 43 JGG offenbart beispielsweise, dass der Ermittlungsumfang disponibel ist. 215 Was erklärt, dass vor allem die motivationalen Voraussetzungen der Tat aus Sicht des Prognostikers oft unzureichend erfasst werden, vgl. Rasch 1994, S. 19; Volckart 1993, S. 105 m. w. N. 216 Vgl. auch den Abschnitt zur kriminalprognostischen Bedeutung der Tatursachen im vorigen Kapitel. 217 BVerfG, NStZ 2000, 109, 110; Neubacher NStZ 2001, 449, 453. 218 Zum Prognosefaktor ÄVerhalten im Vollzug“ z. B. Terhorst, MDR 1973, 627, 628. 214
238
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
selwirkungen219. In der Rechtsprechung wird die Tatverleugnung vor allem als prognostisches Zugangshindernis berücksichtigt, etwa wenn aufgrund eines Bestreitens keine verlässliche Prognose mehr für möglich gehalten wird220. Damit ist eine Auseinandersetzung mit der Frage geboten, ob Zweifel durch das Ableugnen der Tat zu Lasten des Verurteilten gehen, wogegen die Anwendung des strafprozessualen Zweifelssatzes sprechen könnte. II. Ansichten zur Geltung des Zweifelssatzes Zur Geltung des Zweifelssatzes bei Zukunftsprognosen werden unterschiedliche Ansichten vertreten: Zum Teil wird die Anwendbarkeit als selbstverständlich angesehen221, was eine Berücksichtigung von zweifelhaften Tatsachen zu Lasten des Verurteilten verbietet. Zum gegenteiligen Ergebnis einer nachteiligen Berücksichtigung solcher Tatsachen kommt die Ansicht, die eine Anwendung des Zweifelssatzes auf prognosebedingte Entscheidungen ablehnt.222 Teilweise wird hinsichtlich der Geltung des in dubio pro reo Grundsatzes auch zwischen einzelnen Prognosevorschriften differenziert. Seien das Vorliegen eines spezialpräventiven Bedürfnisses223 oder die Gefährlichkeit des Täters224 Sanktionsvoraussetzung, so gelte der Zweifelssatz225, gehe es hingegen um die Entlassungsprognose bei bereits angeordneten Maßregeln der Besserung und Sicherung, so gingen Zweifel entweder zu Lasten des Untergebrachten226 oder müssten zur schrittweisen Aufhebung der Sanktionen führen227. Es werden also Ansichten mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen für das Leugnungsproblem vertreten, weshalb eine Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten und der Geltung des Zweifelssatzes geboten erscheint. ___________ 219
Terhorst, MDR 1978, 973, 974. OLG Koblenz - 2 Ws 234/02 v. 19.3.2002, S. 2 ff. Dabei wird zum Beispiel damit argumentiert, dass die Tatverleugnung eine gesicherte Prognose i.S.d. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB verhindere, weil dann die psychotherapeutische Aufarbeitung der Delinquenzursachen nicht möglich sei oder eine Klärung und Aufarbeitung der Tatursachen nicht erfolgen könne, vgl. OLG Koblenz ± 2 Ws 416/02 v. 27.5.2002, S. 2; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02 v. 11.9.2002, S. 2 ff. 221 Dazu Hendrik Schneider 1996, S. 40 m. w. N. 222 Meyer-Goßner, § 261 Rn. 27; Schall/Schreibauer NJW 1997, 2412, 2414; OLG Koblenz, NJW 1978, 2043, 2044. 223 Wie zum Beispiel bei § 47 Abs. 1 StGB. 224 Wie etwa bei den §§ 63 ff. StGB. 225 Streng 1991, S. 242; LK-Hanack, vor § 61 Rn. 48 f.; Schönke/Schröder/Stree, vor § 61 Rn. 9; Tröndle/Fischer, vor § 61 Rn. 3; Stree 1962, S. 100. 226 LK-Hanack, vor § 61 Rn. 51, 51a; Lackner/Kühl, § 61 Rn. 5. 227 Streng 1991, S. 243. 220
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
239
III. Gesetz als Maßstab für die Anwendung des Zweifelssatzes Dem Gesetzgeber steht es grundsätzlich innerhalb rechtsstaatlich gesetzter Grenzen frei, eine Entscheidung pro reo oder contra reum anzuordnen.228 Für den in dubio pro reo Grundsatz bleibt nur dann Raum, wenn das Gesetz selbst keine verbindliche Antwort gibt229, hier allerdings hilft der Bezug auf die gesetzlichen Voraussetzungen zunächst nicht weiter. Denkbar ist zwar, bei zweifelhafter Prognose vom Fehlen einer günstigen Prognose als gesetzlicher Voraussetzung der Entlassung auszugehen. Da jedoch umgekehrt auch die Feststellung einer ungünstigen Prognose unmöglich ist, lässt sich mit dem gleichen Recht sagen, dass ein gesetzliches Erfordernis der belastenden Entscheidung fehlt.230 Terhorst versucht, eine verbindliche Antwort des Gesetzes aus den Strafzwecken abzuleiten. Der für § 57 StGB maßgebliche Zweck der Spezialprävention231 würde nach seiner Ansicht in Frage gestellt, wenn auch bei einer unsicheren, das heißt einer lediglich möglicherweise ungünstigen Prognose, eine Bewährung versagt würde, denn der Täter müsste so im Einzelfall einen Änutzlosen oder gar schädlichen“ Freiheitsentzug erleiden.232 Allerdings übergeht diese Auffassung, dass eine unsichere Prognose auch eine ungünstige Prognose mit Behandlungsbedarf sein kann. Der Gesetzeszweck der Spezialprävention wird auch dann in Frage gestellt, wenn eine Entlassung trotz eines Behandlungsbedarfs erfolgt, der nur im Strafvollzug befriedigt werden kann. Der Täter kann im Einzelfall auch unter einer Änutzlosen oder gar schädlichen“ vorzeitigen Entlassung leiden, Unsicherheiten der Prognose dürfen also nicht einseitig nur für eine Zweifelsmöglichkeit in Anspruch genommen werden. In dieser Einseitigkeit argumentiert Terhorst jedoch auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser Grundsatz gebietet, von mehreren Mitteln dasjenige auszuwählen, das den Betroffenen am wenigsten beeinträchtigt.233 Deswegen, so Terhorst, sei im Falle einer unsicheren Täterprognose vorzeitig zu entlassen und nur bei eindeutig ungünstiger Prognose bis zur Endstrafe zu voll-
___________ 228
Stree 1962, S. 103, 108. Terhorst, MDR 1978, 973, 975. 230 Terhorst, MDR 1978, 973, 975. 231 Dazu Streng 2002, S. 126 m. w. N. 232 Terhorst, MDR 1978, 973, 976. 233 Vgl. Streng 2002, S. 22, 60 f., 152 f. 229
240
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
strecken.234 Auch hier wird wieder nur von einer Belastung bei falsch ungünstiger, nicht aber bei falsch günstiger Prognose ausgegangen. Eine andere Lesart ist nur denkbar, wenn man eine Auffassung über den Strafvollzug unterstellt, die der Formulierung vom Änutzlosen oder gar schädlichen“ Freiheitsentzug235 entspricht.236 Möglicherweise geht Terhorst davon aus, dass eine Vollverbüßung stets beeinträchtigender ist als eine vorzeitige Entlassung, damit aber würde aus dem Blickfeld geraten, dass Resozialisierung vor allem dem Betroffenen zugute kommt. Ein behandlungsbedürftiger Strafgefangener ist gerade im Zustand der Freiheit an sich und seiner Umwelt gescheitert.237 Hilfe durch Strafvollzug aber grundsätzlich als ineffizient anzusehen238, verkennt die realen Bedingungen und Möglichkeiten eines Behandlungsvollzugs.239 IV. Wertungen im Geltungsbereich des Zweifelssatzes Dem Gesetz ist also unmittelbar keine verbindliche Antwort für die Anwendbarkeit des Zweifelssatzes bei Zukunftsprognosen zu entnehmen. Seine Unanwendbarkeit wird damit begründet, dass er nur für eine Tatsachenfeststellung gelte, eine Kriminalprognose aber eine damit nicht vergleichbare Wertung verkörpere.240 Bei ihr gehe es um die Gewinnung einer Überzeugungskraft, für die der Zweifelssatz als Regel für die Sachverhaltsfeststellung nicht gelten könne.241 Neben dem zutreffenden Hinweis darauf, dass der Zweifelssatz (nur) für die Tatsachenfeststellung gilt242, enthält dies die Behauptung, dass sich Rechts- und Tatsachenfragen in ihrem Bezug auf Wertungen unterscheiden. Tatsachen sind ___________ 234 Terhorst, MDR 1978, 973, 976, so auch Meyer, JR 1970, 348; Meynert, MDR 1974, 807, 808. 235 Vgl. Terhorst, MDR 1978, 973, 976. 236 Terhorst hat sie im Kontext allerdings auf den Vollzug bei fehlendem Behandlungsbedarf bezogen. 237 Kaiser/Schöch 2001, S. 232. 238 Dazu Feest, in: AK-StVollzG, vor § 2 Rn. 7 ff. m. w. N. 239 Kaiser/Schöch 2001, S. 232 m. w. N. 240 Siehe dazu Hendrik Schneider 1996, S. 41 m. w. N. 241 Dieses Argument wird im Übrigen auch gegen die Anwendbarkeit des Zweifelssatzes bei Prognosen im Rahmen des strafprozessualen Wiederaufnahmeverfahrens angeführt. Im Additions- und Probationsverfahren würden keine Tatsachen festgestellt, sondern Überzeugungsurteile über die Notwendigkeit der Verfahrenswiederholung gewonnen, vgl. Schünemann, ZStW 1972, 870, 874. 242 Hendrik Schneider 1996, S. 43.
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
241
gegenwärtige oder vergangene Verhältnisse, Zustände oder Geschehnisse243, die nach gängiger Definition grundsätzlich dem (gerichtlichen) Beweis zugänglich sind244. Sie müssen nicht sinnlich wahrnehmbar, faktisch beweisbar, konkret empirisch überprüfbar oder wahrscheinlich sein, vielmehr eignet auch Unmögliches oder Unüberprüfbares als Tatsache.245 Stets allerdings ist der Gegenstand einer Wirklichkeitsaussage gemeint. Rechtsfragen sind im Gegensatz dazu von vornherein keiner empirischen Überprüfung zugänglich. Sie betreffen die Auslegung von Gesetzen und die hierauf beruhende Subsumtion der beurteilten Sachverhalte und werden durch eine dialektische Abwägung möglicher Argumentationsmuster anhand von Methoden der juristischen Hermeneutik gelöst.246 Allein die Tatsachenseite ist einer Beweisaufnahme zugänglich, umgekehrt kann nur die Rechtsseite im Revisionsverfahren aufgrund der Rüge der Verletzung des sachlichen Rechts überprüft werden.247 All dies schließt jedoch die Einbeziehung von Wahrscheinlichkeitsurteilen und Wertungen bei der Tatsachenfeststellung nicht aus; im Gegenteil zeigt ein Blick auf § 261 StPO, dass sich darin die Beantwortung von Tatsachen- und Rechtsfragen nicht unterscheidet. Diese Norm verlangt eine Entscheidung nach ÄÜberzeugung³, was eine feste Meinung, das heißt ein Werturteil als Ergebnis einer innersubjektiven Bewertung bezeichnet248. Insoweit darf das Ergebnis der Überzeugungsbildung nicht mit ihrem Gegenstand gleichgesetzt werden: Auch wenn Tatsachen und Werturteile unterschieden werden können, ergibt sich daraus nicht die Abgrenzung von Tatsachen- und Rechtsfragen.249 In der Regel kennt der Richter eine entscheidungserhebliche Tatsache nicht aus eigener Anschauung, er darf sie zum Teil nicht einmal kennen, wenn seine ___________ 243
BGH MDR/D 1973, 18; LG Koblenz NJW 1976, 63; Schönke/Schröder, § 263
Rn. 8. 244
RGSt 56, 227, 331; Müller-Christmann, JuS 1988, 108, 109; Hilgendorf 1998, 123 ff., 126 f.: Äprinzipielle empirische Überprüfbarkeit³. 245 Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 6 m. w. N. 246 Hendrik Schneider 1996, S. 43. 247 Volckart, R & P 2002, 105, 108 f. 248 Vgl. Roxin 1998, § 15 Rn. 13 m. w. N.; der Duden (1999, S. 4044) spricht von einer unerschütterlichen ÄMeinung³, einem festen Glauben. 249 Daran ändert es auch nichts, dass der Zweifelssatz eine Regel für die Sachverhaltsfeststellung, nicht für die Gewinnung eines Überzeugungsgrades ist (Fuchs, JuS 1969, 516, 517 f.; OLG Köln NJW 1968, 2119; Dippel, GA 1972, 107; Schünemann, ZStW 1972, 870, 874; Terhorst, MDR 1978, 973, 975).
242
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Stellung als Richter im Verfahren nicht gefährdet sein soll250. Er kann einer relevanten Tatsache damit oft nicht unmittelbar gewiss sein, sondern nur durch einen besonderen Akt der Überzeugungsbildung. Auch die Sachverhaltsfeststellung durch den Richter erfolgt also in Form eines Überzeugungsurteils, nämlich darüber, dass sich bestimmte Tatsache in der Vergangenheit ereignet haben251. Die Rekonstruktion vergangener Tatsachen ist also mit einer Willensentscheidung verbunden, die letztlich nicht voll rational erfassbar ist.252 Werturteile beinhalten die Behauptung einer innersubjektiven Bewertung, nicht die einer intersubjektiv überprüfbaren Wirklichkeit.253 Sie sind damit ihrem Sinngehalt nach einer empirischen Überprüfung von vornherein entzogen254, was sie zum Gegenbegriff der Tatsache macht. Diese Gegensätzlichkeit ist jedoch allein auf der Ebene des Denkinhalts von Bedeutung, nicht im Zusammenhang mit der Entstehung dieses Denkinhalts. Insoweit darf ein Werturteil als Vorstellungsinhalt nicht mit jenen Werturteilen verwechselt werden, mit denen die Entstehung eines Vorstellungsinhalts einhergeht. Werturteile spielen bei der Aufstellung von Tatsachen- wie Rechtsbehauptungen gleichermaßen eine Rolle, was im Gesetz entsprechend zum Ausdruck kommt: Mit dem Begriff der Überzeugung geht § 261 StPO davon aus, dass auch Tatsachen erst durch Werturteile zum Vorstellungsinhalt werden. Der Richter soll sich also eine feste Meinung über etwas bilden, was Gegenbegriff zur Meinung ist. Dies aber bringt den Unterschied von Gewinnung und Ergebnis der Überzeugung deutlich zum Ausdruck. Dieser Unterschied steht im Einklang mit den ± im Rahmen der Überlegungen zur Rechtskraft dargelegten ± Bedingungen, unter denen Wirklichkeitsvorstellungen gebildet werden. Jeder Annahme von Tatsachen liegt eine Bewertung zugrunde, weil bereits wegen der Notwendigkeit einer Selektion eine Übersetzungsarbeit geleistet werden muss, um zu einem Vorstellungsbild über die fragliche Tatsache zu gelangen. Jede Tatsachenfeststellung ist durch den wertenden
___________ 250
Privates Wissen von der Tat muss der Richter durch seine Vernehmung als Zeuge in den Prozess einführen, was zur Folge hat, dass er fortan als Richter ausgeschlossen ist, vgl. Roxin 1998, § 44 Rn. 19 m. w. N. 251 Terhorst, MDR, 1978, 973, 975; Schünemann, ZStW 1972, 870, 875 m. w. N. 252 Volckart 1997, S. 21. 253 Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 8 m. w. N. 254 OLG Stuttgart, NJW 1979, 2573, 2574.
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
243
Filter einer Abstraktion gegangen, da sie erst durch begriffliche Zusammenfassung Kontur erlangen und kommunizierbar werden kann.255 Es besteht damit eine Parallele von Rechts- und Tatsachenfragen, indem beide auf Wertungsvorgänge Bezug nehmen. Gerade die gesetzlichen Prognosekriterien zeigen, dass das Gesetz Vorschriften für die Erfassung der Wirklichkeit bereithält256, die Vorgaben für Schlussfolgerungen im Tatsächlichen machen. Wenn der Anwendung des Zweifelssatzes bei der Prognose entgegengehalten wird, dass hier Tatsachenfeststellung und Wertung kaum voneinander zu trennen seien und bereits die bewertend zusammengestellten Ermittlungen selbst eine Prognose enthielten257, so bezeichnet dies keine Sonderbedingung der Prognose, sondern ein generelles Charakteristikum der (Tatsachen-)Feststellung. Es ist daher ungerechtfertigt, die Anwendung des Zweifelssatzes bei Zukunftsprognosen mit dem Hinweis abzulehnen, dass ein Gegensatz von Tatsachenfeststellung und Wertung bestehe. Auch wenn die Erkenntnis, dass ein bestimmter Sachverhalt die Erwartung weiterer Straftaten eines Probanden zulasse, schlussfolgernden Charakter hat, identifiziert dies die Prognose nicht als Rechtsfrage. V. Wahrscheinlichkeitsurteile im Geltungsbereich des Zweifelssatzes Teilweise wird damit argumentiert, dass der Gesetzgeber die Unsicherheiten der Kriminalprognose bewusst in Kauf nehme, indem er von ihren Ergebnissen die Begrenzung und nähere Bestimmung strafrechtlicher Sanktionen abhängig mache. Er könne daher nicht wollen, dass der Zweifelssatz darauf angewendet werde.258 Tatsächlich kann eine Kriminalprognose immer nur mehr oder minder große Wahrscheinlichkeiten, niemals aber Gewissheiten voraussagen.259 Verhaltensvorhersagen suchen menschliches Verhalten für die Zukunft zu bestimmen und sind daher stets mit Zweifeln behaftet, der Richter kann also nie eine Ävolle³ Überzeugung von künftigem Geschehen gewinnen.260 Für Vergangenes stellt sich dies oft jedoch auch nicht viel anders dar. Auch dies kennt der Richter nicht aus eigener Anschauung, ist sich dessen niemals unmittelbar gewiss, sondern hat dazu nur eine Überzeugung bzw. eine Äprakti___________ 255
Die Arbeit des Erfahrungswissenschaftlers bringt Tatsachenfestlegungen durch Wertungen oft deutlich zum Ausdruck. So sind beispielsweise die Grenzen der Signifikanz bloße Festlegungen. 256 Zum Beispiel, indem § 57 Abs. 1 S. 2 StGB bestimmte Prognosekriterien vorgibt. 257 Montenbruck 1985, S. 102. 258 Volckart 1997, S. 19 f. 259 Schaffstein/Beulke 2002, S. 97. 260 Terhorst, MDR, 973, 974 m. w. N.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
sche Gewissheit³261. Unter einer solchen, auch als relativ bezeichneten Gewissheit versteht die Rechtspraxis die menschenmögliche, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit262, also ebenfalls ein Wahrscheinlichkeitsurteil, keine absolute Gewissheit mit allgemeiner Geltung. Auch der Nachweis einer Tatsache bedeutet damit nur die Feststellung einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit.263 Zudem kann es bei der Frage nach der Geltung des Zweifelssatzes bei Kriminalprognosen leicht geschehen, dass die richterliche Überzeugung mit ihrem Gegenstand verwechselt wird, weil hier zwei Wahrscheinlichkeiten in Rede stehen. Die eine bezieht sich auf den Überzeugungsgrad des Richters, die andere auf die Begehung künftiger Straftaten, denn der Richter muss mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit von einer gewissen Erwartung künftiger Straftaten überzeugt sein. Gegenstand bzw. Bezugspunkt der richterlichen Überzeugung sind vorliegend nicht Wahrheit oder sicheres Wissen, sondern (nur) Wahrscheinlichkeiten künftigen Geschehens. Dies bedeutet aber keine Herabsetzung des Grades der richterlichen Überzeugung in dem Sinne, dass nunmehr statt subjektiver Gewissheit lediglich ein ÄFührwahrscheinlichhalten“ ausreichend sei264. Ebenso wie es Überzeugungen von Wahrheiten gibt, kann es auch die volle Überzeugung von einer bestimmten Wahrscheinlichkeit geben.265 Von der Wahrscheinlichkeit künftiger Straffälligkeit kann der Richter also ebenfalls eine volle Überzeugung im Sinne des § 261 StPO erlangt haben. Auch hier trifft der Zweifelssatz auf nichts anderes als bei einer Tatsachenfeststellung.266 Im Übrigen sind unterschiedliche Anforderungen an den Gegenstand der richterlichen Überzeugung nicht ungewöhnlich. Für die Anordnung der Untersuchungshaft nach § 112 StPO beispielsweise reicht die Überzeugung vom ___________ 261
Schünemann, ZStW 1972, 870, 875 f. m. w. N.; Terhorst, MDR, 1978, 973, 975. RGSt 66, 163, 164; BGH, NJW 1951, 122. 263 Vgl. auch Schünemann, ZStW 1972, 870, 876 f. 264 So grundlegend Bruns, JZ 1958, 647 ff.; ferner Geppert, NJW 1971, 2154, 2157. 265 Der hier erörterte, an die Ungewissheiten der Prognose knüpfende Einwand gegen die Anwendung des Zweifelssatzes bezieht sich auf die gängige Deutung der prognostischen Aufgabe als Erarbeitung einer quantitativen Aussage über künftige Straffälligkeit. Wird diese Aufgabe (wie im Abschnitt zum ÄErkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen³ vorgeschlagen) vorrangig darin gesehen, die verfügbaren Interventionsmöglichkeiten in eine Eignungshierarchie zu bringen, nivellieren sich die Unterschiede zu anerkannten Tatsachenfeststellungen im Geltungsbereich des Zweifelssatzes ohnehin. 266 So insbesondere Bruns, JZ 1958, 647, 650 f.; Stree 1962, S. 91 f.: Geppert, NJW 1971, 2154, 2157; Schünemann, ZStW 1972, 870, 874 f.; Terhorst, MDR 1978, 973, 974 f.; Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 24. 262
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
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dringenden Tatverdacht oder für die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 203 StPO eine Überzeugung vom hinreichenden Tatverdacht.267 Auch bei verschiedenen Tatbeständen im besonderen Teil des Strafgesetzbuches findet sich eine Subsumtion unter eine Wahrscheinlichkeit, insbesondere bei den so genannten konkreten Gefährdungsdelikten (z. B. in den §§ 306, 311, 315c StGB)268. VI. Parallelen von Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit Der soeben erörterte Bezug auf Wahrscheinlichkeitsurteile im Geltungsbereich des Zweifelssatzes führt an ein weiteres Argument heran, das gegen die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes bei Zukunftsprognosen sprechen soll: Gegenstand des Beweises seien prinzipiell vergangene Geschehnisse, über die eine andere Gewissheit erlangt werden könne, als über die noch nicht eingetretenen Umstände der prognostischen Betrachtung. Der Zweifelssatz könne damit bei Prognosen schon deshalb nicht gelten, weil diese als Voraussagen sozialer Verhaltensweisen mit zukünftigen Umständen kalkulierten, über die unabhängig von der Frage der Prognosemethode niemals die gleiche Gewissheit wie über vergangene Geschehnisse möglich wäre.269 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Tatsachen stets Gegenstand von Wirklichkeitsaussagen sein müssen, was für zukünftige Geschehnisse ausgeschlossen ist. Soweit sich Äußerungen allerdings auf Zukünftiges beziehen, kann eine Wirklichkeitsaussage in der Behauptung der gegenwärtigen Bedingungen für das in der Zukunft eintretende Ereignis, zum Beispiel schon gegenwärtig bestehender Chancen oder Wahrscheinlichkeiten liegen.270 Eine solche Einschätzung bevorstehender Vorgänge stellt ebenso wie die Beurteilung vergangener Tatsachen ein Werturteil dar, für dessen objektive Richtigkeit es unterschiedliche subjektive Überzeugungsgrade gibt. Sowohl von der Eintrittswahrscheinlichkeit eines zukünftigen Umstands als auch von der Wahrheit einer vergangenen Tatsache muss sich der Richter eine bestimmte Überzeugung bilden.271 Genau wie die Zukunft ist auch die Vergangenheit nicht unmittelbar einer passiven Anschauung zugänglich, sondern muss in einem aktiven Denkvorgang freigelegt und durch Nachbildung festgehalten werden. Eine solche Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit ist das Gegenstück zur Kon___________ 267
Terhorst, MDR 1978, 973, 974. Hendrik Schneider 1996, S. 44. 269 Dazu Hendrik Schneider 1996, S. 41 m. w. N.; siehe auch OLG Karlsruhe, NJW 1980, 133, 134. 270 Tröndle/Fischer, § 263 Rn. 6 m. w. N. 271 Hendrik Schneider 1996, S. 42 f. 268
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struktion zukünftiger Wirklichkeit, die bei Verhaltensvorhersagen notwendig wird und unter methodischem Blickwinkel als bloße Umkehrung des Zielvektors erscheint. Natürlich liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass Vergangenes Spuren272 in der Wirklichkeit der Beurteilungssituation hinterlassen kann, während dies für Zukünftiges ausgeschlossen ist, weil dieses noch nicht Wirklichkeit war. Geht es aber ± wie beispielsweise bei Tatsachen aus dem seelischen Erleben eines Menschen ± um flüchtige, im Beurteilungszeitpunkt nicht greifbare Wirklichkeitsumstände273, so sind Rekonstruktion und Konstruktion der Wirklichkeit auf die gleichen Zugangsmittel angewiesen: In beiden Fällen besteht eine Abhängigkeit von vorhandenen Wirklichkeitskonstanten, die eine Grundlage für Aussagen über nicht existente Wirklichkeitsumstände274 liefern müssen. Es ist jeweils ein Zusammenhang von Vorhandenem und Erfragtem aufzuzeigen, der zwar bei Rekonstruktion der Vergangenheit eine tatsächliche und bei Konstruktion der Zukunft eine mögliche Beziehung betrifft, aber auf die gleiche Überzeugung des erkennenden Subjekts abzielt. Sogar die Gegenstände des Erkenntnisinteresses können völlig identisch sein, etwa wenn zu beurteilen ist, ob dem Betroffenen ein bestimmtes Verhalten zugetraut werden kann. Hier macht es für Auswahl und Verwendung der Erkenntnismittel keinen Unterschied, ob der Nachweis vergangener Täterschaft oder die Abschätzung künftiger Straffälligkeit in Rede stehen. Die Technik der Schlussfolgerung aus Wirklichkeitskonstanten ist also im Hinblick auf zukünftige und vergangene Wirklichkeit die Gleiche, was dem Beweisrecht eine Komponente gibt, die man als Äkatagnostisch³ bezeichnen könnte. In beiden Fällen wird von Wirklichem auf Unwirkliches geschlossen, das lediglich in dem einen Fall in der Zukunft, im anderen Fall in der Vergangenheit liegt.275 Von der maßgeblichen Überzeugung des erkennenden Subjekts her betrachtet ist damit bei Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit grundsätzlich die gleiche Gewissheit möglich, denn auch die Feststellung vergangener Tatsachen erfordert eine Willensentscheidung, die letztlich nicht voll
___________ 272
Zum Beispiel von physikalisch objektivierbaren ÄTatsachen³. Bei der Strafbarkeitsprüfung ist beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Vorsatz unerlässlich. 274 In dem einen Fall sind sie (noch) nicht, in dem anderen nicht (mehr) existent. 275 Gerade die Verwertung der Tatverleugnung als Zugangshindernis zeigt, wie das Leugnungsproblem die Parallelen von Konstruktion und Rekonstruktion der Wirklichkeit zur Deckung bringt. 273
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
247
rational erfassbar ist. Frühere (innere) Tatsachen existieren nicht mehr und können damit nicht beobachtet oder festgehalten werden.276 Soweit es das in-dubio-pro-reo-Problem betrifft, stimmen damit die logischen Strukturen bei Einschätzung (flüchtiger) vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Tatsachen überein.277 Insoweit gilt für die Konstruktion der Wirklichkeit durch Prognose das gleiche, wie für die Rekonstruktion der Wirklichkeit durch ÄKatagnose³. Der Zukunftsorientierung ließe sich insoweit sogar eine größere Wirklichkeitsnähe zuschreiben, hat Kriminalprognostik doch den Reiz und das Risiko, dass ihre Beurteilungen in der Realität überprüft werden. Der Prognostiker kann belehrt werden, wo er irrt278, denn bei Künftigem schiebt sich die Erkenntnismöglichkeit auf der Zeitachse noch über den Betrachtungsgegenstand, während das Vergangene für immer vorbei ist279. VII. Beurteilungsgrundlage, Prognoseergebnis und Prognoseentscheidung Die dargelegten Vorstellungen zur Anwendbarkeit des Zweifelssatzes lassen sich anhand der Struktur von Prognosenormen beispielhaft illustrieren: Die Kriminalprognose ist eine ÄGedankenoperation im Tatsachenbereich³280, was der prognostischen Beurteilung an Tatsachen zugrunde gelegt wird, unterscheidet sich durch nichts von anderen prozessualen Fakten, die durch Beweiserhebung ermittelt werden. Die Prognose erschöpft sich nicht im ausschließlichen Blick auf das Kommende, die Zukunft spricht vielmehr aus einem Urteil über Vergangenheit und Gegenwart. Sie nimmt auf vorhandene Wirklichkeitskonstanten Bezug, die auf die gleiche Weise wie sonstige Tatsachen auch erfasst werden. Hierfür ist von einer Tatsachenfeststellung im Sinne des § 261 StPO auszugehen281; soweit es die Anwendung des Zweifelssatzes angeht, darf nichts anderes gelten, nur weil sie Teil einer Prognose sind282. Dabei sind auch die verwendeten Erfahrungssätze zu den Tatsachenanteilen zu zählen283 ± etwa die Aussage, dass ein Einräumen der Tat prognostisch günstig ist. ___________ 276
Vgl. auch Volckart 1997, S. 21, 55. Schünemann, ZStW 1972, 870, 881 m. w. N. 278 Kröber, NStZ 1999, 593, 599. 279 Schon deshalb sind beispielsweise die Auswirkungen eines Fehlurteils weniger greifbar. 280 Volckart, R & P 1985, 25, 26; Volckart 1993, S. 104. 281 Vgl. auch Terhorst, MDR 1978, 973, 975. 282 BGH, StV 1993, 458, 458 f.; BGH, StV 1995, 521 (zur Tatsachengrundlage der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB); OLG Celle, R & P 1992, 32; Volckart 1997, 21 f.; Volckart, R & P 2002, 105, 110 f. 283 Volckart 1997, S. 65. 277
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Die Prognoseentscheidung als Vergleich des Prognoseergebnisses mit der gesetzlichen Formulierung des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB284 erscheint hingegen als Antwort auf eine Rechtsfrage. Durch Auslegung ist hier zu ermitteln, was mit der jeweiligen prognoseorientierten gesetzlichen Formulierung gemeint ist.285 Vor allem aus dem Ausgleich widerstreitender Interessen ergibt sich dabei die Erwartung künftiger Straffälligkeit, der den Anforderungen der jeweiligen prognoseorientierten gesetzlichen Formulierung genügt, für den Zweifelssatz ist hier also kein Raum. Weniger offenkundig positioniert sich das Prognoseergebnis, das nach aufwendigem Bewertungsvorgang eine Tatsachengrundlage zu einer Aussage über künftiges Probandenverhalten zusammenführt. Hier darf das Beurteilungsziel nicht mit der Beurteilungsgrundlage gleichgesetzt werden, da sonst unberücksichtigt bliebe, dass der Prognose eine Beweisfrage über diejenigen Tatsachen vorgelagert ist, die der Prognosestellung zugrunde liegen. Das Prognoseergebnis selbst ist eine Aussage über zukünftiges Verhalten, das aus vergangenen und gegenwärtigen Tatsachen abgeleitet wird. Die Zuordnung des Prognoseergebnisses zu den Tatsachen- oder Rechtsfragen hat nun die Erkenntnis zu berücksichtigen, dass die Notwendigkeit von Wahrscheinlichkeitsurteilen und Wertungen die Einordnung als Tatsachenfeststellung nicht hindert. Damit ist denkbar, dass die Verarbeitung der Beurteilungsgrundlage zum Prognoseergebnis trotz der damit verbundenen Bewertungen als Tatsachenermittlung aufzufassen ist. Im Gegenteil schließt ein vom Recht unabhängiges Wahrscheinlichkeitsurteil über künftige Delinquenz zwar nicht aus, dass eine solche Feststellung auf dem Boden des Rechts das Ergebnis einer Rechtsfrage ist, eine maßgebliche Steuerung des erfahrungswissenschaftlichen Denkvorgangs ist dem Gesetz jedoch nicht zu entnehmen. Die Notwendigkeit von Schlussfolgerungen bei Erarbeitung des Prognoseergebnisses hindert den Tatsachencharakter nicht, weil hier erfahrungswissenschaftliche, nicht rechtliche Regeln zur Anwendung kommen. Für einen solchen Tatsachencharakter des Prognoseergebnisses spricht vor allem die Möglichkeit der Gutachterbestellung. Das Gesetz sieht die Heranziehung eines Sachverständigen vor, der Auskunft über die Erwartung künftiger Straffälligkeit geben soll. Läge darin eine Rechtsfrage, wäre die Gutachterbestellung ausgeschlossen, denn Rechtsfragen darf ein Sachverständiger grund___________ 284
Siehe dazu auch Kapitel 1 und den Abschnitt zum Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen im vorigen Kapitel. 285 Hendrik Schneider 1996, S. 43.
C. Tatverleugnung und Zweifelssatz
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sätzlich nicht erörtern286. Hier wird die Parallele der Prognose mit der Schuldfähigkeitsbeurteilung deutlich: Der Zustand nach § 20 StGB ist wie die Prognose eine Tatsache, die von Fachleuten ± zum Beispiel Ärzten oder Kriminologen ± ermittelt und beschrieben werden kann. Auch eine Straftat ist, ebenso wie die Aussage über die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens, ein Vorgang im Tatsächlichen; nur deshalb kann darüber überhaupt Beweis erhoben und ein Sachverständiger herangezogen werden287. VIII. Zweifelssatz und Unschuldsvermutung Der kriminalprognostische Denkvorgang betrifft also insgesamt eine Tatsachenfeststellung, aus einem ganz anderen Grund jedoch gilt der Zweifelssatz dafür im Rahmen des § 57 StGB dennoch nicht: Der in-dubio-Satz ist Teil der Unschuldsvermutung288, die für den Bürger spricht, der verdächtig, aber nicht überführt erscheint. Sie garantiert, dass die Frage der Schuld bis zur Verurteilung offen bleibt, das heißt jeder bis zum justizförmig erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat.289 Die Unschuldsvermutung aber gilt nicht mehr für jene, deren Taten bereits rechtskräftig festgestellt sind.290 Im Gegenteil wird mit dem Urteil die Unschuldsvermutung zur Schuldvermutung, denn bis zur Rechtskraft des Urteils duldet der Staatsbürger, danach der Straftäter291. Für jene lässt sich sogar eine Umkehrung des Zweifelssatzes denken, indem jeder auf die Gefährlichkeit bezogene Zweifel zu Gunsten der Bürger in Ansatz gebracht wird. Auch um deren Sicherheit willen wird dem Gefangenen schließlich die Freiheit entzogen, so ___________ 286
Meyer-Goßner, Vor § 72 Rn. 6. Vgl. auch Volckart 1997, S. 50. 288 Gollwitzer, in: LR-StPO, § 261 Rn. 103; Schünemann, ZStW 1972, 870, 873. 289 BVerfGE 19, 342, 347; 22, 254, 265; 25, 327, 331; 74, 358, 370 f.; Gropp, JZ 1991, 804, 804; vgl. auch Art. 6 Abs. 2 MRK. 290 Böse, GA 2002, 98, 124; Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 150. 291 Otto, GA 1970, 289, 291. Siehe auch Zopfs (1999, S. 329 m. w. N.), der sich zwar gegen eine Gleichsetzung von Unschuldsvermutung und Zweifelssatz wendet, aber von einer Äteilidentischen Funktion³ beider Prinzipien spricht. Er verknüpft die Geltung des in-dubio-pro-reo-Grundsatzes mit den Voraussetzungen einer negativen Statusveränderung (Zopfs 1999, S. 267f f., 334), wobei dies eine Freiheitsbeschränkung durch richterliche Entscheidung meint, die den Beschuldigten im Hinblick auf seine soziale Stellung in der Gesellschaft erkennbar beeinträchtigt (Zopfs S. 270 ff., 334). Auch unter Zugrundelegung dieser Auffassung lässt sich das vorgeschlagene Ergebnis aufrechterhalten, indem die Entscheidung über eine Strafrestaussetzung nicht in einen Zusammenhang mit negativer Statusveränderung, sondern mit einer Aufhebung ihrer faktischen Auswirkungen gestellt wird (siehe zur Eingriffsfundierung der Entlassungsprognose auch den Abschnitt zu Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit). 287
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
dass die Forderung erhoben werden kann, jeden Abstrich von der Sicherheitsfunktion an eine zweifelsfreie Minderung der Gefährlichkeit zu knüpfen. Zweifel über das geforderte Prognoseurteil würden dann sogar zu Lasten des Probanden gehen292, von einer Unschuldsvermutung kann jedenfalls nicht die Rede sein. Aus Perspektive der formellen Instanzen der Strafrechtspflege schützt der Zweifelssatz damit gleichzeitig die forensische Wahrheit, indem er sicherstellt, dass eine Tatsache nur dann angenommen werden darf, wenn der Richter in dem dafür vorgesehenen Verfahren davon überzeugt ist. Er stellt die Feststellungshoheit im Erkenntnisverfahren dadurch sicher, dass erst mit dem Procedere dieses Verfahrens die gültige prozessuale Wahrheit festgestellt werden kann. Der Zweifelssatz schützt damit auch das Feststellungsmonopol der Strafverfolgungsbehörden hinsichtlich dessen, was als forensische Wahrheit gilt. Bei einer Kriminalprognose i. S. d. §§ 57, 57a StGB geht es also um den Probanden, wie er wahrscheinlich wirklich ist, und nicht um den, als der er zu seinen Gunsten betrachtet werden könnte293. Auf diese Weise werden im Übrigen wesentliche Abweichungen zur erfahrungswissenschaftlichen Verhaltensvorhersage im außerrechtlichen Kontext vermieden. Das Gleiche gilt für Schwierigkeiten dadurch, dass das Günstige oder Ungünstige eines Umstandes in der Kriminalprognose oft nicht unmittelbar abzuschätzen ist294.
D. Tatverleugnung und Grundrechte Einer Verwertung des Ableugnens als solcher kann nicht der Anspruch des Verurteilten auf Achtung seiner Menschenwürde und seiner freien Persönlichkeit entgegengehalten werden295, den die Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2 und 104 GG gewährleisten296. Jenseits einer Aussagepflicht297 hat es der Betroffene nämlich mit seiner äußeren Haltung grundsätzlich in der Hand, durch sein Verhalten ___________ 292
So Schüler-Springorum et al. (MschrKrim 1996, 147, 150) für Maßregelpatien-
ten. 293
So die Formulierung von Volckart 1997, S. 22. Vgl. dazu die Wertfreiheit der synoptischen Idealtypen bei der MIVEA. 295 Insbesondere veranlasst die Menschenwürde nicht zu grundsätzlichen Bedenken gegenüber Kriminalprognosen. Wissenschaftliche Prognosen werden der Individualität des Betroffenen eher gerecht werden, als unwissenschaftliche Zufallsentscheidungen. Zudem weist auch die freie Willensentscheidung gewisse Regelmäßigkeiten auf, die es ermöglichen, aus vergangenem Verhalten Vorhersagen für künftige Ereignisse zu formulieren. 296 BVerfG, NJW 1986, 767, 768; BVerfG, NStZ 1998, 373, 374. 297 Siehe dazu den Abschnitt über Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit. 294
D. Tatverleugnung und Grundrechte
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auf das Prognoseergebnis Einfluss zu nehmen ± ganz anders als beispielsweise bei statisch biografischen Umständen. Bestimmt er mit seinem Handeln die prognostische Beurteilung, wird er gerade als Subjekt und nicht als Objekt wahrgenommen; es wäre deshalb unangemessen, aus der (nachteiligen) Berücksichtigung des Ableugnens als solcher eine menschenverachtende Negation der Subjektsqualität abzuleiten. Dass der Betroffene mit seinem Verhalten staatlicher Betrachtungsgegenstand ist, macht ihn nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns, denn gerade das Subjekt muss sich in seiner Verantwortung für das selbstgewählte Verhalten Beurteilungen stellen. Die notwendige Achtung der Menschenwürde verwehrt also nicht die Berücksichtigung des Ableugnens, bestimmt aber deren Art und Weise. Es käme einer Geständnisforderung gleich, ein Prognoseergebnis allein mit dem Ableugnen der Tat zu begründen. Die Berücksichtigung jedes anderen prognostischen Umstands würde hier vom Einräumen der Tat abhängig gemacht, das so als Voraussetzung einer Haftentlassung mit imperativem Charakter erschiene. Dem Geständnis gäbe dies innerhalb der prognostischen Überlegungen eine ähnliche Funktion als Beweisregel wie im früheren Inquisitionsprozess298, indem es zum Ausdruck prognostischer Wahrheit erhoben würde. Dies ist nicht nur sachlich fragwürdig, sondern brächte den Delinquenten quasi einer peinlichen Befragung auf der seelischen Streckbank nahe, sollte er die Demutshaltung des bußfertigen Sünders verweigern. Aus dem Blickwinkel des Behandlungsziels ist allein die künftige Legalbewährung von Interesse, unabhängig davon ± etwa aus moralischen Gesichtspunkten ± auf eine Haltungsänderung hinzuwirken, widerspräche der gesetzgeberischen Intention. In § 2 S. 1 StVollzG ist davon die Rede, dass der Gefangene befähigt werden soll, künftig ein ÄLeben ohne Straftaten³ zu führen, was offenbart, dass der Verstoß gegen ein Strafgesetz begrenzendes Element des staatlichen Handelns ist. Maßnahmen im Erwachsenenstrafrecht sind auf die (vorbeugende) Verhinderung von Straftaten, nicht auf andere Verhaltensweisen gerichtet.299 Auch an anderen Stellen ± wie etwa in § 56 Abs. 1 S. 1 StGB ± spricht das Gesetz von der Erwartung, dass der Verurteilte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs Äkeine Straftaten mehr begehen³ werde. ___________ 298 Dort wäre das Geständnis nur eben im Äkatagnostischen³ Geständnisvorgang von Bedeutung, nicht im prognostischen. 299 Daher kann vom Verurteilten beispielsweise auch keine Mitwirkung an der Bereitstellung der Beurteilungsgrundlagen verlangt werden (dazu Volckart 1997, S. 57). Dies ist nicht damit zu verwechseln, dass sich aus einer verweigerten Mitwirkung nachteilige Konsequenzen für den Verurteilten ergeben können, etwa weil dann wichtige prognostische Informationen fehlen.
252
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Damit ist klar gesagt, dass die Erwartung auf Legalität, nicht auf Moralität des künftigen Verhaltens gerichtet ist.300 Allein die Straftat, nicht ein Äkriminalitätsträchtiger³ Mangel an Sozialisation als solcher ist Anlass und Rechtfertigung für Verhängung und Vollzug einer Freiheitsstrafe. Es ist nicht bei Gelegenheit eines Haftaufenthaltes ein Äanständiger Mensch³ aus dem Gefangenen zu machen, sondern (nur) die in der Tat begründete Wiederholungsgefahr anzugehen.301 Das Gebot weltanschaulicher Neutralität des Staates fordert ein insoweit restriktives Verständnis des Vollzugszieles, das letztlich mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde korrespondiert302. Dem aber würde widersprechen, vom Verurteilten ein Verhalten zu fordern, das über die Einhaltung der Strafgesetze hinausgeht.303 Anderenfalls läuft die Entscheidung über die Strafaussetzung Gefahr, zum Mittel der sozialen Herabwürdigung statt zur sozialen Anpassung zu werden. Ein Abstellen auf das Leugnen selbst aber würde dem Verurteilten eine Rechtsfolge verwehren, die allein von seiner Bereitschaft zur Einhaltung der Strafgesetze abhängen soll. Ohne Berücksichtigung von Individualität und Kontext liefert die Tatverleugnung keinen Beitrag zur Abschätzung künftiger Legalbewährung. Sie muss vielmehr in einen Ableitungszusammenhang mit dem Risiko künftiger Gefährdung gebracht werden, um nicht in den Geruch einer Geständnispflicht zu kommen. Stets zwingt die einzelfallabhängige prognostische Relevanz des Ableugnens zur sorgfältigen Aufarbeitung im Gesamtkontext der prognostischen Beurteilungsgrundlage; nur so werden an das selbstgewählte und hinterfragte Verhalten Konsequenzen geknüpft, die es bei jedem Verhalten geben kann. Ein anderer Umgang mit dem Ableugnen würde dessen individuelle Prägung ignorieren und den Betroffenen dadurch zum bloßen Objekt eines fragwürdigen und indiskreten prognostischen Vorgehens machen. Das Hinterfragen des Ableugnens ist damit auch ein verfassungsrechtliches Gebot, denn die funktional geprägte Vielgestaltigkeit dieses Wirklichkeitsumstands erlaubt eine unmittelbare Verwertung nicht. Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht stellen also Forderungen an das ÄWie³ der prognostischen Arbeit, was beispielsweise auch anklingt, wenn das Bundesverfassungsgericht in Bewährungsentscheidungen ohne ausreichende richterliche Sachaufklärung eine
___________ 300
Kunert, MDR 1969, 705, 710. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 335. 302 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 335 m. w. N. 303 Dies ist allerdings sehr viel, ist doch die Legalbewährung keine isolierte Insel im sonstigen moralischen oder sozialen Verhalten, sondern in den Gesamtzusammenhang des Verhaltens eingebunden. 301
E. Tatverleugnung und Individualisierungsgrundsatz
253
Verletzung von Grundrechten des Verurteilten sieht304. Aus dem Freiheitsgrundrecht der Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG ergeben sich insoweit Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung: Entscheidungen zum Freiheitsentzug ± und damit auch jene zur Strafrestaussetzung ± müssen eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht305 und dies verlangt auch eine differenzierte Bewertung der Tatverleugnung.
E. Tatverleugnung und Individualisierungsgrundsatz Mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen hängt zusammen, dass strafrechtliche Entscheidungen mit Bezugnahme auf kriminologisches Wissen einen möglichst weitgehenden Einzelfallbezug voraussetzen306, was die Annahme verbietet, die Tatverleugnung selbst hindere die Entlassung. Anderenfalls würde dem Ableugnen eine allgemeingültige prognostische Relevanz zugewiesen, die es angesichts der Möglichkeit einer weitergehenden einzelfallorientierten Aufbereitung nicht hat. An die Stelle der notwendigen individuellen Beurteilung träte bei einem alleinigen Abstellen auf die Tatverleugnung die (bloße) Zuordnung zum Gefährdungskollektiv der unzureichend Kriminalitätsresistenten und dies auf Grund eines Einzelumstandes, für den nicht einmal ein entsprechender Erfahrungssatz existiert. Eine solche Zuordnung zu einer Risikogruppe widerspricht dem Konzept der individuellen Gefährlichkeit eines Menschen307, das somit ebenfalls dazu auffordert, eine Tatverleugnung zu hinterfragen, das heißt in ihrer individuellen prognostischen Wertigkeit zu erfassen. Schon für Max Weber war klar, dass die Probleme der sozialen Beziehungen von Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege ‚anthropozentrisch‘ orientiert sind. Hier ist nach der Bedeutung menschlicher Handlungen und damit nach der Zurechnung von Individuell-Konkretem, nicht nach abstrakten ÄGesetzlichkeiten³ gefragt.308 Der Individualisierungsgrundsatz ist zudem ein Tribut an unzulängliches Wissen. Er gilt in allen Bewertungssituationen, für die ± wie bei der Verhaltensvorhersage ± eine Identifikation allgemeinverbindlicher Beurteilungsregeln ___________ 304
BVerfG, NStZ 2000, 109, 110; vgl. ferner BVerfG, NStZ 1998, 373 ff. Neubacher NStZ 2001, 449, 453. 306 Siehe auch Volckart (1997, S. 12), der vom Konzept der individuellen Gefährlichkeit eines Menschen spricht, das wiederum eine Erfassung des Betroffenen in seinen sozialen Bezügen verlangt, vgl. Bock 2000, S. 28 ff. 307 Das bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall selbst solche generellen Maßstäbe wie den Grundsatz Äje weniger desto besser³ verbietet (Bock 1999, S. 632). 308 Max Weber 1985, S. 270. 305
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
noch nicht gelungen ist. Ihr Fehlen macht es notwendig, sich den Besonderheiten des Einzelfalles zu stellen, denn allenfalls kann eine Gesamtschau individueller Bedingungen hier einen angemessenen Umgang mit dem Sachverhalt ermöglichen. Insoweit ist die geltende Lockerung der Gesetzesbindung durch unbestimmte Rechtsbegriffe309 ± wie der Verantwortbarkeit einer Entlassung im Sinne des § 57 StGB ± sinnvoll.310 Dabei gerät die Einzelfallbeurteilung immer in ein Spannungsfeld von rechtlichen und ökonomischen Bedürfnissen, in dem Standardisierung und Flexibilität bzw. Qualität und Effizienz gegeneinander antreten. Der notwendige Ausgleich zwischen solchen Gegensätzen wird von normativen Kriterien mitbestimmt; stets lassen sich die Besonderheiten des Einzelfalles jedoch nur dann angemessen würdigen, wenn die Entscheidung über Behandlungsmaßnahmen nicht von im Voraus feststehenden Voraussetzungen abhängig ist311. Die Flexibilisierung der Entscheidungsfindung darf nicht dadurch wieder rückgängig gemacht werden, dass die notwendigen Beurteilungsspielräume durch konditionale Voraussetzungen außerhalb des Gesetzes ± wie etwa der Tatverleugnung ± eingeengt werden. Die erfahrungswissenschaftlichen Notwendigkeit einer individualisierenden Betrachtung korrespondiert also mit einer rechtlichen Forderung danach. Beide Wissenschaftssysteme gehen davon aus, dass ein hohes Maß an Individualisierung auf dem Weg zu einer wirksamen Straftäterbehandlung die am ehesten zielführende Methode ist.312 Beurteilungsfreiheit dient also der Rücksicht auf ___________ 309 Siehe Abschnitt zur Berücksichtigung des Ableugnens über den Individualisierungsgrundsatz. 310 Keineswegs darf natürlich ± worauf auch in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich hinzuweisen ist ± die Einzelfallabhängigkeit der Entscheidung in subjektiver Willkür enden. Dies aber geschieht ohne einen Änormativen Halt³ im weiteren Sinne, was erneut das dringende Gebot einer Beachtung allgemein konsentierter wissenschaftlicher Grundsätze, insbesondere eines Methodenbezugs bei der Prognoseerstellung unterstreicht. Anderenfalls kann tatsächlich von einer das Recht auflösenden Flucht in die ÄUmstände des Einzelfalles³ (siehe dazu Freund, JZ 1992, 993, 996 f.) gesprochen werden, die über die elementare rechtliche Forderung nach Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte hinweggeht, vgl. Freund 2001, S. 409. 311 Insoweit ist ein Zweckprogramm notwendig, wie es Luhmann dem Konditionalprogramm gegenüberstellt (Luhmann 1987, S. 241; Luhmann, VerwArch 1964, 1, 7 ff.). 312 Vgl. auch Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 150. In diesen Zusammenhang gehört, dass Horstkotte bereits 1969 jedes Schema bei der Bewertung der Notwendigkeit von Freiheitsstrafe als gefährlich bezeichnet hat. Zu Recht wies er darauf hin, dass beispielsweise selbst eine Wiederholungstat nicht immer darauf hinweist, dass statt der Geldstrafe einer Freiheitsstrafe unerlässlich ist, Horstkotte, NJW 1969, 1601, 1602.
F. Tatverleugnung und Strafzwecke
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die individuellen Gegebenheiten, rechtfertigt sich somit allein durch ein Eingehen auf die Besonderheiten des Einzelfalls. Gäbe es die allgemeinverbindliche Regel zur Bewertung der Lebenswirklichkeit, so wäre ein Einlassen auf die Bedingungen des Einzelfalls einschließlich der damit verbundenen Unsicherheiten nicht notwendig. Da es aber an einem solchen Regelwissen fehlt, hat der Gesetzgeber die einzig richtige Konsequenz gezogen, indem er eine Anpassung an die Einzelumstände fordert. Dies ist bei Prognosen angesichts des wiederholten Hinweises auf die Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung313 ganz offensichtlich314, weshalb ohne Einzelfallbezug die Tatverleugnung als Hinderungsgrund einer Entlassung willkürlich ist.
F. Tatverleugnung und Strafzwecke I. Tatverleugnung und positive Spezialprävention Niemand lässt Zweifel daran, dass spezialpräventive Gesichtspunkte bei der Entscheidung nach § 57 StGB zu berücksichtigen sind.315 Diese Norm ist im Zusammenhang mit der Aufgabe zu sehen, den Täter von künftigen Straftaten abzuhalten, das heißt auf ihn bezogen weiteren Straftaten vorzubeugen.316 Nach Franz v. Liszt kann dies in dreifacher Weise geschehen: Der Täter kann durch Besserung vor der Tatbegehung bewahrt (positive Spezialprävention), durch Strafe davon abgeschreckt, oder die Allgemeinheit vor ihm durch seine Einsperrung gesichert werden (negative Spezialprävention).317 Von diesen Möglichkeiten prägt insbesondere das Gebot der Wiedereingliederung die §§ 57, 57a StGB, wonach das strafrechtliche Sanktionssystem an der Resozialisierung des Straftäters auszurichten ist318. ___________ 313
Vgl. z. B. § 46 Abs. 2 oder § 57 Abs. 1 S. 2 StGB. Darin kann im Übrigen auch eine Bestätigung für die Annahme gesehen werden, der Prognose eine individuelle, nicht eine generelle Handlungstheorie zugrunde zu legen. 315 Im Gegensatz dazu wird über die Berücksichtigung anderer Strafzwecke ± wie etwa Schuldausgleich oder generalpräventive Erwägungen ± gestritten (dazu Tröndle/Fischer, § 57 Rn. 12; Schönke/Schröder, § 57 Rn. 12 und 13; Eisenberg, NStZ 1989, 366, 366; Hendrik Schneider 1996, S. 33; siehe auch OLG Hamm, NJW 1970, 2124, 2124 f.; OLG Hamm, NJW 1972, 1583, 1583 f.; StV 1988, 348, 348; OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 9, 10; OLG Düsseldorf, JR 2001, 296, 296; OLG Düsseldorf, NStZ 1999, 478, 478 f. 316 Roxin 1992, S. 44 ff. 317 Roxin 1992, S. 45. 318 Das BVerfG (NStZ 1998, 373, 375) führt dies auf die Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG zurück. 314
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Auch wenn Strafzwecke hauptsächlich den interessengeleiteten Umgang mit dem Prognoseergebnis beeinflussen319, findet die prognostische Arbeit ebenfalls im Einflussbereich des Resozialisierungsziels statt. Prognosen haben einen Platz im Behandlungsprozess, der größtmögliche Rücksicht auf Resozialisierungsbedürfnisse des Betroffenen verlangt. Die Kriminalprognose muss sich dessen bewusst sein, dass sie als Entscheidungsgrundlage nicht nur mittelbare Folgen, sondern darüber hinaus durch einen direkten Eindruck auf den Probanden auch unmittelbare Folgen für die Resozialisierung hat. Verhaltensvorhersagen im Strafverfahren treffen Aussagen und führen zu Entscheidungen, die dem Probanden sowie anderen Personen bekannt werden.320 Dadurch lassen sie Rückkoppelungseffekte erwarten, die in ganz unterschiedlichen Formen denkbar sind: Eine negative Kriminalprognose beispielsweise kann im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung wirken, entmutigen und ein negatives Selbstbild erzeugen, den Probanden aber auch dazu anstacheln, die Einschätzung zu widerlegen. Die negative Prognose kann darüber hinaus zu einer Stigmatisierung führen, die das Verhalten der Umgebung des Probanden prägt und ihm die Wiedereingliederung erheblich erschwert. Auch eine günstige Kriminalprognose hat möglicherweise negative Auswirkungen, indem sie beim Probanden eine Verachtung für die Strafrechtspflege hervorruft, sie kann andererseits aber auch als Vertrauensbeweis bzw. Bestätigung erscheinen.321 Mit unterschiedlichen ± hier nur beispielhaft aufgezählten ± Wirkungen auf das Probandenverhalten liegt die Prognosebeurteilung also auf dem Weg zur Wiedereingliederung, wo sie nicht zum sperrigen Hindernis werden darf. Natürlich kann sich die kriminalprognostische Bewertung nicht danach richten, welches Ergebnis dem Probanden wohl am ehesten genehm wäre, vielmehr müssen Inhalte und Ergebnisse der prognostischen Arbeit den Bedürfnissen des Probanden auch zuwiderlaufen können, etwa um ihm unangenehme Einsichten nahe zu bringen. Das Bewusstsein für Rückkoppelungseffekte verbietet jedoch jede Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Probanden.322 Moralische Vorhaltungen, herabsetzende Äußerungen oder beunruhigende Spekulationen sind ebenso zu vermeiden wie Druckausübung oder Einschränkungen der freien Willensbe___________ 319
Vgl. dazu die Abschnitte zur Beschränkung auf den Zusammenhang mit Kriminalprognosen im ersten Kapitel und zum Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen im vorigen Kapitel. 320 Volckart 1997, S. 37. 321 Volckart 1997, S. 37 f. 322 Auch so lässt sich die Unzulässigkeit von pauschalen Zuschreibungen ohne Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten begründen, wobei die Einbeziehung der Rückkoppelungseffekte insbesondere nicht mit einem Sicherheitsabschlag zu Gunsten des Probanden gleichzusetzen ist.
F. Tatverleugnung und Strafzwecke
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stimmung.323 Undienlich sind insbesondere leichtfertige Mutmaßungen gegenüber dem Probanden, etwa indem er mit vorschnellen Deutungen der Tatverleugnung konfrontiert wird. Stets lassen die prognostischen Bemühungen und ihre Ergebnisse nämlich einen Einfluss auf das Selbstbild des Betroffenen erwarten, auch wenn Verhaltensvorhersagen damit nicht von vornherein schädlich sein müssen324. Auch der Umgang mit dem Ableugnen sollte daher in dem Bewusstsein stattfinden, dass er Auswirkungen auf die Resozialisierungsbedingungen hat. Jedes Verhalten ist Produkt von Erfahrungen, jede neue Erfahrung dementsprechend grundsätzlich geeignet, Verhaltensänderungen herbeizuführen325. Dies gilt auch für das Gespräch über die Tat bzw. ihre Folgen. Dieses ist ebenfalls ein Mittel der auf (Re-)Sozialisierung gerichteten Behandlung, das sich je nach ÄSozialisationsbedürfnis³ des Gefangenen in einen Gesamtrahmen sozialen Lernens einfügt326. Jeder erfahrene Psychiater weiß, dass ein diagnostisches Gespräch grundsätzlich Einfluss auf das Leben des Untersuchten hat. Es ließ sich sogar zeigen, dass in vielen Fällen die Begutachtungsuntersuchung zu erheblichen Änderungen der Befindlichkeit, in Einzelfällen auch zu langfristigen Einstellungs- und Verhaltensänderungen führt.327 Im Untersuchungsgespräch sollte der Einzelne daher Anlass finden, sein Bild des eigenen Verhaltens zu überprüfen, was nicht nur das Verhalten zur Tatzeit, sondern auch dasjenige zum Untersuchungszeitpunkt (wie beispielsweise eine Tatverleugnung) meint. Um diese Selbstreflexion anzuregen, können Gegenvorstellungen hilfreich sein, die allerdings nicht von vornherein jede Berechtigung anderer Standpunkte leugnen dürfen328. Deutungen können nicht Äverordnet³, sondern allenfalls verhandelt werden329; die Durchsetzung einer bestimmten Äoffiziellen³ oder sozialtherapeutisch wünschenswerten Position kann somit weder Ziel der Auseinandersetzung mit der Tat noch der Erörterung der Pro___________ 323
Darauf bezogene Klagen werden immer wieder gegenüber einer Äbestimmten Grundhaltung³ von Erfahrungswissenschaftlern vorgebracht. Sie würden zuweilen rücksichtslos in die Intimsphäre des Probanden eindringen und ihn zum bloßen Untersuchungsobjekt herabwürdigen (Duttge, NStZ 2003, 375, 378 m. w. N.). Zudem ließ sich durch umfangreiche Untersuchungen aufdecken, dass Sachverständige über Täter und Tat oft moralische Werturteile in erschreckend diskriminierender Art und Weise abgeben (Foerster, NJW 1983, 2049, 2051; Boppel 2002, S. 122). 324 Vgl. dazu auch Bock 1995, S. 2. 325 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336 m. w. N. 326 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 337. 327 Nedopil, NStZ 1999, 433, 435 m. w. N. 328 Vgl. Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 338 m. w. N. 329 Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 338 ff.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
bandenhaltung sein330. Keinesfalls sollte die Exploration daher von bestimmten Voreinstellungen des Prognostikers gegenüber der Tatverleugnung bestimmt werden, so differenziert wie die Betrachtung sollte vielmehr auch die Erörterung mit dem Probanden sein. Die kategorische Forderung nach einem Eingeständnis birgt die Gefahr, einen Zwang zur Mitarbeit auszuüben. Sie kann faktisch die Möglichkeit nehmen, die Tat abzustreiten (nicht nur abzuleugnen), da dies die Aussicht auf vorzeitige Entlassung vernichtet. Bereits das bloß mittelbare Hinarbeiten auf eine Mitwirkung bei gleichzeitigem Verdrängen von Entscheidungsbefugnissen des Täters aber muss negative Auswirkungen auf die Behandlung zeitigen.331 Aufbau und Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung stehen so möglicherweise unter einem strafrechtlichen Druck, der Misstrauen und Ängste gegenüber der therapeutischen Beziehung verstärken kann.332 Behandlung ist pädagogisch und therapeutisch eher erfolgreich, wenn mit dem Verurteilten eine Beziehung der Kooperation hergestellt wird.333 Dessen sollte sich der Prognostiker im Umgang mit der Tatverleugnung bewusst sein, auch wenn er dem Gefangenen nicht als Therapeut gegenübertritt. II. Tatverleugnung und negative Spezialprävention 1. Zusammenhänge von Sicherheit und Tatverleugnung Nach der Einteilung spezialpräventiver Möglichkeiten, die Franz v. Liszt vorgeschlagen hatte, ist auch die Sicherung ein Teil der Spezialprävention.334 Die Neufassung des § 57 Abs. 1 StGB lässt sich sogar so interpretieren, dass sich nunmehr der Akzent entscheidend zu dieser Form der Spezialprävention hin verschoben hat.335 Immerhin werden in § 57 Abs. 1 StGB n. F. nur die ÄSicherheitsinteressen³ der Allgemeinheit erwähnt, während auf die positive Spezialprävention eigens nicht mehr abgestellt wird. Es ist somit nicht nur legitim sondern notwendig, bei der Entscheidung über die Rechtsfolge der Prognosenorm auch das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Auch
___________ 330
Vgl. auch Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 338. Hartmann, R & P 1999, 70, 73. 332 Hartmann, R & P 1999, 70, 76; differenzierend Egg 1999, S. 399 f. 333 Eine ÄZwangs-Sozialisierung“ wäre weder Erfolg versprechend noch im Hinblick auf Art. 1 GG zulässig, vgl. Roxin 1992, S. 55. 334 Roxin 1992, S. 45. 335 Hendrik Schneider, BewHi 1999, 310, 318; ders., StV 1999, 398, 401. 331
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dieser Sicherheitsgedanke beeinflusst damit möglicherweise über eine Tatverleugnung das Prognoseergebnis.336 Verhaltensvorhersagen und Sicherheit sind in besonderer Weise verknüpft, was bereits die Begrifflichkeit offenbart: Das Wort ÄSicherheit³ leitet sich vom lateinischen Äsecurus³ ab, das ursprünglich aus Äsine cura³ hervorgegangen ist; per definitionem aber blickt in die Zukunft, wer ohne (Vor-)Sorge sein will337, denn dies scheint ohne Vorausschau nicht denkbar. Deshalb muss auch eine auf Spezialprävention abgestimmte Strafrechtspflege der Möglichkeit einer Verhaltensvorhersage besondere Beachtung schenken.338 Insbesondere leisten Prognosen einen Beitrag zur allgemeinen Sicherheit, weshalb die Allgemeinheit an zutreffenden Prognoseergebnissen und folglich auch am sachgerechten Umgang mit der Tatverleugnung interessiert sein muss. Was dafür herausgearbeitet wurde339, muss auch aus der Perspektive des Sicherheitsgedankens gelten, wobei unterschiedliche Beziehungen zwischen einer Tatverleugnung und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit möglich erscheinen. Leugnen kann Ausdruck von Gefährlichkeit sein, weil es durch bestimmte kriminorelevante Haltungen motiviert ist, allerdings beeinträchtigen dann solche Haltungen ± nicht das Ableugnen selbst ± die allgemeinen Sicherheitsbedürfnisse und sind deswegen in der Entlassungsentscheidung zu berücksichtigen. Eine Tatverleugnung kann jedoch nicht nur kriminorelevante Haltungen zum Ausdruck bringen, sondern umgekehrt auch den Zugang dazu vereiteln und damit unmittelbar negative Auswirkung auf Sicherheitsinteressen haben. Hier führt die Unerreichbarkeit prognoserelevanter Beurteilungskriterien zu einer Einschränkung der Vorhersagemöglichkeiten und vergrößert damit die Gefahr von Fehleinschätzungen hinsichtlich des Risikos künftiger Straftaten.340
___________ 336
Im Grundgesetz fehlt eine ausdrückliche Erwähnung der Sicherheit, allerdings wird sie aus dem Rechtsstaatsprinzip als (objektives) Staatsziel abgeleitet (siehe dazu Denninger, StV 2002, 96, 96 f.) und auch Art. 6 der Grundrechtecharta der EU bestimmt ausdrücklich: ÄJede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit³. Gleichzeitig ist damit der Zielkonflikt klar benannt, der sich letztendlich nur durch eine Abwägung auflösen lässt, vgl. Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 23. 337 Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 21. 338 Bock 2000, S. 173. 339 Vgl. voriges Kapitel. 340 Dies ist allerdings nicht mit dem Risiko künftiger Straftaten selbst zu verwechseln, das durch ein Leugnen unberührt bleibt, denn die gegenwärtige äußere Haltung kann zwar Indiz zukunftswirksamer Handlungsbedingungen sein, bestimmt aber nicht selbst das zukünftige Verhalten ± sieht man davon ab, dass möglicherweise durch unzu-
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Solche Unsicherheiten in der Beurteilung einer Lebensentwicklung dürfen nicht mit den Unsicherheiten in dieser Lebensentwicklung selbst gleichgesetzt werden. Als Ausdruck einer kriminorelevanten Haltung lässt eine Tatverleugnung die künftige Legalbewährung fragwürdig erscheinen, als Zugangshindernis zu solchen Haltungen die prognostische Beurteilungsgrundlage. Damit korrespondieren die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen des Ableugnens auf die allgemeinen Sicherheitsinteressen: Unmittelbar kann die Tatverleugnung Zweifel an der prognostischen Beurteilungsgrundlage, mittelbar an der künftigen Legalbewährung nähren. Beide denkbaren Auswirkungen des Leugnens ± als Ausdruck und als Zugangshindernis kriminorelevanter Umstände ± müssen mit Blick auf das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit berücksichtigt werden. 2. Anhaltspunkte für eine Betonung der Sicherheit Bei der Tatverleugnung als Zugangshindernis für kriminorelevante Umstände geht es um die Ungewissheit der Ärichtigen³ Prognose, also um die Risiken durch eine Fehlprognose. Aus dieser Perspektive zeigt sich die persönliche Situation des Prognostikers von einer Seite, die zu genauerem Hinsehen Anlass gibt. Für den Prognostiker nämlich stellen Sicherheitsbelange nicht nur ein sachliches, sondern auch ein ganz persönliches Problem dar, ist er doch für die Resultate seiner Arbeit verantwortlich. Er muss nicht nur an die allgemeine Sicherheit, sondern auch an die Sicherheit seiner Ergebnisse denken, Sicherheitsbelange also nicht nur wegen allgemeiner, sondern insbesondere auch wegen eigener Interessen berücksichtigen. Dabei wiegt die Last der übernommenen Verantwortung schwer. Kriminalprognostische Aussagen sind Grundlage für Entscheidungen von höchster Bedeutung für den Prognostizierten und andere Menschen.341 Bei Entlassungsprognosen geht es stets um Freiheitsentzug, der bei Prognoseirrtümern entweder zu Unrecht erfolgt oder eigentlich angebracht gewesen wäre. Nicht nur weil Grundrechte des Gefangenen betroffen sind, fällt das Eingeständnis von Fehlern oft schwer342, belasten Irrtümer bei fälschlich als günstig eingeschätzten Prognosen doch umgekehrt die Opfer einer Rückfalltat und die Allgemeinheit343. Anhand von solchen Irrtümern lässt sich nun zeigen, dass eine Betonung der Sicherheit gerade dann nahe liegt, wenn die prognostische Aufgabe im Erarbei___________ reichende Erfassung der individuellen Resozialisierungsbedürfnisse ein Wirksamkeitsdefizit der Interventionen in Kauf genommen werden muss. 341 Rasch 1994, S. 17. 342 Schumann 1994, S. 32. 343 Rasch 1994, S. 17.
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ten einer abstrakten, von Interventionsüberlegungen unabhängigen Wahrscheinlichkeitsaussage künftiger Straffälligkeit gesehen wird. Anders ist es, wenn die Kriminalprognose ± wie im Abschnitt zum Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen im vorigen Kapitel vorgeschlagen ± an den vorhandenen Interventionsmöglichkeiten ausgerichtet wird, was einen weiteren Grund für eine dahingehende Vereinfachung der prognostischen Aufgabe liefert. Bei herkömmlichem Aufgabenverständnis ist der Prognostiker versucht, mit einem besonderen Augenmerk für die allgemeine Sicherheit auch die Sicherheit seiner Ergebnisse zu erreichen: Er kann hier grundsätzlich darüber irren, dass Gefährlichkeit fortbesteht oder fehlt, wobei man im erstgenannten Fall von Äfalsch Positiven“344, im zweiten von Äfalsch Negativen³345 spricht. ÄFalsch Positive³, die aufgrund vermeintlich ungünstiger Prognose in Haft gehalten werden, haben die Folgen dieser Fehleinschätzung vorwiegend selbst zu tragen, indem ihnen durch die fortwährende Inhaftierung Freiheit und Lebensqualität entgehen.346 Ein Sichtbarwerden des Prognoseirrtums mit Folgen für Andere ist hingegen nicht zu erwarten, verhindert die Inhaftierung doch die Widerlegung der Gefährlichkeitsunterstellung. Im Gegenteil scheint sogar der Nachweis von positiven Wirkungen der Haft erbracht, wenn der Ungefährliche nach der Entlassung straffrei bleibt.347 ÄFalsch Negative“ hingegen schädigen durch ihre späteren Taten Opfer und Gesellschaft, vor allem aber können sie durch die Realität widerlegt werden348. Der Prognostiker erhält also keine Rückmeldung über jene Probanden, die er zu Unrecht festhält, sehr wohl aber über diejenigen mit falsch günstiger Prognose349, was ihn in eine sehr unangenehme Situation bringen kann350. Mit anderen Worten erlebt er bei Fehlprognosen unmittelbare persönliche Folgen meist nur dann, wenn er fälschlicherweise eine günstige Prognose stellt. Prognoseirrtümer unterscheiden sich also nicht nur durch ihre Sichtbarkeit, sondern auch durch den Kreis der Leidtragenden dieser Fehleinschätzungen. Dazu aber gehört der Prognostiker in der Regel nur bei falsch Negativen, nicht jedoch bei falsch Posi-
___________ 344
Neubacher NStZ 2001, 449, 452; Kröber, NStZ 1999, 593, 599. Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69; Kröber, NStZ 1999, 593, 599. 346 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 347 Schumann 1994, S. 35. 348 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 349 Rasch 1994, S. 27 f. 350 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 345
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
tiven, was die Tendenz plausibel macht, lieber diese als falsch Negative in Kauf zu nehmen351. Tatsächlich scheint es eine Überschätzung von Gefährlichkeit zu geben, jedenfalls ist sich die internationale kriminologische Literatur darin weitgehend einig, soweit es um eine Unterbringung im Maßregelvollzug geht352. So gibt es Schätzungen, dass zwei von drei Untergebrachten eigentlich nicht gefährlich seien und sich insofern zu Unrecht in der Unterbringung befänden.353 Neben dem eigenen Betroffensein durch Prognoseirrtümer dürfte dabei auch eine Rolle spielen, dass Prognostiker sich häufig in den Dienst vermuteter Sicherheitserwartungen stellen354. Es kommen jedenfalls unterschiedliche Gründe für eine Überschätzung von Gefährlichkeit durch den Prognostiker in Betracht355, was plausibel macht, dass die Quote der Falsch Positiven selbst nach Begutachtung auf etwa 20 Prozent geschätzt wird356. Eine Überschätzung von Gefährlichkeit aber ist auch für das Leugnungsproblem von Bedeutung, wirkt sich doch eine Äängstliche³ Haltung möglicherweise ___________ 351
Vgl. dazu Rasch 1999, S. 372; Dahle 2000, S. 77; Birkhoff, StraFo 2001, 401, 403; Schumann 1994, S. 39 ff., der auch auf eine Modell-Analyse zu Entscheidungen über die Gewährung von Urlaub aus der Haft verweist. Hier habe nachgewiesen werden können, dass zur Minimierung des Anteils falsch Negativer eine unglaublich hohe Zahl falsch Positiver in Kauf genommen werde. In der Untersuchung seien auf jeden Gefangenen mit berechtigter Urlaubsversagung drei weitere gekommen, bei denen dies zu Unrecht geschehen sei. Die Prognosen hätten also einer ÄZensur³ unterlegen. 352 Rasch 1994, S. 27. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den so genannten ÄBaxstrom-Fall³ verwiesen, der sich im Jahre 1966 zugetragen hatte. J. Baxstrom war nach mehrjähriger Gefängnisstrafe zwangsweise in einer Anstalt für psychisch kranke Rechtsbrecher des Staates New York untergebracht worden. Nach seiner Beschwerde entschied der Supreme Court, dass die Unterbringung zu Unrecht erfolgte, was zur Folge hatte, dass aus verfahrensrechtlichen Gründen neben Baxstrom 967 weitere der vermeintlich gefährlichsten psychiatrischen Patienten des Staates New York entlassen werden mussten. Von ihnen waren viereinhalb Jahre später nur 24 Personen, d.h. 2,6%, erneut wegen Gewalttaten forensisch untergebracht (Volckart, R & P 1999, 58, 62 m. w. N.). Ein ähnlicher Fall trug sich in Pennsylvania zu (so genannter ÄDixon-Fall³). Hier wurden 1971 ebenfalls aus Rechtsgründen fast 600 als gefährlich eingeschätzten Psychiatriepatienten entlassen (Hinz, R & P 1986, 122, 125; Volbert, MschKrim 1986, 341, 342). 353 Rasch 1994, S. 27. 354 Birkhoff, StraFo 2001, 401, 403. 355 Hinzu kommt ein therapeutischer Impetus, der dazu verleiten kann, die Prognose nicht nur von einer Gefährlichkeit, sondern auch von einer Behandlungsbedürftigkeit abhängig zu machen (Rasch 1994, S. 27 f.). 356 Bischof, MSchrKrim 2000, 346, 361; Neubacher NStZ 2001, 449, 452.
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auch auf die Unbefangenheit beim Umgang mit der Tatverleugnung aus. Völlig zu Recht weist Kröber darauf hin, dass Äängstlich“, Ästreng“ oder Äeng“ keine rationalen Beurteilungskategorien der Kriminalprognose sind357. Auch von der Rechtsdogmatik her betrachtet ist in der erfahrungswissenschaftlichen Erarbeitung eines Prognoseergebnisses kein Raum für eine Gewichtung von Sicherheitsinteressen. Deren Einbeziehung ist vielmehr nur über die Prognoseentscheidung möglich, bei der unterschiedliche Belange gegeneinander abgewogen werden. All dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Prognoseerstellung der Versuchung ausgesetzt ist, vornehmlich an Sicherheitserwägungen ausgerichtet zu werden, und sei es nur unbewusst. Auch wenn ÄStrenge“ oder ÄÄngstlichkeit“ also keine sachlich begründete Auswahl bestimmen358, ist ihr Einfluss insbesondere bei der Ausfüllung von Wertungsspielräumen nicht ausgeschlossen. Dabei macht vor allem eine Rücksicht auf die kritische Reaktion der Öffentlichkeit plausibel, dass Zurückhaltung mit günstigen Prognoseergebnissen geübt wird359. Diese Zurückhaltung wird eher zunehmen, wenn man bestimmten Deutungen der gesellschaftlichen Entwicklung Glauben schenkt, die eine radikale Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung latenter Bedrohungslagen behaupten360. Mittlerweile jedenfalls gilt Sicherheit als Voraussetzung von Freiheit nahezu unstreitig als eine im Kern akzeptierte liberale Grundposition.361 Prognosen aber bieten im Problemfeld der Sicherheit besondere Angriffsflächen, weil sie zur Sicherheit beizutragen suchen, ihnen aber gleichzeitig Fehleinschätzungen immanent sind. Hinsichtlich dieser Irrtümer wird beklagt, dass es an einem Bekenntnis dazu sowie zum spezialpräventiven Strafrecht insgesamt fehle. Die Normalität von Prognosen und die Erwartbarkeit von Fehlern sei nicht akzeptiert, wozu namentlich die Medien als Ästrukturelles Hemmnis³ beitrügen. Sie seien es gewohnt, das Thema Kriminalität zu dramatisieren, und sperrten sich gegen die Einsicht, dass Prognosen notwendig fehlerhaft sein müssten und auch der Justiz Fehler gestattet seien.362
___________ 357
Kröber, NStZ 1999, 593, 599. Kröber, NStZ 1999, 593, 599. 359 Vgl. dazu Rasch 1994, S. 27 f. 360 Wozu insbesondere die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA oder der Amoklauf vom April 2002 in Erfurt beigetragen hätten, Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 21 f. 361 Dahrendorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.3.2002, S. 8; Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 21 f. 362 Schumann 1994, S. 40. 358
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Für die Prognosepraxis müssen solche Ansichten von großer Bedeutung sein. Medien bestimmen als Ävierte Gewalt³ die Vermittlung von Inhalten an den Souverän, das Wahlvolk; in der Mediendemokratie sind sie zur Mitte (ÄMedium³) der Beziehungen zwischen den Staatsgewalten geworden363. Provozierten sie aber ein einseitiges, steigendes Bedürfnis nach Sicherheit, so ist in Zukunft mit einem noch größeren Gewicht von Sicherheitsbedenken bei Entlassungsprognosen zu rechnen. Dabei ist der Prognostiker nicht für Irrtümer, sondern allein für Fehler bei Verhaltensvorhersagen in die Pflicht zu nehmen, worin ein wichtiger Unterschied liegt. Während ÄPrognoseirrtum³ das Nicht-Eintreffen der Vorhersage bezeichnet, ist ÄPrognosefehler³ die unsachgemäße Anwendung einer Prognosemethode, das heißt ein Verstoß gegen ihre Standards und Regeln. Prognoseirrtümer sind also nicht notwendig auch Prognosefehler, auch eine fehlerfreie Prognose schließt einen Prognoseirrtum nicht aus364. Mit einem gewissen Recht lässt sich sogar vertreten, dass die fehlende Bewahrheitung der Vorhersage noch nicht einmal einen ÄIrrtum³ offenbart. Ein solcher ist nämlich eine unbewusste Fehlvorstellung365, Prognosen aber nehmen die Möglichkeit einer Abweichung von Eingetretenem und Vorhergesagtem bewusst in Kauf. Insoweit ist unbedingt zwischen der Möglichkeit einer Verhaltensvorhersage und der sachgerechten Wahrnehmung dieser Möglichkeit zu unterscheiden.366 Beispielsweise belegt das Misslingen einer von falschen Kriterien ausgehenden Individualprognose selbstredend nicht deren grundsätzliche Unmöglichkeit.367 Angesichts der unvermeidbaren prognostischen Unsicherheiten ist es also unsinnig, den Prognostiker für die fehlende Bewahrheitung seiner Ergebnisse als solche verantwortlich zu machen. 3. Folgen einer Betonung der Sicherheit Die einseitige Betonung von Sicherheitsbelangen muss ± wie jede Einseitigkeit ± aus erfahrungs- und rechtswissenschaftlicher Sicht unerwünscht sein. Sie geht mit einer Einschränkung der prognostischen Beurteilungskompetenz einher ___________ 363
Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 22. Allerdings ist umgekehrt zu erwarten, dass Prognosefehler die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums erhöhen, vgl. Dahle 2000, S. 81 ff. 365 Duden 1999, S. 1983; Wessels/Hillenkamp 2004, S. 257 f. 366 Zudem ist ohnehin vorrangig zwischen verschiedenen Interventionsstrategien und nicht abstrakt im Sinne von wahrsagerischen Zukunftseinschätzungen zu entscheiden, vgl. den Abschnitt zum Erkenntnisziel strafrechtlicher Entlassungsprognosen im vorigen Kapitel. 367 Kröber 1995, S. 66. 364
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und kann gleichzeitig als abnehmendes Vertrauen in deren Möglichkeiten gedeutet werden. Ein Einsperren im Dienste der Sicherheit ist risikolos, da der Betroffene so keine Straftaten begehen kann, hier muss also kein Vertrauen in die Bewertung künftigen Legalverhaltens gesetzt werden. Entsprechend wird die Rückbesinnung auf den Sicherungsgedanken als Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit gedeutet.368 Dabei lässt sich einer der beiden möglichen Irrtümer bei der Prognose jeweils nur auf Kosten des jeweils anderen minimieren369; Vorsicht in der einen Richtung ist also immer zugleich Rücksichtslosigkeit in der anderen370. Wer das Vorkommen von falsch ungünstigen Prognosen vermeiden möchte, produziert einen erhöhten Anteil falsch günstiger Prognosen und verschiebt damit das Fehlerrisiko deutlich zu Lasten der potentiellen Opfer. Umgekehrt führt der übertriebene Wunsch nach einer Vermeidung falsch günstiger Prognosen im Dienste der inneren Sicherheit zu einem erhöhten Anteil falsch ungünstiger Prognosen und damit zum Freiheitsentzug für ungefährliche Menschen.371 Auch wenn sich die beiden Irrtumsarten in gewisser Weise spiegelbildlich zueinander verhalten, sind die mit ihnen jeweils verbundenen ÄKosten³ ± im weitesten, nicht nur im finanziellen Sinn ± völlig unterschiedlicher Art.372 Sie müssen entweder von der Allgemeinheit oder von demjenigen getragen werden, über dessen künftiges Verhalten Vermutungen angestellt werden.373 Jede unberechtigte vorzeitige Entlassung bringt Rechtsgüter der Gefahr einer Verletzung durch den Entlassenen näher. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass Rücksicht auf Sicherheitsbedürfnisse gleichbedeutend mit einer Verweigerung der Haftentlassung ist. Auch die Vollverbüßung kann sich als Sicherheitsrisiko erweisen, wenn nämlich die Sicherheit der Allgemeinheit gerade ___________ 368 Vgl. Schallert, DVJJ 1998, 17, 17. Sie ließe sich sogar in den jüngsten Gesetzesänderungen nachzeichnen. Seit dem Sechsten Strafrechtsreformgesetz von 1998 sei das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit dominierendes Entscheidungskriterium, nicht mehr die Individualprognose (so Albrecht 1999, S. 91). Gleichzeitig kann dies als Rückzug aus der Empirie gedeutet werden, tritt so doch das Vertrauen in die Möglichkeiten einer prognostischen Beurteilung bzw. deren Methoden und Wissenschaftlichkeit zurück. Ein Einbehalten im Dienste der Sicherheit kann ein Prognoseergebnis nicht widerlegen, da der Betroffene weder Straftaten begehen, noch sich in Freiheit bewähren kann. Es muss also weder Vertrauen in das künftige Legalverhalten, noch in dessen Beurteilung gesetzt werden. 369 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 70. 370 Volckart, R & P 2002, 105, 109. 371 Volckart 1997, S. 43. 372 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 373 Schumann 1994, S. 36.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
durch eine falsch positive Prognose leidet. Die Verhaltensvorhersage kann beispielsweise zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, weil wegen ihr Resozialisierungsmaßnahmen unterbleiben oder Prisonisierungseffekte eintreten; auch ist ein Rückfall gerade deshalb denkbar, weil soziale Wiedereingliederung nicht durch Vollzugslockerungen gefördert wurde374. Das Gesetz aber sucht den Schutz der Bevölkerung nicht gegen die Resozialisierungsinteressen des Gefangenen, sondern durch seine Resozialisierung zu erreichen.375 Diesem Ziel ist auch die Strafaussetzung untergeordnet. Hier steht der Gedanke im Vordergrund, den Verurteilten durch die drohende Vollstreckung zu straftatfreiem Verhalten zu motivieren.376 Seine Wiedereingliederung ist helfend zu unterstützen und zu kontrollieren, was beispielsweise durch Bewährungsweisungen und -auflagen377 geschehen kann. Nötigenfalls kann die Aussetzung als Krisenintervention widerrufen und im weiteren Vollzug gezielt auf die sichtbaren Gefährdungen reagiert werden.378 Die Strafrestaussetzung bietet einen fließenden Übergang in die Freiheit und weist ein hohes Motivationspotential auf; eine Entlassung nach Vollverbüßung hingegen verfügt trotz der Möglichkeit einer anschließenden Führungsaufsicht379 nicht über entsprechend effektive Vorkehrungen gegen einen Rückfall.380 Zudem kann eine sichernde Einsperrung zum Beispiel durch gesteigerte Aggressivität der Betroffenen Sicherheitsrisiken produzieren, die zu allererst die Mitarbeiter im Vollzug besonderen Gefahren aussetzt.381 Vollverbüßung bei einem Äfalsch Positiven³ schadet also grundsätzlich der Sicherheit der Allgemeinheit. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Kostenfolgen einer falsch positiven Prognose für die Gesellschaft. Sie hat einen Freiheitsentzug zu finanzieren, der aus präventiven Gründen nicht erforderlich wäre382, jede unberechtigte Einbehaltung eines Häftlings vergeudet Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, und lockert damit ebenfalls den Rechtsgüterschutz. Im Dienste eines Sicherheitsinteresses den leugnenden Straftäter wegen der Möglichkeit künftiger Straftaten einzubehalten, ist Verschwendung der ohnehin knappen Mittel der Strafrechtspflege, die zu einer Beeinträchtigung von Sicherheitsinteressen führen muss. Im ___________ 374
Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. So Neubacher NStZ 2001, 449, 453, der dazu auf § 2 S. 1 StVollzG verweist. 376 Streng 2002, S. 122 f. 377 Siehe § 57 Abs. 3 i. V mit §§ 56 a bis 56 g StGB. 378 Vgl. Frisch, ZStW 1990, 707, 717; Neubacher NStZ 2001, 449, 453. 379 Vgl. § 68 StGB. 380 Neubacher NStZ 2001, 449, 453. 381 Schüler-Springorum et al., MschKrim 1996, 147, 149. 382 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 375
F. Tatverleugnung und Strafzwecke
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Angesicht der gegenwärtigen Mangelsituation kann größere Sicherheit bei prognostischen Zweifeln also nicht mit gesteigerter Vorsicht gegenüber einer Entlassung begründet werden, denn Sicherheitslücken entstehen bei einer prognostischen Fehlentscheidung durch Entlassung ebenso wie durch Einbehaltung. Eine unmittelbare Konsequenz für die Prognoseerstellung muss der Sicherheitsgedanke damit haben: Er liefert einen nachhaltigen Grund für die Privilegierung von Prognosen bei der Ressourcenverteilung, denn fundierte Verhaltensvorhersagen sind ein relativ billiges Mittel, mehr Sicherheit zu erreichen. Eine Kriminalprognose wird selbst im aufwendigsten Fall weder die Kosten eines mehrjährigen Haftaufenthalts verursachen, noch mit seinen Nachteilen an das heranreichen, was von einer Straftat zu erwarten ist. Gerade der Sicherheitsgedanke mahnt also zu einer umfassenden prognostischen Beurteilung und damit auch zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Ableugnen. Der Umgang mit Entlassungsentscheidungen in Öffentlichkeit bzw. Medien offenbart jedoch eine bemerkenswerte Verantwortungszuweisung. Bei einem Rückfall werden Beteiligte an dieser Entscheidung ± ob Vollzugsbehörde, Prognostiker oder Richter ± in der Regel nur dann in die Pflicht genommen, wenn sie sich für die vorzeitige Beendigung der Behandlung im Strafvollzug entschieden haben.383 Bei einem Rückfall nach Vollverbüßung tritt zumeist niemand mehr mit Vorwürfen an die strafrechtlichen Entscheidungsträger oder ihre Berater heran384, obwohl auch die Verweigerung der vorzeitigen Entlassung für die Lebensentwicklung äußerst schädlich und damit risikoerhöhend sein kann385. Die Verantwortung für eine Lebensentwicklung nach Haftentlassung ist also offensichtlich nur bei vorzeitigem ÄAbbruch³ der Behandlung im Strafvollzug öffentlichkeitswirksam. Für die Zeit nach einer Vollverbüßung wird die Strafrechtspflege nicht mehr in die Pflicht genommen, was schon deshalb bemerkenswert ist, weil die gesamte Behandlung auf eine Bewährung in dieser Zeit ausgerichtet ist.386 Erklären ließe sich diese öffentliche Haltung einerseits mit einem besonderen Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten der Straftäterbehandlung, gerade um___________ 383
Schumann 1994, S. 40. Böhm 2003, S. 13. 385 Endres, ZfStrVo 2000, 67, 69. 386 Insoweit ist der Begriff des allgemeinen Sicherheitsinteresses näher zu bestimmen, etwa im Sinne eines Äwohlverstandenen³ Sicherheitsinteresses, das nicht nur den Zeitraum des möglichen Anstaltsverbleibs im Blick hat, sondern ± ähnlich wie das wohlverstandene Eigeninteresse ± von einer Gesamtbetrachtung getragen ist. Eine entsprechende Diskussion erscheint erforderlich, ist im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht leistbar. 384
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
gekehrt könnte jedoch auch ein unerschütterlicher Glauben an die Effizienz des Strafvollzugs dahinter stehen: Wenn eine Vollverbüßung grundsätzlich nicht hinterfragt wird, kann sie wegen Sicherheitsinteressen als stets vorzugswürdiges Mittel interpretiert werden. Ein solch Äabsoluter³ Vorrang von Sicherheitsbelangen lässt der Resozialisierung von vornherein keinen Raum; hier wird überhaupt nichts darauf gegeben, dass durch Straftäterbehandlung irgendetwas erreicht werden kann. Den Verbleib im Strafvollzug aber umgekehrt aus therapeutischen Gesichtspunkten stets als vorzugswürdig anzusehen, unterstellt eine behandlerische Effektivität der Freiheitsentziehung, die in bemerkenswertem Gegensatz zu den Einschätzungen in der Fachwelt387 steht. Die Strafrechtspflege jedenfalls darf sich auf keinen Fall von so gearteten gesellschaftlichen Haltungen und Erwartungen beeinflussen lassen388, was gerade im Umgang mit einer Tatverleugnung vor große Herausforderungen stellt. Sie ist offene Auflehnung gegen strafrechtliche und damit gesellschaftliche Zuschreibungen. Die verweigerte Unterwerfung darunter fordert die Autorität rechtlicher Wahrheitsfeststellungen und damit die Gesellschaft heraus, was oft auf wenig Verständnis in der Öffentlichkeit trifft. Diese kann ihren Glauben an das Funktionieren der Rechtspflege und die Richtigkeitsgewähr der hoheitlichen Entscheidungen beschmutzt sehen, weil der leugnende Täter sich gegen jene stellt, denen die Öffentlichkeit vertraut. Dann aber kann es ± insbesondere bei entsprechender Vermittlung durch die Medien ± im Umgang mit einer Tatverleugnung schwer sein, richterliche und erfahrungswissenschaftliche Unabhängigkeit gegenüber Verführungen durch den Zeitgeist oder tagespolitische Begehrlichkeiten zu bewahren. Dies gilt auch deshalb, weil eine differenzierte und gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Tatverleugnung Gefahr läuft, mit Verständnis für den Täter verwechselt zu werden, und zwar insbesondere dann, wenn sich der Prognostiker um ein Verstehen bemüht.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit I. Relevanz der Selbstbelastungsfreiheit für das Leugnungsproblem Am Schluss der rechtsdogmatischen Analyse des Leugnungsproblems soll es um einen Aspekt gehen, der sich bei der Frage nach dem Umgang mit einer Tatverleugnung nahezu als erstes aufdrängt: In Rechtsprechung und strafprozessrechtlicher Literatur ist von einer ÄSelbstbelastungsfreiheit³ bzw. ÄSelbst___________ 387
Vgl. dazu Eisenberg 2005, S. 175, 535; Schmitt, BewHi 1996, 3, 7; Platz, StV 1996, 234 f. 388 Dazu auch Mackenroth/Wrege, DRiZ 2003, 21, 25 f.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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bezichtigungsfreiheit³ des Delinquenten389 die Rede, die im Strafverfahren zu beachten sei. Insbesondere wird von den Gerichten immer wieder betont, dass dem Verurteilten sein Leugnen auch im Vollstreckungsverfahren nicht zum Nachteil gereichen dürfe.390 Dass eine Tatverleugnung dennoch negative Berücksichtigung finden könne, will der Hinweis rechtfertigen, dass ein Prognoseurteil keinen Schuldvorwurf enthalte391, was allerdings nicht auf den ersten Blick einleuchtet, wird doch nicht deutlich, warum Nachteile nur an einen Schuldvorwurf geknüpft sein sollen. Für das Leugnungsproblem bleibt damit die Frage, ob eine ± noch näher zu bestimmende ± Selbstbelastungsfreiheit den Umgang mit der Tatverleugnung in der normativ eingebetteten Prognose beeinflusst. II. Grundlagen zur Selbstbelastungsfreiheit Was bisher als Selbstbelastungsfreiheit bezeichnet wurde, meint den Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst anzuklagen bzw. gegen sich selbst Zeugnis abzulegen ± wegen seiner ursprünglichen Formulierung Änemo tenetur se ipsum accusare³ bzw. Änemo tenetur se ipsum prodere³ auch als nemotenetur-Prinzip bezeichnet392. Nach diesem, bis zum Talmud bzw. dem kanonischen Recht zurückverfolgbaren Grundsatz393 braucht der Delinquent also nicht Zeuge gegen sich selbst zu sein394; anders ausgedrückt hat er das Recht, sich durch Schweigen zur Sache oder durch Inaktivität zu verteidigen395. Da es ihm freisteht, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder zu schweigen, spricht man auch von seiner Aussagefreiheit396. Dabei wird ein Schweigen dem schlichten ___________ 389
Eigentlich sind diese Begriffe sprachlich ungenau, denn die Freiheit, einen Tatvorwurf nicht übernehmen zu müssen, ist auch einem Unschuldigen zuzubilligen, der sich per se nicht selbst Äbelasten³ bzw. Äbezichtigen³ kann, weil er die vorgeworfene Tat eben nicht begangen hat. Zudem ist davon nicht nur das selbst-belastende, sondern auch das selbst-entlastende Vorbringen erfasst (Lesch, in: KMR, § 136, Rn. 14). Dass im Folgenden dennoch von ÄSelbstbelastungsfreiheit³ und ÄSelbstbezichtigungsfreiheit³ gesprochen wird, ist der Verbreitung dieser Begriffe sowie dem Umstand geschuldet, dass es um das Leugnen, nicht (auch) um das Abstreiten einer Straftat geht. 390 Vgl. zum Beispiel OLG Hamm NStZ 1989, 27, 28. 391 OLG Hamm NStZ 1989, 27, 28. 392 Roxin 1998, § 15 Rn. 9; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 29a. 393 Rogall 1977, S. 67 ff. 394 BGHSt 14, 358, 346; 25, 325, 331; Roxin 1998, § 25 Rn. 1. 395 Meyer-Goßner, Einl. Rn. 80. 396 Lesch, in : KMR, § 136, Rn. 13; Meyer-Goßner, § 136 Rn. 7; LG Bad Kreuznach, StV 1993, 629, 630; Roxin, NStZ 1995, 465, 466 f.; Müssig, GA 1999, 119, 126 f.;
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Ableugnen der Tat gleichgesetzt, weil beide Verhaltensweisen materiell gleichwertig seien.397 Die Aussagefreiheit ist nicht bloß anerkannt, sondern genießt hohen Stellenwert: Sie gilt als übergeordneter Rechtsgrundsatz398 mit unangefochtenem verfassungsrechtlichen Rang399, als Äselbstverständliche Verfahrensgarantie³400 und wird zu den Grundprinzipien401 bzw. elementaren und traditionellen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gezählt402. Das Gesetz allerdings verzichtet weitgehend auf eine Formulierung des nemo-tenetur-Prinzips.403 Insbesondere in der Strafprozessordnung finden sich zwar Konkretisierungen dieses Grundsatzes, jedoch keine positiv-rechtliche Verankerung.404 So hat das nemo-tenetur-Prinzip in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO darin Ausdruck gefunden405, dass der Beschuldigte über sein Recht zu belehren ist, entweder sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Damit soll für ihn eindeutig klar werden, dass er nicht aussagen muss, wenn ihn ein Richter, Staatsanwalt oder Polizeibeamter in amtlicher Eigenschaft befragt406, er also nicht zur Aussage gegen sich selbst verpflichtet ist407. Ähnliche ___________ Bottke, DAR 1980, 238, 240; vgl. auch Günther, GA 1978, 193, 193; Böse, GA 2002, 98, 99. 397 Dazu BGHSt 25, 365, 368; OLG Celle, MDR 1974, 249. Dingeldey, JA 1984, 407, 413. 398 Böse, GA 2002, 98 ff.; Verrel, NStZ 1997, 361 ff.; 415 ff.; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 29a. 399 Siehe dazu BVerfGE 55, 144, 150; 56, 37, 49; BVerfG, NStZ 1995, 555, 555; StV 1999, 71, 71; BGHSt 14, 358, 364 f.; 36, 44, 48; 38, 214, 220. 400 So Günther, GA 1978, 193, 193; vgl. auch Stümpfler, DAR 1973, 1, 1 f. 401 Böse, GA 2002, 98, 98. 402 Verrel, NStZ 1997, 361, 361. 403 Lediglich in Art. 14 IIIg) des Internationalen Paktes über staatsbürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 (IPBPR) heißt es: ÄJeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat in gleicher Weise im Verfahren Anspruch auf folgende Mindestgarantien: ... g) er darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen.³ Dies gilt als einfaches Bundesgesetz, seit der IPBPR in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland transformiert wurde (siehe BGBl. II 1973, S. 1533 ff.). Siehe auch Art. 52 V der Verfassung des Landes Brandenburg: ÄNiemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst oder durch Gesetz bestimmte nahestehende Personen auszusagen.³ 404 Vgl. BGH, NJW 1974, 1570, 1571 (zu § 243 Abs. 4 S. 1 StPO). 405 Meyer-Goßner, Einl. Rn. 29a. 406 BGHSt 42, 139, 147; Siehe auch Franke, JR 2000, 486, 470; Popp, NStZ 1998, 95, 95.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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Regelungen treffen auch die §§ 115 Abs. 3 S. 1, 243 Abs. 4 S. 1 StPO für den Delinquenten bzw. § 55 Abs. 1 StPO für den Zeugen, all diese strafprozessualen Belehrungsvorschriften408 begründen allerdings die Aussagefreiheit nicht, sondern setzen sie voraus409. Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass410 eine Äaussagekräftige Normierung des nemo-tenetur-Prinzips³411, insbesondere durch eine ausdrückliche Regelung in der StPO412, fehlt. III. Nähere Bestimmung der Selbstbelastungsfreiheit 1. Notwendigkeit einer näheren Bestimmung Der blasse Niederschlag des nemo-tenetur-Prinzips im Gesetz wird als Grund dafür angesehen, dass die Konturen dieses Grundsatzes in Randbereichen bis heute unscharf geblieben sind.413 Unsicherheiten wirken sich dabei auch auf das Leugnungsproblem aus414, obwohl hier auf den ersten Blick der Einfluss einer Selbstbelastungsfreiheit klar zu sein scheint: Einerseits stellt sie dem Delinquenten frei, ob er sich selbst Äbezichtigt³ bzw. Äbelastet³, andererseits ist die Abkehr von einer Tatverleugnung nur durch ein Einräumen der Tat denkbar, was ohne weiteres als Selbstbezichtigung aufgefasst werden kann. Bei näherem Hinsehen aber zeigt sich, dass die Dinge doch nicht so eindeutig sind, wobei verschiedene Unklarheiten das Leugnungsproblem belasten: Will das nemo-tenetur-Prinzip den Betroffenen davor schützen, an der eigenen ___________ 407
BGHSt 14, 358, 364; allg. dazu: Dingeldey, JA 1984, 407: Günther GA 1978, 193; Haas, GA 1995, 230, 230; vgl. auch BVerfGE 56, 37, 49; Meyer-Goßner, § 136 Rn. 7. 408 Sie gelten über § 46 Abs. 1 OWiG auch für das Bußgeldverfahren. 409 Meyer-Goßner, § 136 Rn. 7; Fezer, JuS 1978, 104, 106; zur systematischen Bedeutung der Aussagefreiheit Pawlik, GA 1998, 378, 379 ff. 410 Von Art. 14 III IPBR abgesehen. 411 So Verrel, NStZ 1997, 361, 365. 412 Dingeldey, JA 1984, 407, 408. 413 Verrel, NStZ 1997, 361, 365. Er kritisiert zudem an der einzigen gesetzlichen Formulierung strafprozessualer Aussagefreiheit in Art. 14 III IPBR (s. o.), dass hier nur ein unstreitiger Mindeststandard zum Ausdruck kommt, der überdies unglücklich formuliert sei. So widerspreche sowohl die vom Wortlaut her gegebene Beschränkung des nemo-tenetur-Prinzips auf den Strafprozess, als auch die fehlende Einbeziehung von Zeugen der allgemeinen Anschauung, dass sich ein Beschuldigter generell nicht zum Beweismittel gegen sich selbst machen müsse. 414 Gleichzeitig kann es bestimmte Streitfragen zum nemo-tenetur-Prinzip ignorieren, etwa ob unbewusste (siehe dazu BGHSt 40, 66, 71 f.; NJW 1996, 2940, 2943) oder völlig zwangsfrei zustande gekommene (vgl. dazu Roxin, NStZ 1995, 465, 467 f. und NStZ 1997, 18 ff.; Verrel, NStZ 1997, 361, 365) Selbstbelastungen einzubeziehen sind.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
ÄÜberführung³ mitzuarbeiten, so bedarf es dieses Schutzes nach rechtskräftiger Verurteilung nicht mehr, denn dann ist der Betroffene im Sinne der strafprozessualen Erkenntnisgewinnung Äüberführt³. Er kann an der eigenen strafprozessförmigen Überführung nicht mehr mitwirken und ist mit einer rechtskräftigen Entscheidung bereits belastet. Ist jedoch nicht allein diese Art der Überführung bzw. Belastung gemeint, sondern beispielsweise auch jene mit Ehrwirkungen verbundene im sozialen Umfeld ± oder geht es überhaupt nicht um Überführung, sondern auch um andere Formen der Bezichtigung oder Belastung, so ist die Geltung des nemo-tenetur-Prinzips nicht von vornherein ausgeschlossen. Mit diesen Unklarheiten hängt eine weitere, für das Leugnungsproblem bedeutsame Frage zusammen: In jenem Verfahrensstadium, in dem eine Entscheidung nach § 57 StGB gefordert ist, kann es nicht mehr um den Beweis der Tat, sondern nur (noch) um eine Beurteilung des Täters gehen. Seine Verhaltensweisen, insbesondere seine Aussagen, können ja grundsätzlich beidem, also Feststellungen zur Tat und zum Täter oder ± anders ausgedrückt ± der Sachverhaltsaufklärung und einer ÄGefahrenabwehr³415 zugute kommen. Ein Prognoseurteil jedenfalls bezieht sich allein auf die faktische Einschätzung der künftigen Gefährlichkeit des Verurteilten416 und zudem ist mit dem rechtskräftigen Urteil eine erneute Bewertung des Tatgeschehens grundsätzlich ausgeschlossen. Für das Leugnungsproblem stellt sich damit auch die Frage, ob das nemotenetur-Prinzip die äußere Haltung des Täters nur gegenüber einer Verwertung als Indiz für Täterschaft bzw. Schuld oder auch als Indiz für Gefährlichkeit abschirmen möchte.417 Es ist also insgesamt näher zu bestimmen, was ÄSelbstbelastung³ bzw. ÄSelbstbezichtigung³ im Sinne der Selbstbelastungsfreiheit meint, weil deren Einfluss auf das Leugnungsproblem bereits an diesen Begriffen scheitern kann. 2. Nähere Bestimmung von Selbstbelastung und Selbstbezichtigung Tatsächlich ergeben sich bei näherer Betrachtung gute Gründe dafür, das Leugnungsproblem vom nemo-tenetur-Prinzip unbeeinflusst zu sehen. Ganz offensichtlich soll der Beschuldigte durch die Selbstbelastungsfreiheit nicht vor ___________ 415
Siehe zu Einschränkungen des nemo-tenetur-Prinzips unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr auch Verrel, NStZ 1997, 415, 419 m. w. N. 416 OLG Schleswig – 1 Ws 372/81. 417 Diese Frage ist nicht spezifisch für Kriminalprognosen im Rahmen des § 57 StGB, sondern betrifft beispielsweise auch die Strafzumessung, genauer das ÄVerhalten nach der Tat³ im Sinne des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, denn diesem Verhalten wird sowohl ein schuldrelevanter als auch ein präventiver Aussagewert zugeschrieben, vgl. Streng 2002, S. 239 m. w. N.; vgl. dazu auch Enßlin 2003, S. 260 ff.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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jedwedem Nachteil durch sein Verhalten geschützt werden, sonst würde es überhaupt kein Strafverfahren geben. Darüber hinaus ist nicht nur für das Verhalten insgesamt, sondern auch konkret für eine verweigerte Übernahme des Tatvorwurfs der Schutz vor Konsequenzen lückenhaft. Das Gesetz selbst bringt dies in der Regelung des § 6 StrEG zum Ausdruck, die dem Beschuldigten eine Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen versagt, wenn er wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat. Auch ist ohne weiteres plausibel, dass ein Tatverdächtiger zur Vermeidung eigener Nachteile entlastende Umstände, die nur ihm bekannt sind, nicht verschweigen sollte.418 Grenzt man die denkbaren Möglichkeiten eines Nachteils durch Schweigen oder Ableugnen gegeneinander ab, so lassen sie sich auf einer ersten Ebene in solche durch rechtliche Konsequenzen auf der einen und außerrechtliche (soziale) Folgen auf der anderen Seite unterteilen. In der ersten Kategorie nachteiliger rechtlicher Entscheidungen wiederum sind eine Bestrafung der Tat sowie die verweigerte Entlassung relevant, wobei eine Belastung durch Verurteilung bzw. verurteilungserhebliche Selbstbezichtigung für den vorliegenden Zusammenhang schon ausgeschlossen wurde. Auch die verweigerte Entlassung aber, genauer der Beitrag, den die Kriminalprognose dazu leistet, scheidet hier als Belastung aus: Im Rahmen der Entlassungsprognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nämlich kann sich der Beschuldigte nicht mehr selbst belasten, weil diese rechtsdogmatisch betrachtet nicht belastend im Sinne des nemo-tenetur-Grundsatzes ist. Sie wäre es, wenn sich daraus die Rechtfertigung für den Freiheitsentzug ergäbe419, wovon insbesondere ausgegangen werden müsste, wenn die Entscheidung nach § 57 StGB unmittelbar aus der Prognose folgte. Bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung ist dies der Fall. Hier steht und fällt die Anordnung mit der Gefährlichkeit, die vom Täter für die Gemeinschaft ausgeht420, an die schuldhafte Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes wird nicht angeknüpft. Allein die Gefährlichkeitsprognose ist hier also Grundlage rechtseingreifenden Handelns, die hier damit eingriffsfundierend ist421. Kriminalstrafe auf der zweiten Spur des strafrechtlichen Sanktionssystems hingegen ist adäquate Antwort auf die schuldhafte Verletzung eines gesetzli___________ 418
Dazu BGH, JR 1962, 148; Rüth, DAR 1969, 225, 237, OLG Hamburg, VRS 41,
195. 419
Dies bejaht zum Beispiel Frisch 1983, S. 65 ff.; siehe auch Hendrik Schneider 1996, S. 30. 420 Schönke/Schröder, vor §§ 61 ff. Rn. 2. 421 Hendrik Schneider 1996, S. 31.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
chen Tatbestands. Präventive Maßnahmen dürfen hier nur schuldadäquat verhängt werden, während bei fehlender Schuld überhaupt nicht zu bestrafen422 und eine schuldüberschreitende Strafe als verfassungswidrig anzusehen ist423. Strafe knüpft also an die schuldhafte Verwirklichung eines Tatbestandes an, die auf Grundlage der Schuld verhängte Strafe rechtfertigt sowohl die Vollstreckung als auch die Aussetzung der Freiheitsstrafe. Hier ist die Prognose damit nicht eingriffsfundierend, sondern bildet lediglich die Basis für die Strafaussetzung als ÄMaßnahme der Strafvollstreckung³424, von der Entscheidung für eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe sind Vollstreckung bzw. Aussetzung der Strafe zur Bewährung legitimiert. Dafür sprechen sowohl die Dogmatik als auch die Entstehungsgeschichte der Strafzumessungsnormen: Die Entscheidung über die Anwendung der §§ 47, 56 und 57 StGB stellt sich als Folgefrage425, nachdem das Gericht über die Strafe nach Maßgabe des § 46 StGB entschieden hat426. Nur um Strafaussetzung bewilligen zu können, darf der Richter die schuldangemessene Strafe nicht unterschreiten.427 Schuldprinzip und Generalprävention sind hier als Korrektiv einer Sanktionsauswahl zu verstehen, die nicht allein an der Sozialprognose zu orientieren ist. Der Schuldgrundsatz hat konstitutive Funktion, das heißt er begründet und rechtfertigt den staatlichen Eingriff.428 Während also im Maßregelrecht Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff allein die ungünstige Sozialprognose ist, rekurriert die Strafe auf die Schuld. Die Frage der Strafaussetzung gehört zur Sanktion der Strafe, deren Anknüpfungspunkt eben nicht allein die Prävention ist. Hätte die ungünstige Sozialprognose hier den gleichen Stellenwert einer eigenständigen Eingriffslegitimation wie im Maßregelrecht, würde die verweigerte Entlassung als verdeckte Maßregel behandelt.429 Damit aber käme es zur Verwischung der Konturen zwischen beiden Rechtsfolgesystemen.430
___________ 422
Schönke/Schröder, vor § 38 Rn. 6. BVerfGE 45, 187, 259 f.; 50, 5, 12; 54, 100, 108; BGHSt 34, 150, 151; Roxin 1992, S. 41; Bruns 1985, S. 91; Hendrik Schneider 1996, S. 19 ff. 424 Streng 2002, S. 102 f. m w. N. 425 Bruns 1985, S. 111. 426 Horn, in: SK-StGB, § 46 Rn. 2 f. 427 Schönke/Schröder, § 56 Rn. 6; Hendrik Schneider 1996, S. 33. 428 Hendrik Schneider 1996, S. 31. 429 Bock, NStZ 1990, 457, 460. 430 Hendrik Schneider 1996, S. 32. 423
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
275
Nach dem Gesetz hat die Kriminalprognose im Bereich präventiven Strafens also nicht ± wie bei der Verhängung einer Maßregel der Besserung und Sicherung ± die Funktion einer eigenständigen Eingriffsermächtigung.431 Dem steht nicht entgegen, dass oft die Entlassung eines Gefangenen nur von einer günstigen Kriminalprognose abhängt432. Während die Eingriffsfundierung nämlich die Frage betrifft, ob der Eingriff durch die Freiheitsstrafe einschließlich des letzten Strafdrittels gerechtfertigt ist, geht es bei der Abhängigkeit der Entlassungsentscheidung von der Kriminalprognose darum, ob die Restverbüßung auch richtig ist. Von den denklogischen Belastungswirkungen durch eine Berücksichtigung der Tatverleugnung bleiben also nur noch die außerrechtlichen Folgen433, die allerdings ebenfalls nicht den Einfluss der Selbstbelastungsfreiheit auf das Leugnungsproblem rechtfertigen können. So legt bereits die tradierte Formulierung des nemo-tenetur-Prinzips nahe, dass der Delinquent durch eine Selbstbelastungsfreiheit allein vor nachteiligen Feststellungen geschützt werden soll, welche die Tat, nicht aber ihn selbst als Täter betreffen. ÄSe ipsum acussare³ bzw. Äse ipsum tenetur³ jedenfalls scheint eher das Tatgeschehen zu betreffen, denn es ist, vorsichtig gesprochen, zumindest ungewöhnlich, sich selbst einer bestimmten (Persönlichkeits-)Eigenschaft anzuklagen, zu bezichtigen oder zu überführen. Darüber hinaus verkehrt sich aus Perspektive einer formell-rechtlichen Reaktion mit dem Schuldspruch die Wirkungsrichtung von Schweigen oder Leugnen ins Gegenteil: Verhindert es bis dahin möglicherweise Nachteile, kann es danach nur noch zu solchen beitragen. Von der Beurteilung des Tatgeschehens jedenfalls sind keine Belastungen mehr zu erwarten, denn dieses Geschehen ist rechtskräftig abgeurteilt; eine Beurteilung des Täters wird jedoch gerade durch Schweigen bzw. Ableugnen, nicht aber durch ein Eingeständnis der Tat negativ beeinflusst. 3. Selbstbelastungsfreiheit und Unschuldsvermutung Gegen eine Geltung des nemo-tenetur-Prinzips im Stadium von Strafvollstreckung bzw. -vollzug lässt sich zudem einwenden, dass der Betroffene nur für die Zeit der prozessförmigen Wahrheitsfindung und nur auf deren Notwendig___________ 431
Hendrik Schneider 1996, S. 33 f. Vgl. auch BVerfG NStZ 1998, 373, 375. 433 Sie allerdings können, beispielsweise als Konsequenzen im sozialen Umfeld, für den Täter möglicherweise gravierender als die eigentliche Bestrafung sein, Schöch 1985, S. 1081, 1096; Böse, GA 2002, 98, 107. 432
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
keiten bezogen vor Nachteilen bewahrt werden soll. Ohne jeden Zweifel nämlich bieten strafprozessuale Rücksichtnahmen keinen unbegrenzten, sondern einen von den Bedürfnissen des Strafverfahrens eingefassten Schonraum, muss sich der Angeklagte doch beispielsweise in einem Zivilverfahren oder dem sozialen Nahraum für Dinge rechtfertigen, mit denen ihn im Strafverfahren niemand behelligt. Dies aber führt direkt in den Kreis der rechtsdogmatischen Aufhänger des nemo-tenetur-Prinzips, von denen einer die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK ist. Sie bestimmt die prozessuale Stellung des Beschuldigten wesentlich434, streitet aber nach der rechtskräftigen Verurteilung nicht mehr für den Delinquenten, so dass dem nemo-tenetur-Prinzip die Grundlage entzogen wäre, wollte man es auf der Unschuldsvermutung betten. Dies aber geschieht435 (Dingeldey436 sagt sogar überwiegend), wobei unter anderem darauf verwiesen wird, dass nicht zur Selbstbezichtigung angehalten sein könne, wer als unschuldig vermutet werde437. Vom Angeklagten eine Sühneleistung in Form eines Schuldbekenntnisses zu verlangen, würde eine Verurteilung vorwegnehmen und damit die Unschuldsvermutung verletzen.438 Sie könne bei einer Aussagepflicht sogar als gegenstandslos betrachtet werden, weil der Angeklagte sich dann im Falle verweigerter Aussage einer gegenteiligen Vermutung seiner Schuld ausgesetzt sehe.439 Zudem obliege nach Art. 103 GG dem Beschuldigten die Entscheidung darüber, auf welche Art er sich ± ob schuldig oder unschuldig ± in einem ergebnisoffenen Verfahren verteidige.440 Es sei insgesamt inkonsequent, einerseits zu Gunsten des Angeklagten seine Unschuld zu vermuten und ihn andererseits zur Selbstbelastung zu verpflichten.441
___________ 434
Böse, GA 2002, 98, 123. Vgl. Rüping, JR 1974, 135, 138; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; siehe auch Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006. 436 JA 1984, 407, 409. 437 Dingeldey, JA 1984, 407, 409. 438 Wessels, JuS 1966, 169, 173. 439 Arndt, NJW 1966, 869, 870. 440 Böse, GA 2002, 98, 124. 441 Dingeldey, JA 1984, 407, 409 m. w. N. 435
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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4. Selbstbelastungsfreiheit als Ägutes Recht³ Es sprechen also gewichtige Gründe dafür, das nemo-tenetur-Prinzip bei einem Verurteilten nicht mehr gelten zu lassen.442 Dabei muss nicht einmal ± wie dies bis hierher geschehen ist ± vor allem mit den Besonderheiten des Verfahrensstadiums argumentiert werden443, um einen Einfluss der Selbstbelastungsfreiheit auf das Leugnungsproblem verneinen zu können. Dies gelingt nämlich unabhängig vom prozessualen Kontext auch durch die allgemeine Feststellung, dass die von einer Selbstbelastungsfreiheit gedeckten Verhaltensweisen prognostisch neutral und schon deshalb ohne Bedeutung für das Leugnungsproblem sind. Schon eine einfache Überlegung legt dies nahe: Es erscheint generell widersinnig, ein Recht einzuräumen, in Abhängigkeit von dessen Wahrnehmung dann aber ein Mehr oder Weniger an Rechtsfeindlichkeit ableiten zu wollen, aus Rechtskonformität also spätere Rechtswidrigkeit, aus einem Handeln auf dem Boden der Rechtsordnung eine spätere Missachtung dieser Ordnung zu folgern. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, denn die rechtliche Wertigkeit eines Verhaltens entspricht nicht zwingend der prognostischen, Rechtmäßigkeit bzw. Zulässigkeit sind nicht selbstverständlich Bürge für prognostische Neutralität. Mit anderen Worten kann nicht alles Äwas Recht ist³ als prognostisch unbedenklich angesehen werden.444 Es ist ganz offensichtlich, dass nicht erst der Normbruch als solcher prognostische Überlegungen veranlasst, sondern der Prognostiker an Umstände anknüpfen muss, die weit im Vorfeld eines Rechts___________ 442
Auch eine Herleitung des nemo-tenetur-Prinzips aus dem Recht auf eine freie Disposition über die Art und Weise der Verteidigung (dazu Lesch ZStW 111, 1999, 636 ff.) lässt eine Selbstbelastungsfreiheit für das in Rede stehende Verfahrensstadium entfallen, soweit man ÄVerteidigung³ im herkömmlichen Sinne als Abwehr des staatlichen Strafanspruchs auffasst. 443 Insbesondere gegen die Unschuldsvermutung als Fundament des nemo-teneturPrinzips werden gute Argumente vorgetragen, etwa dass das neutrale, öffentliche Interesse an einer Sachverhaltsaufklärung nicht von vornherein einer Verurteilung des Angeklagten vorgreife (Bosch 1998, S. 96; Nothhelfer 1989, S. 39; Wolff 1997, S. 36 f.; Böse, GA 2002, 98, 124). Auch enthalte Art 6 Abs. 2 EMRK kein Beweismittelverbot, lasse also offen, auf welche Weise der Schuldnachweis geführt werde (BGHSt 21, 306, 308; Paeffgen 1986, S. 45) und verbiete es somit nicht, den Beschuldigten zu vernehmen (Böse, GA 2002, 98, 124). 444 Freizeit- oder Kontaktverhalten beispielsweise können eine gemeinschaftswidrige Gesinnung nahe legen, ohne dass irgendetwas Rechtswidriges darin enthalten sein muss. Es ist beispielsweise nicht verboten, die elterliche Kontrolle ausnutzen, nach den Ergebnissen der Jungtäter-Vergleichsuntersuchung liegt darin aber ein Indiz späterer Gefährlichkeit.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
bruchs liegen.445 Bei einer ÄVorher“-sage von Gesetzesverletzungen liegt es geradezu in der Natur der Sache, dass nicht erst die Normübertretung relevant ist. Nun geht es im Zusammenhang mit dem nemo-tenetur-Prinzip allerdings nicht nur um Rechtmäßigkeit, sondern um die Wahrnehmung eines ausdrücklich eingeräumten Rechtes. Auch hier ließe sich etwas gegen eine ÄRegelvermutung³ prognostischer Unbedenklichkeit einwenden, nämlich dass der Betroffene nicht stets ein Ägutes³ Recht ausüben muss. So sind beispielsweise Diskrepanzen zwischen der objektiven und subjektiven Seite eines Rechts ± etwa bei Ausübung eines objektiv gegebenen Notwehrrechts ohne Verteidigungswillen ± denkbar oder eine rechtsmissbräuchliche bzw. sittenwidrige Rechtsausübung bekannt. Im vorliegenden Fall allerdings ist von der Wahrnehmung eines Äguten Rechts³ auszugehen, wofür insbesondere die Übertragung eines Denkmodells aus der Kriminologie spricht: Hier werden zur Bestimmung des Verbrechensbegriffs unter anderem Ädelicta mala per se“ und Ädelicta mere prohibita“ unterschieden, das heißt Delikte, die ihren Unwertgehalt in sich selbst tragen, und solche, die nur durch Verbot zustande kommen.446 Auch wenn damit nur in einem Kernbereich des Unrechts relativ eindeutige Abgrenzungen möglich sind447, lässt diese Unterscheidung ganz allgemein die Idee von Rechtsvorstellungen plausibel erscheinen, die jeder in sich trägt448, zumal Ge- bzw. Verbote mit Rechten und Pflichten korrespondieren. Für einen bestimmten Kernbereich lassen sich damit Befugnisse behaupten, die jeder instinktiv erfasst (beispielsweise das Notwehrrecht) und die im Gegensatz zu solchen Rechtspositionen stehen, die erst über den Umweg einer kollektiven Festschreibung zugewiesen werden. Dies macht bereits die Überlegung plausibel, dass bestimmte Regeln des Zusammenlebens täglich von jedem zu befolgen, also quasi existentiell sind, andere hingegen auf besondere Erfahrungen zurückgehen, die nicht jeder macht. Für eine solche Sondersituation aber gibt das Strafverfahren ein Beispiel; in einem so wenig alltäglichen Bezugssystem fehlen in der Regel klare Vorstellungen ___________ 445
Auf diesen Umstand hat das BVerfG (NStZ-RR 2005, 280, 281) konkret für § 57 Abs. 1 S. 2 StGB mit Blick darauf hingewiesen, dass diese Norm unter anderem die Berücksichtigung des Verhaltens im Vollzug und der Lebensverhältnisse des Verurteilten verlangt. Sie wünscht also die Einbeziehung von Verhaltensweisen, die nach allgemeinem Verständnis auf rechtsfeindliche Einstellung schließen lassen, ohne dass notwendigerweise bereits die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten sein müsste. 446 Siehe dazu z. B. Bock 2000, S. 18; Meier 2003, S. 6 f. 447 So Meier 2003, S. 7. 448 Man könnte sie als Äintrinsische³ Rechtsvorstellungen in Abgrenzung zu von außen kommenden Äextrinsischen³ bezeichnen.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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über das, was erlaubt ist und was nicht449. Gleichzeitig geht es hier ganz wesentlich um das Aushandeln von Rechten und Pflichten, so dass der Bezug zur Rechtsordnung zumeist mitgedacht wird. Angesichts der vielfachen und sorgfältig überwachten Belehrungspflichten nach der StPO wird eine Aussagefreiheit ausdrücklich in dem Bewusstsein wahrgenommen, vorher von der Gemeinschaftsordnung gebilligt worden zu sein. Sie folgt auf eine ausdrückliche Ermunterung durch die Organe der Rechtspflege, die zuvor auf das Recht hingewiesen haben, sich nicht selbst belasten zu müssen. Dies aber muss dem Betroffenen als ausdrückliche Zustimmung erscheinen, der er auch die Gemeinschaftskonformität seines Verhaltens entnehmen wird. Insoweit kann ihm die Freistellung von einer Selbstbezichtigung nur als Ägutes³ Recht erscheinen.450 5. Prognostische Wertigkeit legitimer Selbstbegünstigung Zu diesem Ergebnis gelangt auch, wer noch einmal den Faden aufgreift, der mit der Unschuldsvermutung schon einmal in die Hand genommen wurde: Die Suche nach dem rechtsdogmatischen Ableitungszusammenhang des nemotenetur-Prinzips führt zu jenen tatsächlichen Folgen einer Selbstbezichtigung, die mit dem Recht unvereinbar sind und trifft damit unweigerlich (auch) Aussagen über die prognostische Wertigkeit von Schweigen und Ableugnen. Ein Blick aus dieser Perspektive auf die Herleitungsversuche des nemo-teneturPrinzips offenbart also jene empirischen Eigenheiten erzwungener Selbstbezichtigung, die eine Unvereinbarkeit mit dem geltenden Recht und damit die Unannehmbarkeit für den Einzelnen bewirken. Allerdings ist hier zunächst die Schwierigkeit zu meistern, dass das Angebot der diskutierten Folgewirkungen eines Selbstbelastungszwangs ebenso vielfältig ___________ 449
Deshalb braucht der Beschuldigte beispielsweise einen Verteidiger, wenn er zur Wahrnehmung seiner Interessen nicht mehr in der Lage ist, vgl. § 140 StPO. 450 Für dieses Ergebnis spricht auch, dass der Beschuldigte seine Rechte und Pflichten auch aus den Konsequenzen seines Verhaltens ableitet, die Selbstbelastungsfreiheit ihn aber gerade vor Nachteilen bewahren soll. Im Übrigen ist die prognostische Unbedenklichkeit der Wahrnehmung eines Äguten Rechts³ auch für jene Fälle von Belang, in denen die ÄHartnäckigkeit³ eines Leugnens bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden soll (Siehe dazu zum Beispiel BGHSt 1, 103, 104 f.; BGHSt 1, 342, 342 f.; BGH, NStZ 1983, 453; BGH, NStZ 1987, 171; vgl. dazu auch Enßlin 2003, S. 260). Eine solche Berücksichtigung scheint jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn ein Lügerecht anzuerkennen ist (was hier ausdrücklich dahinstehen soll), denn nicht richtig kann es sein, ein solches Recht auf Zeit bzw. mit der Maßgabe einräumen zu wollen, dass ein wenig, jedoch nicht zu stetig gelogen werden dürfe.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
ist wie das der dazugehörigen rechtsdogmatischen Aufhänger.451 So wird auf Ebene der Verfahrensgrundsätze ± neben der bereits angesprochenen Unschuldsvermutung ± eine Herleitung des Nemo-tenetur-Grundsatzes aus den Ansprüchen auf ein faires Verfahren452 bzw. rechtliches Gehör453, aus dem Wesen des Anklageprozesses454 oder der freien Beweiswürdigung455 diskutiert. Auch veranlassen Verfassungswerte wie das Rechtsstaatsprinzip456 oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG457 Überlegungen zu Ursprung und Reichweite des nemo-tenetur-Prinzips, wobei die Vorschläge bis hin zur Menschenwürde als oberstem Wert unserer Rechtsordnung gehen. Lorenz spricht von einem Äbunten Strauß³ verschiedenster (verfassungs-) rechtlicher Ableitungen, zu dem auch das BVerfG mit einem ÄFüllhorn an Verfassungsgrundsätzen³ beigetragen habe458, das es bei Erwähnung des nemotenetur-Grundsatzes ohne erkennbare Gewichtung auszuschütten pflege459. Entsprechend wird in den Versuchen einer (verfassungs)rechtlichen Herleitung des nemo-tenetur-Prinzips nicht nur ein Gewinn, sondern im Gegenteil auch ein Beitrag zur Äenormen Zerdehnung³460 des Geltungsbereichs gesehen461. Insbesondere die Versuche einer verfassungsrechtlichen Verortung hätten den Trend ___________ 451
Verrel (NStZ 1997, 361, 365) spricht auf sie bezogen sogar von einem verwirrenden Überangebot. 452 BGHSt 14, 358, 364 f.; 20, 281, 284; 25, 325, 330; 38, 214, 220; Stürner, NJW 1981, 1757, 1763. Siehe auch Günther, GA 1978, 193, 198 m. w. N.; BVerfG, NStZ 1995, 555, 555; BGHSt 36, 44, 48; 38, 214, 220 f.; 38, 263, 266; Böse, GA 2002, 98, 127. Zum Recht auf ein faires Verfahren vgl. BVerfGE 38, 105, 111; 39, 156, 163; 40, 95, 99; BVerfG, JZ 1978, 20, 21. 453 Siehe dazu Böse, GA 2002, 98, 118 ff. m. w. N. 454 Vgl. Verrel, NStZ 1997, 361, 365. 455 Seebode, MDR 1970, 185, 185 f. 456 Dazu Hartmut Schneider 1991, S. 40 f.; ferner BVerfGE 56, 37, 43; BVerfG, StV 1999, 71, 71; BGHSt 36, 44, 48. 457 Rogall 1977, S. 129 ff.; BVerfG, NStZ 1993, 482, 482; StV 1999, 71, 71; BGHSt 36, 328, 332; 38, 214, 220; Beulke 2005, S. 73; Günther, GA 1978, 193, 198. 458 Lorenz, StV 1996, 172, 173 (Fn. 3); siehe auch ders., JZ 1992, 1000, 1005. 459 So Verrel, NStZ 1997, 361, 364. Er verweist hier auf eine Entscheidung des BVerfG (NStZ 1995, 555), in der das nemo-tenetur-Prinzip auf Handlungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht, Menschenwürde, Rechtsstaatsprinzip, rechtsstaatliche Gesinnung und das Grundrecht auf ein faires Verfahren zurückgeführt und schließlich als anerkannter Grundsatz des Strafverfahrens bezeichnet wird. 460 So Lesch, in: KMR, § 136, Rn. 13. 461 Siehe dazu auch Verrel NStZ 1997, 361 ff, 415 ff.
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281
gefördert, anstehende Streitfragen unangemessen im Lichte eines ÄGrundrechts auf Schweigen³ zu lösen.462 Der vorliegende Problemzusammenhang allerdings profitiert von der Diskussion um die Herleitung des nemo-tenetur-Prinzips. Keiner der Vorschläge kommt nämlich umhin, sich mit den sozialen und psychologischen Folgen einer Selbstbezichtigung auseinander zu setzen, die den Gesetzgeber immerhin zur Gewährung einer uneingeschränkten Schweigebefugnis für den Delinquenten veranlasst haben463. Je intensiver dabei das nemo-tenetur-Prinzip von der Rechtsdogmatik durchleuchtet wird, desto deutlicher zeichnet sich vor dem rechtlichen Hintergrund der empirische Gehalt dieses Grundsatzes ab und mit ihm die Erkenntnis, dass der nemo-tenetur-Grundsatz die prognostische Arbeit nicht tangiert. Es offenbart sich nämlich der für das Leugnungsproblem entscheidende Umstand, dass die Selbstbelastungsfreiheit stets auf ein individualpsychologisches Dilemma außerhalb des Bereichs prognostischer Aussagekraft zurückgeführt wird. Am augenfälligsten zeigt sich dies bei der Herleitung des nemo-teneturPrinzips aus einem Recht auf Selbsterhaltung und Verteidigung. Zum Teil wird davon gesprochen, dass ein ± an das Notwehrrecht angelehntes ± ÄProzessgrundrecht³ auf Abwehr hoheitlicher Rechtsgutsangriffe das Änaturrechtliche Fundament³ der Selbstbelastungsfreiheit sei464; auch ist von einem Änaturalistischen Ansatz³ zur Begründung eines Rechts auf Selbsterhaltung die Rede, das über den rechtlichen Schutz der von Strafe bedrohten Rechtsgüter hinausgehe465. In diesem Sinne soll das Schweigerecht vor der Pein bewahren, die mit einer staatlich erzwungenen Selbstüberführung durch eigene Worte verbunden ist.466 Der Zwang zur Mitarbeit an der eigenen Überführung verletze die psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Selbsterhaltungstriebes, der als natürlicher menschlicher Wesenszug bei Ausgestaltung und Anwendung von Rechtsnormen zu berücksichtigen sei467. Eine Selbstbezichtigung verlange vom Einzelnen ÄÜbermenschliches³468, indem er wider seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb das eigene Schicksal dem ___________ 462
Stürner, NJW 1981, 1757 ff. Vgl. dazu Günther, GA 1978, 193, 198. 464 So Böse, GA 2002, 98, 118; vgl. auch Rüping, JR 1974, 135, 136. 465 Böse, GA 2002, 98, 104. 466 So Verrel, NStZ 1997, 415, 416; vgl. auch Günther, GA 1978, 193, 194. 467 Günther, GA 1978, 193, 194; Rogall 1977, S. 146; Schmidt, NJW 1969, 1137, 1139. 468 Schmidt, NJW 1969, 1137, 1139. 463
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
staatlichen Bestreben um Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung unterordnen müsse. Vor diesem notstandsähnlichen Zwiespalt habe der Gesetzgeber den Tatverdächtigen mit seiner Entscheidung für das Schweigerecht bewahren wollen. Dieses Recht solle somit einer besonderen psychischen Zwangssituation des Tatverdächtigen Rechnung tragen und könne mit Blick auf seinen empirischen Gehalt aus dem Gedanken der Unzumutbarkeit abgeleitet werden469. Der Prognostiker kann daraus entnehmen, dass das nemo-tenetur-Prinzip auf eine Situation Bezug nimmt, in der das Verhalten des Beschuldigten weder zu prognostisch günstigen noch zu ungünstigen Schlussfolgerungen Anlass gibt. Als Zwang nämlich ist eine Freiheitsbeschränkung anzusehen, der man sich nicht entziehen kann.470 Damit aber erscheint es ausgeschlossen, aus der Reaktion auf einen Zwang irgendetwas spezifisch Individuelles über den Betroffenen ± wie beispielsweise seine Bereitschaft zu künftiger Legalbewährung ± abzuleiten. Auch in dem Wunsch, etwas Unzumutbares zu vermeiden, sind die Menschen gleich; soweit eine Selbstbezichtigung also unzumutbar ist, kann ihr Unterbleiben zu keinen prognostischen Schlussfolgerungen Anlass geben. Für die Prognose aber kommt es nicht einmal darauf an, dass eine Selbstbezichtigung etwas ÄÜbermenschliches³ oder ÄUnzumutbares³ verlangt, sondern dass sie eine Situation schafft, die eine Aussage über die künftige Legalbewährung ermöglicht oder ausschließt. Es erscheint jedoch widersinnig, Menschen etwas Unerwünschtem (nicht einmal unbedingt Unzumutbarem) ausgesetzt zu sehen und dabei gleichzeitig aus ihrem normalen Vermeidungsverhalten etwas spezifisch Individuelles folgern zu wollen. Insoweit endet der Bereich prognostischer Aussagekraft nicht erst an der Grenze zum Unzumutbaren, sondern bereits vor erwartungsgemäßen Widerständen gegen eine Selbstbezichtigung. Jene allerdings, denen die Änaturrechtliche³ Herleitung für eine Anerkennung des nemo-tenetur-Prinzips nicht genügt471, lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, dass dieser Grundsatz Äverständlichen³ Geheimhaltungsinteressen Rechnung trägt.472 Es ist davon die Rede, dass faktisch ein Äkreatürliches Interesse³ des Beschuldigten an einer Verschonung vor Selbstbezichtigung als Ausfluss eines natürlichen Selbsterhaltungsinteresses vorhanden sei.473 Vor allem aber wird bei ___________ 469
Günther, GA 1978, 193, 194. Duden 1999, S. 4703; vgl. auch Tröndle/Fischer, § 240 Rn. 4 ff.; Wessels/Hettinger 2005, S. 111. 471 Siehe die entsprechende Kritik: Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Pawlik, GA 1998, 378, 379 f.; Hartmut Schneider 1991, S. 48 f.; Köhler, ZStW 107 (1995),10, 33. 472 So die Formulierung von Günther, GA 1978, 193, 198. 473 Puppe, GA 1978, 289, 303 f.; Günther GA 1978, 194; siehe auch BGHSt 11, 213, 216 f. (zu § 55 StPO). 470
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allen Gegensätzen in der Diskussion um die Ableitungszusammenhänge der Selbstbelastungsfreiheit auch hier stets ein empirischer Gehalt legitimer Selbstbegünstigung unterstellt, der prognostisch unbedenklich ist: So wird von nicht wenigen der maßgebliche Gesichtspunkt darin gesehen, dass eine Aussagepflicht den Beschuldigten zum bloßen Objekt obrigkeitlichen Handelns474, zum Mittel staatlicher Wahrheitsfindung475 erniedrige, was mit der Menschenwürde unvereinbar sei476. Andere sprechen mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG477 davon, dass nur ein umfassendes Recht auf Schweigen im Strafprozess dem Beschuldigten einen letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit erhalten würde, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen sei.478 Zudem erlaube das ÄRecht auf informationelle Selbstbestimmung³ 479 jedem Einzelnen,
___________ 474
BVerfGE 38, 105, 114 f.; 55, 144, 150; 56. 37, 49; BVerfG, NStZ 1995, 555, 555; StV 1999, 71, 71; BGHSt 14, 358, 364; 36, 44, 48; 38, 214, 220; Kühl, JuS 1986, 115, 117; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 421; Nothhelfer 1989, S. 76 f.; Rüping, JR 1974, 135, 136 f.; Stürner, NJW 1981, 1757, 1757 f.; Wolter, ZStW 107 (1995), 793, 814. 475 BVerfG, NStZ 1995, 55, 55; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Grünwald, StV 1987, 453, 453; Rieß, JA 1980, 293, 293; krit. zur Aussagekraft der Objektsformel Günther, GA 1978, 193, 196 f.; ähnlich Wolfslast, NStZ 1987, 103, 103; Verrel, NStZ 1997, 415, 417. 476 BVerfGE 9, 89, 95; 27, 1, 6; 38, 105, 114; 39, 156, 168; BVerfG, NJW 1977, 1525, 1526; Dürig, AöR 1981, 117, 128; Günther, GA 1978, 193, 195. In dieser allgemeinen Form allerdings wird der Zusammenhang von Menschwürde und nemo-teneturPrinzip kritisiert (Vgl. Verrel, NStZ 1997, 415, 417). Tatsächlich bedarf es, um den Verhältnissen des Strafverfahrens gerecht zu werden, einer weitergehenden Begründung dafür, warum eine Aussagepflicht zum Mittel der Wahrheitsfindung Äherabwürdigt³. Im Strafprozess gilt nämlich nur eingeschränkt, dass der Beschuldigte nicht Beweismittel gegen sich selbst zu sein braucht, wie allein der Blick auf die vielfältigen strafprozessualen Zwangsmaßnahmen zeigt. So sind nach den §§ 81 ff. StPO gegen den Willen des Beschuldigten schwerwiegende Eingriffe in dessen elementare Rechte möglich, ohne dass dies bisher mit einer Verletzung der Menschenwürde in Verbindung gebracht wurde. Siehe auch BVerfG, NJW 1977, 1525, 1526 (m. w. N.); Günther, GA 1978, 193, 195 f.; Roxin 1998, § 18 Rn. 1, § 25 Rn. 1 und 2; Dingeldey, JA 1984, 407, 412. 477 Siehe zum nemo-tenetur-Grundsatz als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Rogall 1977, S. 129 ff.; BVerfG, NStZ 1993, 482, 482; StV 1999, 71, 71; BGHSt 36, 328, 332; 38, 214, 220; Beulke 2005, S. 73; Günther, GA 1978, 193, 198; Stürner, NJW 1981, 1757, 1757 f. 478 Vgl. Dingeldey JA 1984, 407, 409 m. w. N. 479 Dazu BVerfGE 65, 1, 43.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
grundsätzlich selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.480 Kronkreter benennt Böse481 das ÄRecht auf Selbstdarstellung gegenüber der Außenwelt³, das möglicherweise von einer Aussagefreiheit geschützt werden müsse. Betroffen sei insoweit das Bild, das andere vom (vermeintlichen) Täter hätten, es gehe also (auch) um die soziale Identität, den sozialen Geltungsanspruch bzw. die Ehre als Grundlage sozialer Kontaktmöglichkeiten482. Werde der Einzelne gezwungen, gegenüber anderen über ehrenrührige Tatsachen Auskunft zu geben, sei er insoweit in seiner Selbstdarstellung nach außen nicht mehr frei.483 Manche wiederum sehen die unannehmbare Belastung durch eine Aussagepflicht darin, dass die Aussage im Prozess Verwendung findet und leiten aus diesem ÄVerwendungszusammenhang³ eine unrechtmäßige Funktionalisierung des Einzelnen ab.484 In diese Richtung geht auch die Auffassung, dass der Beschuldigte nicht als Auskunftsperson gegen sich selbst herangezogen werden dürfe485, während andere auf die von Strafe bedrohten Güter des Beschuldigten (wie Leben oder Eigentum) hinweisen. Die Versuche einer Begründung des nemo-tenetur-Prinzips gehen schließlich bis auf den Staatsvertrag zurück, der eine Verpflichtung zur Vernichtung der eigenen Existenz durch selbstbelastende Aussagen nicht verlangen könne.486 ___________ 480 Zum Zusammenhang mit dem nemo-tenetur-Grundsatz siehe Keller 1989, S. 132; Nothhelfer 1989, S. 82 f.; Renzikowski, JZ 1997, 710, 714; Böse, GA 2002, 98, 101. Zu den Grenzen einer Rechtfertigung der Selbstbelastungsfreiheit durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 65, 1, 44; Hartmut Schneider 1991, S. 47; Böse, GA 2002, 98, 101 f. 481 GA 2002, 98, 99 f. 482 Vgl. Böse, GA 2002, 98, 99 f. m. w. N. 483 Böse, GA 2002, 98, 99 f. Zum Nemo-tenetur-Grundsatz als ein ÄRecht auf freie Selbstdarstellung³ siehe auch Bosch 1998, S. 62 f.; vgl. zum Ehrschutz: Lagodny, StV 1996, 167, 171 (in Fußn. 54). Allerdings sind auch hier legitime Eingriffe denkbar, denn durch die hoheitliche Aufklärung der Straftat werden Selbstdarstellungsmöglichkeiten bzw. Ehre ebenso beeinträchtigt, wie durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen. Weder solche Zwangsmittel noch die Tataufklärung aber sind schlechthin verfassungswidrig und können zudem ähnliche Belastungswirkungen haben wie eine Selbstbezichtigung. 484 Keller 1989, S. 132; Rogall, StV 1996, 63, 64. Dagegen Böse, GA 2002, 98, 101 f. m. w. N. 485 Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006. Auch dieser Vorschlag zur Rechtfertigung der Selbstbezichtigungsfreiheit wird allerdings kritisiert, vgl. Köhler, ZStW 107 (1995), 10, 21; Böse, GA 2002, 98, 103. 486 Dazu Böse, GA 2002, 98, 105 m. w. N.
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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Bei allen Unterschieden bestätigt sich damit die nahe liegende Vermutung, dass die Selbstbelastungsfreiheit keine Verhaltensweisen legitimeren soll, die unredlich, sozialschädlich oder in anderer Weise gegenüber der Rechtsordnung feindlich bzw. gleichgültig eingestellt sind. Als Subjekt im Strafverfahren wahrgenommen werden zu wollen487, erscheint genauso wenig als Gefährlichkeitsindiz, wie die ± ausdrücklich gebilligte ± Abschirmung von sozialer Identität, Geltungsanspruch bzw. Ehre488 oder eines letzten unantastbaren Bereichs menschlicher Freiheit489 gegenüber den Begehrlichkeiten Außenstehender. Auch dass der Delinquent über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten oder ganz allgemein über seine Selbstdarstellung gegenüber der Außenwelt bestimmen möchte, ist prognostisch ebenso unbedenklich, wie das Bedürfnis, nicht zur Vernichtung der eigenen Existenz durch selbstbelastende Aussagen beitragen zu wollen490. Gleichzeitig werden in der Diskussion um das nemo-tenetur-Prinzip Gründe dafür vorgetragen, dass eine verbale Selbstbelastung im Vergleich zu einer nonverbalen als besonders gravierend empfunden wird. Nach Verrel beispielsweise weist die Aussage zu einer vorgeworfenen Tat einen besonders intensiven Persönlichkeitsbezug auf, wurzele sozusagen im Innersten des Beschuldigten und sei ÄKennzeichen seiner intellektuellen Individualität³. Wer auf andere Weise, etwa durch bloße körperliche Aktivität (wie beispielsweise bei einer Atemalkoholprobe) an einer gegen sich selbst gerichteten Tataufklärung beteiligt sei, erleide nicht vergleichsweise jene Schmach, die mit der verbalen Selbstüberführung verbunden sei.491 Ein Beschuldigter empfinde sie nicht allein wegen ihrer strafrechtlichen Konsequenzen als schwerwiegend, sondern im Regelfall das Schuldeingeständnis an sich als demütigend. Es liege ein besonderes Belastungsmoment darin, ein Fehlverhalten gerade Ämit eigenen Worten³ einräumen, sich durch die Darlegung seiner Tat gleichsam selbst als Straftäter kennzeichnen zu müssen.492 Nicht ohne Grund werde von Selbstanklage oder Selbstbezichtigung gespro___________ 487
Vgl. dazu die Diskussion um Selbstbelastungsfreiheit und Menschenwürde, etwa BVerfGE 38, 105, 114 f.; 55, 144, 150; 56. 37, 49; BVerfG, NStZ 1995, 555, 555; DVBI 1997, 604, 606 f.; StV 1999, 71, 71; BGHSt 14, 358, 364; 36, 44, 48; 38, 214, 220; Kühl, JuS 1986, 115, 117; Niemöller/Schuppert, AöR 1982, 387, 421; Rüping, JR 1974, 135, 137; Stürner, NJW 1981, 1757, 1757 f.; Wolter, ZStW 107 (1995), 793, 814; Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Rieß, JA 1980, 293, 293. 488 Siehe dazu BVerfGE 54, 208, 217; NStZ 1996, 26, 27; BVerfGE 99, 185, 193 f. 489 Vgl. Dingeldey, JA 1984, 407, 409 m. w. N. 490 Dazu Böse, GA 2002, 98, 105 m. w. N. 491 Verrel, NStZ 1997, 415, 418. 492 Puppe, GA 1978, 289, 304 f.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
chen, denn das Geständnis aus dem Mund des Beschuldigten sei mehr als die bloße Schilderung belastender Tatsachen493. Für wie gravierend jedenfalls der Gesetzgeber die psychischen Belastungen durch eine Aussagepflicht hält, wie viel Verständnis er also insoweit für den Tatverdächtigen aufbringt, verdeutlicht der Umstand, dass er sich für eine uneingeschränkte Gewährung der Schweigebefugnis entschieden hat494. Darin liegt auch eine deutliche Privilegierung gegenüber jenen Situationen, in denen der Betroffene belastende Zwangsmaßnahmen495 über sich ergehen lassen muss, die ebenfalls dem Selbstschutzbedürfnis eines Täters widerstreiten. Aus den Ableitungsgründen des nemo-tenetur-Prinzips wird zudem deutlich, dass nicht nur die Mitarbeit an der eigenen Überführung unerträglich und unzumutbar sein kann, sondern auch das Verlangen, sich in Widerspruch zu einem früheren Verhalten zu setzen. Die Diskussion eines ÄRechtes auf freie Selbstdarstellung³ offenbart dies durch die Benennung von Eigenarten der Selbstbezichtigung, die auch nach der Verurteilung von Bedeutung sind: Hat sich der Beschuldigte selbst einer Straftat bezichtigt, so kann er sich davon schwerer distanzieren als von den Äußerungen anderer. Er kann sich von der Selbstbezichtigung nicht lösen, ohne dass seine Selbstdarstellung inkonsistent wird und darüber sein Bild in der Öffentlichkeit bestimmt.496 Insofern kann eine verweigerte Selbstbezichtigung auch nach einer Verurteilung die Äletzte Möglichkeit konsistenter (Selbst-)Darstellung³ sein.497 Aus der Vereitelung dieser Möglichkeit wird die besondere Belastung gefolgert, die eine Aussagepflicht über eigenes Verhalten kennzeichne.498 Der nemo-tenetur-Grundsatz enthält also ± auf welchem Weg auch immer seine Rechtfertigung gelingt ± eine Aussage der Rechtsgemeinschaft über jene tatsächliche Situation des Betroffenen499, die hier für die Abgrenzung von Rechts- und Erfahrungswissenschaft maßgeblich ist. Das individualpsychologi___________ 493
Verrel, NStZ 1997, 415, 419. Vgl. dazu Günther, GA 1978, 193, 201. 495 Zum Beispiel nach den §§ 81 ff. StPO. 496 Böse, GA 2002, 98, 100 m. w. N. 497 Müssig, GA 1999, 119, 126. 498 Böse, GA 2002, 98, 100. 499 Auf eine vergleichbare Situation stellt im Übrigen auch § 55 StPO ab, der dem Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht einräumt. Er will dem Zeugen eine seelische Zwangslage ersparen (BGHSt 9, 34, 36; 17, 245, 246 f.), die bei Verpflichtung zu einer Aussage entstünde, die ihn selbst oder einen Angehörigen belasten würde (BVerfG, NJW 1975, 103, 103; BVerfG, NStZ 1985, 277, 277; BGH 11, 213, 216 f.). 494
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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sche Dilemma, an das die Selbstbelastungsfreiheit anknüpft, macht die Menschen gleich, verschleiert also eher die Unterscheidung von ÄGefährlichen³ und ÄUngefährlichen³, als dass sie zu ihr beiträgt. Was für die Prognostik als Gefährlichkeitsindiz erscheinen kann, fällt somit von vornherein nicht in den Geltungsbereich einer Selbstbelastungsfreiheit, denn diese Befugnisse gehen von einer Bedrängnis aus, die typischerweise prognostisch neutrales bzw. unzuverlässiges Folgeverhalten nach sich zieht. Umgekehrt gesprochen kann keinen Anlass für prognostische Bedenken geben, was von Selbstbelastungsfreiheit bzw. Schweige- oder Lügerecht gedeckt ist. Wo genau die Grenze zwischen sanktionslosem und belastendem Verteidigungsverhalten liegt, braucht daher weder den Prognostiker, noch das Leugnungsproblem zu kümmern, denn prognostisch relevante, weil eine Gefährlichkeit indizierende Verhaltensweisen fallen von vornherein nicht unter ein Schweige- bzw. Lügerecht. Die Reichweite von Schweige- oder Lügerecht kann hier also dahinstehen, weil kein Konflikt von Rechtsdogmatik und Erfahrungswissenschaft zu erwarten ist. Über das Aussageverhalten in seinem Anwendungsbereich enthält der nemo-tenetur-Grundsatz selbst eine prognostische Aussage, was die Rechtswissenschaft gleichzeitig zur Erfahrungswissenschaft macht. Deshalb kann das Leugnungsproblem eigentlich auch über die Streitfrage hinweggehen, ob neben einem Schweigerecht zusätzlich ein Lügerecht des Beschuldigten anzuerkennen ist.500 Ein Blick darauf lohnt dennoch, weil sich das Verhältnis von Rechts- und Erfahrungswissenschaft auch hier bestätigt. Während die herrschende Meinung den Beschuldigten in einem Niemandsland jenseits von Wahrheitspflicht einerseits und Lügerecht andererseits sieht501, will Fezer502 den Delinquenten auch mit einem Recht auf Tatverleugnung ausstatten. Er meint aber, ein solches Recht könne nicht ± wie dies häufig geschehe ± auf den Schutz vor Selbstbelastung zurückgeführt werden, denn dieser erschöpfe sich im Schweigerecht, weshalb das Lügerecht einer selbständigen Rechtfertigung bedürfe.503
___________ 500
Praktische Bedeutung hat diese Frage, weil eine Lüge zwar die prozessualen Rechte des Beschuldigten unberührt lässt, jedoch davon von diesen Rechten unabhängige nachteilige Konsequenzen denkbar sind, etwa eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung oder Einschränkungen der Verteidigung, vgl. Fezer 1993, S. 664. 501 Rieß, JA 1980, 293, 296; Wessels, JuS 1966, 169, 173; Keller, JR 1986, 30, 30 m. w. N.; siehe auch BGH 3, 149, 152. 502 1993. 503 Fezer 1993, S. 671, 676; siehe auch 676 ff.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Dafür nimmt Fezer auf das Strafgesetzbuch Bezug und behauptet, ein Lügerecht bestehe, soweit die Lüge materiell-rechtlich nicht verboten sei. Auch wenn diese Auffassung für die rechtliche Anerkennung eines Lügerechts noch genauer zu hinterfragen wäre504, gibt sie durch den Fingerzeig auf das materielle Strafrecht dennoch einen wertvollen Hinweis für das Leugnungsproblem. Im materiellen Recht hat es nämlich ebenfalls einen prognoserelevanten, individualpsychologischen Grund, dem Beschuldigten Freiräume für Selbstbegünstigungen außerhalb einer Strafbewehrung zu gewähren. Als Adressat einer Strafandrohung wegen Strafvereitelung ist der Beschuldigte ausdrücklich ausgenommen, der Gesetzgeber sieht die Zwangslage des Tatverdächtigen also auch in diesem Zusammenhang als so gravierend an, dass er lieber darauf verzichtet, die Strafverfolgungsorgane gegen selbstschützendes Verhalten des Beschuldigten abzuschirmen. Eine Grenze findet die Rücksichtnahme erst dort, wo Interessen bzw. Rechtsgüter unbeteiligter Dritter gefährdet bzw. beeinträchtigt werden505, was auch ein Prognostiker für alles andere als unbedenklich ansehen würde. Aus seiner Sicht ist es mit Blick auf die künftige Gefährlichkeit ebenfalls ein entscheidender Unterschied, ob ein Selbsterhaltungs- bzw. Selbstbegünstigungsin___________ 504
So genügt beispielsweise der Hinweis auf eine Einheit von materiellem und prozessualem Strafrecht für die Begründung eines Lügerechts nicht. Rechte sind in ihren Wirkungen nämlich nicht alle gleich, sondern unterscheiden sich darin zum Teil erheblich. Im Strafrecht geht es um die Konsequenz Strafe, im Prozessrecht um ganze andere Folgen, wie zum Beispiel eine nachteilige Berücksichtigung des Leugnens als Gefährlichkeitsindikator bei der Strafzumessung, weshalb nicht zwingend aus Straffreiheit prozessuale Befugnis gefolgert werden kann. In dem einen Fall geht es um die Freiheit, etwas zu tun, ohne bestraft zu werden, in dem anderen Fall darum, handeln zu können, ohne prozessual Nachteiliges erfahren zu müssen. Gerade die Prognostik illustriert diesen Unterschied in den Folgewirkungen, indem sie Erlaubtes zur Grundlage für Bewertungen macht, die sich für den Betroffenen negativ auswirken. Dass im Rahmen des Strafprozesses nicht erlaubt sein kann, was materiell-rechtlich verboten ist, ermöglicht nicht den Umkehrschluss, dass strafprozessuale Befugnisse aus dem abgeleitet werden können, was materiell-rechtlich erlaubt ist. Zum allermeisten, was prozessual geregelt werden muss, schweigt das Strafgesetzbuch; die Lüge zwar wird von Straftatbeständen erfasst, diese beziehen sich aber auf die Reaktion Strafe, die nur eine Form der nachteiligen Konsequenz neben vielen (auch prozessualen) ist. 505 Vgl. zum Beispiel § 211 StGB (zur Verfassungsmäßigkeit der Verdeckungsabsicht i. S. d. Vorschrift BVerfG, NJW 1977, 1525, 1533). Auch § 142 StGB schränkt den Grundsatz ein, dass niemand zu seiner eigenen Überführung in einem Strafverfahren beizutragen braucht (vgl. dazu BT-Drucks. VII/2434, S. 6 f.). Hier geht es ebenfalls um ein prognostisch nicht von vornherein unbedenkliches Verhalten, dessen Sozialschädlichkeit sich damit beschreiben lässt, dass die zivilrechtliche Regulierung eines bereits endgültig eingetretenen Schadens durch Entfernung vom Unfallort erschwert wird (Günther, GA 1978, 193, 203).
G. Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit
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teresse verbal bzw. durch bloßes Schweigen oder durch aktives Handeln bis hin zur Tötung eines anderen durchgesetzt wird. Auch im materiellen Recht ist die Sonderbehandlung des Beschuldigten also Tribut an eine psychologische Zwangslage, innerhalb derer ein Verhalten nicht als Marker für gesteigerte Gefährlichkeit eignet. Dabei muss der empirische Gehalt des nemo-tenetur-Prinzips davon unbeeinflusst bleiben, dass eine Lüge im Alltagsleben grundsätzlich als etwas Negatives bzw. Unerwünschtes gilt. Vielmehr nimmt die Diskussion um die Herleitung des nemo-tenetur-Prinzips ja gerade darauf Bezug, dass die äußere Haltung im Strafverfahren unter dem Druck einer massiven Bedrohung durch Strafe bzw. der Aufrechterhaltung eines konsistenten Selbstbildes steht. Zudem geht es um ein Eingeständnis gegenüber den Instanzen formeller Sozialkontrolle, betrifft also Adressaten, die nicht zur alltäglichen Lebenswelt gehören und sich davon (zum Beispiel mit Blick auf gewachsene Vertrauensverhältnisse) erheblich unterscheiden können. Kommunikation findet insgesamt nicht in einem Raum alltäglicher Lebensgestaltung statt, in dem es für den Betroffenen eine Sicherheit der rechtlichen, moralischen oder sittlichen Vorstellungen gibt. Es kann also ± im Gegensatz zu vielen anderen prognoserelevanten Bereichen ± kein Bewusstsein dafür unterstellt werden, welche Haltung gegenüber dem Tatvorwurf im Strafprozess rechtmäßig oder Äanständig³ ist. Dies gilt auch dann, wenn nach der Verurteilung auf eine Auseinandersetzung mit der Tat und damit auf ein Eingeständnis hingewirkt wird. Bis dahin nämlich hat der Verurteilte mit ausdrücklicher Äoffizieller³ Billigung ein bestimmtes Bild von sich und der Tat aufgebaut und ist nach wie vor frei darin, sich selbst zu bezichtigen oder nicht. Insoweit sind auch Unterschiede in der Befähigung und Bereitschaft zur Normakzeptanz bedeutungslos, die bei oberflächlicher Betrachtung Differenzierungen im ÄSchutzbereich³ des nemo-tenetur-Prinzips versprechen mögen. Zwar spricht vieles dafür, dass der Selbsterhaltungstrieb die tatsächliche Fähigkeit zur Einhaltung von Regeln in unterschiedlichem, ganz individuellem Maße aufhebt. Aber ebenso wie diese Intensität der ÄTriebwirkung³ ist auch deren situativer Kontext bei Einschätzung der Befähigung zur Normbefolgung zu beachten. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob jemand zur Abwehr einer konkreten Bedrohung mit Strafübel oder unerwünschten Ehrenwirkungen wegen einer begangenen Tat Geboten zuwiderhandelt oder ob er Normerwartungen unabhängig von einer solchen Abwehrfunktion enttäuscht.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
Dies hat das Leugnungsproblem trotz des Umstands zur Kenntnis zu nehmen, dass kein individualpsychologischer Automatismus eine Selbstbezichtigung von vornherein ausschließt506. Im vorliegenden Zusammenhang nämlich geht es um das Verhältnis von Selbstbelastungsfreiheit und Täterbeurteilung und damit nicht um rechtliche Anerkennung, sondern um prognostische Relevanz. Insoweit ist das tatsächliche Vorhandensein eines natürlichen Selbsterhaltungsinteresses von seinen Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung zu unterscheiden. Hier kann deshalb auch dahinstehen, ob der Selbsterhaltungstrieb unter normativen Gesichtspunkten erst dann beachtlich ist, wenn er die tatsächliche Fähigkeit des Menschen zur Befolgung von Normen völlig aufhebt507. Als empirische Tatsache und wirksamer Einflussfaktor auf das Aussageverhalten ist er nämlich auch von jenen anerkannt, die das nemo-tenetur-Prinzip nicht auf ihn gründen wollen. Allerdings ist der Unterschied zwischen Selbsterhaltung und Selbstbegünstigung auch für das Leugnungsproblem insofern von Bedeutung, als ein natürliches Selbsterhaltungsinteresse für sich genommen nicht selbstverständlicher Ausweis prognostischer Unbedenklichkeit ist. Jenseits von existenziellen Bedrohungen gehen Selbsterhaltung bzw. Selbstbegünstigung fließend in das Streben nach Wohlbefinden über und eignen deshalb nicht als Beleg für rechtliche oder prognostische Unbedenklichkeit, weil sie genauso gut Motiv für Gesetzesübertretungen sein können. Funktion des Rechts ist es ja gerade, das Streben nach Wohlbefinden als Äanthropologische Konstante³ im Sinne des Naturzustandes nach Hobbes508 zu bändigen, den Einzelnen also in die Schranken des rechtlich Akzeptierten zu verweisen. Jenseits dieser Schranken ist auch ein Recht auf Selbstbegünstigung quasi als Recht des Stärkeren509 nicht nur illegitim510, sondern auch prognostisch bedenklich. Hier aber treffen sich rechtsdogmatische und erfahrungswissenschaftliche Überlegungen: Soweit eine Selbstbegünstigungsfreiheit rechtlich anerkannt wird, ist sie gerade nicht illegitim, das natürliche Streben nach Wohlbefinden also akzeptiert. In einem solchen Fall geht es nicht um Bedürfnisbefriedigung um jeden Preis, sondern um legitime Vermeidung von Nachteilen. Dass ein Streben nach Wohlbefinden hier gleichzeitig prognostisch unbedenklich ist, legt auch der Umstand nahe, dass es nicht sanktioniert wird, dem Selbsterhaltungs___________ 506 Dies ergibt sich bereits daraus, dass es anderenfalls überhaupt keine Geständnisse geben würde. 507 So Böse, GA 2002, 98, 104. 508 Böse, GA 2002, 98, 105 f. 509 Vgl. dazu auch Pawlik, GA 1998, 378, 380. 510 Siehe Hartmut Schneider 1991, S. 32 f.; Böse, GA 2002, 98, 105 f.
H. Fazit zum Problem der Tatverleugnung im Recht
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bzw. Selbstbegünstigungsinteresse also keine faktische Beeinträchtigung entgegensteht. IV. Fazit zu Tatverleugnung und Selbstbelastungsfreiheit Es ergibt sich, dass bereits gewichtige Gründe dagegen sprechen, das nemotenetur-Prinzip für den Verurteilten gelten zu lassen. Daneben spiegelt der empirische Gehalt dieses Grundsatzes Vorstellungen wider, die der Prognostiker auch heute noch mangels besseren entgegenstehenden Wissens als verbindlich ansehen muss. Ihm steht kein Sonderwissen zur Verfügung, das die Tatverleugnung im Rahmen jener Konfliktsituationen, auf die ein Schweige- oder Lügerecht Bezug nimmt, als natürlichen Abwehrmechanismus eskamotiert. Ein bestimmtes Verhalten in der geschilderten Bedrohungslage legt nicht ohne weiteres einen Schluss darauf nahe, wie normbewusst sich der Betroffene sonst verhalten wird. Das gesicherte kriminalprognostische Wissen widerlegt jedenfalls nicht die bis zum Talmud zurückverfolgbaren Gründe, welche die Rechtsgemeinschaft im Rahmen eines Schweige- oder Lügerechts zur Zurückhaltung mit Folgerungen aus einer Tatverleugnung gemahnen. Für die Beeinflussung des Leugnungsproblems durch Schweige- bzw. Lügerecht ist damit festzuhalten, dass eine Kollision von erfahrungswissenschaftlichem Resultat und nemo-tenetur-Grundsatz nicht zu erwarten ist. Von diesem Prinzip Äabgeschirmte³ Verhaltensweisen sind gleichzeitig prognostisch neutral, umgekehrt ist prognostisch Ungünstiges nicht mehr davon gedeckt. Die Analyse des Leugnungsproblems endet damit an einer Stelle, an der sich Rechts- und Erfahrungswissenschaft treffen. Die Prognostik profitiert von Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft, die ± wie sich in Anlehnung an Kaiser511 sagen ließe ± über zu Grundsätzen geronnene kollektive Erfahrung verfügt. Dabei sollte die Gewissheit, mit welcher die Rechtsgemeinschaft zum nemotenetur-Prinzip steht, dem Prognostiker zu denken geben, verfügt die Rechtstradition doch über uralte Erfahrungen mit dem Aussageverhalten eines Delinquenten, denen gegenüber vereinzelte prognostische Deutungen blass erscheinen müssen.
H. Fazit zum Problem der Tatverleugnung im Recht Bei Einbettung der rein erfahrungswissenschaftlichen Prognosebeurteilung in den rechtlichen Kontext der Entlassungsentscheidung erweist sich die Beziehung von Rechts- und Erfahrungswissenschaft weniger als Konkurrenzverhält___________ 511
1996, S. 961.
292
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
nis denn als ausgleichsfähiges Nebeneinander mit wechselseitigem Nutzen. Dabei zeigt sich die zum Teil enge Verflechtung von Rechts- und Erfahrungswissenschaft bereits daran, dass die rechtsdogmatische Analyse oft tief in erfahrungswissenschaftliche bzw. erkenntnistheoretische Überlegungen hineinführt. Wo das Leugnungsproblem die Rechtsdogmatik durchdringt, trifft sie immer wieder auf die Erfahrungswissenschaft, wie sich beispielsweise bei den Überlegungen zu Tatverleugnung und Rechtskraft zeigte. Hier stellte sich die Frage, ob der Prognostiker an vorangegangene rechtskräftige Feststellungen gebunden ist oder ob er darüber eigene Vorstellungen entwickeln kann, zumal er nicht selten Zweifel daran hat, dass früher getroffene (Urteils-)feststellungen richtig sind512. Dabei offenbarte sich zunächst eine Disponibilität forensischer Wahrheit; größtmögliche Wirklichkeitsannäherungen sind nicht bedingungsloses Ziel strafprozessualer Erkenntnis, vielmehr trifft die Wahrheitssuche auf Grenzen des Könnens und Wollens. Dies folgt bereits aus der Unmöglichkeit, Wirklichkeit objektiv zu erfassen und zu beschreiben. Weil Objektivitätsmängel damit aber unvermeidlich und Wirklichkeitsannäherung stets relativ bzw. subjektiv sind513, resultiert die zwingende Notwendigkeit, die Wahrheitssuche im Dienste der Rechtssicherheit zu begrenzen. Auch will die Wahrheit nicht um jeden Preis ermittelt werden, wie bereits die Vielzahl der strafprozessualen Beweisbeschränkungen mit Rücksicht auf private oder staatliche Interessen deutlich macht514. Allerdings offenbart der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Entlassungsprognose nach den §§ 57 StGB, 454 StPO einen Willen zur Neubewertung, indem er hier prognostische Beurteilungen mit zum Teil identischen Betrachtungsgegenständen voranstellt. Damit unterstellt er Veränderungen der prognostischen Beurteilungsgrundlage, die sowohl die Wirklichkeit selbst als auch ihre Beurteilungsmöglichkeiten betreffen können. An dieser Stelle regt die Erfahrungswissenschaft mit ihrer Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Wirklichkeitsumständen eine entscheidende Differenzierung an: Beurteilungsmöglichkeiten müssen sich mit fortschreitendem Zeitablauf nicht zwingend verschlechtern, sondern können ± wie etwa die in der Psychiatrie unbestrittene Notwendigkeit von diagnostischen Langzeitbetrachtungen zeigt515 ± damit ganz offensichtlich auch besser werden. Von vornherein vorhersehbare ___________ 512
Vgl. Rasch 1994, S. 19. Dazu Bock 2000, S. 25 ff., 48; Neisser 1974, S. 120 ff.; Haberstroh, MschrKrim 1982, 334, 336; Eisenberg, NStZ 1989, 366, 367. 514 Volckart 1993, S. 103; Spendel, NJW 1966, 1102, 1103; Kaufmann, JZ 1985, 1065, 1068; Blau, GA 1959, 293, 296. 515 Stellvertretend Tölle/Windgassen 2003, S. 41; Göppinger 1997, S. 336, 413. 513
H. Fazit zum Problem der Tatverleugnung im Recht
293
Verbesserungen der Beurteilungsmöglichkeiten jedoch aus der Hand zu geben, kann nicht im Sinne eines angemessenen Ausgleichs zwischen Rechtsfrieden und materieller Gerechtigkeit sein. Hingegen bringt das Gesetz ± zum Beispiel in den §§ 11 Abs. 2, 27 JGG oder § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG ± eine besondere Zurückhaltung zum Ausdruck, soweit es um die Bindungswirkung von Feststellungen zu persönlichkeitsabhängigen Umständen geht. Diese Zurückhaltung zeigt sich auch darin, dass nach § 454 Abs. 2 StPO erst bei einer nachgeschalteten Prognosebeurteilung die Hinzuziehung eines Sachverständigen notwendig werden kann. Gerade Persönlichkeitsbeurteilungen aber sind von einem Bezug auf dynamisch manifestierte Wirklichkeitsumstände geprägt, was insgesamt für Einschränkungen der Bindungswirkung spricht. Sie muss dort entfallen, wo bei abstrakt-genereller exante Betrachtung von vornherein feststeht, dass sich die Beurteilungsmöglichkeit mit fortschreitendem Zeitablauf verbessert. Weil dies nur auf wenige (vor allem motivationale) Komponenten des abgeurteilten Tatgeschehens zutreffen wird, illustriert dabei gerade das Leugnungsproblem, dass die vorgeschlagene Einschränkung der Bindungswirkung keine Aufweichung der Rechtssicherheit befürchten lässt. Zudem erfordert die Widerlegung vorangegangener Feststellungen einen Gegenvortrag, der sich nur bei entsprechender Substanz durch verbesserte Beurteilungsmöglichkeiten durchsetzen kann. Darüber hinaus zeigt sich aus erkenntnistheoretischer Perspektive, dass mit echten Wahrheitskonkurrenzen ohnehin kaum zu rechnen ist. Vorstellungen von der Wirklichkeit nämlich sind den Bedürfnissen eines bestimmten Erkenntnisinteresses angepasst und darin unterscheidet sich eine am materiellen Strafrecht orientierte Beschreibung des Tatunrechts erheblich von einer kriminologisch-prognostischen Analyse. Betrachtungen im Grenzbereich zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft tragen nicht nur zur Präzisierung rechtsdogmatischer Grundsätze bei, sondern beispielsweise auch zur Eingrenzung des Erkenntnisproblems bei Prognosen. So zeigt sich bei Analyse des Verhältnisses von Tatverleugnung und Zweifelssatz, dass der Bezug auf Wertungsvorgänge keine Sonderbedingung der Prognose, sondern ein generelles Charakteristikum der (Tatsachen-) Feststellung ist. Insoweit dürfen Werturteile bei Aufstellung von (Tatsachenoder Rechts-)Behauptungen nicht mit Werturteilen als Vorstellungsinhalt verwechselt werden. Die gleiche Unterscheidung zwischen Bildung und Gegenstand einer Überzeugung relativiert auch die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen als Besonderheit von Zukunftsprognosen. Strafprozessuale Annahmen über die Vergangenheit repräsentieren nämlich ebenfalls Wahrscheinlichkeitsurteile,
294
Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
keine allgemeinen Gewissheiten mit absoluter Geltung. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit aus erkenntnistheoretischer Perspektive als Gegenstück zur Konstruktion zukünftiger Wirklichkeit erscheint. Beides ist, wo der Gegenstand des Erkenntnisinteresses unmittelbarer Anschauung verborgen bleibt, auf gleiche Zugangsmittel angewiesen, indem greifbare Wirklichkeitskonstanten Schlussfolgerungen über eine nicht (mehr) existente Realität erlauben müssen. Insoweit entspricht eine ÄPrognose³ als zukunftsorientierte Wirklichkeitsannahme dem, was man bei Rekonstruktion der Vergangenheit als ÄKatagnose³ bezeichnen könnte. Vor Schwierigkeiten stellt die Prognose weniger durch ihre Zukunftsorientierung, als vielmehr durch die Entscheidungsnotwendigkeit bei Nichtwissen, die allerdings im Strafprozess Alltag ist. Dass unabhängig davon die Anwendung des Zweifelssatzes auf das vorliegende Leugnungsproblem wegen fehlender Einbeziehung in die Unschuldsvermutung scheitert, ist keinem Gegensatz zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft geschuldet. Mit inhaltlichen Vorgaben für die Prognose hält sich das Gesetz noch weiter zurück516, als die gegenwärtige Prognosepraxis, deren Anweisungen allerdings ebenfalls oft auf der Ebene von allgemeinen Arbeitsanleitungen und Leitlinien bleiben. Damit wahrt sich das Gesetz eine Unabhängigkeit vom jeweiligen Stand der Wissenschaft, die insbesondere Aktualisierungsnotwendigkeiten umgeht. An einem aber lässt das Gesetz keinen Zweifel, nämlich dass Prognosen stets eine individualisierende und multifaktorielle Betrachtung erfordern. Dies zeigt sich bereits bei Analyse der Tatverleugnung als gesetzlichem Prognoseumstand. Der Gesetzeswortlaut gibt keinen Umgang mit dem Ableugnen vor, insbesondere ist ein Geständnis nicht Entscheidungsvoraussetzung der §§ 57, 57 a StGB517. Vor allem aber gibt es auch nach den Formulierungen des Gesetzes grundsätzlich kein ergebnisbestimmendes Einzelkriterium, sondern stets muss eine Bedingungsmehrheit Beachtung finden.518 In diesem Sinne lässt sich auch der Einfluss der Strafzwecke auf das Leugnungsproblem interpretieren. Neben dem Umstand, dass gerade die Betonung von Sicherheit Unsicherheiten schaffen kann, zeigt sich auch hier die Notwendigkeit zur differenzierten und umfassenden Auseinandersetzung mit prognoserelevanten Wirklichkeitsumständen. Insbesondere sind fundierte Verhaltensvorhersagen ein ökonomisches Mittel, mehr Sicherheit zu erreichen. ___________ 516
Siehe auch Hendrik Schneider 1996, S. 38; Bock 2000, S. 183; Volckart 1997, S. 60. OLG Hamm, NJW 1955, 34, 34. 518 Vgl. §§ 56 Abs. 1 S. 2, 57 Abs. 1 S. 2, 21 Abs. 1 Satz 2 JGG. 517
H. Fazit zum Problem der Tatverleugnung im Recht
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Besonders deutlich wird die Notwendigkeit individualisierender und multifaktorieller Betrachtung bei Einbeziehung des Individualisierungsgrundsatzes in das Leugnungsproblem. Strafrechtliche Entscheidungen mit Bezugnahme auf kriminologisches Wissen verlangen einen möglichst weitgehenden Einzelfallbezug, wobei dies als Tribut an unzulängliches Wissen aufgefasst werden kann. Das Fehlen allgemeinverbindlicher Beurteilungsregeln macht es notwendig, sich den Besonderheiten des Einzelfalles zu stellen, eine Lockerung der Gesetzesbindung, etwa durch unbestimmte Rechtsbegriffe, ist insoweit also unvermeidlich. Dass gerade für Prognosen die erfahrungswissenschaftliche Notwendigkeit einer individualisierenden Betrachtung mit einer rechtlichen Forderung danach korrespondiert, ist hier angesichts des wiederholten Hinweises auf die Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung519 ganz offensichtlich. In alldem liegt die unmissverständliche Absage an eine Kriterienprognostik, die sich mit der Abarbeitung eines begrenzten Merkmalskatalogs begnügt. Auch das Gesetz verlangt, eine Tatverleugnung ± wie jeden anderen Wirklichkeitsumstand ± in das Mosaik der spezifisch-individuellen Gegebenheiten einzufügen, um in einer Gesamtbetrachung zu prognostischen Aussagen zu kommen. Der Gesetzgeber geht ebenfalls davon aus, dass Prognostik in jenem Spannungsverhältnis von Standardisierung und Individualisierung stattfindet, das bei der erfahrungswissenschaftlichen Analyse des Leugnungsproblems erarbeitet wurde. Den daraus abgeleiteten Prognosemaßstäben spricht gerade die Verfassung mit ihrer Mahnung, den Verurteilten als Subjekt einer freiverantwortlichen, individuellen Lebensgestaltung wahrzunehmen, in einer Weise das Wort, die angesichts der unterschiedlichen zeitlichen und systemimmanenten Abhängigkeiten beinahe verblüfft. Es ist ganz offensichtlich nicht nur eine Forderung prognostischer, sondern auch rechtlicher Integrität, den Verurteilten und seine sozialen Bezüge in sachlicher Hinsicht umfassend und einzelfallbezogen zu beurteilen. In den verfassungsrechtlichen Vorgaben spiegelt sich damit eine erfahrungswissenschaftliche Sinnhaftigkeit wider, die eine systemübergreifende Konkordanz der Leitlinien offenbart: Die erfahrungswissenschaftliche Forderung nach umfassender, individualbezogener prognostischer Bewertung findet sich durch erstrangige Grundwerte bestätigt. Angesichts solcher Verflechtungen von Rechts- und Erfahrungswissenschaft verwundert es nicht allzu sehr, dass das Recht sogar tradiertes Prognosewissen bereithält. Der Weg zu den rechtsdogmatischen Grundlagen des nemo-teneturPrinzips jedenfalls führt über eine Auseinandersetzung mit tatsächlichen Aus___________ 519
Z. B. in § 46 Abs. 2 oder § 57 Abs. 1 S. 2 StGB.
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Kap. 3: Das Problem der Tatverleugnung im Recht
wirkungen einer Selbstbezichtigung, die auch für den Prognostiker von Interesse sind. Über das Aussageverhalten in seinem Anwendungsbereich enthält der nemo-tenetur-Grundsatz selbst eine prognostische Aussage, von welcher der Prognostiker profitieren kann. Kern des rechtsdogmatischen Grundsatzes bilden hier Seinsbedingungen, die in der Rechtstradition verankertes prognostisches Wissen verkörpern. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen zeigt sich also ein Zusammenhang zwischen rechtsdogmatischen Überlegungen und erfahrungswissenschaftlichen Annahmen. Dabei offenbart sich ein wechselseitiger Nutzen, indem beispielsweise die Frage nach der Rechtskraftwirkung von einer wirklichkeitswissenschaftlichen Differenzierung profitiert, umgekehrt die Rechtsdogmatik prognoserelevante Vorstellungen (wie etwa über die Folgen einer Selbstbelastung) bereithält. Ein solches Verhältnis von Rechts- und Erfahrungswissenschaft wird durch eine einfache Überlegung plausibel, die gleichzeitig bisher noch ungenutzte Möglichkeiten verheißt: Intention des Rechts kann es sein, die Wirklichkeit zu beeinflussen, nicht aber, sich über sie hinwegzusetzen. Das Recht will die Wirklichkeit nicht beugen, gesichertem empirischen Wissen also Rechnung tragen. Erfahrungswissenschaft kann demnach geeignet sein, rechtsdogmatische Grundsätze zu präzisieren, in der Gegenrichtung geben die im Recht verankerten Wirklichkeitsvorstellungen Hilfestellung bei erfahrungswissenschaftlichen Fragen. Insofern verspricht es reichen Ertrag, empirische Komponenten und wirklichkeitswissenschaftliche Anschlussstellen der Rechtsdogmatik aufzuspüren.
Zusammenfassung und Ausblick Für eine Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen eine Tatverleugnung auf die Verhaltensvorhersage im Sinne des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB hat, wurde der prognostische Beurteilungsprozess zunächst unabhängig von rechtlichen Vorgaben betrachtet. Hier ergab sich, dass weder eine Tatverleugnung, noch irgendein anderer Wirklichkeitsumstand eine Einschätzung künftiger Gefährlichkeit vorzugeben vermag. Vielmehr ist dafür stets eine Gesamtbetrachtung der individuellen Gegebenheiten erforderlich, nach der sich auch die prognostische Wertigkeit einzelner Umstände für jeden Einzelfall von neuem bestimmt. Es zeigte sich, dass das allgemeinverbindliche Wissen insgesamt zu lückenhaft ist, um daraus in einem konkreten Beurteilungsfall umfassende prognostische Aussagen ableiten zu können. Eine Prognoseerstellung findet daher stets im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Individualisierung statt. Allgemeinverbindliche Vorgaben vermögen den Beurteilungsprozess nicht umfassend zu steuern, sondern sind auf eine Ergänzung durch individuelle Beurteilungskompetenzen des Prognostikers angewiesen. Entsprechend hat er im Umgang mit einzelnen Wirklichkeitsumständen, aber auch bei der Herleitung einer prognostischen Gesamtaussage Beurteilungsfreiheiten. Dies macht es umso wichtiger, ihn zur transparenten und begrifflich kontrollierten Urteilsbildung auf umfassender Beurteilungsgrundlage zu verpflichten. Die Analyse des Leugnungsproblems mahnt damit zur Vorsicht gegenüber zu hohen Erwartungen an allgemeinverbindliche Vorgaben für die Prognose. Kein Prognoseverfahren garantiert eine Zuverlässigkeit der prognostischen Einzelfallbeurteilung, die eine formale und inhaltliche Kontrolle ± insbesondere von Plausibilität und Ableitungszusammenhang ± überflüssig machen würde. Gleichzeitig ergeben sich Mindestanforderungen an die prognostische Arbeit und deren Vorgaben. Stets sind die individuellen Besonderheiten des Beurteilungsfalls im Vergleich mit dem relevanten Erfahrungswissen zu erfassen und für andere nachvollziehbar zu beschreiben. Eine einheitliche, erfahrungswissenschaftlich abgesicherte und klar strukturierte Systematik muss es dabei erlauben, den gesamten Erkenntnisweg in einem transparenten Ableitungszusammenhang zu dokumentieren.
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Zusammenfassung und Ausblick
An diesen Ergebnissen änderte sich durch die zusätzliche Berücksichtigung rechtlicher Vorgaben bei der Analyse des Leugnungsproblems nichts. Auch das Gesetz begnügt sich für die Prognoseerstellung nicht mit einer Kriteriendiagnostik, die auf den Nachweis von Einzelmerkmalen beschränkt ist. Es fordert vielmehr ebenfalls eine individualisierende bzw. multifaktorielle Gesamtbetrachtung und geht für einzelne Wirklichkeitsumstände, wie etwa eine Tatverleugnung, von einer einzelfallabhängigen prognostischen Wertigkeit aus. Darüber hinaus offenbarte sich eine Beziehung von Rechts- und Erfahrungswissenschaft, von der beide Disziplinen in Einzelfragen profitieren. So regt die Prognostik mit ihrer Differenzierung zwischen statischen und dynamischen Prognosekriterien eine Präzisierung der Rechtskraftwirkung an, um objektiven und von vornherein vorhersehbaren Verbesserungen der Beurteilungsmöglichkeiten durch Zeitablauf Rechnung zu tragen. Überlegungen zum Zweifelssatz wiederum trugen zur Eingrenzung des Erkenntnisproblems bei Prognosen bei, indem sich hier sowohl die Beschränkung von Verhaltensvorhersagen auf Wahrscheinlichkeitsaussagen, als auch ihre Zukunftsorientierung als erkenntnistheoretisch gängige Urteilsbildung erwies. Auch zeigte sich, dass in der Rechtsdogmatik prognostisches Wissen verankert ist, welches im Geltungsbereich des nemo-tenetur-Prinzips sogar unmittelbar die Folgen einer Selbstbezichtigung betrifft. Bei Wahrnehmung der Ausgleichsmöglichkeiten zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft ergaben sich also Einsichten für beide Wissenschaftssysteme, was nahe legt, dem empirischen Gehalt der Rechtsdogmatik Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Durch die Beschränkung des Leugnungsproblems auf den Zusammenhang mit der Kriminalprognose wurden Gesichtspunkte ausgeblendet, die für eine Berücksichtigung der Tatverleugnung im Rahmen der §§ 57, 57a StGB ebenfalls erheblich sein können. Nicht die Kriminalprognose selbst, sondern erst ihre Einbeziehung in die Rechtsfolgenentscheidung der §§ 57, 57a StGB bewirkt rechtliche Folgen für den Probanden.1 Den Einfluss außerprognostischer Rechtsfolgenbedingungen auf den Umgang mit einer Tatverleugnung aber muss die vorliegende Analyse ausdrücklich offen lassen. Zudem bleibt auch nach Einbettung des Leugngungsproblems in Erfahrungsund Rechtswissenschaft eine Betrachtungsebene an der Grenzfläche zwischen beiden Erkenntnissystemen: Die Leugnungsfrage ist auch ein Problem der Interdisziplinarität, wie die Rechtsprechung etwa beim Umgang mit einem gutachterlichen Votum2 oder den rechtskräftigen Feststellungen3 offenbart. Nehmen ___________ 1 Bock 2000, S. 47, Volckart 1997, S. 3 ff.; denkbar sind außerrechtliche Folgen der Prognose, beispielsweise eine motivierende Wirkung durch das Prognoseergebnis.
Zusammenfassung und Ausblick
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Juristen aber für die Einschätzungen zukünftiger Gefährlichkeit die Hilfe von Sachverständigen in Anspruch, lässt dies eine Erweiterung und Vertiefung der bearbeiteten Problemstellungen erwarten. Dies gilt schon deshalb, weil hier gleichzeitig das Verhältnis von Richter und Sachverständigem in Rede steht, was am augenfälligsten ist, wenn beide zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen. Hier kann eine Tatverleugnung weitere Wahrheitskonkurrenzen bedingen.
___________ 2 Vgl. OLG Saarbrücken NJW 1999, 438, 438; OLG Koblenz ± 2 Ws 632/02; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347. 3 Vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 346, 347.
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Personen- und Sachverzeichnis Ableitungszusammenhang 81, 108, 135, 157, 158, 176, 194, 198, 289, 307 Actuarial Risk-Assessment 31, 75 Albert, Hans 92 Alltagsprognosen 18 American Psychiatrie Association 150 Andrews, Don A. 78 Anpassungsbereitschaft 166 Anpassungserwartung, paradoxe 74 Auseinandersetzung mit der Tat 30, 46, 59, 78, 79, 80, 167, 168, 169, 181, 267, 299 Bagatellisierungstendenzen 16, 28, 51, 56, 79, 128, 157, 162, 177, 186 Basisrate 53 Begutachtungspraxis 80, 134 Behandlung 46, 80, 81, 119, 120, 121, 142, 165, 227, 266, 267, 277 Behandlungsprognose 122 Behandlungsvollzug 124, 249 Beschämung siehe Scham Betrachtung, multifaktorielle 85, 304, 305, 308 Beurteilungsinteresse siehe Erkenntnisinteresse Beweistatsachenverbot 208 Beweiswürdigung 190, 204, 290 Bindungswirkung siehe Rechtskraft Blau, Günter 226 Bock, Michael 69, 213, 215 Bonta, James L. 79 Böse, Martin 294 Braithwaite, John 189 Bresser, Paul H. 193
Checklisten 36, 48 communitarianism 189 Dahle, Klaus-Peter 61, 62, 63, 64, 116 Delinquenz, Erklärungsmodelle 62 Determinierung siehe Willensfreiheit Deutung 73, 82, 98, 111, 112, 133, 144, 156, 195, 267 Diagnose 70, 100, 119, 135, 147, 150, 151 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders siehe DSM Dingeldey, Thomas 286 Diskrepanzdiagnostik 170 Dittmann, Volker 59, 60 Dittmann-Skala siehe Prognoseverfahren Douglas, Kevin S. 39 DSM 40, 150 DSM-IV 41 Dualismus von Rechts- und Erfahrungswissenschaft 200 Eaves, Derek 39 EFP-63 siehe Prognoseverfahren Einsicht 15, 16, 28, 45, 56, 81, 157, 165, 167, 182, 183, 186, 190, 192, 219 Einzelfallbeurteilung 21, 96, 98, 151, 156, 263, 307 Eisenberg, Ulrich 231 Erarbeiten eines Gesamtbildes 144 Erfahrungswissen 32, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 138, 195, 306, 307 Erfahrungswissenschaft 19, 20, 28, 92, 109, 160, 178, 200, 219, 242, 243, 297, 300
Personen- und Sachverzeichnis Erkenntnisinteresse 71, 147, 223, 230, 239, 240, 241, 244, 245, 246, 255, 303, 304 Erledigung, informelle 223 Evidenz 154, 155 Evidenz, psychologische 112 Evidenzerlebnis 113, 155 Fallanalysen, operative 146 Feststellungswirkung siehe Rechtskraft FOTRES siehe Prognoseverfahren Führungsaufsicht 276 Gerechtigkeit, materielle 215, 221, 303 Gestaltungstheorie, prozessuale 209 Geständnis 15, 16, 67, 68, 163, 164, 166, 167, 169, 172, 174, 178, 179, 182, 184, 185, 186, 188, 189, 195, 201, 267, 285, 295, 299 Gewissen 15, 178, 183, 234 Glueck, Sheldon und Eleanor 33 Göppinger, Hans 69, 147, 231 Gretenkord, Lutz 77, 78 Gutachtenpraxis siehe Begutachtungspraxis Gutachter siehe Sachverständiger Gutachterbestellung siehe Sachverständigenbestellung Haltung, äußere 67, 68, 73, 143, 164, 168, 169, 171, 172, 176, 185, 187, 191, 260, 282, 299 Haltung, Differenzierung 168, 187, 191 Haltung, innere 84, 103, 104, 106, 107, 108, 110, 144, 161, 168, 169, 171, 177, 187, 191, 227, 236, 247 Handeln, rationales 112 Handeln, soziales 111 Handeln, wertrationales 112
163, 178, 171, 105, 163, 193,
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Handlungstheorie, individuelle 61, 87, 99, 145 Hare, Robert D. 41, 70 Hart, Stephen D. 39, 50 HCR-20-Schema siehe Prognoseverfahren Hempel, Carl G. 150 Hermeneutik 64, 109, 250 ICD-10 40, 41 Idealtyp 44, 70, 71, 72, 96, 97, 98, 99, 101, 156 Impulshaftigkeit 52, 184 in dubio pro reo siehe Zweifelssatz Individualisierung 38, 52, 130, 264 Individualisierungsgrundsatz 263, 305 Individualität 151, 261 Individualprognose 53, 60 Inquisitionsprozess 260 interdependency 189 Interdisziplinarität 21, 27, 60, 235, 241, 243, 308 Interventionsprognose 73, 126 Interventionswirkung 124 Introspektion 103 Intuition 35, 69, 80, 81, 90, 98, 137, 152, 153, 156, 197 Jaspers, Karl 97, 99, 100, 110, 112, 147, 150 Kaiser, Günther 34, 301 Kategorisierungen 147, 148, 241 Kerner, Hans-Jürgen 105 Konditionalprogramm 135, 136 Krankheitseinsicht 80 Kriminalprognose ± Begriff 17, 23, 200 ± Entbehrlichkeit 24 ± gesetzliche Umschreibungen 23 ± gesetzliche Vorgaben 19, 28 ± günstige und ungünstige 25, 26 ± negative 27 ± positive 28
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Personen- und Sachverzeichnis
± Standards 54 Kriterienkataloge siehe Prognose Kriterienliste 58, 59, 60 Kröber, Hans-Ludwig 57, 167, 168, 170, 179, 184, 272 Längsschnittanalyse 70, 72, 123, 139, 140, 167, 241 Leferenz, Heinz 78 Leugnen ± Begriff 160 ± Konstellationen 160 Leugnungsfrage siehe Leugnungsproblem Leugnungsproblem ± Abgrenzungen 26 ± Begriff 17 ± Ebenen 20 ± Gegenstand 20, 25, 26 ± Untersuchungsprogramm 27, 28 Leygraf, Norbert 57 Liszt, Franz v. 85, 265, 268 Lockerungsprognosen 175, 176 Lorenz, Frank Lucien 290 Luhmann, Niklas 135 Maschke, Werner 69 Menschenwürde 246, 260, 261, 262, 290, 293 Merkmalstafeln 32 Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse siehe Prognoseverfahren Methodenorientierung 37, 137 Methodik 39, 47, 131, 133, 134, 149, 152 Methodologismus 152 MIVEA siehe Prognoseverfahren Multipotenz, prognostische 128 Nachtatverhalten 73 Nedopil, Nobert 57, 58, 59, 60, 61, 64, 79, 102
nemo tenetur siehe Selbstbelastungsfreiheit Nowara, Sabine 57 Paradoxie der Voraussage 118 PCL 41, 42, 43, 49, 72, 100, 101 PCL-R 42 PCL-SV 42, 43, 44 Persönlichkeitsstörung 40, 51, 52, 77 Prädiktoren der Prognose 32, 79, 92, 115 Prisonisierung 275 Prognose ± Begriff 22 ± Beurteilungsgrundlage 18, 19, 20, 60, 109, 118, 133, 135, 138, 139 ± Beurteilungskompetenzen 48 ± Beurteilungsspielräume 48, 52 ± Gut- oder Schlechtpunktesystem 32, 34 ± intuitive 34, 35, 38, 94 ± klinische 35, 36, 37, 94 ± Kriterienkatalog 53 ± Prognosetafel 33 ± statistische 31, 38, 94 ± Strukturprognose 32 Prognoseentscheidung 26, 113, 126, 243, 257, 272 Prognoseergebnis 20, 23, 26, 29, 31, 34, 35, 39, 51, 81, 82, 84, 89, 105, 113, 126, 127, 158, 176, 177, 201, 240, 257 Prognosefaktoren, statische und dynamische 54, 141, 143, 228, 303, 308 Prognoseforschung 37 Prognoseirrtümer 270, 271, 272, 273, 275 Prognosemethoden 30 ± Einteilung 30, 37 ± Regelorientierung 37 ± Regelverzicht 37 Prognosepraxis 35 Prognosetafeln siehe Prognose
Personen- und Sachverzeichnis Prognoseverfahren ± Ansatz von Dahle 61 ± Ansatz von Dittmann 59, 60, 102 ± Ansatz von Gretenkord 77 ± Ansatz von Nedopil 57 ± Ansatz von Rasch 55 ± Ansatz von Rehder 65 ± Ansatz von Schorsch 54, 77 ± Ansatz von Urbaniok 66, 162 ± EFP-63 77 ± HCR-20-Schema 39, 40, 41, 42, 45, 49, 52, 102, 142 ± MIVEA 69, 71, 73, 100, 102 ± SVR-20-Schema 49, 50, 51, 52 ± VRAG 75 Prognosevorgaben, gesetzliche 20, 202, 222 Prozessabsprachen 223, 243 Prozessökonomie 222 Psychoedukation 80 Psychopathie 41, 42 Psychopathy 41 Psychopathy Checklist siehe PCL Psychopathy nach Hare 41 Quinsey, Vernon L. 75 Rasch, Wilfried 55, 56, 57, 60, 61, 64, 102, 120, 205, 207 Rechtskraft 206, 208, 210, 211, 216, 233 Rechtskrafttheorie, materielle 209 Rechtskrafttheorie, prozessrechtliche 214, 216 Rechtssicherheit 215, 217, 220, 224, 302, 303 Rehder, Ulrich 65, 66 Relevanzbezüge 75 Resozialisierung 124, 171, 192, 205, 249, 265, 275, 277 Reue 14, 81, 179, 182, 183, 186, 188, 190, 194 Risikobewertung 24, 125
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Risikokalkulation siehe Risikobewertung Risikopotential 55, 62, 63, 64 RRS siehe Prognoseverfahren Rückfallkriterien der Kriminalpsychologie 79 Rückfallquote siehe Rückfallwahrscheinlichkeit Rückfallrisiko siehe Rückfallwahrscheinlichkeit Rückfalluntersuchung 31, 65 Rückfallwahrscheinlichkeit 32, 33, 82 Sachverständigenbestellung 230, 235, 258 Sachverständiger 203, 230, 232, 233, 235, 243, 258 Scham 183, 186, 187, 188, 189, 190 Scheinrelevanzen 129 Schmitt, Günter 231 Schneider, Hendrik 213, 215 Schneider, Kurt 148 Schorsch, Eberhard 54, 77 Schuldverarbeitung 15 Schüler-Springorum, Horst 108 Schweigen 163, 164, 177, 182, 279, 283, 285, 289, 293, 299 Selbstbelastungsfreiheit 278, 279, 280, 281, 282, 285, 287, 291, 293, 295, 297, 300 Selbstbild 168, 172, 173, 174, 185, 193, 265, 266, 299 Selbsterkenntnis 191, 192, 193, 194 Selbstkonzept 189 Sicherheit 259, 268, 270, 273, 274, 275, 276, 305 Sicherheitsinteressen 13, 22, 25, 26, 123, 268, 269, 272, 276, 277 Spendel, Günter 220 Spezialprävention 114, 248, 265, 268 Standardisierung 38 Stigmatisierung 191, 265 Strafrestaussetzung, Voraussetzungen 13
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Personen- und Sachverzeichnis
Strafzumessungsrecht 209 Subjektivismen 83, 136, 153, 156 Sühne 14, 286 SVR-20-Schema siehe Prognoseverfahren Syllogismus 32, 93, 94, 95, 96, 99, 108 Syllogismus, prognostischer siehe Syllogismus Tatbearbeitung 46, 79, 80, 81 Tatbegriff, prozessualer 210 Tateingeständnis siehe Geständnis Täterprofile 146 Tatsachengrundlage 20, 208, 211, 216, 244 Tatursachen 164, 178, 179, 180, 205 Tatverleugnung ± Berücksichtigung 14, 16 ± vollzugshistorische Perspektive 14 Terhorst, Bruno 248, 249 Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung 71 Typisierungen 133
Verbalisation 157, 184 Verfahrenseinstellungen 222, 223 Verhalten, abweichendes 86 Verhalten, idealtypisches 72 Verhaltensbereitschaften 87, 141 Verhaltensformel, klassische 115 Verrel, Torsten 295 Verstehen 104, 109, 111, 155, 157, 243, 278 Verstehen, psychologisches 112 Volckart, Bernd 210, 211, 212, 216, 217, 227 Vollverbüßung 123, 249, 275, 276, 277 Vollzugsverhalten 132, 142, 171, 202, 225, 226, 231 VRAG siehe Prognoseverfahren
Überzeugung 137, 155, 185, 223, 250, 251, 253, 254, 255, 256 Unrechtseinsicht siehe Einsicht Unschuldsvermutung 258, 286, 289, 290, 304 Untersuchungsgespräch 267 Urbaniok, Frank 66, 162, 205 Urteilsfeststellungen 85, 173, 206, 208, 212, 215, 237
Wahrheit, forensische 223, 224, 259, 302 Wahrheitserforschung, prozessuale 217, 219, 220, 221, 222 Wahrscheinlichkeitsaussage 19, 91, 94, 95, 115, 122, 125, 304, 308 Weber, Max 103, 111, 112, 155, 156, 174, 217, 263 Webster, Christopher D. 39, 50 Werthaltung 34, 80, 81, 105 Wertorientierung 75 Willensfreiheit 33, 88, 89, 142, 243 Wirklichkeitsverlust 38, 152 Wirklichkeitswissenschaft 243 Wissen, empirisches siehe Erfahrungswissen
van der Ven, Joseph J. M. 241 Verantwortbarkeitsklausel 13, 22, 25, 114, 201 Verantwortungsübernahme 43, 67, 68, 74, 81, 162, 186, 191, 197
Zazcyk, Rainer 213, 215 Zielkonflikt, prognostischer 38, 109, 149, 196 Zweckprogramm 135 Zweifelssatz 247, 248, 256, 259