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German Pages 406 [407] Year 2003
CHRISTIAN KOHLHOFF
Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe
Schriften zum Strafrecht Heft 143
Kartell strafrecht
und Kollektivstrafe Die Begründung eines Kartellkollektivstrafrechts im deutschen Recht - zugleich eine Untersuchung zur grundsätzlichen Bedeutung der kollektiven Dimension im Strafrecht
Von
Christian Kohlhoff
Duncker & Humblot . Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11171-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Meiner Familie
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2002 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Sie befindet sich im wesentlichen auf dem Stand von Mai 2002; an einigen Stellen wurden noch kleinere Aktualisierungen eingefügt. Neu aufgenommen wurde in den Schlußbetrachtungen unter III. der Entwurf eines Modell-Paragraphen (§25a StGB-E) für ein Kollektivstrafrecht de lege ferenda, der aus der Auseinandersetzung mit den bei den Gutachten hervorgegangen ist. Das Vorwort einer Doktorarbeit dient gemeinhin der Danksagung und dieser Dank gilt in aller Regel vielen. Mit der vorliegenden Arbeit verhält es sich nicht anders. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schild für all die wertvolle Anregung und Unterstützung danken, die ich durch ihn erhalten habe. Weiter gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Otto Backes für das schnell erstellte und anregungsreiche Zweitgutachten und Herrn Prof. Dr. h. c. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme in die Reihe "Schriften zum Strafrecht". Für inhaltliche Diskussion bzw. Unterstützung bei der Bewältigung der Formalhürden der Arbeit bin ich den folgenden Personen zu besonderem Dank verpflichtet: Thomas Bassalig, Dr. Susanne Creutzig, Tim F1ohrer, Moritz Jaeschke, Dr. Martin Knauber, Christian Koch, Ulrich Kraetzer, Alexander Lerch, Martin Schwerdtfeger. Schließlich scheint mir dies auch der geeignete Ort zu sein, um zum einen zu betonen, dass diese Arbeit ohne die "moralische" Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde sicher nicht in dieser Form beendet worden wäre, und zum anderen meinen besonderen Dank Herrn Prof. Dr. Otto "Ki" Schlichter dafür auszudrücken, dass er mir von Anfang meiner juristischen Ausbildung an bis zu ihrem Ende mit ganz entscheidenden, bleibenden Ratschlägen zur Seite gestanden hat. Berlin, im März 2003
Christian Kohlhoff
Inhaltsverzeichnis Einleitung - Problemstellung
19
Teil]
§1
§2
Grundlagen
25
Kartellrecht und KarteIlrechtsverstöße nach geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . . . .
26
I. Vorbemerkungen ................... . ........................... . ...........
26
11. Die Systematik des GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
III. Regelungen des GWB im einzelnen ........................................
30
1. Verbot der Wettbewerbsbeschränkungen durch horizontale Absprachen (§§ 1 - 13 GWB) und Wettbewerbsrege1n (§§ 24 - 27 GWB) ............
30
2. Verbot der Wettbewerbsbeschränkungen durch vertikale Absprachen (§§ 14-18 und 22, 23 GWB) ...........................................
31
3. Allgemeines Verbot des Mißbrauchs von Marktrnacht (§ 19 GWB) ......
32
4. Verbot bestimmter Fälle des Behinderungsmißbrauchs (§§ 20 - 21 GWB)
33
5. Fusionskontrolle (§§ 35 - 43 GWB) ........................ .. ...........
34
IV. Ausnahmebereiche (insbesondere §§ 28 - 31 GWB) ........................
35
V. Gesetzestechnik des GWB ..................................................
35
1. Grundsätzliche Möglichkeiten des Gesetzgebers .........................
35
2. Der Weg des GWB ......................................................
40
VI. Fazit .......................................................................
40
Das Sanktionssystem des geltenden Kartellrechts .................. . ...........
42
I. Vorbemerkungen: zum Begriff der Sanktion ................................
42
11. Kartellrechtsverstöße als Zivildelikte .......................................
44
III. Kartellrechtsverstöße als Ordnungswidrigkeiten ............................
46
1. Ordnungswidrigkeitenrecht anstelle des Strafrechts ......................
46
2. Aufbau und Systematik. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. .. .
47
10
§3
Inhaltsverzeichnis 3. Die Verbotsnormen und ihre Trennung von der Sanktionsandrohung
49
4. Rechtswidrigkeit und Rechtfertigung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen ...........................................................
50
5. Vorsatz und Fahrlässigkeit, Irrtumsregelungen ... . ..................... . .
51
6. Die Geldbuße ...........................................................
52
7. Taterkreis und Bußgeldhaftung juristischer Personen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
8. Exkurs: Weitere Handlungsmöglichkeiten des Bundeskartellamtes .......
56
IV. Kartellrechtsverstöße als Straftaten .........................................
57
I. Grundsätzliche Möglichkeit der Verwirklichung von kartellrechtsunspezifischen Tatbeständen ....................................................
57
2. Die Strafbarkeit von Submissionsabsprachen gemäß § 298 StGB .........
58
3. Exkurs: Das Kartellstrafrecht des Alternativ-Entwurfes des StGB von 1977 ....................................................................
61
V. Fazit ........... ......... ........... ........... .............................
64
Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien .................
66
I. Die Situation des Strafrechts als Individualstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
I. Skizze der Lehre vom Rechtsgüterschutz ................................
66
2. Allgemeine Kritik .......................................................
68
3. Analyse der tatsächlichen Situation des Strafrechts (die Herausforderungen im allgemeinen) .....................................................
71
11. Unveräußerbare Grundpositionen: Recht und insbesondere Strafrecht als Entfaltung der Freiheit .....................................................
75
I. Bedeutung der Frage nach der Freiheit ...................................
75
2. Die freiheitliche Natur des Menschen ....................................
78
3. Recht und Strafrecht als Entfaltung der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
4. Strafe, Strafrecht und Grundgesetz - erste kritische Würdigung der verfassungsrechtlichen Kritik ...............................................
87
III. Herausforderungen des Strafrechts durch das Kartelldeliktsrecht im besonderen.......................................................................
89
I. Macht und ihre Ausübung ...............................................
89
2. Der Hintergrund: Kollektive Strukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
3. Schärfung der strafrechtlichen Perspektive der Arbeit: Sicherung der Balance von Macht und Freiheit .........................................
99
Inhaltsverzeichnis
11
Teil 2
Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten de lege ferenda §4
102
Abgrenzung von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht: dogmatische Grundsätze und status quo der Diskussion für das Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . 105 I. Ansätze zur Abgrenzung in der Rechtsdogmatik ............................ 105 1. Qualitative vs. quantitative Abgrenzung: Historie und Problemstellung .. 105
2. Möglichkeit einer rein quantitativen Abgrenzung ........................ 107 3. Qualitativ-quantitative Abgrenzung der herrschenden Meinung ..........
111
4. Der freiheitsgesetzlich bestimmte Ansatz zu einer rein qualitativen Abgrenzung............................................................. 112 11. Die Beurteilung von Kartellrechtsverstößen - Status quo ................... 115 III. Erinnerung der Problemfelder .............................................. 118 §5
Eckpunkte eines Strafwürdigkeits-Diskurses über Kartellrechtsverstöße: Rechtsgut und Verletzungshandlung ........................................... 120 I. Inhaltliche Fassung des Rechtsguts ,Wettbewerb' ........................... 120
1. Grundgesetz, Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb: garantierte Inhalte 121 2. Wettbewerbskonzepte und -funktionen und ihr Niederschlag im GWB ... 127 a) Vorbemerkung: Auslegung und Interpretation im GWB ........ . ...... 127 b) Leitbild und einzelne Wettbewerbsfunktionen im GWB ....... . ...... 129 c) Weitere Zielsetzungen des Kartellgesetzgebers ................ . ...... 132 3. Besondere Bedeutung der Funktion der Freiheitssicherung ............... 135 a) Ausgangspunkt: das Verständnis des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Wirtschaftliche Handlungsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit ........... 138 c) Freiheit in ihrer personellen und strukturellen Dimension ............. 144 4. Schlußfolgerungen: gesicherte Erkenntnisse ............................. 145 11. Der Wettbewerb als Kollektiv-Rechtsgut . . . . .. . . . .. . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . .. .. . 146 III. Möglichkeiten der Verletzung eines entmaterialisierten Rechtsguts . . . . . . . . .. 150 IV. Zum Begriff der Wettbewerbsbeschränkung ................................ 156
12 §6
Inhaltsverzeichnis Die Beschränkungen des Wettbewerbs und ihre StraCwürdigkeit
159
I. Die grundsätzliche Abgrenzung für Verletzungen des Rechtsgutes ,Wettbewerb' und das Kartellrecht ............................................... 160
11. Auswirkungen auf die Handlungsfreiheit: Problem der Prognostizierbarkeit 164 111. Einordnung der GWB-Verstöße im einzelnen ......... . .......... . . . . . ...... 167 I. Horizontale Beschränkungen ............................................ 167
2. Vertikale Beschränkungen............................................... 169 3. Behinderungen .......................................................... 172 4. Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 5. Verstoß gegen kartellbehördliche Verfügungen. Verhinderung wettbewerbsgefährdender Marktstrukturen ..................................... 178 IV. Erste Implikationen für die Bestimmung einer Straftatbestands struktur . . . . . . 179 I. Konsequenzen aus dem Rechtsgutskonzept .............................. 179
2. Konsequenzen aus der Art des schädigenden Verhaltens ................. 181 3. Konsequenzen aus der Regelungstechnik des GWB ...................... 186 VI. Ausblick zur Frage der Strafbedürftigkeit ................................... 186
Teil 3 Vorarbeiten zur Begründung eines KollektivstraCrechts §7
189
Kriminalität aus dem Unternehmensbereich. Rechtstatsachen ................ 189 I. Einführung ................................................................. 189 11. Allgemeine kriminologische Erkenntnisse zur Wirtschaftskriminalität ...... 192 III. Die Ursachen: Kriminogene Faktoren....................................... 194 I. Der organisatorische bzw. strukturelle Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Der psychologische Aspekt .............................................. 196 3. Besonderheiten für das Kartellrecht? Phänomenologie von Kartellrechtsverstößen ................................................................ 198 IV. Fazit: Erste Grenzen des Individualstrafrechts im Untemehmensbereich .... 200
§8
Status Quo. Die verschiedenen Konzepte einer Kollektivstratbarkeit ......... 206 I. Fehlen einer eigenständigen Kollektivstrafbarkeit - Historie ................ 206
11. Die Konzeptionen in der Theorie ........................................... 209 I. Die Notstandskonzeption Schünemanns ................................. 210
2. Hirsch, Ehrhardt ............................... . . . ....................... 212
Inhaltsverzeichnis
13
3. Alwart................................................................... 214 4. Der umweitstrafrechtliche Ansatz Heines................................ 215 5. Das Unternehmens strafrechts-Konzept Schroths ..... . . . ................. 217 6. Der Systemunrechtsansatz Lampes ...................................... 219 III. Konzeptionen der Praxis - Ein Überblick................................... 221 IV. Fazit: Systematik der Strafbarkeitsmodelle. Offene Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . .. 225 I. Fremdzurechnungs- vs. Eigenständigkeitsmodell? ....................... 226
2. Mögliche Haftungsmodelle: Alternativität vs. Disjunktion ............... 227 3. Grundlagenlösung vs. nebenstrafrechtliche Lösung ...................... 228 4. Zusammenfassung: Dogmatische Fragestellungen §9
229
Unternehmen, juristische Person und Verband ................................ 230 I. Unternehmen und ihre gesellschaftliche Bedeutung .................. . ...... 230
11. Rechtliche Wurzeln im Gesellschafts- und Unternehmensrecht. ............. 232 I. Verfassungsrecht: Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen und die Unternehmerfreiheit und Ehre ........................................... 232 2. Zivilrecht: Konstituierung der juristischen Person als Unternehmensträger .................................................................... 236 a) Das Unternehmen und der Verband als soziale Realität ...... . . . ...... 236 b) Die Konstituierung der juristischen Person ........................... 239 c) Das Unternehmen als Träger von Rechten und Pflichten? ............. 242 III. Möglichkeiten einer Anknüpfung im Strafrecht ............................. 244 I. Das Unternehmen oder der Verband als soziale Realität .................. 244
2. Unternehmensträger als Rechtsperson ................................... 245 3. Das Kollektiv als hybride Verbindung von Verband, Unternehmen und Unternehmensträger ..................................................... 246 IV. Die Normadressatenfrage ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 248 I. Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm ........................... 248
2. Normadressat und Täter: Verhältnisbestimmung ......................... 249 3. Der potentielle Adressat eines Kollektivstrafrechts ..... . ................. 251 § 10 Kriminalstraftat, Individuum und Gruppe .................................... 253
I. Die ähnlich gelagerte Fragestellung der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik: Die Tatbeteiligung mehrerer ........................ . . . . . . . . . . . . . . . .. 253
1. Die Tatherrschaftslehre von Roxin ....................................... 254
14
Inhaltsverzeichnis 2. Die Interpretation Schilds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 3. Das Systemunrecht und die Mittäterschaft nach Lampe .................. 260 4. Fazit .................................................................... 262 11. Schuld und Strafe - Verhältnisbestimmung im Individualstrafrecht . . . . . . . . .. 263 1. Grund von Strafe und Strafrecht ............................ . . . . . ........ 263
a) Die verschiedenen Präventionsansätze ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 b) Die absoluten Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 266 c) Die Vereinigungs theorien ............................................ 268 d) Fazit: Von der Schuld zur Strafe und zu einem freiheitsgesetzlich bestimmten Strafrecht ................................................ 268 2. Der Begriff der Schuld und seine grundlegenden Differenzierungen ...... 270 3. Auffassungen des strafrechtlichen Schuldprinzips ........................ 271 a) Die verschiedenen Konzeptionen des Schuldprinzips ................. 271 b) Die Kritik am Schuldprinzip ......................................... 273 c) Fazit................................................................. 277 d) Der grundsätzliche Bezug zur Gerechtigkeit .......................... 278 III. Die Konzeption des strafrechtlichen Schuldprinzips im Detail .............. 280 1. Schuldidee .................... . . . ........ . . . .......... . ............ . .... 280
2. Strafbegründungsschuld ......... . .......... . ............................ 282 3. Strafzumessungsschuld .................................................. 284 IV. Rekurs: Strafe und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: der Rahmen des Grundgesetzes .............................................................. 285 V. Fazit: Begehung der Straftat als schuldhafte Handlung an sich .............. 287
Teil 4 Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
289
§ 11 Kriminalstraftat und Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 289
I. Schuld und Strafe in einem Kollektivstrafrecht ............................. 289 1. Drei mögliche Konzeptionen der Schuld ................................. 291
2. Der Fortbildungsansatz: Normative Schuld, soziale Macht und Systemunrecht .................................................................. 293 3. Kollektiv und Individuum - Differenz und Gemeinsamkeiten............ 296 a) Einwände gegen ein Kollektivsubjekt und Gegenkritik ............... 297
Inhaltsverzeichnis
15
b) Zur Konstitution der Rechtsordnung .................................. 298 aa) Menschliche Individuen als Rechtskonstituenten ................. 298 bb) Kollektive als Rechtskonstituenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 302 c) Konsequenzen: die Möglichkeit einer Schuldverstrickung des Kollektivs ............................................................... 309 d) Die Handlungsfahigkeit des Kollektivs ............................... 314 11. Zusammenfassende Kritik der verschiedenen Ansätze eines Kollektivstrafrechts ...................................................................... 317 1. Funktionalistische Herangehensweisen .................................. 317
2. Organologische Standpunkte ............................................ 318 3. Unmöglichkeit eines Kollektivstrafrechts als zweiter Spur ............... 318 4. Fazit: Offene Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319 III. Die Bestimmung des Kreises der rechtskonstituierenden Kollektive ......... 320 IV. Gerechtigkeit der Verbandsstrafe ........................................... 325 1. Die vermeintliche Bestrafung Unschuldiger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 325 2. Das Argument der Doppelbestrafung .................................... 329 § 12 Antworten zur Stratbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts ..... . ........ . .. ... 331
I. Die Formen der Kollektivstrafe .... . ................... . .............. . ..... 332 11. Fragen der Praktikabilität. . . . . . . .. . . . . .. .. . . ... . . . .. . . . . . . .. . . . .. . . .. . . .. . .. 342 1. Probleme des materiellen Tatstrafrechts .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 343
2. Probleme der Rechtsanwendung und der Strafverfolgung ................ 344 3. Strafprozessuale Fragen ............ . .................................... 347 III. Fragen der Effektivität. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. 351 1. Präventions- und Restitutionsaspekte .................................... 351
2. Auftreten unerwünschter Nebenfolgen ................................... 352 IV. Fazit: Strafbedürftigkeit und Strafnotwendigkeit von Kartellrechtsverstößen
354
V. Regelungsalternativen: Die Kollektivstrafe und ihr Platz im Sanktionssystem des Kartellrechts .................................................... 354 1. Modifizierung des Kartellprimärrechts, des Kartellverwaltungsrechts oder des Ordnungswidrigkeitenrechts .................................... 355
2. Publizität ................................................................ 357 3. Zivilrechtliche Sanktionen. .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . .. . ... . . . . . . . .. 358 4. Gesellschaftsrechtliche Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 359 5. Verschärfung des Individualstrafrechts ........... . ....................... 362
16
Inhaltsverzeichnis Schlußbetrachtungen
363
I. Zusammenfassung.......................................................... 363
11. Rückkoppelung zwischen Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht ......... 371 III. Formulierungsvorschlag für einen § 25 a StGB-E ..... . ... . ............ . .... 374 IV. Ausblick ................................................................... 376 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 386 Sachwortverzeichnis ............................................ . ............ . . . ...... 401
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Und sich die Welt ins freie Leben, Und in die Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit wieder gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor ein e m geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis
..... Doch obwohl ich mich immer noch hauptsächlich als Nationalökonom betrachte, fühle ich immer mehr, daß die Antwort auf viele der dringlichen sozialen Fragen unserer Zeit schließlich in der Anerkennung von Grundsätzen zu finden sind, die außerhalb des Bereiches der technischen Volkswirtschaftslehre oder irgendeiner anderen Einzeldisziplin liegen. [ ... ] Wenn wir eine zusammenhängende Vorstellung von unseren Zielen wiedergewinnen wollen, sollten solche Versuche [sich über jenes Gebiet hinaus zu wagen, auf dem man behaupten kann, alle technischen Einzelheiten zu beherrschen, C.K.] wohl öfters gemacht werden. [ ... ] Ihre Erörterung [bestimmter komplexer wirtschaftlicher und sozialer Fragen, c.K.] dient hauptsächlich als Illustration für den Hauptzweck dieses Buches, das ist die immer noch ausstehende Verflechtung der Philosophie, Jurisprudenz und Wirtschaftstheorie einer freiheitlichen Ordnung .... " F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Einleitung, S. 4 ff.
Einleitung - Problemstellung In ihrer grundlegenden Intention will die vorliegende Arbeit als Angriff auf die Ökonomisierung unserer Lebenswelt und damit ihrer Begründungsdiskurse verstanden werden; ebenso sollen dabei jedoch diejenigen Strömungen mit ins Visier genommen werden, die eine Letztautorität naturwissenschaftlicher und technischer Argumente postulieren. Inhaltlich wurde dazu im Schnittpunkt von Ökonomie, Gesellschaft und Recht angesetzt. Das Thema der Arbeit ,Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe' ist dabei sehr weit gespannt. Bei zwei Problemstellungen de lege ferenda mag der Sinn eines solchen Unterfangens im Rahmen einer Dissertation sicher nicht unmittelbar einleuchten. Daß dieses Unterfangen dennoch in Angriff genommen wurde, bedarf daher einer kurzen Begründung. Hier kann an eine Aussage von Rainer Zaczyk angeknüpft werden: "Das Strafrecht ist in diesem Verständnis [- des Rechts als eines Rechts der Verträge und der Wirtschaft und der Beamten etc., c.K.j nur ein Außenposten des Rechts, auf die Wacht gestellt, daß es im Innern nicht zu Störungen kommt."l
Innerstes rechts wissenschaftliches Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es nun, einen Beitrag dazu zu leisten, eine solche Sichtweise zumindest mittelfristig zu verändern und darzulegen, daß das Strafrecht im Kern des Rechts einer Gesellschaft liegt und von seinem Verständnis damit auch ganz wesentlich das (Selbst-) Verständnis dieser Gesellschaft abhängen muß. Das Spannungsfeld von Wirtschaft und Strafrecht eignet sich dazu wohl wie kaum ein zweites, da gerade für den Bereich der Wirtschaft aufgrund des Vorherrschens technisch-pragmatischer Argumentation das Strafrecht besonders fremd scheint. Der Titel ,Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe' artikuliert, daß diese Abhandlung sich grundSätzlich zwei Ziele gesetzt hat: Zum einen will sie versuchen, eine befriedigende Antwort - Antworten an sich gab es indes bereits einige - auf die Frage eines wirksamen Grundlagenschutzes des Wettbewerbs und damit einer zukünftig einzuführenden Strafbarkeit für Kartelldelikte zu geben. Es wird also vornehmlich um den Schutz des Wettbewerbs als Institution, letztlich aber auch in seiner die Individualfreiheit schützenden Funktion gehen; Fragen des Schutzes des lauteren Wettbewerbs werden nicht behandelt. Zum anderen soll mit der Arbeit ein Beitrag zur Diskussion um die Notwendigkeit der Strafbarkeit von - je nach gängigem Sprachgebrauch - juristischen Personen, Verbänden oder Unternehmen geleistet werden. Zum besseren Verständnis scheint es bereits an dieser Stelle notwendig, die hier verwendete Nomenklatur einzuführen: Aus im Fortgang der Arbeit 1
2*
R. Zaczyk, Zum Strafrecht, S. 4.
20
Einleitung - Problemstellung
noch darzulegenden Gründen soll für das dem Individualstrafrecht zur Seite zu stellende und zu begründende Strafrecht nur der Begriff des Kollektivstrafrechts und für das Subjekt dieses Strafrechts der Begriff des Kollektivs verwandt werden - die anderen drei Begriffe werden damit nicht verabschiedet, sondern in einem spezifischen, dem Begriff des Kollektivs untergeordneten Sinn verstanden. Nur der näher bestimmte Begriff des Kollektivs scheint in der Lage, den komplexen Sachverhalt aufzunehmen, um den es vorliegend geht. Es ist Ziel der Arbeit, die beiden Themenkomplexe - Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht - so zueinander in Beziehung zu setzen, daß es zu einer gegenseitigen Befruchtung kommen kann. Insofern soll die Arbeit mit den beiden folgenden Fragen umrissen werden: (i.) Würde der Schutz der Wettbewerbsmaterie - d. h. insbesondere des Wettbewerbs als Institution - gerade durch die Einführung einer Kollektivstrafe verbessert werden? und (ii.) Welche Beiträge kann die Wettbewerbsmaterie ihrerseits zur Diskussion um die Strafbarkeit von Kollektiven leisten? Zur Aktualität der Fragestellung muß in Zeiten einer zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft, einer rasch fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft und einer damit einhergehenden Konzentration auf den nationalen wie internationalen Märkten eigentlich nicht viel gesagt werden. Der - allerdings nicht unbedingt strafrechtliche - Schutz des Wettbewerbes wird allenthalben betont, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union und ihres Binnenmarktes. Zweifel ließen sich höchstens im Hinblick auf die Aktualität des Strafrechts in diesem Zusammenhang anmelden. Hier hat jedoch die auf eine fast dreißigjährige Vorgeschichte aufbauende Einführung des § 298 StGB (Strafbarkeit von Submissionsabsprachen) das Ihrige dazu getan, das Thema ,Kartellstrafrecht' auf die Tagesordnung zu setzen. So hat erst kürzlich Klaus Tiedemann festgestellt, daß die Frage, ob der Wettbewerb (,wirtschaftliche Leistungswettbewerb') ein strafschutzwürdiges Rechtsgut darstellt, zu den aktuellsten Grundfragen des Besonderen Teils zählt2 . Dennoch scheint eine zunehmend ökonomisierte Welt keinen Bedarf mehr an einer Integration dieser Materie zu haben oder dazu nicht in der Lage zu sein. Bemerkungen zu der Entkoppelung von Recht und Wirtschaft und die Betonung der Qualitäten eines ,Softlaw' im internationalen Wirtschaftsrecht sind Ausdruck davon 3 . Eine dem entgegen zu setzende These besagt nun: Mit der zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft muß die Wirtschaft auch deren zentrale Mechanismen in sich aufnehmen; daß dazu gerade auch das Strafrecht zählt, wird zu zeigen sein. Dies hat seinen Grund in der Freiheitsorientierung unserer Gesellschaft, die dem Recht und insbesondere dem Strafrecht zugrunde liegt. Ein solches an der (inneren) Freiheit des Einzelnen, seiner Autonomie, orientiertes - und insofern vorpositiv begründetes - Strafrecht soll der Arbeit zugrunde gelegt werden. 2 Vgl. K. Tiedemann, Wettbewerb als Rechtsgut des Strafrechts, in: Festschrift-MüllerDietz (200 1), S. 905 ff. (905). 3 So beispielsweise J. Wieland, Globalisierung und rechtliche Verantwortung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen in der Marktwirtschaft, S. 46 ff. (56).
Einleitung - Problemstellung
21
Dessen Bedeutung für die Wirtschaft wird sich insbesondere im Rahmen des Kollektivstrafrechts herausstellen. Friedrich Wilhelm Rothenspieler hat in seiner Arbeit unter Bezugnahme auf Karl Jaspers kritisch festgestellt, daß die Entwicklung einer Kollektivschuldthese im Hinblick auf Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs insofern für die Wirksamkeit eines solchen Denkens spreche, als doch seit dem Mittelalter ein besonderes Bemühen um die Emanzipation des Individuums stattgefunden habe4 . Das Dritte Reich stellte in der Tat in einem kulturellen (menschlichen) Sinne einen besonderen Rückfall in der Geschichte dar. Es soll hier jedoch keine Stellung zur Kollektivschuldthese im Hinblick auf das deutsche Volk bezogen werden. Die hier näher begründete Kollektivschuld kann sie jedenfalls nicht stützen, da ihre Begründung sich nur auf die Teilnehmer der Konstitution einer (innerstaatlichen) Rechtsordnung erstreckt und daher nicht in der Lage ist, staatliche Verbände - gewisse inhaltliche Berührungspunkte eingestanden mit einzubeziehen. Für diesen innerstaatlichen Bereich wird sich nun zeigen, daß die Emanzipation des Individuums tatsächlich dazu geführt hat, in unserer Gesellschaft eine kollektive Ebene weitestgehend auszublenden, auf deren Beteiligung jedoch die Gesellschaft und das Recht und damit notwendig auch die Wirtschaft aufbauen. Damit ist bereits - neben Freiheit und Kollektivität - der dritte Schwerpunkt der Arbeit eingeholt, der einem Kartellstrafrecht wie einem Kollektivstrafrecht die entsprechende Bedeutung zuweist: das Thema der Macht und ihrer Probleme für eine Gesellschaft freier Individuen. Macht steht immer in einem antinornischen Verhältnis zur Freiheit. Machtpotential, das nicht genutzt wird, dürfte höchst selten sein. Machtvakuen existieren nicht lange, da immer einer nur zu bereit sein wird, diese zu füllen. Sowohl im Kartellstrafrecht als auch im Kollektivstrafrecht wird es daher um die Begrenzung und Kanalisierung wirtschaftlicher und damit auch gesellschaftlicher Macht gehen. Der inhaltliche Bogen ist nun in der Tat sehr weit gespannt. Der Bezugsrahmen der Arbeit wird vor allem durch die Bereiche des Kartellrechts und des Strafrechts aus dogmatischer Sicht gebildet, aber im weiteren auch durch Wettbewerbstheorie, (Wettbewerbs-) Politik, Philosophie und die gesellschaftlichen, soziologischen Bezüge. Es ist dabei unvermeidbar, daß die Arbeit in vielen Bereichen stärker an der Oberfläche bleiben wird, als es vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Jede der beiden Teilfragen - Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht - hätte auch alleine eine umfassende eigene Abhandlung verdient. Das gleiche läßt sich von weiteren zentralen Kernfragen sagen, auf deren Lösungen die Arbeit aufbaut. Hier sind vor allem die philosophischen und rechtsphilosophischen Probleme zu nennen. Die Frage der freiheitlichen (autonomen) Natur des Menschen und ihrer Bedeutung für das Recht einerseits und auch die Fragen der Logik und der Sprachanalyse andererseits hätten einen weitaus größeren Raum beanspruchen können, als sie tatsächlich eingeräumt bekommen haben.
4
Vgl. F. W. Rothenspieler; Kollektivschuld, S. 257.
22
Einleitung - Problemstellung
Dennoch wurde der in dieser Arbeit vorliegende Weg beschritten, weil es darum gehen sollte, mehrere Aspekte zusammenzubringen, die herkömmlicherweise nicht zusammen behandelt werden: Dies sind grundlegende Fragen der Wirtschaft, wie die des Wettbewerbs, und bestimmte Lösungen des Strafrechts, die beide aufgrund ihrer Orientierung an der Freiheit eigentlich zusammen gehören müßten, weil sie sich sinnvoll erklärend ergänzen. So ist es unvermeidbar, daß mit dieser Arbeit gewisse Enttäuschungen einhergehen, weil an der einen oder anderen Stelle eine Vertiefung als vorteilhaft empfunden werden wird. An solchen Stellen lag dann die Überzeugung zugrunde, daß nach einer Darstellung des Grundsätzlichen auf ausführlichere Arbeiten, die sich nur mit dem entsprechenden Thema beschäftigt haben, verwiesen werden konnte. Historische Rückblicke werden auf ein zur Auseinandersetzung mit den Argumenten notwendiges Minimum begrenzt. Die philosophischen Fundamente der Arbeit - gerade in den historischen Bezügen - sollen unbehandelt bleiben und durch Verweis auf Arbeiten ersetzt werden. Hier sollen die für die konkreten Probleme relevanten Argumente im Vordergrund stehen. Daher wird eine umfassende Aufarbeitung der veröffentlichten Literatur auch auf die Punkte beschränkt, an denen dies unvermeidbar scheint, um ein Bild des Meinungsstandes zu vermitteln. Weitestgehend unbehandelt bleiben im Hinblick auf die strafrechtlichen Aspekte sowohl des Individual- als auch des Kollektivstrafrechts leider auch Fragen einer durchaus wünschenswerten sprachphilosophischen Analyse 5 . Die Struktur dieser Arbeit wurde also gewählt, um das Ganze im Auge zu behalten und das selbst gesetzte Ziel zu erreichen, innerhalb eines sinnvollen Umfanges der Arbeit die Bereiche Strafrecht, Wirtschaft, Freiheitsphilosophie, analytische Philosophie und Soziologie zusammenzubringen, wenn auch der Schwerpunkt sicher im juristischen Bereich angesiedelt ist. Die Motivation kann sich daher in dem vorangestellten Zitat v. Hayeks vollkommen wiederfinden. Vor dem direkten Einstieg in die Materie des Kartellstrafrechts und der Kollektivstrafe soll nun noch der Gang der Argumentation der Arbeit nachgezeichnet werden. Zunächst werden in Teil 1 die Grundlagen aufgearbeitet: Das geltende Kartellrecht sowohl im Hinblick auf seine Primärnormen (die Verbote beschränkender Verhaltensweisen) als auch die Sekundämormen (das Sanktionssystem). Das deutsche Kartellrecht ist von klaren Verbotsnormen geprägt und zielt sowohl auf den Schutz des Wettbewerbs als Institution als auch auf einen Individualschutz ab. Das Sanktionssystem des GWB zeigt dabei die Möglichkeiten eines Kollektivsanktionssystems nach geltendem deutschen Recht auf: Neben wenigen Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung und Vorteilseinziehung die unabhängig von Individualverfahren verhängbare Geldbuße des Ordnungswidrigkeitenrechts (§ 30 OWiG). Im Anschluß daran ist die aktuelle Situation des Strafrechts zu erläutern, 5 Für letzteres sei exemplarisch auf die Abhandlung E. Tugendhats. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, verwiesen, in der dieser sich vor allem auch mit der Position Hegels ausführlich auseinandersetzt.
Einleitung - Problemstellung
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in die eine Diskussion um die Refonn des Kartellsanktionsrechts und auch des allgemeinen Strafrechts durch eine Kollektivstrafe notwendig eingebettet ist. Diese Situation ist durch ein Festhalten an traditionellen Positionen einerseits und grundlegenden Umbrüchen im gesellschaftlichen Bezugsrahmen andererseits (z. B. im Bereich der Umwelt und Wirtschaft) charakterisiert. Einem Diskurs des grundlegenden Umdenkens im Strafrecht - durch Einführen von Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe - sind jedoch diejenigen Grundpositionen voranzustellen, deren sich ein Strafrecht nicht entäußern darf, ohne sich selbst aufzugeben. Diese finden sich im notwendigen Bezug des Rechts und Strafrechts zur freiheitlichen Natur des Menschen und einer entsprechenden, rechtsphilosophischen Konzeption des Strafrechts. Im Übergang zur ersten Hauptfrage nach einem Kartellstrafrecht soll dann noch die besondere Situation der Kartelldelikte dargestellt werden, die sich aus ihrer Verankerung im Spannungsfeld von Freiheit, Macht und kollektiven Strukturen ergibt. Das Thema eines Kartellstrafrechts wird in zwei Schritten behandelt. Zunächst wird in Teil 2 der Frage nach einer Strafwürdigkeit von Kartellrechtsdelikten nachgegangen, die sich nach dem Rechtsgut und dessen möglicher Verletzung richtet. Dies ist einzuleiten mit der grundlegenden Bestimmung der Abgrenzung von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, insofern das Sanktionssystem des Kartellrechts beinahe ausschließlich von letzterem gestellt wird. Hier kann das Verständnis des Strafrechts nach freiheitsgesetzlichen Aspekten fruchtbar gemacht werden. Für den Gang der Argumentation ist dann die Beleuchtung des Rechtsguts ,Wettbewerb' und seine Fassung als Kollektiv-Rechtsgut von Bedeutung. Hier ist die Rolle, Berechtigung und Bedeutung von Kollektiv-Rechtsgütern allgemein exemplarisch herauszustellen. Dieser Fokus auf den Wettbewerb als Institution soll gesetzt werden, da aus der Perspektive des Gesetzgebers zwar die Freiheit der Individuen gerade das Ziel des Wettbewerbs und dessen Schutz die Aufgabe des Kartellrechts darstellt, die Einräumung subjektiver Rechte dennoch zweitrangig ist, da es grundlegend um das System als solches und dessen Funktionsfähigkeit gehen muß. Die individuellen KJagemöglichkeiten dienen hier eher der Mobilisierung des Rechts durch den Einzelnen. Es wird schließlich gezeigt werden, daß zumindest auf bestimmte - näher zu beschreibende - Verstöße gegen das Kartellrecht grundsätzlich mit strafrechtlichen Sanktionen reagiert werden muß, also von einer - jedenfalls partiellen - Strafwürdigkeit auszugehen ist. Bejaht man nun die Strafwürdigkeit in Kartellsachen, schließt sich die Frage nach der Strafbedürftigkeit an, also vornehmlich nach Effizienz und Praktikabilität potentieller Regelungen. Hier muß eine Antwort naturgemäß unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob man die Strafbarkeit natürlicher Personen oder die von Kollektiven betrachtet. Die Begründung eines Kollektivstrafrechts bedarf einiger Vorarbeiten, die in Teil 3 der Arbeit geleistet werden sollen. Es wird dort zunächst um die Ursachen der Kriminalität aus dem Bereich von Wirtschaftsunternehmen gehen, wie sie in der Diskussion stehen; daß eine solche Kriminalität - unabhängig von einem Kartellstrafrecht - existiert, dürfte weitgehend unbestritten sein. Hier werden Beiträge
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Einleitung - Problemstellung
der Kriminologie, der Soziologie und Psychologie vorgestellt. Im Anschluß wird der Status Quo der Diskussion um die Kollektiv- bzw. Verbands strafe nachgezeichnet, der einer ersten Analyse zuzuführen ist. Zwei Bereiche müssen nun untersucht werden, die eine Antwort auf die Frage nach dem Kollektivsubjekt im Strafrecht vorprägen: zunächst seine Behandlung in anderen Bereichen der Rechtsordnung, namentlich im Zivil- und Gesellschaftsrecht und in der Verfassung, und der Umgang mit dem Phänomen kollektiver Verhaltensweisen im überkommenen Individualstrafrecht - mithin die Thematik der mittelbaren Täterschaft und der Mittäterschaft. Abgeschlossen wird dieser Teil der Arbeit von einer eingehenden Begründung der zentralen Weichenstellung im Strafrecht durch Herausstellen der Schuld als dessen konstitutives Merkmal. In Teil 4 der Arbeit kann nun die Frage nach einer Kollektivstrafe einer Antwort zugeführt werden, die sich jetzt am Problem der Schuld orientieren muß. Im Ergebnis wird sich an dieser Stelle dann auch die Strafbedürftigkeit von Kartelldelikten herausstellen. Zunächst wird der entscheidende Begründungsschritt, der bisher zurückgestellt wurde und auch allgemein in der Diskussion um ein Kollektivstrafrecht vernachlässigt wird, nachgeholt: die Begründung der Rolle des Kollektivs als Konstituent der Rechtsordnung neben dem Individuum. Auf diesem Wege kann eine Versöhnung mit der Auffassung des Strafrechts als Schutz der grundlegenden Bedingungen unserer Freiheit vorgenommen werden. Aus den Ergebnissen dieser Betrachtungen kann dann auch die Fähigkeit des Kollektivs zum Verstricken in (echte, persönliche) Schuld gefolgert werden. Aus der Richtung der Verfechter eines solchen freiheitlich-normativen Schuldbegriffs kommen die entschiedensten Gegner eines Kollektivstrafrechts, die nun widerlegt werden können. Ausgehend von dem so bestimmten Begriff des Kollektivs können die Problemkreise des Kollektivstrafrechts einer Lösung zugeführt werden: die Handlungsfähigkeit, die Bestimmung des Kreises der straffähigen Kollektive, die Gerechtigkeit einer solchen Strafe und deren konkrete Form. Ergebnis der Betrachtungen bis zu dieser Stelle ist dann weiterhin die Folgerung, daß von einer Effektivität und Praktikabilität der Kollektivstrafe und damit in Konsequenz auch des Kartellstrafrechts gesprochen werden kann. Diese Lösung kann nun noch abschließend in ein Verhältnis zu verschiedenen Alternativlösungen gesetzt werden. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einigen Schlußbetrachtungen zu den angerissenen Themenkreisen. Nach einer Zusammenfassung wird dazu eine nochmalige Rückkoppelung der Materie der Kartellrechtsdelikte und des Kollektivstrafrechts vorgenommen. Hierbei ergibt sich auch die Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten einer Vermittlung von Freiheit und Macht in den kollektiven Strukturen unserer Gesellschaft. Um das gegebene Thema der Arbeit umfassend zu behandeln, müßte eigentlich noch eine weitreichende Einordnung der Ergebnisse in den internationalen Kontext erfolgen. Da hierauf jedoch aus Gründen einer sinnvollen Eingrenzung verzichtet wird, soll abschließend wenigstens ein Ausblick auf die Entwicklung der Globalisierung der Wettbewerbsmaterie, auf grundsätzliche Perspektiven einer internationalen Staatlichkeit und auf die InternationalisierungsTendenzen des Strafrechts gegeben werden.
Teil 1
Grundlagen Dieser Teil der Arbeit verfolgt als Grundlagenteil drei Ziele: zunächst soll dem mit dem Kartellrecht weniger vertrauten Leser bei gleichzeitiger Analyse ein Einblick in diese Materie eröffnet werden. Es erscheint weiter notwendig, die eigene grundsätzliche Sicht auf das Strafrecht und seine grundlegenden Probleme darzulegen, da diese von der allgemeinen Meinung doch in verschiedener Hinsicht abweicht. Schließlich wird die grundlegende Perspektive der Arbeit entwickelt: die Sicherung einer Balance von Freiheit und Macht in den kollektiven Strukturen einer Gesellschaft, wie sie vor allem in Wirtschaft und Wettbewerb durch ein Kartelldeliktsrecht exemplarisch zu erfolgen hat. Die Aufarbeitung der Situation im Kartellrecht vollzieht sich in zwei Schritten: zunächst im Hinblick auf die kartellrechtliche Gesetzessystematik und -technik (§ 1) und danach für das Sanktionssystem des GWB (§ 2). Dieser Zweiteilung liegt der Gedanke einer Unterscheidung der Rechtsordnung in Primärrecht - Statuierung von allgemeinen Regelungen, Ver- und Geboten - und Sekundärrecht - Absicherung des Primärrechts in seiner Wirksamkeit mittels eines Sanktionssystems - zugrundel. Am Ende dieser Analyse ergibt sich dann ein differenziertes Bild des Kartellrechts, mit dem im weiteren gearbeitet werden kann: Inhalt des Primärrechts, Mechanismus, Lücken im Kartellsanktionsrecht, Spuren eines Strafrechts und ein erstes Fazit zu wahrscheinlichen Kernpunkten und Aporien eines Kartellkollektivstrafrechts; letztere werden durch die Phänomene Freiheit, Macht und Kollektivität dargestellt. Dieses Ergebnis soll in einem zweiten Schritt in die aktuelle strafrechtsdogmatische Situation eingeordnet werden (§ 3 I. - III.). Dabei wird die traditionelle Auffassung des Strafrechts als eines besonderen Rechtsgüterschutzes kurz dargestellt, um sie in den Rahmen einer allgemeinen Analyse der Situation des Strafrechts einzustellen. Angesichts der grundsätzlichen Herausforderungen des Strafrechts in der heutigen Zeit müssen im folgenden die unveräußerbaren Grundpositionen des Strafrechts aufgesucht werden, die nicht verlassen werden können, ohne daß das Strafrecht aufgegeben wird: Recht und insbesondere Strafrecht dienen der Ermöglichung und der Entfaltung der Freiheit. Die nun gewonnene strafrechtsübergreiI Vgl. zu diesem auf Binding zurückgehenden Ansatz nur J. Vogel, Nonn und Pflicht, S. 27 ff., insbes. S. 30 ff. zur Kritik an diesem Ansatz (vor allem durch Schmidhäuser) und der notwendigen Gegenkritik; weiter auch /. Appel, Verfassung und Strafe, S. 79 ff., 431 ff. m.w.N.
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Teil I: Grundlagen
fende Perspektive wird noch einmal mit den spezifischen Herausforderungen durch das Kartelldeliktsrecht kontrastiert. An dieser Stelle ist den Begriffen ,Macht' und ,Kollektivität' bzw. ,kollektive Strukturen' Kontur zu verleihen, da sie neben dem Begriff der Freiheit Dreh- und Angelpunkte der Arbeit bilden.
§ 1 Kartellrecht und Kartellrechtsverstöße nach geltendem Recht I. Vorbemerkungen
Das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen bzw. das Kartellrecht ist grob gesprochen die in Gesetzesform gegossene Wettbewerbspolitik eines Staates2 . Die Volkswirtschaftslehre gibt dem Gesetzgeber verschiedene Wettbewerbstheorien an die Hand, die ihm darlegen sollen, wie das Phänomen Wettbewerb zu fassen ist und welche Funktionen der Wettbewerb haben kann oder sollte, und die somit letztlich als wettbewerbspolitische Leitbilder fungieren können.
In Deutschland hat die Materie des Kartellrechts eine vergleichsweise junge Geschichte3 . Ursprünglich waren Gesetzgeber4 und GerichteS gegenüber den Verhaltensweisen der Unternehmen am Markt neutral eingestellt. Es gab keine Verbote, gerade Kartellabsprachen waren rechtswirksam. Erst allmählich setzte sich zunächst bei den Gerichten 6 , später beim Gesetzgeber die Erkenntnis durch, daß wirtschaftliche Macht sich nicht vollkommen willkürlich-frei entfalten darf. Am 2. 11. 1923 trat die Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen (KartVO 1923) in Kraft. Ihre Wirkung blieb relativ gering, sie verhalf aber zu er2 Gegen diese Diktion ausdrücklich: J. F. Baur; Kartellrecht und Politik, in: Schwerpunkte des Kartellrechts 1996. Referate des FIW-Seminars und der Brüsseler Informationstagung, Köln u. a. 1997, S. 3 ff. (3). Baur begründet seine Ansicht mit der Einschränkung des Systems ,Wettbewerb' in der Gesellschaft vor allem über die kartellrechtlichen Ausnahmebereiche, was jedoch aufgrund der Erklärung des Zusammenhanges von Verfassung und Wirtschaftssystem nicht zu halten ist; dazu soll weiter unten Stellung bezogen werden, vgl. unten § 5. 3 Das U.S.-amerikanische Antitrust-Recht hingegen kann auf eine über lOOjährige Geschichte zurückblicken, die mit dem Sherman Act von 1890 begann, vgl. V. Emmerich, Kartellrecht, S. 21 ff. m. w. N.; eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des deutschen Kartellrechts findet sich z. B. im Lehrbuch von F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. I ff. m. w. N. 4 Der Gesetzgeber hatte erst 1869 durch die Gewerbeordnung die allgemeine Gewerbefreiheit eingeführt. Für die negativen Seiten der Freiheit war man noch nicht sensibilisiert. 5 Das erste Urteil zum Problem der Kartelle ist RGZ 28, 238 von 1890 zu den Rabattkartell-Beschlüssen des Börsenvereins der deutschen Buchhändler; das Grundsatzurteil zu der kartellfreundlichen Haltung war das zum Fall des Sächsischen Holzstoff-Fabrikanten-Verbandes, RGZ 38, 155. 6 Vgl. den Überblick bei RGZ 143,24 (28 ff.); auch das Urteil zum Benrather Tankstellenfall, RGZ 134,342 (347 ff.).
§ 1 Kartellrecht und Kartellrechtsverstöße nach geltendem Recht
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sten Erfahrungen im Umgang mit dem Phänomen der Wettbewerbsbeschränkungen einerseits und den Möglichkeiten rechtlicher Regelungen auf diesem Gebiet andererseits 7. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann durch die alliierten Dekartellierungsgesetze, welche die überaus starke Konzentration in der deutschen Wirtschaft beseitigen sollten, einem deutschen Kartellrecht der Boden bereitet8 . 1952 folgte der Regierungsentwurf zum GWB und 1957 wurde das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verabschiedet, das 1958 in Kraft trat. Dieses Gesetz war in seinen Grundzügen dem heutigen GWB bereits sehr ähnlich. Grundsätzlich fehlte lediglich die Fusionskontrolle, die 1973 eingefügt wurde. Das Kartellrecht, wie es beispielsweise im GWB niedergelegt ist, soll nach allgemeiner Meinung - mittelbar oder unmittelbar - den Wettbewerb schützen, dem eine fundamentale Rolle in der Wirtschaft und darüber hinaus auch häufig für die Gesellschaft zugeschrieben wird. Da allgemein ein positive Definition bzw. Beschreibung des Wettbewerbs als einem anthropologischen Phänomen für unmöglich gehalten wird 9 , versucht man, sich dem Wettbewerb zwischen Marktteilnehmern negativ zu nähern, indem man ihn durch die Abwesenheit von etwaigen Beschränkungen (insbesondere durch die Teilnehmer selbst) bestimmt. Daher ist wesentlicher Dreh- und Angelpunkt der Kartellgesetze die Umschreibung der verbotenen oder zumindest kritisch betrachteten beschränkenden Verhaltensweisen, den sogenannten Beschränkungsstrategien. Ohne sich hier bereits in Detailprobleme verstricken zu wollen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre Relevanz zeigen, sollen kurz die von den Unternehmen im Wettbewerb verfolgbaren Strategien vorgestellt werden, um einen Überblick über die Regelungsmaterie zu ermöglichen: Es sind dies die Verhandlungs-, die Behinderungs- und die Konzentrationsstrategien IO . Unter die Verhandlungsstrategien können alle Formen der Zusammenarbeit oder Übereinkünfte weiterhin rechtlich selbständiger Unternehmen zusammengefaßt werden, welche die Hand7 Vgl. dazu lmmanga/Mestmäcker in: lmmenga/Mestmäcker; GWB, 2. Aufl., Einleitung Rn. 5 f.; zur KartVO 1923 und der sich 1933 anschließenden Zwangskartellierung vgl. auch F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 12 ff. 8 Vgl. F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 18 ff.; weitere Grundlage für das folgende deutsche Kartellrecht war der Gesetzentwurf eines Sachverständigenausschusses 1949 an den Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in Frankfurt, Ludwig Erhard. der sog. losten-Entwurf; dazu E. Günther; Die geistigen Grundlagen des losten-Entwurfs, in: Festschrift-Böhm (1975), S. 183 ff. 9 Vgl. nur F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 6 Rn. 32 ff.; darauf wird im zweiten Teil noch näher einzugehen sein, da es auch Autoren gibt, die ein positive Definition für notwendig und auch formulierbar halten. 10 Vgl. zu dieser Systematik nur I. Schmidt. Wettbewerbstheorie und Kartellrecht, S. 188, und zu den einzelnen Strategien: S. 119 ff. (Verhandlungsstrategie ), 126 ff. (Behinderungsstrategie), 134 ff. (Konzentrationsstrategie); andere Systematisierungen sind denkbar, jedoch erscheint diese für den Zweck einer Strukturierung der Regelungsmaterie sinnvoll, da für alle Verbotsnormen, die Strafrechtsnormen zugrunde liegen, notwendig an das Verhalten des Adressaten angeknüpft werden muß. Im Kontext der Arbeit erscheint dieser Blickwinkel daher geeignet.
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Teil 1: Grundlagen
lungs- oder Entschließungsfreiheit der Beteiligten (durch kollusives Zusammenwirken) im Hinblick auf einen oder mehrere Aktionsparameter (Preis, Konditionen, Qualität etc.) einschränken. Die Behinderungsstrategien zeichnen sich dadurch aus, daß Einzelunternehmen oder Unternehmensgruppen Verhaltensweisen an den Tag legen, die dazu geeignet sind, andere Teilnehmer auf den verschiedenen Wirtschaftsstufen (Mitwettbewerber, Lieferanten und Abnehmer) in ihrer Handlungs- oder Entschließungsfreiheit (einseitig) hinsichtlich eines oder mehrerer Aktionsparameter rechtlich oder faktisch zu beeinträchtigen. Ebenso werden aber Verhaltensweisen, die auch oder ausschließlich die Wirksamkeit des Wettbewerbsmechanismus beeinträchtigen, in dieser Fallgruppe zusammengefaßt. Als dritte Möglichkeit, den Wettbewerb zu beschränken, stehen den Unternehmen die sogenannten Konzentrationsstrategien offen. Konzentration als Prozeß ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die Zahl der selbständigen Unternehmen im Bezug auf einen relevanten Markt mit der Zeit verringert. Dabei kommt es auf die Unabhängigkeit der Unternehmen als individuelle Entscheidungsträger im Wettbewerbsprozeß an. Die Konzentration kann zum einen durch externes Wachstum in Form von Fusionen bedingt sein, zum anderen durch internes Wachstum eines Unternehmens. Hiermit hängt weiter das die Konzentration fördernde, freiwillige oder unfreiwillige Ausscheiden aus dem Markt zusammen, was jedoch im gegebenen Zusammenhang nicht als Unternehmensstrategie in Bezug auf die eigene Position in dem konkret zu betrachtenden Markt bezeichnet werden kann. Über die drei allgemeinen Formen der Beschränkungsstrategien hinaus ist es teilweise notwendig, weiter zu differenzieren: So wird ein Verhalten auch im Hinblick auf die Auswirkungen auf die verschiedenen Wirtschaftsstufen betrachtet. Dann kommt man zu den Kategorien der horizontalen, vertikalen und diagonalen Wettbewerbs beschränkungen. Von horizontalen Beschränkungen wird gesprochen, wenn sie von Unternehmen derselben Wirtschaftsstufe auf demselben potentiellen oder tatsächlichen, relevanten Markt vorgenommen werden. Vertikale Beschränkungen bestehen zwischen Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen, die dementsprechend in einem Käufer-Verkäufer-Verhältnis zueinander stehen. Diagonalität ist gegeben, wenn sich keine Überschneidungen der vorgenannten Art zwischen den beteiligten Unternehmen ergeben, so vor allem bei Konglomeraten. Teilweise wird eine Einordnung der Wettbewerbsbeschränkungen auch danach vorgenommen, ob sie durch einen Zustand oder eine Maßnahme bewirkt werden 11. Dies würde bedeuten, daß von per se wettbewerbsbeschränkenden Marktstrukturen gesprochen werden könnte, was jedoch empirisch nicht zu belegen ist 12. Vielmehr begünstigen bestimmte Strukturen das Auftreten tatsächlich beschränkender Stra11 Vgl. diese Kategorie bei F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 52 m. w. N., der sie jedoch als zu grob ablehnt und im übrigen die Möglichkeit einer neutralen Kategorisierung verneint. 12 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 73 ff., 92 ff.
§ I Kartellrecht und KarteIlrechtsverstöße nach geltendem Recht
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tegien bzw. lassen verschiedene Verhaltensweisen in einem kritischeren Licht erscheinen. Insoweit sollte von wettbewerbsgefährdenden Marktstrukturen geredet werden 13. 11. Die Systematik des G WB
Aufbauend auf diesen Grundbegriffen kann nun das GWB dargestellt werden. Der Gesetzgeber des GWB hat zunächst einen anderen Weg als z. B. der Gesetzgeber des UWG eingeschlagen und keinen Ansatz über Generalklauseln etwa im Sinne von § 1 UWG gewählt. Eine solche Konzeption hätte den sehr verschiedenen Formen der Wettbewerbsbeschränkungen auch nur schwer gerecht werden können. Dazu würde sie eine mit sehr umfänglichen Kompetenzen ausgestattete Kartellbehörde bedingen und insofern das deutsche Rechtssystem mit seinen Verfahrensgarantien einerseits aber auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsnormen andererseits vor schwerwiegende Probleme stellen. Daß dies dennoch praktisch möglich ist, zeigen das EU- und das US-amerikanische Recht. Hierauf wird noch weiter unten einzugehen sein. Das GWB beinhaltet ein sehr ausdifferenziertes - und nach der 6. Novelle auch weitgehend systematisches - Regelwerk mit auf die verschiedenen Beschränkungsformen angepaßten Tatbeständen und einem ebenfalls vielgestaltigen Rechtsfolgensystem: Dabei befinden sich alle Ge- und Verbotstatbestände im ersten Teil des GWB. Im ersten Abschnitt dieses Teils sind die Regelungen zu den horizontalen Beschränkungsstrategien, also den ,Kartellvereinbarungen, Kartellbeschlüssen und sonstigen abgestimmten Verhaltensweisen' (§§ 1-13 GWB) niedergelegt, im zweiten Abschnitt diejenigen zu den vertikalen Beschränkungsstrategien, den ,Vertikalvereinbarungen' (§§ 14-18 GWB)14. Der dritte Abschnitt regelt die Mißbrauchsaufsicht über marktrnächtige Unternehmen, befaßt sich also mit den verschiedenen Behinderungsstrategien. Dabei unterscheidet das Gesetz zwischen einem allgemeinen (§ 19 GWB) und verschiedenen besonderen Tatbeständen, wie Diskriminierung (§ 20 GWB), unbillige Behinderung (§ 21 GWB), Boykott und sonstiges wettbewerbsbeschränkendes Verhalten (§ 21 GWB) und dem Empfehlungsverbot (§ 22 GWB), von dem durch die Regelung zu den unverbindlichen Preisempfehlungen bei Markenwaren eine Ausnahme zugelassen ist (§ 23 GWB). Der vierte Abschnitt befaßt sich mit den Wettbewerbsregeln (§§ 24-27 GWB) und der fünfte mit den - durch die 6. Novelle stark reduzierten - Ausnahmebereichen für einzelne Wirtschaftszweige (§§ 28-30 GWB). Die Konzentrationsstrategien werden im siebenten Abschnitt erfaßt. Der sechste Abschnitt ist zwar überDazu unten § 5 III. f. ausführlicher. Die Aufteilung in Horizontal- und Vertikalvereinbarungen ist nicht vollständig, denn es sind auch Konstellationen denkbar, bei denen eine Vertikalvereinbarung unter § 1 GWB fällt, eine Horizontalvereinbarung unter § 14 ff., vgl. Immenga/Mestmäcker in: Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl., Einleitung Rn. 10. 13 14
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Teil 1: Grundlagen
schrieben mit ,Sanktionen', enthält aber tatsächlich nur Regeln zur Untersagung und Mehrerlösabschöpfung durch die Kartellbehörden und zum zivilrechtlichen Schadensersatz- und Unterlassungsanspruch. Das Ordnungswidrigkeitenrecht der Kartelldelikte ist - unsystematisch - im dritten Teil ,Verfahren' zusammen mit allgemeinen Verfahrensregeln und z. B. der Beschwerde gegen Verfügungen der Kartellbehörden geregelt. Der zweite Teil des GWB enthält Regelungen zu den Kartellbehörden, der vierte das öffentliche Vergaberecht, dessen Gemeinsamkeit mit den Regelungen des Kartellrechts darin gesehen werden kann, daß es versucht, den Wettbewerb von Verzerrungen durch den in vielen Bereichen dominanten öffentlichen Auftraggeber freizuhalten. Als besonderes Verfahrensrecht, das darüber hinaus auch andere Zielrichtungen - z. B. echte Mittelstandsförderung - verfolgt, stellt es jedoch kein Kartellrecht im eigentlichen Sinne dar 15 .
III. Regelungen des GWB im einzelnen 1. Verbot der Wettbewerbsbeschränkungen durch horizontale Absprachen (§§ 1- 13 GWB) und Wettbewerbsregeln (§§ 24 - 27 GWB)
Die Regelung des § I GWB stellt ein grundsätzliches Verbot von Kartellvereinbarungen, Kartellbeschlüssen und sonstigen abgestimmten Verhaltensweisen ("Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken", vgl. § 1 GWB) auf, das aber durch verschiedene Ausnahmebereiche der folgenden Paragraphen durchbrochen wird: Nach der 6. Novelle fallen hierunter noch die Normen- und Typenkartelle und Konditionenkartelle (§ 2 GWB), Spezialisierungskartelle (§ 3 GWB), Mittelstandskartelle (§ 4 GWB), Rationalisierungskartelle (§ 5 GWB) und Strukturkrisenkartelle (§ 6 GWB). Der Bundeswirtschaftsminister kann gern. § 8 GWB eine Erlaubnis für weitere Kartelle erteilen, wenn dies aus Gründen des überwiegenden Gemeinwohls notwendig ist. Die Bedeutung dieser - bereits im alten GWB enthaltenden - Regelung ist gering, lediglich vier Kartelle wurde seit 1958 (Beginn der Arbeit des Kartellamtes) genehmigt. Zusätzlich wurde im neuen GWB mit dem § 7 GWB die Möglichkeit eröffnet, eine Erlaubnis auch für andere Kartelle als die in §§ 2 - 6 GWB genannten durch das Bundeskartellamt unter näher festgelegten Voraussetzungen zu erreichen. Die freizustellenden Vereinbarungen oder Beschlüsse müssen zu der Entwicklung, Erzeugung, Verteilung, Beschaffung, Rücknahme oder Entsorgung von Waren oder 15 Vgl. dazu kritisch M. Dreher, Das GWB als Magna Carta des Wettbewerbs oder als Einfall tor politischer Interessen, Wu W 1997, S. 95 ff.
§ 1 Kartellrecht und Kartellrechtsverstöße nach geltendem Recht
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Dienstleistungen beitragen, wobei die Verbraucher an dem entstehenden Gewinn 16 angemessen beteiligt werden müssen; die Verbesserung darf nicht auf andere Weise zu erreichen sein und es muß ein angemessenes Verhältnis zwischen den Vorteilen und der Wettbewerbsbeschränkung bestehen; schließlich darf es nicht zu der Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung kommen; soweit die §§ 2 Abs. 2 und §§ 3 - 5 GWB eingreifen, sind diese speziell und eine Freistellung kann nur nach deren Maßstäben erfolgen, § 7 Abs. 2 GWB. Es handelt sich aufgrund der verschiedenen Einschränkungen nicht um eine neue Generalklausei, da insbesondere keine Berücksichtigung von Gemeinwohlinteressen wie bei § 8 GWB möglich ist 17 . Die Ausnahmebereiche sind unterschiedlich als Erlaubnis- oder Widerspruchskartelle geregelt, d. h. zu ihrem Abschluß bzw. ihrer Praktizierung ist entweder eine ausdrückliche (zeitlich befristete) Erlaubnis notwendig oder es genügt, daß die Kartelle angemeldet werden und das Bundeskartellamt nicht binnen einer Frist von drei Monaten widerspricht, § 9 GWB I8 . Eine Ausnahmestellung nehmen hier die Einkaufskooperationen gern. § 4 Abs. 2 GWB ein, die lediglich angemeldet werden müssen und dann einer Mißbrauchsaufsicht unterliegen, § 9 Abs. 4 GWB. Ebenfalls unter die horizontalen Beschränkungen fallen die Wettbewerbsregeln von Wirtschafts- und Berufsvereinigungen, die unter den Voraussetzungen der §§ 24 - 27 GWB zulässig sind. Wettbewerbsregeln können sich auf das gesamte Verhalten von Unternehmen am Markt beziehen l9 . Zulässig sind sie, wenn sie objektiv dem Zweck dienen, "einem den Grundsätzen des lauteren oder der Wirksamkeit eines leistungsgerechten Wettbewerbs zuwiderlaufenden Verhalten im Wettbewerb entgegenzuwirken", vgl. § 24 Abs. 2 GWB 20 . Falls die Wettbewerbsregeln in den Anwendungsbereich von § 1 oder § 22 GWB fallen, können sie durch eine - auch darüber hinaus mögliche - Anerkennung von Seiten des Bundeskartellamtes von diesen Regelungen ausgenommen werden, §§ 24 Abs. 3, 26 GWB 21 .
2. Verbot der Wettbewerbsbeschränkungen durch vertikale Absprachen (§§ 14 -18 und 22,23 GWB)
Der zweite Abschnitt des 1. Teils des GWB enthält ein grundsätzliches Verbot von Inhaltsbindungen in Form von Preis- und Konditionenbindungen (§ 14 GWB), 16 Der Begriff Gewinn ist nicht betriebswirtschaftlieh zu verstehen, sondern im Sinne von allgemeinem Erfolg bzw. Vorteil, vgl. H. J. Bunte in: FK-GWB, § 7 GWB 1999 Rn. 37 ff. 17 Vgl. H.-J. Bunte, in: FK-GWB, § 7 GWB 1999 Rn. 3. 18 Vgl. F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 8 Rn. 27 ff., 66 ff. 19 Vgl. Langen ! Bunte ! Schultz, Kartellrechts-Kommentar, § 24 Rn. 4. 20 Vgl. nur Langen ! Bunte ! Schultz, Kartellrechts-Kommentar, § 24 Rn. 10 ff., 21 ff. 21 Zu den Einzelheiten und der Differenzierung zwischen Anerkennung einerseits und Freistellung andererseits, vgl. nur Langen! Bunte! Schultz, Kartellrechts-Kommentar, § 26 Rn. 3 ff.
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Teil 1: Grundlagen
das jedoch durch den Ausnahmebereich der Buchpreisbindung durchbrochen wird (§ 15 GWB). Andere vertikale Wettbewerbsbeschränkungen, d. h. solche, die auf eine Beschränkung der Abschlußfreiheit abzielen, sind nach deutschem Recht grundsätzlich erlaubt, unterliegen jedoch einer Mißbrauchsaufsicht nach § 16 GWB, die dem Bundeskartellamt in schwerwiegenden Fällen die Möglichkeit zum Einschreiten einräumt, so vor allem bei Verwendungs-, Ausschließlichkeits-, Vertriebs- und Kopplungsbindungen. Im zweiten Abschnitt sind darüber hinaus noch ausführliche Regelungen für Verträge über Lizenzen und andere Schutzrechte enthalten (§§ 17 und 18 GWB), denen jedoch aufgrund des Vorranges des europäischen Rechtes keine große Bedeutung mehr zukommt 22 . In die Kategorie der vertikalen Kooperationsstrategien gehören weiter die Empfehlungen, so daß hier auch die Regelung des § 22 GWB mit seinem grundsätzlichen Empfehlungsverbot (inklusive eines Umgehungsverbotes für Empfehlungen, § 22 Abs. 1 GWB) und seinen Ausnahmen für Mittelstandsempfehlungen (§ 22 Abs. 2 GWB), sowie bestimmte Empfehlungen von Wirtschafts- und Berufsvereinigungen (§ 22 Abs. 3 Nr. 2 GWB) und die Erlaubnis für unverbindliche Preisempfehlungen für Markenwaren (§ 23 GWB) zu nennen sind. 3. Allgemeines Verbot des Mißbrauchs von Marktmacht (§ 19 GWB)
Das GWB richtet sich nicht - durch z. B. Entflechtungsmaßnahmen - gegen das interne Wachstum von Unternehmen, dessen letztlich notwendige Konsequenz das Entstehen von marktbeherrschenden Positionen einzelner Unternehmen sein muß. Dies ist u. a. im US-amerikanischen Kartellrecht vorgesehen 23 . Der Begriff ,Marktmacht' , der später noch präziser zu fassen sein wird, soll zunächst als besondere (kritische) Überlegenheit eines Unternehmens gegenüber anderen begriffen werden, ohne Rücksicht auf die zugrunde liegenden Ursachen. Die Überlegenheit findet darin ihren Ausdruck, daß es dem entsprechenden Unternehmen möglich ist, seine Umwelt nach seiner Zielvorstellung zu beeinflussen. Marktmächtige Unternehmen neigen - natürlicherweise - dazu, ihre potentielle Stärke auch einzusetzen. Dies kann jedoch in der Konsequenz zu einer teil weisen bis sogar vollständigen Aufhebung der Vertragsfreiheit schwächerer Unternehmen führen, soweit diese auf den Austausch mit den marktbeherrschenden Unternehmen angewiesen sind. Klassisches Beispiel sind hier die Automobilzulieferer, die regelmäßig eng an einen Automobilhersteller gebunden sind und häufig nur noch die Funktion einer "verlängerten Werkbank"ausüben können. Betroffen sein können allgemein die Freiheit zum Abschluß eines Vertrages oder dessen Inhaltsbestimmung. Seit dem ursprünglichen Inkrafttreten des GWB 1958 sind Regelungen einer Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen im Gesetz enthalten, 22 23
Vgl. nur F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 9 Rn. 61 ff. Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 242 ff.
§ 1 Kartellrecht und Kartellrechtsverstöße nach geltendem Recht
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die das Ausnutzen der erlangten Marktrnacht untersagen. Dabei ist keine positive Definition von Mißbrauch gegeben, sondern in § 19 Abs. 4 GWB eine Reihe von Beispielsfällen aufgeführt24 : ungerechtfertigte Behinderung einzelner Wettbewerber, Festsetzung von (im Vergleich zu fiktiv gebildeten Vergleichsmärkten) erhöhten Preisen, ungerechtfertigte Preisspaltung gegenüber einzelnen Abnehmern und - seit der 6. Novelle - das Verweigern des Zugangs zu Netzen und anderen Infrastruktureinrichtungen, die zur Teilnahme am Wettbewerb unerläßlich ist. § 19 GWB wendet sich insofern sowohl gegen den Behinderungsmißbrauch auf gleicher Wirtschafts stufe (z. B. mit der neu eingeführten sog. ,essential facilities doctrin' des Absatz 4 Nr. 4) als auch gegen den Ausbeutungsmißbrauch gegenüber Teilnehmern auf vor- bzw. nachgelagerten Wirtschaftsstufen (z. B. durch das Ansetzen überhöhter Preise). Entgegen der Intuition des Gesetzgebers von 1957, für den das allgemeine Verbot des Mißbrauches von Marktrnacht ein zentraler Bestandteil des GWB war, hat das Verbot keine große (meßbare) praktische Bedeutung erlangt25 . Die Gründe werden vor allem in dem Umstand gesehen, daß die Fusionskontrolle viele potentielle Anwendungsfälle im Vorfeld regelt, die besonderen Regeln der §§ 20 f. GWB eher eingreifen, es im internationalen Wettbewerb zunehmend schwieriger wird, eine solche marktbeherrschende Stellung zu erlangen und sie ggf. nachzuweisen und letztlich auch die Anwendung der maßgebenden Rechtsbegriffe Schwierigkeiten bereitet26 . 4. Verbot bestimmter Fälle des Behinderungsmißbrauchs (§§ 20-21 GWB)
Neben der allgemeinen Kontrolle des Mißbrauchs von Marktrnacht sind die Einzeltatbestände zum Behinderungsmißbrauch von Bedeutung. Marktbeherrschenden Unternehmen und Kartellen und preisbindenden Unternehmen ist gern. § 20 Abs. 1 GWB verboten, andere Unternehmen unbillig zu behindern oder andere gleichartige Unternehmen ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich zu behandeln, also zu diskriminieren. Beide Alternativen richten sich sowohl gegen unmittelbare als auch mittelbare Verhaltensweisen. Während jedoch der erste Fall primär auf den Wettbewerb zwischen Wettbewerbern einer Stufe abzielt, soll der zweite Fall vor allem Unternehmen auf vor- und nachgelagerten Wirtschaftsstufen schützen27 • § 20 GWB richtet sich an verschiedene Formen marktstarker Unternehmen, so erstreckt Abs. 2 das Verbot des Abs. 1 auch auf relativ marktstarke Unternehmen, d. h. solche, von denen kleinere Unternehmen abhängig Vgl. hier nur H.-c. Leo, in: GK-GWB, § 19 Rn. 95 ff. Vgl. F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 10 Rn. 1 ff.; zu den statistischen Angaben: H.-c. Leo in: GK-GWB, § 19 Rn. 25. 26 Vgl. H.-c. Leo in: GK-GWB, § 19 Rn. 25 ff. 27 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 203. 24 25
3 Kohlhoff
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sind. Die Regelung des § 20 GWB erfaßt damit einen weiteren Adressatenkreis, umschreibt jedoch einen engeren Bereich verbotenen Verhaltens als § 19 Abs. 1 GWB 28 . Die Bedeutung der Norm liegt überwiegend im Bereich der zivilrechtlichen Anspruchsverfolgung betroffener Unternehmen nach § 33 GWB 29 . Die Regelung des § 21 Abs. 1 GWB setzt ein Verbot von Liefer- und Bezugssperren für den Fall, daß sie in der Absicht unbilliger Behinderung geschehen. Die Abs. 2 und 3 verbieten darüber hinaus verschiedene Arten der Ausübung von Zwang (z. B. durch Drohung) und Lockung (z. B. durch Vorteilsversprechung) zur Erreichung von wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen anderer Marktteilnehmer. 5. Fusionskontrolle (§§ 35 -43 GWB)
Hinsichtlich der Bildung von Marktrnacht war durch das GWB ursprünglich nur eine Anzeigepflicht gegenüber dem Bundeskartellamt für Zusammenschlüsse vorgesehen, so daß der Konzentration und der Bildung von Marktrnacht keine Grenzen gezogen waren. Die deutsche Wirtschaft war jedoch als Konsequenz der alliierten Dekartellierungsgesetze weitgehend dezentralisiert 3o . Nur der Mißbrauch von Marktrnacht wurde von Anfang an bekämpft. Regelungen zum internen Wachstum von Unternehmen in der Art von Entflechtungsmöglichkeiten hat der Gesetzgeber bis heute nicht vorgesehen 31 • Schließlich wurde aber 1973 mit der zweiten Novelle des GWB die Fusionskontrolle eingeführt, um die mittels externen Wachstums betriebenen Konzentrationsstrategien von Unternehmen zu kontrollieren 32 . Die Fusionskontrolle ist nach der 6. Novelle nunmehr in einem eigenen Abschnitt, in den §§ 35 - 43 GWB, niedergelegt. Wichtigste Neuerung der Novelle war die Einführung einer einheitlich-präventiven Kontrolle und die Einführung einer Drittklagebefugnis vor allem bei Freigabeentscheidungen, da es nunmehr eine förmliche Freigabeentscheidung der Kartellbehörden gibe 3 . Ein Zusammenschluß, wie er in § 37 GWB definiert ist, fällt in den Bereich der Fusionskontrolle, wenn er die in § 35 Abs. 1 GWB niedergelegten Umsatzschwellwerte überschreitet und die Toleranzklausel des § 35 Abs. 2 GWB nicht erfüllt. Die Kartellbehörde untersagt den Zusammenschluß, wenn er zur Schaffung oder Verstärkung einer marktVgl. S. Rixen, in: FK-GWB, § 20 GWB 1999 Rn. 13. Vgl. S. Rixen, in: FK-GWB, § 20 GWB 1999 Rn. 3. 30 Vgl. dazu nur F. Rittner; Wirtschaftsrecht, § 1 Rn. 20 ff. rn. w. N. 31 Zu anderen Rechtsordnungen vgl. nur den Überblick bei F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 13 Rn. 9 ff. rn. w. N. 32 Vgl. Langen/Bunte/ Ruppelt, Kartellrechts-Kornrnentar, § 35 Rn. 1 zu der Vorgeschichte der Novelle 1973 und der Folgeentwicklung. 33 Vgl. dazu näher Langen/Bunte/ Ruppelt, Kartellrechts-Kornrnentar, § 35 Rn. 3, § 39 Rn. 1. 28 29
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beherrschenden Stellung (i. S. v. § 19 Abs. 2 S. 1 oder 2 GWB) dient und die fusionierenden Unternehmen nicht nachweisen können, daß auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen zu erwarten sind, welche die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen (§ 36 GWB).
IV. Ausnahmebereiche (insbesondere §§ 28 - 31 GWB) Wie jedes Kartellgesetz verfügt auch das GWB über eine Mehrzahl von Ausnahmebereichen. Für die Begründung von Ausnahmebereichen gibt es unterschiedliche Gründe, vor allem politische und ökonomische; die Ausnahmebereiche des GWB werden überwiegend als politisch begründet angesehen 34 . Auch darauf wird später zurückzukommen sein, weil sich aus der Tatsache der Existenz bestimmter Ausnahmebereiche möglicherweise Argumente gegen eine zu hohe Einschätzung eines Rechtsgutes ,Wettbewerb' herleiten lassen. Mit der 6. Novelle 1998 ist ihre Zahl und ihr Umfang stark reduziert worden, so daß nur noch vier Vorschriften spezielle Regelungen für die Landwirtschaft, die Kredit- und Versicherungswirtschaft, die Urheberrechtsverwertungsgesellschaften und (neu und sehr umstritten) die Sportverbände vorsehen. Darüber hinaus gibt es allerdings in anderen Vorschriften des Besonderen Wirtschaftsrechts noch Regelungen für die Land- und Forstwirtschaft, die Verkehrswirtschaft, die Telekommunikation und die Energiewirtschaft35 . In allen Fällen geht es aber nur um einzelne Vorschriften des GWB, die von der Anwendung für die genannten Bereiche ausgenommen werden 36 .
V. Gesetzestechnik des GWB 1. Grundsätzliche Möglichkeiten des Gesetzgebers
Der Ausgangspunkt jedes Kartellgesetzes ist die Einbeziehung der wettbewerbstheoretischen Erkenntnisse in die Konzeption des Gesetzgebers unter Herausbildung eines eigenen Leitbildes seiner Wettbewerbspolitik. Je nach Ausformung des wettbewerbspolitischen Leitbildes variiert somit auch die Sicht bzw. Bewertung der einzelnen wettbewerbsbeschränkenden Strategien, die gesetzlich erfaßt und gegebenenfalls verhindert werden sollen. Dem Gesetzgeber steht auf theoretischer bzw. wettbewerbspraktischer Ebene grundsätzlich eine Mehrzahl verschiedener Konzepte zur konkreten Erfassung bzw. Verhinderung dieser Verhaltensweisen der 34 Vgl. hier nur F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 6 Rn. 72 ff.; ausführlich zu diesem Komplex auch V. Emmerich, Kartellrecht, § 29. 35 Für die Nachweise zu den Gesetzesangaben, vgl. F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 6 Rn. 84 ff. 36 Zu den Einzelheiten vgl. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 173 ff.; zu den Gründen auch F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 6 Rn. 76 m. w. N.
3*
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Teil 1: Grundlagen
Marktteilnehmer offen - auch wenn sich hier (ebenso) aus dem zugrundeliegenden Leitbild eine Weichenstellung ergibt. Allgemein wird versucht, sich dem Wettbewerb zu nähern, indem ihm verschiedene Funktionen / Ziele zugeschrieben werden, wobei die Bewertung und Gewichtung von Theorie zu Theorie variiert und auch die daraus zu ziehenden Konsequenzen sich unterscheiden. Bei den Funktionen handelt es sich zunächst um ökonomische: um die leistungsgerechte Einkommensverteilung, optimale Angebotszusammensetzung, optimale Faktorallokation, Anpassungsflexibilität und Stimulation des technischen Fortschritts3? Darüber hinaus wird dem Wettbewerb das metaökonomische Ziel der Sicherung der Freiheit im Wettbewerb, also letztlich der wirtschaftlichen Freiheit zugeschrieben, die wiederum eng mit der freiheitlichen Struktur unserer Gesellschaft verbunden ise 8 . Ein Hauptanliegen der verschiedenen Theorien ist es, den Ziel- oder den Mittelcharakter des Wettbewerbs zu zeigen und darzulegen, warum entweder der Wettbewerb nur Mittel zum Zweck sein kann oder warum er gerade auch selbst Ziel sein muß 39 . Man kann den Wettbewerb - als (komplexes) System in Form einer spontanen Ordnung (Katalaxie)4o - grundsätzlich unter dem Aspekt der am Ende stehenden Wirkungen, der zu diesen führenden Prozesse bzw. Abläufe oder der diesen wiederum zugrunde liegenden Voraussetzungen betrachten41 . Das komplexe System kann auch als Prozeß i. w. S. bezeichnet werden und ist dann von dem Prozeß i. e. S. - den Abläufen - zu unterscheiden. Die Wirkungen werfen die Frage nach den Marktergebnissen auf, die Prozesse führen zu einer Betrachtung der Marktverhaltensweisen und die Voraussetzungen rücken zunächst die Marktstrukturen ins Blickfeld. An jeden dieser Punkte kann nun theoretisch angeknüpft werden, um sich ein Verständnis des Wettbewerbs und damit vom Charakter seiner Beschränkungen zu verschaffen. Die Entscheidung für einen oder mehrere dieser Anknüpfungspunkte bestimmt im weiteren maßgeblich die Gestalt einer Wettbewerbstheorie hinsichtlich der Ziele, der status quo-Diagnose und der empfohlenen Maßnahmen zur Zielerreichung (Zielbestimmung, Diagnose, Therapie)42. Je nachdem, von welcher Stufe ausgegangen wird, werden sich Ziel, Diagnose und Therapie unterscheiden. In den verschiedenen Theorien werden die Punkte in unterschiedlicher Kombination verknüpft. Es wird jedoch im 2. Teil der Arbeit gezeigt werden, daß bestimmte Konzeptionen nicht zu halten sind und im wesentlichen an den Prozeß des Wettbewerbs und dessen Voraussetzungen angeknüpft werden muß. 37 Vgl. I. Schmidt. Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 28; K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 16 ff. 38 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 12 ff. 39 Vgl. dazu l. Schmidt. Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S 32 ff. 40 Vgl. zu diesem Begriff F. A. v. Hayek. Theorie komplexer Phänomene, passim; ders. auch: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 60 ff., Bd. 2, S. 149 ff.; dazu auch unten § 51.3. 41 Vgl. dazu K. Herdzina. Weubewerbspolitik, S. 10 f. 42 Vgl. dazu ausführlich K. Herdzina. Weubewerbspolitik, S. 47 ff.
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Die in der Wissenschaft vertretenen Realtheorien43 können zwischen zwei denkbaren theoretischen Idealpositionen eingeordnet werden: dabei können entweder nur die ökonomischen Funktionen in den Mittelpunkt gestellt werden oder die Sicherung der Freiheit im Wettbewerb als letztlich primäre Aufgabe gesehen werden (unter der Prämisse, daß sich dann die ökonomischen Vorteile von selbst einstellen). Das Wissen um die Einordnung eines Gesetzes zwischen diesen beiden Typen ist bedeutsam: Wie bereits von Erich Hoppmann nachgewiesen wurde44 , hängt die zu wählende Gesetzeskonzeption maßgeblich von dem grundsätzlichen theoretischen Ansatz ab45 . Die theoretische Orientierung des Gesetzgebers ist nicht die einzige bestimmende Größe eines Kartellgesetzes. Der Kartellrechtsgesetzgeber wird neben den ökonomischen und anderweitigen politischen Zielsetzungen ganz wesentlich durch wirtschaftsrechtliche Grundgedanken motiviert. Wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen sind die notwendige Kehrseite der Privatautonomie: Ist jedem einzelnen Vertragsfreiheit eingeräumt, so gibt man ihm zugleich die Möglichkeit an die Hand, Verträge über den Ausschluß der Privatautonomie einzugehen oder anderen zu diktieren46 . Die Privatautonomie beinhaltet auch die Kapazität zu ihrer eigenen Aufhebung. Dem Wettbewerb wird nun zusammen mit der Privatautonomie die Stellung eines rechtlichen Ordnungsprinzips für unsere durch Freiheit und Gleichheit aller Rechtspersonen gekennzeichnete Verfassung zugesprochen 47 • Auf diese Zusammenhänge, deren Berührung mit der Freiheitsfrage sich aufdrängt, wird später noch detailliert einzugehen sein. Schließlich fließt neben Konsequenzen bestimmter definierter Zielsetzungen auch in unterschiedlichem Ausmaß wirtschaftspolitischer Pragmatismus in die Gestaltung der Kartellgesetze mit ein. Hier sollte jedoch die Frage gestellt werden, inwieweit tatsächlich pragmatisch gehandelt und nicht doch bestimmten, lediglich nicht offengelegten Maximen gefolgt wird48 . 43 Die auch heute noch bestimmenden Einflüsse gehen von der Harvard-School, dem Neoklassischen Ansatz und der Chicago-School aus (vgl. dazu I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 11 ff.). Während Vertreter des ersten Ansatzes von klar forrnulierbaren Ziel systemen ausgehen und auf entsprechend weitreichende staatliche Politik zu deren Verfolgung setzen, postulieren letztere nur die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt und vertrauen hierfür auf die Mechanismen und Selbstheilungskräfte des Marktes. Die Neo-Klassik wiederum geht von der Wettbewerbsfreiheit als letztem Ziel aus und denkt den Wettbewerb als offenes System ohne Vorhersagbarkeit der Ergebnisse; demgemäß wird die Möglichkeit einer im Einzelnen klar definierten staatlichen Politik abgelehnt, aber die Aufstellung allgemeiner Verhaltensregeln gefordert, die das System sichern. 44 Vgl. E. Hoppmann in: ders./E.-J. Mestmäcker; Normzwecke und Systemfunktion, S. 5 ff. 45 Das erlaubt dementsprechend den Umkehrschluß, daß eine konkrete Gesetzeskonzeption Rückschlüsse auf die Einstellung zu wettbewerbstheoretischen Positionen zuläßt. 46 Vgl. zu den historischen Bezügen W Strauß, Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit, in: Festschrift-Böhm (1975), S. 603 ff. 47 Vgl. F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 41 f.
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Teil I: Grundlagen
Ingo Schmidt differenziert hinsichtlich der grundsätzlichen Konzeption von Kartellgesetzen vier Ansätze: einen ,laissez-faire approach" einen ,structure approach', einen ,regulation approach' und einen ,ownership approach,49. Der ,laissez-faire approach' vertraut auf ein Wohlverhalten der mächtigen Unternehmen im Markt und setzt auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Der ,structure approach' setzt auf die Aufrechterhaltung bzw. Schaffung kompetitiver Marktstrukturen durch Fusionskontrolle und Entflechtungsregelungen. Verbote bestimmter anderer Verhaltensweisen oder eine Mißbrauchsaufsicht sind nach diesem Ansatz weitgehend überflüssig. Der ,regulation approach' nimmt Konzentration und den Wettbewerb beschränkende Strategien mit der Folge der Herausbildung von überproportionaler Marktrnacht zunächst in Kauf, setzt dann aber auf eine ex-post-Korrektur der Ergebnisse durch den Staat (z. B. durch die Festlegung von Preisen). Der vierte Ansatz, der ,ownership approach', wählt den Weg einer Verstaatlichung. Hier wird die Gefahr der Interessenkollision und -kollusion auf Seiten der Handlungsverantwortlichen gesehen, die regelmäßig Staats-, Partei- und / oder Gewerkschaftsfunktionäre sein oder zumindest in enger Verbindung zu den außenstehenden Managern stehen werden. Diese sehr grobe Einteilung ist allerdings von geringem praktischen Wert. Ganz abgesehen davon, daß dem letztgenannten Ansatz naturgemäß die sehr schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen jede Form der Verstaatlichungspolitik entgegenstehen, stellt er gerade eine Fallkonstellation dar, in der bewußt auf den Wettbewerb verzichtet wird, insofern kaum mehr von einem Kartellrecht als einem Wettbewerbsschutzrecht gesprochen werden kann. Aber auch die anderen Positionen erhellen den Hintergrund der Gesetzeskonzeption - und der liegt nun einmal in dem Zusammenwirken von (nicht notwendig nur Wettbewerbs-) Theorie und Praxis - eigentlich nicht. Die grundsätzlichen Richtungen können jedoch auch einer weitergehenden Kritik unterzogen werden, die alle Ansätze trifft, die sich entsprechend einseitig festlegen. Beide Grundannahmen des ,laissez-faire approach' sind in dieser absoluten Form aufgrund empirischer Erkenntnisse nicht zu halten. Der ,structure approach' sieht sich dem Problem der schwierigen Beurteilung von Fusionen und einer geringen Praktikabilität von Entflechtungen ausgesetzt. Der ,regulation approach' wird ebenfalls aufgrund seiner mangelnden Praktikabilität, darüber hinaus aber vor allem wegen der Gefahr des Dirigismus kritisiert. Gänzlich zu kurz kommt die Differenzierung zwischen den Möglichkeiten eines Anknüpfens an die Voraussetzungen des Wettbewerbs und / oder die wett48 Vgl. zu diesem "Pragmatismus": F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 38 ff., unter Hinweis auf die hiermit verbundenen Gefahren, z. B. die Gefahr der Einschleusung einer Wirtschaftslenkungspolitik mittels Ausweitung der Einzelfallgewichtungsund entscheidungskompetenz der Kartellbehörden; eine solche Gestaltung des Kartellrechts muß aber zumindest von einer halbwegs präzisen Prognostizierbarkeit von Marktergebnissen ausgehen. Dann handelt es sich aber nicht mehr um eine pragmatische Entscheidung. Darüber hinaus ist diese Grundannahme sehr fragwürdig (vgl. dazu unten § 5 I. 3.). 49 Vgl. im einzelnen: I. Schmidt, Wettbewerbstheorie und Kartellrecht, S. 153 ff.
§ 1 Kartellrecht und Kartellrechtsverstöße nach geltendem Recht
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bewerblichen Verhaltensweisen der Marktteilnehmer. Gerade die Untersuchung der Verhaltensweisen hat jedoch für die Gesetzeskonzeption eine große Relevanz (wie im GWB auch kaum zu übersehen ist), denn letztlich muß jede Wettbewerbspolitik akzeptieren, daß ein bestimmtes Maß an (Markt-) Macht zur wirtschaftlichen Realität zählt und insofern überwiegend auf das Verhalten und dessen Folgen geschaut werden muß. Daher wird im folgenden (insbesondere in Teil 2) an die Betrachtung des Wettbewerbs als Prozeß gedanklich angeknüpft. Ergiebiger ist eine andere Differenzierung Ingo Schmidts: Im Hinblick auf die grundsätzliche gesetzestechnische Konstruktion kann man danach zwischen drei verschiedenen dichotomischen Aspekten unterscheiden, die miteinander kombiniert werden50 : die Ausgestaltung einer Norm als sog. ,per se rule' oder sog. ,rule of reason', mit ex-ante-Kontrolle oder ex-post-Kontrolle durch die Kartellbehörden und unter Verteilung der Beweislast auf die Kartellbehörden oder auf die Unternehmen. Je nach wettbewerbstheoretischen Grundverständnis und der damit zusammenhängenden Bewertung der verschiedenen wettbewerbsbeschränkenden Strategien kommt man zu unterschiedlichen normativen Entwürfen. Am stärksten prägend für den Charakter einer Norm im Kartellrecht ist seine Konzeption als ,per se rule' oder als ,rule of reason'. Die ,per se rule' stellt ein Verbot auf, das zwar durch Ausnahmen gelockert sein kann, aber grundsätzlich so klare Vorgaben macht, daß die Kartellbehörden über keinen eigenen Bewertungsspielraum verfügen und somit den Unternehmen eine starke Rechtssicherheit garantiert ist. Eine Strafrechtsnorm nach traditionellem Verständnis im deutschen Rechtskreis entspricht diesem Bild wohl am deutlichsten. Nachteil ist allerdings ein gewisses Maß an Inflexibilität, das ein Eingehen auf den Einzelfall unter Umständen schwierig macht. Dies ist im Zweifel weniger problematisch als zunächst angenommen, da nach richtiger Ansicht eine Vorhersage über Wettbewerbsentwicklungen bezogen auf einen speziellen Fall kaum möglich ist. Die sog. ,rule of reason', die vor allem im amerikanischen Recht - auch Kartellstrafrecht - sehr verbreitet ist, bietet sich daher in den Fällen an, in denen von den (wettbewerbsbeschränkenden) Strategien der Unternehmen sowohl negative als auch positive Folgen ausgehen können. Hier wird der Behörde ein Ermessensspielraum eingeräumt, um Vor- und Nachteile entsprechend gegeneinander abzuwägen und dann im zu prüfenden Einzelfall - regelmäßig anhand spezifischer Kriterien ein Verbot zu verhängen. In der Praxis ist eine Klassifizierung jedoch nicht immer ganz einfach möglich.
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Vgl. I. Schmidt. Wettbewerbstheorie und Kartellrecht. S. 156 ff.
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Teil 1: Grundlagen
2. Der Weg des GWB
Der Gesetzgeber des GWB hat die einzelnen Verhaltensweisen recht unterschiedlich geregelt. Er hat für die horizontalen Verhandlungsstrategien der §§ 1 ff. GWB den Weg einer ,per se rule' mit einer ex-ante-Kontrolle gewählt. Die Beweislast obliegt dabei in der Regel den anmeldenden Unternehmen. Die Einkaufskooperationen unterliegen einer ex-post-Kontrolle. Die Wettbewerbsregeln der §§ 24 ff. GWB sind als ,rule of reason' mit einer ex-ante-Kontrolle konzipiert. Bei den Regelungen der §§ 14 ff. GWB zu den vertikalen Verhandlungsstrategien ist zu unterscheiden: Die Regelung des § 14 GWB inklusive ihres Ausnahmebereiches des § 15 GWB ist ebenfalls eine ,per se rule' mit ex post-Kontrolle. Die Mißbrauchsaufsicht des § 16 GWB im Rahmen der Vertikalbeschränkungen wiederum ist als ,rule of reason' mit ex-post-Kontrolle ausgestaltet. In beiden Fällen liegt die Beweislast bei den Kartellbehörden. Die Regelungen zu den Empfehlungen in den §§ 22 ff. GWB stellen ,per se Verbote' mit Ausnahmen dar, für die eine (in § 22 Abs. 4 und 5 GWB je nach Art unterschiedlich geregelte) Anmeldung erforderlich ist. Insofern liegt dann eine ex-post-Kontrolle vor. Hinsichtlich des Mißbrauchs von Marktmacht in § 19 GWB ist ein Weg gewählt worden, der de facto einer ,rule of reason' in Verbindung mit einer ex-post-Kontrolle gleichkommt; durch Schwierigkeiten einer klaren Definition von Mißbrauch bedingt ist in § 19 der Behörde durch den Einsatz von Regelbeispie1en eine Abwägung im Einzelfall ermöglicht, auch wenn hinsichtlich des Mißbrauchs in Abs. 1 eigentlich ein ,per se Verbot' gesetzt ist. Die Beweislast ist unterschiedlich verteilt. Die Oligopol vermutung des § 19 Abs. 3 GWB legt die (Gegen-)Beweislast den Unternehmen auf. Hinsichtlich des Mißbrauchs ist jedoch das Bundeskartellamt beweispflichtig. Die Behinderungsstrategien schließlich sind in den §§ 20 f. GWB als ,per se Verbote' ohne Ausnahmen ausgestaltet, die jedoch keiner besonderen institutionalisierten Kontrolle unterliegen.
VI. Fazit
Das Kartellrecht des GWB ist um den Schutz des Wettbewerbs vor schädigenden Verhaltensweisen bemüht. Dieses Ziel versucht es durch Identifizierung von schädigenden Verhaltensweisen zu erreichen. Dabei kann zur Systematisierung an den Dreierkanon möglicher Strategien der Unternehmen im Wettbewerb angeknüpft werden, um den Wettbewerbsdruck in ihrem eigenen Umfeld zu verringern bzw. den Wettbewerb ganz auszuschließen: Verhandlungs-, Behinderungs- und Konzentrationsstrategien. Ergebnis ist eine Mehrzahl von Verboten von Verhaltensweisen, die als eindeutig schädlich betrachtet werden. Hinsichtlich einiger anderer Verhaltensweisen, namentlich der Abschlußbindungen in vertikaler Richtung, kann sich das GWB zu einer solchen Betrachtungsweise nicht durchringen;
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sie unterliegen lediglich einer Mißbrauchsaufsicht, so daß ein bestimmtes Verhalten im Einzelfall von den Kartellbehörden durch eine Verfügung verboten werden kann. Internes Wachstum wird nicht behandelt, die Fusionskontrolle versucht jedoch das externe Entstehen von Marktrnacht durch Unternehmenszusammenschlüsse zu kontrollieren und gegebenenfalls durch Untersagung zu verhindern. Die Analyse zeigt mithin, daß das deutsche Kartellrecht einer Mehrzahl von Verhaltensweisen grundsätzlich ablehnend gegenübersteht und sie verbietet, eine Menge anderer Verhaltensweisen zumindest skeptisch beurteilt und sie einer Mißbrauchsaufsicht unterstellt; teilweise ist die Einrichtung dieser Aufsicht auch nur Ergebnis von Praktikabilitätserwägungen, da kein genügend präzises Kriterium zur Verfügung steht, um günstige bzw. neutrale Verhaltensweisen von schädlichen zu unterscheiden. Es sind somit klare Verbote von solchen Fällen zu trennen, in denen das Gesetz lediglich eine Reaktionsmöglichkeit der Kartellbehörden vorsieht. Das Gesetz arbeitet neben der Konzeption von Normen als sog. ,per se rule' oder ,rule of reason' noch mit einer unterschiedlichen Beweislastverteilung entweder auf die Behörden oder auf die Unternehmen. Sowohl das Konzept der ,rule of reason' als auch die Beweislastverteilung an Unternehmen erscheinen nach traditionellem Verständnis des Strafrechts als vollkommen unpassend für eine Strafrechtsnonn. Jede Strafrechtsnonn enthält ein klares Verbot, das dem Bürger ennöglicht, sich mit seinem Verhalten an ihr zu orientieren; im Strafprozeß wiederum ist die Unschuldsvennutung mit der Pflicht des Staates, die Schuld eines Angeklagten zu beweisen, eines der zentralen Prinzipien. Problematisch könnte zunächst auch die Existenz der Ausnahmebereiche sein, da sie die Generalität der - möglicherweise auch strafrechtlichen - Verbote in Zweifel zu ziehen geeignet erscheinen. Ein erster Blick erlaubt schon an dieser Stelle die zentrale Stellung des Begriffes der Marktrnacht - so unpräzise er auch sein mag - zu unterstreichen. Während das Kartellverbot und Nonnen zu den Vertikalbindungen die zeitweise Bündelung von Marktrnacht und das daraus resultierende Risiko eines Mißbrauches verhindern wollen, geht es den Verboten der Behinderungsstrategien um das Verhindern des Mißbrauchs existierender Marktrnacht. Die Fusionskontrolle schließlich soll die dauerhafte Bildung von besonders hoher Marktrnacht (auf externem Wege) verhindern. Es wird noch im Einzelnen darauf einzugehen sein, welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, das Kriterium der Marktrnacht justitiabel zu machen, denn es muß an verschiedene ökonomische Faktoren gekoppelt werden, die alle ihre Probleme bereiten. Es wird hier deutlich, daß der zentrale Begriff der (Markt-) Macht - wenn er auch schwierig zu fassen bzw. praktikabel zu machen sein wird - dasjenige darstellt, welches das Kartellrecht letztlich, wenn auch dort in anderem Zusammenhang, mit einem Kollektivstrafrecht gemein hat. Es wird daher auch der Begriff ,Macht' in diesem Grundlagenteil ganz grundsätzlich beleuchtet und gefragt werden, warum Macht (und damit letztlich auch Marktrnacht) problematisch ist.
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Teil I: Grundlagen
§ 2 Das Sanktionssystem des geltenden Kartellrechts I. Vorbemerkungen: zum Begriff der Sanktion
Bevor nun im Anschluß an das Primärrecht das Sanktionssystem des GWB dargestellt wird, soll dem Begriff der Sanktion Kontur verliehen werden - dies zunächst nur aus rechtssoziologischer Sicht, da die normativen und weitergehend rechtsphilosophischen Aspekte erst weiter unten zu behandeln sind. Aus dieser Sicht geht es um die empirisch faßbaren Wirkmechanismen von Sanktionen: danach können Sanktionen als Mittel bezeichnet werden, mittels derer eine Norm gegenüber abweichendem Verhalten zur Geltung gebracht wird, sie mithin durchgesetzt bzw. ihr Nachdruck verliehen wird; bei einem weiteren Sanktionsbegriff kann zwischen negativen und positiven Sanktionen unterschieden werden 5 !. Unter negativen Sanktionen werden dann diejenigen Mittel verstanden, die ihre Wirkung über Übelsandrohung oder -zufügung entfalten; als Beispiele können verbale Sanktionen in Form von Mißbilligung, Tadel oder Spott, physische Sanktionen in Form von körperlicher Züchtigung, Freiheitsentzug oder Todesstrafe, soziale oder wirtschaftliche Sanktionen in Form von Geld- oder Vermögens strafe, Schadensersatzverpflichtungen, Anprangern, Entzug von Privilegien u. ä. angeführt werden. Die Bandbreite möglicher Sanktionen ist also grundsätzlich groß, letztlich aber nur so groß, wie es der entsprechende soziale Kontext zuläßt. Die Sanktionen dienen alle der Aufhebung einer Störung durch Repression oder Restitution, haben aber auch zugleich einen präventiven Effekt52 . Von den Sanktionen, die durch Übelszufügung oder -androhung funktionieren, müssen positive Sanktionen abgehoben werden. Sie wollen normenkonformes Verhalten durch Gewährung von Vorteilen und Belohnungen erreichen; als Beispiele seien nur Lob, Zustimmung, Verleihung von Titeln, Orden etc. oder Geschenke u. ä. genannt. Für das Recht hat diese Gruppe von Sanktionen die geringere Bedeutung im Gegensatz zur Situation bei der Durchsetzung von sozialen Normen in informellen Gruppen. Es kann aber wohl aufgrund von Erkenntnissen sowohl der Soziologie als auch der Psychologie als gesichert gelten, daß der Mensch grundsätzlich auf Belohnung eher reagiert als auf Strafe53 . Daß das Recht ganz überwiegend auf negative SarJktionen zur Geltungssicherung setzt, ist vor allem in der allgemeinen Überzeugung begründet, daß das im allgemeinen Gesetz geregelte Normalverhalten aller kaum Anlaß für Belohnungen geben kann. Dies kann aus der Perspektive des Strafrechts, das Kernwerte oder elementare Vorstellungen/lnteressen unserer Gesellschaft schützen will - das will auch die Feststellung, das Strafrecht normiere das sozial-ethische Minimum, unterstreichen - zunächst bestätigt Zum folgenden vgl. nur Th. Raiser. Das lebende Recht, S. 243 ff. m. w. N. Vgl. Th. Raiser. Das Lebende Recht, S. 230 unter Hinweis auf die Formulierung dieses Gedankens bereits durch E. Durkheim. 53 V gl. Th. Raiser. Das lebende Recht, 246. 51
52
§ 2 Das Sanktionssystem des geltenden Kartellrechts
43
werden. Auf die für das Strafrecht wesentlichen, tiefer reichenden Gründe ist später noch einzugehen (unten § 10 11.). Neben der in dieser Arbeit maßgeblich behandelten Thematik des Rechts- und insbesondere Strafrechtssubjekts, dem Sanktionsobjekt in rechtssoziologischer Diktion, stellt sich für jede Sanktion die Frage nach einem rechtssoziologischen Sanktionssubjekt, das zur Sanktionierung berechtigt sein soll. Neben dem in der Gegenwart praktisch wichtigsten Fall von Sanktionsinstanzen, zu denen neben den ordentlichen Gerichten unter anderem auch die privaten Schieds- oder Kirchengerichte zählen, sind noch folgende weitere vier Möglichkeiten denkbar: die sog. Benefiziar-Sanktionen, bei denen der von der Norm Begünstigte für die Sanktion zuständig ist, Gruppen-Sanktionen, also Sanktionen einer Gruppe gegen eines ihrer Mitglieder, Sanktionen durch den Normbrecher selbst gegen sich und schließlich der heute kaum noch praktisch relevante Fall der Sanktionen durch überirdische Mächte. Für ein Kartellstrafrecht kommt dabei nach unserem überkommenen rechtsstaatlichen Verständnis nur der Weg über die ordentlichen Gerichte in Frage. Aber auch dies muß hinterfragt werden, wenn es um die Ausgestaltung des Verfahren eines Kollektivstrafrechts geht. Die Wirksamkeit einer Sanktion hängt - grob gesprochen - davon ab, ob diese stark genug ist, um potentielle Normbrecher zu beeindrucken, und ob sie im Falle eines tatsächlichen Normbruches durchsetzbar ist. Zumindest negative Sanktionen stellen jedoch insofern eine äußerst problematische Angelegenheit dar, als sie selbst auch immer ein Stück weit Normbruch bzw. Unrecht sind - dies ist daher auch Gegenstand intensiver strafrechtsphilosophischer Diskussion. Aus diesem Grunde kann es - und wird es regelmäßig auch - zu Widerstand durch den Normbrecher kommen, denn dieser wird entweder die Norm oder die sanktionierende Reaktion als zu hart empfinden oder aber sie für sich gar nicht erst anerkennen. Dies wurde dementsprechend auch gerne gegen ein Kartellstrafrecht eingewandt und dann von der Begründung zum GWB aufgegriffen (dazu gleich § 4 11.). Tatsächlich ist es jedenfalls wohl so, daß die Chancen auf eine (in jedem Fall anzustrebende) Resozialisierung beim Individuum in dem Maße zu sinken drohen, in dem der Täter sich zu Unrecht bestraft fühlt. Wie darauf zu reagieren ist - Verzicht auf Inkriminierung oder Versuch des Weckens eines Schuldbewußtseins im Strafvollzug - ist eine weitere Frage. Aus diesem Befund ergeben sich einige Konsequenzen, die hier nur im Überblick dargestellt werden sollen, auf die jedoch im Laufe der Arbeit immer wieder, vor allem im Rahmen der Effektivität und Praktikabilität von strafrechtlichen Regelungen, eingegangen werden wird54 . Zunächst müssen Norm und Sanktion sich gegenseitig entsprechen; neben der Tatsache, daß dies wohl als eine Forderung der (formellen) Gerechtigkeit zu betrachten ist, kann aus soziologischer Perspektive ergänzt werden, daß eine solche Entsprechung die Chance erhöht, daß der Normbrecher die Sanktion akzeptiert; der Begriff der Entsprechung ist dabei nicht phänomenologisch zu verstehen, so 54
Vgl. dazu ausführlicher m. w. N.: Th. Raiser; Das lebende Recht, S. 249 ff.
Teil I: Grundlagen
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daß für einen Diebstahl die Hand abzuhacken wäre, sondern normativ. Weiter muß der Sanktionsträger - das (rechtssoziologisch gesprochene) Sanktionssubjekt über ausreichende Macht verfügen, um die Sanktionen gegen den Normbrecher durchzusetzen 55 . Das ist gerade für das Kartellsanktionsrecht ein eminent wichtiger Punkt, der im Rahmen der Diskussion um das Kollektivstrafrecht zu behandeln ist. Aus dieser Perspektive ist die Wirksamkeit von Sanktionen und die Wiederherstellung des sozialen Friedens eine Frage der Verteilung und auch Balance von Macht und Herrschaft in der Gesellschaft56 . Man kann zumindest für den europäisch-amerikanischen Raum davon ausgehen, daß die Macht des Staates zur Durchsetzung der Sanktionen gegenüber dem Einzelnen vorhanden ist; nicht so eindeutig lässt sich dies für die Sanktion gegen Personen, hinter denen mächtige Gruppen stehen, und vor allem für Sanktionen gegenüber mächtigen Gruppen oder Gruppierungen (z. B. Unternehmen oder Unternehmensverbände) selbst formulieren. Gleiches gilt aber auch bei massenweisem Normbruch (z. B. im Straßenverkehrsbereich) und in den (vor allem hinsichtlich des Wirtschaftsrechts nicht seltenen) Fällen, in denen der Gewinn höher auszufallen verspricht als die Einbuße durch die Sanktion57. Es muß also auch um die richtige Relation zwischen Aufwand und Ertrag gehen. Immer aber ist die Selektivität der Verfolgung unausweichlich. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Mobilisierung des Rechts durch die Bürger; sei es, daß diese eine Zivilklage anstrengen oder einen Strafantrag stellen - beides wesentliche Aspekte im Kartelldeliktsrecht bzw. in einem zukünftigen Kartellstrafrecht. Nach diesen einführenden Betrachtungen ist der Blick nun geöffnet für eine eingehendere Analyse des kartellrechtlichen Sanktionssystems als eines spezifischen Falls des Sekundärrechts. Die Spannungsfelder sind die Beziehungen zwischen Normadressat und Sanktion im Hinblick auf die Akzeptanz und zwischen Sanktionssubjekt (hier wohl: Instanz der Gerichte und des staatlichen Vollzuges) und Sanktionsobjekt (hier: Unternehmen bzw. allgemein Kollektive) im Hinblick auf das zwischen ihnen bestehende Machtverhältnis.
11. Kartellrechtsverstöße als Zivildelikte
Neben dem gleich zu behandelnden Bußgeldverfahren ist die gerade erwähnte Möglichkeit, einen Schadensersatz- und Unterlassungsanspruch durch betroffene Dritte mittels Zivilklagen geltend zu machen, das zweite Standbein des kartellrechtlichen Sanktionssystems. Die Regelung des § 33 GWB hat vor allem im ZuVgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 250. Vgl. dazu den lesenswerten Ansatz einer ökonomischen Analyse des Nationalstaates von O. Valekart, die ihren Ausgang bei der Möglichkeit zur Gewährung von Sicherheit nimmt: ders., Ein wirtschaftstheoretisches Modell der Entstehung des modernen Staates, Der Staat 2000, S. 227 ff. 57 Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 251. 55
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sammenhang mit dem Diskriminierungsverbot des § 26 Abs. 2 a. F. / § 20 Abs. I und 2 n. F. GWB eine herausragende Bedeutung erlangt und entscheidend zur Effektivierung des Kartellrechts beigetragen58 - ein Ergebnis, das bereits durch amerikanische Erfahrungen nahe gelegt wurde 59 . Eine Zivilklage kommt gern. § 33 GWB dann in Frage, wenn ein in den Schutz einer Nonn oder Verfügung der Kartellbehörden mit einbezogener Marktteilnehmer von einem anderen Unternehmen durch den Verstoß gegen eine GWB-Nonn in seinen Interessen verletzt wird; hier kann er auf Schadensersatz und/ oder Unterlassung klagen. Die Regelung des § 35 a. F. GWB war für das deutsche Kartellrecht ein Novum, existierte doch in der KartVO 1923 und den alliierten DekartelIierungsgesetzen kein Pendant6o . Lediglich eine stark eingeschränkte Anwendung des § 823 Abs. 2 BGB auf kartellrechtliche Konstellationen wurde bejaht. Heute ist eine Mehrzahl von Schutzgesetzen im Rahmen des GWB anerkannt. Die konkrete Reichweite der Regelung kann nicht aus § 33 n. F. GWB alleine abgelesen werden; Sinn und Zweck der Regelung des § 33 GWB sind vielmehr im Zusammenhang mit der Gesamtkonzeption des Sanktionssystems des GWB zu sehen61 . Im Zusammenhang mit der Mobilisierungsfunktion der Zivilklagemöglichkeiten folgt daraus, daß § 33 GWB möglichst weit auszulegen ist62 ; dagegen kann als Argument auch nicht ein venneintlich vorrangiger Schutz des Wettbewerbs als Institution angeführt werden, da dieser Gegensatz von Einzelinteressen und Kollektivinteresse künstlich ist und tatsächlich gar nicht existiert63 ; dies wird letztlich durch die Möglichkeit von Zivilklagen gerade unterstrichen - sie tragen maßgeblich zu einer höheren Aufdeckungsrate von unrechtmäßigen Wettbewerbsbeschränkungen bei. Der Begriff des Schutzgesetzes in § 33 GWB ist der gleiche wie derjenige des § 823 Abs. 2 BGB. Es liegt also ein Schutzgesetz vor, wenn ein bestimmtes Ge-
oder Verbot den Schutz bestimmter Personen oder Personenkreise gegen die Verletzung eines im Gesetz festgelegten Rechtsgutes oder Individualinteresses bezweckt64 . Der Verletzung eines Schutzgesetzes gleichgestellt ist in § 33 S. 1 GWB Vgl. nur Langen/Bunte/ Bomkamm, Kartellrechts-Kommentar, § 33 Rn. 1. Vgl. V. Emmerich in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., § 35 Rn. 12 m. w. N.; vgl. dazu auch J. C. Coffee, in: Corporate Criminal Liability, in: Eser / Heine / Huber (Hrsg.), Criminal responsibiJity of legal and collective entities, S. 9 ff. 60 Vgl. V. Emmerich in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., § 33 Rn. 2 ff. 61 Vgl. V. Emmerich in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., § 35 Rn. 10. 62 V gl. V. Emmerich in: Immenga / Mestmäcker, 3. Aufl., § 33 Rn. 8. 63 Vgl. hier nur W Mäschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 75 f. 64 Vgl. Langen/Bunte/ Bomkamm, Kartellrechts-Kommentar, § 33 Rn. 6; V. Emmerich in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., § 33 Rn. 9 ff. m. w. N; im einzelnen Rn. 12 ff. (Kartellverbot), 18 ff. (übrige Schutzgesetze); als Schutzgesetze i. S. v. § 33 GWB werden - teilweise mit Einschränkungen - angesehen: das Kartellverbot (§ I), Verbot der Preis- und Konditionenbindungen (§ 14), Regelungen zu den Lizenzverträgen (§§ 17 f.), Mißbrauch von Marktmacht (§§ 19-23). 58 59
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Teil 1: Grundlagen
der Verstoß gegen eine Verfügung der Kartellbehörden, wenn diese in Rechtskraft erwächst oder im Falle ihrer Erledigung ihre Rechtmäßigkeit festgestellt wurde. Die Schadensersatzpflicht beginnt dabei bereits mit der Zustellung der Verfügung. Für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche ist kein Verschulden erforderlich; ausreichend ist das unmittelbare Bevorstehen des Eingriffs 65 . Für Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden (im Falle des Schadensersatzes) gelten im GWB die Grundsätze des allgemeinen Deliktsrechts 66 . Ersatzberechtigt ist derjenige, der durch die Norm geschützt werden soll, wobei es jedoch nicht auf die Unternehmereigenschaft ankommt. Zur Zahlung verpflichtet ist dasjenige Unternehmen, das schuldhaft gegen das Gesetz oder die Verfügung verstoßen hat. Bei Personenhandelsgesellschaften und juristischen Personen führt § 31 BGB zu einer Haftung des Unternehmens für die handelnden Organe. Eine eigene Organhaftung bleibt daneben bestehen67 • Art und Umfang des Schadensersatzes ergeben sich ohne Besonderheiten aus den §§ 249 ff. BGB. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß Ermittlung und Berechnung des Schadens im Rahmen des GWB und § 33 n. F. GWB erhebliche Schwierigkeiten bereiten68 ; im amerikanischen Rechtskreis wurden hierzu mittlerweile erste neue Regeln entwikkelt69 . Schließlich ist in § 33 S. 2 GWB als Ausnahme noch eine Klagemöglichkeit von Verbänden zur Förderung gewerblicher Interessen geregelt, soweit diese rechtsfähig sind. IH. KarteIlrechtsverstöße als Ordnungswidrigkeiten 1. Ordnungswidrigkeitenrecht anstelle des Strafrechts
Im deutschen Kartellrecht waren für den Fall von Verstößen gegen Normen des GWB nur Sanktionen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht vorgesehen; auch heute noch entspricht dies weitgehend dem status quo. Die KartVO von 1923 und auch die alliierten Dekartellierungsgesetze sahen dagegen auch strafrechtliche Regelungen vor. Historisch wird der Grund für die Wahl eines Ordnungswidrigkeitenrechts darin gesehen, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit der Sanktionen gegen Unternehmen selbst haben wollte. Dies war auf strafrechtlichem Wege in den 50er Jahren nicht durchzusetzen und es wurde vom Gesetzgeber mit allen Konsequenzen auch sicher nicht gewollt7o . Die Einordnung in das Ordnungswidrigkeitenrecht Vgl. V. Emmerich in: Irnrnenga/Mestrnäcker, 3. Aufl., § 33 Rn. 53 rn. w. N. Vgl. V. Emmerich in: Irnrnenga/Mestrnäcker, 3. Aufl., § 33 Rn. 37 ff. 67 Vgl. Langen/Bunte/ Bomkamm, Kartellrechts-Kornrnentar, § 33 Rn. 36 f. 68 Vgl. auch unten, IV. 2., zur Strafbarkeit des Subrnissionsbetruges früher gern. § 263 StGB und heute gern. § 298 StGB. 69 Vgl. dazu ausführlich: V. Emmerich in: Irnrnenga/Mestrnäcker, 2. Aufl., § 35 Rn. 81 rn.w.N. 70 Vgl. zur Historie ausführlich H. Achenbach in: FK-GWB, § 81 Rn. 2 ff. rn. w. N. 65
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eröffnete demgegenüber die Möglichkeit zumindest als Nebenfolge zu einer Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße gegen das involvierte Unternehmen zu verhängen. Durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurde § 30 Abs. 1 Nr. 2 OWiG mit Einführung des neuen § 30 Abs. 4 OWiG 1986 dergestalt modifiziert, daß nunmehr auch direkte, unabhängige Geldbußen gegen Unternehmen verhängt werden können 71 - unabhängig insofern, als daß die Verhängung einer Geldbuße nicht an den Ausgang des Verfahrens gegen eine natürliche Person, das ursprünglich als Anknüpfungspunkt diente, gebunden ist. Es muß zwar die rechtswidrige, schuldhafte Tat eines Organs - u. U. auch nach den Grundsätzen der ,Wahlfeststellung' bei Unsicherheit, welches Organ die Tat begangen hat - anzunehmen sein; hinsichtlich dieser Tat ist es im Extremfall sogar möglich, dass ein Verfahren gar nicht eingeleitet oder ein solches später eingestellt wurden. Darüber hinaus kann der amtlichen Begründung zum GWB entnommen werden, daß man zum Zeitpunkt der Schaffung dieses Gesetzes davon ausging, daß "weder in der deutschen Öffentlichkeit noch in den beteiligten Wirtschaftskreisen ... bisher ein lebendiges Gefühl dafür verbreitet [sei], daß wettbewerbsbeschränkende Verträge und Geschäftspraktiken unerlaubt und ethisch verwerflich seien,m. Dies ist auch Ausdruck einer bestimmten Betrachtungsweise der Abgrenzung des Ordnungswidrigkeiten- vom Strafrecht. Die Argumente werden bis heute immer wieder angeführt. Auf sie wird weiter unten ausführlich einzugehen sein. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, daß die Konzeption des GWB in dieser Hinsicht wohl dem Bundeswirtschaftsministerium zuzuschreiben ist, das es dann dem Bundesjustizministerium überließ, eine entsprechende Begründung nachzuliefern 74. Im folgenden sollen nur die Regelungen dargestellt werden und alle dogmatischen Fragestellungen, insbesondere die zum Verhältnis von Ordnungswidrigkeit und Kriminalstraftat und dementsprechend auch von Geldbuße und Geldstrafe, für später aufgehoben bleiben75.
2. Aufbau und Systematik
Das GWB enthält selbst einige Verfahrensregelungen in den §§ 82 ff. GWB und in § 81 GWB die materiellen Ordnungswidrigkeitstatbestände. Ergänzend ist auf das OWiG zurückzugreifen 76 . Die Anwendung des Ordnungswidrigkeitenrechts in KK-OWiG/ Rogall, § 30 Rn. 98 ff., insbes. 164 ff. KK-OWiG/ Rogall, § 30 Rn. 164; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999, Rn. 92; K. Tiedemann, Die ,Bebußung' von Unternehmen, NJW 1988, S. 1169 ff. (S. 1171 ff.); anders Ferner; OWiG-Kommentar, § 30 Rn. 1, der zu Unrecht immer noch den Nebenfolgecharakter der Verbandgeldbuße betont; in diesem Sinne wohl auch Langen / Bunte/ Kollmorgen, Kartellrechts-Kommentar, § 81 Rn. 74. 73 BT-DruckS. 11/1158 Teil B 11, S. 28. 74 Vgl. dazu K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., Vor § 38 Rn. 3. 75 Vgl. unten § 4. 71
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Kartellsachen ist den Kartellbehörden übertragen, § 82 GWB. Das gerichtliche Verfahren in Form der Beschwerde findet in der 1. Instanz nicht vor dem Amtsoder Landgericht statt, sondern vor dem OLG, in dessen Bezirk die Kartellbehörde ihren Sitz hat, § 83 GWB. Für das Bundeskartellamt ist nach dem Umzug nach Bonn nunmehr das OLG Düsseldorf zuständig 77 . In der zweiten Instanz ist eine Rechtsbeschwerde zum Kartellsenat des BGH möglich, § 84 GWB. Das Ermittlungsverfahren des Bundeskartellamtes ist als Ordnungswidrigkeitenverfahren vom Opportunitätsprinzip des § 47 Abs. 1 OWiG bestimmt; die Verfolgung oder Nichtverfolgung der möglichen Verstöße liegt also im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Das Opportunitätsprinzip erstreckt sich auf alle Verfahrensstadien 78. Diese Entscheidung zur Einleitung eines Verfahrens ist gerichtlich nicht nachprüfbar. Die Kartellbehörde kann das Verfahren auch jederzeit einstellen, solange es bei ihr anhängig ise 9 . Die materiellen Ordnungswidrigkeitstatbestände des GWB waren ursprünglich in den §§ 38, 39 a. F. im 1. Teil des Gesetzes im Abschnitt über die Sanktionen zusammen mit den Regelungen zu den Untersagungsverfügungen des Bundeskartellamtes und den Zivilklagen von (unter anderem) Konkurrenzunternehmen enthalten. Dies hat sich mit der 6. Novelle geändert, die Tatbestände stehen jetzt im 3. Teil (Verfahren) im 2. Abschnitt in § 81 GWB zusammen mit den Verfahrensvorschriften 80. Innerhalb der Ordnungswidrigkeiten gibt es eine Unterscheidung zwischen schweren und leichten Verstößen, die früher durch die Verteilung auf die §§ 38 und 39 GWB dokumentiert wurde. Der Unterschied lag in dem wesentlich höheren Rahmen für Geldbußen bei den schweren Verstößen. Die formale Unterscheidung fallt mit der Zusammenfassung aller Tatbestände in § 81 Abs. 1 GWB heute weg, die inhaltliche Differenz ist jedoch geblieben. Die Trennung nimmt heute § 81 Abs. 2 GWB vor, indem er die schweren Fälle des Absatzes 1 enummerativ aufzählt und für die übrigen Fälle der sogenannten bloßen ,Ungehorsamstatbestände ' eine geringere Geldbuße festlegt 81 . 76 Vgl. nur G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 146. 77 Dies stellt natürlich eine Ausnahme dar, denn grundsätzlich hätte das OLG Köln als das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das Bundeskartellamt liegt, zuständig sein müssen. Hintergrund war wohl die bereits am OLG Düsseldorf in dem dortigen Kartellsenat gebildete Fachkompetenz. 78 Vgl. zum Opportunitätsprinzip allgemein: KK-OWiG / Bohnert, § 47 m. w. N.; zum Opportunitätsprinzip und Bußgeld gegen juristische Personen: Göhler; OWiG, § 30 Rn. 35. 79 Vgl. zum Ganzen Bechthold, GWB, vor § 81 Rn. 2 ff. 80 Vgl. nur Bechthold, GWB, § 81 Rn. 1 f.; an dieser Verschiebung im Gesetz übt H. Achenbach berechtigte Kritik, vgl. ders., Das neue Recht der Kartellordnungswidrigkeiten, wistra 1999, S. 241 ff. 81 Die empirische Daten spielen in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle, da ausreichend ist, daß tatsächlich Wettbewerbsverletzungen in einer bestimmten Häufigkeit vorliegen und das Rechtsgut ,Wettbewerb' von besonderer Bedeutung ist. In Anbetracht einer
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3. Die Verbotsnormen und ihre Trennung von der Sanktionsandrohung
Materiell mußten mit der 6. Novelle Veränderungen hinsichtlich der Regeltypen der Tatbestände vorgenommen werden. Das ,per se Verbot' war im alten GWB nicht der Normalfall. Vor allem der alte § I GWB normierte kein Verbot von Kartellen, sondern erklärte die hielÜber geschlossenen Verträge durch Gesetz nur für unwirksam, soweit in den §§ 2 ff. GWB keine Ausnahme aufgeführt war. Hier wurde also nur der "objektiv-geistige normative Status eines Verhaltens ..s2 festgelegt. Daraus zog dann erst § 38 Abs. I Nr. 1 a. E GWB die Konsequenz, daß das Hinwegsetzen über diese Unwirksamkeit eine Ordnungswidrigkeit darstellt, und sah die Verhängung von Bußgeldern vor. Nunmehr ist in § 1 GWB die Kartellabsprache als solche verboten. Der neue Regel-Grundtypus ist nun die Zuwiderhandlung gegen ein gesetzliches Verbot, geregelt in § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB. Darunter fallen eine Zahl von Verbotsfällen, die das GWB bereits vor der 6. Novelle kannte, weiter die neuen Regelungen zu Kartellabsprachen und eine Mehrzahl in dieser Form neu geschaffener Verbotstatbestände, wie z. B. die Empfehlungsverbote in den §§ 22 f. GWB. Weiter gibt es die verwaltungsakzessorischen Tatbestände, die voraussetzen, daß sich ein Unternehmen über eine Verfügung der Kartellbehörden hinwegsetzt (§ 81 Abs. 1 Nr. 5, 6, 9 GWB), so wie z. B. der alte § 38 Abs. 1 Nr. 2 (a. E) GWB dies für die Fälle vorsah, in denen das Bundeskartellamt die Unwirksamkeit durch unanfechtbare Verfügung festgestellt hatte. Hier kann ein Bußgeld festgesetzt werden, wenn ein Zuwiderhandeln gegen einen vollziehbaren Verwaltungsakt der Kartellbehörde vorliegt. Schließlich enthält § 81 Abs. 1 GWB noch Verstöße gegen Auskunfts- und Meldepflichten, welche die Gruppe der leichteren Verstöße bilden und denen eher Formalcharakter zugeschrieben wird 83 . Ein Grundproblem der Ordnungswidrigkeitentatbestände des GWB besteht in der öfter gegebenen Abhängigkeit der Bußgeldtatbestände von Entscheidungen der Verwaltung oder des Gerichtes und vor allem im Auseinanderfallen von Verbot (Gebot) und Sanktion - wobei jedoch diese Konstellation im Nebenstrafrecht öfter vermutlich hohen Dunkelziffer und eines sehr hohen volkswirtschaftlichen Schadens ist beides als gegeben anzunehmen (vgl. zu einer anderen Sichtweise aufgrund einer Argumentation anhand des Kriteriums der Sozialschädlichkeit: K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 59 ff., 106 ff. für die Situation Mitte der 1970er Jahre). Die folgenden Zahlen dienen daher nur der beiläufigen Information: Das Bundeskartellamt hat 1997/98 ca. 50 Bußgeldverfahren abgeschlossen, die Landeskartellämter im gleichen Zeitraum ca. 300, die meisten davon jeweils durch ,Erledigung aus anderen Gründen', womit entsprechende Vereinbarungen zwischen den Kartellbehörden und den betroffenen Unternehmen gemeint sind; die meisten Verfahren betrafen § 1 GWB (ca. 26 beim Bundeskartellamt; 160 bei den Landeskartellämtern), dann folgte § 26 Abs. 2 a. F. (ca. 8 beim Bundeskartellamt 180 bei den Landeskartellämtem); Zur Verhängung einer Geldbuße kam es bei ca. 10% der Verfahren; vgl. hierzu auch G. Dannekker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, GWB, vor § 81 Rn. 15 ff. 82 H. Achenbach, Das neue Recht der Kartellordnungswidrigkeiten, wistra 1999, S. 241 (243). 83 Vgl. Bechthold, GWB, § 81 Rn. 12. 4 Kohlhoff
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angetroffen werden kann 84 . Insoweit stand immer eine Blankett-Natur von GWBTatbeständen in der Diskussion. Ein Blankett-Gesetz wird dann angenommen, wenn die Ausfüllung eines sog. "offenen" Tatbestandes einer anderen Instanz überlassen wird85 . Aufbauend auf diesem (staatsrechtlichen) Verständnis des Blankettgesetzes verneint die herrschende Meinung das Vorliegen von Blankett-Normen für das GWB. Hinsichtlich der Akzessorietät wird angenommen, daß es sich bei den notwendigen Einzelakten (der Verwaltung bzw. des Gerichtes) nur um einzelne Tatbestandsmerkmale handelt; das Auseinanderfallen von Verbot (Gebot) und Sanktion wird dadurch behoben, daß man von der Legitimität eines Zusammenlesens beider Regelungen ausgeht 86 . Entscheidend dürfte letztlich sein - insbesondere wenn man sich die gerechtfertigte Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm gerade auch für das Kernstrafrecht in Erinnerung ruft -, daß die Verbotstatbestände des GWB selbst, die Verhaltensnormen der §§ 1 ff. GWB, keine Ermessensentscheidungen enthalten, sondern klare Verbote (die ,per se Verbote'); allerdings operieren die Tatbestände insoweit mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Unumstritten ist diese Betrachtungsweise jedoch nicht 87 . Als problematisch wird auch der Einsatz eines staatsrechtlich bestimmten Blankettgesetz-Begriffes zur Differenzierung von Blankettgesetz und normativen Gesetzesmerkrnalen im Hinblick auf Irrtumsfragen (bei Vorsatz und Schuld) angesehen 88 . Im Rahmen eines KartellstraJrechts muß dies sicher Probleme bereiten. 4. Rechtswidrigkeit und Rechtfenigung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen
Eine wichtige Frage für das Kartellordnungswidrigkeitenrecht ist die nach der Rechtswidrigkeit und den Möglichkeiten bzw. Voraussetzungen einer Rechtfertigung. Dabei geht es um zweierlei: einerseits um die Befugnis zur Vornahme an sich verbotener Handlungen (z. B. die Bildung eines Kartells entgegen § 1 GWB) aufgrund der behördlichen Genehmigung durch die Kartellbehörden und andererseits um die Rechtfertigung durch legitime Gegeninteressen89 . 84 Vgl. zum Folgenden insbes. K. Tiedemann in: Immenga I Mestmäcker, 2. Aufl vor § 38 Rn. 18 ff. m. w. N. 85 Vgl. K. Tiedemann, Tatbestandsfunktion, S. 94, 239 ff.; G. DanneckerlJ. BienTUlnn in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 23 ff.; insgesamt muß aber festgestellt werden, daß der Sprachgebrauch nicht einheitlich ist. 86 Vgl. G. DanneckerlJ. BienTUlnn in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 25, 27 m. w. N. 87 Vgl. nur KK OWiGIRogall vor § 1 Rn. 15 f., der diesbezüglich von echten Blankettnormen spricht; zu dieser Frage im Licht des neuen § 298 StGB: G. Wollers, Die Änderungen des StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption, JuS 1998, S. llOI ff. 88 K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., vor § 38 Rn. 21 a. E. m. w. N.; ausführlich auch ders., Tatbestandsfunktion, S. 9 f., 91, 387 f. 89 Vgl. K. Tiedemann in: Immenga I Mestmäcker, 2. Aufl., vor § 38 Rn. 34.
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Bei der Rechtfertigung von Verhaltensweisen eines Unternehmens besteht die Alternative zwischen einem Abstellen auf den behördlichen oder gerichtlichen Einzelakt, der Bestandskraft erlangt hat, oder einem Rückgriff auf die materielle Rechtmäßigkeit Ein Rückgriff auf die materielle Rechtslage nimmt die herrschende Meinung aber nur im Falle der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes vor. Ansonsten ist die Rechtswidrigkeit unbeachtlich9o . Dies ist im Ordnungswidrigkeitenrecht sicher zu verkraften, wirft aber für ein wirkliches Strafrecht unangenehme Probleme auf'. Eine Interessenabwägung zum Ausschluß eines Kartellrechtsverstoßes ist im Kartellrecht zwar durchaus schon vorgenommen worden, jedoch nicht unter Bezugnahme auf - grundsätzlich auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht geltende allgemeine Rechtfertigungsgründe92 • Neben den gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten im Rahmen der §§ 2 ff. GWB ist dies nur im Rahmen des § 16 OWiG und anderer anerkannter Rechtfertigungsgründe als zulässig anzusehen 93 . Hinsichtlich letzterer werden allerdings wohl nur höchst selten die notwendigen Voraussetzungen erfüllt sein. Gerade die Struktur von Tatbestand und Rechtswidrigkeit ist später noch genauer zu beleuchten, wenn es um die Frage einer Integration der Ausnahmevorschriften der §§ 2 ff. GWB aber auch der Ausnahmebereiche in ein Kartellstrafrecht gehen wird.
5. Vorsatz und Fahrlässigkeit, Irrtumsregelungen
Das GWB enthält noch eine dogmatische Besonderheit für das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht: § 81 GWB nimmt eine vollständige Gleichsetzung von vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten entgegen dem Grundsatz des § 10 OWiG vor. Bis zur 6. Novelle war dies nur für bestimmte Tatbestände vorgesehen. Die neue Regel führt nun teilweise zu Widersprüchen mit den materiell-rechtlichen Regelungen im 1. Teil des GWB 94 . Vorsatz und Fahrlässigkeit richten sich ansonsten nach dem allgemeinen strafrechtlichen Verständnis95 . Das gleiche gilt für die Irrturnsproblematik (vor allem Tatbestands- und Verbotsirrtum), für die § 11 OWiG 90 Vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, § 81 GWB 1999 Rn. 211; K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., vor § 38 Rn. 38. 91 Vgl. hierzu auch: K. Tiedemann, Tatbestandsfunktion, S. 275 ff. m. w. N. 92 V gl. G. Dannecker I J. Biennann in: Immenga I Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 48 ff.; vgl. auch G. Danneckerl J. Biermann in: Immenga I Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 61 ff. 93 Vgl. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 55, 56 f. m. w. N.; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 142 ff. 94 V gl. hierzu H. Achenbach, Das neue Recht der Kartellordnungswidrigkeiten, wistra 1999, S. 241 (244); auch Bechthold, GWB, § 81 Rn. 20, der allerdings festhält, daß von dieser Gleichsetzung keine wesentlichen Konsequenzen ausgehen. 95 Vgl. Bechthold, GWB, § 81 Rn. 21; zu Vorsatz und Fahrlässigkeit i. e.: H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 127 ff.
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eine dem Strafrecht vergleichbare Lage schafft96 . Beachtenswert ist hier vor allem, daß nach der Rechtsprechung bei ,Parallel wertung in der Laiensphäre' davon ausgegangen wird, daß ein erfahrener Geschäftsmann (als Vertreter eines Unternehmens) in der Regel die kartellrechtliche Relevanz seines Verfahrens erkennen kann und der Tatrichter dementsprechend das mögliche Vorliegen eines Irrtums erst nachprüfen muß, wenn konkrete Anhaltspunkte für die (ausnahmsweise) mangelnde Kenntnis des Täters vorliegen97 . 6. Die Geldbuße
Die zu verhängende Geldbuße kann gemäß § 81 Abs. 2 GWB für die schwereren Verstöße (Abs. 1 Nr. 1,2,5, 6a und 9) eine Höhe von bis zu 500.000,00 Euro bzw. bis zur dreifachen Höhe des Mehrerlöses betragen, wobei Mehrerlös nicht Gewinn meint und bei seiner Ermittlung etwaige Kosten und auch Steuern nicht zu berücksichtigen sind, so daß letztlich entgegen dem Wortlaut Mehrerlös eigentlich Mehrumsatz meint. Dieser muß vom Gericht bei Vorliegen von Anhaltspunkten für die Erzielung eines Mehrerlöses ggf. geschätzt werden 98 . § 17 Abs. 4 OWiG legt dabei fest, daß die Geldbuße mindestens die Höhe des wirtschaftlichen Vorteils erreichen so1l99. Für die leichteren Verstöße gilt eine Geldbuße von bis zu 25.000,00 Euro. Die konkrete Anwendung der Bußgeldvorschriften im Rahmen der Zumessung im Einzelfall bereitet dem Bundeskartellamt dabei durchaus Schwierigkeiten 100. Der Bußgeldpraxis des Bundeskartellamtes wird jedoch nur eine bedingte Effektivität zugesprochen, wohingegen der Öffentlichkeitsarbeit mehr Gewicht beigemessen wird lO1 • 7. 1äterkreis und Bußgeldhaftung juristischer Personen
Der Kreis der potentiellen Tater und der potentiell Haftenden bestimmt sich nach den Regeln des OWiG. Hier arbeiten die §§ 9, 30 und 130 OWiG zusammen lO2 • Als Täter nach dem OWiG kommen wie auch nach dem StGB grundsätzlich nur natürliche Personen in Frage 103. § 9 OWiG regelt wie § 14 StGB für das Vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 135. BGH, "Nordmende", WuW IE BGH 2145 (2147). 98 Vgl. Bechthold, GWB, § 81 Rn. 24 f. 99 Zur durchaus umstrittenen Anwendbarkeit von § 17 Abs. 4 Vgl. BGH, NJW 1975, S. 269; BFH, BStBI. 11 1999, S. 658 (660); vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, § 81 GWB 1999 Rn. 257 m. w. N. 100 Vgl. dazu i. E.: H. Achenbach in: FK-GWB, § 81 GWB 1999 Rn. 252 ff. 101 Vgl. nur G. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rn. 21. 102 Vgl. auch: KK-OWiGIRogall, § 9 Rn. 1,91; dazu auch ausführlich: H. Achenbach, Diskrepanzen, in: Festschrift-Stree/Wessels (1993), S. 545 ff.; ders. in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 47 ff., 91 ff. m. w. N. 103 Vgl. KK-OWiGIRogall, Vor§ I Rn. 19. 96 97
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Strafrecht die für Taten aus dem Unternehmensbereich wichtige Situation, in welcher der als gesetzlicher oder rechtsgeschäftlich bestellter Vertreter Handelnde und der eigentliche Normadressat (juristische Person, Personenhandelsgesellschaft, Unternehmen und ähnliche Fälle) auseinanderfallen und daher Strafbarkeitslücken entstehen können, weil der Tatbestand bestimmte in einem weiteren Sinne ,täterbezogene' Merkmale enthält (die in § 9 OWiG sogenannten ,besonderen persönlichen Merkmale'), die u. U. nur beim Vertretenen vorliegen können 104. § 9 OWiG wird insoweit als eine Erweiterung des Normadressatenkreises bzw. Ausdehnung der Tatbestände auf andere Personen angesehen, die in einem bestimmten Vertretungsbzw. Auftragsverhältnis zu dem primären Normadressaten stehen lO5 . Zweierlei ist dazu an dieser Stelle anzumerken: Zum einen tritt hier deutlich zu Tage, daß eine Normadressatenschaft von Unternehmen bzw. präziser: Unternehmensträgern auch aus ordnungswidrigkeitenrechtlicher Perspektive angenommen werden muß 106; zum anderen soll als Interpretationsmöglichkeit festgehalten werden, daß bei § 9 OWiG anstelle von einer "Ausdehnung des Normadressatenkreises bzw. der Tatbestände" auch von etwas anderem die Rede sein könnte, wenn man davon ausgeht, daß Organe und entsprechende Vertreter von juristischen Personen bzw. Verbänden zwar für diese handeln, dies jedoch das eigene Handeln der juristischen Person bzw. des Verbandes darstellt. Dann ist es auch nur konsequent, wenn die an den Vertretenen gerichtete Norm für die Vertreter gilt - und eben das stellt § 9 OWiG eher klar, als daß er eine Ausdehnung vornimmt lO7 ! Daß dies tatsächlich so gehalten werden kann, muß sich im Laufe der Arbeit noch herausstellen. Als taugliche Tater wurden im Ordnungswidrigkeitenrecht bis zur Novelle des § 30 OWiG im Jahre 1986 ausschließlich natürliche Personen angesehen. Die Verhängung einer Geldbuße gegen ein Unternehmen war bis dahin nur Nebenfolge und setzte das straf- oder ordnungswidrige Handeln einer natürlichen Person voraus und hatte lediglich eine Abschöpfungsfunktion lO8 • Die Geldbuße kann gegen juristische Personen, nicht rechtsfähige Vereine und Personenhandelsgesellschaften festgesetzt werden, wenn vertretungsberechtigte Organe oder Organmitglieder, Vorstände oder Vorstandsmitglieder oder vertretungsberechtigte Gesellschafter Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten begangen und dadurch unternehmens- oder betriebs bezogene Pflichten verletzt oder den Verband dadurch bereichert haben oder diesen bereichern wollten. Nach der Modifizierung des § 30 OWiG ist nun Vgl. KK-OWiG/ Rogall, § 9 Rn. 8. Vgl. KK-OWiG / Rogall, § 9 Rn. 2, 7 ff., zu Rechtsgrund der Organ- und Vertreterhaftung Rn. \3 ff.; Göhler, OWiG, § 9 Rn. 2; Langen/Bunte/ Kollmorgen, Kartellrechts-Kommentar, § 81 Rn. 13; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 53 ff. m.w.N. 106 Vgl. nur K. Schmidt, Verantwortung von Gesellschaften im Kartellrecht, wistra 1990, S. 131 ff.; V. Schroth, Unternehmen als Nonnadressaten und Sanktionssubjekte, S. 26 ff. 107 Zur Gegenauffassung vgl. hier nur KK-OWiG / Rogall, § 9 Rn. 3. 108 Vgl. nur KK-OWiG / Rogall, § 30 Rn. 25 f.; G. Danneckerl J. Biermann in: Immenga/ Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 71. 104
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auch die Geldbuße gegen juristische Personen eine echte Sanktion 109. Trotz der grundsätzlichen Abhängigkeit der Geldbuße gegen das Unternehmen von der Tat der Organmitglieder können die Verfahren nun auch getrennt durchgeführt werden, so daß trotz der Einstellung des Verfahrens gegen die natürliche Person gegen den Vertretenen eine Geldbuße verhängt werden kann llO . In § 33 Abs. I S. 2 OWiG wird das auch noch einmal klargestellt. Zu einer Ausdehnung der Haftung auch für Handlungen in tatsächlicher Leitungsfunktion ohne Vorliegen einer Vollmacht konnte sich der Gesetzgeber letztlich nicht durchringen 111. Dahinter muß wohl der Gedanke gesehen werden, daß Unternehmen bzw. die Unternehmensträger mitunter durchaus Adressaten von Ge- und Verboten sind und damit auch Adressaten von daran anknüpfenden Bußgeldtatbeständen. Für das GWB ist das insoweit keine neue Erkenntnis gewesen: Es wurde grundsätzlich schon seit längerem davon ausgegangen, daß Normadressat der Bußgeldandrohung ebenso wie des ursprünglichen Ge- oder Verbots im GWB das Unternehmen bzw. der Unternehmensträger ist ll2 ; dies findet allerdings dort seine Grenze, wo ein Unternehmen die geforderte Leistung nicht erbringen kann 113. Die Handlungsfähigkeit wird dadurch begründet, daß ihm über § 30 OWiG das Handeln seiner Organe und gesetzlichen Vertreter als eigenes zugerechnet wird ll4 . Insgesamt kann daher dem § 30 OWiG das Prinzip der Haftung für Organisationsfehler unterlegt werden ll5 . Das Unternehmen ist seiner Pflicht zu einer sicheren Organisation seiner Strukturen (letztlich der corporate governance) nicht nachgekommen, sonst hätte es zu der Organtat nicht kommen können. Neben den gesetzlichen Vertretern können auch Generalbevollmächtigte und Prokuristen sowie Bevollmächtigte mit Leitungsfunktionen durch ihr Handeln die Geldbuße gegen die juristische Person auslösen, nicht jedoch andere leitende Angestellte. Auf die 109 Vgl. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 72 m. w. N.; H. Otto, Kriminelle Handlungen in Unternehmen, Jura 1998, S. 409 ff.; Göhler, OWiG, § 30 Rn. 39 ff.; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 Rn. 92; aA immer noch: H. Meier, OWiG-Komm, § 30 Rn. 1; vgl. zur Bemessung der Geldbuße nach dem OWiG: C. Wegner, Zumessung der Untemehmensgeldbuße, wistra 2000, S. 361 ff. 110 Vgl. BGH WuW /E 2662 ff. (2664); vgl. auch oben § 1 111. 1. III Vgl. dazu nur KK-OWiG/ Rogall, § 30 Rn. 27 m. w. N. 112 Vgl. zum GWB und § 30 OWiG: K Schmidt, Verantwortung von Gesellschaften im Kartellrecht, wistra 1990, S. 132 f., 137 f.; U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 50 ff.; G. Danneckerl J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 72. 113 Vgl. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 40 m. w. N.; das ist jedoch nicht unumstritten, vgl. G. Danneckerl J. Biermann, a. a. o. m. w. N. 114 Vgl. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 74 m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 20, 323 (335). 115 Vgl. K. Tiedemann, Die ,Bebußung' von Unternehmen, NJW 1988, S. 1169 (1172 f.); G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 74; in diesem Sinne wohl auch U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 43 ff.; KK-OWiG/ Rogall, § 30 Rn. 4.
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zivilrechtlichen Betrachtungen - z. B. zur Wirksamkeit der Bestellung - kommt es nicht entscheidend an 1l6 . Eine Entlastung ist nicht durch den Nachweis hinreichender Organisation möglich. Die Grenze wird erst in den Fällen der Exzesshandlungen der Täter erreicht, d. h. wenn deren Taten nicht mehr notwendig mit der ihnen eingeräumten OrgansteIlung und -funktion zu tun haben ll7 . Trotz der Einordnung der materiellen Konzeption als einer Unternehmens- oder Verbandstäterschaft 1l8 , wird sich noch später zeigen müssen, ob diese Konstruktion tatsächlich auf eine wirkliche Kollektivstrafe hinauslaufen kann und damit auch die Anwendung dieses Begriffes auf § 30 OWiG gerechtfertigt ist. Die Anknüpfungstat für die Haftung des Unternehmens kann sowohl Ordnungswidrigkeit als auch Straftat sein. Häufigster Fall ist dabei die Aufsichtspflichtverletzung des § 130 OWiG, der insoweit als Auffangtatbestand fungiert ll9 . § 130 eröffnet die Möglichkeit, den Inhaber eines Betriebes oder den gesetzlichen Vertreter eines rechtlich selbständigen Unternehmens sowie weitere, diesen gern. § 9 OWiG gleichgestellte Personen wegen Verletzung der Straf- oder Bußgeld-bewährten Aufsichtspflicht nach dem OWiG in die Pflicht zu nehmen und mit einer Geldbuße zu belegen 120. Die Pflicht der Adressaten von § 130 OWiG besteht im Verhindern der Zuwiderhandlung gegen das betreffende Verbot bzw. einem entsprechenden Versuch, wobei nicht ein Verhindern jeglicher Verstöße aus dem Unternehmensbereich verlangt werden kann 121. Die Anforderungen an die hierzu zu treffenden Maßnahmen sind hoch 122 , wobei die Rechtsprechung hier keine abstrakten Pflichten nach bestimmten Tätigkeitsbereichen oder auch Organisationsabläufen aufstellt, sondern sich häufig darauf beschränkt, lediglich ex post festzustellen, daß die ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichend waren 123. Diese Situation mag zwar problematisch sein im Hinblick auf die notwendige Bestimmtheit der Norrn 124 , unterscheidet sich letztlich jedoch nicht von den Situationen im Rahmen von (echten wie unechten) Unterlassungsdelikten im Strafrecht. Die Aufsichtspflichtverletzung kann dabei insbesondere auch in einem lediglich fahrlässig ver116 V gl. nur G. Dannecker / J. Biermann in: Immenga I Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 80 ff. m. w. N. 117 Vgl. K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., Vor § 38 Rn. 50 m. w. N. 118 Vgl. K. Tiedemann, Die ,Bebußung' von Unternehmen, NJW 1988, S. 1169 (1173); zustimmend u. a. G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 73. 119 Vgl. Bechthold, GWB, § 81 Rn. 37. 120 Vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 68 ff. zum Täterkreis i. e.; dazu auch: C. Tessin, Aufsichtspflicht bei Kartellverstößen, BB 1987, S. 984 ff. 121 Hier wird in Rspr. und Lit. weiter differenziert - zum Meinungsstand: H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 74 f.; KK-OWiGI Rogall, § 130 Rn. 78 ff. 122 Vgl. Bechthold, GWB, § 81 Rn. 38; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 87 ff. zu den Einzelheiten. 123 Vgl. KK-OWiGI Rogall, § 130 Rn. 41 m. w. N. zur Rspr. 124 Vgl. KK-OWiGI Rogall, § 130 Rn. 41.
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ursachten Organisationsmangel bestehen. Der Regelung wird der Gedanke sich aus einer GarantensteIlung bzw. einer garanten-ähnlichen Stellung ergebenen Pflicht unterlegt 125 . Über die Möglichkeit der Verhängung einer Geldbuße hinaus können die Kartellbehörden gern. § 29a Abs. 2 OWiG auch den Verfall des aus der Ordnungswidrigkeit Erlangten anordnen. Diese Möglichkeit der Gewinnabschöpfung wurde eingeführt, um die Lücke zu schließen, die entsteht, wenn der Gewinn nicht mit der Geldbuße abgeschöpft werden kann, was vor allem dann der Fall ist, wenn der Vermögensvorteil bei einem anderen als dem Täter bewirkt wurde l26 . Insofern ist die Regelung auch gegenüber der Verhängung einer Geldbuße gegen dieselbe Person (auch: Gesellschaft/Unternehmen) subsidiär, § 30 Abs. 5 OWiG. Anders als bei § 30 OWiG ist der Täter- und Normadressatenkreis gerade nicht beschränkt, so daß jedermann, also auch jeder Mitarbeiter, tauglicher Täter sein kann. 127
8. Exkurs: Weitere Handlungsmäglichkeiten des Bundeskartellamtes
Das Bundeskartellamt kann gemäß § 32 GWB zunächst den Unternehmen Verhaltensweisen untersagen, die gegen Verbote des GWB verstoßen. Dies ist vor allem in den Fällen für das Bundeskartellamt interessant, in denen es diesem nicht primär auf die Verhängung eines Bußgeldes ankommt, sondern auf die endgültige Untersagung des Verhaltens, um im weiteren zu einer gerichtlichen Klärung in rechtlichen Zweifelsfragen zu kommen l28 . Weiter kann das Bundeskartellamt gemäß § 34 GWB bei vorsätzlichen oder fahrlässigen Zuwiderhandlungen gegen eine Untersagungsverfügung verlangen, daß ein nach Zustellung der Verfügung erlangter Mehrerlös an dieses abgeführt wird. Diese Möglichkeit ist allerdings nur in Fällen eröffnet, in denen keine Geldbuße verhängt wurde oder - wohl wichtiger keine entsprechenden Schadensersatzklagen gemäß § 33 GWB den Mehrerlös ausgeglichen haben. Die Verfügung muß unanfechtbar bzw. das im Falle der Anfechtung vor Gericht ergehende Urteil muß rechtskräftig sein. Diese Regelung ermöglicht es, denjenigen Mehrerlös abzuschöpfen, der unter Verstoß gegen eine Untersagungsverfügung in dem Zeitraum erwirtschaftet wurde, in dem die Verfügung weder sofort vollziehbar noch wegen Nichteinlegung einer Beschwerde unanfechtbar war, und der ansonsten im Unternehmen verbleiben würde l29 .
Vgl. Göhler; OWiG, § 130 Rn. 2 m. w. N. Vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 113; KK-OWiGI Mitsch, § 29 a Rn. 1 ff. 127 Vgl. H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 GWB 1999 Rn. 113 m. w. N. 128 Vgl. Bechthold, GWB, § 32 Rn. 1. 129 Vgl. Bechthold, GWB, § 34 Rn. 3, 5 ff. 125
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IV. KarteIlrechtsverstöße als Straftaten
Neben den Tatbeständen des Ordnungswidrigkeitenrechts des GWB gab es im Hinblick auf Kartelldelikte nach Inkrafttreten des Gesetzes zunächst lange Zeit keine spezifischen strafrechtlichen Regelungen, auch wenn dies immer wieder in der Diskussion war, vor allem hinsichtlich der Submissionsabsprachen. Deren Strafbarkeit ist schließlich doch eigenständig im Besonderen Teil des StGB geregelt worden. Damals wie heute ist es aber auch denkbar, daß kartellrechtswidrige Verhaltensweisen natürlicher Personen gleichzeitig gegen eine nicht spezifisch kartellrechtliche Strafrechtsnorm des StGB verstoßen. § 21 OWiG legt fest, daß bei einem Zusammentreffen von Straftat und Ordnungswidrigkeit in einer Handlung die Straftat den Vorrang genießt; dies zumindest solange wie nicht von der Verhängung einer Strafe abgesehen wird. Die herrschende Meinung nimmt davon abweichend jedoch eine Verdrängung der Straftat an, wenn der Bußgeldtatbestand die speziellere Norm darstellt. § 21 OWiG ist dann unanwendbar. Dies soll jedoch in der Praxis nicht zu einer grundsätzlichen Spezialität der Kartellrechtsnormen führen, hinter denen ja sogar die historische Entscheidung des Gesetzgebers gegen das Strafrecht steht 130.
1. Grundsätzliche Möglichkeit der Verwirklichung von kartellrechtsunspezijischen Tatbeständen
Neben den Submissionsabsprachen, auf die sogleich einzugehen sein wird, können durch wettbewerbsbeschränkendes Verhalten theoretisch die Straftatbestände der Nötigung (§ 240 StGB) und Erpressung (§ 253 StGB) verwirklicht werden 13 !. Diese sind allerdings eher der Vollständigkeit halber zu nennen, da es hier selten zu tatsächlich tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Taten kommen wird. Ein gewichtiges Problem ist dabei bereits, daß hier selten gedroht, d. h. Übel in Aussicht gestellt werden. In aller Regel werden z. B. Bezugs- und Liefersperren einfach verhängt, sei es auch nur als Vergeitung 132 . Weiter können auch durch Handlungen im Rahmen der §§ 20 und 21 GWB die Tatbestände der Beleidigung, der üblen Nachrede und der geschäftlichen Verleumdung und der Kreditgefährdung (§§ 185 ff. StGB) erfüllt sein. Schließlich sind noch Berührungspunkte mit den Tatbeständen des Wuchers gemäß § 302a StGB und der Preisüberhöhung gemäß § 4 WiStG denkbar. Zusammenfassend läßt sich Vgl. K. Tiedemann in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., vor § 38 Rn. 58 m. w. N. Vgl. B. Schreven: in Müller/Gießler/Scholz, GWB, Wirtschaftskommentar, § 38 Rn. 1; W J. BaumannlG. Arzt, Kartellrecht und allgemeines Strafrecht, ZHR 134 (1970), S. 24 ff. (43 ff.); G. Danneckerl J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 117 ff., 122 ff. m. w. N. 132 Vgl. hierzu i. e. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 118 ff. m. w. N. 130 131
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aber festhalten, daß Verhaltensweisen, die gegen das GWB verstoßen, kaum den Tatbestand eines allgemeinen Strafgesetzes erfüllen werden. Wenn überhaupt ist dies nur für die Behinderungsstrategien relevant. Diese Schwierigkeiten wurden auch in der Rechtsprechung zum Submissionsbetrug und in entsprechenden Vorschlägen zu einer Strafbarkeit de lege lata vor Einführung des § 298 StGB dokumentiert l33 . 2. Die Strafbarkeit von Submissionsabsprachen gemäß § 298 StGB
Bei Absprachen von Submissionskartellen wurde bereits seit langem eine Strafbarkeit des Verhaltens von der Strafrechtswissenschaft auf breiter Front bejaht l34 . Dies hatte wohl zwei Gründe: Zum einen dürfte vielen wegen des Tatsache, daß regelmäßig der Staat und insbesondere die Kommunen betroffen waren, an einer neuen Lösung gelegen gewesen sein, wobei man sich vom Strafrecht die bessere Prävention versprach; zum anderen sah man eine Nähe zum Betrug wegen der Täuschung des ausschreibenden Verwaltungsträgers und damit eine - sonst für Kartelldelikte nicht typische - Nähe zum Kernstrafrecht. Zur Lösung der Problematik wurde dementsprechend früher zunächst de lege lata mit dem Betrugstatbestand des § 263 StGB operiert. In der Regel konnte bei tatsächlich erfolgreicher Erschleichung des Auftrages durch einen Kartellangehörigen von einer vollendeten Erfüllung des Tatbestandes ausgegangen werden. Zwar bemühte sich die Rechtsprechung um eine Lockerung der Voraussetzungen für den Nachweis eines eingetretenen Schadens, je nach Art der einzelnen Ausschreibung wurden jedoch auch Einschränkungen vorgenommen 135. Im einzelnen interessiert dies in diesem Zusammenhang jedoch nicht. Grundsätzlich wurde der Submissionsbetrug als Erscheinungsform des Erfüllungsbetruges behandelt 136. Bei der Differenzierung zwischen Eingehungs- und Erfüllungsbetrug geht es zum einen um die verschiedenen Stufen der Schadensverwirklichung und zum anderen um die jeweils unterschiedliche Berechnungsgrundlage I37 : beim Eingehungsbetrug wird davon ausgegangen, daß eine konkrete Gefährdung des Opfervermögens durch die Abweichung der auf dem Vertragsschluß jeweils beruhenden Verpflichtungen vorliegen muß. Das ist z. B. bei Unanfechtbarkeit des Vertrages der Fall. Beim Erfüllungsbetrug dagegen erhält der Getäuschte tatsächlich weniger als der Anspruch wert ist bzw. leistet mehr als er zu leisten Vgl. Schönke I Schröderl Cramer, 25. Auflage 1997, § 263 Rn. 137a m. w. N. Vgl. nur die Nachw. bei K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 25 ff. (zur Literatur bis ca. Mitte 1975). 135 Grundlegend BGH "Arbeitsgemeinschaft Rheinausbau", WuW IE BGH 2849 (2851 ff.) = BGHSt 38, S. 186 (Teilabdruck). 136 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer, 25. Aufl., § 263 Rn. 137a; eingehend: P. Cramer, Der Submissionsbetrug, passim, insbes. 7 ff., 19 ff. 137 Vgl. hierzu Schönke/Schröder/Cramer, 25. Aufl., § 263 Rn. 135 ff. 133
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verpflichtet wäre. Beim Submissionsbetrug liegt zwar die Täuschung vor dem Vertragsschluß, was zunächst für einen Eingehungsbetrug spricht, regelmäßig ist jedoch kein objektiver Leistungsvergleich möglich, da aufgrund der jeweils individuellen Leistung, z. B. einer Baumaßnahme, nur selten ein objektiver Marktpreis ermittelt werden kann. Hinzu kommt, daß meistens ein kombinierter Leistungs-, Qualitäts- und Preiswettbewerb herrscht, der Preis alleine also gar nicht ausschlaggebend ist. Letztlich muß dann doch mit der Figur des Erfüllungsbetruges operiert werden. Mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13. 8. 1997 wurde nunmehr de lege ferenda der 26. Abschnitt ,Straftaten gegen den Wettbewerb' in das Strafgesetzbuch eingeführt 138 . Von den beiden dort enthaltenen Grundtatbeständen ist jedoch nur § 298 StGB - "Submissionsabsprachen" - eine Straftat gegen den Wettbewerb. Der zweite Grundtatbestand in § 299 StGB stellt lediglich eine mögliche Kehrseite der Submissionsabsprachen dar, nämlich die "Bestechlichkeit und Bestechung im öffentlichen Verkehr,,139. Strafbar sind gern. § 298 StGB zunächst Absprachen im Rahmen von Ausschreibungen der öffentlichen Hand für Waren und gewerbliche Leistungen; aber auch Ausschreibungen privater Unternehmen werden von § 298 StGB erfaßt, solange gleiche oder ähnliche Vergabeverfahren zur Anwendung kommen 140. Das geschützte Rechtsgut ist nicht wie im Falle der Strafbarkeit des Submissionsbetruges nach § 263 StGB das Vermögen des Geschädigten, sondern der freie Wettbewerb!141 Nach allgemeiner Meinung ist die Regelung als ein abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet, da weder ein Verletzungserfolg noch ein konkret gefährlicher Zustand auszumachen sein soll 142. Bei der Konzeption des Tatbestandes wurde auf ein Täuschungselement und ein Schadenserfordernis in Entsprechung 138 Dazu H. Achenbach, Pönalisierung von Ausschreibungsabsprachen und Verselbständigung der Unternehmensgeldbuße durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997, WuW 1997, S. 958 ff.; ders., Die Verse1bständigung der Untemehmensge1dbuße bei strafbaren Submissionsabsprachen - ein Papiertiger ?, wistra 1998, S. 168 ff.; H. P. Girkensl K. Mossmayer; Die Bestrafung wettbewerbsbeschränkender Absprachen nach dem Gesetz zur Bekämpfung der Korruption, ZffiR 1998, S. 223 f.; W KleinmannlW Berg, Änderungen des Kartellrechts durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13. 8. 1997, BB 1998, S. 277 ff.; P. König, Neues Strafrecht gegen Korruption, JR 1997, S. 397 (401 ff.); M Korte, Bekämpfung der Korruption und Schutz des freien Wettbewerbs mit Mitteln des Strafrechts, NStZ 1997, S. 513 ff.; W J. Schaupensteiner; Das Korruptionsbekämpfungsgesetz. Erstes Etappenziel erreicht, Kriminalistik 1997, S. 699 ff.; G. Wolters, Die Änderungen des StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption, JuS 1998, S. 1101 ff. 139 Zu einer Kritik dieser Deliktsverknüpfungen in einem Abschnitt vgl. K. Lüderssen, Strafrechtliche Intervention im System des Wettbewerbs, in: H. Dahs (Hrsg.), Kriminelle Kartelle?, S. 53 ff. 140 Vgl. zum Folgenden nur Tröndlel Fischer; § 298 Rn. 3 ff.; H. Achenbach, in: FKGWB, § 81 GWB 1999 Rn. 50 ff.; Schönke/Schröderl Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 3 ff. 141 Vgl. Begründung: BT-DruckS. 13 I 5584 S. 9; auch in der Lit. allgemeine Ansicht: dazu nur H. Achenbach, in: FK-GWB, § 81 GWB 1999 Rn. 49 m. w. N. 142 V gl. Schönke I Schröder I Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 2 m. w. N.
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zum Betrugstatbestand - wie es der Entwurf des Bundesrates vorsah 143 - verzichtet. Vielmehr genügt nun die finale Ziel veranlassung. Zunächst war das, wie weiter unten noch näher zu begründen sein wird, eine dringend notwendige wettbewerbliche und insofern systematische Konsequenz. Gleichzeitig ging man damit aber auch Beweisschwierigkeiten im Strafverfahren aus dem Weg. Die Tathandlung besteht in der Abgabe eines Angebotes im Rahmen einer Ausschreibung. Das Angebot muß auf einer rechtswidrigen Absprache beruhen, wobei der Begriff der Absprache aus dem Schutzzweck der Norm folgt: eine Vereinbarung zwischen mehreren (mindestens zwei) Anbietern oder einem Anbieter und einer Person auf der Seite des Veranstalters darüber, daß ein oder mehrere bestimmte Angebote abgegeben werden. Die Absprache muß auf die Annahme eines bestimmten Angebotes durch den Veranstalter abzielen 144. Die Rechtswidrigkeit, die selbst kein Tatbestandsmerkrnal ist, wird bei Verstößen gegen die §§ 1,25 GWB angenommen. Tater kann jedermann sein, es liegt also kein Sonderdelikt vor; Täterschaft und Teilnahme werden nach den allgemeinen Regeln bestimmt. Der Tätervorsatz bezieht sich auf die Abgabe des Angebotes, das Beruhen des Angebotes auf der Absprache und die Ausschreibung. Streitig ist, ob der Vorsatz entweder in Form des dolus directus 1. Grades oder 2. Grades vorliegen muß 145 oder bedingter Vorsatz genügt l46 . Eine Rechtfertigung kann sich neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen 147 aus den §§ 2 ff. GWB ergeben, nicht jedoch aus dem Wahrnehmen berechtigter Interessen entsprechend der Regelung des § 193 StGB 148. Die Tat ist vollendet, wenn das Angebot beim Veranstalter eingegangen ist, und beendet, wenn der Veranstalter eine Leistung erbracht hat. Absatz 3 enthält daher schließlich eine Regelung zur tätigen Reue, die ihren Grund in der (im Vergleich zum Betrug) relativ starken Vorverlagerung des Begehungszeitpunktes hat, was "die Stellung des Deliktes im Vorfeld des Betruges" unterstreichen soll 149. Zugleich kann aber auch festgehalten werden, daß die Regelung die Differenz zum Betrug herausstellt: es dreht sich nicht um die mögliche Schädigung des Vermögens des Geschädigten, sondern um den Schutz eines Verfahrens, des Wettbewerbs, das seinerseits das Vermögen der Beteiligten, allerdings in abstrakt-grundsätzlicher Form, entsprechend schützt. Im Falle einer nachträglichen Freistellung (vor allem i. S. v. §§ 2 ff. GWB) ist u. U. eine Strafaufhebung anzunehmen 150. 143 BT-DruckS. 13 I 3353, S. 9 ff.; ebenso waren auch frühere Entwürfe konzipiert, vgl. dazu W. Möschel, Kriminalisierung, S. 63 ff. m. w. N. 144 Vgl. Schönke I Schröder I Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 11 ff. 145 Vgl. Tröndlel Fischer; § 298 Rn. 17. 146 Vgl. Schönke I Schröder I Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 16; H. Ouo, Wettbewerbs. beschränkende Absprachen bei Ausschreibungen: § 298 StGB, wistra 1999, S. 42. 147 vor allem § 34 StGB und Pflichtenkollision, Schönke I Schröder I Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 18. 148 Vgl. Tröndlel Fischer; § 298 Rn. 19. 149 Tröndlel Fischer; § 298 Rn. 20. 150 V gl. zu den Differenzierungen: Schönke I Schröder I Heine, 26. Auflage, § 298 Rn. 21.
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Das Strafverfahren fällt gemäß § 74c Abs. 1 Nr. 5a GVG in die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer. Nach § 82 GWB sind die Kartellbehörden für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und Verhängung von Geldbußen gern. § 30 OWiG ausschließlich zuständig. Das alte Recht sah einen Wechsel des Verfahrens zur Staatsanwaltschaft vor (§§ 21,40 OWiG, 152, 160 StPO), nach neuem Recht besteht nun immer noch die (für die Kartellbehörden fakultative) Möglichkeit einer Abgabe an die Staatsanwaltschaft, § 82 Abs. 1 S. 2 GWB. Nach derzeitiger Regelung sind insofern parallele Verfahren von Kartellbehörde (hinsichtlich einer Geldbuße für die involvierte juristische Person) und Staatsanwaltschaft bzw. Gericht denkbar, aber in der Sache sicher verfehlt l51 • Hier ist noch an einer Abgrenzung zu arbeiten. Die Kritik an der neuen Regelung richtet sich im wesentlichen gegen die Einstellung in das StGB, die Verfehlung des individualstrafrechtlichen Ansatzes und die Eignung des Rechtsgutes ,Wettbewerb' als Abgrenzungskriterium für den Tatbestand i52 . Es wird jedoch zu zeigen sein, daß die gesamte Konstruktion der § 298 ff. StGB zumindest den richtigen Weg zeigt, den es bei einer Inkriminierung von Kartellrechtsverstößen zum Schutze des Wettbewerbes zu beschreiten gilt. 3. Exkurs: Das Kartellstrafrecht des Alternativ-Entwurfes des StGB von 1977
Wichtig für eine Aufarbeitung des Themas ,Kartellstrafrecht' ist weiter dasjenige Kartellstrafrecht, das von deutschen und schweizer Strafrechtslehrern 1977 im Rahmen des Besonderen Teils des Alternativ-Entwurfes zu einem Strafgesetzbuch vorgelegt wurde. Dieser Teil des Alternativ-Entwurf zum StGB enthält das am weitesten ausgearbeitete Kartellstrafrecht, das im deutschen Rechtskreis entstanden ist. Nachdem 1966 der Allgemeine Teil in der 1. Auflage erschien, wurde 1977 der zweite Abschnitt des Besonderen Teils mit den Straftaten gegen die Wirtschaft herausgebracht. Der erste Titel enthält die Straftaten gegen den Wettbewerb und die Verbraucher; §§ 170 bis 175 behandeln Kartelldelikte, § 176 die Bestechung im Wirtschaftsverkehr, § 177 und § 178 die Wettbewerbsdelikte in Form der unrichtigen Wirtschaftswerbung. Allgemein merkten die Autoren zu diesem zweiten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches zunächst an, daß nach ihrer Überzeugung auch eine verbesserte außerstrafrechtliche Prävention Wirtschaftsdelikte nicht werde verhindern können. Daher sei bereits aus Gründen der Generalprävention eine wirksame Strafrechtspflege notwendig; neben (vor allem) geeigneten Tatbeständen seien da151 In diesem Sinne auch: Tröndlel Fischer; § 298 Rn. 22; H. Achenbach. Die Verselbständigung der Untemehmensgeldbuße bei strafbaren Submissionsabsprachen - ein Papiertiger?, wistra 1998, S. 168 ff.; Kleinmann/Berg. Änderungen des Kartellrechts durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8. 1997, BB 1998, S. 277 ff. (282). 152 V gl. hier nur Schönke I Schröder I Heine. 26. Auflage, Vor § 298 Rn. 1 m. w. N.
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Teil 1: Grundlagen
für auch entsprechende (durchaus praktikable) Änderungen im Verfahrensrecht erforderlich 153. An diesem Punkt ist bereits eine wesentliche Differenz zu der vorliegenden Arbeit herauszuheben: hier wird das gedankliche Gewicht bei der Strafbegründung nicht auf die Prävention (in welcher Form auch immer) gelegt werden. Es wird vielmehr der Standpunkt einer vorgreifenden Strafrechtsbegründung vertreten, die den primären Gesichtspunkt der Gerechtigkeit wieder in den Mittelpunkt rückt und empirischen (die Effizienz betreffenden) Kriterien die Stelle zuweist, die ihnen zukommt: die nachrangige und letztlich begrenzende. Nach Meinung der Autoren ist bei den Tatbeständen des Wirtschaftsstrafrechts die Verwendung der Figur der objektiven Bedingung der Strafbarkeit deshalb so charakteristisch, weil sie die praktikabelste Lösung darstelle; sie führe auch nur zu einer Einschränkung der Strafbarkeit. Nur so sei eine Art. 103 Abs. 2 GG genügende Bestimmtheit zu gewährleisten. Nur auf diese Weise sei sicherzustellen, daß Staatsanwälte und Richter Unternehmen nicht auf Verdacht in den Ruin treiben müßten i54 . Im weiteren müsse die Tatbestandstechnik der Tatsache Rechnung tragen, daß bei Wirtschaftsdelikten nicht (nur) Individualinteressen sondern vor allem überindividuelle Belange der Wirtschaft und Gesellschaft betroffen sind 155 . Als Gründe für die Inkriminierung der vorgesehenen Verhaltensweisen wurden vor allem drei angeführt 156: (i.) es gäbe mittlerweile ein gefestigtes öffentliches Bewußtsein vom Wert des Wettbewerbs in unserer heutigen wettbewerblichen Gesellschaft, (ii.) der Blick auf die ganze strafrechtliche Legalordnung zwinge wegen einer Strafgleichmäßigkeit zu einer Inkriminierung und (iii.) würde das wichtige Gegenargument nicht überzeugen, daß eine Inkriminierung nur mit hohen Einbußen bei der Praktikabilität zu haben sei; es müßten nur (in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität) die einheitliche Ermittlungskompetenz der Kartellbehörden gewahrt, die räumliche und sachliche Zentralisierung der gerichtlichen Zuständigkeit und die Beteiligung der Kartellbehörden am gerichtlichen Verfahren beachtet werden. Für alle Tatbestände des Kartellstrafrechts gelte, daß in jedem Fall die eingetretene erhebliche Verschlechterung im Hinblick auf die Produktions- oder Marktverhältnisse nachzuweisen sei 157. Schließlich erfaßten alle Tatbestände die jeweiligen Sachverhalte selbständig, also unabhängig von der Untersagung durch die Kartellbehörden und anschließendem Fortsetzen des Verhaltens. Im einzelnen waren folgende Tatbestände vorgesehen: Wettbewerbsbeschränkung durch Vereinbarung und gegenseitige Abstimmung (§ 170), Wettbewerbsverstoß nach kartellbehördlichem Einschreiten (§ 171), wirtschaftlicher Boykott (§ 172), gezielte Verdrängung von Unternehmen (§ 173), Handeln für Unterneh153 154 155 156 157
Vgl. Alt-E SIGB, Vgl. AII-E SIGB, Vgl. AII-E SIGB, Vgl. AII-E SIGB, Vgl. AII-E SIGB,
BT 11, S. BT 11, S. BT 11, S. BT 11, S. BT 11, S.
19. 19. 19. 19 f. 21.
§ 2 Das Sanktionssystem des geltenden Kartellrechts
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mensvereinigungen (§ 174), unlautere Beeinflussung von Bewerbern bei Aufträgen (§ 175) und Bestechung im Wirtschaftsverkehr (§ 176). Da die §§ 172 und 173 nur Sonderfälle des § 171 sind, § 174 nur die Geltung der Tatbestände außer für Unternehmen auch für Unternehmensverbände klarstellt und die Regelungen der §§ 175 f. im wesentlichen den heutigen §§ 297 ff. StGB gleichen, sollen hier nur die §§ 170, 171 näher erläutert werden. Für § 170 wie für § 171 ist das zentrale Rechtsgut der Wettbewerb, der nicht nur als Instrument der Wirtschaftspolitik verstanden wird, sondern zugleich aufgrund seiner Leistungen für Wirtschaft und auch Gesellschaft den Schutz der Rechtsordnung genießt; insofern ist nach Meinung der Verfasser die Strafwürdigkeit kaum anzuzweifeln l58 . Die Probleme des § 170 werden von den Verfassern eher im Bereich der gesetzlichen Bestimmtheit gesehen. Grundsätzlich wird inhaltlich an § 1 GWB angeknüpft, wobei die zu beeinflussenden Aktionsparameter nicht näher festgelegt werden. Es ist jedoch nicht jedes Verhalten strafbar, sondern nur dasjenige, das zu einer Verschlechterung u. a. der Marktverhältnisse im Einzelfall zum Nachteil der Allgemeinheit führt l59 . Die Verwendung des Begriffes "Wettbewerbsbeschränkung" führe zu einer dogmatischen Anbindung an Entwicklungen im Kartellrecht und verhindere die Abkopplung der Straftatbestände l60 . Die Verwendung des Merkmales "rechtswidrige Ausführung" nehme Bezug auf die Regel-Ausnahme-Technik des GWB, die als Entscheidung des GWB-Gesetzgebers für den Strafrechtsgesetzgeber bindend sei. Der Täterkreis wird wie im GWB aufgefaßt: Unternehmen bzw. deren Inhaber sind als taugliche Normadressaten als potentielle Täter anzusehen, jedoch nicht als Sanktionsobjekte. § 171 regelt die Fälle der Mißbrauchsaufsicht (also §§ 18,22 V, 102 11 I III, 102a 11, 103 GWB a. F.). Dabei wird nicht das Verhalten als solches unmittelbar unter Strafe gestellt, sondern es wird an den behördlichen Akt angeknüpft, der das Mißbrauchsverbot für den Einzelfall konkretisiert - entsprechend der Situation im Ordnungswidrigkeitenrecht. Der mögliche Vorwurf der Inkriminierung bloßen Verwaltungsungehorsams wird mit dem Argument zurückgewiesen, daß Abs. 4 Straflosigkeit für den Fall vorsieht, daß der behördliche Akt später aufgehoben wird. Es kommt dann - anders als bei den Vorschlägen der Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - nicht auf die Zuwiderhandlung gegen die Verfügung an, sondern darauf, daß der materielle Verstoß trotz Beanstandung fortgesetzt bzw. wiederholt wurde. Auch im Rahmen des § 171 wird auf die Verschlechterung der Produktionssituation oder der Marktverhältnisse zum Nachteil der Allgemeinheit im konkreten Einzelfall abgestellt (vgl. oben). Im einzelnen regelt der Absatz 1 in Nr. 1 die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, in Nr. 2 den Mißbrauch von MarktsteIlungen in den Ausnahmebereichen und in Nr. 3 die Durchführung von Ausschließlichkeits- und Kopplungsverträgen, die von der Kar158 159
160
Vgl. Alt-E StGB, BT II, S. 21. Vgl. Alt-E StGB, BT II, S. 23. Vgl. Alt-E StGB, BT II, S. 25.
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Teil 1: Grundlagen
tellbehörde verboten worden sind. Absatz 2 stellt die einstweilige Anordnung von Kartellbehörden oder dem Beschwerdegericht der vollziehbaren Untersagungsverfügung gleich. Absatz 3 schließlich regelt den Fall, daß die strafrechtlichen Vorschriften durch Neugründung von Unternehmen oder Änderung der Rechtsform umgangen werden sollen. Mit den §§ 170 und 171 wurde ein sehr umfassender strafrechtlicher Wettbewerbsschutz angestrebt. Sowohl die Verbots-Tatbestände als auch die verwaltungsakzessorischen Tatbestände des GWB sollten abgesichert werden. Die Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgebotes des § 103 Abs. 2 GG hielten die Verfasser zwar für gewichtig, aber auch für überwindbar.
V. Fazit Das GWB verfügt über ein differenziertes Sanktionssystem, daß vor allem Geldbuße, aber in sehr begrenztem Umfang auch Strafe und darüber hinaus auch zivilrechtliche Möglichkeiten der Sanktionierung vorsieht. Entsprechend der Tradition des Strafrechts (im weiteren Sinne) wird ausschließlich auf negative Sanktionen (Geldbuße, Strafe, Schadensersatz) gesetzt. Die Analyse legt bereits nahe, daß im Kartellrecht kein eindimensionales Sanktionssystem greifen kann, d. h. insbesondere nicht daran gedacht werden kann, das jetzige System durch ein einheitlich strafrechtliches zu ersetzen. Unterlassungs- und Schadensersatzklagen von Konkurrenten bzw. gegebenenfalls auch Verbrauchern müssen neben den administrativen Handlungsmöglichkeiten des Bundeskartellamtes stehen. Die Frage ist aus der Sicht des Kartellrechts daher, ob sich eine Strafbarkeit von Kollektiven in dieses mehrspurige System einfügen läßt und inwieweit dieses davon profitiert. Das GWB selbst enthält eine Vielzahl von Ordnungswidrigkeitstatbeständen und das StGB seit neuestem einen Straftatbestand zu den Submissionskartellen. Das System arbeitet, soweit man es empirisch tatsächlich messen kann, im wesentlichen nicht ineffektiv, wird jedoch auch nicht als sonderlich erfolgreich eingeschätzt. Und so ist auch sicher nicht die entscheidende Motivation zur Untersuchung eines Kartellstrafrechts (ebenso wie eines Kollektivstrafrechts) die Frage nach einer Effektivitätssteigerung. Es soll vielmehr insbesondere um die Frage einer Strafgerechtigkeit gehen und dann im zweiten Schritt erst um die Untersuchung einer nicht akzeptablen Effektivitätsverringerung 161 durch das Strafrecht 162 . Eine der Thesen der Arbeit ist, daß Strafrecht im Kern gerade nicht Prävention ist; diese ist vielmehr ein erwünschter Nebeneffekt eines richtig konzipier161 Daß dem Strafrecht auch bei gleicher Effektivität gegenüber dem Ordnungswidrigkeitenrecht der Vorzug gebührt, kann hier nur als These behauptet werden und wird weiter unten zu begründen sein. 162 In diesem Sinne bereits in der Einführung zu seiner Untersuchung K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 5 f.
§ 2 Das Sanktionssystem des geltenden Kartellrechts
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ten Strafrechts, das (bereits empirisch) nicht primär Lenkungsmittel sein kann l63 . Das Strafrecht soll das freie Individuum schützen und damit letztlich auch seinen (elementaren) Beitrag zur Wahrung der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft leisten. Dies findet mit der traditionellen Ansicht seinen Ausdruck in dem sozialethischen Unwerturteil des Schuldspruches über den Täter. Das deutsche Recht weist also sowohl Ansätze eines (echten) Kartellstrafrechts
(§ 298 StGB) als auch Spuren eines Strafrechts (im weiteren Sinne) für juristische
Personen in Form des Ordnungswidrigkeitenrechts mit einer Geldbuße gegen juristische Personen gern. § 30 OWiG auf. Gerade im Rahmen des Kartelldeliktsrechts hat diese Geldbuße gegen juristische Personen eine hervorragende Bedeutung, was für die maßgebliche Rolle von kollektiven Subjekten in diesem Bereich spricht. Der § 298 StGB nun kann nur ein Einstieg in ein Kartellstrafrecht sein, da er lediglich einen kleinen Bereich betrifft, der wegen seiner vermeintlichen Nähe zum Betrug lange im Mittelpunkt der Diskussion stand. Darüber hinaus dürfte er als einzelne Norm Probleme im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Forderung nach einer Ausgeglichenheit bei der Inkriminierung von Verhaltensbereichen bereiten l64 • Im Hinblick auf die Gesetzestechnik sind für die folgenden Betrachtungen eines Kartellstrafrechts vor allem die Trennung von Verbot und Sanktion, die auch damit zusammenhängende potentielle Unbestimmtheit der Verbotsnorm wegen des Verweises auf weiteres Verwaltungshandeln und die Fassung von Rechtswidrigkeit und möglicher Rechtfertigung als strafrechtliche Problemfelder zu erinnern.
Nach dem bis hierher gewonnenen Eindruck müssen die Kartelldelikte aufgrund der Tatsache, daß sie an eine Verhaltensweise anknüpfen, diese Verhaltensweise als primären Aspekt in den Mittelpunkt rücken - dann jedoch sind sie zwangsläufig eine besondere Herausforderung für das Strafrecht, da eine entsprechende Verletzung eines Handlungsobjektes als empirische Manifestation eines Rechtsgutes scheinbar fehlt: insofern liegt zunächst die Vermutung nahe, dass das Gewicht auf einem Handlungsunrecht liegen wird, die Bestimmung des Erfolgsunrechts im Hinblick auf das Rechtsgut ,Wettbewerb' Schwierigkeiten bereiten. Ein Verständnis der Delikte als abstrakte Gefährdungsdelikte ist Ausdruck davon. Vor allem der Alternativentwurf von 1977 hat Möglichkeiten und Probleme eines Kartellstrafrechts aufgezeigt; hieran kann besonders im Hinblick auf die Gesetzestechnik angeknüpft werden. Eine Strafbarkeit von Kollektiven würde sich jedoch gerade in ein Kartellstrafrecht, dessen Primärrecht sogar das Unternehmen als Normadressaten kennt, auf den ersten Blick gut einfügen, da hier das Ordnungswidrigkeitenrecht mit seiner Geldbuße gegen Unternehmen Maßstäbe gesetzt hat.
So ebenfalls K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 5 f. Vgl. zu dieser berechtigten verfassungsrechtlichen Forderung im Zusammenhang mit dem Kartellrecht nur: P. SeimeT; Kriminalisierung des Kartellrechts, S. 30 f.; allgemein zu diesem Problem: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 399, 585 ff., 593 f. 163
164
5 Kohlhoff
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Teil I: Grundlagen
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien Nach einer ersten Bestandsaufnahme des Kartellrechts und seines Sanktionssystems im Hinblick auf ein mögliches Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht muß nun ein Schritt zurück getan und der Rahmen bzw. der Hintergrund bestimmt werden, in bzw. vor dem die weiteren Untersuchungen ablaufen werden. Zunächst ist die aktuelle Situation des Strafrechts zu nennen, in der überkommene Ansichten der letzten 20 bis 30 Jahre in einer tradionell-modernistischen Form noch den Ton angeben: durch den Gedanken des Rechtsgüterschutzes (sozial-ethisch bedeutsamer Güter und Interessen) einerseits und den Gedanken der (vor allem auch: General-) Prävention andererseits. Diese Auffassung kollidiert ohne eine echte Möglichkeit der Konfliktlösung mit den Herausforderungen des Strafrechts in der modemen Gesellschaft (unten I.), diskutiert vornehmlich im Zusammenhang mit dem Umweltrecht, virulent aber gerade auch im Bereich von Wirtschaftsverfassung und Kartellrecht. Insofern scheint es unumgänglich, neue Wege zu beschreiten - ein vorschnelles Verabschieden wesentlicher Grundsätze im Sinne einer ,Kahlschlagmethode' ist dabei jedoch zu vermeiden. Es gibt einige (ganz wesentliche) Elemente bzw. Erkenntnisse des Rechts und des Strafrechts, die grundsätzlich nicht - vor allem nicht gegen positivistischen Ersatz - veräußert werden dürfen. Diese müssen kurz dargelegt werden ( unten 11.). Es geht dabei um die Entwicklung des Strafrechtsbegriffs vom Gedanken der Freiheit aus. Die weitere Beschäftigung mit dem Kartellrecht wie auch dem Kollektivstrafrecht unter dem Blickwinkel einer an den Grundfesten des Strafrechts ansetzenden Reform desselben rückt nun Aspekte in den Mittelpunkt, von denen man bislang annahm, ihre Erörterung vernachlässigen zu dürfen und die daher einige Vorarbeiten für spätere Untersuchungen zum Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht notwendig machen: die Themen bzw. Begriffe ,Macht' und ,Kollektivität' und ihre jeweiligen Strukturen (unten I1I.).
I. Die Situation des Strafrechts als Individualstrafrecht 1. Skizze der Lehre vom Rechtsgüterschutz
Dem Strafrecht wird auch heute noch ganz überwiegend die Funktion des Rechtsgüterschutzes durch Strafe und Strafandrohung gegen Individuen zugeschrieben 165. Der vorwiegende Diskussionsort dieser Thematik ist die Frage nach der Strafwür165 Vgl. zusammenfassend C. Roxin, AT I, Rn. 48; auch den Überblick bei W. Hassemer in: AK-StGB, vor § I Rn. 243 ff. (246 ff.); O. Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 5 ff. zur Dogmengeschichte und S. 53 ff. zur aktuellen Situation; grundlegend zu diesem Thema: P. Sina, Dogmengeschichte, passim; K. Amelung, Rechtsgüterschutz, passim.
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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digkeit bzw. Strafgerechtigkeit von Verhaltensweisen bzw. Normverstößen. Das Konzept des Rechtsgüterschutzes ist jedoch nicht unumstritten und teilweise heftiger und durchaus tiefgreifender Kritik aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt 166 - auch von Seiten grundsätzlicher Befürworter. Zunächst soll die Lehre vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz kurz skizziert werden l67 : Aufgabe des Strafrechts soll es danach sein, die sozial bedeutsamsten Interessen, Gegebenheiten, Funktionen bzw. Werte oder ganz allgemein sozial wichtige Bereiche mit einem besonderen Schutz zu versehen 168. Die Funktion des Rechtsgüterschutzes kommt allerdings grundsätzlich zugleich anderen Teilen der Rechtsordnung zu, so z. B. dem Zivilrecht mit seinen Unterlassungsansprüchen und seiner Ausgleichsfunktion durch die Schadensersatzpflicht. Das Zivilrecht aber wird einen ersatzbereiten und zahlungskräftigen Täter nicht von einer Tatbegehung abhalten 169. Hier greift das Strafrecht ein, das bestimmte, besonders wichtige Rechtsgüter durch Strafandrohung und Verhängung von Strafe vor bestimmten, besonders schwerwiegenden Eingriffen schützen will. Es stellt damit den Inbegriff der Sekundärrechts dar. Insofern wird die Straftat z. B. gegenüber der Ordnungswidrigkeit auch regelmäßig anhand ihrer besonderen Sozialschädlichkeit bestimmt. Wie der Schutz im einzelnen durch eine Kriminalstrafe erreicht werden kann und soll, ist Gegenstand der verschiedenen Straftheorien und weiter unten noch zu thematisieren (§ 10 11.). Zugleich mit dem eben Ausgeführten kommt nach der Lehre des Strafrechts als Rechtsgüterschutz dem Strafrecht eine kritische Aufgabe zu, denn es soll den Gesetzgeber in seinen Rechtssetzungsmöglichkeiten beschränken, damit ausschließlich die Verletzung entsprechend gewichtiger Interessen mit der Verhängung von Strafe beantwortet wird 170; daß dies überhaupt Aufgabe von reinen Strafrechtstheorien wie der Lehre vom Rechtsgüterschutz sein kann, wird gerade neuerdings nachhaltig bestritten von verfassungsrechtlich orientierten Autoren (vgl. § 3 11. 4.). Die nähere inhaltliche Bestimmung, was unter einem strafrechtlich relevanten Rechtsgut zu verstehen ist, wird nicht einheitlich vorgenommen. Sie reicht von einem Verweis auf vorpositive Werte bis zu der Feststellung einer beinahe vollkommenen Disponibilität der Güter für den Gesetzgeber l71 • Zum ganz überwie166 V gl. die ausführlichen Nachweise bei G. Stratenwerth, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 in Fn. 4. 167 Die Aufgabe des Strafrechts als Rechtsgüterschutz taucht zum ersten Mal auf bei J. M. F. Birnbaum, Erfordernis einer Rechtsgutsverletzung, Archiv des Criminalrechts n. F. Bd. 15 (1834), S. 149 ff.; Trotz eines grundsätzlichen Konsenses über die so bestimmte Funktion des Strafrechts muß dennoch unterstrichen werden, daß im einzelnen Art und Inhalt des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes sehr umstritten sind: vgl. nur G. Jakobs, AT, 2. Abschn., Rn. 7 ff. ; C. Roxin, AT, § 2, Rn. 48, jeweils m. w. N. 168 Vgl. Baumann I Weber I Mitsch, AT, § 3 Rn. 10 ff.; zu den Differenzierungen i. e. ausführlich und m. w. N.: G. Stratenwerth, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: FestschriftLenckner (1998), S. 377 (380) in Fn. 37 ff. 169 Vgl. zu diesem Beispiel: Baumann I Weber I Mitsch, AT, § 3 Rn. 10. 170 Vgl. W. Hassemer in: AK-StGB, vor § I Rn. 196. 171 Vgl. nur I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 344 ff. m. w. N.
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genden Teil wird jedoch auf die Verfassung als Ausgangspunkt der Bestimmung verwiesen - wenn auch mitunter nur mit einer gewissen Pauschalität 172 . Die Grundrechtsbestimmungen sind mit den Formulierungen zentraler Interessen und ihren Wertentscheidungen ein gewichtiges Kriterium zur Bestimmung der Strafrechtsgüter, jedoch grundsätzlich ohne entsprechende Kriminalisierungsgebote 173. Nach Claus Roxin, der sich ausdrücklich auf die Verfassung bezieht und dessen Bestimmung hier exemplarisch genannt werden soll, sind Rechtsgüter Positionen, die dem Einzelnen bei seiner freien Entfaltung oder einem dergestalt konzipierten sozialen System, in dem dieser lebt, nützlich sind l74 . Dies können dann sowohl vom Gesetzgeber vorgefundene als auch erst durch ihn geschaffene Positionen sein. Dieser Rechtsgutsbegriff ist zwar sehr weit, die einzelnen Güter für sich gewinnen jedoch durch gegenseitiges Abwägen an konkreter Gestalt. Als strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut kann aber nur - unabhängig von der Frage der konkreten Bedeutung eines Gutes für den Einzelnen und die Gesellschaft - ein Interesse eingestuft werden, das tatsächlich in der Gesellschaft besteht, das verletzt oder gefahrdet zu werden droht (mit entsprechender Schwere und/ oder Häufigkeit) und das auch tatsächlich gesellschaftlich als bedroht empfunden wird 175 • Zu den Fragen der Differenzierung von Individual- und Kollektivrechtsgütern soll später Stellung bezogen werden, wenn es um die strafrechtliche Fassung des Wettbewerbs als Institution geht. 2. Allgemeine Kritik
Trotz ihrer unbestrittenen Verdienste wird an der traditionellen Lehre vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz von verschiedenen Seiten Kritik geübt l76 . Die Kritik zielt in der Summe vor allem darauf, daß diese Theorie nicht in der Lage sei, eine Vielzahl von Fragestellungen zu beantworten, die in ihrem unmittelbaren Umfeld liegen und deren Lösung eigentlich ihre Aufgabe sein sollte. Die Kritik erfolgt im wesentlichen aus drei Richtungen: dogmatische Relativierungen des RechtsgutsKonzeptes, die aber nicht an der grundsätzlichen Prägung des Strafrechts in diesem Sinne rütteln, Kritiken, die zwar ebenfalls am eigentlichen Gedanken festhalten 172 Vgl. nur W Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 197 ff.; Baumann/Weber / Mitsch, AT, § 3 Rn. 12; C. Roxin, AT I, § 2 Rn. 9 ff.; eine umfassende Kritik aus verfassunsgrechtlicher Sicht findet sich bei I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 303 ff., 340 ff., insbes. 348 ff.; vgl. dazu auch unten § 3 11. 4. 173 W Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 199 m. w. N.; vgl. hierzu insbesondere BVerfGE 39, 1 (46 ff.); zu den Einzelheiten auch: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 67 ff. 174 Vgl. nur C. Roxin, AT, § 2 Rn. 9. 175 Vgl. hierzu W Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 200 m. w. N. 176 Vgl. nur G. Jakobs, AT, 2. Abschn., Rn. 22, S. 44; M. Pawlick, Betrug, S. 46 ff.; E.-A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff.; M. Köhler, AT, S. 24 f.; weitere Nachweise bei W Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 246 ff. und insbes. S. 262 ff.; G. Stratenwerth, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 ff., insbes. S. 388 ff.
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wollen, aber die Funktion des Strafrechts anderweitig bestimmen und schließlich Kritiken, die sich gegen die strafrechtsimmanenten Diskussionen um die Funktion und damit vor allem Begrenzung des Strafrechts stellen. Das erste Problem taucht bei der bloßen Bestimmung des Rechtsgutes als Interesse, Gegebenheit, Funktion oder Wert auf. So merkt zu Recht Günther Stratenwerth an, daß es sich beim Rechtsgutssubstrat eigentlich um die bewertete Beziehung von Menschen zu allgemeinen Interessen handelt l77 . Genauer muß es sich aber um die "dem Recht entsprechende Verfügbarkeit des Guts" handeln, da weder die rechtliche Zuordnung alleine noch die faktische Einwirkungsmöglichkeit genügen kann 178. Dies gilt zunächst für die Individual-Rechtsgüter. Als strafrechtlich relevante Rechtsgüter kommen aber nicht nur diese in Betracht, sondern auch Kollektiv- bzw. Universal-Interessen - was an dieser Stelle nur als Behauptung in den Raum gestellt wird l79 . Hier wird die Zuordnung zu einem greifbaren Gut schwierig und damit auch die Formulierung einer vergleichbaren Beziehung wie beim Individual-Rechtsgut I8o . Letztlich wird dies im Einzelfall aber vor allem auf ein Verifikationsproblem hinauslaufen. Darüber hinaus existiert im geltenden Strafrecht tatsächlich eine Mehrzahl von Regeln, die sich jeder rechtsgutsdogmatischen Einordnung mehr oder weniger erfolgreich widersetzen 181 • Diese nachhaltige Kritik konstatiert daher zu Recht, daß die Entwicklung eines einheitlichen Begriffs des Rechtsguts, der auf alle Tatbestände eines Strafgesetzbuches in einer modemen Gesellschaft paßt, ein von vorneherein vergebliches Unterfangen ist - es gleicht "der Quadratur des Zirkels.. 182 . Das kann und soll aber auch nicht das vollständige Ablehnen dieses Gedankens bedeuten. Er ist eine unerläßliche Argumentationsfigur und er bildet den kritischen Bezugspunkt jeder tatbestandlichen Diskussion. Durch diese kritische Funktion sollen vor allem Versuche vereitelt werden, das Strafrecht zu instrumentalisieren; aus dem Strafrecht sollen auf diesem Wege Willkür, Ideologiesierungen und der Schutz bloßer Moralwidrigkeiten ausgegrenzt werden. Das Konzept des Strafrechts als Rechtsgüterschutz soll dann immer noch sowohl Entscheidungshilfe für den Gesetzgeber bei 177 Vgl. G. Stratenwenh, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (383) m. w. N. 178 Vgl. G. Stratenwenh, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (384 f.). 179 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, § 3, Rn. 13; zum Streit um die Ableitung der beiden Arten von Rechtsgütern und ihr Verhältnis zueinander vgl. an dieser Stelle nur W. Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 271 ff.; dazu im einzelnen unten § 5 11. 180 Vgl. G. Stratenwenh, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (385 f.), allerdings mit der Verallgemeinerung, daß eine solche Zuordnung grundsätzlich nicht möglich sei; dies wird im Laufe der Arbeit gerade im Hinblick auf die Problematik des Schutzes des Wettbewerbs zu widerlegen sein. 181 Vgl. G. Stratenwenh, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (386 f.) unter Hinweis auf die §§ 169, 189 StGB, § 17 TierSchG. 182 G. Stratenwenh, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (388).
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der kriminal politischen Frage nach der Inkriminierung von Verhaltensweisen als auch zugleich "externer Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidungen" sein l83 . Günther Jakobs bringt - neben der Feststellung eines sehr dürftigen Ertrages der Rechtsgutslehre, die sich vor allem auf die zu unpräzise Beschreibung des Begriffes Rechtsgut bezieht und darauf, daß es auch (strafrechtliche) Normen gebe, denen kein Rechtsgut unterlegt werden könne - zwei andere Kritikpunkte: Zum einen müsse die Rechtsgutstheorie auf das ihr nicht innewohnende Kriterium der Sozialschädlichkeit zurückgreifen, um die Strafwürdigkeit bestimmter Rechtsgutsverletzungen gegenüber vielen anderen Rechtsgutsverletzungen zu begründen. Zum anderen könne die Rechtsgutslehre aus sich heraus auch nicht erklären, warum prinzipiell strafrechtlich zu schützende Rechtsgüter nur gegen bestimmte Verletzungsformen geschützt werden bzw. zu schützen sind. Es bestehen nun erhebliche Zweifel, ob die erste Kritik überhaupt verfängt. Das wird sich später aus den Betrachtungen zur Abgrenzung von Kriminalunrecht zu den Ordnungswidrigkeiten ergeben 184. Hinsichtlich der zweiten Kritik stellt sich dann schnell heraus, daß es sich nur noch um ein Scheinproblem handelt, denn nur bestimmte Formen der Verletzung eines Rechtsgutes erfüllen eben den notwendigen Grad der Sozialschädlichkeit (um kurz in dieser Terminologie bzw. Dogmatik zu bleiben). Dahinter dürfte das Bestreben stehen, zu den von Jakobs formulierten (Verletzungs-) Zuständigkeiten im Strafrecht zu kommen. Michael Pawlik greift die dogmatischen Grundlagen von Jakobs Lehre des Strafrechts als ,Einübung in Normanerkennung' auf und entwickelt von ihr aus seine Konzeption des Strafrechts unter der Überschrift ,Straftat als freiheitsmißachtender Gegenweltentwurf d85 . Er stellt seine Ausführungen auf eine umfassende freiheitsrechtliche Basis und hält von da aus der Rechtsgutslehre entgegen, daß sie nicht in der Lage sei, präzise die Verteilung der Verantwortung für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter zwischen Opfer (Rechtsgutsinhaber) und Täter aufzuzeigen, sondern das Opfer nur "auf die Rolle des Inhabers eines bestimmten Rechtsgüterbestandes" reduziere, und daher letztlich nicht in der Lage sei, die Strafbarkeit von bestimmten verletzenden Handlungen Anderer befriedigend zu begründen l86 . Dem könnten auch die modifizierten Meinungen nicht abhelfen, die einen viktimologisch-theoretischen Ansatz verfolgten l87 . Auch wenn damit neue Aspekte eingebracht werden, steckt doch auch hier ein ganz ähnlich motiviertes Bestreben wie das von Jakobs dahinter. Die Stoßrichtung stimmt insofern, als eine gehaltvolle Begründung der ,Zuständigkeit' (in der Diktion von Pawlik und Jakobs) in Sicht kommt: der Gedanke der Freiheit als Selbstbestimmung / Autonomie. Aber sie reicht nicht 183 184
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W Hassemer in: AK-StGB. vor § 1 Rn. 261. Vgl. unten § 4. M. Pawlik, Betrug, S. 46 ff., insbes. 56 ff. M. Pawlik, Betrug, S. 48 f. M. Pawlik. Betrug, S. 49, insbes. 50 ff.
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weit genug. Die Kritik muß mit einer freiheits gesetzlichen Rechts- und insbesondere Strafrechtskonzeption verbunden werden, wie sie gleich vorgestellt und im weiteren dann auch der Arbeit zugrunde gelegt werden soll. Der Befund bis hier stellt sich nun wie folgt dar: Der Begriff des Rechtsgutes ist bisher unpräzise gefaßt worden und kann vermutlich gar keine festeren Konturen haben. Vielmehr besteht seine Funktion in der Rolle einer Argumentationsfigur, die als Orientierungspunkt in der zu führenden Diskussion über die Begründung von Normen, Prinzipien und in ihnen zu verwirklichenden Werten dienen kann. Er stellt jedenfalls den wesentlichen Bezugspunkt der Diskussion in Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik dar. Anhand eines solchen Begriffs läßt sich aber kaum eine überzeugende Bestimmung der Funktion des Strafrechts vornehmen. Die Lehre vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz ist denn auch inhaltlich unbefriedigend. Sie vermag wohl überhaupt nur in Kombination mit einem konstitutionellpositivistischen Ergänzungselement (insbesondere durch Verweis auf Grundrechte) eine gewisse, wenn auch trügerische Überzeugungskraft zu erlangen, denn mit ihm wird kein eigenständiger materieller Begriff der Kriminalstraftat geliefert. Es müssen jedoch Fragen weitgehend oder gänzlich offen bleiben, wenn z. B. manchen Tatbeständen gar kein Rechtsgut zugeordnet werden kann. Die verschiedenen Kritiken sehen sich allerdings ihrerseits nicht in der Lage, befriedigende Alternativen anzubieten. Im gegebenen Zusammenhang dürfen solche Detailprobleme allerdings vernachlässigt werden.
3. Analyse der tatsächlichen Situation des Strafrechts (die Herausforderungen im allgemeinen)
Diese Kritik ist nun in den größeren Rahmen zu stellen, um einen Eindruck zu gewinnen, in welche Richtung eine wirkliche Fortentwicklung des Strafrechts weisen muß - denn um eine solche würde es sich bei einer Einführung von Kartellund Kollektivstrafrecht fraglos handeln. Es soll zu diesem Vorhaben an Ausführungen von Günther Stratenwerth angeknüpft werden, die seinem Vortrag ,,zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts?" auf der Strafrechtslehrertagung in Basel 1993 entstammen 188 . Sie stehen zwar ursprünglich im Kontext von Überlegungen zum Umweltstrafrecht, sind aber insgesamt symptomatisch für die spezifischen Herausforderungen des Strafrechts in der nahen und mittleren Zukunft, wie sie grundsätzlich von Umweltschädigungen ebenso ausgehen wie von Wettbewerbsschädigungen. Stratenwerth nennt zunächst drei Gründe, warum die Zukunftssicherung den Horizont des traditionellen Strafrechts überschreitet: Zu der Regelung sozialer Konflikte der Gegenwart trete jetzt die Sicherung der Grundlagen für die folgen188 G. Stratenwerth, Zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts?, in: ZStW 105 (1993), S. 679 ff.
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Teil I: Grundlagen
den Generationen l89 ; die Unrechtsstruktur orientiere sich traditionell an sinnlich wahrnehmbaren Eingriffen in konkrete Interessen, wohingegen es jetzt um nicht wahrnehmbare Großrisiken gehe; die alte Dogmatik nehme daher auf den (erkennbaren) kriminellen Akt und das Subjekt Bezug, sehe sich aber nun mit einem komplexeren Zusammenspiel von verschiedenen Beiträgen konfrontiert. Die daraus resultierenden dogmatischen Probleme charakterisiert er wie folgt: Der klassische Begriff des Rechtsguts leistet in dieser Situation kaum noch etwas zur Bestimmung des Schutzumfanges, Handlungserfolg und Zurechnung werden ungreifbar (was ist der Erfolg, wann ist gegebenenfalls das erlaubte Risiko überschritten?), die Bestimmung des Urhebers bzw. Täters und schließlich die Frage nach dem straffähigen Subjekt (soziologisch gesehen: Objekt, da als Subjekt diejenige Instanz zu bezeichnen ist, welche die Strafe festsetzt bzw. vollstreckt 190) stellen das Strafrecht vor scheinbar unüberwindliche Probleme. Auch wenn diese Aussagen primär für das Umweltrecht getätigt wurden, so sind sie doch auf den vorliegenden Kontext übertragbar. Für die Frage nach dem straffähigen Sanktionssubjekt ist das im Kartellrecht und seiner repräsentativen Geschichte der Ordnungsgeldbuße gegen juristische Personen nur zu offensichtlich. Aber auch hinsichtlich der Rechtsgutsproblematik bewegt man sich auf dem gleichen, zumindest auf ganz ähnlichem Terrain, wie zu zeigen sein wird. Im fundamentalen Bereich des Wettbewerbs und im Kartellrecht geht es gerade um Großrisiken i. S. v. System- bzw. Gesellschaftsrisiken. Die Handlungen einzelner können in diesen Fällen ein ganzes System zum Kollabieren bringen. Und die Handlungen und Konfliktsituationen, die dazu führen, haben einen das Fassungsvermögen der traditionellen Dogmatik bei weitem übersteigenden Grad an Komplexität. Im Bereich des Kartellrechts ist wohl ein weiteres Moment hinzuzufügen: die zunehmende Beschleunigung sehr weiter Bereiche unseres Lebens und damit das schnellere Auftauchen neuer, in jedem Fall neu gewandeter Konflikte. Die Wirtschaft ist ein solcher Bereich, die soziale Kommunikation im Kontext von Internet/Multimedia ein anderer. Dort finden grundlegende Umwälzungen in immer kürzeren Abständen statt. Durch die technologische Revolution im Bereich der Datenverarbeitung dynamisiert, wandeln sich auch die wirtschaftlichen Verhältnisse zunehmend schneller. Der Druck im Wettbewerb wird dadurch erhöht. An diesem Trend wird sich in mittelbarer Zukunft auch nichts ändern, selbst wenn hier zwischenzeitlich eine Verlangsamung eintreten sollte. Als Konsequenz ergeben sich erhebliche neue gesellschaftliche Spannungen, deren Problembeladenheit und Konfliktträchtigkeit und Tragweite wir klar erkennen, zu denen sich aber in der 189 Zu diesem Problem, das vorliegend nicht behandelt werden kann (und auch im Hinblick auf das Kartellrecht nicht behandelt werden muß) vgl. nur D. Bimbacher; Ökophilosophie, passim; vgl. auch die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Ökologie und Ethik. 190 Es soll aber im weiteren - dann rechtssoziologisch inkonsequent - vom Sanktionssubjekt die Rede sein, da es sich im allgemeinen rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext um Subjekte dreht, die im Zentrum stehen.
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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Gesellschaft noch keine überkommenen Urteile gebildet haben, eine - u. U. empirisch belegbare - Sozialethik insoweit noch nicht existiert l9l . Die sich daran anschließende Frage ist, ob das bedeuten kann oder muß, daß diese Probleme tatsächlich zunächst ethisch, dann weiterhin rechtlich und schließlich strafrechtlich irrelevant sind. Nach meiner Überzeugung kann das nicht der Schluß sein. Wir sind an eher gemächliche Veränderungen unserer Lebensverhältnisse zumindest in den letzten 50 Jahren gewöhnt. Die bürgerliche Gesellschaft geht mindestens in das 3. Jahrhundert ihrer Existenz. Möglicherweise ist jedoch das Strafrecht tatsächlich nicht für entsprechende Veränderungen geeignet und es macht keinen Sinn, mehr zu fordern, als tatsächlich geleistet werden kann. Der - bereits angekündigte Weg zu einer entsprechenden Erkenntnis muß daher über ein Herausschälen des wesentlichen Kerns des Strafrechts hin zu dem Aufdecken seiner sich daraus ergebenden möglichen Funktionalität führen. Stratenwerth sieht das Grundproblem der Diskussion in der Gegenüberstellung von nur zwei Lösungsalternativen: dem Rückzug auf das traditionelle Strafrecht symptomatisch hier: die personale Rechtsgutslehre von Hassemer u. a. 192 - oder der Umgestaltung des Strafrechts zu einem rein funktionalistischen System 193 • 194. Der funktionalistischen Sicht hält er entgegen, daß sie vom Strafrecht nur noch den Namen lasse, wenn Verantwortung und Zurechnung verschwinden, und dem traditionellen Standpunkt, daß die dort aufgezeigten Alternativen zum Strafrecht (Zivilrecht, Öffentliches Recht, Opfervorsorge oder der Markt) ungeeignet seien, um allein die Probleme zu lösen, und darüber hinaus es wohl vollkommen unver191 Damit soll nicht notwendig die These bestritten werden, daß aus dieser gesamten Entwicklung mittelfristig volkswirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Fortschritt resultieren wird; vgl. dazu auch allgemein: B. Rüthers, Die Unsicherheit des Rechts, in FS-Rebmann (1989), S. 77 ff., der sich allgemein mit der Unsicherheit des Rechts beschäftigt, aber auch darlegt, daß die Unsicherheit in weiten Bereichen aus der Natur des Rechts selbst resultiert. Der soziale / gesellschaftliche Wandel ist eine, wenn auch wesentliche Ursache, zusammen mit der Sprache als dem Mittel des Rechts und der Gerechtigkeit bzw. der Rechtsidee als zentralen Bezugspunkten. 192 Vgl. dazu unten § 5 11. 193 Maßgeblicher Protagonist dieser Strömung ist hier bekanntlich Günther Jakobs, vgl. hier nur: Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und ,alteuropäischem ' Prinzipiendenken, ZStW 107 (1995), S. 843 ff. 194 Mit dem Spannungsverhältnis zwischen traditionellem (normativem) und funktionalem Strafrechtsverständnis beschäftigen sich die Vorträge von H. Müller-Dietz, Gibt es Fortschritt im Strafrecht?, und U. Neumann. Vom normativen zum funktionalen Strafrechtsverständnis. beide in: Jung I Müller-Dietzl Neumann (Hrsg.), Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, S. 31 ff. bzw. 57 ff.; Müller-Dietz konstatiert vor allem, daß die Kritik am traditionellen Strafrecht zunehmen wird. Dies zum einen, weil ihm die Einwände vorgehalten werden, die gegen jede naturrechtliche Begründung vorgebracht werden, zum anderen, weil man ihm vorwirft wie ja eben Stratenwerth - die Rolle des Strafrechts in der heutigen Zeit zu verkennen. Neumann analysiert die Grundlagen der verschiedenen Ansichten und kommt zu dem Ergebnis, daß an einem idealistisch fundierten absoluten Verständnis von Strafe festgehalten werden müsse, weil ein ,relativ' fundiertes Strafrecht den Boden unter den Füßen verliere - einen ,dritten Weg' sieht er nicht.
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Teil 1: Grundlagen
hältnismäßig sei, die Verletzung des Einzelnen so viel höher zu gewichten als den Entzug der Lebensgrundlage für viele. Es müsse daher ein dritter Weg beschritten werden, dessen grober Verlauf sich aus den Ursachen der Bedrohung ablesen lasse, die er im Avancieren einer instrumentellen (wirtschaftlich-technischen) Vernunft zu der abendländischen Rationalität und der Durchsetzung individueller Freiheiten sieht - bei des resultierend aus einem anthropozentrischen Weltbild und einem daraus folgenden naturalistischen 195 Selbstverständnis des Menschen als Herrscher über seine Umwelt und damit u. a. auch die Natur l96 . Es geht für Stratenwerth um das Abwägen der Interessen des Einzelnen und der Gesamtinteressen der Menschheit (in seinem konkreten Fall in bezug auf umweltrechtliche Fragestellungen). Es geht danach um die Akzeptanz der richtigen Freiheitsbeschränkungen und die Ablösung des instrumentellen Denkens durch eine praktische Vernunft. In seinem Kontext auf den Punkt gebracht: um eine Bewegung weg von "Mensch hier und Natur dort" hin zu einem Erkennen von Lebenszusammenhängen. Hier wird jedoch deutlich, daß Stratenwerths Ausführungen nur einen Aspekt unter mehreren, miteinander zusammenhängenden tangieren: Es muß insgesamt in der Ethik und dann auch weiter im Recht mehr um den richtigen Blick auf die Interessen der Gesamtheit gehen, ohne aber zu einer etatistischen Konzeption im günstigen Fall, einem totalitären Verständnis im ungünstigen Fall zu gelangen. Die Sicherung der Stellung des Individuums bei gleichzeitiger richtiger Bestimmung des Wertes der Gesamtheit ist das Ziel. Die Herausarbeitung der (potentiellen) Rolle des Menschen als eines vernunftbegabten, zur Freiheit fähigen und auch drängenden Wesens ist eine große Errungenschaft - bei der reinen Betonung des Individuums genügt sie aber nicht den Anforderungen an eine ganzheitliche Ethik. Es muß die gemeinschaftliche Dimension auch in das (Straf-) Recht eingeholt werden. Dies ist auch die Berücksichtigung der Lebensgrundlagen für künftige Generationen; es ist aber ebenso die Integration des Schutzes heutiger Grundbedingungen unserer Gesellschaft, also - so die hier vertretene These - auch des Wettbewerbssystems. Wenn vor allem angeführt wird, daß gerade ein personales Strafrecht - Orientierung am Individuum und an Individuen-Konflikten - alles sei, was wir realisieren könnten, dann muß dem zu allererst entgegengehalten werden, daß es unrealistisch erscheint, von einem Strafrecht noch Akzeptanz zu erwarten, das sich nur einem Teilausschnitt der schweren gesellschaftlichen Probleme widmet. Diesen Problemen wegen ihrer komplexeren Struktur, die nur eine Konsequenz der Differenzie195 Der Begriff ,naturalistisch' wird hier wie auch im folgenden nicht i. S. v. von ,ökozentrisch' oder ähnlichem verstanden, sondern als Gegensatz von .normativ'. 196 G. Stratenwerth, Zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts ?, ZStW 105 (1993), S. 679 (689); in dem Sinne, daß sowohl das idealistisch-traditionelle als auch das funktionalistische Strafrecht als Kinder der Aufklärung die gleichen Wurzeln haben: H. Müller-Dietz, Gibt es Fortschritt im Strafrecht?, in: Jung I Müller-Dietzl Neumann (Hrsg.), S. 31 (49 ff.).
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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rung in der Gesellschaft ist, die sozialethische Relevanz abzusprechen, ist zu einfach und vor allem blind gegen gesellschaftliche Entwicklungen. Die Suche nach eine Lösung im Strafrecht muß eine äußerst ernsthafte sein und darf nicht libertin kurz unterhalb der Oberfläche stehen bleiben.
11. Unveräußerbare Grundpositionen: Recht und insbesondere Strafrecht als Entfaltung der Freiheit
1. Bedeutung der Frage nach der Freiheit
Die entscheidende, weiterführende Kritik am überkommenen Strafrecht und damit auch an der Rechtsgüterschutz-Theorie kommt nun von anderer Seite: Diese Ansicht sieht das Problem der geltenden Strafrechtsdogmatik darin, daß sie der freiheitlich-vernünftigen Natur des Menschen nicht gerecht wird. Dieser Gedanke der Freiheit, der - im positiven Zusammenhang von Recht und Gesellschaft - das spezifisch Menschliche ausmacht und daher nicht zuletzt die Grundlage unseres Verständnisses von Menschenwürde liefert 197, muß in den Mittelpunkt gerückt werden, will man die Möglichkeiten des Rechts im allgemeinen und des Strafrechts im besonderen richtig und vollständig entfalten und sie zugleich vor Mißbrauch schützen. Wie eingangs bereits erwähnt, wird diese zentrale Bestimmung der Freiheit, als grundlegend vorausgesetzt und hier nicht umfassend begründet. Die Arbeit soll die Zusammenhänge von Kartellrecht und Kollektiv im Strafrecht beleuchten und kann daher ein Thema wie das der Freiheit, das bestenfalls in einer eigenen Monographie entsprechend gewürdigt werden könnte, nicht erschöpfend behandeln. Die folgenden Ausführungen dienen daher zum einen dem Ziel, die strafrechtsdogmatischen Prämissen darzulegen, von denen im weiteren ausgegangen wird, und zum anderen, zumindest plausibel zu machen, warum es für das Recht angemessen ist, die Freiheit so in den Mittelpunkt zu rücken. Autoren wie vor allem Ernst-Amadeus Wolff - diesem folgend Michael Köhler, ähnlich u. a. auch Rainer Zaczyk und Wolfgang Schild - nehmen ihren Ausgangspunkt beim zur Freiheit fähigen Subjekt: Sie stellen fest, daß Rechtsgüter nicht mit der herrschenden Meinung als objektive Sozialwerte gesehen werden können, sondern sich erst in freiheitsgesetzlicher Normbildung und Normentfaltung als "Inbegriff der auf ein besonderes (subjektives, intersubjektives) Freiheitsdasein und dessen Existenzbedingungen bezogenen rechtlichen Verhaltensnormen" herausbilden 198. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, daß die Rechtsgutslehre keine be197 Vgl. dazu ausführlich W. Schild. Freiheit - Gleichheit - "Selbständigkeit" (Kant): Struktunnomente der Freiheit, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenwürde und Demokratie, S. 135 ff. (insbes. 162 ff.) m. w. N.; vgl. auch die Beiträge in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte.
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Teil I: Grundlagen
friedigenden Kriterien zur Abgrenzung von Kriminalunrecht und anderen Unrechtsformen, also auch vor allem von Ordnungswidrigkeiten, bereitstellen kann 199 • Da dieser dogmatischen Grundlegung im Hinblick auf die Beurteilung der Kartellrechtsverstöße und auch auf die Bestimmung des Strafbegriffs als Fundament für ein Kollektivstrafrecht entscheidende Bedeutung zukommt, soll sie hier ausführlicher dargestellt werden2OO . In der vorliegenden Arbeit geht es nun um zweierlei Erscheinungsformen des Begriffes der Freiheit, von denen nicht von vornherein sicher ist, ob sie denselben Inhalt aufweisen: Einerseits wird ein für unsere Rechtsordnung grundlegender Begriff der Freiheit behandelt werden 201 . Dies macht eine kurze Erinnerung an ein gängiges Verständnis der strafrechtlichen Schuld deutlich, von der noch ausführlich zu handeln sein wird: an ein Verständnis der Schuld als Vorwerfbarkeit in der Form, daß der Adressat des Vorwurfes auch hätte anders handeln können. Das impliziert eine - wie auch immer zu fassende Form von - Freiheit in der Entscheidung. Das dahinter liegende Verständnis der Freiheit als Selbstgesetzgebung wird von Michael Pawlik auch als Legitimations-Paradigma der neuzeitlichen praktischen Philosophie und vor allem Rechtsphilosophie bezeichnet202 . Neben diesem grundlegenden Begriff der Freiheit geht es in der Arbeit weiter um den Begriff der Freiheit in der Wirtschaft, insbesondere der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und die Bezüge zur Freiheit im Wettbewerb und damit zum Kartellrecht203 . Es wird der rechtliche und vor allem strafrechtliche Begriff der Freiheit dem der Freiheit im gesellschaftlichen Subsystem der Wirtschaft gegenüberzustellen und deren Verhältnis zu analysieren sein. Diesen Betrachtungen zu den beiden genannten Begriffen der Freiheit sollen einige allgemeine Gedanken 198 Vgl. E.-A. Waljf., Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; ders., Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff. (Zitat); vgl. auch M. Köhler, AT, S. 24 f.; ders., Begriff. der Strafe, passim; R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 126 ff. ; W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13, Rn. 49 ff., insbes. 60 ff.; in die gleiche Richtung gehen auch die Arbeiten von M. Kahla, Unterlassung, S. 181 ff.; R. Harzer, Unterlassene Hilfeleistung, S. 251 ff., insbes. 287 ff. entwirft in ähnlicher dogmatischer Orientierung eine Theorie des Besonderen Teils des Strafrechts. 199 Vgl. E.-A. Waljf., Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff.; M. Köhler, AT, S. 24; dazu ausführlich unten § 4. 200 Auf eine Darstellung der rechtsphilosophischen Grundlagen soll dabei jedoch aus Platzgründen verzichtet werden. Hier kann auf die ausführlichen Ausarbeitungen der in Fn. 204 genannten Autoren verwiesen werden, insbes. E.-A. Waljf., Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 ff. (mit Bezug auf Kant); M. Köhler, AT, S. 7 ff. (mit Bezug vor allem auf Hegel) m. umfassenden w. N. 201 Vgl. dazu sogleich, § 3 11. 3. und vor allem unten § 10 11. 202 Vgl. hierzu M. Pawlik, Betrug, S. 15 und weiter 16 ff. 203 Vgl. dazu unten § 5.
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zur Struktur dieses Begriffes vorangestellt werden. Nur auf einer solchen Basis kann die wirtschaftliche (Handlungs-)Freiheit, die sowohl zugunsten eines Kartell strafrechts als auch als Argument dagegen ins Feld geführt wird, untersucht und beurteilt werden. Später wird dann nachzuweisen zu sein, daß ein Kollektivstrafrecht sich auch mit unserem Bild des freien Menschen in der freien Gesellschaft verträgt. Für eine ausführliche Erläuterung des Begriffes der Freiheit gibt es im Rahmen der Arbeit noch einen weiteren Grund: Überlegungen zur Freiheit bilden notwendigerweise zugleich die Kehrseite von Betrachtungen zum Begriff der Macht, der vor allem für das Kartellrecht, aber auch für die Begründung eines Kollektivstrafrechts von großer Bedeutung ist. Macht ist immer nur aus einem Grunde problematisch: sie ermöglicht es ihrem Inhaber, seine Absichten durchzusetzen, nötigenfalls gegen die Meinung oder auch den Widerstand von anderen - sie ist somit die Grundlage von Willkür. Da in den gegebenen sozialen Umfeldern wohl nahezu nichts unbegrenzt vorhanden ist - den Raum, einander beliebig weit auszuweichen, mit inbegriffen - impliziert diese Überlegung bereits, daß Machtausübung regelmäßig zu Freiheitseinbußen anderer führen muß. Macht und ihre Ausübung und Freiheit und ihre Sicherung beziehen sich notwendig aufeinander. Freiheit ist also - so der naheliegende Schluß bis hier - insbesondere gegen die Gefahren zu sichern, die von Macht in ihrer - noch näher zu erläuternden - personalen und strukturellen Dimension ausgehen; letztlich ist sogar eine klare Absicht, andere ihrer Freiheit zu berauben und zu knechten, solange von geringer Relevanz, wie die dazu notwendige Macht nicht zur Verfügung steht. Der - hier nicht umfassend behandelten - Frage, ob es überhaupt begründet bzw. angemessen ist, der Freiheit einen derart zentralen Stellenwert einzuräumen, soll der nächste Abschnitt gewidmet sein. Der Umstand, daß dies bekanntlich ein weites und unübersichtliches Problemfeld darstellt, hat Michael Pawlik in seiner Abhandlung zum Betrug dazu veranlasst, den Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung mit der Begründung vorauszusetzen, daß eine Auseinandersetzung mit ihm sich entweder in "Trivialitäten erschöpfen müsste oder aber die Grenzen der [ ... ] Arbeit weit überschreiten würde,,204. Vorliegend soll eine Antwort auf die Frage nach der freien Natur des Menschen, seiner Selbstbestimmung bzw. Autonomie skizziert werden, da es doch dem Leser gegenüber als eine zu starke Zumutung erscheint, diese Idee einfach ohne erkennbare und nachvollziehbare - mindestens in einem gewissen Maße plausible - Begründungsschritte zu akzeptieren. Eine umfassende Auseinandersetzung mit allen in diesem Zusammenhang vertretenen Positionen und Argumenten wird jedoch auch hier nicht versucht. Dennoch wird ausdrücklich nicht von der Warte des desengagierten Betrachters gehandelt.
204
M. Pawlik, Betrug, S. 18 f.
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Teil 1: Grundlagen
2. Die freiheitliche Natur des Menschen
Man kann u. a. mit Isaiah Berlin, der sich maßgeblich mit dem Begriff der Freiheit beschäftigt hat, zwei Grunddifferenzierungen als prägend für diesen - ansonsten in weiten Bereichen unscharfen - Begriff bezeichnen 205 : die zwischen dem positiven und dem negativen Aspekt der Freiheit und die zwischen der Freiheit des einzelnen Individuums und einer menschlichen Gruppe 206 . Die zweite Differenzierung ist später im Teil 4 hinsichtlich der Konstitution der Rechtsordnung gerade auch durch Kollektive von Bedeutung und soll daher an dieser Stelle zunächst außer Betracht bleiben. Es stellen sich damit drei Fragen im Zusammenhang mit jeder Thematisierung der Freiheit: (i.) Wer soll frei sein?, (ii.) Wovon soll er frei sein? und (iii.) Wozu soll er frei sein?207 Während sich die erste Frage naturgemäß nur im konkreten, praktischen Einzelfall stellt, kann man die anderen beiden Fragen im Hinblick auf ihre Struktur auch grundsätzlich beleuchten. Im negativen Sinne frei ist derjenige, dessen Handeln kein Hindernis im Weg ist bzw. der keinem Zwang ausgesetzt ist, in einer bestimmten Weise zu handeln. Als positiv frei kann derjenige bezeichnet werden, dessen Handlungen in einem weitesten Sinne Ausdruck seiner selbst sind, wobei diese Begriffsbestimmung natürlich mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden kann. Beispielhaft seien nur genannt Freiheit als Autonomie, Freiheit als Selbstbeherrschung, Freiheit als Macht, Freiheit als Authentizität und Freiheit als Selbstverwirklichung208 . Es sei an dieser Stelle dahingestellt, wie diese Alternativen im einzelnen zu beurteilen sind. Zwei Schlußfolgerungen liegen jedoch auf den ersten Blick nahe: Es kann zum einen weiter zwischen der Freiheit und ihren Ausübungsbedingungen unterschieden werden, und zum anderen muß der Begriff komplexer sein, um tatsächlich etwas aussagen zu können - erscheinen doch alle Alternativen als zunächst plausible Konnotationen des Begriffs ,Freiheit'. Für die Begründung im Recht kommt es jedenfalls offensichtlich auf den positiven Aspekt der Freiheit an, will man diese als spezielle Fähigkeit des Menschen in das Zentrum rücken. Zentrale Grundfrage in diesem Zusammenhang ist nun: Inwieweit kann man überhaupt berechtigterweise davon ausgehen, daß es so etwas wie Freiheit gibt? Dies ist Gegenstand des seit langem geführten Streits zwischen Indeterminismus 205 Vgl. l. Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty, S. 118 ff. ( 121 ff., 131 ff.); vgl. auch I. Tammelo, in R. MarciclI. Tammelo, Naturrecht und Gerechtigkeit, S. 327 ff.; allgemein zum Begriff der Freiheit auch die Beiträge in dem Sammelband J. Simon (Hrsg.), Freiheit: theoretische und praktische Aspekte des Problems, darin vor allem: B. v. Freytag-Löringhoff., Die logische Struktur des Begriffs der Freiheit, S. 37 ff. 206 Dabei können die in der Theorie vertretenen Positionen auch nur einzelne Aspekte favorisieren, z. B. nur auf die negativen Aspekte des Begriffes der Freiheit setzen; vgl. dazu die Nachweise bei R. Geuss, Auffassungen der Freiheit, Zeitschrift für philosophische Forschung, 49 (1995), S. 1 ff. (2 in Fn. 2). 207 So ausdrücklich J. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 229 f. 208 Vgl. nur beispielhaft die Differenzierung bei R. Geuss, Auffassungen der Freiheit, Zeitschrift für philosophische Forschung, 49 (1995), S. 1 ff. (3).
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und Detenninismus 209 . Da dieser hier nicht umfassend geklärt werden kann, soll er wenigstens kurz skizziert werden, damit es möglich ist darzulegen, warum davon ausgegangen werden darf (und soll), daß der Mensch gerade durch Freiheit charakterisiert ist. Der Indetenninist gebraucht nun gängigerweise folgende Argumente 21O : Neben dem persönlichen Empfinden von Freiheit, daß jeder aus eigener Erfahrung kennt, setze bereits das ,In-Frage-stellen-Können' von Freiheit diese voraus. Weiter empfinde der Mensch selbst in zahlreichen Fällen Verantwortung und erhebe auch gegenüber anderen die Forderung, daß diese eine solche übernehmen können. Schließlich wird teilweise angenommen, daß die physikalischen Prozesse, die dem Denken zugrunde liegen, aufgrund ihres Ablaufes für eine Nicht-Detenniniertheit sprächen211 . Der Detenninist wird dagegen mehrerlei einwenden 212 : Zunächst sei der Mensch als Teil der Natur in deren kausale Gesetze eingebunden. Weiter müsse ein nicht detenninierter Mensch die Stellung einer ersten Ursache im Hinblick auf sein Verhältnis zu den Naturzusammenhängen einnehmen, was dann aber wiederum zu dem Problem führe, daß das Auftreten und der Verlauf von menschlichen Handlungen (in der Natur) nicht mehr erklärt werden könnten. Der Psychologie und der Soziologie gelinge es aber im Gegensatz zu dem genannten Szenario zunehmend, Handlungen zu erklären und auch zu prognostizieren. Auch müsse das subjektive Empfinden, frei zu handeln, nicht in Widerspruch zu der Tatsache stehen, daß es tatsächlich bestimmt sei. Es handele sich um das subjektive Empfinden von Handlungsfreiheit. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschungen der letzten Jahre / Jahrzehnte hingewiesen, die auf empirischer Ebene den Detenninismus bis zu einem bestimmten Grade wahrscheinlich machten 213 . Eine Position muß bezogen werden, will man weiter mit dem Begriff der Freiheit im Recht und im Strafrecht operieren. Fehl geht jedenfalls der Hinweis z. B. von Roxin, daß man auf eine Stellungnahme im Hinblick auf die Frage der Willensfreiheit verzichten könne, da man diese - was ausreichend sei - nonnativ als Ausgangspunkt setzen könne 214 . Gerade auch nonnative Grundannahmen sollten 209 Vgl. dazu grundlegend: U. Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise, passim; sowie die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Freies Handeln und Determinismus, passim; T. Hondrich, Wie frei sind wir?, passim; aus juristischer Sicht auch: K. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit, passim (alle - in verschiedenen Abstufungen - für den Determinismus); J. Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, S. 39 ff.; E. Dreher; Die Willensfreiheit, passim (gegen den Determinismus), jeweils m. w. N. 210 Vgl. dazu nur: O. Weinberger; Norm und Institution, S. 153 f. 211 Dabei wird (sicher riskanterweise) vor allem auf bestimmte Lesarten der Quantentheorie bezug genommen; vgl. dazu T. Hondrich, Wie frei sind wir?, S. 92 ff. 212 Vgl. dazu nur: O. Weinberger; Norm und Institution, S. 154 f. 213 V gl. dazu die ausführlich Behandlung der Forschungsergebnisse bei G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, passim. 214 C. Roxin, AT, § 19 Rn. 41.
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widerspruchsfrei dargelegt werden können. Der empirische Beweis ist für das Recht nicht die einzige Begründungsform. Die Abweichungen sind in der weiteren dogmatischen Konzeption dann auch nicht unerheblich 215 • Es gibt nun zwei Möglichkeiten, den Begriff der Freiheit zu retten: darzulegen, warum der Determinismus fehlgeht oder zu zeigen, daß sich Determinismus und Freiheit vertragen können; für letzteres gibt es wiederum verschiedene Strategien. Nicht zuletzt beruht nach der Meinung vieler Deterministen Verantwortung am Ende auf Zurechnung, deren einzige Voraussetzung sein soll, daß der Mensch durch Normen beeinflußt werden kann, was nicht auf eine absolute Freiheit hinauslaufen muß. Das Zugestehen von Handlungsspielräumen, deren Evidenz es dem harten Determinismus auferlegt, den Gegenbeweis zu erbringen, ist jedenfalls für ein Mindestmaß an Verantwortlichkeit und damit auch normativer Beeinflußbarkeit ausreichend216 • Es stellt sich ohnehin die Frage, ob ein strenger Indeterminismus überhaupt zu halten ist, scheint er doch sehr sinnentleert und wirklichkeitsfremd zu sein, insofern der Mensch auf den handlungsfähigen Bezug zur Welt und damit auch zu deren Kausalitätsgesetzen angewiesen ist217 • Einen abgeschwächten Determinismus in einem strengen Sinne zu widerlegen, indem man den Indeterminismus als richtig nachweist, ist daher wohl kaum möglich. Man kann jedoch die Position beziehen, daß es am Determinismus läge, den Indeterminismus zu widerlegen - dieser gegenüber jenem insofern die Beweislast zu tragen hat -, da er unserer intuitiven Erfahrung von der Welt widerspricht. Hier wird der Determinist die neurophysiologische Forschung ins Spiel bringen und darlegen, daß für den Indeterminismus aufgrund empirischer Erkenntnisse kein Platz bleibr2 18 . Es ist aber keinesfalls zwingend, die neurophysiologische Forschung dahingehend zu interpretieren. Der Streit kann vor allem dadurch überwunden werden, daß man ihn als Scheinproblem entlarvt. So kann mit Wolfgang Schild davon ausgegangen werden, daß beide Theorien jeweils ein Thema für sich auf unterschiedlichen Ebenen behandeln219 • Der Indeterminismus beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen, des An-Sich, bewegt sich insofern auf einer abstrakten Ebene. Der Determinismus hingegen beschäftigt sich mit dem Rückblick (auf die Tat im Falle des Strafrechts): Hier ist klar, daß der Täter aufgrund innerer und äußerer Faktoren so und nicht anders handeln konnte22o • Daraus resultiert, daß der Determinismus Dazu unten § 10 11. 4. In diesem Sinne z. B. O. Weinberger, Nonn und Institution, S. 155 f. 217 Vgl. dazu M. Köhler, AT, S. 10,350 ff. 218 Vgl. dazu T. Hondrich, Wie frei sind wir?, S. 83 ff., 117 ff., 155 ff.; ähnlich: G. Roth, Das Gehrin und seine Wirklichkeit, S. 271 ff. 303 ff. 219 Vgl. nur W. Schild, AK-StGB, vor § 13 Rn. 51 ff. 220 Ein strenger Determinismus will natürlich gerade besagen, daß alle Zustände der Welt zu einem Zeitpunkt t die Welt in einem darauf folgenden Zeitpunkt t' vollständig bestimmen. Diese Position kann ein abgeschwächter Detenninismus nicht beziehen, dafür kann er Verantwortung aufgrund von Handlungsspielräumen begründen. Es stellt sich allerdings die Frage, 215
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den Indetenninismus für jeden konkret zu untersuchenden Fall widerlegen kann. Daß dies nicht zu einer Widerlegung des Indetenninismus an sich führt, liegt an dem erwähnten Umstand, daß sich beide Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Während der Indetenninismus das Wesen des Menschen und seine Fähigkeiten zur Reflexion und Abstraktion, zur Erstellung eines eigenen Weltentwurfes thematisiert, kritisiert der Determinismus die Ungültigkeit dieser Aussage im konkreten Fall, der Straftat. Aber er muß dabei auf Begrifflichkeiten des Indetenninismus zurückgreifen, also über sich hinausweisen, wie z. B. bei der Behandlung des Motivs als einer Ursache unter anderen - damit wird aber auch Bezug genommen auf die Motivbildung und die Reflexion usw. 221 . Das Motiv ist dabei im Unterschied zu anderen Ursachen wie z. B. klimatischen Verhältnissen - Ausdruck der Fähigkeit des Menschen, von seiner jeweiligen Bestimmtheit zu abstrahieren. Die Diskussion ist also ein Scheinproblem, weil beide Theorien auf verschiedenen Ebenen der Argumentation angesiedelt, letztlich aber aufeinander angewiesen sind um zu existieren222 • Daher müssen beide Begriffe im Begriff der ,Selbst-Bestimmung', der die Antinomie des Menschen zwischen Freiheit und Unfreiheit beinhaltet, zusammen gedacht werden. Diese Freiheit ist insofern endlich, leiblich, sozial und geschichtlich und daher begrenzt223 . Die Fähigkeit des Menschen zur Abstraktion von seiner sozialen Umwelt, deren Einflüsse in ihrer Wirkung ungebrochen im Jetzt andauern, hebt den unbefriedigenden Indetenninismus und den in seiner Sicht zu begrenzten Detenninismus in einem gehaltvollen Begriff von Freiheit aut224 . ob dann noch von einem Determinismus gesprochen werden sollte. Eine aussichtsreiche Erklärung der Handlungsspielräume findet sich insoweit auch bei J. Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität, S. 39 ff., der die These einer abgeschlossenen physikalischen Beschreibung der Welt vertritt, die jedoch für intentionale Interventionen Raum läßt. 221 Vgl. W Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 54. 222 Vgl. W Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 52. 223 So abschließend zu Recht W Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 54. 224 Einen anderen Weg geht E. Tugendhat, in: K. eramer u. a. (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, S. 373 ff.: er knüpft an die - für das Strafrecht vielfach kritisierte, vgl. nur W Schild, in: Nomos-Kommentar, StGB, § 20 Rn. 35 - Formulierung des ,Auch-anders-handeln-Könnens' an, von der er meint, daß sie die Gedanken und Gefühle repräsentiere, die hinter dem Verantwortlichmachen einer Person für eine Tat stehen. Diese Freiheit als Zurechnungsfahigkeit ist für ihn Grundbedingung für jede weitere inhaltliche Bestimmung von Freiheit und entfaltet bereits Relevanz für den Bereich der praktischen Überlegung überhaupt (S. 376 f.). Dabei heiße ,frei handeln' gerade nicht ,nicht kausal' handeln! Menschliches Handeln sei genauso in die natürliche Kausalität eingebunden wie jedes andere Ereignis auch. Es sei nur eine bestimmte Art von kausalem Geschehen und es gehe letztlich darum, die Kriterien aufzudecken nach denen wir Zurechnungsfahigkeit bejahen können oder sie ausschließen müssen (S. 383) - unter weiteren Hinweisen auf Hume und G. E. Moore (dazu auch T. Hondrich, Wie frei sind wir?, S. 138 ff.). Letzteres müsse man erreichen entweder für mit Willen versehene Wesen wie z. B. Tiere oder volltrunkene Menschen, oder für Menschen, die zwanghaft handeln. Danach sei jemand für eine Handlung verantwortlich, wenn er diese will und rational wollen kann. Auch dies führt zu einer Auflösung des Problems durch Vermittlung 6 Kohlhoff
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Als letzter entscheidender Punkt sei nun noch kurz dargelegt, warum selbst die neurophysiologischen Erkenntnisse der Hirnforschung nicht einem Determinismus das Wort reden und warum diese ,Rückseite des Spiegels' (der Vernunft) doch Raum für eine freie Entscheidung und zugleich für einen reflexiven Zugang zu einer objektiven Vernunft lässt. Zunächst kann die intuitive Einsicht ins Feld geführt werden, daß die bereits erwähnte Möglichkeit besteht, die eigene Bestimmtheit des eigenen Gehirns ganz konkret zum Gegenstand der Reflexion zu machen und damit auch tiefliegende Einstellungen zu überwinden. Jeder, der sich mit moderner Psychotherapie in Form der Gesprächs- und Verhaltenstherapie beschäftigt hat, wird bestätigen können, wie weit sich äußere, soziale oder (eigene) psychologische Begrenzungen bewußt verschieben und sogar aufheben lassen. Aber auch über diese Einsicht hinaus können die Ergebnisse der Hirnforschung interpretiert werden als Bestätigung der Freiheit als Selbstbestimmung bzw. Autonomie 225 • Der aussichtsreichste Ansatz ist, auf persönliche Urheberschaft einer Person abzustellen. Diese hat zum Gegenstand, daß sich eine Person im Hinblick auf ihr Handeln mit sich identifiziert. Dem liegt die neurophysiologisch belegte Funktionsweise des Gehirns zugrunde, wonach wir solange die Argumente für und wider eine praktische Frage abwägen, bis wir uns gefühlsmäßig mit der letztendlichen Entscheidung im Einklang finden. In diesem Zusammenhang wurde gerade auch die positive Bedeutung unserer Gefühle für eine vernünftige Entscheidungsfindung nachgewiesen. Dadurch, daß wir gerade auch intelligible Umstände wie moralische Normen und Prinzipien neuronal abbilden können, entstehen diejenigen Handlungsspielräume, die uns eine Identifikation mit unserem Handeln erlauben, da wir in bestimmtem Umfang - neurophysiologisch bestätigt - autonom entscheiden können. Aus dieser Erfahrung heraus schreiben wir uns und anderen Verantwortung zu. Es bleibt lediglich die - nicht dem Determinismus vorbehaltene - Erkenntnis, daß wir natürliche, also physiologische Konstituenten der sozialen und vernünftigen Natur des Menschen identifizieren können, die allerdings nur gewisse kontingente Grenzen aufzeigen. Es bleiben aber auch dann mit der Logik und Mathematik und auch bestimmten Grundzügen der Ethik Bereiche der objektiven Vernunft, die nicht hintergangen werden können, ohne auch für die relativistisch-kritische Aussage selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren 226 • Es gibt mithin überzeugende Argumente, die es plausibel erscheinen lassen, im Recht und im Strafrecht bei der Fähigkeit des Menschen zum freien Handeln anzusetzen; freies Handeln in dem Sinn, daß er grundsätzlich die Fähigkeit besitzt, Motive abzuwägen und nach seinen eigenen Prämissensetzungen in weiten Bereichen zu handeln. Dies ist Freiheit und es spricht auch nichts Grundsätzliches dagegen, von Indeterrniniertheit und Determiniertheit im Begriff des Wollens (indeterminierter Reflexionsprozess - rationales Wollen - und determiniertes Ergebnis). 225 Vgl. dazu ausführlich W Schild, in: Nomos-Kommentar, StGB, § 20 Rn. 37 ff. m. w. N. 226 Mit den Grundproblemen und Fehlern des Subjektivismus und Relativismus setzt sich ausführlich auseinander T. Nagel in seiner Abhandlung "Das letzte Wort", passim.
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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sie als Willensfreiheit (wenn auch dann in einem sehr schwachen Sinne) zu bezeichnen, obwohl sie sicher keine absolute und auch keine Willensfreiheit im Sinne einer akausalen Erstauslösung ist. Wesentlich ist nun der nächste Schritt: das freiheitliche Potential des Menschen in Beziehung zum Recht allgemein und zum Strafrecht im besonderen zu bringen. 3. Recht und Strafrecht als Entfaltung der Freiheit
Aufbauend auf einem überzeugenden Bezug zur Freiheit als Grundlage der praktischen Orientierung des Menschen kann das Recht nun nach näher freiheitsgesetzlich bestimmtem Verständnis als Menge der Normen, die das menschliche Handeln in interpersonaler Beziehung gemäß dem Prinzip von Freiheit als Selbstgesetzgebung (Selbstbestimmung, Autonomie) verbindlich regeln, bezeichnet werden 227 . Dabei erschöpft sich die Freiheit des vernünftigen Subjektes 228 - wie eben ausgeführt wurde - vor allem nicht in einem ,Willen als Willkür', aber auch nicht in einem schlichten Indeterminismus, sondern in unter bewußter Negation möglicher Zwecke vollzogenem eigenständigem Setzen von Handlungsregeln und entsprechenden Entscheidungen 229 . Freiheit ist dabei gerade kein ,theoretisches Konstrukt mo . Die ethisch begründeten Grundnormen des Einzelnen werden von diesem in der allgemeinen Absicht gesetzt, ,das Gute' zu verwirklichen. Sie sind dabei nicht an transzendente Ideen geknüpft, sondern werden vom Einzelnen nach seinen Gutskonzeptionen im Hinblick auf die tatsächliche Welt bestimmt. Dies führt zu der Notwendigkeit des Rechtsgesetzes - mit seiner Verbindlichkeit für die Allgemeinheit, die nicht von den vielfach abweichenden Gutsverständnissen der Einzelnen abhängen kann231 . Die sich praktisch äußernde Freiheit als Willkür bedarf also normativer Beschränkungen und macht die Freiheit damit zu einem relativen Begriff232 . Dem entspricht auf der anderen Seite, daß sich das Recht in Betrachtung der ihm Unterworfenen mit der Legalität ihres Handeins begnügt, während die Ethik insbesondere nach den Motiven fragt 233 . Aus diesem Grunde ist das menschliche Handeln in seiner interpersonalen Dimension immer auch Rechtshandeln. Zurechnung heißt dann grundsätzlich, daß eine Handlung als von einem freien Subjekt nach seiner Maximen-Setzung (im Rahmen der Gesetze oder nicht) ausgeführt anVgl. M. Köhler; Strafrecht AT, S. 9. Zum Begriff vgl. M. Köhler; Strafrecht AT, S. 9 m. w. N.; R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 78 f.; ausführlich auch W Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 54 a. E., 55 f. 229 Vgl. M. Köhler; Strafrecht AT, S. 10 m. w. N. 230 Vgl. R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 79 f. 231 Vgl. R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 78. 232 V gl. dazu I. Tammelo, Die Freiheitsforderung als Kriterium der Gerechtigkeit, in: R. Marcic/ders., Naturrecht und Gerechtigkeit, S. 327 ff. (328). 233 Vgl. M. Köhler; Strafrecht AT, S. 12 f. m. w. N. 227
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Teil 1: Grundlagen
gesehen wird234 . Der freiheitliche Begründungszusammenhang hebt den Begriff der Zurechnung über einen Akt der Willkür hinaus und ermöglicht im weiteren erst ein Verstehen und Empfinden von Verantwortung und damit auch Schuld. Davon wird später noch ausführlich zu handeln sein, wenn es um die Begründung von Strafe und ihre Offenheit für ein Kollektivstrafrecht geht235 . Aufgabe des (freiheitsgesetzlich bestimmten) Rechts ist es demnach, in abstraktformaler Weise die allgemeine Einräumung von Freiheit unter den Individuen und in der Gesellschaft zu bestimmen, Freiheit zu fördern und sie dann auch zu sichern 236. Dabei muß das Recht ein wirklich selbstbestimmtes Handeln aller ermöglichen, ihnen möglichst weitgehend die Verwirklichung ihres jeweiligen Guts-Strebens erlauben. Die Konstitution des Rechts nimmt ihren Ausgang bei der Umschreibung der Mittel freier Personalität (Rechtsbegriffe der Person, ihres Selbstbesitzes (Leben, Körperintegrität), Besitz und Eigentum und deren Erwerb bzw. Verlust). Hier bewegt man sich offensichtlich im Privatrecht. In einer zweiten Stufe wird dann das Recht auf staatlicher Ebene gesetzt, da das Privatrecht alleine ein Defizit an Allgemeingültigkeit und vor allem auch Allgemeinwirksamkeit aufweise 37 • Strafrecht hat als zur letzten Stufe gehörig einen sekundären Status238 . Strafrechtliches Unrecht (Verbrechen, Kriminalstraftat) muß also eine grundsätzliche Negation des Rechts in seiner Allgemeingültigkeit sein, sei es im Hinblick auf eine einzelne Person oder auf die Gemeinschaft als Ganzes und ihre Entfaltung in Freiheit239 . Neben diesem objektiven Moment muß ein subjektiver (auf Vgl. W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 60 f. Vgl. dazu unten §§ IO f. 236 Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 14; R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 80; W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 56,58, auch zu dem wichtigen Moment, daß Menschen ihre konkrete Freiheit erst erzeugen I erlernen müssen und wie ein solcher Weg aussehen kann; dazu auch ders., Freiheit - Gleichheit - "Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: J. Schwanländer (Hrsg.), Menschenwürde und Demokratie, S. 135 (144 ff.) m. w. N., mit einer besonderen Interpretation des Begriffs der ,Selbständigkeit' als Mündigkeit; anders, die eigenständige Rolle der Selbständigkeit für die Begründung von Strafe heraushebend: R. Harzer, Die Selbständigkeit und ihre straftheoretische Bedeutung, in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 31 ff. Auch wenn man das Gewissen als letzte Legitimationsgrundlage anführt, nimmt man letztlich Bezug auf die Vernunft, also das Vermögen des Menschen, Dinge gegeneinander abzuwägen und sich entsprechend zu motivieren; das ist aber der Gedanke der Autonomie - vgl. dazu R. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, S. 46 ff., 98 ff., der darauf aufbauend zu einem diskurs-ethischen Ansatz von Gerechtigkeit und Recht kommt. 237 Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 16 m. w. N.; R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 77 ff.; vgl. zum Wirksamkeitsdefizit, das seinen tieferen Grund in der sog. Trittbrettfahrer-Problematik hat: O. Hö!fe, Politische Gerechtigkeit, S. 412 ff. - Hö!fe nimmt dort auch eine fundamentale Legitimation von Zwang ganz allgemein als notwendige Basis für Recht und Staat vor; vgl. auch ders., Kants Begründung des Rechtszwanges und der Kriminalstrafe, in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 335 ff. 238 Vgl. R. Zaczyk, Zum Strafrecht, S. 7 f.; W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 67 ff. 239 Vgl. R. Zaczyk, Zum Strafrecht, S. 8 f.; W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 64 ff. 234 235
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das Subjekt bezogener) Eindruck hinzukommen: nämlich der, daß das Subjekt seine Maximen zum Unrecht gewandt hat, also der Rechtsordnung in ihrer Allgemeingültigkeit den Rücken kehrt240• Die oben skizzierte Rechtsgutstheorie vernachlässigt nun die auf das Subjekt bezogene freiheitliche Struktur des Rechts, indem sie objektiv teleologische (und/ oder verfassungsrechtliche) Werte als grundlegend bestimmt. Die Rechtsgüter sind aber - genau entgegengesetzt - von der zur Selbstgesetzgebung befähigten Natur des Menschen und seiner rechtlichen Grundnorm her zu bestimmen241 . Im Hinblick auf die Lehre vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz meint die Kritik eines freiheitsgesetzlich bestimmten Strafrechts daher, daß diese nicht ausreichend ist, um eine Bestimmung der Funktion des Strafrechts zu leisten. Sie entspricht in letzter Konsequenz absolutistischem (oder rein positivistischem) Denken, da sie nicht den Bezug des Strafrechts zu den Bürgern und ihrer Gemeinschaft herstellt, sondern dieses losgelöst betrachten will 242 • Aber auch aus dieser Perspektive behält der Begriff des Rechtsguts seine Berechtigung insoweit, als er dazu dienen kann, die Argumentation zu strukturieren und aufzuzeigen, welche Grundbedingungen von Freiheit durch das Recht zu gestalten sind. An einem freiheitlich bestimmten Recht im Anschluß an die Erkenntnisse des Idealismus wird auch Kritik geübt. Von den Kritiken an diesem Verständnis des Strafrechts und der Strafe sei exemplarisch noch die von Günther Stratenwerth genanne43 . Stratenwerth hält einer Strafrechtslehre nach Freiheitsgesichtspunkten entgegen, daß sie zunächst bereits ein Problem hat, den Gedanken der Autonomie als innerer Freiheit mit dem Prinzip des Rechts als Sicherung der äußeren Freiheit zu vermitteln 244 . Der Zusammenhang zwischen äußerer Lebenswelt und Freiheit Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 23. Vgl. M. Köhler, Strafrecht AT, S. 25; R. Zaczyk, Zum Strafrecht, S. 9; ders., Das Unrecht der versuchten Tat, S. 165 ff.; W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 67; hier kann auch die Brücke zur Diskurstheorie, Konsensus-Theorie der Wahrheit und der Theorie der kommunikativen Vernunft gesehen werden. Die (kontrafaktische) Gründung der bürgerlichen Gesellschaft kann insofern als Schaffung der Voraussetzungen des (theoretischen/praktischen) Diskurses begriffen werden; in diesem Sinne wohl auch W. Schild, Freiheit - Gleichheit - "Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenwürde und Demokratie, S. 135 (160 f.). 242 So sehr treffend: R. Zaczyk, Zum Strafrecht, S. 6; Zaczyk hat sich auch mit dem Ansatz der Diskurstheorie kritisch auseinandergesetzt, die scheinbar geeignet wäre, objektive Werte im Recht durch diskursiven Konsens zu erklären, konsequent verstanden aber das Subjekt zum Verschwinden bringt, vgl. ders., Das Unrecht der versuchten Tat, S. 163 in Fn. 166; hierzu auch M. Pawlik, Betrug, S. 10 ff. 243 Kritik wird z. B. auch von U. Klug an Kant und Hegel geübt, der vor allem deren unhaltbare Begrifflichkeit und deren ,Pseudologik' kritisiert, vgl. U. Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: ders., Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, S. 149 ff.; vgl. dazu die Kritik von H. Mayer, Kant, Hegel und das Strafrecht, in: Festschrift-Engisch (1969), S. 54 ff.; gegen die rhetorisch pointierte, aber falsche Interpretationsgrundlage hinsichtlich Kants ,Metaphysik der Sitten' als dem Alterswerk eines Menschen, der bereits von Depressionen vernebelt war: R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 74 f. 240 241
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Teil I: Grundlagen
als Selbstbestimmung und Autonomie wurde oben bereits nachgezeichnet245 . Die Antwort gibt Stratenwerth auch selbst246 : In der Tat ist letztlich der Umstand, daß ein menschliches Verhalten (möglicherweise) Ausdruck innerer Freiheit ist, der Grund für den Schutz der äußeren Freiheit durch das Recht und auch das Strafrecht - warum das eine sehr schwache Begründung für die Einschränkung der äußeren Freiheit nur um ihrer selbst willen sein soll, erschließt sich nicht so ohne weiteres und die nähere Begründung bleibt Stratenwerth denn auch schuldig. Es erscheint vielmehr als die sowohl empirisch naheliegendste als auch im normativen Sinne menschlichste Form der Begründung von Recht, wenn man davon ausgeht, daß sich Menschen nur in dem Maße zu freien Menschen entwickeln können, in dem sie sich in den Grundzügen der Gesellschaft wiederfinden können. Damit relativiert sich meines Erachtens entscheidend seine weitere Kritik im Hinblick auf die Defizite bei der Begründung von Rechtspflichten im Rahmen von Unglücksfällen und von sozialstaatlichen Regelungen und im Rahmen des Schutzes von kollektiven Rechtsgütern wie z. B. des Ökosystems der Erde 247 . Hierzu sei daher nur zweierlei angemerkt: Zum einen reicht der Gedanke der gegenseitigen Anerkennung, wie er der Konstitution der Rechtsordnung zugrunde zu legen ist, nicht so weit wie der Gedanke der Menschenliebe, aber jedenfalls weiter als ein naturalistisches Willkürverständnis von Freiheit im Recht248 . Zum anderen - und das scheint hier der entscheidendere Punkt zu sein - bedeutet die Herangehensweise Stratenwerths letztlich ein Zurückfallen hinter die Vernunftwende in der Nachfolge der Aufklärung in eine wert-teleologische, gegebenenfalls auch ganzheitliche Ethik, die aber keinen Bezug mehr zur menschlichen Natur aufbauen kann. Nach der Einsicht in die Vernunftnatur des Menschen mit all ihren Begrenzungen gibt es zu einer solchen Betrachtungsweise keinen Weg zurück. Aber auch vom intendierten Ergebnis ist dies letztlich gar nicht notwendig, denn eine Begründung über Freiheitsgesetze vermag Ergebnisse mit dem angestrebten Inhalt Stratenwerths vorzulegen - wie gerade im Zusammenhang mit dem Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb' zu zeigen sein wird -, nur daß diese Ergebnisse jedem Menschen durch Bezug auf sich selbst einsichtig sein können.
244 VgI. G. Stratenwerth, Kritische Anfragen an eine Rechtslehre nach Freiheitsgesichtspunkten, in: Festschrift-E.-A. Wolff. (1998), S. 495 ff. (496 ff.). 245 Hier sei nur noch exemplarisch auf W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 54 f. verwiesen. 246 VgI. G. Stratenwerth, Kritische Anfragen an eine Rechtslehre nach Freiheitsgesichtspunkten, in: Festschrift-E.-A. Wolff. (1998), S. 495 ff. (497). 247 Vgl. G. Stratenwerth, Kritische Anfragen an eine Rechtslehre nach Freiheitsgesichtspunkten, in: Festschrift-E.-A. Wolff. (1998), S. 495 ff. (500 ff., 504 ff.). 248 Vgl. dazu M. Pawlik, Betrug, S. 20 ff.; zum Anerkennungsverhältnis im Recht, vgl. auch unten § 11 I. 3.
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4. Strafe, Strafrecht und Grundgesetz - erste kritische Würdigung der verfassungsrechtlichen Kritik
Die Strafrechtswissenschaft hat sich seit jeher gerade darum bemüht, vor allem auch Kriterien für eine Begrenzung der Strafgewalt hervorzubringen. Der Gedanke einer Gesetzgebung nach Aspekten der Freiheit ist davon entschiedener Ausdruck. Zu diesen Bemühungen um ein freiheitlich bestimmtes Strafrecht gegenüber einem traditionellen, wert-teleologischen Strafrecht kommt in den vergangenen Jahren eine Kritik aus ganz anderer Richtung auf das Strafrecht zu: aus der des Verfassungsrechts. Hier ist zu befürchten, daß diese Kritik, so sie zutreffend ist, auch maßgeblich die freiheitsgesetzliche Lehre von Recht und Strafrecht trifft, da auch sie hinter das positivierte Verfassungsrecht greift. Sowohl die Arbeit von Otto Lagodny als auch die von Ivo Appel gehen mit der vom Strafrecht entwickelten Dogmatik hart ins Gericht. Die im dortigen Kontext entwickelten Maßstäbe seien allesamt mehr oder weniger untauglich, um zumindest zu einer richtigen Begrenzung der Strafgewalt des Staates zu führen 249 . Beide erarbeiten Prüfungsmaßstäbe aus der Sicht des Grundgesetzes zur verfassungsrechtlichen Begrenzung des Strafrechts. Dabei wird allerdings nur aus der Perspektive der Begrenzung von Gesetzgeber, Gerichten und Verwaltung gedacht, verfassungsrechtlich also eine reine Limitation erbracht. Das wird durchaus auch gesehen und damit begründet, daß der Gesetzgeber im Rahmen der durch das Grundgesetz gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen frei entscheiden könne über die Ausgestaltung des Strafrechts25o • Dabei wird ein Paradigmenwechsel diagnostiziert, den die Strafrechtswissenschaft verschlafen hätte, nämlich derjenige zu einer Messung des Staates am Grundgesetz (und nur an diesem), das durch seine unterschiedlichen Garantien, insbesondere die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension, Schutz genug sei 251 • Die Strafrechtswissenschaft dagegen sei noch immer um strafrechtsimmanente Begrenzung bemüht, ganz wie zu Zeiten des Deutschen Reiches vor und nach 1900, als Grenzen wenn überhaupt nur aus der Wissenschaft selbst hervorgebracht werden konnten und wurden. An der Grenze des Gesetzgebers - und prinzipiell auch des Strafrechts-Wissenschaftlers, will er den Boden unserer Verfassung nicht verlassen - in Form der Garantien des Grundgesetzes will sicher niemand rütteln. Hier handelt es sich aber eben nur um die Frage einer notwendigen Limitation in einem Rechtsstaat wie dem unseren. Die Frage der Legitimation von Sanktion allgemein und Strafe im besonderen wird jedoch von der Verfassung auf diese Weise nicht beantwortet! Auf diese Legitimation kann dabei keineswegs verzichtet werden. Es muß die Frage gestellt (und beantwortet) werden, wie unter einer Werteordnung wie der 249 Vgl. I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 303 ff., insbes. 311 ff., 417 ff.; O. Lagodny. Strafrecht, S. 50; zu Appels Kritik an Lagodny: vgl. nur I. Appel, a. a. 0., S. 312 f. 250 Vgl.l. Appel. Verfassung und Strafe, S. 329 ff., 389 ff. 251 Vgl. nur I. Appel. Verfassung und Strafe, S. 330 ff.
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unseren, die ihr Fundament in der Anerkennung der Menschenwürde hat, wie also innerhalb einer freiheitlichen Rechtsordnung Strafe legitimiert werden kann, welches ihr Grund ist. Und so müssen Strafe und Strafrecht doch noch eigenständig begründet werden, so wie das Recht und die Sanktion an sich auch begründet werden müssen, weil das Verfassungsrecht darüber nichts aussagt und auch gar nicht aussagen soll und kann 252 . Der Verweis auf die Verfassung droht hier ganz schnell zu einem einigermaßen platten Gesetzespositivismus zu werden, auch wenn hier das Grundgesetz die autoritäre Instanz ist253 . Natürlich ist es richtig festzuhalten, daß ein auf gegebener Begründung ruhendes Strafrecht einer verfassungsrechtlichen Hinterfragung, für die Lagodny und Appel auch Maßstäbe vorgelegt haben, standhalten muß. Da mag dann auch die Feststellung Appels richtig sein, daß die Rechtsgüter-Argumentation des Strafrechts "quer liegt" zur Grundrechts-Argumentation 254 . Aber daraus kann keine Kritik hergeleitet werden; der verfassungsrechtliche Limitations-Blickwinkel ist nicht der einzig legitime auf eine Rechtsordnung. Was als Ertrag aus der Diskussion bleibt, ist der (wichtige) Hinweis, daß die Begründung von Strafbarkeit in ihre Argumentation grundrechtliche Kollisionen mit einbeziehen muß 255 . Dem kann man nicht aus dem Weg gehen - es darf aber auch bezweifelt werden, daß dies von irgendjemandem beabsichtigt wird. Die unmittelbare Berücksichtigung des Verfassungsrechts findet vor allem in der eigenständigen Messung von Verhaltens-, Primärsanktionsund Sekundärsanktionsnormen seinen Ausdruck256 . Diesem gedanklichen Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit allerdings ohnehin gefolgt und er ist mit einem freiheitsgesetzlichen Recht und Strafrecht vereinb~57. Interessanterweise wirft Appel gerade dem Großteil der Strafrechtswissenschaftler vor, das Wesentliche und Besondere der Tat nicht entsprechend zu benennen bzw. benennen zu können. Dies holt er selbst - und zwar in weitgehend richtiger und beachtenswerter Form - nach, indem er auf die Differenzierung zwischen Restitution der Norm und der Rechtsordnung durch den Schuldspruch und (physische) Strafe Bezug nimmt und hierbei auch das Schuldprinzip entsprechend integriert258 . 252 Vgl. auch die Kritik bei R. Zaczyk. Zum Strafrecht, S. 3 ff.; daher verfangt verfassungsrechtliche Kritik unter Hinweis auf den Gehalt von Art. 1 Abs. 1 GG grundSätzlich nicht vgl. zu einem solchen Ansatz nur P. Badura. Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 337 ff. 253 Vgl. dazu auch R. Zaczyk. Zum Strafrecht, in Fn 3. 254 Vgl./. Appel. Verfassung und Strafe, S. 386 f. 255 Das dies durchaus möglich ist bei gleichzeitigem Einnehmen der strafrechtlichen Perspektive hat z. B. P. Selmer mit seiner Untersuchung ,Verfassungsrechtliche Probleme einer Kriminalisierung des Kartellrechts ., gezeigt. 256 Vgl.l. Appel. Verfassung und Strafe, S. 433 ff., 490 ff., 569 ff. 257 V gl. unten § 6 I. - III. 258 V gl. I. Appel. Verfassung und Strafe, S. 427 ff., insbes. 449 ff., 458 ff., 496 ff.; allerdings wird das maßgebliche Schrifttum hierzu kaum beachtet, vgl. dazu die Nachweise unten § 10 11.
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Nur hat er damit seinen verfassungsrechtlich-positivistischen Standpunkt bereits wieder verlassen. Der eigentliche Kern der Kritik deckt sich insofern weitgehend mit der hier vertretenen Ansicht über die Natur und den Grund der Strafe, wie später zu zeigen sein wird259 • Die Lehre vom Rechtsgüterschutz trifft die Kritik allerdings unmittelbar sogar in ihrem verfassungsrechtlich-positivistischen Gehalt.
IH. Herausforderungen des Strafrechts durch das Kartelldeliktsrecht im besonderen
Die Probleme des Strafrechts im Angesicht der modemen gesellschaftlichen Realität wurden oben umrissen. Die Grenzen jeder Reform des Rechts und des Strafrechts, solange sie wirkliches Recht bleiben sollen, wurden ebenfalls dargelegt. Die Grundprobleme des Strafrechts in seiner heutigen Form werden nun von den neuralgischen Punkten des Kartelldeliktsrechts auf charakteristische Weise widergespiegelt: Schwierigkeiten bei der Fassung des Rechtsguts ,Wettbewerb', Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Tatbestände (insbes. der Tatbestandshandlung), Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Täters, Bedürfnis nach unmittelbarer Sanktionierung von Unternehmen und schließlich das Problem der Beurteilung der sozialethischen oder rechtsethischen Relevanz von Kartellrechtsverstößen in einer sich ständig ändernden Wirtschaft. Als These sei an dieser Stelle vorangestellt: Hinter den grundlegenden Problemsymptomen im Strafrecht können im Bereich des Kartellrechts vor allem drei Ursachen ausgemacht werden: das ungenügende Verständnis der Freiheit und dementsprechende Schwierigkeiten bei ihrer Sicherung; die verschiedenen, mit der Freiheit konfligierenden Erscheinungsformen von Macht und der weitgehend ungelöste Umgang mit ihr; die Ausbreitung und die Bedeutungszunahme von kollektiven Strukturen. Gerade dem Zusammenspiel der drei Faktoren kommt dabei besondere Bedeutung zu. Diese Ursachen sollen in ihren Grundlagen und ihren Zusammenhängen kurz erläutert werden, um auf ihnen aufbauend dann in den Teilen 2 bis 4 der Arbeit die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit von Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht zu untersuchen. 1. Macht und ihre Ausübung
Als nächster Schritt ist es nun erforderlich, den bisher wenig beleuchteten Begriff der Macht zu untersuchen, da er in einem besonders engem Verhältnis zur Freiheit steht. Aus diesem Grunde muß der Begriff der Macht zwar immer eine besondere Bedeutung für letztlich jedes Rechtsgebiet und Strafrecht haben, in seiner grundlegenden gesellschaftlichen Dimension wird er aber gerade und vor allem im Kartellrecht thematisiert. Allerdings ist es im Rahmen dieser Arbeit nun weder angestrebt noch notwendig, eine umfassende Macht-Philosophie vorzulegen. Der 259
Vgl. unten § 10 11.
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Teil I: Grundlagen
Begriff der Macht soll vielmehr deskriptiv angegangen werden, um von dem so gesicherten Bestand notwendige Analysen vornehmen zu können. Beide thematischen Bereiche der Arbeit lassen diesen Begriff als einen zentralen erscheinen: Im Rahmen von Wettbewerbspolitik und Kartellrecht ist regelmäßig die (wirtschaftliche) Freiheit und ihre Begrenzung durch die (marktmäßige) Macht anderer der entscheidende Dreh- und Angelpunkt - das GWB ist letztlich das Ergebnis der Einsicht, daß private (wirtschaftliche) Macht im gesellschaftlichen Kontext nicht ignoriert werden kann 26o . Im Bereich eines Kollektivstrafrechts wiederum trifft man auf das Phänomen einer starken Bündelung von Macht innerhalb der menschlichen Gemeinschaft durch Kooperation und Organisation bei den Kollektiven. Es ist daher notwendig, sich ein möglichst neutrales Bild vom schillernden Begriff der Macht bzw. ihren Grundlagen und Voraussetzungen zu machen - die Brücke zu den wirtschaftlichen Aktivitäten des Menschen wird später, in Teil 2 der Arbeit, zu schlagen sein. Aus rechtssoziologischer Sicht kann zunächst an die Bestimmung Max Webers von Macht und Herrschaft angeknüpft werden 261 . Für ihn ist Macht der neutrale Oberbegriff zu Herrschaft und Autorität. Ganz allgemein bezeichnet Macht jede Chance, den eigenen Willen gegenüber einem anderen durchzusetzen; damit leistet Macht schon per se einem Verständnis von Freiheit als Willkür Vorschub. Herrschaft liegt dann vor, wenn der Befehlsempfänger dem Befehl gehorcht, ihn also aus welcher konkreten Motivation auch immer - freiwillig befolgt. Um dies zu erreichen, ist die Herrschaft angewiesen auf eine vom einfachen Gutdünken der Befehlsempfänger unabhängige Legitimation; diese für die Theorie Webers besonders wichtige Legitimation kann zu einer legalen, zu einer traditionellen oder zu einer charismatischen Herrschaft führen. Wirtschaftliche Macht ist in diesem Zusammenhang als Autorität zu verstehen. Der Begriff der Herrschaft ist stark auf die politische Ebene bezogen. Dieses Bild von Macht kann nun weiter differenziert werden. Eine erste wichtige Präzisierung bringt die Einführung der verschiedenen Dimensionen von Macht: Diese kann kontinuierlich, aber auch nur temporär sein, sie kann gegenüber nur einer Person, einer Personenmehrheit oder einer bestimmten Gruppe bestehen, 260 Vgl. an dieser Stelle nur: U. lmmenga/H.-J. Mestmäcker in: Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl., Einleitung, Rn. 5. 261 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28, 122 ff., 541 ff.; dazu Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 112 ff., insbes. 122 ff., vgl. dort auch die umfangreichen Nachweise zur Diskussion um die Begriffe der Macht und Herrschaft, S. 265; zu der populären Machtphilosophie M. Foucaults (,Überwachen und Strafen'), die jedoch in ihrer grundlegenden, radikalen Stoßrichtung - der hier auch nicht gefolgt werden kann - nicht weiterführt, die lesenswerte Darstellung und Kritik bei J. Habermas, Philosophischer Diskurs, S. 279 ff., auch 313 ff. Habermas hält dabei Foucault vor allem vor, daß aufgrund der Tatsache, daß der Mensch nur kognitive und praktische Beziehungen zur Welt aufbauen kann und der Erfolg des praktischen Handeins (also auch der Ausübung von Macht) letztlich auf der Wahrheit der kognitiven Beziehungen aufbaut, die Umkehrung des Verhältnisses von Wahrheit und Macht zu einer Abhängigkeit der Wahrheit von der Macht nicht überzeugen kann.
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es kann zwischen den involvierten Parteien kleine oder große Machtunterschiede geben bzw. ein regelrechtes Gefälle262 . Im Rahmen der Wirtschaft hat man es einerseits mit dem Phänomen personengebundener Macht zu tun, bei der alles auf bestimmte natürliche Personen zuläuft, die über ein Netz von Beziehungen verfügen, das ihnen - aus Gründen, die gleich zu behandeln sind - zur Verfügung steht. Es gibt aber auch Macht, die eigentlich Personengruppen zusteht, aber sich von den konkreten Individuen bereits in vielerlei Hinsicht gelöst hat: strukturelle Macht, wie sie in Gesellschaften bzw. Unternehmen vor allem ab einer bestimmten Größe regelmäßig entsteht. Solche strukturell verfestigte Macht wird sich in der Regel auch zu einer kontinuierlichen entwickeln. Das Problem im Hinblick auf den Wettbewerb und dann möglicherweise in der Gesellschaft entsteht, wenn sich zugunsten bestimmter Unternehmen ein großes Machtgefälle herausgebildet hat. Dabei hat sich gezeigt, daß entsprechende, wirtschaftlich bedingte Machtstrukturen zwar einer gewissen Dynamik unterliegen, nichtsdestotrotz aber eine große Kontinuität aufweisen, wie die jahrzehntelange Dominanz der verschiedenen führenden Konzerne einer Marktwirtschaft zeigt. Gerade die Entwicklung der letzten Jahre, von 1990 bis 2002 scheint zu zeigen, daß selbst in neuen, bewegten und stark wachsenden Märkten - hier sei nur auf den Multimedia-Bereich Bezug genommen - sich mittelfristig die etablierten Konzerne durchsetzen. Zur Ausübung seiner Macht stehen dem Machtinhaber grundsätzlich zwei Mittel zur Verfügung: Zwang oder Lockung - für jeden Kartellrechtler ein sehr familiäres Begriffspaar. Es kann also zunächst unmittelbare Gewalt bzw. Schädigung durch Zufügen oder Androhen von Nachteilen psychischer, physischer, ökonomischer oder sozialer Natur zur Erreichung der Ziele ausgeübt werden; aber auch das Gewähren oder Versprechen von Leistungen materieller oder immaterieller Natur kann eine wichtige Rolle spielen - Bedingung ist dafür, daß das in Frage stehende Gut von entsprechender Bedeutung ist und nicht anderweitig getauscht oder erworben werden kann 263 . Zu solchen Beziehungen kommt es neben den typischen Angebotsmonopol-Fällen beispielsweise bei Entstehung großer Nachfragemacht im Einzelhandel. Macht ist mithin auch eng verknüpft mit dem Begriff der Sanktion: Macht ist auch (faktische) Sanktionsfähigkeit264 . Dem Staat kommt diese aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols zu, faktische wirtschaftliche Sanktionsmöglichkeiten können ebenso gut in Wirtschaft und Gesellschaft entstehen. Dies stellt also die basale Phänomenologie von Macht dar. Damit ist jedoch noch nichts über die Gründe der Existenz dieses Phänomens und seine Problematik gesagt. Als anthropologische Grundlage der Entstehung und der Fortdauer von Macht in der menschlichen Gesellschaft ist die natürliche (reale) Ungleichheit der Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 283. Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 284. 264 Insofern ist es dann natürlich auch kein weiter Weg mehr zum positivistischen Begriff des Rechts, der nur auf die reine Setzung des Rechts kraft der zur Verfügung stehenden Macht abhebt. 262 263
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Teil 1: Grundlagen
Menschen untereinander und ihre Verletzlichkeit bzw. Bedürftigkeit, also Angewiesenheit aufeinander anzusehen 265 . Beides ist nun jeder menschlichen Gesellschaft vorgegeben. Über die Mechanismen von Hierarchie und Solidarität wird dann letztlich faktische und rechtliche Macht generiert266 . Daher war und ist die Etablierung von Machtstrukturen in jeder menschlichen Gesellschaft anzutreffen und wird sich auch in jeder zukünftigen menschlichen Gesellschaft finden, solange sich an den Ursachen nichts ändert. Macht und Machtstrukturen stellen bis auf weiteres eine anthropologische Konstante dar. Dieses Bild wird von Otfried Höffe in seiner Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes noch um weitere Aspekte ergänzt267 . Hobbes beschreibt als anthropologische Bedingung, die den Naturzustand unter den Menschen bestimmt, neben anderem dessen ruheloses Streben nach Macht 268 . Er versteht dabei als Macht diejenigen Mittel, die dem Menschen jetzt zur Verfügung stehen, damit er sein künftiges Verlangen stillen kann. Aber diese Annahme, der Mensch strebe rastlos von einem Gegenstand zum nächsten, greift zu kurz, da sie nicht den Grund für das Machtstreben nennt. Dies holt Höffe nach: Aufgrund seiner "durch Sprache und Vernunft gebrochenen Natürlichkeit" schaut er gleichzeitig mit einer aktuellen Bedürfnisbefriedigung immer auch in die Zukunft: Er "erwartet schon heute den Hunger von morgen ..." 269. Die Macht von heute ist also immer auch ein Stück weit Zukunftssicherung und dient in einer zweiten zusätzlichen Dimension dann konsequenterweise auch der Befriedigung des Bedürfnisses nach mehr Macht, um einem Machtverlust für die Zukunft vorzubeugen. Für den einzelnen Menschen tritt aber nach Höffe dieses in die Zukunft gerichtete Machtstreben in Konkurrenz zu der realen Genußbefriedigung von heute; der einzelne Mensch handelt daher immer mit dem Ziel, Glücksstreben und Machtstreben (Zukunftssicherung) in eine Balance zu bringen und sie jeweils zu optimieren27o• Das ,Optimum' wird für jeden anders aussehen. So treffend die Situation für den einzelnen Menschen beschrieben sein mag, so ungenau ist dieses Bild hinsichtlich des gesellschaftlichen Subsystems ,Wirtschaft'. Unternehmen entwickeln wie der Mensch das Phänomen eines Machtbedürfnisses, das daher rührt, das sie sich permanent in einer Konkurrenzwirtschaft 265 Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 266 f.; vgl. dazu grundlegend R. Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. Auflage, passim; vgl. auch A. Demandt, Macht und Recht als historisches Problem, in: ders. (Hrsg.), Macht und Recht, S. 341 (342). 266 Vgl. dazu O. Weinberger, Natürliche Konstituenten der Gerechtigkeit, in: FestschriftKrawietz (1993), S. 563 (573 f.). 267 Vgl. O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 307 ff. 268 Nach Hobbes sind weitere Bedingungen: das Selbsterhaltungs- und Glücksstreben, die Todesfurcht und eine fundamentale Gleichheit zwischen den Menschen insofern, als daß jeder grundsätzlich in der Lage ist, den anderen gewaltsam zu töten; vgl. dazu auch nur O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 315 ff. m. w. N. zu Th. Hobbes. 269 Vgl. O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 316 f. 270 Vgl. O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 318.
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der Mittelknappheit um ihre Situation von morgen sorgen müssen. Das einzelne Unternehmen mag sicher auch andere Motivationen haben - als Stichworte seien hier nur die Wirtschaftsethik, das Modell des Stakeholder-Value und auch die (seit den 1990er Jahren z. B. auch vom BDI propagierten) Grundsätze des nachhaltigen Wirtschaftens genannt -, in jedem Fall ist ein dem Menschen vergleichbares Streben nach aktuellem Genuß nicht vorhanden. Die Gewinnausschüttungen an die Anteilseigner können schwerlich als solche betrachtet werden. Auch dürfte von den zusätzlichen Motivationen kaum eine ähnliche Balance-Wirkung ausgehen wie von dem aktuellen Genußstreben beim einzelnen Menschen. Ein Spannungsverhältnis entsteht jedoch zwischen den Interessen des Unternehmens (grundsätzlich: Gewinnmaximierung) und den Menschen, die in den verschiedenen Unternehmensorganen tätig sind und bei denen es natürlich auch zu einem Streben nach Balance von Genuss und Macht kommen kann. Grundsätzlich leitend ist im Bereich des Wirtschaftssystems aber sicher das Streben nach möglichst hohem Gewinn, denn dieser bedeutet zukünftige Macht und somit Zukunftssicherung. Darüber hinaus ist es durchaus naheliegend, davon auszugehen, daß auch Macht an sich und deren Steigerung eine Genussbefriedigung mit sich bringt. Macht wiederum verträgt sich nur schlecht mit Unsicherheit. Darum baut der modeme Staat auf ein Gewaltmonopol auf. Macht soll ja Sicherheit bieten dadurch, daß die Chancen, die eigenen Interessen durchzusetzen, erhöht bzw. gesichert werden. In der Demokratie soll allgemein der gemeinsame Wille der Bevölkerung und im speziellen die Freiheitsräume der Einzelnen durchgesetzt werden. Dafür steht das Recht, das bereits im antiken Griechenland auch als Erfindung der Schwachen im Verhältnis zur Macht betrachtet wurde 271 • Macht steht damit in einem Spannungsverhältnis zum Recht. Der daraus resultierende Konflikt spielt sich in modemen Staaten vor allem zwischen Staat und Bürger, aber auch zwischen Bürger und Gemeinschaft bzw. anderen Bürgern ab. Im gegebenen Zusammenhang geht es nur um die zweite Dimension: zwischen Bürger und Bürger bzw. Gemeinschaft. Der einfache Positivismus löst das Problem häufig dadurch, daß er der Macht entgegenkommt und auf die rein faktische Setzung von Normen für ihre Gültigkeit abhebt. Will man Recht jedoch auf eine inhaltlich-gehaltvolle Weise bestimmen, wie es im vorigen Abschnitt (oben § 3 11.) auch versucht wurde, bleibt das Spannungsverhältnis bestehen. Ein entscheidender Punkt gerade im Hinblick auf das gleich einzuführende Problem der kollektiven Strukturen ist nun, daß Macht auch entindividualisiert werden kann. Macht kann an einem einzelnen Führer hängen, dem aufgrund seiner charismatischen oder auch (priesterlich-)mystischen Ausstrahlung gefolgt wird272 . Es können sich aber auch Strukturen bilden, in denen Macht sich verfestigt und von 271 Vgl. A. Demandt, Macht und Recht als historisches Problem, in: ders. (Hrsg.), Macht und Recht, S. 341 (345) zu dem berühmten Melierdialog, der als eine der frühesten Quellen zur Diskussion über Macht gilt. 272 Vgl. zu den verschiedenen Formen ursprünglicher Macht, B. Russel, Macht, S. 31 ff.
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Teil I: Grundlagen
dem sie konkret ausübenden Einzelnen loslöst. Dies sind dann kollektive Strukturen. Besonders deutlich wird dies bei folgendem Bild: Jede Diktatur ist außer regelmäßig auf eine Führergestalt darauf angewiesen, daß ein Apparat zur Verfügung steht, der die Befehle des Machthabers oder der Machthaber effizient ausführt. Wechseln die Machthaber auf vorgesehene Weise, also ohne Revolution oder Umsturz, steht derselbe Apparat dem Nachfolger zur Verfügung, so dieser in der Lage ist, sich seiner zu bedienen. Organisation bedingt überindividuelle Konstanz. Das ist bei Wirtschaftsunternehmen nicht anders. Auch sie stellen daher verfestigte Machtstrukturen dar. Die notwendige Konsequenz der Bedeutung des Subsystems ,Wirtschaft' für die Gesamtgesellschaft ist, daß Vorgänge dort auch massive Auswirkungen auf den Rest der Gesellschaft haben können. Große Machtansammlung bei Einzelnen oder Wenigen in einer Gruppe muß Konsequenzen haben, denn naturgemäß werden die Chancen der Machtinhaber erhöht, ihre Pläne durchzusetzen; unterstellt man (realistischerweise), daß die Pläne eines Wirtschaftsunternehmens egoistisch strukturiert sind, bedeutet das im Falle der Wirtschaft fast zwangsläufig, daß gegebenenfalls entweder der Wille der Bevölkerungsmehrheit blockiert oder ein originärer Unternehmenswunsch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden kann 273 . Das ,zweite Gesicht' der Macht zeigen letztlich die Nicht-Entscheidungen und die Nicht-Ereignisse 274 . Macht kommt also zusammenfassend eine wichtige Schlüsselfunktion zu; und damit ist man wieder bei der Unsicherheit angelangt: Faktoren, die nicht oder nur schlecht kalkuliert werden können, müssen negativ betrachtet werden. Dazu zählt auch und gerade die Unsicherheit über die Aktivitäten der Konkurrenten am Markt. Der Ausschluß von Unsicherheiten durch wettbewerbsbeschränkende Strategien muß also zunächst als natürliche Reaktion von Unternehmen bezeichnet werden. Aber gleiches kann z. B. auch für Körperverletzungen in dem häufig zitierten Naturzustand einer Gesellschaft gelten. Die Frage, die es daher zu beantworten gilt, lautet, ob eine solche Legitimation auch unter normativen Gesichtspunkten in Vergegenwärtigung des Spannungsverhältnisses zur Freiheit bestätigt werden kann oder muß. 2. Der Hintergrund: Kollektive Strukturen
Ein weiteres spezifisches Phänomen erschwert nun den Umgang mit dem Phänomen ,Macht': die Ausbildung komplexer kollektiver Strukturen in der menschlichen Gesellschaft und deren Bedeutung für die Freiheit dieser Gesellschaft. Macht ist nicht an charismatische Führer oder lose Gruppen gebunden. Daß Macht 273 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 126 ff., der als die größte Bedrohung der offenen (freien) Gesellschaft die Bündelung der Interessen in Vertretungen ansieht, die dann als Repräsentanten Weniger die Politik dominieren können. 274 Vgl. K. Lichtblau in: HistPhilW, Artikel ,Macht' Bd. 5, Sp. 613.
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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insbesondere im Rahmen von kollektiven Strukturen problematisch wird - sieht man von der gerade im Strafrecht noch gerne diskutierten Variante der Macht eines Einzelnen über einen anderen ab, bekanntlich die / eine Konstellation der mittelbaren Taterschaft -, erschließt sich bereits intuitiv. Die ganze Problematik der Kartellrechtsdelikte und des Kollektivstrafrechts ist eingebettet in diesen Rahmen. Es gibt Stimmen in der (Straf-) Rechtsliteratur, die dafür plädieren, diese Strukturen, wenn schon nicht gänzlich zu negieren, so doch ihrer Relevanz zu berauben, indem man versucht, sie auf individuelle Umstände zurückzuführen, bzw. ihnen nur insoweit Beachtung schenkt, als sie sich - zumindest oberflächlich - auf individuelle Belange (zu schützende Interessen usw.) zurückführen lassen. Dazu wird noch ausführlicher Stellung zu beziehen sein 275 Jeder Versuch in diese Richtung mutet nun bereits insofern merkwürdig an, als kaum ein Weg daran vorbeiführen kann, im Hinblick auf den Menschen neben einer Konflikt-Natur auch eine Kooperations-Natur in Betracht zu ziehen 276 • Bei ata Weinberger findet sich zur grundlegenden Erklärung der Rolle gesellschaftlicher Normensysteme die Feststellung, daß drei Momente entscheidend seien: (i.) Der Mensch ist ein handelndes Wesen, (ii.) Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen und (iii.) Der Mensch schafft und lebt in Institutionen 277 • Und weiter zur Handlungsfähigkeit des Menschen: "Der Mensch ist fähig zu handeln. Er kann als Individuum oder als Kollektiv Träger von Handlungen sein,m8. Insofern muß den jeweiligen Autoren, die eine Marginalisierung kollektiver Momente der menschlichen Existenz anstreben, natürlich unterstellt werden, daß sie nicht die Existenz kollektiver Strukturen leugnen, sondern (,nur') deren Bedeutung bzw. deren positiven Wert für den Einzelnen und die soziale Gemeinschaft relativieren wollen. Vom lateinischen ,collectivus' kommend, meint das Adjektiv ,kollektiv' zunächst nur: gemeinschaftlich, alle Beteiligten betreffend bzw. erfassend 279 . Wenn der Begriff Kollektivität einen eigenen Gehalt haben soll, dann muß dieser in der Beschreibung von etwas qualitativ anderem liegen als der Summe der individuellen Beiträge. Für die Kollektivperson soll das erst später (unten § 11) gezeigt werden. An dieser Stelle wird nur das Ziel verfolgt, anhand von Beispielen in einem ersten Ansatz oberflächlich die Behauptung zu untermauern, daß zur befriedigenden Erklärung unserer Welt von einer eigenen Qualität kollektiver Strukturen ausgegangen werden muß. Zunächst sei folgendes Bild skizziert: Wenn drei Personen eine Gesellschaft gründen, dann ist diese eben nicht nur die Summe der Beiträge jedes Einzelnen, obwohl diese zweifellos konstitutiv sind. Aber erst in ihrem Zusammenwirken ist Vgl. unten § 5 11. Vgl. dazu nur die Ausführungen von O. Höfte, Politische Gerechtigkeit, S. S. 218 ff.; auch O. Weinberger, Norm und Institution, S. 28 f. 277 Vgl. O. Weinberger, Norm und Institution, S. 16. 278 O. Weinberger, Norm und Institution, S. 17. 279 Vgl. nur Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Band 12, Stichwort ,kollektiv', S. 170. 275
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die Gesellschaft erkennbar. Würde jeder für sich alleine seine Beiträge erbringen, würde nicht nur das Handeln einer Gesellschaft nicht erkennbar sein, sondern es würde keine Gesellschaft entstehen. Auch wenn eine Person alle Beiträge erbrächte, wäre das Ergebnis etwas anderes als die Gesellschaft der drei. Arbeitsteilung kommt nicht von ungefähr. Manchmal mag ein Einzelner in der Lage sein, noch die Effekte einer Gesellschaft zu erzielen, aber eben nur zu einem bestimmten Grad. Und dort, wo dies möglich ist, kann nur von Vergleichbarkeit gesprochen werden. Es soll nun kurz auf zwei spezifische kollektive Phänomene eingegangen werden, um diesen Gedanken deutlicher zu machen und dem Begriff der kollektiven Strukturen mehr Kontur zu verleihen: auf den soziologischen Begriff der Institution und den ökonomischen Begriff des kollektiven Gutes. Neben der Möglichkeit, die Rechtsordnung bzw. das Recht als solches als Institution zu begreifen 28o , bezeichnet der Begriff der Institution vor allem bestimmte einzelne rechtliche Gebilde, die als Einrichtungen verstanden werden, als Institutionen - im Gegensatz zu individuellen Rechten oder Pflichten, die vielmehr ihrerseits von der Institution bzw. ihren Regeln bestimmt werden281 • Typische Beispiele stellen die Ehe, die Familie oder das Eigentum dar. Es sind Begriffe für nicht unmittelbar körperliche, sondern soziale Tatsachen (Manifestationen bzw. Relationen), die einen - in diesem Falle eben: rechtlichen - Rahmen menschlichen Handelns bilden. Ehe, Familie und Eigentum werden von Menschen vorgelebt. Sie sind ohne eine Gemeinschaft nicht denkbar. Die Soziologie hat nun ein noch etwas weiteres Verständnis vom Begriff der Institution. Sie versteht darunter allgemein soziale Gebilde und Organisationen verschiedenster Art, die sich überall dort entwickeln, wo das Zusammenleben einer Gruppe Ordnung und Regeln erfordert282 . Eng verknüpft ist auch der Begriff der Institutionalisierung, der die Überführung spontaner Verhaltensweisen und Gruppenbeziehungen in konstante Formen der Praxis auch mittels sozialer Kontrolle und Sanktionen beschreibt283 • Die Existenz von Institutionen und ihre große Bedeutung wird in der Soziologie von keiner Seite angezweifelt. Im Zuge der neueren Soziologie wird vor allem die Entlastungs- und Orientierungsfunktion der Institutionen betont, auf die der Mensch als grundsätzlich schon instinktarmes ,Mängelwesen' in der heutigen komplexen gesellschaftlichen Realität sogar mehr denn je angewiesen ist284 . Eine Betrachtung von nur auf das Indivi280 Vgl. zu diesem maßgeblich auf H. Schelsky zurückgehenden Ansatz: Th. Raiser; Das lebende Recht, S. 167 f. 281 Vgl. zum folgenden vor allem O. Weinberger; Nonn und Institution, S. 28 ff. 282 Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Band 10, Stichwort ,Institution', S. 544; eine mögliche Kategorisierung stellt die in familiäre, politische, industriell-ökonomische, religiöse, zeremonielle und professionelle Institutionen dar, vgl. H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 9 ff. (12), unter Bezugnahme auf H. Spencer. 283 Vgl. dazu N. Luhmann, Institutionalisierungs-Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: H. Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 27 ff.
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duum bzw. reine Zwei-Personen-Relationen - Ich-Du-Theorien 285 - bezogenen Verhaltensweisen des Menschen vennag die Existenz von Institutionen nicht zu erklären. Institutionen entstehen erst im Zusammenleben, führen aber keineswegs zur Aufhebung des Individuums. Der Einzelne handelt nach seinen eigenen Motiven, muß dabei allerdings nicht die in der "sozialen Kooperation angestrebten Ziele und erreichten Erfolge" bewußt aufnehmen 286 . Helmut Schelsky hat allerdings auch betont, daß sich die Einsicht, daß es keine kollektiven Subjekte gibt, durchgesetzt habe 287 . Dieser Widerspruch soll zunächst - bis Teil 4 der Arbeit unaufgelöst bleiben. In der Ökonomie wird der Begriff des kollektiven Gutes vor allem demjenigen des privaten, individuellen Gutes entgegen gesetzt, wobei auch Mischfonnen zwischen beiden Güterfonnen denkbar sind. Dabei zeichnet sich das kollektive Gut dadurch aus, daß es von mehreren Wirtschaftssubjekten konsumiert werden kann, ohne daß der Konsum anderer dadurch ausgeschlossen wird. Beispiel für ein privates Gut kann ein Stück Nahrungsmittel sein, das nur von einem konsumiert werden kann, danach steht es niemandem mehr zur Verfügung. Im Gegensatz dazu beeinträchtigt eine Vielzahl von Zuschauern das Fernsehen in aller Regel nicht im mindesten. Die Landesverteidigung steht grundsätzlich allen Bürgern zur Verfügung. Ein Leuchttunn bietet allen Schiffen in Sichtweite Orientierung288 • Regelmäßig ist mit der nicht vorhandenen Rivalität auch das Versagen des Ausschlußprinzips verknüpft. Bei privaten Gütern kann regelmäßig derjenige, der nicht bereit ist, den Marktpreis zu zahlen, vom Konsum ausgeschlossen werden. Bei kollektiven Gütern funktioniert dies regelmäßig nicht oder könnte nur unter enonnen Aufwendungen, die zum Erfolg in keinem Verhältnis stünden, durchgeführt werden 289 . Aus diesem Grunde wird sich das Gut häufig zu einem öffentlichen Gut wandeln, weil es für den Fall, daß es gesellschaftlich gewünscht ist, vom Staat trotz der bestehenden Probleme angeboten wird29o . Als Beispiel für ein Mischgut kann die Schutzimpfung genannt werden: Der Patient erhält ein grundsätzlich privates Gut für das Rivalität gegeben ist und auch ein Ausschluß ohne weiteres durchgeführt werden kann; mit steigender Zahl der Impfungen fällt jedoch auch das Anstek284 Vgl. H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 9 ff. (19 ff.) - der Begriff des ,Mängelwesens' geht zurück auf A.
Gehlen.
285 Vgl. dazu H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 9 ff. (10). 286 Vgl. dazu H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 9 ff. (12 f.) unter Bezugnahme auf H. Spencer. 287 Vgl. H. Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 9 ff. (10). 288 Beispiele nach Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Stichwort ,Kollektivgut', S. 1014. 289 Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Stichwort ,Kollektivgut', S. 1014. 290 Vgl. dazu nur Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 5. Band, Artikel ,Öffentliche Güter', S. 420 ff. mit ausführlicher Darstellung der Prozesse, die zu einer letztlichen Deklaration eines Gutes zu einem öffentlichen Gut führen.
7 Kohlhoff
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Teil 1: Grundlagen
kungsrisiko desjenigen, der nicht zu einer Impfung bereit war29 I . Darüber hinaus können auch originäre Kollektivbedürfnisse ausgemacht werden, die erst aus dem Zusammenleben der Menschen erwachsen bzw. gemeinschaftlich besser zu befriedigen sind 292 . In der Volkswirtschaftslehre wird versucht, auch kollektive Güter auf individuelle Entscheidungen zurückzuführen. Dies führt jedoch nicht zu einer Auflösung des Kollektivgutes, da zum einen auch die Motivationen im Hinblick auf individual- oder kollektivbezogene Entscheidungen unterschiedlicher Natur sind (dazu unten in Teil 3) und zum anderen sich letztlich nichts an der Nicht-Distributivität ändert. Weiterführende Begriffe wie die des Kollektivbewußtseins und der Kollektivschuld sollen später diskutiert werden. Hier soll als Fazit genügen, daß verschiedene Disziplinen in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens bestimmte Phänomene identifiziert und akzeptiert haben, die über eine rein individualistische Dimension hinausweisen. Sie kommen erst in der Gemeinschaft und vor allem in komplexeren Gemeinschaften zum Tragen, sind dann jedoch unabweisbar und für die gemeinschaftliche Existenz wiederum auch notwendig. Dabei soll aus der Soziologie die Bedeutung bestimmter, Institutionen bildender Relationen und aus der Ökonomie das Kriterium der Nicht-Distributivität im Hinterkopf behalten werden. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß damit nicht behauptet wird, man könnte kollektive Güter für sich als (verfassungsrechtliches / strafrechtliches) Schutzgut legitimieren, ohne daß ein Individuum in der freien Gesellschaft davon profitieren müßte, wie dies z. B. der Fall wäre, wenn man die Existenz des Staates als Selbstzweck darstellt oder das Überleben einer bestimmten Klasse von Menschen. Dieses Problem wird gleich im Rahmen der Bestimmung des Begriffs des Kollektiv-Rechtsgutes behandelt werden (vgl. unten § 5 11.). Da sich die Entwicklungen, die es im Teilbereich der Kartellrechtsverstöße zu beurteilen gilt, vor allem im Spannungsfeld von Freiheit und Macht bewegen, ist der Bogen zur Thematik kollektiver Strukturen schnell geschlagen: Für jeden ist es sinnvoll, sich zur Erreichung der eigenen Ziele - ergo Ausübung der eigenen Freiheit bzw. Ausweitung des eigenen Freiheitsbereiches - der Kooperation mit anderen zu bedienen. Es geht also naheliegenderweise maßgeblich auch um die Kooperation der Einzelnen miteinander und diese findet typischerweise in den Verbänden statt, für welche das Gesellschaftsrecht im Laufe der Zeit die verschiedensten rechtlichen Erscheinungsformen gefunden hat. Daneben produziert die soziale Interaktion der Einzelnen und der Verbände aber auch noch eine weitere Erscheinungsform kollektiver Strukturen: die der gesellschaftlichen Institutionen; die Ehe ist eine solche, der Wettbewerb als System ebenso. Die Herausforderung für das Strafrecht allgemein und für ein Kartell- und Kollektivstrafrecht insbesondere liegt in der adäquaten Bewältigung dieser beiden Erscheinungsformen der Kollektivnatur des Menschen. Daß diese nicht in der reinen Negation liegen kann, sollte naheliegend sein. 291 292
Beispiel nach Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Stichwort ,Kollektivgut', S. 1014. Vgl. nur Brockhaus Enzyklopädie, Band 12, Stichwort ,Kollektivbedürfnisse', S. 170.
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3. Schärfung der strafrechtlichen Perspektive der Arbeit: Sicherung der Balance von Macht und Freiheit
Die vorangegangenen Betrachtungen haben nun mehrere Erkenntnisse gebracht. Zunächst: Die Darstellung des geltenden Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen hat ergeben, daß das deutsche Kartellrecht eine Mehrzahl von Verhaltensweisen als schädlich identifiziert und mit einem eindeutigen Verbot belegt hat. Hinsichtlich weiterer Verhaltensweisen werden die negativen Folgen zwar gesehen, es wird jedoch nicht für möglich gehalten, so präzise Fallgruppen zu bilden, daß eindeutige Verbote formuliert werden können - in Konsequenz wird an ein verbietendes Verwaltungshandeln angeknüpft. Hinsichtlich der möglichen Verstöße gegen das Kartellrecht ist ein differenziertes Sanktionspotential vorgesehen, wobei das vom Bundeskartellamt angewandte Ordnungswidrigkeitenrecht - vor allem in Form der Geldbuße gegen die juristische Person - das Schwergewicht bildet. Bei den Tatbeständen sind vor allem originäre und verwaltungsakzessorische Tatbestände zu unterscheiden, die jedoch alle Probleme bei der dogmatischen Fassung bereiten (u. a. Fassung des Rechtsgutes, die Bestimmtheit, Rechtswidrigkeit und Rechtfertigung). Die Probleme des Kartellrechts sind symptomatisch für die allgemeine Situation des Strafrechts. Sie fügen sich insofern scheinbar gut in Diskussion um eine Reform des Strafrechts ein. Diesen Reformbemühungen muß jedoch das Freilegen der unveräußerlichen Grundbedingungen eines Strafrechts vorangehen. Dies wurde ausgehend vom Begriff der Freiheit als Selbstbestimmung bzw. Autonomie getan, wodurch auch eine Konturierung des Begriffs der Freiheit im Zusammenhang mit Gesellschaft und Recht gelang, der sich notwendig von einem Verständnis der Freiheit als (naturalistisch begriffener) Willkür einerseits und einem reinen Indeterminismus anderseits abhebt. Die Freiheit des Einzelnen ist nun permanent durch die Ausübung der Freiheit anderer aufgrund der ihnen zukommenden Macht bedroht. Gerade im Bereich des Subsystems ,Wirtschaft' kommt dem Begriff ,Macht' eine bedeutende Rolle zu. Eine nähere Bestimmung brachte als Fazit: Macht als Chance, die eigenen Interessen durchzusetzen, ist in menschlichen Gesellschaften und damit auch in der Wirtschaft unumgänglich und insofern zunächst ,neutral' zu beurteilen, als ihre Existenz akzeptiert werden muß. Macht bedeutet Sicherheit im Moment. Ausbau von Macht bedeutet Sicherung der Zukunft. Gerade im Wirtschaftssystem jedoch ist das Streben nach Macht nicht antinomisch kontrolliert: Es fehlt das Bedürfnis nach aktuellem Genuß, wie es beim natürlichen (Privat-)Menschen anzutreffen ist. Für den staatlichen, politischen Bereich wird in der Demokratie versucht, eine Kanalisierung und Kontrolle der Macht wesentlich durch die Gewaltenteilung und ein weiter differenziertes System von ,Checks and Balances' zu erreichen. Für das Wirtschaftsrecht wird zu untersuchen sein, ob dies in gleichem Maße notwendig und möglich ist. Aber auch wenn dies in Anbetracht der Machttechnologien und -strukturen u. U. schwierig erscheint, spricht dennoch viel für eine Notwendigkeit 7*
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der Legitimation VOn Macht bzw. Machtkomplexen in allen Bereichen der Gesellschaft und damit auch in der Wirtschaft. Machtkomplexe können zu starken gesellschaftlichen Einfluss nehmen, als daß ihnen eine vollkommen willkürliche Handlungsfreiheit eingeräumt oder eine solche in faktischer Form toleriert werden kann. Eine fundamentale Legitimation kann in Unserer Gesellschaft jedoch nur über ethische / moralische Betrachtungen erfolgen, die in einem zweiten Schritt dann in das Recht zu überführen sind 293 . Für Betrachtungen im heutigen Strafrecht, vor allem im Zusammenhang mit dem Kartellrecht, wird dieses Vorhaben dadurch kompliziert, daß kollektive Strukturen und Zusammenhänge eine große Relevanz haben. Kollektive Strukturen können nicht ignoriert oder verneint werden. Ihre Existenz lässt sich bereits in Form der kollektiven Güter in der Volkswirtschaft und der Institutionen im Recht und in der Soziologie belegen. Es erscheint höchst zweifelhaft, daß eine Rechtsordnung es sich leisten kann, solche Umstände nicht entsprechend strukturell in sich aufzunehmen. Als Dreh- und Angelpunkt des GWB wird sich der Schutz des Wettbewerbs als Institution erweisen. Ignoriert man diesen Umstand, blendet man ganze wesentliche Dimensionen menschlichen Zusammenlebens aus, und auch hier läßt sich dann nur schwer eine befriedigende Lösung von Konfliktsituationen vorstellen. Die Akteure des Wirtschaftslebens sind nun die Unternehmen, die - so wurde schon angedeutet - auch als solche im GWB als Normadressaten angesprochen werden. Von Unternehmen geht gleichermaßen die Macht aus, die beschriebene Freiheit einzuschränken bzw. sogar vollkommen aufzuheben, d. h. auf null zu reduzieren. Die Frage muß hier im weiteren lauten, ob diese Form der Freiheit und diese Form der Macht in bestimmter Hinsicht spezifisch sind. Der Grund, warum sich Individuen zu einem Verband oder auch Unternehmen zu Interessenverbänden zusammenschließen, ist die Bündelung ihrer Macht zur Verfolgung und Durchsetzung ihrer Interessen. Die von Verbänden ausgehende Macht ist daher zumindest eine quantitativ andere als die der Individuen; möglicherweise muß aber auch VOn einer anderen Qualität gesprochen werden. Sowohl für ein Kartellstrafrecht als auch für ein Kollektivstrafrecht geht es um die Sicherung der Balance von Macht und Freiheit. Für die zivile Gesellschaft und ihren Alltag muß VOn einem freiheitlich bestimmten Recht und weiter auch einem ebenso bestimmten Strafrecht ausgegangen werden. Der Begriff der Macht nimmt in der Wirtschaft einen zentralen Stellenwert ein. Macht muß sich jedoch immer in einem Spannungsverhältnis zur Freiheit bewegen. Da Macht als eine anthropologische Konstante erkannt wurde, kann es jedoch nicht um ihre Abschaffung gehen, sondern vielmehr um ihre Kanalisierung und Überwachung. Der Rekurs auf die Vernunft des Menschen und seine Fähigkeit zur Freiheit in Selbstbestimmung ist dabei in Recht und Strafrecht unvermeidlich. Auch wenn 293 Vgl. zu den möglichen Legitimationsstufen nur O. Höjfe, Politische Gerechtigkeit, S. 50 ff.
§ 3 Aktuelle Situation des Strafrechts: Grundlagen und Aporien
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dies von der überwiegenden Zahl der Autoren anders beurteilt wird, so würden sie dem sicher im alltäglichen Bereich noch eher zustimmen als im Bereich der Wirtschaft. Gerade hier und gerade im Kartellrecht jedoch hat eine solche Rechtsbestimmung ihre Bewährung. Und gerade hier wird sich auch ihre Stärke zeigen. Eine Kanalisierung der Macht kann nur gelingen in einer angemessenen Aufarbeitung des Phänomens der kollektiven Strukturen, die für die menschliche Gesellschaft so prägend sind. Dem überwiegenden Teil der Strafrechtler muß nun vorgeworfen werden, dies zwar zu versuchen, aber zu keinen befriedigenden Ergebnissen zu kommen, da sie lediglich in der Lage sind, entweder funktionalistisch oder in einer schlichten Form individualistisch zu argumentieren. Nachdem sie den Bezug zum Gedanken der freiheitlich-vernünftigen Natur des Menschen abgelegt haben, müssen sich bei ihnen entscheidende Begründungsdefizite auftun. Dies wird vor allem in den Teilen 3 und 4 zu zeigen sein. Aber auch im Bereich des Kartellrechts, in dem sich die Strafrechtler überwiegend einig sind über bestimmte Inkriminierungsforderungen, bleibt die Begründung oberflächlich und wenig überzeugend. Die freiheitlich-vernünftige Strömung im Strafrecht wiederum verwehrt sich einer angemessenen Berücksichtigung der kollektiven Aspekte im Recht und vor allem Strafrecht. Man wähnt sich sonst auf Kollisionskurs mit dem freien Individuum. Vor allem diese Position ist zu revidieren. Gelingt der Versuch einer Integration der Kollektivität in das Strafrecht, dürfte auch die freiheitlich-vernünftige Auffassung des Strafrechts an Attraktivität gewinnen, weil ihr der Schein der idealistischen Antiquiertheit genommen werden kann.
Teil 2
Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten de lege ferenda Nachdem für die Betrachtungen von Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe die notwendigen Grundlagen erarbeitet sind, soll sich der zweite Teil der Arbeit der Frage zuwenden, ob (bestimmte) Kartellrechtsverstöße de lege ferenda als Kriminalstraftaten einzuordnen sind. Das Ergebnis hierzu wird zugleich auch eine kritische Würdigung des neuen § 298 StGB (Strafbarkeit von Submissionsabsprachen/ -kartellen) mit sich bringen. Dieser Schritt muß der erste auf dem Weg zu einer Antwort auf die Frage nach dem Schutz des Kartellrechts bzw. des Wettbewerbs gerade durch eine Strafbarkeit von Kollektiven sein. Wie oben (§ 2) vorgestellt wurde, sieht das geltende Recht in den Kartellverstößen fast ausschließlich Ordnungswidrigkeiten. Vor allem zahlreiche Vertreter des Wirtschaftsrechts treten für eine Beibehaltung dieses status quo auch in der Zukunft ein; für eine Strafbarkeit de lege ferenda votiert wiederum der überwiegende Teil der Strafrechtler'. Wünschenswert wäre insofern gerade eine Begründung für ein Kartellstrafrecht, die aus wirtschaftlicher Perspektive nachvollziehbar ist. Bei der Diskussion um die Natur der Kartellrechtsverstöße sollen zwei Fragenkomplexe unterschieden werden: Fragen der Strafwürdigkeit bzw. Strafgerechtigkeit und Fragen der Strafbedürftigkeit bzw. Strafzweckmäßigkeit. Im Rahmen dieses vom Strafrecht selbst entwickelten und verwandten Maßstabes für die Begründung von Strafbarkeiten2 wird das Begriffspaar ,Strafwürdigkeit' und ,Strafbedürftigkeit' nicht einheitlich verwandt 3 . Richtigerweise beschreiben die beiden 1 Vgl. hier nur die Übersicht bei F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 14 Rn. 2 m.w.N. 2 Eine umfassende Kritik dieses rein strafrechtlichen Maßstabes findet sich bei I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 395 ff., auch m. w. N. zur Thematik allgemein. Auch wenn Appels Kritik im Hinblick auf den Vorwurf der Unbestimmtheit sicher zum guten Teil berechtigt sein dürfte, verkennt sie dennoch, daß erstens Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit zu allererst Maßstäbe der Kriminalpolitik und deren Kritik sein sollen und daß zweitens sich sehr wohl präzise Kriterien aufstellen lassen, wenn man an eine richtige Bestimmung von Recht, Strafrecht und Strafe anknüpft - so wie dies vorliegend versucht wird. Insofern kann die inhaltlich weitgehende Parallelität der hiesigen Bestimmung zu der von Appel vorgenommenen auch als Bestätigung des freiheitsgesetzlichen Ansatzes gesehen werden; dazu noch näher unten § 10 11. 3 Vgl. nur H. Otto, AT, § 1, Rn. 48 ff.: zwei verschiedene Begriffe; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 3, Rn. 19 f.: Strafbedürftigkeit als Unterbegriff zu Strafwürdigkeit; KK-OWiG /
Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
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Begriffe zwei zu unterscheidende, sachlogisch nachgeordnete Argumentationsebenen, die aber insofern kategorial gleichwertig sind, als sie notwendige Bedingungen aufstellen, unter denen ein Verhalten als Straftat einzuordnen ist4 . Es wurde bereits festgehalten, daß eine Begründung von Strafbarkeiten auch aus strafrechtlichem Blickwinkel grundrechtlichen Gefährdungslagen Rechnung tragen muß. Die Auseinandersetzung mit möglichen Kollisionen innerhalb der Verfassungsordnung findet regelmäßig auf der Ebene der Strafwürdigkeit bzw. Strafgerechtigkeit statt, welche damit auch die Funktion des Merkmals ,Angemessenheit' innerhalb des Verhältnismäßigkeitsprinzips ausfüllt. Fragen, die verfassungs- oder verwaltungsrechtlich innerhalb der Ebenen der ,Geeignetheit' und der ,Erforderlichkeit' abgehandelt werden, finden wiederum ihren Platz innerhalb der Frage nach der Strafbedürftigkeit. Daß hier eine Verkehrung der Reihenfolge stattfindet, ist insofern selbstverständlich und nicht verwunderlich, als es doch ein Unterschied ist, ob man sich in der Frage einer Legitimation befindet oder retrospektiv die Frage nach der Überschreitung der Limitation stellt5 . Die aus der strafrechtlichen Begründung selbst folgende Limitation tritt zunächst neben die verfassungsrechtliche. Es steht dabei außer Frage, daß erstere keine Bindung des Gesetzgebers erreichen kann oder auch nur bezwecken will, wie das Grundgesetz dies tut. Die aus dem Grund der Strafe folgende Begrenzung ist eine der Vernunft, deren Übertretung dem Gesetzgeber sicher nicht angeraten werden kann, politisch in weitem Maße aber möglich ist. Bohnert, Ein!. Rn. 193: Identität der Begriffe; zu Problematik allg. W. Hassemer in: AKStGB, vor § I Rn. 183 ff. 4 Vg!. W. Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 184 - Grob gesprochen können beide Begriffe wie folgt beschrieben werden (vg!. die Aufzählung bei W. Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 191 ff.: für die Kriterien der Gerechtigkeit (Strafwürdigkeit) Rn. 196 ff., für die Kriterien der Zweckmäßigkeit (Strafbedürftigkeit) Rn. 212 ff.): Strafwürdig ist ein Verhalten, das an Grundvoraussetzungen der Gesellschaft rüttelt und daher so stark von der Gemeinschaft mißbilligt wird, daß der Einsatz von Strafe grundSätzlich gerechtfertigt wäre. Hierzu wird maßgeblich auf die Verletzung oder Gefährdung eines bedeutsamen Rechtsguts und auf das Verhältnis zwischen Opfer, Täter und Gesellschaft bezug genommen. Strafbedürftig ist ein grundSätzlich strafwürdiges Verhalten dann, wenn die Strafe die richtige Antwort an den Tater ist. Inwieweit hier eine strenge Orientierung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgen muß, wird noch zu klären sein. Es sollen auf dem Wege der Bestimmung der Zweckmäßigkeit jedenfalls unverhältnismäßige negative Nebenfolgen vermieden werden. Ebenfalls in den Rahmen der Strafbedürftigkeit gehören die Fragen nach einer dogmatischen Umsetzbarkeit der Strafbewährung im materiellen Tatstrafrecht und in der Strafprozeßordnung und nach einer Anwendbarkeit des dogmatisch Machbaren in der Praxis, so daß hier weitgehend eine Orientierung an den rechtssoziologischen Erkenntnissen zur Wirksamkeit von Normen erfolgen kann. Als Oberbegriff für Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit wird daher der Terminus ,Strafnotwendigkeit' vorgeschlagen. Dabei meint Notwendigkeit nicht eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Inkriminierung. Eine solche gibt es nur in sehr engen Grenzen (vg!. hierzu nur C. Roxin, AT, § 2 Rn. 36 f.). Es ist mit dem Begriff der ,Strafnotwendigkeit' vielmehr eine argumentative, vernünftige Notwendigkeit gemeint, die Überzeugung durch die gewichtigeren Argumente. S Vg!. grundlegend zur Abwägung im Verfassungsrecht und zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 127 ff., 143 ff.
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In Teil 2 der Arbeit wird es vor allem darum gehen, die Strafwürdigkeit von Kartelldelikten zu hinterfragen, also die Beziehung zwischen Tat und Opfer (Individuum und Gesellschaft) zu beleuchten; es geht insofern um die Betrachtung und Bewertung der fraglichen Rechtsgüter, mögliche Verletzungsformen derselben und hierzu führende Verhaltensweisen. Vorbereitet werden sollen die folgenden Untersuchungen mit einer Darstellung des dogmatischen Ansatzes zur Abgrenzung von Ordnungswidrigkeiten und Kriminalstraftaten und mit einer Skizze des Meinungsstandes hinsichtlich der Einordnung der Kartellrechtsverstöße (§ 4). Die eigentliche Beurteilung der Strafwürdigkeit soll eingeleitet werden durch Untersuchungen zum Rechtsgut ,Wettbewerb' in der Gesellschaft (konstituiert durch Verfassung und GWB), zur dogmatischen Figur des Kollektiv-Rechtsgutes und zu der Möglichkeit einer Verletzung eines solchen Rechtsgutes wie des Wettbewerbs (§ 5). Die Frage der Strafbedürftigkeit hingegen, die primär die Zusammenhänge zwischen Tat, Strafe und Täter betrifft, ist in diesem Teil 2 nur kurz anzureißen und später detailliert zu beantworten, da hier erst die Beantwortung der Fragen zum Kollektiv als potentiellem (Straf-)Täter mit seinen Facetten (Verband, Unternehmen und juristische Person) ein umfassende Beurteilung erlaubt6 . Wenn im folgenden die Strafwürdigkeit von Kartellrechtsverstößen beleuchtet wird, soll zunächst - ausgehend von einer Untersuchung und Herausarbeitung der Rechtsgüter des GWB, also ausgehend von der tatsächlichen normierten Wettbewerbspolitik - nach einem strafrechtlichen Schutz des Wettbewerbs, wie er in unserer Gesellschaft verankert ist, gefragt werden. Ansatzpunkt muß also die geltende Rechtslage sein. Insoweit wird immer betont, daß der Strafgesetzgeber an die Bestimmungen des Wirtschaftsrechtsgesetzgebers (für das GWB) gebunden sei und sich nicht eigenmächtig darüber hinwegsetzen könne7 • Eine solche Differenzierung in zwei Gesetzgeber ist jedoch künstlich und darüber hinaus meines Erachtens falsch. Wie hätte man sich den ursprünglichen Gesetzgeber des GWB vorzustellen? Richtig ist daran - neben der Tatsache, dass sicher verschiedene Ressorts der Regierung bei der Gesetzesvorbereitung in unterschiedlichem Maße tätig werden -, daß der Gesetzgeber sich nicht auf eine rein strafrechtliche Position unter Außerachtlassung gewichtiger und konsentierter wirtschaftlicher (wirtschaftswissenschaftlicher, wirtschaftsrechtlicher) Argumente zurückziehen darf - das gilt allerdings umgekehrt ebenso für einen einseitigen Rückzug auf eine wirtschaftsrechtliche Position. Ein (in welcher Richtung auch immer) einseitig orientierter Gesetzgeber handelte verantwortungslos. Ist also nicht ohnehin durch eine konsequente Auslegung des GWB eine Strafwürdigkeit von Wettbewerbsverletzungen / Kartellrechtsverstößen konkret zu bejahen, sind u. U. entsprechende Konsequenzen de lege ferenda für das GWB zu formulieren. Wer das ablehnt, erliegt vor allem einem Fehler: Er nimmt an, daß der Gesetzgeber des Kartellrechts vollkommen frei über den Wettbewerb als (verfassungsrechtliches) Rechtsgut verfügen könnte. Das aber ist - wie gezeigt werden wird - nicht der Fall. 6
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Im Überblick: § 6 IV. und V.; eingehend Teil 4. Exemplarisch: P. Selmer; Verfassungsrechtliche Probleme, S. 28 f.
§ 4 Abgrenzung von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht
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§ 4 Abgrenzung von Ordnungswidrigkeitenrecht
und Strafrecht: dogmatische Grundsätze und status quo der Diskussion für das Kartellrecht I. Ansätze zur Abgrenzung in der Rechtsdogmatik
1. Qualitative vs. quantitative Abgrenzung: Historie und Problemstellung
Die Diskussion um die Strafbarkeit von Kartellrechtsverstößen ist eingebettet in die materielle Abgrenzungsproblematik von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Hier ist zunächst nach den Beiträgen der Lehre vom Rechtsgüterschutz zu fragen 8 . In der Lehre wurde, als das Thema zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland an Aktualität gewann 9 , zunächst vertreten, daß gerade und nur das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dienen soll und das Verwaltungsstrafrecht (als Vorläufer des Ordnungswidrigkeitenrechts) hingegen zumindest nicht dem Schutz von Rechtsgütern, eventuell dem Schutz anderer Werte dienen soll. Für die - damals noch nicht so benannten - Ordnungswidrigkeiten wurde zunächst auf die Verletzung von Pflichten des Bürgers (meist polizeirechtlicher Natur) gegenüber dem Staat abgestellt, die von den auf subjektiven Rechten beruhenden Pflichten der Bürger untereinander zu unterscheiden waren. Rechtsgüter spielten nur in letzterem Verhältnis eine Rolle lO • Von James Goldschmidt - und diesem folgend später Erik Wolf - wurde dann auf den Schutz der durch die Verwaltung anzustrebenden Wohlfahrt verwiesen, der bei Gefährdung der Zielerreichung durch entsprechende Sanktionen zu gewährleisten war ll . Für Goldschmidt standen sich die Sphäre des Rechtsgüterschutzes und die der Wohlfahrtsförderung gegenüber. Die Wohlfahrt ist danach der Verwaltung übertragen, verbunden mit der Einräumung der Bestimmung von Zielen und Mitteln - sie stellt kein Rechtsgut dar und kann auch nicht verletzt werden I2 . Dem entspricht eine Auffassung des Menschen als Individualperson einerseits und Sozialperson andererseits. Wolf hat diese Ergebnisse in einen philosophischen Kon8 Für die Rechtsanwendung in der Praxis stellt sich das Problem der Abgrenzung nicht, da dort die Einordnung der Gesetzgebers verbindlich ist, die dieser durch die Rechtsfolgenandrohung in Form von Geldbuße oder Strafe vornimmt, vg!. nur Maurach/Zipf, AT I, § I III, Rn. 32. 9 Wegen des Rufes nach der Zuweisung von Strafsachen an ordentliche, vor allem unabhängige Richter. Zum historischen Überblick Vg!. KK-OWiG/ Bohnert, Ein!. Rn. 50 ff.; Maurach/Zipf, AT I, § 1 III, Rn. 26 ff.; ausführlich H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, I. Hb., passim. 10 G. Jakobs, AT, 3. Abschn., Rn. 3. 11 Vg!. G. Jakobs, AT, 3. Abschn., Rn. 4; KK-OWiG/ Bohnert, Ein!. Rn. 55 ff und 61 ff. m.w.N. 12 Vg!. nur J. Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, 1902, passim; dazu auch H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 1. Hb., S. 135 ff., insbes. 141 ff.; w. N. bei KK-OWi/ Bohnert, Ein!. Rn. 55 ff.
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text gestellt, ansonsten jedoch an der Gegenüberstellung von Justiz und Verwaltung festgehalten. Er nimmt im Unterschied zu Goldschmidt die Existenz von schutzwürdigen Gütern an, sog. Verwaltungsgütern, die jedoch dem allgemeinen Verwaltungszweck dienen und als solche nicht ethisch verletzbar sind I3 . Diese Versuche einer qualitativen Abgrenzung durch die sog. Lehre von den Ordnungswidrigkeiten erlangten bis nach dem 2. Weltkrieg keine praktische Relevanz im geltenden Recht. Verstöße minderer Art, das sog. Polizeiunrecht, waren als Übertretungen im StGB seit 1871 unter Strafe gestellt und damit formal als Kriminalunrecht, wenn auch niederen Ranges, geregelt. Erst nach dem 2. Weltkrieg konnten die Vertreter dieser Lehre, vor allem Eberhard Schmidt l4 , kurzzeitig auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen. Ihre Motivation war vor allem die Begrenzung des stark ausgeuferten, die ganze Wirtschaft durchziehenden Wirtschaftsverwaltungsstrafrechts, das sich immer noch als Kriminalstrafrecht darstellte. Auch Schmidt unterschied zwei Interessenräume. Die auf ihn zurückgehende Formel in § 6 WiStG von 1949 15 unterschied - neben einem subjektiven Kriterium der Tatereinstellung - nach der Wirkung der Tat und knüpfte somit an die Tradition der qualitativen Differenz an: Blieb die Wirkung verwaltungsintern, so handelte es sich um eine Ordnungswidrigkeit; war die Tat jedoch geeignet, "die Leistungsfahigkeit der staatlich geschützten Wirtschaftsordnung zu beeinträchtigen", handelte es sich um eine Straftat l6 . Insgesamt wurden die Ordnungswidrigkeiten im Gegensatz zu den Kriminalstraftaten als ,Lässigkeiten' bezeichnet, die sich durch ihre "kulturelle" oder "ethische" Indifferenz auszeichneten J7 . Auch das Ordnungswidrigkeitengesetz von 1952 war von dieser Idee geprägt l8 . Das WiStG 1949 wurde später weitestgehend durch das WiStG von 1954 19 abgelöst und gilt heute nur noch für Devisenzuwiderhandlungen (§ 20 WiStG 1954). Für die Vertreter der historischen qualitativen Abgrenzung ist hinsichtlich des geltenden Rechts folgendes zu konzedieren: Die Trennung von Justiz und Verwaltung, von Recht und Wohlfahrt ist unter der Geltung des Grundgesetzes mit seiner Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz und der Staatszielbestimmung der Sozialstaatlichkeit durch Art. 20 und 28 GG nicht mehr durchzuhalten 2o . Die Ver13 Vgl. nur E. Wolf, Die Stellung der Verwaltungsdelikte im Strafrechtssystem, in: Festgabe-v. Frank 11 (1930), S. 516 ff.; dazu auch H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 1. Hb., S. 158 ff.; w. N. bei bei KK-OWiG I Bohnert, Einl. Rn. 61 ff. 14 Vgl. Eh. Schmidt, Westdeutsches Wirtschaftsstrafrecht, 1950, passim; dazu auch H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 1. Hb., S. 174 ff.; w. N. bei KK-OWiG I Bohnert, Einl. Rn. 72 ff. 15 Gesetz zur Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts vom 26. 7. 1949, WiGBI. S. 193. 16 Vgl. KK-OWiGI Bohnert, Einl. Rn. 75, sieht darin dennoch eine quantitative Unterscheidung. 17 Vgl. nur KK-OWiG I Bohnert, Einl. Rn. 74. 18 Vgl. H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 34 ff. 19 Gesetz zur Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts vom 9.7. 1954, BGBI. III 453-11.
§ 4 Abgrenzung von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht
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waltung ist in der Bundesrepublik Deutschland heute vielfach mit der verfassungsund zivilrechtlichen Ordnung verschränkt. Aufgrund des Umstandes, daß die Grundannahmen der alten Lehre von den Ordnungswidrigkeiten kaum mehr haltbar sind, verläuft die aktuelle Diskussion um die Grenzziehung etwas anders. Ein - auch nur oberflächlicher - Blick über das Recht der Ordnungswidrigkeiten zeigt, daß dort sehr wohl auch Rechtsgüter geschützt werden sollen (und auch geschützt werden müssen)21; der Rechtsgüterschutzgedanke kommt weiten (weder straf- noch ordnungswidrigkeitemechtlichen) Teilen der Rechtsordnung zu; weiter ist es sogar streitig, ob das StGB nicht auch Tatbestände aufweist, denen kein Rechtsgut zugrunde liegt22 . In Anbetracht dieser Umstände kann eine durchgängige qualitative Abgrenzung von Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten im Sinne der Lehre vom Rechtsgüterschutz also nicht in Sicht kommen. Insofern geht es um die Frage, ob zwischen Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten ein qualitativer Unterschied identifiziert werden kann, der gerade nicht dem Rechtsgüterschutz-Gedanken zu entnehmen ist, ob man mangels eines solchen Wesensunterschiedes auf eine rein quantitative Abgrenzung angewiesen ist oder ob schließlich nicht ein vermittelnder Standpunkt einzunehmen ist23 . Verfechter einer quantitativen Abgrenzung sind allerdings dem Einwand ausgesetzt, daß ein Ordnungswidrigkeitenrecht, daß nicht qualitativ vom Strafrecht geschieden ist, auch dessen Gewährleistungen und Verfahrens schutz (Bestimmtheitsgrundsatz, Richtervorbehalt u. ä.) teilen müßte 24 . Dies tut es aber nur sehr partiell, und insofern müßte diese Ansicht den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit des geltenden Ordnungswidrigkeitemechts erheben - was sie nicht macht. 2. Möglichkeit einer rein quantitativen Abgrenzung
Parallel zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten gab es aber immer auch Meinungen, die von einer Gleichartigkeit beider Übertretungsarten ausgingen und nur einen einheitlichen Verbrechensbegriff akzeptierten, wobei in der Regel von dem Mangel eines Abgrenzungskriteriums auf die Einheitlichkeit der Verstöße geschlossen wurde 25 . Diese Einheitstheorien sind, ebenso wie die zuvor dargestellten Positionen, heute in dieser Form in der Diskussion de lege lata und de lege ferenda 20 Vg!. H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Rb., S. 135 f.; KK-OWiG I Bohnert, Ein!. Rn. 80. 21 Vg!. C. Roxin, AT, § 2, Rn. 14; K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 101 m. w. N. 22 Vg!. G. Jakobs, AT, 2. Abschn., Rn. 16 ff. m. w. N.; G. Stratenwerth, Zum Begriff des ,Rechtsguts' , in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 377 (386 f.); vg!. auch oben § 3 I. 2. 23 Zur Übersicht über die Literatur hierzu vgl. nur: G. Jakobs, AT, 3. Abschn., Rn. 7 in Fn.24. 24 So zu Recht: KK-OWiGI Bohnert, Ein!. Rn. 79. 25 Vgl. insbes. H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Rb, S. 93 ff.; KK-OWiGI Bohnert, Ein!., Rn. 78 ff. m. w. N.
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nicht mehr tonangebend bzw. überholt, auch wenn sie teilweise noch nachwirken. Gegen den schlichten Schluß von der Unauffindbarkeit eines Kriteriums auf eine Einheitlichkeit der Delikte spricht schon die intuitiv zugängliche Differenz zwischen z. B. einem Verstoß gegen ein Linksabbiege-Verbot und einem Mord oder auch ,nur' einer Körperverletzung. Eine Einheitstheorie müßte schon etwas mehr anbieten, damit man ihr folgen könnte. Zunächst hat die Einheitstheorie das geltende Recht scheinbar auf ihrer Seite: Hier hat bereits Mattes ausführlich dargelegt, daß hinsichtlich der lex lata kaum von einer systematischen Abgrenzung die Rede sein kann26 . Dies gilt in jedem Fall - wie bereits erwähnt - für eine qualitative Abgrenzung nach zu schützenden Rechtsgütern auf der einen und Verwaltungsgütern auf der anderen Seite - wobei eine solche Abgrenzung für eine Rechtsordnung wie die unsere unter der Geltung des Grundgesetzes ohnehin hinfällig ist. Gleiches muß aber vor allem für jede Abgrenzung nach Qualität im Hinblick auf das geltende Recht festgestellt werden. Eine grundsätzliche Andersartigkeit von Ordnungswidrigkeiten und Kriminalstraftaten ist dem geltenden Recht nicht in genügender Konsequenz zu entnehmen27 . Dem Gesetzgeber muß wohl- vom WiStG und dem OWiG 1952 abgesehen - ein Abgrenzungsverfahren nach mehr oder weniger quantitativen Gesichtspunkten unterstellt werden, nach - im weitesten Sinne - der Schwere der Straftat. Konsequenz daraus ist: Wenn im folgenden von Abgrenzungsmaßstäben die Rede ist, so werden daher diese Meinungen letztlich als Kritik und als Maßstab für Maßnahmen de lege ferenda vertreten, sei es im Rahmen der Begründung neuer Strafbarkeiten (wie z. B. vorliegend für Kartellrechtsverstöße), sei es im Rahmen einer wünschenswerten Durchsicht und einer Systematisierung geltenden Ordnungswidrigkeiten- und Strafrechts. Wenn nun in Ablehnung einer rein qualitativen Abgrenzung auf eine quantitative Differenz zwischen Kriminalstraftaten und Ordnungswidrigkeiten verwiesen wird 28 , sind für die Beurteilung im konkreten Fall verschiedene Ansatzpunkte denkbar. So kann nach der Nähe des in Frage stehenden Verhaltens zum Sozialadäquaten gefragt werden: Je größer die Nähe, desto eher müßte eine Einordnung als Ordnungswidrigkeit erfolgen. Weiter kann nach der Bagatellhaftigkeit gefragt werden: Bagatellhafte Verstöße gehören ebenso in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten. Auch kann danach unterschieden werden, ob das Verhalten den Staat bei der Erreichung von auswechselbaren Zielen oder fixen Zielen (z. B. §§ 138, 153 ff. StGB) stört: nur bei letzterem ist von einer Straftat auszugehen. Diese gedanklichen Anknüpfungspunkte verweisen letztlich alle auf ein Kriterium: die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens, also seine Fähigkeit zu einer wesentlichen RechtsVgl. H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 50 ff.. Vgl. H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 77 f. 28 Vgl. zum folgenden G. Jakobs, AT, 3. Abschn., Rn. 9, der letztlich aber nur terminologisch an der rein quantitativen Abgrenzung festhält; für eine quantitative Abgrenzung vor allem auch mit zahlreichen Nachweisen: H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 95 ff. 26 27
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gutsbeeinträchtigung. Dabei wird als Faustformel angeführt: Geringfügige und abstrakte Gefährdungen können als Ordnungswidrigkeiten, ggf. verletzungsintensive und konkrete Gefährdungen und eben solche Verletzungen als Straftaten eingeordnet werden. Aber ist damit eine rein quantitative Abgrenzung tatsächlich in Sicht? Der Gebrauch der Termini ,Quantität' und ,Qualität' durch die Autoren sowohl hinsichtlich der selbst vertretenen Lehre als auch hinsichtlich der Bewertung anderer Meinungen erfolgt in diesem Zusammenhang längst nicht immer konsequent. Nur so kann auch erklärt werden, daß sich Autoren für eine quantitative Abgrenzung einsetzen, aber nicht die Frage der Verfassungswidrigkeit des geltenden Ordnungswidrigkeitenrechts aufwerfen29 . Insofern scheinen einige Vertreter der rein quantitativen Unterscheidung einen speziellen und vor allem nicht näher erläuterten Begriff der Quantität zu verwenden. Gehen wir daher auf die Begriffe von Qualität und Quantität zurück. In einem Standardnachschlagewerk wird zur Qualität zunächst ausgeführt, daß es sich: ,,1. a) um eine Beschaffenheit" und "b) um Güte oder Wert" handeln kann 3o . Zur Quantität heißt es dort: ,,1. Menge / Anzahl,,3l. Ein anderes Nachschlagewerk gibt etwas ausführlicher für den Begriff der Qualität an: ,,1. allgemein: Beschaffenheit, Eigenschaft, 2. Handel: obj.: meßbare Eigenschaft wie z. B. die Reinheit einer chemischen Substanz, [ ... ] 4. Philosophie: eine Kategorie, insbesondere die sinnliche Seite der Wahrnehmung (sekundäre Qualität im Gegensatz zur primären Qualität von Raum / Zeit als Eigenschaften, im Anschluß an Hobbes),,32. Quantität wird dort bestimmt als: ,,1. allgemein: Menge/ Größe, [ ... ] 3. Philosophie: Kategorie neben der Qualität: Anzahl, Größe usw., mengenmäßig mit Hilfe von Zahlen erfaßbar,,33. Quantität wird nun von den Vertretern einer solchen Abgrenzung zumindest nicht, wie es u. a. für wirtschafts wissenschaftliche Fragestellungen gängig ist, als meßbare Größe im Unterschied zur qualitativen Bewertung verstanden. Denn auch die Maßstäbe, die zur quantitativen Abgrenzung genannt werden, müssen allesamt im Rahmen einer (subjektiven) Bewertung festgestellt werden. Die Quantität kann also nur darin liegen, daß graduelle Unterschiede existieren, die einen mehr oder weniger fließenden Übergang von der schwachen Ordnungswidrigkeit zur schweren Straftat ausmachen. Dabei kommt es zu keinem Zeitpunkt zu der Überschrei29 Vgl. nur G. Jakobs. AT, 3. Absch., Rn. 7 ff.; K. Tiedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 101 m.w.N. 30 Vgl. Duden - Fremdwörterbuch, 4. Auflage, Mannheim u. a. 1982; der Duden führt weiter als 2. an: Klangfarbe eines Vokals und 3. im Schachspiel der Turm hinsichtlich seiner relativen Überlegenheit gegenüber dem Läufer oder Springer. 31 Vgl. Duden - Fremdwörterbuch, 4. Auflage, Mannheim u. a. 1982; unter 2.: Dauer einer Silbe. 32 Vgl. Brockhaus/Enzyklopädie. 15. Band, 17. Auflage, Wiesbaden 1972; unter 3. sind noch Ausführungen zum Bereich der Nahrungsmittel enthalten. 33 Vgl. Brockhaus/Enzyklopädie. 15. Band, 17. Auflage, Wiesbaden 1972; unter 2. und 4. noch Ausführungen zur Metrik und Phonetik.
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tung einer Schwelle, ab der von einern Umschlagen der Quantität in Qualität gesprochen werden kann. Damit wird aber das Problem der mangelnden Adäquanz dieses Ansatzes nicht beseitigt, da die Theorie nach wie vor unserem intuitiven Verständnis massiv widerspricht. Einzig richtig ist die kritische Erkenntnis, daß die Differenz nicht im Gedanken des lediglich strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes zu finden ist und damit konsequenterweise auch nicht von einer sozialethischen Neutralität der Ordnungswidrigkeiten gesprochen werden kann. Dies ist letztlich auch der Ertrag der Studie von Mattes, der dieses Ergebnis (grundsätzlich richtig) vor allem aus der mangelnden Unterscheidbarkeit des Menschen in Individualperson und Sozialperson hergeleitet hat34 . Seiner weiteren Argumentation für eine sittlichethische Relevanz und gegen die Neutralität von Ordnungswidrigkeiten, die auf einer Betrachtung der Natur des Rechts als sittlicher Verpflichtung, als Bindung im Gewissen des der Rechtspflicht Unterworfenen aufbaues, ist jedoch nur noch im groben Ergebnis zu folgen, daß zumindest kein normtheoretischer Unterschied zwischen Normen des Ordnungswidrigkeitenrechts und des Strafrecht dahingehend besteht, daß letztere stärker binden als die erstgenannten. Der darüberhinaus gehende, sehr wohl existierende Unterschied liegt in der Thematisierung unterschiedlicher Relationen in der Gesellschaft (dazu sogleich). Kurz anzumerken ist hier noch folgendes: Wird versucht, nach einer - wie auch immer bestimmten - Quantität abzugrenzen, taucht gelegentlich eine weitere Unsauberkeit auf: Gerade zur Abgrenzung nach der Quantität wird regelmäßig auf die Praktikabilität einer Strafbewährung36 und auf den Subsidiaritätscharakter (zusammen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Schuldangemessenheit) des Strafrechts 3? verwiesen. Die Praktikabilität ist jedenfalls keine Frage der Strafwürdigkeit, sondern ist im Rahmen der Strafbedürftigkeit zu untersuchen und kann daher auf dieser Stufe der Argumentation keine Wirkung entfalten. Die Frage der Verhältnismäßigkeit und damit auch der Subsidiarität verteilt sich aus strafrechtlicher Perspektive auf die Fragen der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit (vgl. Einleitung /Teil 2) und kann endgültig auch erst im Rahmen der letzteren beantwortet werden. Diejenigen, die sich gerne als Verfechter einer graduellen quantitativen Abgrenzung ausgeben, haben ein Problem, den Begriff der Quantität darzulegen. Mit gängigem Verständnis ist er nicht in Einklang zu bringen. Letztlich handelt es sich um heimliche Vertreter einer gemischt qualitativ-quantitativen Abgrenzung. Darüberhinaus trifft ein Einwand alle Vertreter der Einheitstheorie: Sie müssen das geltende Recht der Ordnungswidrigkeiten wegen Verstoßes gegen Art. 92, 20 GG für verfassungswidrig halten, was aber nicht formuliert wird - natürlich aus gutem Grund. 34 35 36 37
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 95 ff.
H. Mattes, Ordnungswidrigkeiten, 2. Hb., S. 199 ff., insbes. 230 ff. G. Jakobs, AT, 3. Abschn. ,Rn. 8. C. Roxin, AT, § 2, Rn. 40.
§ 4 Abgrenzung von Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht
III
3. Qualitativ-quantitative Abgrenzung der herrschenden Meinung
In Anbetracht der Probleme einer quantitativen Abgrenzung geht die heute überwiegende Meinung von einer gemischten Form der Abgrenzung aus, wobei sie sicher maßgeblich von dem Gedanken geleitet sein dürfte, die bereits mehrfach angesprochene intuitive qualitative Differenz einzuholen. Hierin stimmt die herrschende Literatur nun mit dem Bundesverfassungsgericht überein, das in mehreren Urteilen diese qualitativ-quantitative Abgrenzung herausgearbeitet hat38 . Auch das Bundesverfassungsgericht geht dabei davon aus, daß es eine positive Bestimmung der Ordnungswidrigkeiten nicht gibt, zumindest wird eine solche nicht erwähnt. Im Mittelpunkt steht daher die Annahme einer - wenn auch begrenzten - qualitativen Bestimmbarkeit der Kriminalstraftat 39 . Der verfassungsrechtliche Kernbereich von Normen - durch sie vermittelt die Rechtsgüter - soll danach strafrechtlich abzusichern sein. Hierzu zählen die das Strafrecht so prägenden Rechtsgüter wie Leben, Körperintegrität und Eigentum. Dieser Kernbereich kann dem Strafrecht durch den Gesetzgeber nicht entzogen werden. Zur näheren Bestimmung verwendet das Bundesverfassungsgericht und mit ihm die Literatur das Kriterium der sozialethischen Vorwerfbarkeit: Der sozialethisch vorwerfbare Kernbereich von Verstößen ist dem Strafrecht vorbehalten und dieser bestimmt sich eben nach der Verletzung von Rechtsgütern. Daraus resultiert eine Bewertung nach Art (hinsichtlich der betroffenen Rechtsgüter) und Schwere des Eingriffs. Der Kernbereich des Strafrechts läßt sich - wenn auch nicht trennscharf - positiv bestimmen und damit zugleich ex negativo der potentielle Bestand der Ordnungswidrigkeiten, denen ein geringerer Unrechtsgehalt zugeschrieben wird4o . Für die Bestimmung des Kernbereichs ist von den zu schützenden Rechtsgütern auszugehen. Dabei ist auf die verfassungsmäßige Werteordnung zurückzugehen, um von dort die für die Bürger und den Staat grundlegenden Rechtsgüter zu entwickeln41 . In welchem Maße hieraus konkrete Ergebnisse gewonnen werden können, wird allerdings unterschiedlich beurteilt42 • Dabei wird jedoch deutlich, daß noch einmal auf den Begriff des Rechtsguts genauer einzugehen sein wird. Was danach nicht zum Kernbereich gezählt werden kann, kommt zunächst sowohl als Straftat, als auch als Ordnungswidrigkeit in Frage. Hier fängt die un38 BVerfGE 9,167 (171); 27,18 (28); 45, 272 (289); Vg!. zur Lit. nur: G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 11 m. w. N. 39 SO Z. B. faktisch G. Jakobs, AT, 3. Abschn., Rn. 10. 40 Die Frage nach der (notwendigen) Begrenzung der Ordnungswidrigkeiten nach ,unten' zu den Verhaltensweisen, die sanktionslos bleiben müssen, muß hier nicht erörtert werden. 41 Vg!. nur MaurachiZipf, AT I, § I III., Rn. 35. 42 Ablehnend bei über ganz allgemeine Grundsätze hinausgehenden Folgerungen KKOWiG/ Bohnert, Ein!. Rn. 105; dies wird aus verfassungsrechtlicher Sicht von I. Appel, Verfassung und Strafe, bestätigt; S. 569 ff. zu den verbindlichen Anforderungen an den Gesetzgeber bei Konzeption von Verhaltens-, Primärsanktions- und Sekundärsanktionsnormen.
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
scharfe Grauzone zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht an, innerhalb derer der Grenzverlauf zwischen den beiden Deliktsformen mittels quantitativer Kriterien zu bestimmen ist. Diese als quantitativ bezeichneten Kriterien wurden oben bereits angeführt. Als quantitatives Kriterium kommt vor allem die Schwere des Unrechts in Frage. Für den doch relativ weiten Grenzbereich greift grundsätzlich ein gesetzgeberisches Ermessen ein43 . Hier wird der Begriff der Sozialschädlichkeit der Verhaltensweisen als Maßstab zur Beurteilung eingesetzt44 . Dieser Begriff berührt sich stark mit dem des Sozialethischen. Die sozialethische Mißbilligung eines Verhaltens ist die Kehrseite der festgestellten Sozialschädlichkeit. Damit an einer qualitativen Abgrenzung des Kernbereiches festgehalten werden kann, muß bei Verwendung dieser beiden Begriffe für die Bestimmung des Kernbereiches und die Abgrenzung in der Grauzone zwischen Kriminalstrafrecht und Ordnungswidrigkeit die Schwelle bestimmt werden, ab welcher der Bereich der individuellen und überindividuellen Rechtsgüter durch bestimmte Verhaltensweisen entsprechend nachhaltig geschädigt wird45 . Das eigentlich qualitative Kriterium der sozialethischen Mißbilligung wirkt nun wie aufgepfropft. Sie ist ja Konsequenz der erfolgten Einordnung aufgrund des Grades der Sozialschädlichkeit. Die Schwäche des Kriteriums der Sozialschädlichkeit im Hinblick auf seinen qualitativen Charakter legt den Schluß einer notwendig quantitativen Abgrenzung so nahe. So ist eben z. B. nicht zu erklären, warum eine rnillionenschwere Vertragsverletzung im privaten oder wirtschaftlichen Verkehr nicht einen Straftatbestand darstellt - an einer Sozialschädlichkeit kann im Hinblick auf mögliche Folgen (Stellenabbau, Konkurs etc.) kaum ein Zweifel bestehen46 . Die Ergebnisse haben lediglich einen intuitiv richtigen Kern 47 . Die Suche nach den richtigen qualitativen Kriterien muß daher noch weiter fortgesetzt werden. Dabei wird man fündig bei den Vertretern eines freiheits gesetzlich konzipierten Strafrechts, die eine neue Lehre von der qualitativen Abgrenzung begründen.
4. Der Jreiheitsgesetzlich bestimmte Ansatz zu einer rein qualitativen Abgrenzung
Der neue Weg zu einer qualitativen Abgrenzung von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, der in jüngerer Zeit von der Strömung in der Literatur entwikkelt wurde, die im Teil 1 als freiheitsgesetzlich orientiert dargestellt wurde (ErnstAmadeus Wolff, Michael Köhler u. a.), läßt die Differenzierung in ,RechtsgutsverVgl. nur MaurachIZipf, AT I, § 1, Rn. 35. V gl. für das Kartellrecht z. B. K. Tiede/'TUlnn, Kartellrechtsverstöße, S. 95 m. w. N. 45 Vgl. K. Tiede/'TUlnn, Kartellrechtsverstöße, S. 98 m. w. N. 46 Vgl. zu diesem Beispiel E.-A. Wolf!, Abgrenzung, in: W Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (214 f.). 47 So auch E.-A. Wolf!, Abgrenzung, in: W Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (159 f.). 43
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letzung' auf der einen und ,Verwaltungsgutsverletzung' auf der anderen Seite hinter sich. Dieser Ansatz gehört endgültig als zu altmodisch - und damit inadäquat der Vergangenheit an48 . Sowohl auf der Seite der Ordnungswidrigkeiten- als auch der Kriminalstraftatbestände (und eben auch zahlreicher zivilrechtlicher Normen) geht es um Rechtsgüterschutz. Ausgangspunkt der neuen qualitativen Abgrenzung ist nun (bekanntlich) die freiheitlich-vernünftig konstituierte Rechtsordnung, deren Aufgabe es ist, die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft zu ermöglichen. Sie wurde bereits in ihren Grundzügen dargestellt49 . Danach ist ein Verbrechen (Kriminalstraftat im hier verstandenen Sinne) "die subjektiv-objektiv handelnde Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeingesetzlichen Geltung ("als Recht") in einem Maße, das die rechtliche Selbständigkeit der betroffenen Person oder Gemeinschaft grundlegend beeinträchtigt,,5o. Es geht um eine substantielle Verletzung der Fähigkeit zu einem selbständig regulativen Dasein in Freiheit. Aus diesem Grunde ist die Bedeutung der persönlichen Rechtsgüter (vor allem Körper und Leben) so intuitiv einsichtig. Mit diesem Schritt werden jedoch nur vorübergehende und nur geringe Beeinträchtigungen wesentlicher Rechtsgüter (Bagatellen) und auch Beeinträchtigungen abstrakter Bestandsbedingungen (Ordnungswidrigkeiten) aus dem Strafrecht ausgeschieden. Diese substantielle Verletzung der Bedingungen der personellen Freiheit hat E.-A. Wolff noch präziser gefaßt, indem er auf die Verwirklichung der Freiheit in der Gesellschaft durch das ein Basisvertrauen schaffende Anerkennungsverhältnis zwischen jedem Einzelnen und dem jeweils Anderen zurückgeht51 . Diese "Verletzung des rechtlichen Basisvertrauens setzt voraus, daß ein Anderer oder der Staat in einer Art verletzt werden, auf die er sich - in dem von der Rechtsordnung eingeräumten selbstorientierten Dasein - nicht aus eigener Kraft einstellen kann,,52. Die für eine Kriminalstraftat notwendige objektive Verletzung des Rechts ,als Recht' liegt aber nicht nur vor, wenn ein für die Freiheit konstitutives wechselseitiges Basisvertrauen im Zwei-Personen-Verhältnis, das durch das Anerkennungsverhältnis vermittelt wird, substantiell betroffen ist53 ; es ist auch dann eine Verletzung des Rechts ,als Recht' gegeben, wenn grundlegende gesellschaftliche Daseinsbedingungen der Freiheit in Form von Interaktions- und Kommunikationsstrukturen zwischen mehreren / einer Vielzahl von Personen substantiell betroffen sind. Auch diese sind Ableitungen des Basisvertrauens. Sie ergeben sich aus der gesellschaftSo die im Ergebnis berechtigte Feststellung von KK-OWiG I Bohnert, Einl. Rn. 80. Vgl. oben § 3 11. 3. 50 M. Köhler, AT, S. 22; vgl. dazu insgesamt S. 22 ff., insbes. 30 ff. 51 Vgl. E.-A. Wolf!, Abgrenzung, in: W. Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (168 ff., 178 ff.); vgl. dazu auch unten § 11. 52 E.-A. Wolf!, Abgrenzung, in: W. Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (213). 53 Vgl. E.-A. Wolf!, Abgrenzung, in: W. Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (214 ff.); M. Köhler, AT, S. 30 m. w. N. 48 49
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lichen Realität bzw. den Bedürfnissen der Rechtsgemeinschaft zur Verwirklichung ihrer Freiheit54 . Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis nimmt die interpersonelle (kollektive) Ebene also bereits in die Rechts- und Strafrechtsbegründung mit auf55 . Die einzelne Ordnungswidrigkeit kann zwar schon einzelne Funktionsbedingungen des Gesamtsystems beeinträchtigen, aber nicht das Freiheitsinteresse entsprechend nachhaltig verletzen. Von der Tendenz her wird es sich um eine Regel handeln, die in dieser Form aber auch in einer anderen Weise gefaßt sein kann (klassisches Beispiel: Rechtsfahrgebot). Aber auch wenn es sich um einsichtige Ge- oder Verbote handelt, die eine spezifische Regelung beinhalten, die praktischer weise nur so gestaltet sein kann (z. B. in bestimmten Bereichen des Bauordnungsrechts, in denen Regelungen zur Gebäudesicherheit enthalten sind), ist die schlichte Übertretung einer solchen Regel keine substantielle Verletzung des Basisvertrauens und damit des Anerkennungsverhältnisses. Im Falle einer tatsächlichen Körperverletzung oder konkreten Gefährdung wird bzw. kann eine Kriminalstraftat vorliegen. Nur eine Straftat bewirkt die Verletzung des Basisvertrauens durch eine Verletzung oder Gefährdung eines besonderen, für die Freiheit in der Gesellschaft bedeutsamen Rechtsguts oder durch Beeinträchtigung des im Handlungssystem niedergelegten Freiheitsinteresses in seinen Grundlagen 56 . Die Differenz liegt weder in einem ethischen Bezug hier (Straftat) und Neutralität dort (Ordnungswidrigkeit), noch im ausschließlichen Rechtsgutsbezug der Kriminalstraftat, sondern in einer eigenständigen Rolle der Ordnungsregeln der Verwaltung in der freiheitlichen Verfassung: Es geht nicht um die Regelung des Verhältnisses des "Einen zum Anderen in ihren Beziehungen zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern um das Verhältnis zur staatlich verbundenen Gemeinschaft,,57. In diesem (letzteren) Verhältnis werden zwar auch Regeln der Klugheit aufgestellt, die für ein Leben in der Gemeinschaft große Bedeutung haben können. Wesen des Strafrechts ist es aufgrund der Natur des Menschen jedoch, das gegenseitige Anerkennungsverhältnis - seine Ermöglichungsbedingungen eingeschlossen - zu schützen und zu verteidigen. Nur wenn eine Tat sich hiergegen richtet, ist sie Kriminalstraftat, ansonsten kann es nur eine Ordnungswidrigkeit sein58 . Vgl. M. Köhler; AT, S. 36. So richtigerweise R. Zaczyk, Gesellschaftsgefährlichkeit, in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Modemes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip, S. 113 (122 ff.). 56 Vgl. M. Köhler; AT, S. 33 f. 57 E.-A. Wolff, Abgrenzung, in: W. Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 (218 ff.). 58 Zu Abgrenzungsbeispielen i. e.: E.-A. Wolff, Abgrenzung, in: W. Hassemer (Hrsg.), Bedingungen einer Strafrechtsreform, S. 137 ff., S. 218 ff. zu den Vorschriften der Gefahrenabwehr, S. 220 ff. zu § 145d und den §§ 129, 129a StGB, S. 223 zu § 323c StGB, wobei die von Woif.fvertretenen Bewertungen nicht alle gleichermaßen der hier vertretenen Ansicht entsprechen (zumindest für die §§ 129, 129a StGB), was sich aber aus den Betrachtungen zum Rechtsgut ,Wettbewerb' und zu den Verletzungsmöglichkeiten ergeben wird. 54 55
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Folgende Konsequenzen ergeben sich aus diesen Gedanken: Eine rein quantitative Abgrenzung ist nicht mehr haltbar. Die Argumente der herrschenden, gemischt qualitativ-quantitativen Theorie nehmen das intuitiv wahr und führen dann zwar in die richtige Richtung, bieten aber letztlich kein geeignetes Kriterium der Qualität, da die Sozialschädlichkeit als Abgrenzungskriterium im Rahmen der graduellen Abstufung und damit sehr blass bleibt. Der neue rein qualitative Maßstab bietet ein Kriterium der Abgrenzung, das handhabbar ist, weil es den Anschluß an die Begründung des Rechts leistet. Man könnte es auch eine Sozialschädlichkeit im engeren oder eigentlichen Sinne nennen, da sie das Kernelement des Lebens: die Freiheit verletzt. Aber auch diese neue qualitativ abgrenzende Meinung wird konzedieren müssen, daß es schwierig ist, verbindliche, mit Bestimmtheit nachprüfbare Maßstäbe für den Gesetzgeber aufzustellen, wann das Freiheitsinteresse - materialisiert in einem Rechtsgut - entsprechend substantiell verletzt ist. Hier liegt ein interpretierbarer und verfassungsgerichtlich nicht überprüfbarer Entscheidungsspielraum für den Gesetzgeber vor59 • Dieser Umstand der normativen Ausfüllung des entscheidenden Kriteriums führt jedoch nicht zu einer quantitativen Bestimmung der Kriminalstraftat in diesem Bereich.
11. Die Beurteilung von KarteIlrechtsverstößen - Status quo Vor diesem Hintergrund kann nun die Diskussion über die Natur von Kartellrechtsverstößen in einem Überblick aufbereitet werden. An dieser Stelle sollen kurz die Argumente pro und contra vorgestellt und vor allem verdeutlicht werden, auf welcher Ebene sich die verschiedenen Argumente bewegen. Wie oben bereits erwähnt wurde, verläuft die Grenze zwischen Befürwortern und Gegnern eines Kartellstrafrechts grob gesprochen zwischen den Strafrechtlern auf der einen und den Wirtschaftsrechtlern auf der anderen Seite. In der strafrechtlichen Literatur wird seit den Beratungen der Großen Strafrechtskommission 1959 (nach Inkrafttreten des GWB) eine Strafnotwendigkeit60 und damit eine Strafbarkeit de lege ferenda zumindest für eine Mehrzahl einzelner Verstöße, namentlich der Submissionsabsprachen, angenommen und auch von der grundsätzlichen Tendenz her eine Inkriminierung schwerer Verstöße bejaht61 • 59 Es wird auch zu zeigen sein, daß man hinsichtlich der Einordnung der KarteIlverstöße mit den verschiedenen Ansätzen zur Abgrenzung zu keiner unterschiedlichen Bewertung kommt bzw. kommen dürfte. Insofern könnte, wenn der Begründungszusammenhang nicht von so wesentlicher Bedeutung wäre, auf eine endgültige Bewertung der verschiedenen Ansichten verzichtet werden. 60 Vg\. zu diesem Begriff die Ausführungen oben, Ein\. Teil 2. 61 Vg\. K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 25, auch mit einem umfassenden Überblick bis Mitte der 70er Jahre, S. 25 ff.; ders. in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, § 38 Rn. 4; H. Achenbach in: FK-GWB, Vorbem. § 81 Rn. 13 ff.; G. Dannecker in: Immenga/Mestmäcker, 3. Auflage, § 81 Rn. 9 ff.
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Als Argumente werden dabei vor allem die Erfüllung der aus der Abgrenzungsdiskussion bekannten Kriterien der Sozialschädlichkeit angeführt: Bestimmte wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen bedrohten die Grundlagen der Marktwirtschaft, gefährdeten schwächere Wirtschaftssubjekte und beeinträchtigten massiv gewichtige Interessen der Verbraucher bzw. der Marktgegenseite62 . Vor allem wird auf verschiedenen Ebenen die Begründung des GWB kritisiert, die insbesondere auf die mangelnde Verankerung des Wettbewerbsgedankens und seiner gesellschaftlichen Funktion im Denken der wirtschaftlich Agierenden abhebt. Die Ursache für die Wahl von ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionen wird in letzter Konsequenz auch überwiegend in dem Wunsch nach Verbandssanktionen gesehen 63 . Neben vereinzelten Strafrechtlem64 wird die Gegenposition zu einer Inkriminierung vor allem von wirtschaftsrechtlicher Seite vertreten 65 • Dabei erfolgt nur selten eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik und den Bedingungen einer Inkriminierung von Normverstößen in Form von Gedanken der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit66 . Wurde früher in der Regel vor allem auf die Amtliche Begründung des GWB verwiesen und auf den Charakter der Verstöße als ,Kavaliersdelikte', womit wohl grundsätzlich zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß weder das zu schützende Rechtsgut bedeutend genug sei, noch wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen sozialschädlich genug, um eine Inkriminierung zu begründen, finden sich mittlerweile differenziertere Auseinandersetzungen mit der Materie67 . Dabei wird sowohl auf der Strafwürdigkeits- als auch der Strafbedürftigkeitsebene argumentiert. Dem Wettbewerb wird eine zentrale Bedeutung in unserer Wirtschaft und eine sittliche Werthaftigkeit für unsere Gesellschaft abgesprochen68 . Die vom GWB-Gesetzgeber vorgenommenen Relativierungen machten es zusätzlich ganz oder fast unmöglich, für das Schutzgut "Wettbewerb" eine klare Strafwürdigkeit aufgrund seiner Bedeutung als Institution zu bejahen69 (Ebene der Strafwürdigkeit). Weiter wird gegen eine Inkriminierung die Tatsache angeführt, daß Verhaltensweisen, für die GWB-Normen einschlägig sind, sehr un62 Vgl. nur J. Baumann/G Arzt, Kartellrecht und allgemeines Strafrecht, ZHR 134 (1970), S. 28 ff. m. w. N. 63 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 28; R. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, S. 14, 124; ders., Strafrechtliche Maßnahmen, S. 75 Fn. 142; vgl. auch oben § 2 111. 1. 64 Vgl. früher K. Engisch, Zur Kritik des § 270 Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962), ZStW 76 (1964), S. 177 ff.; aktuell K. Liiderssen, Strafrechtliche Interventionen im System des Wettbewerbs - kritische Betrachtungen de lege ferenda, in: H. Dahs (Hrsg.), Kriminelle Kartelle?, S. 53 ff. 65 Überblick bei K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 30 ff. 66 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 30. 67 Vgl. dazu nur maßgeblich P. Selmer, Verfassungsrechtliche Probleme einer Kriminalisierung des Kartellrechts, 1977; W Möschel, Zur Problematik einer Kriminalisierung von Submissionsabsprachen, 1980. 68 Vgl. P. Selmer; Verfassungsrechtliche Probleme, S. 18 ff. 69 Vgl. nur W Möschel, Submissionsabsprachen, S. 33 und vor allem S. 34 f.
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terschiedlich ausfielen, dies insbesondere hinsichtlich des Grades ihrer Sozialschädlichkeit7o . Eine Kriminalisierung könne sich auch auf keinen der mehrheitlich vertretenen Strafzwecke stützen, da keine stärkere Generalprävention nötig sei, kein besonderes Rückfallproblem nachgewiesen werden könne und auch der Resozialisierungsgedanke weitgehend ins Leere liefe71 • Es wird weiter auf die ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten verwiesen 72 , vor allem darauf, daß bereits die Ankündigung des Bundeskartellamtes, ein Verfahren einleiten zu wollen, in der Regel zu einem Einlenken der Unternehmen führe (mangelnde Strafbedürftigkeit). In diesem Zusammenhang wird auch auf die Effizienz des Verfahrens vor dem Bundeskartellamt verwiesen, das einen Dialog zwischen Behörden und Unternehmen ermögliche und so eine gemeinsame, in Übereinstimmung erzielte Entschärfung des Problems mit sich bringe. In diese Richtung seien Reformmöglichkeiten auch bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Eingriffe durch die strafrechtliche Sanktion aufgrund eines Kartellrechtsverstoßes widersprächen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Form des Übermaßverbotes dies unterlegt mit einem Verständnis der Strafe als dem stärksten Sanktionsmittel und dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Insgesamt wird vor allem die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Unternehmen angeführt, denen Beschränkungsstrategien offenstehen müßten, dies vor allem unter Hinweis auf deren vermeintlich auch durchaus positive Auswirkungen (Ebene der Strafwürdigkeit). Ein Teil der Argumente gegen eine Inkrirninierung entfaltet seine Wirkung nur bzw. vor allem in Auseinandersetzung mit konkreten Vorschlägen zu einem Kartell strafrecht. So erfolgte die Arbeit von Peter Selmer in Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Kommission zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und die Arbeit von Wernhard Möschel in Auseinandersetzung vor allem mit den zwei Vorschlägen zur Kriminalisierung von Submissionsabsprachen, vorgelegt im Referenten-Entwurf des Bundesministeriums für Justiz 1978 und 1979. Beide Arbeiten steuern daher zur Diskussion nicht unbedingt nur grundsätzliche Argumente gegen ein Kartellstrafrecht bei, sondern auch Maßstäbe für ein mögliches Kartellstrafrecht. Möschel kritisierte zu § 264a RefE beispielsweise eine inkonsistente Konzeption des Tatbestands sowohl im Hinblick auf das intendierte Strafrechtsgut bzw. die intendierten Rechtsgüter als auch im Hinblick auf die genannten Verletzungshandlungen. Als besonders verfehlt wurde die Auffassung der Submissionsabsprache als "Verwandte" des Betrugs eingestuft, was sich letztlich fast 20 Jahre später auch positiv in der Konzeption des § 298 StGB niedergeschlagen hat. Vor allem wird kritisiert, daß sich ein Kartellstrafrecht nicht einordnet in eine für das Wirtschaftsrecht grundsätzlich als richtig empfundene Tendenz vom Strafrecht weg hin zum Ordnungswidrigkeitenrecht73 . Gerade die Geldbuße wird als ange70
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Vgl. W. Benisch in: Verh. 49. DJT Bd. H, S. M. 137 ff. Vgl. W. Möschel, Submissionsabsprachen, S. 40 ff. Vgl. W. Benisch in: Verh. 49. DJT Bd. H, S. M. 137 f. Vgl. P. Selmer, Verfassungsrechtliche Probleme, S. 30 ff.
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messenes Sanktionsinstrument empfunden (Praktikabilitäts- und Effizienzargumente). Im Ergebnis würde dann eine verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichheit in der strafrechtlichen Sanktionsandrohung und auch Sanktionierung bestehen - sowohl im Vergleich Kartellrecht / restliches Wirtschaftsrecht (unter dem Stichwort: ,Systemgerechtigkeit') als auch im Vergleich bestimmter Kartellrechtsverstöße. Schließlich wird gegen konkrete Vorschläge für ein Kartellstrafrecht auch der Einwand der mangelnden, aber verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit vorgebracht74 .
IH. Erinnerung der Problemfelder Es sind nun auf der Basis einer freiheitsgesetzlich fundierten, qualitativen Differenzierung Straftaten und Ordnungswidrigkeiten für die Kartellrechtsverstöße abzugrenzen. Maßstab sind: (i.) das in einem Rechtsgut verkörperte Freiheitsinteresse der Einzelnen für sich bzw. in der Gesellschaft (in Form von Individual- und Kollektivrechtsgütern) und (ii.) die verletzende Handlung (iii.) des Täters. Alles drei waren Punkte, in denen das heutige Strafrecht allgemein vor erheblichen Bewältigungs- und dann vor allem auch Begründungsschwierigkeiten steht (vgl. oben § 3 1.). Die zentrale Frage nach dem Täter - und damit nach der Strafbedürftigkeit - ist nun für die Teile 3 und 4 der Arbeit vorbehalten. Die drei wesentlichen Problemfelder im Rahmen der Strafwürdigkeit sollen kurz noch einmal skizziert werden. Ein erstes Hauptproblemfeld stellt die Diskussion um die Rechtsgüter im GWB dar. Es muß zunächst noch einmal darauf hingewiesen werden, daß dem Gesetzgeber aus positivistischer Sicht verschiedene Möglichkeiten der Beantwortung der Frage nach den zu schützenden Rechtsgütern eines Kartellrechtes offenstehen und die Gesetzgeber der einzelnen Staaten, die über ein Kartellrecht verfügen, hiervon auch Gebrauch gemacht haben75. Insofern ist auch der Diskussion in der Lehre die Tür geöffnet, die unter der Überschrift "Individual- bzw. Freiheits- oder Institutionsschutz" geführt wurde und wird76 . Hinsichtlich des GWB liegt wohl zunächst der Schluß nahe, daß diesem nicht nur ein einzelnes (kollektives) Rechtsgut oder nur verschiedene geschützte Einzelinteressen, insbesondere individuelle Freiheitsinteressen, zu entnehmen sind. Dieser Eindruck wird vor allem durch die Existenz eines § 33 GWB mit Bezugnahme auf ,Schutznormen ' (letztlich gewisse Rechtsgüter und Interessen77) und die erwähnte Diskussion um Individual- oder Instituti74 Vgl. P. Selmer; Verfassungsrechtliche Probleme, S. 42 ff.; vgl. dazu die Analyse zum Zustand und der Zukunft des Strafrechts oben § 3 I. 3. 75 Vgl. nur W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 108, mit dem Hinweis auf die Entgegengesetztheit des amerikanischen Rechts einerseits und des französischen Rechts andererseits. 76 Vgl. nur F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 48 m. w. N. 77 Vgl. F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 14 Rn. 14 ff.
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onsschutz78 hervorgerufen. Woran sich das Strafrecht orientieren soll, ist hier nun die - wie der Weg zu § 298 StGB gezeigt hat - schwierige Frage. Auch wenn nun nach ganz überwiegender Ansicht dem GWB die Aufgabe des Schutzes des Wettbewerbs als solchem, als Institution zugeschrieben wird, so ist das jedoch kaum präzise und kann für die Bestimmung eines strafrechtlich zu bewährenden Rechtsgutes ,Wettbewerb' bestenfalls Ausgangspunkt der weiteren Arbeit sein. Bei der Rekonstruktion der zu schützenden Rechtsgüter soll zunächst von den Interessen der einzelnen Marktteilnehmer ausgegangen werden, um von dort auf die sich ergebenden komplexen Strukturen der "Veranstaltung Wettbewerb,,79 zu schauen. Dieses Vorgehen zeichnet auch noch einmal nach, warum die Frage nach ,Individual- oder Institutionsschutz' falsch gestellt ist und diese kaum getrennt werden können 8o . Als individuelle Schutznormen im Rahmen der Zivilklagen des § 33 GWB werden z. B. § 21 Abs. 1 bis 3 GWB für den Adressaten von Drohungen u. ä., § 20 GWB für den durch ein Verhalten behinderten bzw. in bestimmter Form anders behandelten Marktteilnehmer und § 1 für den betroffenen außenstehenden Konkurrenten angesehen 81 . Insoweit wird die Wettbewerbsfreiheit in Form von wirtschaftlicher Handlungsfreiheit der Markteilnehmer geschützt im Gegensatz zu den an den Wettbewerbsbeschränkungen - wenn auch unfreiwillig - Beteiligten. Bei der Frage nach dem Marktzugang z. B. durch Errichtung künstlicher Schranken geht es um die private Gewerbefreiheit82 . Die Regelungen hinsichtlich des Mißbrauchs von Marktrnacht wiederum rücken den Aspekt der Chancengleichheit in den Vordergrund, den auch andere Regelungen berühren83 . Es geht um die verschiedenen Aspekte der Privatautonomie, die vor der in ihr selbst ruhenden Gefahr der eigenen Aufhebung geschützt werden muß. Nun ist es aber so, daß es nicht nur um die einzelnen Beteiligten geht, sondern dem Wettbewerb an sich eine Mehrzahl von Funktionen bzw. Zielen zugeschrieben wird, die ihn dem alleinigen Bezug auf die wirtschaftlichen Individuen entziehen und ihn zusätzlich in einen politischen und gesamt-gesellschaftlichen Kontext stellen 84 . Der - insofern seinerseits zu schützende - Wettbewerb hat sich bis dato als das einzig effiziente Lenkungsinstrument der Wirtschaftspolitik erwiesen und darüber hinaus auch als ein wichtiges Sicherungsinstrument der Freiheit in dieser Gesellschaft (wie zu zeigen sein wird). Hierin liegt begründet, daß von einem eigeV gl. W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 111. W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 111. 80 Vgl. nur W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 111; F. Rittner, Wettbewerbsund Kartellrecht, § 5 Rn. 48, jeweils m. w. N. 81 Vgl. hier nur F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 14 Rn. 16 m. w. N.; auch oben § 2 11. 82 Vgl. W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 109. 83 V gl. W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 110. 84 V gl. dazu oben § 1 V. 1. 78
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nen zu schützenden Kollektiv-Interesse bzw. Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb' ausgegangen wird. Dieses ist eng verbunden mit den individuellen Handlungsfreiheiten der in der Wirtschaft Agierenden; es wird zu untersuchen sein, ob der Wettbewerb als Institution dabei nur die Summe der Einzelinteressen ausmacht. Zweites Hauptproblemfeld sind die Gesetzesverstöße selbst, da sie in Art und Schwere - sowohl generell als auch im Einzelfall - stark schwanken können. Die Verstöße gegen das GWB stellen Verhaltensweisen im Sinne der dort geregelten Wettbewerbsbeschränkungen dar. Ein Verhalten ist z. B. eine - nunmehr - per se verbotene Kartellabsprache, ein anderes kann einen Mißbrauch von Marktrnacht darstellen. Die Regelungsmöglichkeiten des Kartellgesetzgebers und ebenso die Technik des GWB sind daher vielgestaltig; dies wurde bereits im Grundlagenteil dargelegt. Daraus resultiert auch eine erste Differenzierung des Gesetzgebers hinsichtlich der jeweiligen Beschränkung und ihrer Schädigungswirkung für den Wettbewerb. Nicht jede Beschränkung wird als gleichermaßen schädlich behandelt. Verfechter bestimmter wettbewerbs-theoretischer Ansätze sehen ja mit der Dilemma-These eine grundsätzliche, permanente Kollisionsmöglichkeit von freiem Wettbewerb und u. U. besserem Marktergebnis / besserer Marktstruktur durch eine Beschränkung 85 , und auch Rechtstechniker lassen sich von einem solchen Gedanken leiten, wenn sie für die Erfassung und Regelung einer einzelnen Beschränkungsstrategie im Gesetz zur ,rule of reason' greifen. Neben dieser bereits de lege lata erfolgten Vorgewichtung haben aber naturgemäß die einzelnen konkreten Kartellrechtsverstöße ebenfalls nicht die gleiche Schwere. Diese beiden Gewichtungen müssen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, will man zu einer präzisen und gerechten strafrechtlichen Erfassung von Übertretungen gelangen. Schließlich bilden die Schwierigkeiten und Fragen einer möglichen Konzeption von Tatbeständen in einem Kartellstrafrecht das dritte Hauptproblemfeld. Hier geht es hauptsächlich um die Fragen des Umgangs mit den unbestimmten Rechtsbegriffen des GWB, der Tatbestandseingrenzung und der möglichen Tatbestandsbestimmtheit.
§ 5 Eckpunkte eines Strafwürdigkeits-Diskurses über Kartellrechtsverstöße: Rechtsgut und Verletzungshandlung I. Inhaltliche Fassung des Rechtsguts ,Wettbewerb'
Die individuelle (Handlungs- und ggf. auch Gewerbe-) Freiheit der einzelnen Akteure des Wettbewerbs ist, wie oben festgestellt wurde, verwoben mit dem Wettbewerb als Institution bzw. System. Da es primäres Ziel des GWB sein soll, den 85
Vgl. dazu hier nur I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 34 ff.
§ 5 Eckpunkte eines Strafwürdigkeits-Diskurses über Kartellrechtsverstöße
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,Wettbewerb als solchen' zu gewährleisten, um auf diesem Wege die Freiheit zu sichem86 - auch wenn zumindest teilweise der Einzelne vom GWB bewußt geschützt wird 87 -, steht im Rahmen der Strafwürdigkeitsfrage die Institution ,Wettbewerb' als ,Veranstaltung' im Vordergrund. Der Schutz der allgemeinen individuellen Freiheit wird ja im Strafrecht bereits durch verschiedene Tatbestände geschützt. Der Schutz der Interessen des Einzelnen ist aus dieser Perspektive zweitrangig; allerdings können sich unter dem Gesichtspunkt des Individualschutzes möglicherweise noch zusätzliche Strafbarkeiten ergeben. Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß man erst über die Einzelinteressen zu dem Kollektivinteresse ,Wettbewerb' kommt; das ist mit gegenseitiger Verwobenheit nicht gemeint. Der Wettbewerb ist vielmehr, wie zu zeigen sein wird, mehr als nur die Summe der Einzelinteressen, bzw. etwas qualitativ anderes. Im folgenden ist zuerst der Inhalt eines Rechtsgutes ,Wettbewerb' zu bestimmen. Um dies später dogmatisch in eine potentielle Strafbarkeit einbauen zu können, insbesondere hinsichtlich eines Schutzes gegen mögliche Angriffe durch Kollektive, muß die Struktur der dogmatischen Figur des Kollektiv-Rechtsgutes untersucht werden. Dabei wird auch ein kurzer Vergleich zum Rechtsgut "Umwelt" als dem zweiten, die aktuelle Diskussion bestimmenden Kollektiv-Rechtsgutgezogen werden. Hier wird gezeigt werden, daß es grundsätzliche Differenzen zwischen beiden als Rechtsgüter gefaßten Interessen gibt bzw. geben muß. 1. Grundgesetz, Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb: garantierte Inhalte
Oben wurde bereits der Zusammenhang zwischen Grundgesetz und den strafrechtlichen Rechtsgütern aufgezeigt88 . Diese Ausführungen haben natürlich den Gedanken nahe gelegt, nach einer Verankerung des Wettbewerbsgedankens im Grundgesetz zu suchen. Bestünde eine solche, würde auch das natürlich nicht gradlinig in eine Strafbarkeit münden. Es würde aber die Begründung eines solchen Rechtsgutes erheblich unterstützen. Die Suche muß jedoch zunächst ergebnislos bleiben: Der Wettbewerb als solcher ist im Grundgesetz an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt. Der Wettbewerb soll nun das Herzstück der sozialen Marktwirtschaft darstellen. Daher kann in einem zweiten Anlauf untersucht werden, inwieweit das Grund86 Zusätzliches Ziel der Wettbewerbspolitik sollte es wohl auch sein, Entstehung des Wettbewerbs dort zu fördern, wo er nicht vorhanden ist, seiner Funktionsfähigkeit aber grundsätzlich nichts im Wege steht. Allerdings ist das dann nicht eigentlicher Gegenstand des Kartellrechts. Dieses entfaltet aber indirekt über seine Verhaltensverbote eine Stimulanz für die vorhandenen Marktakteure, sich gegenüber der Konkurrenz wettbewerblicher Mittel zu bedienen. 87 V gl. dazu oben § 2 11. 88 Vgl. oben § 3 1., § 3 11. 4.
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gesetz eine Verankerung der sozialen Marktwirtschaft enthält. Es geht dann um die Frage nach der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes. Sie stellt jedenfalls die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und damit auch für das Phänomen Wettbewerb. Läge eine Entscheidung zugunsten z. B. der (sozialen) Marktwirtschaft vor, so müßte die Frage gestellt werden, inwieweit das Wettbewerbsprinzip bereits auf diese Weise als Basisvoraussetzung bzw. notwendige Prämisse garantiert wäre. Als dritter Eckpunkt (neben dem Wettbewerb für sich und der Wirtschaftsverfassung) ist in diese Betrachtung schließlich die - eindeutige - Entscheidung des Grundgesetzes für einen Sozialstaat mit einzubeziehen 89 . Dieses Postulat des Grundgesetzes muß die Frage nach der ggf. vorgeschriebenen oder nur möglichen Wirtschaftsverfassung ebenso beeinflussen wie die Frage nach dem Wettbewerb an sich. Denn auch ohne eine festgeschriebene Wirtschaftsverfassung müssen sich Bezüge zwischen dem Wettbewerb als anthropologischer, gesellschaftlicher Veranstaltung und den Rahmenbedingungen eines Sozialstaats ergeben. Die Frage nach der Wirtschaftsverfassung bedeutet, aus positivistischer Perspektive danach zu fragen, ob das Grundgesetz eine eindeutige Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung trifft, welche den Gesetzgeber von vornherein festlegt, ob es gegebenenfalls (nur) Eckpunkte bestimmt, an denen der Gesetzgeber sich im Rahmen seiner Entscheidung zu orientieren hat oder ob es den Gesetzgeber möglicherweise zu strenger Neutralität verpflichtet. Vor allem in der Nachkriegszeit wurde hinsichtlich einer festgelegten Wirtschaftsverfassung ein bejahender Standpunkt bezogen: Dies reichte von der Annahme einer institutionellen Garantie der sozialen Marktwirtschaft90 bis zu der institutionellen Garantie einer gemischten Verfassung, welche die "individualrechtlichen Freiheitsverbürgungen" des Grundgesetzes und die "sozialrechtlichen Freiheitsverbürgungen" in Einklang wissen wollte91 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu früh, im Jahre 1954, im Investitionshilfeurteil und später im Mitbestimmungsurteil von 1979 bestätigend geäußert und zwar mit der Verneinung einer wie auch immer konzipierten institutionellen Garantie eines bestimmten Wirtschaftssystems92 • Es betonte vielmehr eine Neutralität des Grundgesetzes. Die soziale Marktwirtschaft sei ein verfassungsmäßiges Wirtschafts system unter anderen, es sei nicht das einzig denkbare. Die Neutralität beziehe sich aber eben nur auf ein mögliches, von den Verfassungsvätern intendiertes Gesamtkonzept. Vollkommen neutral sei das Grundgesetz darüber hinaus kei89 Vgl. dazu grundlegend: R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VIII Rn. 1 ff.; A. Krölls, Grundgesetz und kapitalistische Marktwirtschaft, S. 39 ff., 337 ff. 90 So vor allem H. C. Nipperdey, Die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, passim; w. N. zu Anhängern wie Gegnern dieser These bei K. Stern, Staatsrecht Bd. III / I, S. 881 f. Fn. 640. 91 Z. B. G Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 44; w. N. hierzu bei K. Stern, Staatsrecht Bd. III / I, S. 881 f. 92 BVerfGE 4, S. 7 ff. (17 f.); BVerfGE 50, S. 290 ff. (insbes. 337); hierzu auch H.-i. Papier in: Badura/Maihojer/Vogel, Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 1 f.
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neswegs. Vielmehr nehme es Stellung in verschiedenen Einzelaussagen, die einen Rahmen für den Gesetzgeber absteckten: Dabei handele es sich um Grundrechte (Art. 2 Abs. 1, Art. 9, Art. 11 Abs. 1, Art. 12 GG), andere Grundsätze und vor allem Institutsgarantien wie die des Eigentums in Art. 14 GG93 . Man kann dies sicher noch um andere Artikel des Grundgesetzes wie die Artikel 3 Abs. 1 bis 3, 5 Abs. 1, 20, 28 und 109 GG ergänzen94 . Dieser Meinung schloss sich dann in der folgenden Zeit der wohl überwiegende Teil der Literatur an 95 . Gemeinsamer Nenner all dieser Aussagen soll sein der "Gleichklang der freiheitlichen politischen Ordnung", in der neben dem Staat als Legislative, Exekutive und Judikative auch die Gesellschaft als solche und die Wirtschaft freiheitlich organisiert sein müssen96 . Ob allerdings die alte Aussage der Neutralität des Grundgesetzes im Hinblick auf die Wirtschaftsverfassung in Anbetracht dieser freiheitlichen Festlegung noch gehalten werden kann, war schon immer fraglich. Zumindest mußte und muß man den von der Verfassung gesetzten Eckpunkten des Wirtschaftsverfassungsrechtes in unserer gewollt frei verfaßten Gesellschaft ein großes Gewicht einräumen, das es zu verwirklichen gilt (mag man dann den Begriff der Neutralität auch beibehalten für fernere Zeiten). Eine dezentrale, den einzelnen, in Freiheit agierenden Menschen in den Mittelpunkt rückende Wirtschaftsordnung ist daher im Geist des Grundgesetzes enthalten - die soziale Marktwirtschaft war zumindest faktisch (oder besser: reflexartig) immer schon geschützt. An dieser Stelle darf man jedoch aus heutiger Sicht nicht stehenbleiben. So kann zunächst festgestellt werden, daß nach der Wende 1989 durch die Deklaration der ,Sozialen Marktwirtschaft' im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. 05. 199097 zur Wirtschaftsordnung bei der Vertragsparteien die Konstitutionalisierung der sozialen Marktwirtschaft ordentlichen Anschub erhalten hat98 . Andererseits sind nun die großen Versuche einer zentralistischen Wirtschaft vor allem auch in ihrer gesellschaftlichen Dimension empirisch gescheitert99 . Es ist neben der Marktwirtschaft faktisch kein alternativer System93 Vgl. H.-J. Papier in: BendalMaihojerlVogel, Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 3 f., 14 ff.; K. Stern, Staatsrecht Bd. IIIIl, S. 883 m. w. N., insbes. in Fn. 649. 94 Vgl. nur F. Rittner; Wirtschaftsrecht, S. 25 ff., inbes. 30 ff.; zu diesem ,Scheinkompromiß' des BVerfG und der hLit auch W. Bouke, Zur Legitimität des Wirtschaftsstrafrechts, in: SchünemannlSuarez Gonzti/es (Hrsg.), Madrid-Symposium, S. 109 (113 f.), der auch die diesbezügliche Parallelität der Wirtschaftsverfassungsprinzipien der EG betont; auch H. Lampert, Wirtschafts- und Sozialordnung, S. 105 ff. 95 Vgl. zur Entwicklung der Diskussion auch A. Krölls, Grundgesetz und kapitalistische Marktwirtschaft, S. 4 ff., aus neuerer Zeit nur: B. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK, Art. 12 Rn. 3; R. Scho/z, in: MaunzlDürig, GG, Art. 12 Rn. 77, 79; U. Karpen, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 37 ff., insbes. 42 ff. 96 Vgl. K. Stern, Staatsrecht Bd. III/l, S. 884. 97 Art. 1 III des Vertrages, BGBI. 11, 537. 98 So F. Bryde, in: v. Münchl Kunig, GGK, Art. 14 Rn. 2a. 99 Vgl. dazu auch W. Bottke, Zur Legitimität des Wirtschaftsstrafrechts, in: Schünemannl Suarez Gonzales (Hrsg.), Madrid-Symposium, S. 109 (119 f.).
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
Entwurf ersichtlich, der die grundgesetzlich geforderte Verwirklichung der Freiheit in ihren verschiedenen Aspekten umsetzte 100. Neben einer zentralen ist auch theoretisch einfach nur eine dezentrale Organisation der Wirtschaft denkbar. Dazwischen liegen sicher Mischformen; es kann dabei aber nach dem Grundgesetz mit seinem Primat der Freiheit (gerade nicht nur als Abwehrmittel) keinen Zweifel daran geben, daß die zentrale Ausrichtung gesellschaftlicher Bereiche immer einer Rechtfertigung bedarf, da sie zwangsläufig die Bürger in diesen Bereichen ihrer Selbstbestimmung und Verwirklichung beraubt - für die Einsetzung oder Schaffung freier Bereiche in der Gesellschaft(sordnung) ist diese Rechtfertigung nicht notwendig lO1 • Eine freie Gesellschaft kann sich letztlich auch nur in einer freien Wirtschaft verwirklichen. Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entsprechen sich in diesem Fall. Das gleiche gilt dann auch für Gesellschafts- und Wirtschafts verfassung lO2 . Genauer müßte man sogar formulieren, daß in der (demokratisch notwendigen) Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft lO3 ein Gleichlauf von Gesellschaft und Wirtschaft angelegt ist: Die Gesellschaft gibt sich eine Verfassung, in der sie dann auch ihre Tätigkeiten in der ökonomischen Sphäre entfaltet. Damit wird auch klar, daß - anders als dies aus der auf Abwehr staatlicher Intervention gerichteten liberalen Ökonomie herausgelesen werden könnte - die Wirtschaftsordnung eine originäre Leistung der Gesellschaft ist und nicht dieser vorausliegt, der Gesellschaft also nicht nur die Aufgabe zuerkannt wird, gegebenenfalls einen Rahmen setzen zu müssen lO4 . Die im Grundgesetz enthaltenen Einzelregelungen führen insofern - ebenso wie die Grundlagen der EU lO5 - zur Festschreibung der (sozialen) Marktwirtschaft im Grundgesetz. 100 Zu den Versuchen eines vermeintlich dritten Weges und auch entsprechender Kritik daran vgl. H.-J. Papier in: Benda / Maihofer /Vogel, Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 10 f. 101 Zu dem Vergleich von zivil-freien und planwirtschaftlichen Gesellschaftsformen grundlegend: F. A. v. Hayek, Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus, S. 39 ff., ders. auch öfter; vgl. auch W Bottke, Zur Legitimität des Wirtschaftsstrafrechts, in: Schünemann/ Suarez Gonzales (Hrsg.), Madrid-Symposium, S. 109 (116 ff.); O. Schlecht, Die Vereinbarkeit von politischer und wirtschaftlicher Ordnung, passim. 102 Vgl. dazu auch E.-J. Mestmäcker; Macht - Recht - Wirtschaftsverfassung, in: ders., Recht und ökonomisches Gesetz, S. 15 ff., ders., Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, a. a. 0., S. 33 ff. 103 So insbes. die Forderung von H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 5; zur Notwendigkeit dieser Differenzierung für die Kategorisierung des Rechts und des Strafrechts, vgl. E.-A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff. und oben § 4 I. 4.; für eine grundsätzliche Beibehaltung der Trennung von ,Staat' und ,Gesellschaft' F. A. v. Hayek, Rechts, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 190 ff., der dies aber vor allem dem Begriff einer freien Gesellschaft herleitet, die durch ihre spontane Selbstorganisation und die damit verbundenen Freiräume gekennzeichnet ist. 104 Vgl. A. Krölls, Grundgesetz und kapitalistische Marktwirtschaft, S. 20 f. 105 Vgl. G. Schiek in: AK-GG, Art. 20 Abs. 1-3 V. Rn. 102; H.-J. Papier in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 30 ff.; wie Papier allerdings die entscheidenden Passagen des EG-Vertrages zitieren kann (u. a. die - näher bestimmte - Festschreibung von Wettbewerb und Marktwirtschaft), ohne auch entsprechende Schlussfolge-
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Die entgegengesetzte Ansicht, die eine Festlegung der Verfassung auf die Wettbewerbsordnung ablehnt 106 , verkennt, daß ihre Argumente aufgrund der Prämissen nur gegenüber einem rein ökonomisch bestimmten Wettbewerb verfangen können. Wird der Wettbewerb aber eben - richtigerweise - in seiner freiheitlichen und freiheitssichernden Dimension, nach seiner Natur als Entdeckungsverfahren lO7 bestimmt, ist z. B. für die betroffenen Marktakteure gerade die Möglichkeit mit gesichert, sich gegebenenfalls marktinkonform zu verhalten, oder für den Gesetzgeber, metaökonomische Ziele zu verfolgen. Der richtig verstandene Wettbewerb ist Ausdruck und Realisierung der Freiheit der Beteiligten und auch ihrer Rechte. Der These von der Festschreibung der sozialen Marktwirtschaft im Grundgesetz steht nun auch nicht das Gebot der Sozialstaatlichkeit entgegen. Dies kann zweifach formuliert werden: Die Marktwirtschaft ist einerseits mit dem Sozial staatsgebot in Einklang zu bringen. Andererseits dient das Sozialstaatsgebot in seinen einzelnen Funktionen der Erhaltung und Förderung der Marktwirtschaft lO8 • Es geht insofern - eigentlich natürlicherweise - keineswegs um eine Alternativ-Entscheidung 109. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes als Entscheidung für eine sorungen für eine Interpretation deutschen Verfassungsrechts zu ziehen, ist nicht verständlich; vgl. zu diesem Zusammenhang insbes. auch: W. Bottke. Zur Legitimation des Wirtschaftsstrafrechts, in: SchünemannlSuarez Gonzalez. Madrid-Symposium, S. 109 (113 ff., 119); der Vollständigkeit halber muß allerdings an dieser Stelle darauf hingewiesen werden. daß im europäischen Kartellrecht einiges in Bewegung ist, nachdem die Kommission 1999 ein Weißbuch zur Reform des Kartellrechts und 2000 einen Reformvorschlag für die Verordnung zur Durchführung der Art. 81 ff. EGV vorgelegt hat, wobei im es im November 2002 auf Ratsebene zu einer Einigung gekommen ist. Die Neuregelung führt dazu. daß die Unternehmen selbst beurteilen müssen, ob sie gegen Art. 81 EGV verstoßen. Es wird ab 2004 insofern keine ex-ante-Kontrolle mit Freistellungsmöglichkeit. sondern nur noch eine "Missbrauchsaufsicht" durchgeführt; dabei muß allerdings betont werden, daß das Verbot des Art 81 beibehalten wird, vgl. dazu die Kurzinformation in WuW 2002, S. 1152 f. und den Kommentar von P. Klocker, Fit machen für den "Kulturwechsel"!, WuW 2002, S. 1151; zur Diskussion im Vorfeld der Reformen vgl. nur W. Fikentscher, Das Unrecht einer Wettbewerbsbeschränkung: Kritik an Weißbuch und VO-Entwurf zu Art. 81, 82 EG-Vertrag, WuW 2001, S. 446 ff. mit scharfer, aber berechtigter Kritik an den beabsichtigten Plänen. Es erscheint in der Tat sehr fraglich, ob die Pläne der Kommision mit dem EG-Vertrag vereinbar sind; zur Entwicklung der Reform der Fusionskontrollverordnung vgl. G. Drauz. Reform der Fusionskontrollverordnung, WuW 2002, S. 444 ff. 106 Vgl. nur H.-J. Papier in: Bendal MaihojerlVogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 23 ff. m. w. N. 107 Vgl. dazu unten § 5 I. 3. a. 108 Vgl. A. Krölls. Grundgesetz und kapitalistische Marktwirtschaft, S. 20, ausführlich zu den einzelnen Implikationen des Sozialstaatsgebotes, S. 39 ff., 337 ff.; dazu auch H.-J. Papier in: BendalMaihojerlVogel. Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 17 ff.; G. Schiek in: AKGG, Art. 20 Abs. 1 - 3 V. Rn. 100 f.; W. Bottke, Zur Legitimation des Wirtschaftsstrafrechts, in: SchünemannlSuarez Gonzalez, Madrid-Symposium, S. 109 (118 f.); zu dem Zusammenhang von sozialstaatlichen Forderungen und freiheitsgesetzlicher Rechtsordnung vgl. M. Köhler, Iustitia distributiva - Zum Begriff und zu den Formen der Gerechtigkeit, in: ARSP 79 (1993), S. 457 ff.
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ziale Verfassung des Rechtsstaates hält die verschiedenen Gewalten im Staat an, auf den Ausgleich vorrechtlicher Defizite hinzu wirken und zugunsten der sozialen Sicherheit, der Gerechtigkeit und damit letztlich für einen sozialen Friedens ordnend und gestaltend in die gesellschaftlichen (und damit gerade auch wirtschaftlichen) Verhältnisse einzugreifen 11 0. Denn es geht um die Eingrenzung auch der negativen (externen) Effekte der Wirtschaft. Die wirtschaftlichen Mittel (zumindest ein bestimmter Grundbetrag) bilden nicht zuletzt eine ganz wesentliche faktische Voraussetzung für die Ausübung der so bedeutenden Freiheit durch den Einzelnen. Versöhnt wird beides in einer sozialen Marktwirtschaft, die sich zu einer freien Wettbewerbswirtschaft bekennt, aber für die Nebenwirkungen nicht blind ist lll . Unterstrichen wird dieses Verhältnis durch die auf abstrakterer Ebene liegende Beziehung von Freiheit und Gleichheit - dieses Verhältnis liegt auch der Beziehung von Marktwirtschaft und Sozialstaatsgebot zugrunde, wenn man dem Sozialstaatsgebot ein wirkliches Fundament verschaffen möchte ll2 . Freiheit und Gleichheit können nur in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen, da der Verzicht auf das eine zwangsläufig auch den anderen Wert vernichtet ll3 . Inwieweit das Sozialstaatsgebot u. U. zu einer Relativierung des Rechtsguts Wettbewerb führt, wird später noch zu untersuchen sein. Dabei scheint aber die Feststellung, daß Marktwirtschaft und Sozialstaat miteinander verwoben sind bzw. sich gegenseitig bedingen, bereits in die richtige Richtung zu weisen. Eine Marktwirtschaft, die nicht wesentliche sozialstaatliche Gebote umsetzt, droht sich selbst außer Kraft zu setzen. Das Sozialstaatsprinzip leistet also die Ermöglichung und Förderung des von der Gesellschaftsordnung und -verfassung gewählten Wirtschaftsprinzips. Darauf wird am Ende dieses Paragraphen noch einmal ausführlicher einzugehen sein, vor allem wenn das Verhältnis der Begriffe ,Wettbewerbsfreiheit' und ,Freiheit als Selbstgesetzgebung' zu bestimmen ist.
109 Vgl. G. Schiek in: AK-GG, Art. 20 Abs. 1-3 V. Rn. 103; insofern war auch die Kritik von H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 55, an den Versuchen Nipperdeys und Forsthoffs berechtigt, die Wirtschaftsordnung von Eingriffen aufgrund des Sozialstaatsprinzips freizuhalten; vgl. dazu auch A. Krölls, Grundgesetz und kapitalistische Marktwirtschaft, S. 19. 110 Vgl. H. Lampen, Sozialstaat, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Deutschland in Gegenwart und Zukunft. Der demokratische und soziale Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, S. 90 ff. 111 Vgl. W. Bottke, Zur Legitimation des Wirtschaftsstrafrechts, in: Schünemann / Suarez Gonzalez, Madrid-Symposium, S. 109 (118 f.). Zur sozialen Marktwirtschaft grundlegend: A. Müller-Armack, Fortschreibung der sozialen Marktwirtschaft, in: Festschrift-Böhm (1975), S. 449 ff. 112 Vgl. F. A. v. Hayek mit seiner umfassenden Kritik an dem falsch verstandenen Begriff der sozialen Gerechtigkeit, ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 53 ff., insbes. 93 ff. 113 Dazu M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: ders., Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 145 (148 f.).
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2. Wettbewerbskonzepte und -funktionen und ihr Niederschlag im GWB
Es soll nun im weiteren untersucht werden, inwieweit die theoretischen Erkenntnisse der Wettbewerbstheorie gesichert sind und dies Voraussetzung für eine Aufnahme ins Kartellrecht und im weiteren ins Strafrecht ist, bzw. ob die Frage der Absicherung u. U. dahingestellt bleiben kann. In diesem Zusammenhang soll kurz auf die Frage eingegangen werden, welche dieser theoretischen Erkenntnisse überhaupt einem einfachen Gesetzgeber als Grundlage zu empfehlen sind. Welche dieser Erkenntnisse unterliegen tatsächlich dem Schutzkonzept des GWB? Inwieweit liegt eine verfassungsrechtliche Vernetzung vor, d. h. was kann als stützendes Element des grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassungsrahmens (der einzelnen Eckpunkte) angesehen werden? Die Eckpunkte dieses Rahmens werden gebildet durch die Eigentumsgarantie, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Gewerbefreiheit, die Sozialstaatsklausel und nicht zuletzt auch die Menschenwürde. Dabei ist nach dem oben an verschiedenen Stellen Ausgeführten klar, daß insbesondere dem Gedanken der Freiheitssicherung genauere Aufmerksamkeit zu schenken ist. a) Vorbemerkung: Auslegung und Interpretation im GWB Am Anfang einer möglichst genauen Bestimmung eines Rechtsgutes ,Wettbewerb' müssen einige Anmerkungen zur Auslegung und Interpretation des GWB angebracht werden; beim GWB handelt es sich nicht um ein einfaches Zivil- oder Verwaltungsgesetz, vielmehr um eine Art Hybrid, das von allem etwas hat 1l4 . Die Normen, welche die Wettbewerbsbeschränkungen festlegen, eröffnen den Kartellbehörden Befugnisse, in die Handlungsfreiheit der wirtschaftlichen Agierenden massiv einzugreifen; von daher rührt eine klare Differenz zu Gesetzen des Zivilrechts, dem es dennoch sehr nahe steht 1l5 . Darüberhinaus muß das Gesetz dem allzu direkten Zugriff schwankender Wirtschafts(-tages)politik entzogen werden. Insofern ist davon auszugehen, daß das GWB gemäß seinem spezifischen Sinn und Zweck innerhalb der Gesamtrechtsordnung nach einer kartellrechtlich-funktionalen Methode auszulegen ist 1l6 . Es geht darum, den wettbewerbspolitischen Gehalt des GWB ins richtige Verhältnis zum sensiblen Bereich der freien (sozialen) Marktwirtschaft zu bringen, den es ja gerade (vor seinen Teilnehmern und damit vor sich selbst) zu schützen gilt und der sich seinerseits auf Freiheitsverbürgungen 114 Vg!. nur U. Immenga/E.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Ein!. Rn. 21.; dazu auch insbes. K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 71 ff.; alleine das müßte eigentlich deutlich machen, daß es keinen einfachen Wirtschaftsgesetzgeber oder Strafgesetzgeber auf dem Gebiet des Wettbewerbsschutzes und des Kartellrechts geben kann. 115 Vg!. U. lmmenga/E.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Ein!. Rn. 21 f.; aA wohl W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 81 Rn. 121. 116 Vg!. F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 90; aA wohl W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 79 Rn. 117 f.
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und andere rechtsstaatliche Garantien berufen kann. Ein Zuviel an Regelung hebelt den Marktmechanismus im Zweifel aus 1l7 . Hinsichtlich der Auslegung des Gesetzes und der Tatbestände im einzelnen hat der BGH in der Vergangenheit Regeln herausgearbeitet, die für die Arbeit hier im Detail allerdings von geringerer Bedeutung sind 118. Hervorzuheben ist jedoch folgendes: Die einzelnen Worte und Termini werden im GWB eigenständig verwandt, d. h. eine Auslegung hat sich solange nicht an einem Bedeutungsinhalt an anderer Stelle der Rechtsordnung zu orientieren, wie nicht eindeutig klar ist, daß der Begriff eins zu eins übernommen wurde l19 . Die Ermächtigung der Behörden findet ihre Grenzen im Gesetzestext l20 , wobei darauf hinzuweisen ist, daß auch hier, wie sonst im Verwaltungsrecht, streng zwischen dem Ermessensspielraum auf der Tatbestandsseite in Form unbestimmter Rechtsbegriffe (u. U. in Form eines Beurteilungsspielraumes) und dem Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite zu unterscheiden ist. Unbestimmte Rechtsbegriffe, die jedoch gerichtlich voll überprüfbar sind, prägen gerade die Kartellgesetzgebung l2l . Grundsätzlich sind die allgemeinen Auslegungsmethoden (die Kanones) wie auch sonst anzuwenden 122, mit der Besonderheit, daß der Entstehungsgeschichte des GWB - dies teilt es auch mit anderen neueren Gesetzen - wohl mehr Gewicht zukommt als es traditionell der Fall ist 123 . Dabei geht es vor allem auch - insofern parallel zu dem oben gerade Ausgeführten - um das Unterstreichen der grundsätzlichen Zielsetzung des GWB, Wettbewerbs beschränkungen zu verhindern und zu bekämpfen, dies in negativem Kontrast zur Modifizierung durch strukturpolitische Zielsetzungen l24 . Diese starke Berücksichtigung der Historie wird jedoch ganz wesentlich auf die Begrenztheit anderer Interpretationsmittel zurückzuführen sein 125, was wiederum durch die junge Existenz einer richtigen Wettbewerbspolitik in Deutschland einerseits und das junge Alter des GWB in concreto andererseits be117 Vgl. zu dem Problem des Zusammenbruchs spontaner (katalaktischer) Systeme wie des Wettbewerbs: F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 57 ff. (zum Begriff der spontanen Ordnung), Bd. 2, S. 149 ff., 173 ff., insbes. 191 ff. 118 Vgl. den Überblick bei G. Kollmorgen, Die Förderung des Wettbewerbs und die Rechtsprechung des BGH zum GWB, in: Festschrift-Benisch (1989), S. 219 ff. 119 Vgl. BGHSt 68, 6 (10) = WuW IE BGH 1458 (1461) "Fertigbeton"; BGHSt 24, 54 = WuW IE BGH 1147 "Teerfarben". 120 Vgl. F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 94. 121 Vgl. auch W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 79 Rn. 119. 122 Vgl. U. Immenga/E.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Einl. Rn. 25 m. w. N.; W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 80 Rn. 120. 123 Vgl. BGHZ 46, 74 = WuW IE BGH 795 "Schallplatten I"; dazu F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 97 m. w. N. 124 Vgl. BGHZ 36,357 = WuW IE BGH 465 (471) "Bierpreis"; BGHZ 46, 168 (173 ff.) = WuW IE BGH 767 "Bauindustrie"; hierzu auch: U. Immenga/E.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Einl. Rn. 26; F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 97. 125 Vgl. W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 81 Rn. 121.
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dingt sein wird. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß eine sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise im Gesetz nicht vorgesehen ist und bisher auch nicht praktiziert wurde 126. Nichtsdestotrotz müssen wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse mit in die Auslegung eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen einbezogen werden l27 . Sie müssen jedoch erst übersetzt werden in die "Denkkategorien des Rechts,,128. Wie genau aber das Verhältnis von wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. Theorien und den Normen des GWB zu bestimmen ist, darüber besteht keine Klarheit. Diese Diskussion ist verflochten mit der Frage nach dem Verhältnis von ökonomischen Zweckmäßigkeiten und Freiheitsschutz im GWB. Daher soll auf sie im folgenden näher eingegangen werden. Sicher ist jedenfalls, und darauf wurde eingangs (Teil 1 1.) auch bereits hingewiesen, daß keine Theorie direkt und unter Ausschluß aller anderen theoretischen Positionen unmittelbar positiviert wurde, und sicher ist auch, daß bei der Handhabung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse Vorsicht geboten ist, da auf diesem Gebiet wenig gesichert und viel umstritten ist und die Theorie von der empirischen Wirklichkeit in den letzten Jahrzehnten öfter eingeholt bzw. auch widerlegt wurde l29 . b) Leitbild und einzelne Wettbewerbsfunktionen im GWB Die Wettbewerbstheorie sieht sich ganz überwiegend nicht in der Lage, eine positive Bestimmung dessen zu geben, was Wettbewerb ist. Die zur Beschreibung herangezogenen Verhaltensweisen von innovativem Vorstoß und Nachahmung mögen durchaus regelmäßig vorliegen. Zur Erfassung des Wettbewerbs als komplexem System genügt dies nicht. Der Weg der Theorie ist daher der, den Wettbewerb in seinen Aufgaben und Funktionen und seinen Zielen zu beschreiben, um so seiner habhaft zu werden\3o. Dem Wettbewerb werden allgemein zunächst folgende ökonomische Funktionen zugeschrieben: optimale Faktorallokation, leistungsgerechte Einkommensverteilung, optimale Angebotszusammensetzung, Anpassungsflexibilität und 126 Vg!. U. Immengal E.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Ein!. Rn. 23; F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 99 m. w. N., insbesondere zum österreichischen Kartellrecht, in dem dies ausdrücklich vorgesehen ist. 127 Vg!. U. ImmengaIE.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Ein!. Rn. 29 m. w. N. 128 R. Lukes, Zum Verständnis des Wettbewerbs und des Marktes in der Denkkategorie des Rechts, in: Festschrift-Böhm (1965), S. 199 (213 ff.); in diesem Sinne U. ImmengaIE.-J. Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker, 2. Auflage, Ein!. Rn. 29 m. w. N.; dies entspricht auch dem bereits mehrfach betonten Weg von der Wettbewerbstheorie über die Wettbewerbspolitik hin zu einem Wettbewerbsrecht. 129 Vg!. W Mäschel, Weubewerbsbeschränkungen, S. 81 Rn. 122; auch G. Pfeiffer, Grundfragen der Rechtskontrolle im Kartellverfahren (Auslegungsmethodik, unbestimmte Rechtsbegriffe, Verfahrensrecht), in: Schwerpunkte 1978179, S. 1 ff. (11). 130 Vg!. oben § 1 V. 1.
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Innovationsantrieb \31. Der Grund für die Stichhaltigkeit auch dieser ökonomischen Aussagen wird noch näher zu beleuchten sein. Darüberhinaus wird dem Wettbewerb vom ganz überwiegenden Teil der Literatur die Funktion der Freiheitssicherung zuerkannt l32 - dies zum Teil primär, zum Teil ergänzend, durch Sicherung der individuellen Freiheit oder / und des Wettbewerbs als Institution oder System. Wenn die Wettbewerbstheorie - wie oben bereits bemerkt wurde - sich grundsätzlich außer Stande sieht, eine positive Definition des Phänomens ,Wettbewerb' zu geben 133, so bedeutet das nicht notwendigerweise, daß auch der Gesetzgeber eines Gesetzes gegen WeUbewerbsbeschränkungen an diese Einsicht gebunden wäre und ebenfalls auf eine positive Definition verzichten müßte. Der Gesetzgeber betreibt innerhalb der ihm verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen, also innerhalb eines weiten Ermessensspielraumes, Politik. Für die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes und den Wettbewerb wurden diese Grenzen bereits aufgezeigt. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß auch der Strafgesetzgeber nicht nur (soziale) Wirklichkeit abbildet, sondern als allgemeiner Gesetzgeber Rechtsgüter auch gestaltet l34 • Es findet vom gesellschaftlichen Interesse zum Rechtsgut hin ein Entwicklungsprozeß statt; von der Perspektive des Rechts aus kann von einem Konstitutionsprozeß gesprochen werden 135. Der Gesetzgeber des GWB hat nach ganz überwiegender Meinung keine positive Bestimmung vorgenommen 136 . Es ist wohl auch nicht ratsam, eine solche zu versuchen; denn es muß einfach konzediert werden, daß es vermessen ist, etwas praktisch positiv beschreiben zu wollen, was nicht einmal auf theoretischer Ebene in dieser Form exakt faßbar ist. Der Gesetzgeber muß Realität in Form von z. B. Rechtsgütern zwar nicht unmittelbar abbilden, er muß jedoch - will er nicht willkürlich handeln - versuchen, möglichst viel Realität mit zu erfassen. Eine Grenze ist erst dort erreicht, wo um einer vertretbaren und zumutbaren Norm willen konkret 131 Vgl. I. Schmidt. Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 28 ff.; K. Herdzina. Wettbewerbspolitik, S. 16 ff.,jeweils m. w. N. \32 Vgl. nur E.-J. Mestmäcker; Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Auf!. 1984, S. 384, 595; H. Merz. Kartellrecht - Instrument der Wirtschaftspolitik oder Schutz der persönlichen Freiheit?, in: Festschrift-Böhm (1965), S. 227 (257); K. Herdzina. Wettbewerbspolitik, S. 14 ff., 106 ff.; dagegen insbes. R. Knöpjle. Ist die Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, in: FIW (Hrsg.), Jubiläumsschrift 25 Jahre FIW, S. 175 ff., m. w. N., vor allem in Fn. I (S. 176). 133 Daran ändert auch der Versuch einer (vermeintlich) positiven Bestimmung des Wettbewerbs durch Knöpjle nichts, der auf die Kriterien der Entmachtung der Unternehmen und des Erhaltens von wettbewerblichen Chancen und Risiken aufbauen will. Im Ergebnis liefert er nur zwei - wenn auch sehr wichtige - Wirkungsfaktoren des Wettbewerbs. Vollständig umschrieben ist der Wettbewerb damit ebenfalls nicht. Und die entscheidende Frage, warum man aber den Wettbewerb in Anbetracht dieser Faktoren wählt, ist nach wie vor zu beantworten - und zwar interessanterweise genau entgegen gesetzt zur Meinung Knöpjles. 134 Vgl. nur W. Hassemer in: AK-StGB. vor § I Rn. 284 m. w. N. 135 Vgl. W. Hassemer in: AK-StGB, vor § I Rn. 284. 136 Vgl. nur F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 6 Rn. 32 ff.
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mit positiven Definitionen gearbeitet werden muß, auch wenn dann ein Teil der Realität außen vor bleibt. Eine solche Notwendigkeit kann aber für das GWB verneint werden. Zu den Funktionen der optimalen Faktorallokation, der leistungsgerechten Einkommensverteilung, der optimalen Angebotszusammensetzung, der Anpassungsflexibilität und des Innovationsantriebs läßt sich nUn grundsätzlich feststellen, daß sie auch Ziele der deutschen Wirtschaftspolitik, wie sie im GWB verkörpert ist, darstellen. Insofern ist der Wettbewerb das Steuerungsinstrument, sogar - wie schon erwähnt - das "einzig taugliche Lenkungsinstrument"137, das der Wettbewerbspolitik zur Verfügung steht\38. An diese Funktionen knüpften auch die Versuche einer Fundierung der Wettbewerbspolitik in den sog. ,workability'-Konzepten ab den 60er Jahren an 139, die jedoch insofern als gescheitert angesehen werden können, als sie auf wissenschaftlicher Ebene von der Freiburger Schule weitgehend widerlegt wurden l4o . Die aufgezählten Funktionen haben mit den rein ökonomischen zugleich wesentliche, an den Grundsätzen der Wohlfahrt (Allokation und Fortschritt) und Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit) orientierte Implikationen. Hier sind bereits Verbindungen zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes zu erkennen. Wirtschaft und Gesellschaft sind so eng miteinander verwoben, daß eine Sozialstaatsklausel in der Verfassung für eine an der Marktwirtschaft orientierte Politik als Vorgabe nur heißen kann, auf den Wettbewerb als systemimmanentes, antiautoritäres Korrekturinstrument bzw. Mittel sozialer Kontrolle l41 zu setzen. Erst danach schließt sich die Frage an, auf welche Weise der Staat unvermeidbare negative Nebenfolgen der wettbewerbsbedingten Marktwirtschaft in der Gesellschaft auszugleichen hat. Daß die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit zu den wichtigen Zielen des GWB bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens zählte - woran sich auch bis heute nichts geändert hat - kann bereits aus der Begründung abgelesen werden 142. Damit ist - in einem ersten Herangehen - zum einen die (wirtschaftliche) Freiheit des einzelnen Wettbewerbers im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit gemeint, 137 F. Rittner; Die Tatigkeitsberichte des Bundeskartellamtes 1971-1973, WuW 1974, S. 737 ff. (737, 739). 138 Vg!. K. Tzedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 104 m. w. N. 139 Hauptprotagonist war E. Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, passim; in diesem Sinne aus wettbewerbspolitischer Sicht auch: W Kante, Ein neues Bild für die Wettbewerbspolitik, passim, insbes. S. 33 ff. 140 Vg!. aus neuester Zeit zum endgültigen Scheitern dieser Versuche nur F. Rittner; Drei Grundfragen des Wettbewerbs, in: Festschrift-Kraft (1998), S. 519 ff. (524), auch m. w. N. 141 Vg!. E. Hoppmann, Wettbewerb als Aufgabe, S. 61,80 ff., 104. 142 BT-Drucks. 11/1158 nach An!. I Abschn. A V: "Das ,GWB' stellt eine der wichtigsten Grundlagen zur Förderung und Erhaltung der Marktwirtschaft dar. Es soll die Freiheit des Wettbewerbs sicherstellen und wirtschaftliche Macht da beseitigen, wo sie die Wirksamkeit des Wettbewerbs und die ihm innewohnende Tendenz zur Leistungssteigerung beeinträchtigt und bestmögliche Versorgung der Verbraucher in Frage stellt." - insgesamt abgedruckt in GK-GWB, I. Aufl. 1958, S. 1057 ff.
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da sie die notwendige Voraussetzung von Wettbewerb ist, zum anderen die Funktion des Wettbewerbs als System antiautoritärer Kontrolle. Man kann insofern davon sprechen, daß das Gesetz in seiner Grundkonzeption am systemtheoretischen Ansatz ausgerichtet ist, der zunächst auf die Freiheitssicherung setzt und davon ausgeht, daß bei Gewährleistung der Grundvoraussetzungen in Form der Freiheit des Einzelnen die ökonomischen Ziele gleichzeitig erreicht werden 143. Dies wird in neuerer Zeit durch die Umgestaltung der die Beschränkungen betreffenden Regeln in per-se-Verbote unterstrichen. Zusätzlich zu dieser Grundtendenz sind im Gesetz aber auch verschiedene Regelungen enthalten, die sich am wohlfahrtsökonomischen Leitbild orientieren und die Möglichkeit von abwägenden Einzelfallentscheidungen ermöglichen. So z. B. seit jeher deutlich im Fall der Ministererlaubnis für durch die Kartellbehörden abgelehnte Fusionen, nicht hingegen durch die neue Freistellungsmöglichkeit des § 7 GWB, die nur unter besonderen Voraussetzungen eingreifen kann 144. Man kann zunächst zusammenfassend festhalten, daß das GWB auf einen ersten, oberflächlichen Blick hin sowohl wohlfahrtsökonomische als auch freiheitssichernde Motivationen enthält. Auf den letztgenannten Aspekt wird sogleich noch einmal ausführlicher eingegangen. c) Weitere Zielsetzungen des Kartellgesetzgebers Über die aus dem theoretischen Instrumentarium der Volkswirtschaft übernommenen Vorgaben hinaus hat gerade auch der Gesetzgeber des GWB weitere Zielsetzungen verfolgt, vor allem sog. ,pragmatische Ziele'. Inwieweit tatsächlich reiner Pragmatismus vorliegt oder nicht doch eine unbewußte oder verdeckte Orientierung an anderen Ideen, mag hier dahingestellt bleiben. Es ist aber auf diese Zielvorgaben insoweit einzugehen, als sie ihrerseits eine eigene strafrechtliche Schutzbedürftigkeit geltend machen können oder in Widerspruch bzw. begrenzendem Verhältnis zu dem oben beschriebenen Rechtsgut ,Wettbewerb' stehen. Hier ist vor allem die Wettbewerbsförderungspolitik, insbesondere die Mittelstandsförderung zu nennen, da sie nicht zur originären Materie des Wettbewerbsschutzes zählt l45 . 143 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 125 ff.; V. Emmerich, Kartellrecht, S. 11 ff.; F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 5 Rn. 41 ff.; relativierend l. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 162 ff.; vgl. F. Rittner; Drei Grundfragen des Wettbewerbs, in: Festschrift-Kraft (1998), S. 519 ff. (526 ff.), zu der Absage an das Bild des Leistungswettbewerbes in der Wettbewerbspolitik und Gesetzgebung, das allerdings nicht notwendig zu einem freiheitsorientierten Konzept des Wettbewerbs als eines komplexen Systems gehört, S. 533 ff. zu der Notwendigkeit, den Wettbewerb jenseits von zu theoretischabstrakten (ökonomischen) und pragmatischen Erklärungen als Teil der Rechtsordnung zu erfassen. 144 Vgl. dazu oben § 1 III. I. 145 Zu den Begriffen der Wettbewerbsjörderungs- und der Wettbewerbsschutzpolitik vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 115 ff., 120 ff.; Normen zur Verwirklichung des Wettbewerbsschutzes stellen zugleich auch freiheitliches Recht im Sinne von F. A. v. Hayek dar, vgl. ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 58 ff., 120 ff.
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Weiter fließen nicht wettbewerbsschützende Zielsetzungen in wohl jedes Kartellgesetz ein, wenn bestimmt wird, welche Ausnahmebereiche es enthalten soll, d. h. welche Bereiche bzw. Märkte einer Volkswirtschaft (oder im Falle der EU: eines Wirtschaftsraumes), die vom Wettbewerb gänzlich ausgenommen werden oder in denen zumindest der Wettbewerb eingeschränkt bzw. um andere Mechanismen ergänzt wird. Für diese Bereiche werden sowohl ökonomische als auch politische Gründe angeführt, so daß in der Konsequenz nach natürlichen oder politischen Ausnahmebereichen differenziert wird l46 . Da für die Bestimmung des Inhaltes eines Rechtsgutes ,Wettbewerb' (und auch seine Strafwürdigkeit) dessen Einschränkungen durch den Gesetzgeber von wesentlicher Bedeutung sind, soll hier näher auf die Hintergründe eingegangen werden. Es gibt in der Literatur zwei Ansätze, die sich mit diesen Bereichen befassen und ihre Existenz zu erklären versuchen l47 : die normative Theorie der Regulierung und die positive Theorie der Regulierung. Die normative Theorie der Regulierung versucht zu erklären, warum der Wettbewerb in bestimmten Bereichen der Wirtschaft als System versagt bzw. von der Politik nicht erwünscht ist. Dabei werden unter ökonomischen Gesichtspunkten als Hauptproblemfälle für das Versagen des Marktes und damit des Wettbewerbs die Existenz natürlicher Monopole, das Vorliegen sog. externer Effekte, ruinöse Konkurrenz und Informationsasymmetrie gesehen 148. Für die einzelnen Fälle existiert jeweils eine Mehrzahl von Therapieansätzen. Darauf muß hier nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten ist aber, daß es durchaus Fälle des Marktversagens gibt, in denen ein auf herkömmlichen Voraussetzungen aufbauender Wettbewerb und damit auch eine Erreichung der gesetzten Ziele der Wettbewerbspolitik nicht möglich ist. Darüberhinaus gibt es aber auch politische Motivation für die Einführung von Ausnahmebereichen; dies in den Fällen, in denen gesetzte Ziele von vorneherein nicht durch den Wettbewerb realisiert werden können. Hierunter werden vor allem eine von der marktleistungsgerechten Verteilung abweichende Verteilungsgerechtigkeit des Sozialproduktes, eine bestimmte, politisch avisierte Infrastruktur und bestimmte, an den "tatsächlichen" Bedürfnissen ausgerichtete Entscheidungen des Verbrauchers, die er unter normalen (marktgerechten) Bedingungen nicht getroffen hätte, gezählt: Der Wert der Kultur sei hier als Beispiel für den verkannten positiven Nutzen und das Verbot eines Marktes für Rauschgifte als Beispiel für nicht wahrgenommenen negativen Nutzen genannt l49 . Gerade unter dem Etikett der zweiten Kategorie der Ausnahmebereiche (politisch motivierter Natur) können aber auch volkswirtschaftlich kontraproduktive Interessen-Reservate aufgebaut werden. Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbstheorie und Kartellrecht, S. 35. Vgl. zusammenfassend W. Möschel, Zur wettbewerbstheoretischen Begründbarkeit von Ausnahmebereichen, in: ORDO 32 (1981), S. 85 ff. m. w. N.; auch J. F. Baur, Kartellrecht und Politik, in: Schwerpunkte des Kartellrechts 1996, S. 3 ff. 148 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 36 m. w. N. 149 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 41 m. w. N. 146 147
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Vor allem zu einem besseren Verständnis dieser Fälle trägt die positive Theorie der Regulierung bei, wenn sie die "polit-ökonomischen Ursachen,,150 für die Schaffung der Ausnahmebereiche durch den Gesetzgeber aufdecken und die Folgen erfassen will. Die Grundannahme ist dabei, daß es in der Wirtschaft eine Nachfrage nach Regulierung im Sinne der Ausnahmebereiche durch einzelne Wirtschaftssubjekte und Interessengruppen gibt und ihnen gegenüber die Politiker und Bürokraten als Anbieter von Regulierungsleistungen stehen. Die Theorie versucht im weiteren, die auf beiden Seiten wirkenden Mechanismen, vor allem die Gründe für das gegenseitige Interesse, aufzudecken. Um die Ziel vorgaben der Politik auch in den Ausnahmebereichen doch zu erzielen, können entweder bestimmte Regulierungen (z. B. hinsichtlich des Preises oder des Marktzutritts) vorgenommen werden und die dort tätigen privaten Unternehmen staatlich kontrolliert werden, oder es werden Unternehmen verstaatlicht bzw. staatliche Unternehmen geschaffen. Beides ist hochproblematisch und die Erfolge sind durchaus fragwürdig. Insofern wurde im Zuge der letzten Jahrzehnte international und der letzten 20 Jahre in Deutschland auch stark an Deregulierungen für die wohl ausnahmslos als politisch eingestuften Ausnahmebereiche - gearbeitet, so namentlich auf dem Gebiet der Post- und Telekommunikations-Dienstleistungen oder jüngst der Energieversorgung. Andere Bereiche sind im Gespräch, wie der Schienen- oder flugverkehr oder Dienstleistungen, die bis dato von der öffentlichen Hand erbracht wurden l51 , für die allerdings durchaus die Frage gestellt werden muß, inwieweit sie privatwirtschaftlieh in einer Weise erbracht werden (können), die gesellschaftlich auch wünschenswert ist. Da sie den Wettbewerb (teilweise bis vollständig) ausschließen und damit auch die freie Betätigung der Bürger bzw. Unternehmungen, können Ausnahmebereiche nicht willkürlich geschaffen werden und es spricht auch kein erster Anschein für ihre Legitimität, die dann gegebenenfalls zu widerlegen wäre. Da Marktwirtschaft und Wettbewerb dem Grundgesetz entstammen, müssen für die Schaffung (und letztlich auch für die Beibehaltung) von Ausnahmebereichen normative Argumente vorgebracht werden. Dabei kann das Versagen des marktwirtschaftlichen Systems ein Grund von mehreren sein, da er besagt, daß ein freie Organisation sich in diesem Falle nicht durchführen läßt. Es sind aber auch andere Gründe denkbar, so im Falle der Buchpreisbindung, in der es um den Erhalt einer bestimmten Form der Buchhandelswirtschaft geht l52 . Es gilt aber darzulegen, warum von dem PriI. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 35. Der Bereich der Buchpreisbindung in Deutschland und Österreich wurde jüngst von der EU abgesegnet. Hier offenbart sich, daß politische Ausnahmebereiche durchaus ihre Berechtigung haben können. Es muß aber zur Begründung in diesen Bereichen ausdrücklich abgewogen werden, inwiefern andere Rechtsgüter dem Wettbewerb vorgehen. Das Argument der sicheren Daseinsvorsorge sticht dabei sicher auch, aber wohl nicht in dem Maße, in dem in der Vergangenheit von Energie über Verkehr bis hin zur Telekommunikation alles gerechtfertigt wurde. 152 Vgl. dazu F. Rittner; Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 9 Rn. 20 ff. m. w. N. 150
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mat der freiheitlichen Organisation abgewichen werden soll. Die Existenz von Ausnahmebereichen als solche stellt also nicht die Bedeutung des Wettbewerbs als wesentlicher Bedingung der Freiheit in Frage. Wie alle Rechtsgüter bzw. alle freiheitsgesetzlichen Grundlagen unserer Gesellschaft unterliegt auch der Wettbewerb der Abwägung mit anderen Rechtsgütern. Insofern ist auch hier eine Konkordanz anzustreben, die jedoch den Wert des Rechtsguts ,Wettbewerb' an sich nicht schmälert. 3. Besondere Bedeutung der Funktion der Freiheitssicherung
Im Vordergrund der Konzeption des GWB steht nach überwiegender Meinung der Wettbewerb mit seiner Funktion der Freiheitssicherung; Differenzen ergeben sich nur im Hinblick auf den zusätzlichen Schutz des Wettbewerbs als Institution zu diesem Zweck, was aber wohl auch ganz überwiegend bejaht wird 153 . Es muß nun untersucht werden, warum die Freiheitssicherung durch den Wettbewerb nicht nur als Mittel sondern gerade als Ziel einzustufen ist, um den Gehalt des Rechtsgutes ,Wettbewerb' richtig zu bestimmen. a) Ausgangspunkt: das Verständnis des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren Oben wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß es kaum möglich ist, den Wettbewerb positiv zu bestimmen I54. Man kann aber seine Wirkungen und Funktionsweisen erfassen. Dabei ist als Ausgangspunkt die Natur des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren zu nehmen. Nur wenn man sich diese vergegenwärtigt, kann man die gesellschaftliche Rechtfertigung des Wettbewerbs verstehen, denn seine Nebenwirkungen sind volkswirtschaftlich wie gesellschaftlich-sozial ganz erheblich: Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht nur nicht garantiert, sondern nicht konkurrenzfahige Unternehmungen werden gegebenenfalls verdrängt und können nicht überleben. Eine enorme Vernichtung von Kapital und zweifelsfrei auch der Existenzgrundlagen von Menschen ist die Konsequenz. Es sollte daher neben der Tatsache, daß der Wettbewerb sich in die freiheitliche Organisation der Gesellschaft einfügt, zusätzliche gute Gründe geben, warum wir auf ihn setzen. Der Wettbewerb soll gerade der Freiheit dienen. Freiheit ist grundsätzlich nicht durchgängig planbar und hat immer Ungewißheit zur Konsequenz. Freiheit lebt von den sie ermöglichenden Rahmenbedingungen einer Gesellschaft. PIanvorgaben, die über diese Rahmenbedingungen hinausgehen, führen schnell zu einem 153 Vgl. dazu nur die umfassenden Nachweise bei R. Knöpfte, Ist die Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, in: Neuorientierung des Wettbewerbsschutzes, S. 175 ff. in Fn. I, der allerdings selbst eine andere Ansicht vertritt; dazu weiter unten. 154 Vgl. dazu hier nur C. Hootz in: GK-GWB, § I Rn. 82.
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Widerspruch gegenüber dem Ziel der Freiheitsermöglichung. Diese Zusammenhänge hat Friedrich August von Hayek in seiner Schrift über den Wettbewerb als (unvorherbestimmbares) Entdeckungsverfahren detailliert herausgearbeitet. Ihren Ausgangspunkt nehmen die Betrachtungen v. Hayeks bei der Feststellung, daß der Wettbewerb eine vollkommen uninteressante Angelegenheit und darüber hinaus auch volkswirtschaftlich verschwenderische Methode wäre, wenn er die Eigenschaften tatsächlich hätte, die ihm ganz überwiegend in der Wettbewerbstheorie zugeschrieben werden; denn wären all die Daten der ökonomischen Theorie tatsächlich jemandem bekannt, machte es keinen Sinn, noch von Wettbewerb zu reden bzw. ihn dennoch zuzulassen 155. Es verhält sich jedoch so, daß Wettbewerb überall dort eingesetzt wird, wo die Ergebnisse nicht vorausgesagt werden können - er dient ihrer Ermittlung. Daraus ergibt sich nun als Konsequenz, daß die Bedeutung des Wettbewerbs gerade im Aufspüren der erfolgreichsten Ergebnisse liegt, die mit keinem anderen, bewußt gesteuerten Verfahren hätten erzielt werden können l56 . Insofern kann die Theorie des Wettbewerbs in den Fällen, die interessant sind, empirisch nicht überprüft werden, was der Wettbewerb mit jedem Entdekkungsverfahren gemeinsam hat I5 ? Charakteristisch ist für den Wettbewerb die Nutzung von Wissen, das sich durch zwei Dinge auszeichnet: Erstens handelt es sich größtenteils um eine Art von Wissen, das sich erst in Fähigkeiten und Geschicklichkeiten des Einzelnen ausdrückt und daher auch kaum bewußt weitergegeben und von dritter Seite erfaßt werden kann. Daher ist das Wissen zweitens vollkommen distributiver Natur, d. h. es gibt keine zentrale Stelle oder Institution, in der das Wissen einheitlich vorliegt, und es kann sie auch nicht geben l58 . Dieses Wissen kann nun nur genutzt werden, wenn es jedem Einzelnen überlassen wird, es in den Prozeß der Wirtschaft einzubringen, die sich damit grundlegend von einer Einzel-Wirtschaft bzw. Unternehmung unterscheidet i59 . Daher ist es nicht möglich zu sagen, welche Zwecke eine sich spontan ordnende Marktwirtschaft - und nur solange sich das System noch spontan ordnen kann, handelt es sich noch um eine Marktwirtschaft - verfolgt und es ist vermutlich wenig sinnvoll zu fragen, ob sie überhaupt welche verfolgt. Man kann nicht bzw. nur sehr begrenzt vorhersagen, welche Ergebnisse erzielt werden und wer profitieren wird, es läßt sich nur prognostizieren, daß für eine Zahl unbekannter Personen die Chancen vergrößert werden 160. V. Hayek hat herausgestellt, daß das 155 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3 und S. 7 f.; auch ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 100 ff.; in diesem Sinne auch heute noch maßgeblich: E. Hoppmann, Über Funktionsprinzipien und Funktionsbedingungen des Marktsystems, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 119 ff. auch m. w. N. 156 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3. 157 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3 f. 158 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 7. 159 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 f. 160 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 9; ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 100 ff.; ausführlich zu den Unterschieden eines spon-
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Betonen eines fiktiven Zustandes ("vollkommener Wettbewerb") und der Vergleich mit einem allwissenden Zentrum ("Diktator") maßgeblich dafür verantwortlich ist, daß die Erwartungen an den Wettbewerb in bestimmter Hinsicht (auf die ökonomischen Nutzenfunktionen bezogen) zu hoch angesetzt und darüber die tatsächlichen Leistungen des Wettbewerbs unterschätzt wurden 161. Das alleine genügt aber nicht. Entscheidend ist daher, daß die Handlungsspielräume des Einzelnen so weit wie möglich geöffnet bzw. offen gehalten werden. Der Mechanismus, der dann im weiteren zur Abgleichung der frei gesetzten Wirtschaftspläne führt, ist derjenige der negativen Rückkopplung 162. Dabei hat der Preis vor allem die Funktion, den Marktteilnehmern zu sagen, was und nicht wie viel sie leisten sollen, und dabei handelt es sich um eine Funktion, die in einer freien Gesellschaft, wie wir sie uns selbst weitgehend nachsagen, unmöglich durch Befehle einer zentralen Stelle übernommen werden kann l63 . Was allerdings bleibt, ist der Umstand, daß auf dem Einzelnen der unpersönliche Zwang des Marktes bzw. des Wettbewerbs lastet, der ihm bedeutet sich anzupassen 164. Diese Anpassung dürfte aber kaum über das Maß hinausgehen, das jeder auch in seinem sozialen Umfeld bei Ausübung seiner Freiheit an den Tag legt. Auf einer Makroebene stellt damit der Wettbewerb die Verwirklichung der Gesellschaftsordnung dar. Auf der Mikroebene spiegelt sich dieses darin wieder, daß den Marktteilnehmern Handlungsspielräume geöffnet oder offen gehalten werden. Dadurch und durch die Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse wird die Selbstbestimmung in der ökonomischen Sphäre gesichert. Insofern wird die verfassungsrechtliche Vorgabe der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Gewerbefreiheit gestützt bzw. gewährleistet. Der Wettbewerb bedarf einerseits der Schaffung von rechtlichen Grundlagen, damit er entstehen kann, und ist damit - allerdings nur in Grenzen - gestaltbar. Er verliert andererseits ab einem bestimmten Punkt des Konstruktivismus seine Funktionsfähigkeit l65 . Wogegen will der Wettbewerb schützen? Er will die wirtschaftliche Entfaltung der Marktteilnehmer durch Verhinderung der Vermachtung der Märkte sichern l66 . Entsprechend der freiheitlichen Grundordnung der Gesellschaft ist es Ziel des Wettbewerbs, einer Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse und damit der Macht entgegenzuwirken. Dem Wettbewerb kommt auch eine das Gemeinwohl sitanen Systems (Katalaxie) und einer Organisation (z. B. eines Unternehmens), ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36 ff., insbes. 57 ff. 161 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 97 ff. 162 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 10. 163 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 13 f. 164 Vgl. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 15. 165 Vgl. hier nur F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 191 ff.; dazu auch O. Schlecht, Die Vereinbarkeit von politischer Macht und wirtschaftlicher Ordnung, S. 35 ff.; E.-J. Mestmäcker; Der verwaltete Wettbewerb, S. 5 ff. 166 Vgl. nur K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 104 m. w. N.
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chernde Funktion zu, die anderenfalls unter ungleich größeren Eingriffen durch staatliche Kontrolle und Planung gewährleistet werden müßte. Eine solche Zentralisierung kann aus zwei Richtungen verfolgt werden: zum einem von Staatsseite aus, zum anderen von privaten Unternehmen in der Wirtschaft. Der Staatsseite sind durch die Wirtschaftsverfassung Grenzen gezogen. Eine echte Industriepolitik widerspricht den Grundentscheidungen des Grundgesetzes. Sie darf auch keinen Eingang in die Wettbewerbspolitik finden. Die wirtschaftliche Macht soll im wesentlichen durch den Wettbewerb begrenzt werden. Dies kann auch eine Begrenzung durch andere marktrnächtige Unternehmen bedingen. Unter ökonomischen Gesichtspunkten gibt es keine eindeutigen Argumente gegen große Unternehmen oder große Macht bei diesen Unternehmen 167 . Mit der Größe wächst nur die Möglichkeit, wettbewerbsbeschränkend tätig werden zu können. Wirtschaftliche Macht kann sich aber außer im originär wirtschaftlichen auch im nicht-wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Bereich auswirken. Unternehmen mit wirtschaftlicher Macht verfügen über entsprechend große Chancen, ihren Willen gegenüber Marktpartnern durchzusetzen. Es ist wirklichkeitsfremd, von wirtschaftlicher Macht erst dann zu sprechen, wenn die Chance annähernd 100 % entspricht 168 . Macht ist in jedem Bezugssystem ein gradueller Begriff, der Wahrscheinlichkeiten ausdrückt. Akkumulierte wirtschaftliche Macht ermöglicht aber darüber hinaus auch gerade eine Einflußnahme in gesellschaftlicher Hinsicht, sei es durch (schlichte) Korruption oder (diffizileren) Druck mit gesellschaftlich ungünstigen, wirtschaftlich aber möglichen Entscheidungen. In letzter Konsequenz gerät dabei dann vor allem der politische Willensbildungsprozeß selbst in Gefahr. Machtansammlungen sind, so natürlich sie auch entstehen mögen, immer deshalb so kritisch zu sehen, weil Wirtschaftsakteure die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel auch einsetzen. Deshalb haben auch die geistigen Väter des GWB im Rückblick auf die kartellierte Wirtschaft der Weimarer Republik und des Dritten Reiches eine der Hauptaufgaben des Gesetzes in der Entmachtung von einzelnen Wirtschaftsunternehmen oder Unternehmensgruppen gesehen, wobei es nicht um die Schaffung von Machtlosigkeit geht, sondern um die Verhinderung von negativ zu beurteilender Machtfülle - auch Ausdruck der Entsprechung von Gesellschaftsverfassung (Begrenzung staatlicher Macht auf das Notwendige) und Wirtschaftsverfassung (ebensolche Begrenzung wirtschaftlicher Macht). b) Wirtschaftliche Handlungsfreiheit und Wettbewerbsfreiheit Die auch gesellschaftliche Funktion der Freiheitssicherung kann der Wettbewerb nur erfüllen, indem er weitgehend reibungslos funktionieren kann. Dieses Funktionieren stellt sich nun nicht als ,Black Box' dar, sondern kann auf die Handelnden Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 112 ff. SO Z. B. R. Knöpfte, Ist die Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, S. 175 (192 ff.). 167 168
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hin analysiert werden, um deren Freiheit es zunächst gehen muß. Worin genau besteht nun die Freiheit, die durch den Wettbewerb ermöglicht und geschützt wird? Für eine Antwort sollen die Wurzeln der wirtschaftlichen Freiheit herauspräpariert werden. Freiheit bedeutet zunächst ganz allgemein wirtschaftliche Handlungsfreiheit der einzelnen Subjekte. Unter formalen Gesichtspunkten können dem Begriff der Freiheit ganz allgemein, so sei noch einmal erinnert, drei Dimensionen zugeschrieben werden: Es geht (i.) um den Handelnden, der frei sein soll (das Subjekt), (ii.) um die Beschränkungen, von denen er frei sein soll und (iii.) um die Handlungen, zu denen er frei sein SOll169. Die wirtschaftliche Freiheit ist verfassungsrechtlich verwurzelt in dreierlei Grund: der Privatautonomie, der Gewerbefreiheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit 170. Diese einzelnen Ursprünge sind kurz näher darzustellen. Die Privatautonomie beinhaltet die Sicherung der Vertragsfreiheit (speziell Art. 12 Abs. 1,9 Abs. 1 und 14 Abs. 1, auch Art. 2 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG). Ergänzt wird sie durch die Gewerbefreiheit, die Koalitionsfreiheit und letztlich auch noch durch die allgemeine Handlungsfreiheit, soweit nicht bereits die speziellen Verbürgungen der Vertragsfreiheit einschlägig sind (Art. 12 Abs. 1,9 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG). Ein eigenes Grundrecht der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit im Sinne einer ungestörten Dispositionsfreiheit wird durch Art. 2 Abs. 1 GG nicht gewährt l7l . Es werden also sowohl das ,womit' (Eigentum, Gewerbe) als auch das ,wie' (Vertrag, Koalition) bestimmt, zu dem das einzelne wirtschaftlich tätige Subjekt in seiner Handlung frei sein soll. Auf die Frage, von welchen Beschränkungen es frei sein soll, ist später näher einzugehen. Grundsätzlich sollen Unternehmungen frei von Zwang zu bestimmten Tätigkeiten sein. Auch für den Begriff der wirtschaftlichen Freiheit kann die Unterscheidung in negative und positive Freiheit übernommen werden. Für Unternehmen ist es einerseits von Bedeutung, frei von Zwang zu sein, also alleine die Entscheidung darüber zu haben, inwieweit sie in einer konkreten Situation handeln oder (eine ökonomische Entscheidung) unterlassen wollen. Andererseits ist der Inhalt der Möglichkeit zu handeln, also eigene wirtschaftliche Entscheidungen - wie die Nachfrage oder Produktion von Gütern, die Art und Weise, in der dies geschehen soll oder der Absatz entsprechender Güter auszugestalten ist - zu fällen und umzusetzen, für die Unternehmen von ebenfalls großer Bedeutung l72 . Für Unternehmen haben also die Freiheit von Handlungszwang und Freiheit im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung eine gleichermaßen herausragende Bedeutung. Im verfassungsrechtlichen Kontext wird der Begriff der Wettbewerbsfreiheit, der ebenfalls zunächst aus den speziellen Grundrechten und erst in letzter Linie aus V gl. oben § 3 11. 1. Vgl. nur H.-J. Papier in: Benda/Maihojer/Vogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 75 rn. w. N., Rn. 34 ff. zu den einzelnen Grundrechten. 17l Vgl. H.-J. Papier in: Benda/Maihojer/Vogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 75 rn. w. N. 172 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 12 f. 169
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Art. 2 Abs. 1 GG herzuleiten ist, als Abwehrrecht gegenüber dem Staat darauf beschränkt, daß allgemein die Möglichkeit zu einer Betätigung als verantwortlicher Unternehmer gegeben sein muß!73. Für die positive Seite der Handlungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte ist noch eine wesentliche Differenzierung zu machen: Sie muß sowohl in formaler als auch in materieller Hinsicht gegeben sein !74. ,Formal' bedeutet dabei, daß eine Gleichheit aller Wirtschaftsteilnehmer vor dem Gesetz gegeben ist, die es ihnen erlaubt, unter gleichen objektiven Möglichkeiten zu handeln. Aber selbst wenn dieser formale Aspekt der positiven Freiheit erfüllt ist, können Umstände vorliegen, welche die Wirtschaftssubjekte unfrei machen: nämlich dann, wenn - so die zweite Differenzierung - die nötigen Fähigkeiten oder Mittel zur Verwirklichung der formalen Freiheit fehlen. Beeinträchtigungen der materiellen Freiheit können außer inneren Faktoren wie mangelnde Fähigkeiten oder Mittel ihren Grund auch in äußeren Umständen haben. Diese äußeren Einschränkungen können im Wettbewerb, wie schon erwähnt, aus zweierlei Richtungen kommen: von staatlicher Seite oder privater Seite, d. h. von Konkurrenten aus der Wirtschaft. Aus dieser Perspektive stellen auch die Regeln des Kartellrechts zunächst eine externe Beeinträchtigung dar. Da sie als Wettbewerbsschutzpolitik jedoch das Funktionieren als solches überhaupt erst sicherstellen, sind sie gerade Garanten der wirtschaftlichen Freiheit in Form der Wettbewerbsfreiheit, ermöglichen sie also erst 175 • Ein (vermeintlich) rein ökonomischer Begriff der Freiheit ist daher letztlich ein Illusion. Ein ursprüngliches laissez-faire würde zu keinem Wettbewerb und damit zu keiner Marktwirtschaft führen, die den Namen verdiente 176 . Es wurde gesagt, daß die zweite Möglichkeit der Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit der Wettbewerber aus dem privaten Bereich, von Konkurrenten kommen kann. Da mögliche Freiheitsräume sich sehr häufig und Freiheitsräume in dem vom Gesetz der Knappheit beherrschten System der Wirtschaft sich grundsätzlich nicht komplementär sondern substitutiv verhalten, führen die Aktionen eines Wettbewerbers regelmäßig zu Einschränkungen der Freiheit anderer Wettbewerber 177 . Es handelt sich also bei der wirtschaftlichen Freiheit - wie auch sonst regelmäßig - notwendig "nur" um eine relative Freiheit und nicht um eine absolute. Die Freiheit, die dem einen zugestanden oder auch nur faktisch gegeben ist, 173 Hauptanwendungsfall sind die subventionsrechtlichen Konkurrentenklagen im Verwaltungsrecht, vgl. BVerwGE 3D, S. 191 (198); dazu H.-I. Papier in: BendalMaihoferlVogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 18 Rn. 77 f. 174 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 13. 175 Für die Regelungen, die Ausfluß von Wettbewerbsförderungspolitik sind, ist dies nicht so eindeutig. Dazu gleich ausführlicher. 176 Vgl. auch O. Schlecht, Die Vereinbarkeit von politischer und wirtschaftlicher Macht, S. 33 ff.; zur Notwendigkeit und Reichweite von bestimmten (negativ zu formulierenden) Regeln auch: F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 149 ff., insbes. 167 ff. 177 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 13.
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führt notwendigerweise zu einer Begrenzung der Freiheit des anderen. Die Bestimmung der Freiheitsräume aber muß, da wirtschaftliches Handeln in der Gesellschaft stattfindet und gesellschaftliches Handeln notwendig rechtliches ist 178 , eine rechtliche sein. Alles andere bedeutete ein Zurückfallen in rechtlose, naturwüchsige Zustände. Nun ist nicht klar, inwieweit der Begriff der wirtschaftlichen Freiheit von dem der Wettbewerbsfreiheit abweicht, der für das Gesetz der Wettbewerbsbeschränkungen wesentlich ist. Es wird dabei u. a. von Robert Knöpfle die These vertreten, daß die Wettbewerbsfreiheit - insofern dann im Gegensatz zur allgemeinen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit - nur formal zu bestimmen und letztlich kein Persönlichkeitsgut sei, sondern nur eine ,technische' Bedingung I79 - für die (allgemeine) wirtschaftliche Handlungsfreiheit ist dieser Weg allerdings verbaut, weil sie bedingt, daß der Einzelne überhaupt über Mittel verfügt, sich am wirtschaftlichen Prozeß zu beteiligen 180. Ein Persönlichkeitsgut soll Freiheit regelmäßig nur im Bezug auf staatliches Handeln sein können, da Freiheit nach dieser Meinung bestimmt wird als etwas, das Gegenstand eines subjektiven Rechts sein kann. Alle Aspekte, die in den marktmäßigen und damit äußeren Umständen liegen, gehörten zum sog. äußeren Datenkranz, der nicht zu berücksichtigen sei. Dabei wird dafür plädiert, alle materielle Aspekte aus dem Freiheitsbegriff auszublenden. Der Begriff der Freiheit soll insofern wie eine Zwiebel aufgebaut sein: Im Kern der Freiheit befinde sich die körperliche Freiheit, dann folgten in den äußeren Schalen z. B. die Freiheit der Meinung bis ganz am Rand dann die Marktbedingungen auftauchten - so man sie überhaupt als vom Freiheitsbegriff gedeckt ansieht l81 • Als Konsequenz ergibt sich dann, daß nicht mehr eine eigentliche Wettbewerbsfreiheit Gegenstand des GWB ist, sondern nur noch eine technische Freiheit, und damit natürlich auch kein gesellschaftlicher Freiheitsschutz durch einen Wettbewerb als Institution. Entsprechend wird auch eine eigene positive Definition des Wettbewerbs gegeben, die ihn über seine Wirkungsweise in der Entmachtung von Unternehmen und Schaffung bzw. Beibehaltung von Chancen und Risiken bestimmt - was im übrigen ein wichtiger Punkt ist, auf den noch zurückzukommen sein wird, der an dieser Stelle jedoch keine ausreichende Begründungsleistung erbringt. Wird von dieser Seite der herrschenden Meinung vorgeworfen, ihre Konzeption liefe auf einen hypertrophen Freiheitsbegriff hinaus, so muß ihr entgegnet werden, daß im Gegenteil sie zu einem atrophen Begriff gelangt. Freiheit als rechtliche, sogar als vorrechtliche Dimension ist immer in den Dimensionen ,formal' und ,materiell' zu denken. Der Staat darf nicht nur formale Freiheiten - gerade auch wirt178 Vgl. E.-J. Mestmäcker, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: ders., Recht und ökonomisches Gesetz, S. 33 (60). 179 Vgl. R. Knöpfte, Ist Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, S. 175 (179 ff.) 180 Vgl. dazu nur M. Köhler, Iustitia distributiva, ARSP 79 (1993), S. 457 ff. 181 Vgl. R. Knöpfte, Ist Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und Wettbewerbspolitik, S. 175 (218).
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schaftlicher Art - gewähren, sondern muß dafür sorgen, daß sie wirkungsmächtig werden können 182 . Dies ist Konsequenz der Existenz einer negativen und einer positiven Dimension des Freiheitsbegriffes. Damit ist jedoch nicht die Rede von einer Umverteilungspolitik. Dieser positive und damit schon materielle Inhalt der Freiheit kommt zunächst im Rahmen der Schaffung von gleichen minimalen Grundvoraussetzungen, welche die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme am (wirtschaftlichen) Leben erst ermöglichen, zustande, weiter aber dann notwendig durch Einräumung möglichst weiter Aktionsräume für alle gleichermaßen. Hier taucht wieder der Bezug zum Problem der Macht auf: Sie ist als grundsätzlich immanente Bedrohung und immer auch notwendige, tatsächliche, faktische Freiheitseinschränkung zu begrenzen, zu kanalisieren und zu kontrollieren. Das ist auch selbst eine Begrenzung der Freiheit, aber eine notwendige nicht nur aus der Freiheit der anderen, sondern letztlich auch zur Erhaltung des Staatsganzen, das als Demokratie darauf angewiesen ist, eine aktive Politik zur Verhinderung von übermäßiger nebenstaatlicher Macht zu betreiben 183. Solche elementaren Wettbewerbsregeln sind Ausdruck der normativen Beschränkung, der Freiheit unterliegen muß, soll sie nicht in Willkür abgleiten. Für diese Begrenzung von gesellschaftlicher - insbes. wirtschaftlicher - Macht stehen dem Gesetzgeber vier Möglichkeiten offen 184: (i.) Gleiche, unmittelbare Grundrechtsbindung für Inhaber gesellschaftlicher Macht; (ii.) Kontrolle gegenüber und Einwirkung auf die Machtinhaber durch die öffentliche Hand. Das kann in letzter Konsequenz bis zur Verstaatlichung reichen, was jedoch seinerseits große Probleme aufwirft; dem Staat ist dies, wie auch der Weg der interventionistischen Umverteilung, wohl weitestgehend versagt; (iii.) Förderung organisierter Gegenmacht; deren Umsetzung wurde unter dem Grundgesetz durch Einführung der Koalitionsfreiheit versucht, es tauchen jedoch hier Fragen auf nach der schwierigen Rolle des Einzelnen in den Organisationen und auch nach dem Probleme einer Gesellschaft, die von Interessenverbänden bestimmt wird 185 ; (iv.) Gewährleistung und Förderung effektiven Rechtsschutzes für die sozial Schwachen; ein Punkt, 182 Vgl. nur: E.-W. Böckenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher MachtEinführende Problemskizze, in: D. Posser/R. Wassennann, Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 69 (70); dazu auch M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: ders., Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 145 (156 f.). 183 Vgl. M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: ders., Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 145 (156 f.). 184 Vgl. E.-W. Böckenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht - Einführende Problemskizze, in: D. Posser/R. Wassennann, Freiheit in der sozialen Demokratie, S. 69 (75 f.); im Anschluß an die Ausführungen Böckenfördes finden sich dann im selben Band Einzelreferate zu den vier Möglichkeiten: ders., Grundrechtsregelung gegenüber Trägern gesellschaftlicher Macht?, S. 77 ff.; K. Duden und P. Landau, jeweils zur ,Begrenzung der privatautonomen Gestaltungsfreiheit', S. 91 ff. und S. 103 ff.; H. Föhr und A. Rinken, jeweils zu ,Innere Demokratie in den Verbänden', S. 115 ff. und S. 127 ff.; R. Wassennann, Gleicher Rechtsschutz für alle, S. 141 ff. 185 Dies ist von v. Hayek als die größte Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratien angeprangert worden, vgl. ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 124 ff., 137 ff.
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dem gerade auch im materiellen Kartellrecht und im Verfahrensrecht versucht wird Rechnung zu tragen. Im Rahmen der wettbewerblichen Marktwirtschaft erfüllt der Staat seine Pflicht durch die Schaffung des Kartellrechtes als eines Mittels, möglichst große Freiheitsräume für alle in der Wirtschaft zu wahren, also übermäßige Macht zu verhindern bzw., wo das nicht möglich ist, eine Kontrolle zu gewährleisten. Das GWB verwirklicht diese Aufgabe durch den strukturellen Ansatz (Verbot bestimmter Verhaltensweisen, Verhinderung bzw. Überwachung bestimmter Marktstrukturen mittels staatlicher Kontrolle) und durch die Gewährung subjektiver Rechte (Kompensation von Schäden der Mitwettbewerber und Mobilisierung bzw. Durchsetzung der Normen). Ein ,echtes Wert und Gut d86 ist Freiheit nur solange, wie sie auch materiell gesichert ist. Kann ein einzelnes Unternehmen oder eine Gruppe die Bedingungen im Markt diktieren, ist dies nicht mehr der Fall 187 • Letztlich begibt sich auch Knöpfte mit seiner Bestimmung der Freiheit und des Wettbewerbs in mehrfache Widersprüche. Wie vermag diese Meinung zu erklären, warum es um wirtschaftliche Entmachtung geht, wenn sie den Bezug zur Freiheit abschneidet? Macht impliziert die mindestens potentielle, regelmäßig tatsächliche Begrenzung von Freiheit. Davor kann sich nur retten, wer auch einen reduzierten Begriff von Macht verwendet l88 . Aber das tut Knöpfte nur oberflächlich, indem er zwar den Begriff auf absolute Macht beschränken will, aber dennoch seinen Ausgangspunkt bei Max Weber und dessen Definition von der Chance der Durchsetzung eigener Interessen sucht. Damit ist nun jedoch der relative Begriff von Macht - zurecht - wieder eingeholt. Vor allem aber ist die Beschränkung des Begriffes der Freiheit auf den Gegenstand eines subjektiven Rechts fehlerhaft. Bereits aus normlogischen Gesichtspunkten empfiehlt es sich, Gründe für Rechte und die Rechte selbst auseinanderzuhalten 189. Was ein subjektives Recht sein soll, ist ohnehin weitgehend eine Frage der Positivierung durch den Gesetzgeber. Vor allem aber verengt dieses Herangehen an den Freiheitsbegriff den Blickwinkel von vornherein auf das Verhältnis Bürger-Staat. Dieses etatistische Denken geht aber an unserer Gesellschaft und unserer Verfassung vorbei (insofern wird neben der Darlegung der Konstitution der 186 Vgl. R. Knöpfte, Ist Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, S. 175 (191). 187 Das scheint Knöpfte auch selbst doch aufzufallen, denn warum sonst würde er den Wettbewerb (wenn auch ungenügend) mit Entmachtung von Unternehmen und Sichern von Chancen und Risiken umschreiben? Es gibt jedoch auch Freiheitsbegriffe mancher Liberaler, die ins Leere laufen, wie z. B. der von D. Schmidtchen, vgl. dazu H.-H Brünning, Zum Begriff der Freiheit in Wettbewerbstheorie und -politik, in: H. Lampert (Hrsg.), Freiheit, S. 105 ff. (121). 188 In diese Richtung geht denn auch R. Knöpfte Ambitionen, Ist Freiheit ein Schutzgut des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik?, S. 175 (219). 189 Vgl. dazu nur R. Alexy. Individuelle Rechte und kollektive Güter. in: ders .• Recht. Vernunft. Diskurs. S. 232 (234 f.).
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Rechtsordnung gerade auch auf die obigen Ausführungen zur Wirtschaftsverfassung verwiesen 190). Die Freiheit ist in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen, gerade auch im Verhältnis der Bürger zueinander, wie das dem Recht zugrundeliegende Anerkennungsverhältnis der Menschen zueinander aufzeigt. Diese Kritik gegen einen materiell gehaltvollen Begriff der Wettbewerbsfreiheit verfängt also nicht l91 . Der Ausweg ist daher über eine ,gehaltvolle' Bestimmung der Freiheit durch eine Integration des Begriffs der Macht zu suchen. Es geht nicht nur um die Verhinderung von Zwang als absoluter Macht. Ein erster Schritt muß daher in die Richtung gehen, dem Begriff der Wettbewerbsfreiheit eine wirkliche Bedeutung dadurch zu verleihen, daß man ihn vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen (allgemeinen) Handlungsfreiheit sieht. Das gilt sowohl für den vorrechtlichen als auch für den konkreten rechtlichen, d. h. auch verfassungsrechtlichen Bezugsrahmen. Insofern stimmt auch die These, daß der Wettbewerb kein Selbstzweck ist, denn er wird vom Menschen zur Ermöglichung seiner Entfaltung in bestimmten Bereichen der Gesellschaft benutzt; welche Art der Entfaltung geschützt ist und gegen welche Beschränkungen wird allerdings weiter unten zu klären sein. Um auf die eingangs genannten Dimensionen des Freiheitsbegriffes zurückzukommen: Die Akteure des Wettbewerbes sollen grundsätzlich frei ihre Pläne koordinieren können und damit ihre Unternehmung verfolgen, und zwar zum einen ohne Zwang (negativer Aspekt der Freiheit) und zum anderen in einem Markt, der von übermäßiger Vermachtung frei ist, da ihnen dies sonst nicht möglich ist (positiver Aspekt der Freiheit). Daraus folgt, daß übermäßige Akkumulation von Macht und - wo sie schon existiert - ihr Einsatz zu verhindern ist. Da aufgrund der subtilen Möglichkeiten der Ausübung der Macht eine Verhaltenskontrolle sehr schwierig ist, kommt der Verhinderung und - wenn auch nicht nach deutschem Recht - der Auflösung von Macht die größere Bedeutung zu. c) Freiheit in ihrer personellen und strukturellen Dimension Aufgrund der Ausführungen sowohl allgemein zur rechtlichen Konstitution der Gesellschaft über das gegenseitige Anerkennungsverhältnis als auch insbesondere zur Wettbewerbsfreiheit wird jetzt bereits klar, daß der Begriff der Freiheit im Bezug auf seine Realisation in der Gesellschaft letztlich zwei Dimensionen haben muß: eine personelle und eine strukturelle. Die personelle thematisiert den vernünftig-freien Einzelnen, um den es zunächst und auch zuletzt geht. Hier werden Vgl. oben § 3 11, unten § 11 I. 3. Vgl. zu einer Kritik an den Konzeptionen der Wettbewerbsfreiheit von Schmidtchen und Hoppmann als zwei Vertretern des systemtheoretischen Ansatzes nach v. Hayek: H.-H. Bünning: Überlegungen zum Begriff der Freiheit in Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, in: H. Lampert (Hrsg.), Freiheit als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, S. 105 ff. (117 ff.); dieser Kritik kann aber mit dem gleich zu entwickelnden Gedanken meines Erachtens entgangen werden. 190
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die Fragen der negativen und positiven Freiheit (im Hinblick auf die innere und äußere Natur des Menschen) thematisiert. Aber beide Aspekte der Freiheit müssen praktisch umsetzbar sein. Wenn gewisse Voraussetzungen in der Gesellschaft nicht geschaffen sind, kommt der Gedanke der Freiheit nicht zu Leben. In der Gesellschaft sind dies zunächst die sozialen Mindeststandards, die durch verschiedene strukturelle Maßnahmen gewahrt werden müssen, aber auch die Sicherung eines allen zugänglichen Bildungssystems. Dabei würde es sich eher um materielle, leistungsbezogene Maßnahmen handeln. In der Wirtschaft müssen dagegen die Ausübung von Zwang und darüber hinaus bestimmte vermachtete Strukturen verhindert werden, da diese eine freie Koordination der Marktteilnehmer unwahrscheinlich machen oder sie sogar ausschließen. Das wird grundsätzlich auch in der gegenseitigen Bedingung von Freiheit und Gleichheit (der Marktteilnehmer) und auch von Markt und Sozialstaat (Wirtschaft und Gesellschaft) ausgedrückt. Der Schutz solcher Strukturen ist für die personelle Freiheit elementar. Dieser Befund wird sogleich aus theoretischer Sicht im Hinblick auf die Figur des Kollektivrechtsgutes noch zu präzisieren sein.
4. Schlußfolgerungen: gesicherte Erkenntnisse
Mußte schon immer davon ausgegangen werden, daß die vermeintliche Neutralität des Grundgesetzes, weil die einzelnen Freiheitsgarantien und die freiheitliche Gesamtstruktur der Verfassung klare Weichenstellungen bewirkten, nicht so weit ging, wie der Begriff zunächst vermuten ließ, ist aus heutiger Sicht festzustellen, daß das Grundgesetz mangels - sowohl theoretischer als auch empirischer - denkbarer Alternativen eine feste Verankerung der Marktwirtschaft enthält, die spezifisch geformt, d. h. ermöglicht und begrenzt wird durch das Sozialstaatsprinzip. Die Neutralität des Grundgesetzes ist mithin eine Chimäre, weil Neutralität nur dort angenommen werden kann, wo mindestens zwei Möglichkeiten zur Disposition stehen, was eben nicht der Fall ist. Damit kann der Wettbewerb als das zentrale Funktionselement der Marktwirtschaft als Ausfluß der Verfassung - letztlich auch über den EGV - identifiziert werden. Der Wettbewerb wiederum kann nur in seiner Funktion als Entdeckungsverfahren richtig begriffen werden. Erst auf diesem Wege wird er als Bestandteil der Rechtsordnung greifbar. Tatsächlich ist auch für das GWB der systemtheoretische Ansatz prägend, auch wenn im Lauf der Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten einige Verwässerungen und mithin Relativierungen dieses Gedankens statt gefunden haben. Die 6. Novelle hat insofern keine klare Linie aufgezeigt, als sie einerseits durch die Ausdehnung der per se Verbote den System-Charakter unterstrichen hat, andererseits aber z. B. durch die Einführung der neuen Kartell-Genehmigungsmöglichkeit für die Kartellbehörden in eine eher entgegen gesetzte Richtung steuerte. Aufgrund der Natur des Wettbewerbs als eines Mechanismus, der private Machtbildung in Grenzen hält und damit (auch) freiheitssichernd wirkt, kommt ihm ge10 Kohlhoff
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
sellschaftlich eine wichtige Funktion zu. Dieser Freiheitssicherung muß dabei in Form der Bewahrung bzw. Ermöglichung einer formalen und gerade auch materiellen Freiheit eine herausragende Rolle zukommen. Die ökonomisch günstigen Ergebnisse sind letztlich ein Nebeneffekt bzw. ein Zwischenziel, keinesfalls besteht ein Dilemma zwischen Freiheitssicherung und ökonomischen Zielen. Bei genauer Betrachtung fehlen ohnehin die Vergleichsmöglichkeiten, da der Wettbewerb von uns gerade dort eingesetzt wird, wo wir die Ergebnisse nicht im voraus kennen.
11. Der Wettbewerb als Kollektiv-Rechtsgut
Soweit auf den Wettbewerb als gesellschaftliches Phänomen und als System bzw. Institution Bezug genommen wird - und genau das ist in erster Linie in diesem Zusammenhang zu tun - muß unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten an die Figur des Kollektiv-Rechtsgutes angeknüpft werden. Wenn dies nicht gelingt, ist ein Kartellstrafrecht bereits an dieser Stelle gescheitert, denn Normen, die ausschließlich an die Freiheit oder das Vermögen der einzelnen beteiligten Marktteilnehmer anknüpften, könnten keinen Schutz des Wettbewerbs als Institution mehr darstellen. Es wäre dann eine viel zu große Distanz zum kollektiven Interesse gegeben, um auch nur eine gleichzeitige abstrakte Gefährdung auszumachen l92 . Der Wettbewerb als Institution ist jedoch unzweifelhaft nach allgemeiner Ansicht Gegenstand des GWB. Daß es kollektive Rechtsgüter der - wie auch immer zu fassenden - ,Gesamtheit' gibt, ist im Prinzip weitgehend anerkannt l93 . In der Regel wird jedoch nicht eine eigenständige Begründung dieser Rechtsgüter geliefert, sondern darauf hingewiesen, daß die Frage vor allem für das Problem der Einwilligung bzw. EinwilligungsHihigkeit Bedeutung habe 194. Wie bzw. unter welchen Voraussetzungen aber im einzelnen abstrakte Phänomene, Umstände oder Zusammenhänge in der Gesellschaft als Rechtsgut gefaßt werden müssen bzw. können und wann die Grenze zu einer nicht mehr tolerierbaren Entmaterialisierung (Vergeistigung, Verflüssigung)195 des Rechtsgutsbegriffes überschritten ist, wird von denen, die sich überhaupt mit der Frage beschäftigen, nicht einheitlich beantwortet. Zunächst sei noch einmal das notwendige Kriterium rekapituliert, das erfüllt sein muß, damit überhaupt hinsichtlich eines Interesses von einem kollektiven bzw. universellen im Gegensatz zu einem individuellen Rechtsgut gesprochen wer192 Vgl. dazu nur M. Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 119 ff., 124 ff. 193 Vgl. nur Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 3 Rn. 13; Jescheck/Weigend, AT, S. 259;
W. Hassemer, in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 269 m. w. N.; gebräuchlich sind auch die Begriffe: Universalrechtsgut, Sozialrechtsgüter, Gemeinschaftsgüter. 194 Paradigmatisch: Jescheck/Weigend, AT, S. 259. 195 Vgl. dazu kritisch nur O. Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 57 ff.
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den kann l96 . Grundlegend für den Begriff eines kollektiven Gutes, also auch eines Rechtsgutes, ist die "Nicht-Distributivität": Nur wenn das Gut etwas anderes als die einfache - man könnte sagen: die mathematische - Summe seiner Teile ist, kann von einem kollektiven Gut gesprochen werden. Ein Rechtsgut darf daher begrifflich, tatsächlich oder rechtlich nicht in Teile zerlegbar sein, die einzelnen Individuen zugeordnet werden können 197. Für den Wettbewerb bedeutet dies, daß Wettbewerb als gesellschaftliches Phänomen, als System, welchem ein Institutionsschutz zugestanden wird, mehr als die Zusammenfassung der Freiheiten der Wirtschaftssubjekte und anderer Interessen (die noch zu bestimmen wären) sein muß. Falsch muß insofern der naheliegendste Ansatz sein, die einfache Zusammenfassung der einzelnen Freiheiten der beteiligten Subjekte als ,den Wettbewerb' zu bezeichnen, denn auf diesem Wege landete man nur - wenn überhaupt - bei der "mathematischen" Summe. Die genannten Freiheiten, vor allem die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, sind vielmehr die notwendigen Voraussetzung dafür, daß Wettbewerb existieren und funktionieren kann. Der Wettbewerb ist ohne diese nicht denkbar, zugleich dient er aber ihrem Schutz. Der Wettbewerb als System ist also anders als nur über die Einzelfreiheiten zu beschreiben, und auf diesem Wege wird auch sein tatsächlicher nicht-distributiver Charakter deutlich: Die Marktwirtschaft ist eine Form von spontaner Ordnung, so daß sie sich dadurch auszeichnet, daß wir nie alle ihre Elemente oder alle Regeln, denen sie mit ihrem Handeln folgen, benennen können l98 . Es ist uns lediglich möglich, ein solches System durch Anordnung uns bekannter Elemente in uns ebenfalls bekannter Struktur einzurichten und seiner eigenständigen Funktion zu überlassen - dabei ist es allerdings entgegen der Annahme mancher liberaler Ökonomen 199 durchaus notwendig, bestimmte Regeln (als Bestandteil der Struktur) aufzustellen, ohne die das System nicht funktionieren könnte 2OO • Es sind die wirtschaftlichen Entscheidungen der einzelnen Akteure, ihre aktiven Handlungen und Unterlassungen, die komplexe und nicht simulierbare Abstimmung der Vielzahl von Individualplänen aufeinander, welche dem System Wettbewerb unterliegen201 • Insofern handelt es sich um ein Phänomen, das gerade nicht den aggregierten Freiheiten oder auch sonstigen Interessen entspricht. Er zeichnet sich durch vielfach verschränkte Kommunikation und Interaktion aus. Der Wettbewerb ist - wie bereits ausgeführt wurde - ein anthropologisches Phänomen, daß der Natur des MenVgl. oben § 3 III. 2. Vgl. R. Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, in: das., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 232 (239 f.). 198 Vgl. dazu F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 60 ff., 63 ff.; insbes. auch das., Theorie komplexer Phänomene, passim. 199 Vor allem zu den Vertretern der Chicago-School, vgl. l. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 19 ff. m. w. N. 200 Vgl. M. Mestmäcker, Die Rolle des Wettbewerbs im liberalen Gemeinwesen, in: das., Recht und ökonomisches Gesetz, S. 136 ff. (137 ff., 141 ff.). 201 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 149 ff. 196 197
10*
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schen entspringt202 , und steht insofern anderen abstrakten intersubjektiven Prozessen nahe. Man kann also zusammenfassend sagen, daß der Wettbewerb durch eine nicht-distributive Struktur gekennzeichnet ist. Daß von einzelnen Normen des GWB auch individuelle Rechtsgüter geschützt werden sollen, steht dem nicht entgegen. Es gibt darüber hinaus auch eine normative Entscheidung - im GWB und im Grundgesetz -, die den Wettbewerb zumindest zu einem einfachen Rechtsgut (im Gegensatz zu einem strafrechtlichen) der Rechtsordnung macht. Die weitere Behandlung des Kollektiv-Rechtsgutes ,Wettbewerb' hängt nun von der Auffassung des Verhältnisses von Kollektiv- und Individual-Rechtsgütern ab. Im Strafrecht wird die Diskussion unter den Schlagwörtern der monistischen und dualistischen Theorien ausgetragen 203 . Dort wird auf der einen Seite vertreten, daß es sich schlicht um zwei verschiedene Arten von Rechtsgütern handelt, die nicht von einem einheitlichen Verständnis her gefaßt werden können (dualistische Theorien)204. In diesem Fall muß nur gewährleistet werden, daß die Bestimmung der Kollektivinteressen nicht zu abstrakt gerät. Dazu kann ein - allerdings nicht auf einen Einsatz in diesem Zusammenhang beschränkter - positivrechtlicher Rechtsgutsbegriff erfolgreich herangezogen werden 205 . Auf der anderen Seite wollen die Gegenauffassungen das Verhältnis der beiden Rechtsgutarten zueinander bestimmen, da sie hierin die Antwort auf eine notwendige Frage zur Staatstheorie sehen (monistische Theorien)206. Dieser Position ist bei aller weiteren Kritik grundsätzlich beizupflichten. Ein Rückzug auf eine rein dualistische Position genügt einerseits für ein gehaltvolles Strafrecht nicht, andererseits ist es für jeden am Fundament der Menschenrechte orientierten Strafrechtler auch unproblematisch, Flagge zu zeigen. Allerdings ist eine etwas andere Lesart notwendig, als sie wohl von u. a. Hassemer mit der personalen Rechtsgutslehre gemeint ist. Als mögliche Antworten kommen nun vor allem zwei Alternativen in Frage: Entweder sind die Kollektiv-Rechtsgüter vom Staat - zu ergänzen wäre hier: der Gesamtheit - her zu den Personen abzuleiten oder die Kollektiv-Rechtsgüter müssen von der Idee des Individual-Rechtsguts her gefaßt werden. Zunächst: will man diese These nicht als Leugnung der Nicht-DistributivitätsThese verstehen, dann meint sie, daß aufgrund normativer Entscheidungen eine so oder so konzipierte strafrechtliche Legitimation erfolgen kann. Anderenfalls würde sie die Realität kollektiver Strukturen leugnen und damit unhaltbar sein. Es können zwar begrifflich individuelle Rechte auf kollektive Güter reduziert werden und 202 Vgl. hier nur M. Mestmäcker; Die Rolle des Wettbewerbs im liberalen Gemeinwesen, in: ders.: Recht und ökonomisches Gesetz, S. 136 ff. (137 ff.). 203 Vgl. O. Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 58 ff.; W. Hassemer in: AKStGB, vor § 1 Rn. 270 m. w. N. 204 So vor allem K. Tiedemann, Tatbestandsfunktion, S. 6, 113 ff. 205 Vgl. dazu M. Krüger; Entmaterialisierungstendenz, S. 104 ff. zum Begriff und S. 119 ff. zu dessen Einsatz. 206 Vgl. vor allem O. Hohmann, Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 61 ff.; W. Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 271 m. w. N.
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umgekehrt207 - für individuelle und kollektive Güter kann dies jedoch nicht gelten, da letztere ebenso wie individuelle Güter Gründe für individuelle Rechte sein können 208 . Dann ist im Hinblick auf die anstehende normative Entscheidung schnell die Einsicht gewonnen, daß nur die Konzeption der Kollektiv-Rechtsgüter hin zu den Individual-Rechtsgütern erfolgen kann, da alles andere das Individuum in seiner grundlegenden Bedeutung für unsere Gesellschaft verleugnen würde. Die Frage, die sich anschließt, ist allerdings, wie es denn gemeint sein kann, wenn Hassemer ausführt, daß Interessen der Allgemeinheit als berechtigte nur anerkannt werden sollen, insoweit sie personalen Interessen dienen 209 . Wie bereits betont, kann keine vollständige Reduktion im Sinne einer Distribution gemeint sein. Diejenigen Interessen, die als Kollektiv-Rechtsgüter begriffen werden sollen, ermöglichen erst das Leben des Menschen mittels Kommunikation und Interaktion in der Gesellschaft21O • Dabei dienen sie eben nicht nur der Freiheitsausübung eines Einzelnen, sondern gerade in einer kollektiven Dimension dem gesellschaftlichen Ganzen, das sich seinerseits allerdings in der Ermöglichung der Freiheit seiner Mitglieder äußert. Eine gegenteilige Auffassung würde diesen gemeinschaftlichen, solidarischen Aspekt des menschlichen Zusammenlebens zugunsten eines zum Egoistischen tendierenden Individualismus verleugnen. Gerade das ist es aber, was die Bedeutung der kollektiven Rechtsgüter ausmacht und was wohl letztlich auch der Argumentation der Dualisten unterliegt. Um aber Halt in ihrer Orientierung am Individuum zu bekommen, läuft die Idee einer personalen Rechtsgutslehre notwendig auf die hier vertretene Position des Rechts und Strafrechts als Ermöglichung und Schutz der Grundlagen der Freiheit des Menschen 211 hinaus. Kollektive Interessen sind damit als über die Freiheit der Individuen - nicht über deren spezielle Rechtsgüter - vermittelt normativ zu begründen, um als Kollektiv-Rechtsgut anerkannt werden zu können. Es darf daher - normativ - nie von dem Dienst für die zum Leben ihrer Freiheit drängenden Einzelnen losgelöst werden. Es kann mithin nicht die Konsequenz einer strengen personalen Rechtsgutslehre gezogen werden 212 . Da eine solche personale Rechtsgutslehre von ihrem Ausgangspunkt her bestimmte Konsequenzen annimmt, die grundsätzlich auch für das Rechtsgut ,Wettbewerb' gelten müßten, sollen diese kurz angesprochen 207 Vgl. dazu R. Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 232 (239 f.). 208 Vgl. R. Alexy, Individuelle Recht und kollektive Güter, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 232 (243 f.). 209 Vgl. nur W. Hassemer in: AK-StGB, vor § I Rn. 275. 2\0 Vgl. R. Zaczyk, Der Begriff der "Gesellschaftsgefahrlichkeit" im deutschen Strafrecht, in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Modemes Strafrecht, S. 113 ff. 2ll Vgl. unten § 3 11. 3., § 4 I. 4. 212 Wie sie eben exemplarisch Hohmann für das Umweltstrafrecht entfaltet: ders., Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 50 ff., 66 ff., 137 ff., 177 f., insbes. 179 ff.
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werden 213 : Die Delikte gegen Kollektiv-Interessen sollen demnach trotz der Verletzung dieser Rechtsgüter von ihrer Natur her nur GefährdungsdeIikte sein, nämlich gegen die sie vermittelnden Individual-Rechtsgüter. Daher müssen auch höhere Ansprüche an eine Bejahung der Strafwürdigkeit gestellt werden. Der Schutz dieser staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen soll letztlich auf den Schutz der mit dieser Institution lebenden und handelnden, als frei verstandenen Menschen zurückgeführt werden können. Dabei geht es Hassemer und anderen Vertretern der personalen Rechtsgutslehre vor allem um die Bekämpfung eines reinen Funktionalismus. Dies kann allerdings auch und sogar besser von einem an den freiheitsgesetzlichen Grundlagen der Gesellschaft orientierten Strafrecht geleistet werden, da auch von dieser Position der Bezug zum Individuum - nämlich seiner Freiheit - herzustellen ist. Dabei werden jedoch wesentlich realitätsnaher strukturelle Voraussetzungen erfaßt214 . IH. Möglichkeiten der Verletzung eines entmaterialisierten Rechtsguts
Wenn das zu schützende Rechtsgut als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Strafwürdigkeit nun Kontur gewonnen hat, so ist doch noch keine Aussage darüber getätigt, gegen welche Handlungen es zu schützen ist, die eine nicht hinzunehmende Verletzung mit sich zu bringen drohen. Mit diesem Problem und seinen Folgen hat sich maßgeblich auch das Umweltstrafrecht beschäftigen müssen. Im Rahmen des UmweItdeliktes schlägt sich diese Schwierigkeit in der starken Verzahnung mit dem UmweltverwaItungsrecht nieder, dem mit der Festlegung der 213 Vgl. zum folgenden W Hassemer in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 280 ff.; zu einer allgemeinen Kritik an dieser Lehre in ihrer Begrenzungsfunktion vgl. auch M. Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 74 ff. 214 Dies wird exemplarisch für ein freiheitsgesetzliches Strafrecht durchgeführt von R. Zaczyk, Der Begriff der "Gesellschaftsgefahrlichkeit" im deutschen Strafrecht, in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Modemes Strafrecht, S. 113 ff.; Konsequenterweise erfaßt z. B. auch das die Diskussion um Kollektivrechtsgüter besonders bestimmende Rechtsgut ,Umwelt' des StGB (in den §§ 324-330d StGB) zwar die Umwelt als Ganzes, jedoch nicht um ihrer selbst willen und auch nicht in jeder Hinsicht umfassend, sondern nur in ihren Medien (also Boden, Luft und Wasser) und Erscheinungsformen (Flora und Fauna). Daß der Begriff ,Umwelt' nicht umfassend gesehen wird, wird durch die Begrenzung als ein eigenständiges Rechtsgut nur im Hinblick auf das gegenwärtige und zukünftige menschliche Interesse an der Erhaltung humaner Umweltbedingungen deutlich gemacht (vgl. nur Tröndlel Fischer, vor § 324 Rn. 3; Schönke I Schröder I Cramer/ Heine. 26. Auflage, Vorbem. §§ 324 ff. Rn. 8, jeweils m. w. N.). Mit der Festschreibung eines ökologisch-anthropozentrischen kollektiven Rechtsgutsbegriffes ist einerseits dem Versuch eine Absage erteilt, eine personelle Bestimmung anhand konkret betroffener individueller Rechtsgüter vorzunehmen (so der Versuch vor allem von O. Hohmann. Das Rechtsgut der Umweltdelikte, S. 177 f., 179 ff.). Andererseits ist aber auch der Ansatz bei einem von der freiheitlichen Natur des Menschen losgelösten ökozentrischen Rechtsgut (so G. Stratenwerth. Zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts, ZStW 105 (1993), S. 679 ff. (693 f.», zu Recht gescheitert.
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entsprechenden Grenzwerte und Kontrollverfahren eine weitgehende Bestimmung der strafrechtlichen Tatbestände zukommt. Ergebnis dieses (wohl notwendigen) Ansatzes ist, daß für die §§ 324 ff. StGB die Qualität von Blankettstrafnormen bejaht wird215 . Diese Technik wird aber allgemein als notwendig angesehen, um die Einheitlichkeit und damit auch möglichst weitgehende Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu gewährleisten - ein Argument, daß ja auch von den Verfassern des Alternativ-Entwurfes 1977 bei der Konzeption ihres Kartellstrafrechts gebraucht wurde. Die Verwaltungsakzessorietät216 zieht hinsichtlich der Wirkung der behördlichen Akte unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Einerseits kann eine Gestattung bzw. eine Ablehnung durch die Behörde Inhalt der Tatbestandsmäßigkeit sein, mit der Folge, daß dies über das Vorliegen eines tatbestandlichen Handelns entscheidet; sie kann aber auch nur Wirkungen auf der Rechtswidrigkeitsebene entfalten und ggf. zur Rechtmäßigkeit eines Verhaltens führen 2I7 . Im Ergebnis wird daher mannigfaltige Kritik geübt. Sie reicht von einer grundsätzlichen Ablehnung bis zur Kritik im Detail. Grundsätzlich abgelehnt wird das Umweltstrafrecht unter Hinweis auf die Tatsache, daß vor allem Bagatellverstöße geahndet, Verschmutzungen größeren oder wirklich bedeutenden Umfanges jedoch wegen Schwierigkeiten in der Aufklärung und rechtlichen Beurteilung häufig strafrechtlich nicht verfolgt würden 218 • Durch die Konturlosigkeit des überindividuellen Rechtsgutes ,Umwelt' und die daraus folgenden Konsequenzen für Tatbestandsstrukturen (Stichwort: abstrakte Gefährdungsdelikte ) komme es zu einem Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz219 . Da es im Verwaltungsrecht im wesentlichen auf die Prävention ankomme, führe dies in der Folge auch zu einem Verstoß gegen das Subsidiaritäts-Prinzip und die ,ultima-ratio'-Funktion des Strafrechts. Insgesamt ist das Fazit der Kritiker, daß das Strafrecht selbst durch diese Formen der Inkriminierung Schaden nehme. Die Kritik im Detail bezieht sich also vor allem auf die Gesetzestechnik und die Blankettnatur vieler Tatbestände. Hier wird insbesondere bemängelt, daß die Tatbestände undurchsichtig und für Laien kaum noch verständlich seien und daß die Konsequenz eines solchen Vorgehens auf eine Metakompetenz der Verwaltung hinauslaufe, die nun über die Strafbarkeit von Verhaltensweisen entscheide, was letztlich sogar als Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung qualifiziert wird 22o • Weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist die häufige Verwendung unbestimmVgl. Tröndlel Fischer, vor § 324 Rn. 4 ff. Vgl. dazu allgemein M. Heghmanns. Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder VerwaItungshandeln, passim, insbes. S. 35 ff. 217 Vgl. M. Heghmanns. Straftatbestände zum Schutz von VerwaItungsrecht oder Verwaltungshandeln, S. 141 ff.; Tröndlel Fischer, vor § 324 Rn. 4 b m. w. N. 218 Vgl. nur A. Ransiek in: Nomos-Kommentar, StGB, Vor § 324 Rn. 25 ff. 219 Vgl. A. Ransiek in: Nomos-Kommentar, StGB, Vor § 324 Rn. 18 ff. m. w. N. 220 Schönke/Schröder/Cramer/Heine. 26. Auflage, Vorbem §§ 324 ff., Rn. 4 m. w. N. 215
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ter Rechtsbegriffe, die oft keine oder nur ungenügende Parallelität mit dem Verwaltungsrecht aufwiesen, wie z. B. für § 325 Abs. 1 StGB, der von einer Veränderung der natürlichen Zusammensetzung der Luft spricht, für die es aber keine Konkretisierung durch Richt- und/ oder Grenzwerte gibt, oder für § 330 StGB, der von den Bestandteilen des Naturhaushalts von erheblicher ökologischer Bedeutung spricht. Auch wenn wohl allgemein anerkannt wird, daß das Strafrecht hier an die Grenzen des strafrechtlich Zulässigen stößt, so sehen die meisten die verfassungsrechtlich gesteckten Grenzen jedoch nicht als erreicht an 221 , was im Einzelfall vom Bundesverfassungsgericht für § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB auch bestätigt wurde 222 . Bei dem kollektiven Rechtsgut ,Wettbewerb' stellt sich zunächst die Frage nach der überstarken Verwaltungsakzessorietät nicht in dem gleichen Maße wie im Umweltstrafrecht, wie sich bereits aus den Ausführungen zur Natur des Wettbewerbes, seiner freiheitssichernden Funktion und seiner Umsetzung im GWB ergeben dürfte223 . Es geht mehr um die Frage, inwieweit von einer Entmaterialisierung gesprochen werden kann und was dann eigentlich überhaupt als Schädigung, also als Verletzung oder Gefahrdung betrachtet werden kann. Hinsichtlich des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt wird an konkrete, letztlich wahrnehmbare Handlungen angeknüpft, die zu einer Schädigung von Fauna oder Flora führen. Hier liegen die Schwierigkeiten vor allem darin, daß Grenzwerte bestimmt werden müssen, die festlegen, welche Schädigungen noch akzeptiert werden können - wohl fast jeder "schädigt" die Umwelt beinahe täglich, sei es durch Autofahren, Rauchen oder das unachtsame Wegwerfen von Verpackung - bzw. welche Handlungen unakzeptabel sind, weil sie zu nachhaltigen Schädigungen führen können. Welcher Weg ist im Falle des Wettbewerbs einzuschlagen? Will man das Kollektiv-Rechtsgut Wettbewerb schützen, ist es ungenügend, wenn nicht sogar falsch, unmittelbar an eine konkrete Schädigung von Rechtsgütern der einzelnen Wettbewerbsteilnehmer anzuknüpfen, wie z. B. deren Vermögen. Dies hat auch die Kritik an den Referenten-Entwürfen des Bundesjustizministeriums zu einer Strafbarkeit von Submissionsabsprachen 1978 und 1979 gezeigt224 : die Vermischung mit dem Schutz von Vermögensinteressen Beteiligter hat den Tatbestand inkonsistent gemacht und zu unnötigen Überschneidungen mit anderen Straftatbeständen geführt - einerseits; insofern ist die Konzeption des neuen § 298 StGB als gelungen zu bezeichnen. Andererseits muß daran erinnert werden, daß eine starke Verschränkung von Institutionsschutz und Individualschutz für das Kartellrecht prägend ist 225 . Eine Verletzung des Wettbewerbs kann daher auch nicht vollkommen los ge221 222 223
Schönke / Schröder / eramer / Heine, 26. Auflage, Vorbem §§ 324 ff., Rn. 4 m. w. N. BVerfGE 75, S. 329. Vgl. § 5 I.
224 Vgl. dazu W Möschel, Kriminalisierung, S. 7 ff. (Referenten-Entwurf 1978), 16 ff. (Referenten-Entwurf 1979). 225 Vgl. hier nur W Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 75 f.
§ 5 Eckpunkte eines Strafwürdigkeits-Diskurses über Kartellrechtsverstöße
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löst werden von Auswirkungen, die sie auf die Wettbewerbsteilnehmer hat. Der richtige gedankliche Zielpunkt ist jedoch entscheidend: Gesucht werden muß eine Möglichkeit, relevante Systembeeinträchtigungen zu bestimmen. An dieser Stelle ist es wichtig - in Abgrenzung zur herrschende Meinung z. B. für das Umweltstrafrecht - herauszustellen, daß bei Delikten gegen KollektivRechtsgüter nicht notwendig von abstrakten Gefährdungsdelikten ausgegangen werden muß226 . Für das Umweltstrafrecht wird dies im Hinblick auf die meisten Tatbestände damit begründet, daß es insoweit nicht auf die Verletzung oder konkrete Gefährdung von Menschen, Sachen oder Umweltmedien ankommt, sondern bereits die Geeignetheit für eine Verursachung solcher Schäden ausreiche27 • Diese Frage muß für das Umweltrecht nicht entschieden werden, stellt sich jedoch für ein Kartellstrafrecht gleichermaßen: können Kollektiv-Rechtsgüter tatsächlich verletzt werden oder muß es nicht notwendigerweise zu abstrakten Gefährdungsdelikten kommen? Das erstere ist der Fall, hängt dabei aber maßgeblich von der tatsächlichen Natur des Rechtsgutes ab. So muß z. B. eine reale Verletzung der Sicherheit des Straßenverkehrs als Kollektiv-Rechtsgut bejaht werden, wenn jemand betrunken ein Fahrzeug führt 228 . Bestimmt man die Sicherheit als objektiven Zustand unbedrohten Daseins, dann ist dieser mit einer Trunkenheitsfahrt nicht mehr gegeben. Konsequenz ist in diesem Beispielsfall u. a., daß grundsätzlich keine Einwilligung (durch Einzelne) vorliegen kann, da eine unbestimmte Zahl von Personen gefährdet wird 229 . Will man untersuchen, ob der Wettbewerb als System geschädigt wurde, kann theoretisch an dessen Voraussetzungen, den Prozeß selbst oder die Ergebnisse angeknüpft werden 23o . Die von der Kartellaufsicht verwandten Testverfahren zur Diagnose der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs sind dementsprechend Marktergebnistests, Marktverhaltenstests und vor allem Marktstrukturtests bzw. Tests der Wettbewerbsvoraussetzungen 231 . Die hierzu gewonnenen Erkenntnisse sollen nun im weiteren dazu herangezogen werden, festzustellen, welche Herangehensweise geeignet ist, um Systemschädigungen am geeignetsten zu konkretisieren. Daß die beschriebenen Systemschädigungen letztlich wieder verbunden werden müssen 226 Allgemein zu den Gefährdungsdelikten vgl. nur H. Koriath, Zum Streit um die Gefährdungsdelikte, GA 2001, S. 52 ff. m. w. N. 227 Vgl. A. Ransiek in: Nomos-Kommentar, StGB, Vor § 324 Rn. 14 ff.; Schönkel Schröder/Cramer/Heine, Vorbem. §§ 324 ff. Rn. 9,jewei1s m. w. N. 228 Vgl. zu diesem Beispiel M. Krüger, Entmateria1isierungstendenz, S. 109 f.; auf dieser Linie der Argumentation bejaht denn auch T. Walter, § 298 StGB und die Lehre von den Deliktstypen, GA 2001, S. 131 ff. (insbes. 140 f.) - unter Kritik an der unergiebigen Unterscheidung von Tatigkeits- und Erfolgsdelikt - die Natur von § 298 StGB als einem Verletzungsdelikt. 229 Vgl. M. Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 110 f.; W Hassemer unterstreicht daher auch ausdrücklich die Bedeutung der Einordnung als Kollektiv- oder IndividualRechtsgut im Hinblick auf diese Frage, ders. in: AK-StGB, vor § 1 Rn. 269. 230 Vgl. oben § 1 V. 1. 231 Vgl. zum Folgenden ausführlich: K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 47 ff.
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
mit Verhaltensweisen von Wirtschaftssubjekten, weil nur diese Normadressaten sein können, ist dabei unbenommen und selbstverständlich. Für die Bestimmung von Systemschädigungen an Wettbewerbsergebnisse anzuknüpfen, kann als untauglicher Ansatz identifiziert werden: Wettbewerbsergebnisse sind ungeeignet, weil im Bezug auf den Wettbewerb aufgrund seiner Natur als Entdeckungsverfahren gerade nur Musteraussagen und keine konkreten Vorhersagen möglich sind. Marktergebnißtests bringen also das Problem mit sich, über keine genügend sichere theoretische Basis zu verfügen, und darüber hinaus bestehen erhebliche Probleme, überhaupt geeignete Indikatoren oder Meßansätze zu finden 232 . Mit ganz ähnlichen Problemen sieht sich der Versuch konfrontiert, allgemein an das Verhalten der Marktteilnehmer anzuknüpfen 233 . Immerhin liefert aber das Anknüpfen an das Verhalten erste Anhaltspunkte für die relevanten Fallgruppen der Absprachen, Bindungen und Behinderungen. Allein aber ist dieses Wissen nicht ausreichend, um zu beurteilen, ob das System Wettbewerb geschädigt wurde. Insofern verbleibt noch die Möglichkeit, sich die Wettbewerbsvoraussetzungen näher auf ihre Tauglichkeit für die Diagnose von Systemschädigungen anzuschauen; als solche können in Anlehnung an Klaus Herdzina zunächst die Wettbewerbsfreiheit und die Wettbewerbsneigung als unmittelbare Determinanten, die Marktstruktur als wichtigster mittelbarer Determinant betrachtet werden234 : Marktstruktur ist dann in einem engeren, aber auch präziseren Sinne zu verstehen: nämlich als innerer Aufbau des Marktes als ökonomischer Größe, d. h. als Zahl und Häufigkeitsverteilung seiner Teile 235 . Auch hier sind nicht alle Determinanten gleichermaßen geeignet, um eine Systemschädigung zu erfassen: Die Neigung der Marktteilnehmer ist objektiv bzw. empirisch wohl kaum festzustellen, die Marktstruktur hingegen schon. Die empirischen Erkenntnisse über die Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, daß es keine per se den Wettbewerb verletzenden Marktstrukturen gibt236 . Auf zwei Märkten mit der gleichen u. U. auch ungünstigen Struktur kann eine vollkommen unterschiedliche Form des Wettbewerbs angetroffen werden. Es können daher nur Marktstrukturen benannt werden, die das Auftreten bestimmter verletzender Verhaltensweisen zu begünstigen scheinen und insofern aufgrund dieser Wahrscheinlichkeit von Wettbewerbsverletzungen als gefährdende Strukturen begriffen werden können. Darüber hinaus geben Betrachtungen der Marktstruktur das Problem auf, daß die notwendige Marktabgrenzung hinsichtlich des für die Betrachtung relevanten Marktes erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt ist237 . Vgl. dazu ausführlich: K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 53 ff. Vgl. dazu ausführlich: K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 54 ff. 234 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 50. 235 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 48; statt zwischen unmittelbaren und mittelbaren Determinanten zu differenzieren, könnte man auch die Unterscheidung in Subjekt-interne und Subjekt-externe Faktoren heranziehen. 236 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 67 ff. (insbes. S. 78), S. 117, S. 181. 237 Vgl. ausführlich: K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 73 ff. 232 233
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Marktstrukturen sind als Anknüpfungspunkt für die Diagnose von Systemschädigungen daher ebenso ungeeignet. Es bleibt die Wettbewerbsfreiheit übrig, deren Beeinträchtigung eine Schädigung des Systems anzeigen könnte. Dafür ist dem Begriff Wettbewerbsfreiheit als wirtschaftliche (Handlungs-)Freiheit in der Form Kontur zu verleihen, wie dies bereits oben geschehen ist, damit gezeigt werden kann, inwiefern es zu Beschränkungen kommen kann und wann diese für das System akzeptabel sind und wann nicht238 . Das Anknüpfen an die Wettbewerbsfreiheit dürfte auch deshalb richtig sein, weil hier unmittelbar das Verhältnis der beschränkten Freiheiten der betroffenen Marktteilnehmer zu dem Recht der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Wirtschaftsubjekte, welche die wettbewerbs beschränkenden Strategien verfolgen, bestimmt werden kann. Die Handlungsfreiheit der Unternehmen, die Beschränkungsstrategien verfolgen, wird immer wieder als Argument bereits gegen eine Setzung von kartellrechtlichen Verhaltensverboten und erst recht gegen eine entsprechende Inkriminierung angeführt239 . Bevor auf die einzelnen Regelungen und mögliche Inkriminierungen eingegangen wird, muß zuvor der Begriff der Wettbewerbsbeschränkung präzisiert werden. Zieht man den Vergleich zwischen dem Wettbewerb und der Umwelt, so sind, obwohl ihnen vor allem eine überindividuelle Struktur gemeinsam ist, merkliche Unterschiede auszumachen. Beide werden sie zwar aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen geschützt und es ergeben sich in beiden Fällen aufgrund der mangelnden Materialisierung für den Gesetzgeber zwangsläufig Schwierigkeiten bei der Bestimmung des konkreten Rechtsgutsinhaltes. Der entscheidende Unterschied zwischen den Rechtsgütern ,Umwelt' und ,Wettbewerb' besteht jedoch darin, daß der Wettbewerb und damit notwendig auch seine Verletzung im Vergleich zum dem Rechtsgut ,Umwelt' eher virtueller Natur sind. Handlungsobjekt mag die Wettbewerbsfreiheit der Marktakteure sein. Die Störung des Systems ,Wettbewerb' spielt sich in den gestörten Interaktionsprozessen und damit weitgehend entmaterialisiert ab; bei der Umwelt hingegen kann an materielle Gegenstände der Umwelt wie Pflanzen, Böden, Gewässer usw. angeknüpft werden. Der Schutz der Umwelt wird im Verwaltungsrecht durch grundsätzliche Verbote von entsprechenden Verhaltensweisen mit der Möglichkeit der Genehmigung charakterisiert. Im Kartellrecht ist man mit wenigen aber deutlichen Verboten (insbesondere Kartellverbot des § 1 GWB und den Ausnahmen hierzu) zwar auf einem ganz ähnlichen Stand, die Verbote sind jedoch im Gesetz verankert und in wesentlich geringerem Maße von Präzisierung durch die Verwaltung abhängig (vor allem durch die Festlegung von Grenzwerten)
238 Insbesondere für § 1 GWB wird der Ansatz beim Schutz der Wettbewerbsfreiheit auch bestätigt, vgl. nur C. Hootz in: GK-GWB, § 1 Rn. 99 m. w. N. 239 Zur Behauptung, das Grundgesetz schütze sowohl die Freiheit zum Wettbewerb als auch die zur Wettbewerbsbeschränkung, vgl. W. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, S. 7.
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IV. Zum Begriff der Wettbewerbsbeschränkung
Wenn es gilt, die Schädigung des Systems ,Wettbewerb' durch eine Schädigung der Wettbewerbsfreiheit näher zu bestimmen, ist es dazu notwendig, "unbillige" von "billigen" wettbewerblichen Verhaltensweisen zu trennen, die jeweils immer auch zugleich als Ausnutzung der eigenen Freiheit verstanden werden. Da wir uns im Wirtschaftsrecht, genauer dem Wettbewerbsrecht bewegen, ist es naheliegend, als Anknüpfungspunkt die Leistungsbezogenheit des Verhaltens zu nehmen. Diese meint jenseits irgendwelcher ökonomischer Ideen den Umstand, daß der Wettbewerb eben als Entdeckungsverfahren geschützt ist - da nichts anderes ihn bereits erklären und dann auch rechtfertigen kann - und damit die Betätigung der Einzelnen als Unternehmer im Hinblick auf ihre Leistung am Markt. Weiter muß bei der Beschreibung neben dem Gedanken des Zwanges auch der Gedanke der Beschränkung durch Macht integriert werden, da es immer um beide Aspekte der Freiheit gehen muß, also auch um den von willkürlichem Verhalten bedrohten Kern der positiven Freiheit. Eine erste grobe Unterteilung von unternehmerischen Verhaltensweisen, die den Begriff der Macht integriert, kann daher nach Klaus Herdzina differenzieren zwischen 24o : "Entfaltung von Fortschrittsaktivitäten oder schnelle(r) Reaktion auf Nachfrageänderungen, also wettbewerblichen Aktivitäten, auch wenn diese den Handlungsspielraum anderer Marktteilnehmer unter Umständen einschränken'.' - kompetitives, wettbewerbliches Verhalten - und "Ausschaltung von Unsicherheit durch Absprachen, Abstimmungen, Bindungen und andere, also nicht-wettbewerbliche Aktivitäten, durch die der Handlungsspielraum bzw. die Wahlmöglichkeiten anderer unbillig reduziert werden, d. h. ihre Wettbewerbsfreiheit eingeschränkt wird" - restriktives, beschränkendes Verhalten.
Diese grundsätzliche Unterscheidung, die noch mehr Programm denn wirkliche Unterscheidung ist, muß nun im Detail ausgearbeitet werden. Aufgrund der Tatsache, daß es als unmöglich erscheint, den Wettbewerb durch das in ihm stattfindende Verhalten positiv zu beschreiben, und daher auf eine negative Definition zurückgegriffen wird (,Abwesenheit von Beschränkungen'), ist man für die Formulierung von Kartellnormen ohnehin genötigt, den Begriff der Wettbewerbsbeschränkung hinreichend positiv zu definieren. Das GWB verwendet den Begriff der Wettbewerbsbeschränkung in einem unspezifischen Sinn, abhängig vom jeweiligen Regelungsgehalt - das kann bei der Frage der Inkriminierung nicht genügen. Als Maßstab wurde oben die Einschränkung des Handlungsspielraumes herausgearbeitet. Die Frage ist also nun zunächst, ob der Handlungsspielraum in relevanter Weise ausschließlich nur durch ein Verhalten eingeschränkt sein bzw. werden kann, und weiter für den Fall einer positiven Antwort, ob jedes Verhalten gleichermaßen zu beurteilen ist.
240
Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 83.
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Zunächst wird in der Wirtschaftsrealität sicher vieles als Beschränkung empfunden werden. Der auf natürlichen Gegebenheiten beruhende eingeschränkte Zugang zu wichtigen Ressourcen beispielsweise kann auch als Beschränkung gesehen werden. Neben Marktverhalten können auch Marktergebnis oder Marktstruktur als mögliche theoretische Ansatzpunkte dienen. Im Hinblick auf die Formulierung eines konsistenten Begriffes für die Wettbewerbsbeschränkung kann man nun die Schwierigkeit des Anknüpfungspunktes sehen: Als Beschränkung können sowohl Ergebnisse (z. B. hohe Preise), Verhaltensweisen (das Festsetzen hoher Preise) oder bestimmte Strukturen (ein die Preisabsprache mitunter begünstigender Konzentrationsgrad auf dem Markt) empfunden werden. Gibt es eine eigentliche, ursprüngliche Beschränkung? Die natürliche Beschränkung kann im Zweifel nicht behoben werden, und wenn doch, dann ist dies sicher nicht Gegenstand eines Kartellgesetzes. Es wurde bereits vorher erwähnt, daß kaum von per se verletzenden Marktstrukturen gesprochen werden kann. Bestimmte Strukturen wie horizontale, vertikale oder diagonale Konzentrationsgrade können aber Horizontal- oder Vertikalabsprachen oder Behinderungen als potentielle Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne einer Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit typischerweise fördern. Hier kann man von wettbewerbsgefährdenden Marktstrukturen sprechen 241 . Es gibt auch Fälle, in denen erst das Zusammentreffen von Marktstrukturen und von normalerweise legitimem Verhalten wie z. B. Lieferverweigerungen (als Ausfluß der Abschlußfreiheit) problematisch wird. Auch solche Marktstrukturen, die grundsätzlich unproblematischen Handlungen eine neue Qualität verleihen können, sollten als wettbewerbsgefährdend eingestuft werden 242 . Darüber hinaus existieren keine grundsätzlich die Wettbewerbsfreiheit verletzenden Marktstrukturen: Sogar Monopole können zumindest zeitweilig auch das Ergebnis von Marktleistung sein, und ebenso ist ein Stärken der eigenen Wettbewerbsposition bis hin zu einer überlegenden Marktmacht zumindest regelmäßig auch das Ergebnis erfolgreicher Unternehmensstrategie 243 . Eine grundsätzliche Verhinderung bestimmter Marktstrukturen kann es daher nicht geben. Vielmehr ist der Konzentrationsprozeß zu kontrollieren und sind bestimmte Verhaltensweisen bei Zusammentreffen mit entsprechenden strukturellen Faktoren zu verbieten. Dieses hinterfragte Ergebnis ist natürlich auch aus normen theoretischer Perspektive notwendig: Normen, die per se handlungsfähige Subjekte zu Adressaten haben (müssen)244, um deren praktisches Tun zu beeinflussen, funktionieren immer auf dem Prinzip der Zurechnung von Verhalten, sei es ein aktives Tun oder ein Unterlassen. Hier liegt denn auch der Grund für einen Zugang zur der Materie des GWB Vgl. nur K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 92 ff. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 92 ff. 243 Das betont zu Recht F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 110 ff. 244 Von der darüber hinausgehenden Existenz von Prinzipien in einer Rechtsordnung, die keinen ausdrücklichen Adressaten haben müssen, sie hier abgesehen. 241
242
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
über die Verhaltensweisen: (i.) Eine Beschränkung ist dann relevant, wenn sie auf menschlichem Verhalten beruht. Ergebnisse des Marktes oder Marktstrukturen, die als Beschränkungen empfunden werden, müssen auf Verhaltensweisen der Marktteilnehmer zurückgeführt werden. (ii.) Außerdem wird man verlangen müssen, daß es sich um zielgerichtetes Verhalten handelt, da anderenfalls die Vermeidung einer zuvor nicht absehbaren Nebenfolge als Regel gesetzt werden kann. (iii.) Schließlich darf das Verhalten nicht marktleistungsbezogen sein, denn anderenfalls ist es ja gerade Ausdruck der Ausübung der wirtschaftlichen Freiheit und damit des Marktmechanismus und eines funktionierenden Wettbewerbs. Damit ist die eingangs eingeführte Umschreibung bestätigt. Der Begriff der Wettbewerbsbeschränkung meint nun präziser formuliert: künstliche Verhaltensweisen (von Marktteilnehmern), die aktiv willentlich erfolgen und nicht auf marktleistungsbezogenen Handlungen beruhen. Nicht marktleistungsbezogen sind Verhaltensweisen dann - so wurde oben bereits dargelegt -, wenn sie nicht in Ausübung der eigenen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit auf das eigene Verhalten am Markt gerichtet sind, d. h. wenn sie primär das Ausschalten von Risiko und ein Ersetzen der eigenen Chancen am Markt durch definitive Sicherheiten auf Kosten der Entschlußfreiheit anderer (als Wettbewerbsfreiheit) und eben nicht im Hinblick auf die eigene Leistung und deren Ein- und Absatz am Markt verfolgen. Damit fällt auch der Kontrollmechanismus der Unsicherheit aus, der durch die Anwesenheit anderer Marktteilnehmer gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang kann also das Kriterium Knöpfles fruchtbar gemacht werden, das dieser zu einer positiven Umschreibung des Wettbewerbs einsetzen wollte 245 . Nur wenn Beschränkungen der Handlungsspielräume der Wettbewerber und damit ihrer Wettbewerbsfreiheit durch solche Verhaltensweisen herbeigeführt wurden, können sie als relevante Schädigungen des Rechtsguts Wettbewerb gelten. Und nur dann können sie von strafrechtlichem Interesse sein. Insofern muß für das Kartellrecht unterschieden werden nach Normen des Wettbewerbsschutzes, die auf die eben heraus gearbeitete Weise zu bestimmen sind, und nach Normen der Wettbewerbsförderung. Letztere fallen aus der Diskussion um die Inkriminierung heraus. Es muß um den Schutz einer rechtlich bestimmten, materiellen Wettbewerbsfreiheit gehen. Diese ist in einer Freiheit zum lauteren, leistungsorientierten Verhalten im Rahmen des Wettbewerbs zu sehen246 , der nur in nicht gänzlich vermachteten Märkten möglich ist. Beschränkende Verhaltensweisen, die zu einer unbilligem Einschränkung der Handlungsspielräume anderer führen, müssen ausgeschlossen werden. Das Bestehen ihrer Möglichkeit ist zugleich auch ein Beleg für die Inhaberschaft einer entsprechenden Marktmacht. In einer dynamischen Wirtschaft, die (erfreulicherweise mit Sicherheit) den modellhaften Gleichgewichtszustand nie erreichen wird, kommt es nun permanent zur Ausübung von wirtschaftlicher Freiheit Vgl. oben § 5 I. 3. b. Zu Freiheit und Lauterkeit im Wettbewerb vgl. hier nur: E.-J. Mestmäcker; Der verwaltete Wettbewerb, S. 78 ff. 245
246
§ 6 Die Beschränkungen des Wettbewerbs und ihre Strafwürdigkeit
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und damit zur notwendigen Einengung von Freiheitsräumen. Eine maximales Ausnutzen der eigenen Freiheit gehört somit zwar zwangsläufig zum eigenen Interesse jedes Wirtschaftssubjekts. Wie oben (Teil 1) angesprochen wurde, ist ein Mittel der Freiheits- und damit auch Zukunfts sicherung gerade Macht. Aber hier kann die Wirtschaft in einer rechtlich-frei verfaßten Gesellschaft, die eine Willkürfreiheit hinter sich gelassen hat, eben nicht stehen bleiben. Auf das hier erarbeitete Verständnis der Wettbewerbsbeschränkungen und die Möglichkeit, ein Kollektivrechtsgut wie den ,Wettbewerb' zu verletzten, wird sogleich bei der Abgrenzung der Kartellrechtsverstöße im einzelnen zurückzukommen sein, wenn deren Fähigkeit zur Systemschädigung bzw. Rechtsgutsverletzung zu beurteilen ist. Dabei ist aber aufgrund der Konzeption des Rechtsgutes und seiner Verletzungsmöglichkeiten bereits deutlich geworden, daß es sich bei strafrechtlich relevanten Systemschädigungenjedenfalls um Verletzungsdelikte handeln kann 247 .
§ 6 Die Beschränkungen des Wettbewerbs und ihre Strafwürdigkeit In den vorangegangenen Abschnitten sind der Inhalt und die Natur des Wettbewerbs als Kollektiv-Rechtsgut geklärt worden; auch wurde die grundsätzliche Möglichkeit seiner Verletzung durch eine Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit in Form einer Einschränkung des Handlungsspielraumes der betroffenen Marktteilnehmer festgehalten und die Erscheinungsform der (prinzipiell auch: strafrechtlich) relevanten Wettbewerbsbeschränkung (als Verletzung oder Gefährdung) in Form einer auf Verhalten von Wirtschaftssubjekten beruhenden, zielgerichteten, nicht marktleistungsbezogenen und daher unbilligen Beschränkung des Handlungsspielraumes erkannt. Die konkrete Begründung der Strafwürdigkeit soll in zwei Schritten erfolgen. In einem ersten Schritt soll mittels der oben ausgearbeiteten Abgrenzungskriterien (eines freiheitsgesetzlich bestimmten Rechts und Strafrechts) dargelegt werden, daß das System Wettbewerb als Kollektiv-Rechtsgut den strafrechtlichen Schutz verdient. Dabei wird es um die ganz allgemeine - und natürlich für eine konkrete Strafwürdigkeitsbestimmung hinsichtlich einzelner Verhaltensweisen nur notwendige aber nicht hinreichende - Frage gehen, wie die Gesellschaft die Schädigung des Wettbewerbs als eines für sie so zentralen Systems grundsätzlich beurteilen muß. Auf dieser Stufe der Argumentation bewegen sich ja mehrere Argumente der Gegner einer Inkriminierung. In einem zweiten Schritt ist dann auf die Ebene der einzelnen Verhaltensweisen zu wechseln und zu untersuchen, welche Handlungen - d. h. welche Strategien der Wettbewerber - als strafrechtlich relevante Wettbewerbsbeschränkungen zu beurteilen sind. 247 So eben ganz zu Recht: T. Walter, § 298 StGB und die Lehre von den De1iktstypen, GA 2001, S. 131 ff. (insbes. 140 f.).
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
I. Die grundsätzliche Abgrenzung für Verletzungen des Rechtsgutes ,Wettbewerb' und das Kartellrecht
Für die Abgrenzung von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, mithin für eine Beurteilung von Verhaltensweisen im Hinblick auf ihren Charakter als Verbrechen bzw. Kriminalstraftat, hat sich als das überzeugendere Modell die freiheitsgesetzliche Ansicht herausgestellt, die ein taugliches qualitatives Kriterium zur Unterscheidung herauspräpariert hat, so wie es oben dargestellt wurde 248 . Es geht dabei um die Begründung der Sanktionsnorm als der Strafbewährung, nicht der primären Verhaltensnorm, also in concreto des kartellrechtlichen Verbotes 249 . Dieses Verbot ist bereits vom Gesetzgeber des GWB gesetzt worden und es erfährt als solches durch die Sanktionsandrohung keine neue Qualität im Hinblick auf die Einschränkung der Freiheit der Betroffenen, denn grundsätzlich ist eine Handlung entweder nicht verboten oder sie ist eben verboten. Für das Vorliegen einer Kriminalstraftat ist damit als notwendige Bedingung zu verlangen, daß die Verletzung des Rechts (als Recht) in einem Maße erfolgt, daß die rechtliche Selbständigkeit der Person oder die Gemeinschaft grundlegend beeinträchtigt ist. Kriminalstraftat ist Verletzung der fundamentalen Bedingungen der Entfaltung der freiheitlichen Natur des Menschen. Die Verletzung wird verstanden als Verletzung des wechselseitigen Basisvertrauens, auf die sich der Einzelne (besonders in unserer heutigen, hoch differenzierten Gesellschaft) nicht aus eigener Kraft entsprechend einstellen kann. Dieses Basisvertrauen wird für die Freiheit als konstitutiv angesehen. Demgegenüber wird die Ordnungswidrigkeit dadurch charakterisiert, daß es sich um die Verletzung des Verhältnisses des Einzelnen (Täters) zur staatlichen Gemeinschaft handelt. Für mögliche (kollektive) Strafrechtsgüter ist damit näher darzulegen, daß hinsichtlich dieser eine Integration in die rechtliche Selbstbestimmung und damit die Handlungshorizonte der Einzelnen stattgefunden hat und das Vertrauen der Einzelnen real und nicht nur abstrakt ist25o . Geht man in einem ersten Ansatz von dem Kriterium des zu schützenden Rechtsguts als einer Grundbedingung der Freiheit aus, kann nach den Ausführungen oben 251 kaum mehr fraglich sein, daß dieses erfüllt ist. Der freiheitsschützende bzw. sogar freiheitsermöglichende Charakter des Systems Wettbewerb wurde ausVgl. oben § 4 1., insbes. § 4 I. 4. V gl. dazu nur I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 79 ff., 431 ff., 449 ff., der darauf hinweist, daß die Rechtfertigung der Verhaltensnorm, die ein Straftatbestand ausweist, keine im Hinblick auf andere mögliche Verhaltensnormen der Rechtsordnung besonderen Kriterien erfordert; hier ist lediglich dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 103 Abs. 2 GG besonders Rechnung zu tragen; Appels weitere Trennung von primärer und sekundärer Sanktionsnorm (S. 490 ff.) im Hinblick auf die Legitimation soll hier als eine rein analytische außer Betracht bleiben. Im Hinblick auf die Erklärung bzw. Begründung von Strafe und Strafrecht greift diese Differenzierung allerdings wichtige Aspekte zu Recht auf; dazu unten § 10 11. 2. ff. 250 Vgl. nochmals dazu R. Zaczyk, Der Begriff "Gesellschaftsgefährlichkeit", in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Modemes Strafrecht, S. 113 ff. (122 ff.), auch m. w. N. 251 Vgl. oben in § 5 1.3. und 4. 248
249
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führlieh beschrieben. Dennoch muß aus dem strafrechtlichen Legitimationsblickwinkel der Wettbewerb als Institution zunächst noch in ein Verhältnis zum Begriff des wechselseitigen Basisvertrauens gesetzt werden. Auch hierfür ist auf die obigen Ausführungen zurückzugreifen. Der Wettbewerb als spontane Ordnung und Entdeckungsverfahren252 wird aufgrund verschiedener Erwartungshaltungen in unserer Gesellschaft gewünscht und geschützt. Er dient als Ordnungssystem der Entfaltung der von den Einzelnen verfolgten Interessen und der in einer Gesellschaft vorhandenen Möglichkeiten und damit auch der Eingrenzung vorhandener und Verhinderung neuer Macht. Der Staat baut auf den Wettbewerb als einzig wirksames (antiautoritäres) Mittel der sozialen Kontrolle - auch wenn anteilig über die Normen des GWB Wirtschaftsförderungspolitik betrieben wird; letztlich bedeutet dies nur, daß aus dieser Motivation fließende Normbefehle nicht strafrechtlich bewehrt werden können. Die Wirtschaftssubjekte müssen dem beipflichten, denn jede andere staatlich administrierte Kontrolle kann nur einen stärkeren Eingriff in die Handlungsfreiheit der Mehrzahl der Marktteilnehmer durch zentralisierte Kontrollen bedeuten. Der Wettbewerb ist Realisation und Ausdruck einer freiheitlichen Organisation der Gesellschaft in diesem Bereich. Darüberhinaus kommen auch die für alle Akteure der Wirtschaft ,gerechten' Preise nur bei einem möglichst reibungslosen Ablauf des Wettbewerbsprozesses zustande 253 . Letztendlich sind dies dann auch die für die Mehrzahl der Verbraucher günstigsten Preise und diese werden vor allem mit den richtigen Produkten bedient. Alle Beteiligten und vor allem auch die mittelbar betroffene, nicht-wirtschaftliche Gesellschaft nehmen die Belastungen und Nachteile, die unübersehbar auch mit den System Wettbewerb verbunden sind, in Kauf, weil sie auf seine koordinierende Funktion vertrauen. Da staatlichen Verteilungsaktivitäten, die über die Zuteilung des Mindestmaßes hinausgehen und gemeinhin unter dem Stichwort der ,sozialen Gerechtigkeit' laufen, die Effektivität abgesprochen werden muß254 , setzen alle Beteiligten in den sozialstaatlich flankierten Wettbewerb die Erwartung, daß er die richtigen, weil nicht an egoistischen Einzelinteressen orientierten Ergebnisse für die Gesellschaft erreicht. Wettbewerb erfüllt die Funktion eines Entmachtungsinstruments durch das Sichern des Mechanismus von Chance und Risiko, der es zusammen mit dem Vgl. oben § 5 I. 3. Das kann letztlich mit F. A. v. Hayek behauptet werden, obwohl dieser grundsätzlich konstatiert hat, daß der Terminus ,Gerechtigkeit' nicht gut mit spontanen Systemen harmoniert, vgl. ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 99 ff.; allerdings kann man auf ihn in der gesellschaftlichen Dimension keinesfalls verzichten. Insofern kann dann an das freiheitsschaffende und -wahrende System ,Wettbewerb' angeknüpft werden und seine Ergebnisse aufgrund des vollzogenen Verfahrens als gerecht bezeichnen, weil niemand sie eigenmächtig manipulierend bestimmen konnte - vgl. dazu dens., a. a. 0., S. 149 ff., insbes. 167 ff. 254 Vgl. dazu F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 126 ff., unter Hinweis darauf, daß keine anderweitige Bestimmung der sozialen Gerechtigkeit als die über die Sicherung des Verfahrens möglich ist. 252 253
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
Kriterium des leistungsorientierten Verhaltens auch erlaubt, Verletzungen des Systems festzustellen. Das Vertrauen des Einzelnen in den Wettbewerb ist für ihn und die Gesellschaft in ihren Grundlagen von grundsätzlicher Bedeutung. Gerade auf Behinderungen im Wettbewerb vennag kaum einer der Beteiligten sich von alleine einzustellen, es sei denn durch ebenfalls wettbewerbsbeschränkende und systemschädigende Maßnahmen. Eine Verletzung des Wettbewerbs zerstört das wechselseitige Basisvertrauen der beteiligten Wirtschaftssubjekte. Dieses Ergebnis lässt sich angesichts der (venneintlichen) Relativierungen des Wettbewerbs in der deutschen Wirtschaftsordnung, erst recht allgemein angesichts der Existenz einer freiheitlichen Ordnung halten 255 . Die Existenz der Wettbewerbsförderungspolitik im GWB läßt den Wettbewerb keineswegs als weniger bedeutend erscheinen, sondern spiegelt lediglich die Bemühungen des Gesetzgebers wieder, auf - wenn auch wohl fragwürdigem - interventionistischem Wege den Wettbewerb zu stärken. Die existierenden Ausnahmebereiche des GWB im Bereich des Bank- und Versicherungswesens u. a. führen ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis im Hinblick auf die strafrechtliche Schutzwürdigkeit. Zunächst betreffen sie zwar weite Bereiche der Wirtschaft, jedoch sind sie allesamt nicht in der Fonn gefaßt, daß der Wettbewerb in ihrem Bereich einer staatlichen Zentralplanung Platz machen müßte, sondern es sind dort nur verschiedene Teilaspekte auf andere Weise geregelt. Insgesamt ist vor allem aber ein Trend hin zur Einführung von mehr Wettbewerb in weiten Teilen dieser Ausnahmebereiche unverkennbar. Letztlich beruhen diese Ausnahmen auf einer Abwägung im Hinblick darauf, ob der Wettbewerb im gegebenen Zusammenhang seine Funktion als Entdeckungsverfahren und Entmachtungsinstrument überhaupt erfüllen kann oder ob es nicht Lösungen gibt, von deren besserer Eignung in diesen Bereichen man überzeugt ist. Aufgrund der Bedeutung der am frei handelnden Individuum orientierten Struktur des Wettbewerbs - und damit per se freiheitsgesetzlich kompatiblen Institution und auch der Verankerung des Wettbewerbs im Grundgesetz ist ein Weg über zentralverwaltungstechnische Regelungen - sicher in unterschiedlichem Maße - für die Wirtschaft im allgemeinen gar nicht gangbar und ein solcher Weg muß immer detailliert gerechtfertigt werden, wenn er dennoch beschritten wird. Das Rechtsgut ,Wettbewerb' ist also sowohl tatsächlich als dann auch rechtlich und damit strafrechtlich entsprechend verankert. Damit ist die Antwort auf die verfassungsrechtliche Fragestellung detenniniert. Auch unter diesem Gesichtspunkt wurde eine Strafwürdigkeit von Kartellrechtsverstößen verneint256 . Dabei ist festzuhalten, daß die tangierten Grundrechte (hier wohl vor allem aus den Artikeln 2 Abs. 1,9 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 GG) im Hinblick auf die (verfassungsrechtliche) Legitimation der Verhaltensnonn eine gegenseitige 255 So wie sie vor allem von W. Möschel, Kriminalisierung von Submissionsabsprachen, S. 33 ff., 60 ff. (dort zum Referenten-Entwurf § 264 a StGB) und P. SeimeT, Kriminalisierung des Kartellrechts, S. 21 ff. vertreten wird. 256 Vgl. nur P. SeimeT, Kriminalisierung des Kartellrechts, S. 11, 17; anders W. Möschel, Kriminalisierung, S. 60 ff.
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Begrenzung erfahren, da der ebenfalls auf diesen Normen beruhende Wettbewerb überhaupt erst Freiheit in der Wirtschaft auf Dauer ermöglicht und genau in dieser Richtung eben einen gehaltvollen Begriff von Freiheit, der nicht einer Willkürfreiheit entspricht, verwirklicht. Das individuelle Interesse an willkürlich freiem, auf Wettbewerbsbeschränkungen aufbauendem Verhalten tritt daher hinter den Schutz des Wettbewerbs zurück - soweit es um Verhaltensweisen geht, die das System ,Wettbewerb' bedrohen. Sowohl Selmer als auch Möschel haben jedoch bei ihrer Auseinandersetzung mit der Strafnotwendigkeit von Kartelldelikten nicht den Unterschied zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm berücksichtigt257 . Im Hinblick auf die Sanktionsnorm ist nur zu fragen, ob die Strafbewährung wegen der Verletzung des Rechtsgutes notwendig ist. Zu thematisieren ist hier als tangiertes Grundrecht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art 1 Abs. 1 GG)258. Entgegenzusetzen ist das Interesse an dem in Frage stehenden Rechtsgut für die Gemeinschaft. Und diese Frage richtet sich nach den eben behandelten Grundsätzen einer freiheitsgesetzlich bestimmten Eingrenzung der Kriminalstraftaten und dem Gewicht, das die Rechtsordnung dem Wettbewerb tatsächlich beimißt. Inwieweit der Wettbewerb erst durch seine Strafbewährung - also durch (möglichen) Einsatz von Strafe und deren spezifischer Wirkungsweise - ausreichend geschützt werden kann, wird allerdings erst gänzlich verständlich, wenn man die Begründung der Strafe erkennt und dies dann auch zusammen mit der konkret ins Auge zu fassenden Strafe thematisiert, was weiter unten - vor allem in Teil 4 der Arbeit259 - durchzuführen ist. Auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Spannungslagen zwischen dem Wettbewerb und den durch die Beschränkung betroffenen Einzelnen muß also eine Strafwürdigkeit von systemschädigenden Verhaltensweisen im Wettbewerb bejaht werden 26o . Nach alledem von Kavaliersdelikten zu sprechen, würde beide a. a. O. VgI. nur I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 574 ff.; zur Differenzierung von Verhaltens- und Sanktionsnonn vgI. noch unten § 9 IV. 259 VgI. unten § 10 11. 260 Zu eben diesem Urteil gelangt man im übrigen auch, wenn man mit der herrschenden Meinung in der Literatur, zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht, - wie oben ausgeführt - zunächst eine Eingrenzung des Kembereichs des Strafrechts auf die grundlegenden Rechtsgüter mittels des Kriteriums der sozialethischen Vorwerfbarkeit von Verstößen annimmt. Als Problem eines solchen Ansatzes wurde aufgezeigt, daß die sozial-ethische Vorwerfbarkeit zu eng mit dem Kriterium der Sozial schädlichkeit verwoben ist, das im weiteren zur Einordnung der Verstöße herangezogen wird, die nicht zum Kembereich zählen und daher sowohl Ordnungswidrigkeit als auch Kriminalstraftat sein können. Die beiden Kriterien sind die Kehrseite ein und derselben Medaille (vgI. auch K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 96 f.). Trotz dieser Schwierigkeiten kann aber eine grundsätzliche Einordnung von KarteIlverstößen vorgenommen werden. Denn selbst wenn man davon ausgeht, daß das Grundgesetz in der Weise wirtschaftspolitisch neutral sei, daß es keine spezielle Ordnung ausdrücklich vorschreibe (was eben nicht der Fall ist), so ist aus der heutigen Sicht - mit den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte - festzustellen, das nur die Marktwirtschaft bis dato in der Lage ist, die 257 258
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sogar im Gegenteil bedeuten, die verfassungsrechtlich implizierten wirtschaftlichen Grundlagen unserer Demokratie zu leugnen. Die Frage kann daher nicht lauten, ob Kartellrechtsverstöße zu inkriminieren sind, sondern wie ggf. leichte, nicht system-bedrohende Verstöße ausgesondert werden können, wie eine ausreichende tatbestandliche Bestimmtheit zu erreichen ist und ob ein Kartellstrafrecht für die schweren Verstöße praktikabel und insofern auch strafbedürftig sein kann. Diese Erwägungen zeigen deutlich, daß von einer Strafwürdigkeit ausgegangen und daher für eine Inkriminierung eingetreten werden muß261 •
11. Auswirkungen auf die Handlungsfreiheit: Problem der Prognostizierbarkeit
Nachdem im ersten Schritt gezeigt wurde, daß in der Gesellschaftsform, in der wir heute leben und die als Demokratie im Wirtschaftsleben ihre Ausprägung in der (sozialen) Marktwirtschaft erfahren hat, die Schädigung des Wettbewerbs grundsätzlich nicht akzeptabel und nicht tolerierbar und daher eben strafwürdig ist, weil der Wettbewerb als System eine zentrale Institution darstellt, deren Verletzung und Gefährdung als Rechtsgut eine Beeinträchtigung der freiheitssichernden Grundlagen unseres Rechts (Sozialschädlichkeit im engeren Sinne) mit sich bringt, soll dieses Ergebnis im zweiten Schritt auf die Ebene der einzelnen Verhaltensweisen im Wettbewerb herunter gebrochen werden. Dabei stellt sich jedoch ein wesentliches Problem: aus der Sicht der Wettbewerbstheorie und auch der Praxis der Kartellbehörden ist die Messung der Verhaltensweisen im Hinblick auf die konkrete Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit, d. h. sowohl überhaupt ihre Bemessung in Form von Quantität und Qualität als auch sein Nachweis sehr schwierig. Die Wettbewerbsbeschränkung wurde oben bestimmt als Ausschaltung von Unsicherheit durch Absprache, Abstimmungen, Bindungen und andere nicht-leistungsbezogene Aktivitäten, durch die der Handlungsspielraum bzw. die Wahlmöglichkeiten und damit die Wettbewerbsfreiheit verfassungsrechtlichen Vorgaben umzusetzen. Der Wettbewerb ist das Kernstück der Marktwirtschaft; ohne Wettbewerb kann sie nicht existieren. Das Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb' wäre insofern nicht unmittelbar in der Verfassung enthalten, zur Umsetzung der dort gemachten Vorgaben aber unverzichtbar (so auch ausdrücklich: K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 105) und muß deshalb auch wenn nicht sogar zum Kernbereich so doch zumindest zum unmittelbaren Umfeld gezählt werden. Hier zeigt sich nun allerdings die Schwäche der Abgrenzungskriterien der hM besonders deutlich. 261 Vgl. hier nur G. Dannecker / J. Biermann in: Immenga / Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 9 ff. m. w. N. zur Literatur; so aber aus freiheitsrechtlicher Perspektive im Ergebnis auch ausdrücklich: M. Köhler, Strafrecht AT, S. 34; ob E.-A. Wolff selbst zu dem gleichen Ergebnis gelangen würde, erscheint zumindest fraglich. Er steht überindividuellen Rechtsgütern eher skeptisch gegenüber, vgl. nur ders. , Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, S. 137 ff. (214 ff.) insbes. zum Kreditbetrug.
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anderer unbillig beschränkt wird. Ausgangspunkt ist also die Beschränkung des Handlungsspielraumes; daher wäre es das Naheliegendste, den unmittelbaren Einfluß eines Verhaltens auf den Handlungsspielraum als Ausdruck der Handlungsfreiheit zu bestimmen. Der Handlungsspielraum kann jedoch mangels geeigneter Indikatoren nicht direkt gemessen werden 262 . Für die einzelnen Verhaltensweisen wird häufig festgestellt, daß keine sichere generelle ex ante-Aussage über die Schädlichkeit des Verhaltens gemacht werden kann und daher wiederum auf vermeintlich praktikable Einzelfallbetrachtungen zu setzten ist263 . Dies könnte ein gewichtiges Argument gegen eine Inkriminierung sein, die ein ausreichend bestimmtes Verhalten in Form einer Typisierung für jeden Fall, der die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, unter Strafe stellt. Oben wurde zu dieser Problematik bereits Stellung bezogen. Das Ergebnis war, daß gerade der gegenteilige Schluß zu ziehen ist: Hundertprozentige Vorhersagen sind grundsätzlich nicht möglich, gerade auch nicht bezogen auf einen konkreten Einzelfall (Stichwort: Anmaßung von Wissen 264 ). Notwendig, aber auch ausreichend für eine Wettbewerbspolitik ist die Möglichkeit von Mustervorhersagen bei der grundsätzlichen Beurteilung der Wettbewerbs beschränkungen. Aber es geht hier nur um ökonomische Schädlichkeit, nicht um eine normative. Die Mustervorhersagen werden von der Markt-Preis-Theorie geliefert, die u. a. aufgrund empirischer Erkenntnisse zahlreiche prognostische Aussagen über die typischerweise eintretenden Folgen der einzelnen Verhaltensweisen zur Verfügung stellt. Diese können eine Unbilligkeit indizieren. Dabei reicht das Spektrum allerdings von sicheren Aussagen (i. S. einer Beschränkung) über ambivalente Aussagen bis zur Unmöglichkeit der Formulierung von Mustervorhersagen 265 . Es gibt mithin Verhaltensweisen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Wettbewerbsfreiheit aufgrund der Einengung des Handlungsspielraumes führen, und es gibt andere Verhaltensweisen, für die eine solche Aussage nicht getroffen werden kann. Sind Musteraussagen der Markt-Preis-Theorie nicht entsprechend sicher, muß untersucht werden, ob sich eine andere Beurteilung aufgrund anderer Argumente ergibt. Auch für die strafrechtliche Beurteilung ist dies der richtige Weg. Das scheint zunächst erstaunlich, da auf diesem Wege ja nur eine hohe Wahrscheinlichkeit der ökonomischen Schädlichkeit des Verhaltens festgestellt werden kann. Davor steht jedoch die Erkenntnis, daß eine Verletzung des Systems ,Wettbewerb' bereits vorliegt in der Beschränkung des Handlungsspielraumes. Denn im Hinblick auf diesen kann lediglich die genaue Beschränkung im Einzelfall nicht vorhergesagt werden. Ob aber grundsätzlich ein Verhalten den Handlungsspielraum beschränkt - was Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitk, S. 87. So die Aussagen der workable-competition-Konzepte, deren maßgeblicher Vertreter im deutsch-sprachigen Raum E. Kantzenbach war, der kurzzeitig auch auf die deutsche Wettbewerbspolitik Einfluß nehmen konnte; vgl. dazu hier nur I. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 11 ff. m. w. N. 264 Vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 100 f. 265 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 88 ff. 262 263
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unabhängig von der individuellen tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteilhaftigkeit ist -, kann sicher beurteilt werden. Der Wettbewerb wurde oben als bedeutsames Rechtsgut für die Konstitution des aus dem Anerkennungsverhältnis folgenden Basisvertrauens bezeichnet. Das Anerkennungsverhältnis beinhaltet hier weiter konkretisiert die Berechtigung des Anderen als kompetierender Marktteilnehmer. Das Basisvertrauen fußt nun auf der Unsicherheit, unter der die Marktteilnehmer im Wettbewerb agieren. Aus ihr resultieren die balancierenden Fähigkeiten des Wettbewerbs. Es ist also aufgrund der grundsätzlichen Einengung der Handlungsspielräume durch wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen klar, daß die elementare Unsicherheit, die ihren Ausdruck im Zusammenspiel von Chance und Risiko findet, ausgeschlossen wird bzw. werden soll. Weitere Präzisierung wird durch die Verwendung des Kriteriums der Nicht-Leistungsbezogenheit erreicht. Zusätzlich kann durch die MarktPreis-Theorie, so diese sichere Aussagen machen kann, die Unbilligkeit der Verhaltensweisen mitbestimmt werden. Daß der Andere sich nicht selbst auf diese Verletzung des Anerkennungsverhältnisses einstellen kann, also eine substantielle Betroffenheit vorliegt, ergibt sich aus dem Umstand, daß ihm die entsprechende Marktrnacht fehlt. Die verbleibende Vagheit kann strafrechtlich in Kauf genommen werden. Denn nichts anderes wird letztlich durch die Unterteilung des Straftatbegriffes in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durchgeführt. In der menschlichen Gemeinschaft hat sich beispielsweise die Überzeugung durchgesetzt, daß Körperverletzungen negativ zu beurteilen und daher zu verbieten sind (Tatbestandsebene). Im nächsten Moment wird man sich aber bewußt, daß es bestimmte Gründe geben kann, aus denen sich ergibt, daß ein körperverletzendes Verhalten doch akzeptiert werden kann bzw. muß: weil rechtfertigende oder entschuldigende (u. U. auch tatbestandsausschließende) Argumente ins Feld geführt werden266 . Die einen beziehen sich auf die näheren Umstände der Tat, die anderen auf die Person des Täters (im allgemeinen und loder der konkreten Situation der Tat). Die Diskussion um den ärztlichen Heileingriff illustriert dieses Problem im traditionellen Kembereich des Strafrechts sehr deutlich. Eben deshalb ist nicht jede Körperverletzung immer und originär eine Straftat, auch wenn sie als Tatbestand im StGB enthalten ist. Die Tatsache, daß es im Einzelfall Gründe geben kann, warum ein wettbewerbs be schränkendes Verhalten doch nicht systemschädigend oder sogar systemfördernd ist267 , bedeutet nicht, daß bei einem entsprechend hohen Maß an Wahrscheinlichkeit von stark regelmäßigen, negativen Auswirkungen nicht die Konsequenz der Vertatbestandlichung und Strafbewährung gezogen werden kann. In dieser Hinsicht gibt es aus der Natur der Wirtschaftsmaterie keine 266 Vgl. zu den Sequenzen des Straftatbegriffes und vor allem auch den Wurzeln der (primär strafrechtlichen) Rechtfertigung und Entschuldigung in Alltagsstrategien: W Schild, in AK-StGB, vor § 13 Rn. 108 ff., insbes. 118 ff. 267 V gl. zu letzteren die Parallele hinsichtlich der einen Begründung der Rechtfertigung in der Verteidigung der Rechtsordnung.
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wesentlichen Unterschiede in Betrachtung von menschlichen, sozialrelevanten Verhaltensweisen gegenüber dem normalen gesellschaftlichen Bereich268 .
111. Einordnung der GWB-Verstöße im einzelnen Wenn nun im Folgenden die einzelnen Beschränkungsformen durchgegangen werden, muß klargestellt werden, daß hier keine ausführliche Würdigung sämtlicher Verstöße in sämtlichen praktischen wie auch theoretischen Erscheinungsformen erfolgen kann. Dies erscheint aber aus folgendem Grund vertretbar: Es geht hier darum, eine grundsätzliche Strafwürdigkeit aufzuzeigen. Diese orientiert sich an typischen Formen des Unrechts, sie muß nicht jede denkbare Eventualität erfassen. Dies kann hier anband der ausgewählten Kriterien geleistet werden. Darüberhinaus ist es dann eine Frage, ob für die grundsätzlich typisierbaren Fallgruppen mögliche, nicht als freiheitsverletzend zu identifizierende Verhaltensweisen durch eine entsprechende Tatbestandsbeschreibung oder Rechtfertigungsmöglichkeit ausgeschieden werden können. Dies kann hier naturgemäß nur im Überblick geschehen, aber es soll plausibel gemacht werden, daß dies grundsätzlich möglich ist. 1. Horizontale Beschränkungen
Unter die horizontalen Beschränkungen fallen - wie oben ja dargestellt wurde insbesondere die von § 1 GWB verbotenen Kartelle, die durch Verträge oder andere Vereinbarungen oder Absprachen zwischen Wettbewerbern zustandekommen und die dann verboten sind, wenn sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Diese Absprachen unter Wirtschaftssubjekten der gleichen Marktstufe können sich grundsätzlich auf jeden Parameter der Unternehmensführung beziehen, also auf Preise, Absatzbedingungen, Absatzgebiete, Produktion und Produkte (z. B. Normen oder Typen), Kundenschutz und anderes mehr. Charakteristisch sind hier vor allem die Preiskartelle, welche für ihren Bereich die Außerkraftsetzung des Preisbildungsmechanismus des Wettbewerbs anstreben. Diese zentrale Funktion des Wettbewerbs wurde oben bereits beschrieben. Fällt sie weg, kann der Wettbewerb seiner Steuerungsfunktion nicht mehr nachkommen 269 . Das führt ggf. zu einer Potenzierung von unternehmerischen Fehlentscheidungen, Fehlallokationen von Produktionsfaktoren, Abwälzung von eigentlich zu tragenden Risiken, kurz: die ökonomischen Funktionen des Wettbewerbs werden ausgehe268 Einzig zu bedenken ist immer, daß in Anbetracht gewisser Eigengesetzlichkeiten des Wettbewerbs ab einem bestimmten Punkt des regulativen Eingriffs von einem Versagen des Systems ausgegangen werden muß; vgl. zu einer Begründung des Rechts als Sicherung der Freiheit durch negativen Ausschluß (Verbot) von bestimmten Handlungen: F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, S. 191 ff. 269 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 109.
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belt, ohne daß an seine Stelle ein anderer Mechanismus mit ähnlichen Fähigkeiten treten würde 27o . Vor allem aber stellen die horizontalen Absprachen den Paradefall eines Ausschlusses des Mechanismus von Chance und Risiko, also der wettbewerblich bedeutsamen Situation der Unsicherheit, dar. Dies wird durch die Markttheorie auch als typische Folge solcher Beschränkungen prognostiziert. Das Verhalten führt zu einer Einschränkung des Handlungsspielraumes und daher der Wettbewerbsfreiheit sowohl der Kartellmitglieder als auch der anderen Marktteilnehmer, also der Kartellaußenseiter und der Marktgegenseite. Da es hier nicht um den Schutz der individuellen wirtschaftlichen Freiheit einzelner Subjekte und ggf. sogar entsprechender subjektiver Rechte geht, sondern um den Wettbewerb als System, ist auch gerade die Beschränkung der Handlungsspielräume der Kartellmitglieder zu berücksichtigen. Auch ihre normalerweise individuell verfolgte Plankoordinierung stützt den Preismechanismus und damit auch ganz allgemein den Wettbewerb. Die für den Wettbewerb so bedeutsame Unsicherheit als Gegenstück zur Marktrnacht wird gezielt ausgeschaltet. Das Verhalten ist daher als typische Verletzung des durch den Wettbewerb gesicherten Anerkennungsverhältnisses, näher: des dadurch erzeugten Basisvertrauens, anzusehen und insofern strafwürdig. Nicht strafrechtlich erfaßt werden dürfen diejenigen Konstellationen, die von § 1 GWB als Absprachen erfaßt werden, die Wettbewerbsbeschränkungen ,bewirken'. Aus am Wettbewerbsschutz orientierter Sicht ist es sicher notwendig, auch dann einzuschreiten, wenn Handlungen bestimmter Unternehmen eine spürbare wettbewerbsbeschränkende Wirkung entfalten27I , eine strafrechtliche Verantwortung im Rahmen der Fahrlässigkeit dürfte hier jedoch zu weit gehen. Es kann nur darum gehen, eindeutig gegen die Institution gerichtete Eingriffe zu sanktionieren und es sollte vor allem nicht angestrebt sein, möglichen Beweisschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Dem wird im Strafrecht dadurch Rechnung zu tragen sein, daß ein (mindestens: Eventual-) Vorsatz vorzusehen ist. Dennoch muß die Wertung des Gesetzgebers, daß einige - nach der 6. Novelle nur noch wenige - Kartelle u. U. positiv eingeordnet werden, berücksichtigt werden. Es ist daher für alle nicht in den §§ 2 ff. GWB ausgenommenen horizontalen Absprachen i. S. v. § 1 GWB zunächst eine schwere Systemschädlichkeit zu bejahen. Gleiches gilt für das ebenfalls als horizontale Beschränkung zu betrachtende Empfehlungsverbot. Da die Gründe für eine mögliche Genehmigung von Kartellen nach den §§ 2 ff. GWB im wesentlichen in positiven Auswirkungen auf den Markt bzw. die Wirtschaft oder die Branche (nach erfolgter Abwägung gegenüber den Nachteilen) liegen, also in äußeren Umständen, ist daran zu denken, dies über Rechtfertigungsgründe zu erfassen, denn eine Beschränkung des Wettbewerbs als System liegt dennoch vor. Wie die trotzdem auftretenden Bagatellfälle ausgeschieden und die Ausnahmen der §§ 2 ff. Berücksichtigung finden können, ist eine Frage der Rechtstechnik, auf die später eingegangen werden soll. 270 271
Vgl. K. Tiedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 110. Vgl. hierzu C. Hootz in: GK-GWB, § 1 Rn. 180 ff., 183 f.
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2. Vertikale Beschränkungen
Als vertikale Beschränkungen wurden die verschiedenen Bindungen zwischen Unternehmen nachgelagerter Marktstufen bezeichnet. Mit diesen Bindungen wollen Marktteilnehmer einer Stufe auf die Geschäftspolitik, d. h. auch Unternehmensentscheidungen von Marktteilnehmern einer anderen Stufe Einfluß nehmen. Neben einer Einschränkung des Handlungsspielraumes des direkt - regelmäßig durch einen Vertrag - gebundenen Unternehmens sind auch potentielle Geschäftspartner dieses Unternehmens betroffen, die wiederum Konkurrenten des Bindenden sein können. Die Bindung kann von den betroffenen Unternehmen durchaus auch als positiv empfunden werden, z. B. bei bestimmten Preisbindungen wie derjenigen im Buchhandel, die den Händlern bestimmte Gewinnspannen garantiert. Mitunter wird aber auch versucht, diese Bindungen mit Behinderungspraktiken wie Drohung oder Zwang durchzusetzen - hier tauchen dann Abgrenzungsprobleme zu den Behinderungspraktiken und deren Normierung auen. Von den zwei Arten der Bindungen - Inhalts- und Abschlußbindungen - gehen letztere typischerweise mit Behinderungspraktiken einher. Typische Abschlußbindungen stellen die Ausschließlichkeitsbindungen, die Vertriebs- und Verwendungsbschränkungen und die Kopplungsverträge dar273 . Sie sind grundsätzlich erlaubt, denn verboten werden durch das GWB gemäß § 14 lediglich Inhaltsbindungen. Abschlußbindungen unterliegen jedoch gemäß § 16 GWB einer Mißbrauchsaufsicht. Bei Ausschließlichkeitsbindungen werden die Gebundenen verpflichtet, bestimmte Güter oder ggf. Dienstleistungen nur von dem bindenden Unternehmen zu beziehen. Konkurrenten des bindenden Unternehmens werden damit an Vertragsabschlüssen mit dem Gebundenen gehindert274 . Bekannte Beispiele aus dieser Fallgruppe stellen die Bierlieferungsverträge zwischen Brauereien und Gastwirten oder die Beziehungen zwischen Automobilherstellern und Zulieferern bzw. Händlern oder Werkstätten dar. Bei Vertriebsbeschränkungen werden die Gebundenen dahingehend beschränkt, daß sie nur an bestimmte Kundenkreise weiterverkaufen bzw. nur in bestimmten Absatzgebieten tätig werden dürfen. Bei Verwendungsbeschränkungen werden die Gebundenen verpflichtet, beim Betrieb der Produkte des bindenden Unternehmens nur von diesem selbst angebotene Zusatzgeräte oder Materialien zu verwenden. Kopplungsverträge schließlich dienen dazu, die Gebundenen festzulegen, nur vom bindenden Unternehmen, nach Abnahme oder Miete bestimmter Güter andere, nicht notwendig mit diesen verbundene Güter ebenfalls von dort zu beziehen. Die Handlungsspielräume der Gebundenen sind insofern immer beschränkt. Es stellt sich die Frage nach der anhand der typischen Marktauswirkungen zu ermittelnden Unbilligkeit.
272 273 274
Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitk, S. 157 f. Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitk, S. 158. Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitk, S. 163.
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Zugunsten der Abschlußbindungen wird argumentiert, daß Hersteller auch ein berechtigtes Interesse an der Konzeption und Durchführung bestimmter Absatzund Vertriebsformen haben, z. B. um bestimmte Produkte überhaupt erst entsprechend (z. B. exklusiv) vermarkten zu können, aber auch um den Einbau von ggf. besseren Originalersatzteilen oder eine kompetente Beratung durch den Fachhändler zu gewährleisten. Seinen Interessen könnte jedoch beispielsweise ein Hersteller auch ausreichend durch Überprüfung der Qualifikation eines Händlers Rechnung tragen. Im Falle eines unliebsamen Verhaltens steht es dem Hersteller immer noch offen, den Händler nicht mehr zu beliefern. Solange den Betroffenen überhaupt noch ein gewisser Spielraum verbleibt, sollen diese Bindungen jedoch zu tolerieren sein. Aus diesen Gründen sind die Abschlußbindungen trotz der erheblichen negativen Auswirkungen auch nicht verboten. So muß im kartellverwaltungsrechtlichen Einzelfall beurteilt werden, ob bereits eine unbillige Behinderung gegeben ist, um dann ggf. das Verhalten zu untersagen. Daher ist die Mißbrauchsaufsicht auch weitgehend wirkungslos geblieben. Lediglich wenn zugleich Behinderungspraktiken verfolgt werden oder es sich um marktmächtige Unternehmen handelt, kann die Kontrolle an Effizienz gewinnen. Inhaltsbindungen stellen vor allem die Preisbindungen der zweiten Hand, Konditionenbindungen und die sog. Meistbegünstigungsklausel dar275 • Aber Inhalt solcher Bindungen kann naturgemäß jeder Gegenstand der Geschäftspolitik sein. Von dem Verbot der Inhaltsbindung, vor allem in Form der Preisbindung, gibt es verschiedene gesetzliche Ausnahmen. Zunächst ist eine unverbindliche Preisempfehlung für Markenartikel zulässig. Weiter gibt es die vor kurzem noch tagespolitisch aktuelle Möglichkeit der Preisbindung für Verlagserzeugnisse, die jedoch einer Mißbrauchsaufsicht unterliegt (§ 15 Abs. 2 GWB)276. Schließlich wird § 14 GWB auch nicht auf die Fälle der Handelsvertreter- und Kommissionärs-Netze angewandt, da hier von der Ausübung einer nicht-eigenunternehmerischen Tätigkeit ausgegangen wird. Dies wird teilweise als Eröffnung einer einigermaßen bequemen Möglichkeit der Umgehung des Preisbindungsverbotes für die Herstellern angesehen 277 , das aber letztendlich auch nur über eine echte Einbindung in das eigene Vertriebsnetz erreicht wird und in der Praxis wohl ganz überwiegend nur im "business-to-business"-Bereich Verbreitung finden kann. Die Preisbindungen, als typische Inhaltsbindungen, stellen einen weiteren Fall dar, in dem von den Marktteilnehmern versucht wird, auf den Preismechanismus Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 158. Letztlich ist auf EU-Ebene die Preisbindung auf dem deutschen und österreichischen Buchmarkt abgesegnet worden. Hierfür wurden vor allem kulturelle, aber auch wirtschaftliche Argumente ins Feld geführt. Dies stellt ein gutes Beispiel dar für einerseits einen Fall, in dem der Wettbewerb nicht benötigt wird, weil das Ergebnis für alle Beteiligten zufriedenstelIend ist (der Wettbewerb ist kein Selbstzweck) und andererseits für das Einbringen marktfremder Argumente, was wiederum zeigt, daß auch sinnvollerweise die wirtschaftliche Ordnung von der gesellschaftlichen bestimmt wird (und auch bestimmt werden sollte). 277 Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 162. 275
276
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im Wettbewerb Einfluß zu nehmen. Den Herstellern liegt daran, eine autonome Preis-Mengen-Politik unter Umgehung des Handels zu betreiben, Preiswettbewerb zu vermeiden und kollektives Marktverhalten über mehrere Produktionsstufen hin zu betreiben 278 . Wie bereits erwähnt wurde, empfinden auch die gebundenen Unternehmen die Bindung teilweise durchaus als positiv, da sie Handelsspannen sichern oder die Kalkulation erleichtern kann. Und dem Endverbraucher bringt es eine, wenn auch trügerische, Markttransparenz und Preiskontinuität. Gerade den letzten beiden Punkten werden auch positive gesamtwirtschaftliche Aspekte nachgesagt: niedrigere Informationskosten durch Markttransparenz und Erleichterung der Verbrauchsplanung, aber auch der Investitionsplanung der Produzenten durch Preiskontinuität. Zunächst ist nochmals festzuhalten, daß die subjektive Einschätzung der Betroffenen im Einzelfall nicht ausschlaggebend sein kann, da es um die objektive Bestimmung der Verletzung des Systems ,Wettbewerb' geht. Daran ändert sich auch nichts, wenn einer der Beteiligten eher unfreiwillig zu den Bindungen gezwungen wurde. Der Einzelne kann auch nicht im Wege eines Einverständnisses oder einer Genehmigung die Rechtsgutsverletzung zulassen. Dies ist Konsequenz des Kollektiv-Rechtsguts-Gedankens. Darüberhinaus führt die Markttransparenz auf der Produktionsstufe zu einer stärkeren Neigung zu horizontalen Absprachen. Zusätzlich wird die Möglichkeit, Effekte im horizontalen Verhältnis zu erzielen, genutzt, um Konkurrenten zu verdrängen und Märkte zu schließen. Die Handlungsspielräume der gebundenen Unternehmen - unabhängig von der Freiwilligkeit - werden stark eingeschränkt und u. U. einer ganzen Marktstufe ihre Funktion entzogen. Für die betroffenen Akteure auf dieser Marktstufe kann es letztlich zu einem völligen Verlust der Unternehmerfunktion kommen. Was im Ergebnis nichts anderes als vertraglich durchgesetzten Zwang bedeutet. Beide Formen der Bindungen verfolgen ein Ausschalten der beiden Wettbewerbselemente ,Chance' und ,Risiko' und damit eine Beseitigung der notwendigen, weil mögliche Machtpotentiale einschränkenden Unsicherheit. Darüberhinaus sind noch ganz erhebliche ökonomische Nachteile ins Feld zu führen 279 : Es wird der Preiswettbewerb ausgeschaltet und zugleich werden entsprechend überhöhte Gewinne realisiert, die wiederum häufig zur Finanzierung ruinöser Verdrängungskonkurrenz bei nicht-preisgebundenen Produkten benutzt werden. Insgesamt sprechen damit die überwiegenden Argumente für eine Inkriminierung beider Arten von Bindungen. Die für die Zulässigkeit von Inhaltsbindungen angeführten Argumente führen zwar auch wettbewerbliche Begriffe wie Markttransparenz oder Verbrauchs- und Kostenplanung an. Diese Begriffe und ihr positiver Inhalt sind aber daran gekoppelt, daß es sich um Ergebnisse oder Konsequenzen eines auf dem Preismechanismus aufbauenden Wettbewerbs handelt. Wie oben ausgeführt wurde, sind die Ergebnisse des Wettbewerbs deshalb ,gerecht', weil das 278 279
Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitk, S. 158. Vgl. dazu K. Herdzina, Weubewerbspolitik, S. 158, 160 f.
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
Verfahren nach bestimmten Regeln abgelaufen ist, welche die nicht vorhersehbaren Ergebnisse als die bestmöglichen garantieren. Wird z. B. der Preismechanismus ausgehebelt, kann davon keine Rede mehr sein. Argumente für Ausnahmen wie z. B. das Argument der Bindung für Verlagserzeugnisse müssen daher aus dem nicht-ökonomischen Bereich kommen, um durchgreifen zu können. Solche Argumente sind aber nicht in Sicht. Was bleibt ist vielmehr der auf verschiedenen Stufen des Wettbewerbs eingeschränkte Handlungsspielraum verschiedener Teilnehmer und daher die Schlußfolgerung, praktizierte Inhaltsbindungen als Übertretungen des § 14 GWB als strafwürdig einzustufen. Aufgrund der Tatsache, daß die Abschlußbindungen nur einer Mißbrauchsaufsicht unterliegen und somit grundsätzlich erlaubt sind, sind sie zunächst einer Strafbewährung gar nicht zugänglich. Hier könnte an die Inkriminierung einer Zuwiderhandlung gegen eine Verfügung im Rahmen der Mißbrauchsaufsicht gern. § 16 GWB gedacht werden. Dennoch sprechen gewichtige Argumente für eine, auf der Änderung der kartellrechtlichen Wertung aufbauende Inkriminierung de lege ferenda. Die einzelnen Erscheinungsformen, Auschließlichkeitsbindungen, Vertriebs- und Verwendungsbindungen und Kopplungsverträge, führen typischerweise zu unterschiedlichen, aber regelmäßig starken Beschränkungen des Handlungsspielraumes verschiedener Marktteilnehmer. Den Befürwortern kann auch entgegengehalten werden, daß gerade dem Interesse an einer autonomen Gestaltung des Vertriebes und Services durch eigene Aktivitäten Rechnung getragen werden kann. Ansonsten ist die Konsequenz eine Knebelung des Gebundenen bei gleichzeitig voller Übernahme des wirtschaftlichen Risikos durch ihn - eine vollkommene Verlagerung der an sich über den Markt verteilten Unsicherheit. Daher wäre hier die Einführung eines per-se-Verbots sinnvoll, von dem jedoch im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden können 28o • Darauf aufbauend könnte dann auch eine Strafbewährung von Verstößen eingeführt werden, welche die Möglichkeit einer Rechtfertigung in Anlehnung an die Kartellausnahmen vorsehen müßte. 3. Behinderungen
Hinsichtlich der Behinderungen ist bereits der Begriff nicht unproblematisch, da nur unbillige Behinderungen relevant sein sollen, d. h. solche, die zu einer (unfreiwilligen) Einschränkung des Handlungsspielraumes durch nicht markt1eistungsgerechtes Verhalten führen, und bei denen die betroffenen Marktteilnehmer nicht in einem Verhandlungsverhältnis zueinander stehen, anhand dessen man die Marktleistungsorientierung beurteilen könnte. Der Handlungsspielraum anderer Marktteilnehmer wird jedenfalls auch durch jedes herkömmliche leistungsorientierte, also wettbewerbliehe Marktverhalten notwendigerweise beeinträchtigt. Diese Einordnung als ,nicht marktleistungsgerecht' kann eben sehr schwer sein, weil die Grenze fließend ist. Die Markttheorie liefert hier auch keine eindeutigen Ergebnisse. Letzt280
So z. B. K. Herdzina. Wettbewerbspolitik, S. 166.
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lich geht es bei der Bestimmung von ,unangemessen' und ,unbillig' um ein rein normatives Urteil. Es muß insofern unter Rückgriff auf allgemeine Kriterien bestimmt werden, inwieweit einzelne Verhaltensweisen eine Verletzung des Wettbewerbs als einer freiheitssichernden Grundlage unserer Gesellschaft darstellen. Im Grundlagenteil wurde darauf hingewiesen, daß Behinderungspraktiken zwar u. U. Straftatbestände des StGB erfüllen können, dies in der Praxis aber typischerweise gerade nicht tun, da sie hinsichtlich der Tathandlung zeitlich vor- oder nachgelagert sind. Zur Lösung des Problems ist einerseits an ein Anknüpfen an besondere Tatmittel oder an ein besonderes Ziel, insbesondere das der Verdrängung bzw. Vernichtung zu denken. Ein weiteres bereits oben angedeutetes Problem im Rahmen der Behinderungen liegt im konkreten Nachweis des unbilligen Verhaltens 281 . Letztlich ist dies aber eine Frage der Praktikabilität und braucht daher an dieser Stelle noch nicht beantwortet werden. Grundsätzlich kann auch hinsichtlich der Behinderungen unterschieden werden nach Verhaltensweisen, die horizontal oder vertikal wirken. Denkbar sind jedoch genauso Konstellationen, in denen vertikale Handlungen (beabsichtigte) horizontale Effekte haben 282 . Wichtiger ist jedoch die Erkenntnis, daß es Behinderungspraktiken gibt, die immer als unbillig angesehen werden und solche, die nur in bestimmten marktstrukturellen Konstellationen unbillig sind - die mißbräuchlichen Verhaltensweisen von marktrnächtigen Unternehmen 283 . An dieser Stelle soll es aber zunächst nur um die generellen Behinderungsverbote des GWB gehen und es sollen dabei die Verbote des UWG trotz einer gewissen systematischen Verwandtschaft außer Betracht bleiben. Die Lieferverweigerung ist nach dem GWB grundsätzlich erlaubt. Niemand ist gezwungen andere zu beliefern, solange er nicht über ein bestimmtes, für andere bedeutsames Monopol verfügt (vgl. § 19 GWB); das ergibt sich bereits aus ganz grundlegenden Gedanken der Marktwirtschaft, die auf der Möglichkeit zur freien unternehmerischen Entscheidung aufbaut. Verboten sind jedoch der Boykottaufruf gern. § 21 Abs. 1 GWB als horizontale Durchsetzung einer Lieferverweigerung und die Androhung einer (eigenen) vertikalen Lieferverweigerung, die dann unter § 21 Abs. 2 GWB fällt. Der Boykott muß von dem Verrufer (Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen) in der Absicht verfolgt werden, den oder die Boykottierten unbillig zu beeinträchtigen. Das sogenannte Verbot von Zwang und Lockung, das in § 21 Abs. 2 GWB geregelt ist, verbietet das Androhen oder Zufügen von Nachteilen und das Versprechen oder Gewähren von Vorteilen, um damit ein Verhalten zu erreichen, das gegen das GWB verstößt bzw. nicht Gegenstand einer Verfügung der Kartellbehörden sein kann. Das Verhalten ist also verboten, weil es nicht auf die eigene Produkti281 282 283
Vgl. nur I. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 126. Vgl. dazu K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 167 f. Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 169.
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ons- oder Produktpolitik im Verhältnis zum Markt abzielt, sondern nur auf die Beeinflussung des Verhaltens des Bedrohten oder Verrufenen. Hier wie auch bei den anderen Formen der Behinderung kann sich der Betroffene gegen diese zunächst nicht selbst und wenn dann nur mit einer eigenen Behinderung zur Wehr setzen. Daraus folgt auch seine Strafwürdigkeit. Sowohl hinsichtlich des Verbots von Boykottaufrufen als auch desjenigen von Zwang und Lockung kommt der Absicht der unbilligen Behinderung bei Konzeption eines strafrechtlichen Tatbestandes große Bedeutung zu. Für den Boykott, bei dem diese Absicht bereits im GWB-Tatbestand gefordert ist, führt dies jedoch zu einer unnötigen Einschränkung und damit Schwächung der Vorschrift. Es sind kaum Fälle denkbar, in denen ein Boykott billigenswert ist, es sei denn als Abwehrboykott zur Verteidigung rechtswidriger Angriffe - und dies könnte als Rechtfertigung erfaßt werden 284 . Tiedemann führt an, daß der Boykottaufruf zwar ein typischer Fall des Behinderungsmißbrauchs ist, jedoch erst der erfolgreiche Aufruf, die konkrete Veranlassung, zu einer Strafbarkeit führen soll. Dem ist zuzustimmen, da eine Schädigung des Wettbewerbs erst vorliegt, wenn der Boykott erfolgt. Der Aufruf stellt insofern einen Versuch dar, dessen Münden in eine Rechtsgutsverletzung und deren Schwere wiederum noch von so vielen Unsicherheitsfaktoren abhängen, daß von einer Inkriminierung dieses Stadiums abzusehen ist. Für das Verbot von Zwang und Lockung und auch andere strafwürdige Verhaltensweisen aber gilt, daß das Tatbestandsmerkmal der Absicht der unbilligen Behinderung als geeignetes Mittel erscheint, die notwendige Eingrenzung eines strafrechtlichen Tatbestandes zum Verbot von Zwang und Lockung zu erreichen285 . Unbilligkeit z. B. im Falle der Androhung einer Lieferverweigerung würde dann entfallen, wenn es um nachvollziehbare wirtschaftliche Motive geht. Hier wird schon seit längerer Zeit auf die Erkenntnisse zur Rechtswidrigkeit bei der Nötigung verwiesen 286 . Problematisch ist allerdings, daß es sich regelmäßig um die Drohung mit einem Unterlassen handelt, dessen Strafbarkeit grundsätzlich nur bei Bestehen einer GarantensteIlung bejaht wird 287 . Die versuchte Nötigung wird daher in diesen Fällen kaum gegeben sein. Insofern ist in dem entsprechenden Tatbestand ein eigenständiges Verbot des Drohens mit einem Unterlassen mitzuformulieren. Es ist jedoch auch zu überlegen, inwieweit bei wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen nicht doch bereits von einer GarantensteIlung gesprochen werden kann. Außerdem ist als unbillige Behinderung gern. § 21 Abs. 3 GWB der Zwang zur Erreichung einer Wettbewerbsbeschränkung verboten, so z. B. einem erlaubten Kartell beizutreten, und das gleichförmige Verhalten in der Absicht, den WettVgl. K. Herdzina. Wettbewerbspolitik, S. 170. In diese Richtung bereits K. Tiedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 121 f. 286 Vgl. nur W Benisch in: GK-GWB. § 25 a. F. Rn. 12, § 35 a. F. Rn. 5 m. w. N. 287 Vgl. dazu nur Schönke/Schröder/Eser, Vorbem §§ 234 ff. Rn. 35 m. w. N. auch zu den Differenzierungen i. e. 284 285
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bewerb zu beschränken. Dabei kann die Unbilligkeit nur aus dem Mittel folgen, das zum Zwang eingesetzt wird, da der Zweck ja rechtlich gebilligt wird288 . Hier erscheint aber der Schutz durch kernstrafrechtliche Vorschriften wie z. B. die §§ 240 Abs. 2 oder § 253 StGB als ausreichend 289 . Notwendig bedingt ist auch das Verbot, jemandem wirtschaftliche Nachteile zuzufügen, weil er eine unberechtigte Verfügung, z. B. eine Untersagungsverfügung gegen einen Konkurrenten, bei den Kartellbehörden beantragt oder anregt, § 21 Abs. 4 GWB. Hier würden die genannten Normen des StGB u. U. ausreichenden Schutz bieten. Ein Kernproblem des Kartellrechtes ist jedoch, daß eine Mitarbeit anderer betroffener Marktteilnehmer aus Angst vor Repressalien nur in sehr geringem Umfang erfolgt. Dem trägt zwar das GWB nach der 6. Novelle mit einem verstärkten Schutz des Hinweisgebers durch Anonymisierung im Verfahren (sogar vor Gericht) Rechnung. Entscheidet man sich aber zu einer Inkriminierung bestimmter Kartellrechtsverstöße, dann muß die Arbeitsfähigkeit der Kartellbehörden und der Staatsanwaltschaft entsprechend als eigenes Rechtsgut geschützt werden. Das Behindern dieser Arbeit ist in Parallele zu den Delikten der Nichtanzeige von Straftaten oder Strafvereitelung strafwürdig. Diskriminierungen, vor allem Preisdifferenzierung und Preisdiskriminierung, schließlich stellen nach deutschem Recht keinen Verstoß gegen ein generelles Behinderungsverbot dar. Dies stellt ja auch gerade einen Ausdruck des Wettbewerbs und damit des Marktmechanismus dar, denn der Markt soll den richtigen Preis bestimmen; den Unternehmen bleibt es unbelassen, ihre eigene Preispolitik zu gestalten. Dies findet seine Grenze allerdings dann, wenn man davon ausgehen muß, daß durch Bildung starker Machtansammlungen bei einzelnen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen der Wettbewerbsmechanismus nicht mehr einwandfrei funktioniert und autonome Entscheidungen schwächerer Unternehmen nicht mehr nur durch den allgemeinen Markt und seine Möglichkeiten, sondern durch bestimmte Unternehmen begrenzt werden. In diesen Fällen handelt es sich ggf. um den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. 4. Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung
Oben wurde bereits betont, daß es zwar keine grundsätzlich wettbewerbs- bzw. freiheitsbeschränkenden Marktstrukturen gibt, aber dennoch Verhaltensweisen ausgemacht werden können, die in bestimmten Marktstrukturen einen wettbewerbsbzw. freiheitsverletzenden Effekt haben. Als wettbewerbsgefährdende Marktstrukturen werden nach dem GWB bestimmte Konstellationen angesehen, in denen besonders marktrnächtige Unternehmen agieren. Unterschieden wird dabei im GWB nach: marktbeherrschenden Unternehmen gern. § 19 Abs. 1 und 2 GWB, markt288 289
Vgl. nur K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 123 f. So auch K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 124.
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starken Unternehmen gern. § 20 Abs. 2 GWB und schließlich überlegenden Unternehmen gern. § 20 Abs. 4 GWB. Die erstgenannten verfügen dabei über die größte Marktmacht, die beiden letzten unterscheiden sich nach vertikalem (dann: marktstark) und nach horizontalem (dann: überlegen) Blickwinkel. Unterschiedlich sind auch die Rechtsfolgen: marktbeherrschende Unternehmen unterliegen der Mißbrauchsaufsicht gern. § 19 Abs. 1 GWB, einem speziellen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot gern. § 20 Abs. 1 und 2 GWB und darüber hinaus auch der Fusionskontrolle (dazu sogleich 5.); marktstarke Unternehmen, von denen andere anhängig sind, unterliegen dem speziellen Behinderungs- und Diskriminierungsverbot gern. § 20 Abs. 2 und 3 GWB; Unternehmen mit überlegener Marktrnacht trifft ein spezielles Behinderungsverbot zugunsten kleiner und mittlerer Wettbewerber gern. § 20 Abs. 4 GWB. Es sind kaum über die speziell geregelten Fälle der allgemeinen - nicht auf die Machtstärke bezogenen - Behinderungsverbote des § 20 Abs. 1 - 3 GWB hinaus derart typische Fallkonstellationen im Rahmen des Mißbrauchs von marktbeherrschender Macht denkbar, für die es möglich wäre, einen präzisen Tatbestand als sog. vertyptes Unrecht zu entwickeln. Insofern ist § 19 Abs. 4 GWB eine Notlösung. Neuralgischer Punkt ist dabei immer die notwendige Abgrenzung des relevanten Marktes in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsiche9o . Marktrnacht setzt immer voraus, daß ein fester Relationsrahmen für die Bestimmung des Umfanges der Macht besteht. Mittel, um einen solch festen Rahmen zuverlässig zu bestimmen, haben Rechtsprechung und Literatur bislang nicht zu entwickeln vermocht291 . Es scheint auch beinahe ausgeschlossen, einen solch sicheren Indikator zu entdecken, vor allem auch aufgrund der Tatsache, daß Märkte auch von den Teilnehmern gestaltet werden; denn es gibt nur wenige Ausnahmen, in denen sich eine Marktabgrenzung bereits aus natürlichen Bedingungen notwendig ergibt. Marktanteile können sehr häufig nicht mengenmäßig bzw. quantitativ angegeben werden, sondern müssen qualitativ anhand bestimmter Verhaltensweisen bestimmt werden. Damit kommt es zu einer notwendigen Verknüpfung von Marktstrukturund Marktverhaltensdimensionen, was für die später eigentlich angestrebte Bestimmung des kritikwürdigen Wettbewerbsverhaltens einen Zirkelschluß nahelegt. Der Marktanteil alleine wiederum ist auch gar nicht ausschlaggebend, wie z. B. bei stark diversifizierten und vertikal integrierten Konzernen ersichtlich ist. Auch eine nähere Umschreibung der überragenden MarktsteIlung, wie sie § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB vornimmt, hilft dann nicht weiter. Um dem entgegenzuwirken, sind in das GWB in § 19 Abs. 3 Marktbeherrschungsverrnutungen eingeführt worden, die zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des betroffenen Unternehmens führen. Für ein Kartellstrafrecht ist eine solche Lösung undenkbar. Auf das Mittel einer Beweislastumkehr ist aus der straf290 Vgl. dazu: Hauptgutachten der Monopolkommission V (1982/83), S. 23 ff. und S. 195 ff. 291 Vgl. zum Stand der Diskussion ausführlich H.-eh. Leo in: GK-GWB, § 19 Rn. 239 ff.
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rechtlichen Perspektive unbedingt zu verzichten (nicht zuletzt aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben). Stärker als in jedem anderen Bereich stellen die Entscheidungen der Kartellbehörden hier ein Werturteil dar. So ist denn auch die Feststellung richtig, daß mehr oder weniger unumstrittene Urteile in dieser Problematik nur für längerfristig konstante Märkte mit klaren Konkurrenzsituationen zu erwarten sind 292 . Die Schwierigkeit, behinderndes Verhalten von marktbeherrschenden oder auch marktstarken Unternehmen typisierend zu bestimmen, läßt es nicht zu, einen Straftatbestand zu formulieren. Vor allem aber kann die Marktbeherrschung oder Marktstärke nicht entsprechend umschrieben werden. Hier könnte nur daran gedacht werden, daß die Kartellbehörden die Position eines Unternehmens rechtlich verbindlich feststellen können, woran dann klare Verhaltensvorgaben zu binden wären. Das würde jedoch den Behörden eine zu große Kompetenz bei der Ausfüllung der Tatbestände zukommen lassen und wäre im Strafrecht daher nicht akzeptabel. In diesem Bereich ist daher an der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Lösung festzuhalten. Denkbar wäre allerdings noch, einen allgemeinen Behinderungsstraftatbestand durch ein qualifizierendes Merkmal des Innehabens einer marktbeherrschenden Stellung zu ergänzen, das dann von einem Gericht in normativer Wertung zu bestimmen wäre. Letztlich können hier wesentliche Unsicherheiten im Hinblick auf einen eigenen Straftatbestand nicht überwunden werden. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, daß der Einsatz einer tatsächlich vorhandenen Marktrnacht in anderer Form als durch die typisierten Behinderungen des § 20 GWB strafwürdig sein wird, da er par exellence die Freiheit nicht im Hinblick auf seine eigene Leistung, sondern nur zum Ausschalten von Risiken einschränkt, kann dies im Strafrecht nicht umgesetzt werden. Anderes gilt für die Fälle des § 20 GWB, da hier die Marktrnacht nach dem Verhältnis der Betroffenen untereinander bestimmt wird. Die Schwierigkeiten mit den unbestimmten Begriffen im Rahmen des Mißbrauchs von Marktrnacht haben denn auch zu einem nur sehr geringen praktischen Einsatz des § 19 GWB geführt. Allerdings wird zu Recht darauf hingewiesen, daß dem Verbot eine nicht unerhebliche psychologische Wirkung im Vorfeld zugesprochen werden dürfte 293 • Die Problematik in der Erfassung des Mißbrauchs von Marktrnacht läßt wiederum der Verhinderung von Marktrnacht eine große Bedeutung zukommen (in Form des Kartell- und Bindungsverbotes und der Fusionskontrolle, die ggf. durch Entflechtungsregelungen zu ergänzen wäre).
292 293
So K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 193. Vgl. H.-eh. Leo in: GK-GWB, § 19 Rn. 24.
12 Kohlhoff
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5. Verstoß gegen kartellbehärdliche Verfügungen. Verhinderung wettbewerbsgefährdender Marktstrukturen
Neben der Tatsache, daß bestimmte Marktstrukturen bestimmten Verhaltensweisen einen wettbewerbsbeschränkenden Effekt zukommen lassen, ist zu berücksichtigen, daß entsprechende Marktstrukturen auch allgemein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten und Bildung bzw. Anwachsen von Marktmacht begünstigen. Da entstandene Macht in ihren Auswirkungen schwer zu kontrollieren ist, muß ihre starke Akkumulation verhindert werden. Es muß daher ein Anliegen der Kartellbehörden sein, bestimmte Marktstrukturen mit sinnvollen Mitteln zu verhindern. Im Rahmen dieser Verhaltensweisen von Wirtschaftssubjekten kann eine inhaltliche Zweiteilung vorgenommen werden. Denn zum einen geht es um Verstöße gegen Verfügungen, die zur Verhinderung der vorgenannten Strategien in verschiedenen Fällen erlassen wurde. Regelmäßig handelt es sich um eine unvermeidliche Präzisierung des Normbefehls im Einzelfa1l 294 . Auszuscheiden sind lediglich die Verstöße gegen Formalverfügungen - tatbestandlieh zu erfassen sind also nur Verstöße gegen materiell umschriebene Verhaltensverbote im Wettbewerb, nicht gegenüber den Kartellbehörden. Nicht unter die letzte Kategorie fallen jedoch die Verfügungen der Kartellbehörden im Rahmen der Fusionskontrolle. Diese wurde durch die 6. Novelle grundlegend - in Orientierung an der europäischen Fusionskontrolle - umgestaltet und ist nunmehr rein präventiv. Außerdem steht den Kartellbehörden nun die Möglichkeit offen, Fusionsfreigaben offiziell mit justiziablen Bedingungen zu versehen, was die alte Praxis der Absprachen nun auf solidere Füße stellt295 . In solchen Fällen hatten sich die zusammengeschlossenen Unternehmen im nachhinein unter Hinweis auf veränderte Umstände der Umsetzung solcher Absprachen verweigert, und den Kartellbehörden waren in aller Regel die Hände gebunden. Der Fusionskontrolle kommt wohl eine zunehmend größere Bedeutung zu und damit auch der tatsächlichen Umsetzung der mit ihnen zusammenhängenden Verfügungen. Dies ist bei der Überlegung hinsichtlich einer Inkrirninierung von Verstößen gegen diese Verfügungen zu berücksichtigen. Entflechtungen existieren zwar nach deutschem Recht nicht, ihre Einführung ist jedoch aufgrund der Problematik der Existenz großer Marktmacht de lege ferenda zu erwägen. Entflechtungen wiederum bringen zahlreiche Probleme mit sich, vor allem werfen sie die Frage auf, ob der Staat überhaupt über das entsprechende Potential verfügt, eine solche Sanktion gegen einen mächtigen Betroffenen durchzusetzen, und was ein Fehlen ggf. für Konsequenzen haben muß. Das wird in Teil 3 und 4 im Rahmen der Betrachtungen zum Täter des Kollektivstrafrechts vertieft zu diskutieren sein.
294 295
Vgl. K. TIedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 149. Vgl. Bechthold, GWB, § 40 Rn. 17.
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IV. Erste Implikationen für die Bestimmung einer Straftatbestandsstruktur
Als strafwürdig sind also zunächst die Kooperationsstrategien (Kartelle und sonstige abgestimmte Verhaltensweisen) einzustufen. Sie sind tatbestandlich durch das eindeutige Verbot präzise zu beschreiben, auch wenn es hier einige Ausnahmen vom Tatbestand zu erfassen gilt (z. B. Wettbewerbsklauseln in Unternehmenskaufverträgen). Auch die vertikale Kooperationsstrategien haben sich als grundsätzlich strafwürdig herausgestellt. Für Inhaltsbindungen kann dabei an das Verbot im GWB angeknüpft werden. Ausschließlichkeitsbindungen sind nach der heutigen gesetzlichen Fassung (lediglich Mißbrauchsaufsicht) nicht in einem Straftatbestand zu erfassen, so daß hier auch wirtschaftsrechtlich de lege ferenda etwas zu verändern wäre. Die allgemeinen Behinderungen sind ebenfalls als strafwürdig einzustufen. Außerdem können diejenigen Verstöße als strafwürdig bezeichnet werden, die gegen materielle Verfügungen des Bundeskartellamtes im Rahmen der Fusionskontrolle verstoßen. Unter Umständen teilweise strafwürdig, aber nicht präzise genug zu fassen sind die Behinderungsstrategien, die einen Mißbrauch von Marktrnacht sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung darstellen. Sie können daher in ein Kartellstrafrecht nicht aufgenommen werden. Hier ist jedoch an eine Aufnahme bestimmter Formen als strafschärfende Regelbeispiele zu denken. Nicht strafwürdig sind auch die Verstöße gegen lediglich formelle Verfügungen des Bundeskartellamtes. Die Ausführungen bis zu diesem Punkt legen natürlich bereits einige Konsequenzen nahe. Hierbei geht es vor allem um die konsequente Erfassung tatsächlich relevanter Verstöße (also die eigentliche Tatbestandsbestimmtheit), aber auch darum, die Vielzahl der denkbaren Bagatellverstöße, die auch im Rahmen von rechtsgutsverletzenden und den Wettbewerb behindernden bzw. außer Kraft setzenden Verhaltensweisen auftreten können, von der Strafbarkeit auszunehmen.
1. Konsequenzen aus dem Rechtsgutskonzept
Wenn man das Recht als Mittel der Erfassung, des Ausdrucks und der Ermöglichung von Freiheit und die Funktion des Strafrechts im Schutz der grundlegenden Bedingungen unserer Freiheit in der Gesellschaft identifiziert hat, dann wird als Konsequenz deutlich, daß entgegen der nur oberflächlich überzeugenden Kritik die Verletzung eines nicht physischen, relationalen, weil kollektiven Rechtsguts möglich ist und es sich nicht um eine weitere, zu verhindernde Verflüssigung des Rechtsgutsbegriffs handelt: Da die Gesellschaft eine komplexe Struktur hat und nicht nur eine Ansammlung von einzelnen Menschen - auch nicht in ihrer freiheitlichen Verfassung - ist, sie vielmehr gerade auch die Interaktionsprozesse und deren Bedingungen umfaßt, ist ein reales körperliches Substrat eine notwendige Be12*
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dingung weder für den Begriff des Rechtsguts an sich noch für die konkreten eigentlichen realen Schutzgüter des Strafrechts (Grundlagen der Verwirklichung und Sicherung der Freiheit - dies wird allerdings mit dem Inhalt des Rechtsguts weitgehend parallellaufen)296. Zur Begründung der Strafwürdigkeit wurde nun oben zur Konkretisierung einer Verletzung des über das Anerkennungsverhältnis konstituierten Basisvertrauens auf zwei Ansatzpunkte zurückgegriffen: zum einen auf die Einschränkung der Handlungsspielräume in nicht-marktleistungsbezogener Fonn und weiter auf die Erkenntnisse der Wettbewerbstheorie, die in verschiedenen Fällen in der Lage ist, vorherzusagen, daß der Wettbewerb behindert bzw. eingeschränkt wird, und daher von einer Verletzung des Rechtsguts gesprochen werden kann (horizontale Absprachen wie insbesondere Kartelle und vertikale Bindungen). Hier ist die Parallele zum Kernstrafrecht zu suchen bei den Delikten, die Rechtsgüter wie die Rechtspflege oder die grundsätzliche Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen (wie z. B. die Arbeit der Vollstreckungsbeamten) schützen. Die einzelne Tat mag zunächst nicht gravierend erscheinen, im Gesamtzusammenhang ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Nachdem die Bedeutung des Systems für das Individuum festgestellt wurde, gilt es nunmehr, den Fokus auf das System und nicht auf den Einzelnen zu richten. Zum anderen wurde aber an die näher bestimmte Behinderung der Wettbewerber angeknüpft, da diese als Akteure den zentralen Bestandteil des Wettbewerbs ausmachen. Hier ist die Parallele zum traditionellen Strafrecht eher im Bereich der Nötigungsdelikte zu suchen. Dennoch ist es in beiden Grundfallen der Wettbewerb und seine grundlegende Funktionstüchtigkeit, der in den entsprechenden Straftatbeständen zu schützen ist, was auch in der Ausschaltung der dem Wettbewerb immanenten Unsicherheit seinen Ausdruck findet. Im Hinblick auf lediglich die beteiligten Unternehmen bliebe dies unverständlich. Es ist daher verkehrt und irreführend, wenn in der Diskussion um die Submissionskartelle das Vennögen der öffentlichen Hand als Rechtsgut mit untergemischt wurde. Dieses Rechtsgut kann ausreichend geschützt werden durch die Betrugsdelikte. Bei Kartellrechtsdelikten kann es nur um grundsätzlich eine Schutzrichtung gehen. Es werden dann allerdings die einzelnen Akteure des Wettbewerbs mitgeschützt. Das ist aber aus strafrechtlicher Sicht nur ein Reflex, so wie es auch ein Reflex der Aussagedelikte ist, daß Prozeßgegner oder auch Angeklagte davon regelmäßig profitieren. Keine umfangreichen Probleme dürfte letztlich die Fonnulierung des Rechtsgutes ,Wettbewerb' und seine Repräsentation im strafgesetzlichen Tatbestand bereiten. Zunächst ist festzuhalten, daß der Wettbewerb als Institution das strafrechtliche Rechtsgut bildet und damit von zweierlei zu unterscheiden ist: zum einen eben von seiner Repräsentation im Tatbestand in Fonn der Handlungsobjekte; zum 296 Vgl. dazu an dieser Stelle nur noch M. Köhler, AT, S. 24 ff.; R. Zaczyk. Der Begriff der "Gesellschaftsgefahriichkeit" im deutschen Strafrecht, in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Ultimaration-Prinzip, S. 113 ff. (122 ff.).
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anderen von dem empirisch vorzufindenden (realen) Wettbewerb, der (nur) das tatsächliche Ausleben dieses Systems darstellt 297 . Für die Konkretisierung in einzelnen Tatbeständen - vor allem im Rahmen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot und der Bagatellklausel, die mitunter auf den Wettbewerb Bezug nehmen muß kann an die rechtlich zu fassende Kategorie ,Wettbewerb als Entdeckungsverfahren', den Marktleistungsbezug und die Funktion der Wahrung von Chance und Risiko angeknüpft werden, die sich als normative Tatbestandsmerkmale bestimmt genug darstellen lassen müßten 298 . Damit dürfte im Hinblick auf die konkreten Tatbestände und das zu schützende Rechtsgut nunmehr klar sein, daß es sich nicht um Gefahrdungs- sondern Verletzungsdelikte handelt299 .
2. Konsequenzen aus der Art des schädigenden Verhaltens
Nachdem das Rechtsgut umrissen und seine Verletzbarkeit aufgezeigt wurde, bleiben noch im Hinblick auf die Spezifika der schädigenden Verhaltensweisen zwei wesentliche Punkte: die ausreichend bestimmte Beschreibung von Tatbestandshandlungen in einem Kartellrecht und Erfassung der Ausnahmetatbestände, die für das Kartellverbot existieren und deren Prinzip nach der Bewegung im GWB hin zu per-se-Verboten auch für anderen Tatbestände denkbar ist (Vertikalbindungen). Für eine Mehrzahl von Verhaltensweisen kann mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden, daß sie den Wettbewerb nachhaltig schädigen und damit verletzen. Es scheint aber auch möglich, diese Verhaltensweisen ausreichend präzise zu umschreiben und damit strafrechtliche Tatbestände zu konzipieren, die dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügen 3OO • Für das Kartellverbot ergibt sich das aus dem mittlerweile eindeutigen Wortlaut des § 1 GWB als wettbewerblichem ,per se-Verbot'. Alle Formen des horizontalen Zusammenwirkens sind verboten. Daß unabhängiges Parallelverhalten nicht erfaßt wird, ergibt sich daraus selbstverständlich. Nur für die verwaltungsakzessorischen Tatbestände würde sich das Problem im Hinblick auf eine mögliche Blankettnatur der 297 Vgl. dazu nur: J. F. Baur, Das Tatbestandsmerkmal "Wettbewerb", ZHR 1970, S. 97 ff.; zu § 298 StGB auch T. Walter, § 298 StGB und die Lehre von den Deliktstypen, GA 2001, S. 131 134 ff. 298 Eine Kritik der einzelnen GWB-Tatbestände nach altem Recht (1970) im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG findet sich bei U. K. Leistner, Strafrechtliche Aspekte, S. 66 ff., 117 ff. 299 Vgl. exemplarisch hier nur noch einmal T. Walter, § 298 StGB und die Lehre von den Deliktstypen, GA 2001, S. 131 ff. (insbes. 140). 300 Auch im Hinblick auf das schädigende Verhalten finden sich starke Zweifel an der Vereinbarkeit der alten Ordungswidrigkeitentatbestände des GWB (1970) mit Art. 103 Abs. 2 GG bei U. K Leistner, Strafrechtliche Aspekte im Kartellrecht, S. 66 ff. (Kartellverbot), 117 ff. (im Hinblick auf die akzessorischen Tatbestände), S. 132 ff. (Boykott, Zwang und Lockung); die kartellrechtliche Literatur sieht hierin für das Ordnungswidrigkeitenrecht bereits keine Probleme, vgl. G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Aufl., vor § 81 Rn. 28 m. w. N.
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Tatbestände ergeben30I . Die Tatbestände des Boykottaufrufs und des Verbotes von Zwang und Lockung können über das subjektive Merkmal präzisiert werden 302 . Im übrigen kann heute auch auf eine jahrzehntelange Spruchpraxis zu den einzelnen Tatbeständen verwiesen werden, die eine weitgehende Eindeutigkeit auch von Straftatbeständen ermöglichen wird. Es bleibt hier wie auch bei den vertikalen Bindungen also lediglich die Notwendigkeit, die strafrechtliche Erfassung von Bagatellverstößen auszuschließen - darauf ist sogleich gesondert einzugehen. Dies wird jedoch auch bereits dadurch erleichtert, daß entgegen der Fassung des § I GWB für den Straftatbestand die Fälle des reinen (unbeabsichtigten) Bewirkens von Wettbewerbsbeschränkungen über ein Vorsatzerfordernis auszuschließen sind, wobei die strafrechtlich relevanten Fälle des Bewirkens wohl auch noch vom Eventualvorsatz erfaßt werden dürften. Auch hinsichtlich der Bindungen dürfte es kein Problem der Tatbestandsbestimmtheit geben. Bei den genannten Behinderungen wird die Eingrenzung des Tatbestandes mittels des subjektiven Tatbestandselementes der Verdrängungsabsicht erreicht. Hier bleibt zunächst nur der Einwand der schwierigen Nachweisbarkeit bestehen. Verstöße gegen Verwaltungsverfügungen der Kartellbehörden im Bereich der Fusionskontrolle schließlich sind im Hinblick auf die Tatbestandsbestimmtheit unproblematisch. Ein weiteres Problem stellt das Ausschließen der Bagatellverstöße bei horizontalen und vertikalen Absprachen dar. Hier stehen grundsätzlich eine materiellrechtliche und eine prozessuale Lösung zur Verfügung 303 . Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Lösung stehen zwei Möglichkeiten offen: die Einführung von Strafantragserfordernissen (entsprechend z. B. § 248a StGB) und die Nutzung bzw. Erweiterung von Einstellungsmöglichkeiten (§§ 153 ff. StPO). Dabei kommt als Konsequenz der Konzeption des Rechtsgutes im Kartellstrafrecht nur eine Strafantragsbefugnis zugunsten der Kartellbehörden in Frage. Hier steht jedoch als entscheidendes Argument entgegen, daß die endgültige Entscheidung über eine Strafverfolgung in die Hände einer Verwaltungsbehörde gelegt wird, die damit im Hinblick auf ihre zu wahrende Neutralität überfordert werden dürfte 304 • Die Möglichkeiten der §§ 153 ff. StPO können bereits in der heutigen Form zur Ausscheidung von Bagatellen von Nutzen sein, da sie auch in der Lage sind, die fehlende Sozialschädlichkeit bzw. Beeinträchtigung der Freiheitsinteressen zu erfassen305 . 301 Vgl. oben § 2 III. 4.; vgl. zur Behandlung solcher Fälle und vor allem (möglichen) Lösbarkeit des Irrtumsproblems: B. Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 283 ff., insbes. 332 ff. 302 Zu diesen stellt auch bereits U. K. Leistner fest, daß sie keine wesentlichen Probleme bereiten, vgl. ders., Strafrechtliche Aspekte im Kartellrecht, S. 132 ff. 303 Vgl. auch K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 152 ff. 304 So schon K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 153. 305 So schon K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 154; zu der Möglichkeit der Nichtverfolgung von Bagatellen nach den §§ 153 ff. StPO und anderen Regelungen mit kritischer Stellungnahme aus freiheitsgesetzlicher Sicht: M. Köhler; AT, S. 611 ff., der aber gerade auch die Verträglichkeit eines solchen Ansatzes mit der hier vertretenen Auffassung des Strafrechts herausstellt.
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Um dennoch eine sichere Ausscheidung von Bagatellen zu erreichen, müßte ein materieller Ansatz gefunden werden. Dabei könnte nun daran gedacht werden, für diese von einer Sozialadäquanz der bagatellhaften Handlungen auszugehen und sie damit aus dem Tatbestand entgegen dem strikten Wortlaut herauszunehmen. Diese grundsätzliche Möglichkeit ist für das Strafrecht als Notwendigkeit anerkannt, da es zu viele Situationen gibt, in denen ein Tatbestand formuliert werden muß, bestimmte Verhaltensweisen jedoch nicht· durch einfache Merkmale ausgeschlossen werden können 306 . Man könnte natürlich an jeden Tatbestand die Klausel hängen, ,soweit die Handlung nicht sozialadäquat ist' bzw. - nach einer richtigen Präzisierung von Roxin 307 - immer danach fragen, ob das Rechtsgut aufgrund der Geringfügigkeit der Handlung vielleicht gar nicht verletzt ist, wobei sich die Geringfügigkeit dann letztlich eben nach der Sozialadäquanz bestimmt. In diesem Sinne sah der Alternativ-Entwurf zum StGB in § 170308 eine entsprechend ausformulierte Schwereklausel vor, die von einer erheblichen Wettbewerbsbeeinträchtigung sprach. Man ging damals von einer genügenden Bestimmtheit dieses Ansatzes aus, weil ein entsprechender Passus in § 1 GWB enthalten war. Dieser ist mit der 6. Novelle jedoch zu Recht entfallen, da man davon ausgeht, daß eine Absprache mit dem Ziel der Wettbewerbsbeschränkung immer geeignet ist, die Marktverhältnisse zu beeinflussen309 . Für ein Ausscheiden von Bagatellen besteht aber dennoch - auch primär kartellrechtlich - Bedarf, der anhand des alten Auslegungsmaßstabs der ,Spürbarkeit der Beeinflussung der Marktverhältnisse' berücksichtigt wird 3lo . Es ist jedoch verkehrt, diesen Bedarf so stark auszudehnen, daß nur noch im Einzelfall schwerwiegendes Unrecht erfaßt werden soll, so wie Tiedemann es gefordert hat311 • Die Verletzung des Rechtsgutes fängt viel früher an, so daß es nur darum gehen kann, die echten Bagatellen auszuschließen (Bsp.: alle Imbißbudenbesitzer einer (lokalen) Ausgeh-Meile erhöhen die Preise geringfügig - in Anlehnung an ein Beispiel Tiedemanns). So würde niemand ernsthaft vertreten, daß nur die Herstellung oder Verfälschung besonders wichtiger Urkunden in den Bereich der Urkundenfälschung fällt. Ein solches Vorgehen kann wohl damit erklärt werden, daß in solchen Fällen noch eine Orientierung an individuellen Schäden, sei es auch in ihrer Summation, durchschlägt und keine ernsthafte Ausrichtung der Argumentation am Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb' erfolgt. Im weiteren kann daher für die Abschichtung von Bagatellen an die kartellrechtlichen Maßstäbe - Zahl der Wettbewerber, Marktanteile, betroffenes Gebiet etc. - angeknüpft werden, die in entsprechender Regel-Beispiel-Technik in den Tatbestand zu übernehmen wä306 307 308 309 310 3ll
Vgl. hierzu C. Roxin, AT, § 10 Rn. 40. Vgl. C. Roxin, AT, § 10 Rn. 40. Vgl. dazu oben § 2 IV. 3. Vgl. K. Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 145. Vgl. D. Zimmer in: Irnrnenga/Mestrnäcker, 3. Auflage, § 1 Rn. 256 ff. Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 156 f.
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ren 312 . Die von der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Tatbestandsrestriktionen zu § 1 GWB (wie z. B. bestimmte gesellschaftsrechtliche Wettbewerbsverbote bei Unternehmensverkäufen)313 können unproblematisch im Rahmen einer an der Sozialadäquanz orientierten Bestimmung der Rechtsgutsverletzung im Tatbestand erfaßt werden, ohne daß hier eine Erwähnung im Gesetzestext notwendig wäre. Gegen das Bestimmtheitsgebot des § 103 Abs. 2 GG verstößt das aufgrund der mittlerweile jahrzehntelangen Rechtsprechung in diesem Bereich nicht314 . Das gleiche gilt für die Restriktionen im Rahmen von § 14 GWB (Handelsvertreterund Kommissionärsnetze). In der Wettbewerbstheorie wie auch in der Wettbewerbspraxis gibt es jedoch Situationen, in denen zu den gewöhnlichen Umständen (eben z. B. Absprache, Verhaltenskoordinierung i. S. v. § 1 GWB) weitere zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die grundsätzlich verbotenen Verhaltensweisen in einem nunmehr anderen Licht erscheinen lassen, so daß diese daher sinnvollerweise genehmigt werden können und dann letztlich erlaubt sind (z. B. §§ 2 ff. GWB). Für die Regelung des § 8 ist bereits vorgeschlagen worden, sie als eine Form der Rechtfertigung aufzufassen 315 . Dieser Gedanke ist daraufhin zu überprüfen, ob er sich auch auf die anderen Ausnahmen erstrecken läßt, denn es genügt keinesfalls, sich mit der faktischen Problembewältigung zu begnügen316 . Der Unterschied zu herkömmlichen Rechtfertigungsgründen wie beispielsweise § 35 StGB liegt nun darin, daß jene allgemeiner formuliert sind und bei Rechtfertigungsgründen im Kartellrecht nicht jeder einfach ihre Einschlägigkeit selbst beurteilen und dementsprechend seinerseits tatbestandlich - aber dann gerechtfertigt - reagieren kann. Ähnlich, wenn auch unproblematischer, sind die Fälle, in denen ein Kartell angezeigt werden muß und es als genehmigt gilt, solange nicht binnen einer Frist vom Bundeskartellamt widersprochen wird, denn hier kann der Betroffene ja unmittelbar selbst tätig werden. Regelmäßig muß aber eine Behörde erst eine Genehmigung im Hinblick auf das Verhalten erteilen. Solange muß der Betroffene abwarten. Es läßt sich nun zeigen, daß dieser Ansatz noch unter die klassische Sequenz Tatbestand und Rechtfertigung gefaßt werden kann. Es ist kurz zu erinnern, wie das Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigung zu bestimmen ist. Die Rechtfertigung ist der schlichte Ausschluß des Unrechtsurteils. Im Begriff des Unrechts werden 312 Beispielhaft, jedoch nicht voll-inhaltlich, kann hier auf K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 155 ff., verwiesen werden. 313 Vgl. dazu nur D. Zimmer in: Immenga/Mestmäcker, § I Rn. 268 ff.; F. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 7 Rn. 14 ff. m. w. N. 314 Zu den individualstrafrechtlichen Problemen im Rahmen von Tatbestands- und Verbotsirrtum, die wegen der Bedeutung der normativen Tatbestandsmerkmale in einem Kartellstrafrecht eine besondere Relevanz haben, vgl. nur G. Danneckerl J. Biennann in: Immengal Mestmäcker, vor § 81 Rn. 58 ff. m. w. N. 315 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 163. 316 So wie K. Tiedemann dies aufgrund seiner materiell-rechtlichen Fassung der Tatbestände zum Ausschluß der Bagatellverstöße annimmt: ders., Kartellrechtsverstöße, S. 163.
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demgemäß nach traditionellem Verständnis die Kategorien der Handlung, Tatbestandsmäßigkeit und der Rechtswidrigkeit zusammengefaße 17 . Rechtfertigungsgründe zeigen Gründe auf, aus denen das materielle Unrecht der Rechtsgüterverletzung ausgeschlossen ist - nämlich dann, wenn "bei einer Kollision zweier Rechtsgüter das höher bewertete Rechtsgutsinteresse dem geringer bewerteten vorgezogen wird, so daß im Ergebnis trotz der Aufopferung des einen Rechtsgutes ein sozialer Nutzen oder doch wenigstens kein strafrechtlich relevanter Sozialschaden entsteht,,318. Darauf, die Formulierungen im Hinblick auf die freiheitsgesetzliche Bestimmung des Strafrechts zu präzisieren, soll an dieser Stelle verzichtet werden 319 . Entscheidend ist hier die grundsätzliche Abwägung der bei den Rechtsgüter im Kollisionsfall. Im Falle der Ausnahmen vom Kartellverbot in den §§ 2 ff. GWB wird der Wettbewerb, der ja nicht über seine ökonomischen Funktionen bestimmt wird (!), als Rechtsgut geringer bewertet, weil die wirtschaftlichen Auswirkungen des zuzulassenden Kartells stark wiegen und der Wettbewerb nicht so wesentlich eingeschränkt wird bzw. im Einzelfall verzichtbar ist, weil ein nichtwettbewerbliches Verhalten besser funktioniert. Verletzt wird der Wettbewerb zunächst einmal durchaus, denn die charakteristische und so wichtige Unsicherheit wird ja gerade ausgeschlossen. Nach der hier vertretenen freiheitsgesetzlichen Position ist für eine Rechtfertigung durch die Gründe der §§ 2 ff. GWB innerhalb der Systematik der Rechtfertigungsgründe eine neue Kategorie der Rechtfertigung aufgrund des Schutzverzichtes für freiheitliche Institutionen zu bilden 32o . Die Anerkennung kollektiver Strukturen als Garanten der Verwirklichung von Freiheit in der Gesellschaft macht es notwendig, auch Einschränkungsmöglichkeiten vorzusehen. Nicht immer ist dabei der Weg der Ausscheidung als Bagatelle gangbar, wie für die Ausnahmen im GWB. In diesen Fällen kann eine neutrale staatliche Stelle unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtfertigung dann erklären, weil in concreto kein Interesse an diesem Freiheitsdasein formuliert werden kann. Wollte man darauf verzichten, käme man zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß die kollektiven Strukturen fester bzw. unflexibler sind als die individuellen. Daß die Abwägung nicht vom Einzelnen in der konkreten Situation vorgenommen wird, ist lediglich Konsequenz der wettbewerb lichen Situation. Die für die Notwehr spezifische Form der Abwägung gehört nicht zum Begriff der Rechtfertigung an sich. Die Abwägung im Einzelfall einer normalen Rechtfertigungssituation - "liegt ein tatbestandsmäßiger, rechtswidriger Angriff vor?" - ist zwar wesentlich einfacher zu beurteilen. Es handelt sich aber regelmäßig auch um einfacher strukturierte soziale Konflikte in einfach ,natürlich' wahrnehmbaren Relationen. Anders im Kartellrecht. Dort geht es um die Beurteilung komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge. Das kann in Anbetracht der Bedeutung dieses Vgl. hierzu nur C. Roxin, AT, § 14 Rn. I ff. C. Roxin, AT, § 14 Rn. 1. 319 Insoweit soll auf die Ausführungen bei W Schild in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 108 ff. verwiesen werden. 320 In Ergänzung zu M. Köhler; AT, S. 237 ff. 317 318
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
Systems für viele Beteiligte nicht dem Einzelnen in der konkreten Situation überlassen bleiben. Im übrigen sind die Situationen wiederum nicht so gestaltet, daß ein sofortiges, zeitnahes Verhalten erforderlich wäre. Die Zeit, in der das Bundeskartellamt sich mit der Sache befaßt, steht auch zur Verfügung. 3. Konsequenzen aus der Regelungstechnik des GWB
Keine Probleme stellt letztlich die aus der Regelungstechnik des GWB folgende Akzessorietät dar. Eine Blankettnatur der Tatbestände für die als strafwürdig erachteten Verstöße kann nicht bejaht werden 321 . Die Tatbestände der horizontalen Absprachen und vertikalen Bindungen ebenso wie die der Behinderungen schließen nicht mehr an eine Verfügung wie im Rahmen der Mißbrauchsaufsicht an, sondern stellen eigene, genügend klar formulierbare Verbote auf. Nach den hiesigen Vorschlägen zu einer Inkriminierung bleibt daher dieser Aspekt lediglich für die Verstöße gegen Verfügungen im Rahmen der Fusionskontrolle aktuell. Für die letzteren kann aber darauf verwiesen werden, daß die Kartellbehörden eine elementare Aufgabe zum Schutz des Wettbewerbs versehen, so daß auch hier kein Verstoß gegen nur konkretisierendes Verwaltungsunrecht vorliegt, zumal die Fusionskontrolle mittlerweile rein präventiv ausgestaltet ist. Für die Inhaltsbindungen kann, solange diese nicht ,per se' verboten sind, der Weg beschritten werden, den Tiedemann vorgeschlagen hae 22 : Das Hinwegsetzen über die Verfügung soll dann strafbar sein, wenn diese bestandskräftig geworden ist (also nicht bei gravierender und offenkundiger Mangelhaftigkeit) oder die Behörde die sofortige Vollziehung angeordnet und das Beschwerdegericht die Wiederherstellung abgelehnt hat, wobei die nachträgliche Aufhebung der Verfügung als Strafaufhebungsgrund zu fassen ist. Hier wird in aller Regel nur ein Verstoß in einem bedeutenden Fall erfaßt werden, da ansonsten weder die Kartellbehörden die sofortige Vollziehung angeordnet, noch das Gericht diese bestätigt hätte. Das deckt sich allerdings nur zum Teil mit der herrschenden Meinung zur Lösung des Problems der verwaltungsakzessorischen Straftatbestände, die auf die Bestandskraft abstellt, jedoch keine Strafaufhebung bei nachträglicher Aufhebung des Verwaltungsaktes annimmt 323 . VI. Ausblick zur Frage der Stratbedürftigkeit
Wie bereits oben festgestellt wurde, kann die Diskussion über eine Inkriminierung von Kartellrechtsverstößen mit der Feststellung der Strafwürdigkeit, also der grundsätzlichen Gerechtigkeit von Strafe in einem bestimmten Fall 324, nicht stehen Vgl. dazu oben § 2 III. 3. Vgl. K. 1iedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 150 f. 323 Vgl. G. Dannecker / J. Biermann in: Immenga / Mestmäcker, vor § 81 Rn. 49 ff. m.w.N. 324 Vgl. nochmals W. Hassemer in AK-StGB, vor § 1 Rn. 183 ff. (185). 321
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bleiben. Es muß sich die Frage anschließen, ob nicht andere Kriterien - nämlich solche einer noch näher zu bestimmenden Zweckmäßigkeit - vorliegen, die einer Strafbewährung deshalb entgegenstehen, weil entweder das strafrechtliche Instrumentarium nicht für die Lösung des vorliegenden Konfliktes geeignet ist oder aber andere Möglichkeiten des Rechtsgüterschutzes zur Verfügung stehen325 . Hierin können unschwer wesentliche Aspekte des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (i. w. S.) erkannt werden. Die Frage nach der Geeignetheit betrifft die grundsätzliche Eignung einer Maßnahme, den gewünschten Erfolg herbeizuführen, die Frage nach der Erforderlichkeit beschäftigt sich damit, ob nicht ein milderes Mittel mit gleicher Eignung zur Verfügung steht, und die Frage nach der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) handelt von dem Verhältnis von Wirkung einer Maßnahme und Erfolg 326 . Auch wenn die Beantwortung dieser Fragen dem vierten Teil der Arbeit vorbehalten bleibt, soll hier ein kurzer Vorgriff getan werden, um für die Fragen zu sensibilisieren. Dies soll nicht aus spezifisch strafrechtlichem Blickwinkel geschehen, sondern das im Rahmen einer Strafbedürftigkeit zu behandelnde Problem allgemein skizzieren. Der erste Problemkomplex deckt sich auch mit der soziologischen Thematik der Geltung und Wirksamkeit von Recht, die von einer rechtsdogmatischen Perspektive abweicht. Bei der Frage nach der Geltung von Normen aus der juristischen Sicht, bei der es um die Sollensgeltung geht, ist zu ihrer Bejahung wesentlich, daß sie im richtigen Verfahren zustandegekommen sind, nicht aufgehoben wurden und zu höherrangigem Recht nicht in Widerspruch stehen 327 . Die Soziologie fragt nach der Seinsgeltung, der tatsächlichen Wirklichkeit und Wirksamkeit einer Norm in einer konkreten Gesellschaft328 . Dabei wird unterschieden zwischen der Verhaltensgeltung - eigenständige Befolgung durch die Normadressaten - und der Sanktionsgeltung - Tätigwerden der Sanktionsinstanzen durch Zwang zur Befolgung bzw. Bestrafung 329 . Wenn beides zusammen empirisch gemessen wird, kann auf diesem Wege eine Effektivitätsquote gebildet werden, die jedoch recht schnell bei komplexeren Sachverhalten an ihre Grenzen stößt, da die Möglichkeit zur empirischen Überprüfung verlorengeht33o . Darüberhinaus kann die Lehre von der Effektivität nicht die - unbestreitbare - symbolische Geltung von Normen mit einbeziehen 33l . Gerade im Bereich des Strafrechts ein wichtiger, wenn auch nicht entscheidender Aspekt. Von Bedeutung sind gerade im gegebenen Kontext die Erkenntnisse der Rechtssoziologie aus der Implementations- und Evaluationsforschung, die zwei Grundformen der Unwirksamkeit von Gesetzen unterschei325 Zu den verschiedenen Möglichkeiten der sozialen Kontrolle, vgl. W Hassemer in: AKStGB, vor § I Rn. 295 ff. ausführlich m. w. N. 326 Vgl. nur R. Herzog in Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 Abschn. VII Rn. 71 ff. 327 Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 243. 328 Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 244. 329 Vgl. Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 245. 330 Hierzu ausführlich: Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 246 ff. m. w. N. 331 Th. Raiser, Das lebende Recht, S. 249 f. m. w. N.
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Teil 2: Kartellrechtsverstöße als Kriminalstraftaten
det: vorprogrammierte Unwirksamkeit im wesentlichen durch Unzulänglichkeit oder Widersprüchlichkeit der Gesetzeskonzeption - teilweise werden hier auch Aspekte der symbolischen Gesetzgebung behandelt - und das Auftreten unerwünschter Wirkungen und Nebenfolgen 332 . Die möglichen Faktoren einer Unwirksamkeit können dabei fünf verschiedenen Bereichen zugeordnet werden: aus der Sphäre der Norm und des Normgebers, aus der Sphäre der Vollzugs- und Sanktionsinstanzen, aus der Sphäre der allgemeinen Bevölkerung (Rechtsbewußtsein), aus der Sphäre der Bezugsgruppe des Normadressaten oder aus der Sphäre des Normadressaten selbst333 . Für ein Kartellstrafrecht, das maßgeblich auf eine Kollektivstrafe ausgerichtet sein soll, liegt die Vermutung nahe, daß vor allem die letzten drei Bereiche eine Relevanz entfalten. Hinsichtlich der Norm wurde bereits festgestellt, daß eine praktikable Lösung erkennbar ist. Aus der Sphäre des Normgebers ist nicht mit besonderen Überraschungen zu rechnen, da hier der Staat als normaler Strafgesetzgeber auftritt. Für eine mögliche - und vermutlich auch durchaus sinnvolle - hypothetische Analyse des Gesetzgebungsverfahrens für ein Kartellstrafrecht ist hier nicht der Platz. Eine ganz entscheidende Frage der Strafbedürftigkeit ist die nach der möglichen Subsidiarität von Strafe für ein bestimmtes Verhalten gegenüber anderen Formen der Kontrolle bzw. Vermeidung eines solchen Verhaltens 334 . Hierzu wird überwiegend die Ansicht vertreten - in Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz -, daß den Regelungsalternativen der Vorrang gelassen werden müßte, wenn sie genauso geeignet, also effizient wie das Strafrecht sind, aber weniger in die Sphäre des Taters eingreifen. Dies ist aufgrund der hier bezogenen Position zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassung und der Begründung des Strafrechts zumindest nicht so eindeutig wie es allgemein angenommen wird. Wie im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeitet wurde, liegt jedenfalls eine Verschränkung dieser Fragen mit dem Komplex der Kollektivstrafe vor. Die nähere Ausarbeitung hängt von der Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Kollektiv, Juristischer Person und Unternehmen, ihrer Empfanglichkeit für Strafe und vor allem von der damit verbundenen Frage ab, wie ein entsprechend angepaßtes StrafInstrumentarium aussehen könnte, denn Zweifel an der schlichten Übertragbarkeit der auf natürliche Personen zugeschnittenen Freiheits- und Geldstrafe liegen auf der Hand. Möglichkeiten von Regelungsalternativen, die es dann gegen eine denkbare Kollektivstrafe abzuwägen gilt, liegen dabei im Bereich des Kartellprimärrechts, des Zivilrechts (Dritt- und Schadenersatzklagen), des Gesellschaftsrechts, des Kartellverwaltungsrechts und des Ordnungswidrigkeitenrechts.
Vgl. dazu: Th. Raiser; Das lebende Recht, S. 252 ff. m. w. N. Th. Raiser; Das lebende Recht, S. 258 f. und 259 ff. m. w. N. 334 Vgl. W. Hassemer in AK-StGB, vor § 1 Rn. 206, allerdings im Widerspruch zu den Ausführungen vor § 1 Rn. 186 mit Einordnung dieses Kriteriums in den Strafwürdigkeitsdiskurs; wie hier auch K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 174 ff. 332 333
Teil 3
Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts In diesem dritten Teil der Arbeit sollen die Diskussion um die de lege ferenda einzuführende Kollektivstrafbarkeit aufgearbeitet und die Grundlagen für die Konzeption einer Kollektivstrafe gelegt werden, um von dem so erarbeiteten Ergebnis aus im anschließenden Teil 4 die Konzeption von Kollektivstrafrecht und Kollektivstrafe zu skizzieren. Zunächst sollen die rechtstatsächlichen Erkenntnisse zu Straftaten aus dem - im weitesten Sinne - Unternehmensbereich vorgestellt werden, von denen jede weitere Diskussion für oder gegen eine Kollektivstrafe ihren Ausgang nimmt und nehmen muß (§ 7). Vor diesem Hintergrund werden verschiedene in Theorie und Praxis verwandte Konzeptionen vorgestellt, wodurch die große Bandbreite der Diskussion erkennbar wird (§ 8). Daran schließt sich ein Abschnitt an, der einerseits für die Diskussion begriffliche Klarheit schaffen, andererseits die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen für die Fassung des Phänomens ,Kollektiv' herausarbeiten soll, die insbesondere im Verfassungs-, Zivil- und GeseIlschaftsrecht gefunden werden können (§ 9). Nachdem in dieser Hinsicht ein sicheres Fundament erreicht ist, muß im Hinblick auf das Strafrecht ein solches noch geschaffen werden. Dies geschieht in zweierlei Weise: zunächst durch Herausstellen der kollektiv-bezogenen Problemlagen bereits im Individualstrafrecht und andererseits durch nochmalige Vertiefung der dogmatischen Fundamente des Strafrechts, diesmal im Hinblick auf sein Herzstück: die Schuld (§ 10). Diese wird sich als der unhintergehbare, identitätsstiftende Kern des Strafrechts erweisen.
§ 7 Kriminalität aus dem Unternehmensbereich. Rechtstatsachen I. Einführung
Bevor der Weg zu einem Kollektivstrafrecht beschritten und etwaige Probleme en detail behandelt werden können, müssen gleich einführend nochmals ein paar kurze Vorbemerkungen zur Begrifflichkeit dieses Diskurses angebracht werden. Unternehmen, Unternehmensträger, Verband, Organisation, juristische Person und Körperschaft sind die zentralen Begriffe, die in der Diskussion kursieren. Selten sind die Begriffe klar bestimmt (höchstens für ihren jeweiligen, originären Be-
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
reich) und regelmäßig nicht gegeneinander abgegrenzt, so daß ihr Verhältnis untereinander im Dunkeln bleibt. Hier muß Klarheit geschaffen werden. Dabei kann an dieser Stelle jedoch zunächst nur eine Sensibilisierung geleistet werden, denn die richtige Bestimmung der Begriffe und ihres Verhältnisses zueinander kann erst im Laufe der Arbeit erfolgen 1. Es wird mit verschiedenen Begriffen operiert, zum Teil ganz bewußt, zum Teil aber auch unbewußt und damit im negativen Sinne folgenreich, weil bestimmte Probleme verkannt oder aber nicht am richtigen Ort oder in der richtigen Weise behandelt werden. Es werden die Begriffe ,Strafbarkeit juristischer Personen', ,Unternehmensstrafbarkeit' und ,Verbandsstrafbarkeit' verwendet, teilweise parallel, und auch der ursprüngliche Arbeitstitel der vorliegenden Arbeit (,Strafbarkeit juristischer Personen im Kartellrecht') bezog sich noch ausschließlich auf die Strafbarkeit juristischer Personen. Anknüpfend an die kurzen Anmerkungen in der Einleitung ist hierzu nun grundsätzlich folgendes anzumerken: Wer von der ,Unternehmensstrafbarkeit' spricht, knüpft an die empirische, soziale Einheit ,Unternehmen' an; diese kann von mehreren hunderttausend Arbeitnehmern gebildet werden oder nur von einem Einzelkaufmann. Wer an den Begriff ,Verband' anknüpfen will, verfährt zwar ähnlich, denn auch hier geht es um ein soziales Phänomen, schließt jedoch mindestens Einzelunternehmer und regelmäßig auch Zwei-Personen-Konstellationen aus. Wieder anders hingegen muß derjenige verfahren, der von der juristischen Person ausgehen will, da er sich mit einem rechtlichen bzw. rechtlich konstituierten Phänomen auseinandersetzen muß2 . Es soll daher - wie bereits in der Einleitung kurz erwähnt - die These vorangestellt werden, daß Verband, Unternehmen und juristische Person gleichermaßen Relevanz für ein Kollektivstrafrecht besitzen und daher deren Einheit Gegenstand des Strafrechts sein muß. Für die Einheit wird einstweilen der Begriff ,Kollektiv' vorgeschlagen und auch im weiteren verwandt. Es erscheint nun naheliegend, daß den empirischen Grundlagen - und dazu zählen in diesem Zusammenhang primär Unternehmen und Verband - eine besondere Bedeutung zukommt: zum einen insofern, als daß sie Ausgangspunkt kriminalpolitischer Ambitionen im Hinblick auf eine Kollektivstrafe sind. Zum anderen ist es auch wahrscheinlich, daß den spezifischen Charakteristika der - allgemein gesprochen - (menschlichen) Gruppe eine besondere Relevanz im Hinblick auf ein Verständnis des Kollektivs und den Aufbau eines solchen Strafrechts zukommen muß. Daß dies nicht vom Ausgangspunkt einer juristischen Person als Strafrechtssubjekt funktionieren kann, scheint intuitiv richtig. So ist wohl letztlich auch davon auszugehen, daß diejenigen, die von der Strafbarkeit einer juristischen Person sprechen, diesen Begriff entweder als eine Art ,pars pro toto' verwenden oder bereits den einzelnen Menschen als juristische Vgl. § 9 III. 3. Diese Unsicherheit wird konsequent ausgedrückt in dem Titel des von A. Eser / G. Heine / B. Huber herausgegebenen Sammelbandes "Criminal responsibility of legal and collective entities", der eigentlich nur gewählt worden sein kann, weil etwa die verschiedenen Rechtsordnungen hier unterschiedliche dogmatische Ansätze verfolgten. I
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§ 7 Kriminalität aus dem Unternehmensbereich. Rechtstatsachen
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Person untersuchen und dem nur noch die kollektive juristische Person entgegensetzen - was dann wiederum der hiesigen Position im Ergebnis, allerdings wohl nicht in den entscheidenden Details nahekommen dürfte 3 . Auch als Einleitung für diesen gesamten Abschnitt (Teil 3), vor allem aber, um die Bedeutung der empirischen Probleme für die Lösung der Frage nach einem Kollektivstrafrecht zu unterstreichen, sollen hier kurz die Argumente für eine Verbandsstrafe zusammengefaßt werden. Oben wurde lediglich festgehalten, daß häufig als Argument gegen eine Strafbarkeit juristischer Personen ins Feld geführt wird, es spräche ihre mangelnde Straffähigkeit gegen eine Einführung und es müßten zentrale dogmatische Positionen des überkommenden Strafrechts für deren Einführung stark relativiert bzw. aufgegeben werden4 ; dies noch dazu ohne Not, da die Probleme durchaus auch - und somit vorrangig - außerhalb des Strafrechts gelöst werden könnten. Als Argument für eine Einführung wird von den Befürworten die immer bedeutendere Rolle der überwiegend in Verbandsform organisierten Unternehmen in der Gesellschaft ins Feld geführt und die Tatsache, daß immer häufiger die Gesamtbetrachtung der Ereignisse das Unternehmen als solches bzw. präziser: den Verband als den Nutznießer der Tat und den eigentlichen Täter dastehen lasse. Das betreffende Unternehmen könne sich jedoch durch die - einzig mögliche - Bestrafung einzelner Individuen von einer eigenen Verantwortung nach außen hin befreien. Das ggf. verurteilte Individuum wiederum könne häufig dadurch entlastet werden - bzw. werde auch in der (vom BGH mittlerweile abgesegneten 5 ) Praxis auf diesem Wege entlastet -, daß ihm die an seinen Verhältnissen bemessene Geldstrafe vom Unternehmen abgenommen wird. Die Geldstrafe würde zum bloßen Rechnungsposten, ebenso die eigene Geldbuße des Unternehmens oder die verhängten Maßnahmen des StGB, die erhebliche Lücken ließen. Die Befürworter halten die dogmatischen Probleme ohne Aufgabe von unveräußerlichen Grundsätzen des Strafrechts für lösbar. Folgende Problemkomplexe können grob unterschieden werden: (i.) die strafrechtliche Handlungsfähigkeit von Verbänden, die - so sie bejaht wird - entweder als selbständige Handlungsfähigkeit aufgefaßt wird oder über eine Zurechnung konstruiert wird; (ii.) die Anwendbarkeit des Begriffes der strafrechtlichen Schuld und 3 Daß dies nicht notwendig ist, zeigen die Ausführungen von R. Scholz. Strafbarkeit juristischer Personen?, ZRP 2000, S. 435 ff. (438 f.), der eine strafrechtliche Konzeption in der Art der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Lösung vorschlägt und damit die juristische Person letztlich nur als strafrechtliches Sanktionssubjekt bzw. eigentlich nur Sanktionsobjekt betrachtet; dies folgt noch nicht einmal aus der zentralen Stellung der Schuld, die dort für den Verband mangels Verschuldensfähigkeit abgelehnt wird, sondern vor allem daraus, daß in diesem Modell keine eigentliche strafrechtliche Taterschaft möglich ist - hierfür ist eine reine naturalistisch zugerechnete Handlungsfähigkeit - und mehr wird nicht angeboten nicht ausreichend. 4 Vgl. oben § 3 I. 3. 5 Vgl. BGH MDR 1991, S. 268 f. (269).
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der Schuldfahigkeit bzw. mögliche Alternativen dazu, wo die sozial-ethische Konzeption der strafrechtlichen Schuld Probleme bereitet. Auch bewegen sich die Lösungsansätze zwischen der Annahme einer eigenen Schuldfähigkeit und der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer objektiven Zurechnung; (iii.) die Unvereinbarkeit des Wesens der Strafe in unserem Rechtssystem mit einer als Strafe ausgegebenen Sanktion gegen Verbände, denen auch eine Straffähigkeit im Sinne einer Strafempfänglichkeit abgesprochen wird. Die Argumente für eine Straffähigkeit und Konzeption von Verbandsstrafen hängen dabei naturgemäß maßgeblich mit der in der Schuld- bzw. Schuldfähigkeitsfrage bezogenen Position zusammen; (iv.) die Frage, ob es nicht zu einer Situation der Doppelbestrafung komme, da Strafe gegen den Verband und gegen die handelnden Individuen parallel auftreten könnten, und die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit einer Verbandstrafe, bei der es darum geht, ob unschuldige Verbandsmitglieder nicht mit bestraft würden. 11. Allgemeine kriminologische Erkenntnisse zur Wirtschaftskriminalität
Werden nun im folgenden die Hintergründe für Verbrechen im und aus dem Unternehmensbereich näher beleuchtet, muß sich die hier zu stellende Frage notwendigerweise in zwei Teilfragen aufspalten: Welche kriminologischen Erkenntnisse hat man für die Straftaten der Einzelnen im Zusammenhang mit Unternehmen gewinnen können?; und dann weiter: Was sind die spezifischen Ursachen, die besonderen kriminogenen Faktoren des Unternehmensbereiches, die für diese Taten charakteristisch sind? Dabei sind vor allem auch Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Organisations- und Managementlehre interessant, auch wenn diese keinen kriminologischen Blickwinkel einnehmen. Die vorliegenden Fragestellung steht dem Bereich des sog. "White-Collar-Crime" nahe bzw. überschneidet sich mit ihm. Unter dieser Kriminalitätsform werden solche Verhaltensweisen verstanden, die sozial widrig und auf Bereicherung ausgerichtet sind, wobei es auf zweierlei besonders ankommt: das Voraussetzen der Gesetzestreue aller übrigen und das Ausnutzen des ihnen entgegengebrachten Vertrauens, was durch die Wahrung des Scheins der Legalität erreicht wird6 . Dabei ist das Unrechtsbewußtsein gar nicht bzw. schwach ausgeprägt oder es wird gänzlich verdrängt. Vor allem ist die Tatsache herauszuheben, daß die Tat in Ausübung der beruflichen Rolle passiert, wobei vor allem auf den Untemehmens- bzw. Verbandsbereich abgezielt wird 7 . Weniger entscheidend ist wohl aus heutiger Sicht die Schichtzugehörigkeit - anders als noch zur Zeit der Entstehung dieses Konzeptes. Insgesamt steht das Wirtschaftsdelikt im Mittelpunkt der Betrachtung. 6 Vgl. zum folgenden nur G. Kaiser; Kriminologie, § 72 Rn. 6 ff.; Göppinger; Kriminologie, S. 541 ff., H.-J. Schneider; Wirtschaftskriminalität, in: ders., Kindlers ,Psychologie des 20. Jahrhunderts': Kriminalität und abweichendes Verhalten, Bd. I, S. 349 ff.,jeweils m. w. N. 7 Vgl. exemplarisch die Fokussierung bei: G. Kaiser; Kriminologie, § 73.
§ 7 Kriminalität aus dem Unternehmensbereich. Rechtstatsachen
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Dabei sind die Erkenntnisse hinsichtlich des Taterkreises nicht sehr umfänglich, vor allem ist wohl die gesellschaftliche Normalität der Delinquenten erwähnenswerts. Charakteristisch ist weiter die Verletzung von überindividuellen Rechtsgütern des Wirtschaftsrechts, die Anonymität der Tat und die Verflüchtigung der Opfereigenschaft9 . Nach dem tangierten strafrechtlichen Schutzbereich unterscheidet Kaiser vier Fallgruppen 10: (1) Straftaten gegen Bank-, Versicherungs- und Börsen wesen, die allgemeine Wettbewerbsfreiheit, Untreue, Insolvenzdelikte, Urheber- und Warenzeichenrecht; (2) Steuer- und Abgabenhinterziehung, Zolldelikte, Subventionsbetrug, Vorteilsgewährung und Bestechung; (3) Verstöße gegen Jugendschutz und Arbeitsschutzgesetze, das Sozialversicherungsrecht, Lebensmittelund Warenfälschungen, Verbraucher- und Umweltschutzdelikte; (4) Betrug und Wucher. Diese vier Bereiche stellen - unschwer zu erkennen - die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dar, die wirtschaftlich durchdrungen sind und in denen Unternehmen eine zentrale Rolle einnehmen (Beziehungen des allgemeinen Wirtschaftslebens, Beziehungen zum Staat, allgemeine Beziehungen zur Gesellschaft und speziell wirtschaftliche Beziehungen zur Gesellschaft). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die bundesweite Erfassung von Straftaten zeigt, daß zwei Drittel aller Fälle von Wirtschaftskriminalität unter dem Mantel einer Einzelfirma oder einer hande1srechtlichen Gesellschaft (vor allem GmbH, OHG oder KG) begangen werden 11. Bereits insofern kann von einer spezifischen Unternehmenskriminalität (im empirischen Sinne) gesprochen werden. Hinsichtlich des Kartellrechts liegt es in der Natur der Sache, daß ein Zusammenhang zu einem Unternehmen besteht. Ob daraus die Konsequenz zu ziehen ist, ein originäres Unternehmensstrafrecht l2 zu konzipieren, wird kritisch zu hinterfragen sein. Die Schäden aus der Wirtschaftskriminalität werden allgemein als erheblich eingeschätzt, wobei die konkrete Feststellung allerdings mit der großen Unsicherheiten behaftet ist 13 • 8 Vgl. G. Kaiser, Kriminologie, § 73 Rn. 4; H.-J. Schneider, Wirtschaftskriminalität, in: ders., Kindlers ,Psychologie des 20. Jahrhunderts': Kriminalität und abweichendes Verhalten, Bd. I, S. 349 ff. (355 ff.). 9 Vgl. G. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rn. 5; Göppinger, Kriminologie, S. 542; H.-J. Schneider, Wirtschaftskriminalität, in: ders., Kindlers ,Psychologie des 20. Jahrhunderts': Kriminalität und abweichendes Verhalten, Bd. I, S. 349 ff. (358 ff.) 10 Vgl. G. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rn. 7; zu den Versuchen einer Kategorisierung der sog. White-Collar-Kriminalität oder allgemeiner Wirtschaftskriminalität: H.-J. Schneider, Wirtschaftskriminalität, in: ders., Kindlers ,Psychologie des 20. Jahrhunderts': Kriminalität und abweichendes Verhalten, Bd. I, S. 349 ff. (351 ff.) m. w. N. 11 Vgl. G. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rn. 15 m. w. N. 12 So der Vorschlag von U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, passim; allerdings differenziert sein Vorschlag im Rahmen der Sanktionssubjekte nach Individuen und Unternehmen. 13 Die Schäden wurden bereits in den 80er Jahren des 20. Jh. im zwei- bis dreisteIligen Milliarden-Bereich geschätzt, vgl. U. Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rn. 19 m. w. N.; allgemein zu den möglichen Schäden und den Problemen der Schadensermitllung: ders., a. a. 0., § 47 Rn., 16 ff.; Göppinger, Kriminologie, S. 543.
13 Kohlhoff
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Rückschlüsse können für das Kartellrecht aus den Erkenntnissen zur Bußgeldpraxis des Bundeskartellamtes gezogen werden l4 . Fast die Hälfte der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren von 1962-1982 betrafen Unternehmen selbst, natürliche Personen als Tater entstammten zu zwei Dritteln dem oberen Management, nur 2% waren Angestellte unterer Stufen. Es wurden einzelne UnternehmensgeldbuBen in bis zu zweistelliger Millionenhöhe verhängt bei volkswirtschaftlichen Schäden, die insgesamt auch in Einzelfallen in den dreistelligen Millionenbereich gingen. Der Öffentlichkeitsarbeit des Bundeskartellamtes - also vor allem den Pressemitteilungen über Verfahrenseinleitungen - wird eine besondere Bedeutung zugemessen, obwohl sich der präventive Effekt (auch hier) nur schwer empirisch belegen läßt. IH. Die Ursachen: Kriminogene Faktoren
Am Anfang steht die Erkenntnis, daß es Straftaten gibt, die aus dem Bereich von Unternehmen kommen und deshalb spezifisch und insofern auch problematisch sind, weil zwar eine natürliche Person oder mehrere tätig werden, es letztlich jedoch das Unternehmen ist, das hiervon profitiert; regelmäßig kann dann entweder niemand strafrechtlich "belangt werden" oder nur einzelne Personen. Deren dann zu beurteilende Handlungen oder die ihnen zugerechnete Verantwortung spiegeln jedoch nicht die Tat als Ganzes wider - sowohl was den Tathergang als auch die Rechtsgutsverletzung angeht. Es geht bei den relevanten Konstellationen immer um zumindest auch altruistisch motivierte Taten, bei denen ein Vorteil im Unternehmen verbleibt. Das Thema spezieller kriminogener Faktoren im Unternehmensbereich geht zurück auf Richard Busch, der in seiner Arbeit zur Strafbarkeit von Verbänden erstmals die These aufstellte, daß sich Mitglieder von Verbänden in einem spezifischen Spannungsfeld von eigenen Interessen bzw. Einstellungen und den abweichenden Interessen des Verbandes bewegten l5 . Die starke Bindung an die Gemeinschaft führe zu einer Überbewertung der Interessen des Verbandes und mache die Begehung krimineller Taten, die das Individuum für sich nicht begehen würde, erst möglich. Es komme insoweit zu einer Aufhebung der normalen seelischen Hemmungen, denen der einzelne im sozialen Leben unterliege. Dies werde durch die altruistische Struktur der Verhaltensweisen begünstigt. Unter diesen Bedingungen müsse individuelle Schuldzurechnung versagen und die notwendige präventive Wirkung ausbleiben. Diese Thesen haben mittlerweile Bestätigung aus der psychologischen, organisationssoziologischen und kriminologischen Forschung erhalten l6 . Zwei prägende Faktoren für die krimonogene Wirkung der VerbandszugeVgl. zum Ganzen: G. Kaiser, Kriminologie, § 74 Rn. 20 ff. Vgl. R. Busch, Verantwortlichkeit der Verbände, S. 98 ff. 16 Vgl. dazu nur B. Schünemann, Untemehmenskriminalität, S. 19; ein kurzer Überblick über die psychologischen und soziologischen Beiträge zur Kriminologie findet sich in den 14
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hörigkeit können wohl unterschieden werden, wobei von einer gegenseitigen Bedingtheit gesprochen werden kann 17: die fehlerhafte Organisation, welche die Begehung ermöglicht, und der kriminelle Verbandsgeist bzw. die kriminelle Verbands- oder Unternehmenskultur l8 . Im Bezug hierauf können bzw. werden regelmäßig neben den internen Bedingungen auch Umstände aus der Umwelt des Unternehmens zusätzliche Relevanz entfalten, wie z. B. Wettbewerbssituation, konjunkturelles oder politisches Klima l9 . Es ist im übrigen auch denkbar, die Zweiteilung aufzuheben und die einzelnen Faktoren nebeneinander zu behandeln2o . 1. Der organisatorische bzw. strukturelle Aspekt Zunächst zur fehlerhaften Organisation: Sie schafft günstige Rahmenbedingungen, welche die Begehung von altruistischen (primär für das Unternehmen begangenen) Straftaten nicht nur nicht verhindern, sondern sogar fördern. Hier ist die für Unternehmen natürliche Arbeitsteilung zu nennen, die jedoch ab einer bestimmten, schnell erreichten Größe des Unternehmens eine solche Komplexität annehmen kann, daß für den Einzelnen die Tragweite oder sogar die eigentliche Bedeutung seiner Handlung nicht mehr zu übersehen ist. Möglich ist auch, daß ein Unternehmensmitglied im Vertrauen auf die noch erfolgende Kontrolle durch eine übergeordnete Instanz damit rechnet, daß ein möglicher Fehler oder zu großes Risiko schon auffallen würde 21 . Die Unternehmensleitung wiederum ist vom operativen Tagesgeschäft so weit distanziert (und muß dies natürlich regelmäßig beiden Aufsätzen von A. J. Reiss Jr., Soziologische Einflüsse auf die Kriminologie, und D. M. Gattfredsan, Psychologische Einflüsse auf die Kriminologie, beide in: H.-J. Schneider (Hrsg.), Kindlers ,Psychologie des 20. Jahrhunderts': Kriminalität und abweichendes Verhalten, Bd. 1., S. 3 ff. bzw. S. 19 ff. 17 Vgl. dazu A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 143 ff. m. w. N. vor allem zum amerikanischen Schrifttum; G. Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 27 ff.; E. Müller; Die Stellung der juristischen Person, S. 4 ff.; A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 8 ff.; Th. Ratsch, Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 23 ff., 71 ff.; B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 19 ff., jeweils m. w. N. 18 Unter Umständen sind drei Faktoren zu unterscheiden: neben der fehlerhaften Organisation und dem organisationspsychologischen Faktor noch die risikoorientierte Prägung der Zusammenhänge; vgl. die neue Untersuchung von Th. Ratsch, Individuelle Haftung in Großunterehmen, S. 41 ff., 83. 19 Vgl. A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 146 und in Fn. 32, m. w. N. 20 So z. B. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 22 ff.; im hiesigen Sinne: z. B. A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 143 ff. 21 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 24, der darauf hinweist, daß damit der Möglichkeit, innerhalb eines Verbandes objektive Verantwortung nach unten zu delegieren, das subjektive Verantwortungsgefühl des Einzelnen, gerade keine Verantwortung übernehmen zu müssen, entgegengesetzt ist; auch ausführlich G. Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 31 ff.; ders., Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 121 ff. (122 ff.). 13*
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auch sein), daß sie kaum effektiv gegensteuernd in problematische Situationen eingreifen kann, zumal häufig ein Informationsdefizit vor allem hinsichtlich negativer Nachrichten besteht22 . Diese Entkoppelung der Verantwortung wird durch komplexere Organisationsstrukturen zunächst bedingt, aber vor allem noch dadurch verstärkt, daß die modeme Unternehmensorganisation sich zunehmend selbstorganisatorischer Eigendynamiken bedient, indem sie selbständige, mit umfänglicher Entscheidungsmacht versehene Unternehmenseinheiten konzipiert (sogenannte "decisionmaking units,,)23. Es scheint sinnvoll, zwischen organisierter Unverantwortlichkeit und nicht finaler, strukturell bedingter Unverantwortlichkeit zu unterscheiden 24 . In Konsequenz ist es dann unmöglich, einzelne Tatvorgänge zu rekonstruieren dies ist eine strafrechtliche bzw. strafprozessrechtliche Perspektive der tatsächlichen Beweisbarkeit; oder für den Fall, daß eine Rekonstruktion doch gelingen sollte, verhindert es die Organisation, diese zu einzel- oder mittäterschaftlichen Straftaten zusammenzufassen - die Auswirkungen bzw. Folgen solcher Straftaten liegen aber im Ergebnis vor! Dieser Gedanke ist ja auch in dem Schlagwort von der ,organisierten Unverantwortlichkeit' niedergelegt25 - dies ist eine strafrechtliche Perspektive der dogmatischen Erfaßbarkeit. Hier liegen einige entscheidende kriminalpolitische Argumente für ein Unternehmensstrafrecht. 2. Der psychologische Aspekt
Neben der fehlerhaften Organisation wird als zweiter kriminogener Faktor die Gesamtheit der psychologischen Bedingungen in Verbänden betrachtet. Das Schlagwort ist hier die "kriminelle Unternehmenskultur" (altmodischer: der ,,kriminelle Verbandsgeist''). Es ist aber unter analytischen Gesichtspunkten sinnvoll, zwischen den empirischen Erkenntnissen und den daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen und Theorien zu unterscheiden. Die empirischen Zusammenhänge sind von kriminologischer, psychologischer und organisationssoziologischer Seite aus untersucht worden. Zunächst zur kriminologischen Forschung: Hier haben bereits die Untersuchungen von Edwin H. Sutherland darauf hingewiesen, daß das Verhalten der an Verbandsdelikten beteiligten Personen nicht durch eine individualisie22 Vgl. A. Ehrhardt, Unternehmensde\inquenz, S. 147 f. m. w. N.; ausführlich G. Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 44 ff. 23 Vgl. A. Ehrhard, Unternehmensdelinquenz, S. 148 m. w. N.; auch A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 41 ff. zu den Verantwortungsstrukturen in Unternehmen; allgemein zu dem Verhältnis von Organisation und spontaner Ordnung und deren (begrenzter) Kombinierbarkeit vgl. F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 90 ff. 24 Vgl. nur G. Heine, Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 121 ff. (122). 25 Vgl. G. Stratenwerth, Strafrechtliche Unternehmenshaftung, in: FS-Rudolf Schmitt, S. 295 ff. (301 ff.).
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rende Theorie erklärt werden kann26 . Der dahinter liegende Wirkrnechanismus wird als ,,kollektive Neutralisierung" beschrieben, die eine besondere Erscheinungsfonn der psychoanalytischen Kategorie der "Rationalisierung" darstellt27 . Bernd Schünemann hat zu Recht mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß auch die Verbrechen des Nationalsozialismus, in die ganze Teile einer Bevölkerung durch eigene Beiträge involviert waren, einen besonderen Beleg für die Existenz und die Wirksamkeit dieses Mechanismus bringen 28 . Weiter ist die Erkenntnis, daß der Mensch in einem hierarchischen System auch gegenüber evident verwerflichen Befehlen Gehorsam zeigt, auf experimentellem Wege in der Psychologie durch Stanley Milgram bestätigt worden 29 . Auch die Organisationssoziologie bestätigt den kriminologischen Befund3o . Diese Erkenntnisse zusammengenommen bedingen einige Schlußfolgerungen wobei die erste Schlußfolgerung natürlich nicht lautet, daß die Eingliederung in den Verband als solche schon kriminogen ist 31 • Es kann vielmehr von einer kriminellen Verbands- oder Unternehmenskultur - englisch oder neudeutsch: corporate culture - gesprochen werden als Ursache für das Auftreten von Straftaten aus dem Unternehmensbereich. Damit ist präzisiert folgendes gemeint: Die Bedingungen im Unternehmen bewirken, daß auch der sonst sozial angepaßte und für sich rechts treue Einzelne Hemmungen, bestimmte strafrechtlich relevante Dinge zu tun, verliert (eben durch die Wirkung der Neutralisation). Schünemann hat dies die "kriminelle Verbandsattitüde" genannt32 • Im Bereich der egoistisch orientierten Delikte (Delikte mit überschießender Innentendenz) kommt hinzu, daß das Gefühl des altruistischen Handeins das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, zusätzlich überlagert; weiter ist der Einzelne in ein soziales Abhängigkeitsverhältnis gebunden, da der Verlust des Arbeitsplatzes weitreichende negative Konsequenzen haben kann. Aufgrund dieses Verhältnisses wird die Begehung einer Straftat sogar dann noch akzeptiert, wenn die Unrechtlichkeit bewußt ist, wobei dieses Bild im Bereich der Wirtschaft auch noch dadurch komplizierend zu ergänzen ist, daß den relevanten Delikten eine gewisse "Rechtsgutsfeme" diagnostiziert werden muß 33 , 26 Vgl. E. H. Sutherland, White-Collar-Crime, S. 257 ff., 264; ders., White-Collar-Kriminalität, in: F. Sack/R. König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 187 ff. (198 ff.). 27 Vgl. G. M. Sykes/D. Matza, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: F. Sack/ R. König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, S. 360 ff.; vgl. auch B. Schünemann, Untemehmenskriminalität, S. 20 f. 28 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 21 m. w. N. 29 Vgl. S. Milgram, Das Milgram-Experiment, S. 22, 155 ff., 158 ff.; dazu und zu möglichen Schlußfolgerungen für das Strafrecht vgl. auch: W Kargi, Die Funktion des Strafrechts, passim, insbes. S. 21 ff. 30 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 21 f. m. w. N. 31 Vgl. auch B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 22. 32 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 22; hierzu und auch zum weiteren: G. Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 47 ff. 33 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 23.
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womit zumindest die fehlende Greitbarkeit der Verletzung der Rechtsgüter gemeint ist, sei es aufgrund des Summationseffektes verschiedener an sich unproblematischer Verhaltensweisen oder aufgrund der immateriellen Struktur eines Rechtsgutes wie im Falle eines Kartellstrafrechts. Dem Einzelnen vermittelt diese Distanz zur Verletzungsproblematik das Gefühl ethischer Neutralität seiner Handlungen, was dadurch gefördert wird, daß die Primärsozialisation sich ganz überwiegend auf eine recht "grobkörnige" Erfassung unmittelbarer Interaktionsbeziehungen bezieht34 . Eine negative, d. h. kriminogene Unternehmenskultur wird insgesamt dadurch charakterisiert, daß die Begehung von Straftaten für das Unternehmen durch diese Umstände gefördert, honoriert oder zumindest toleriert wird, da es aufgrund der Bekanntheit der kriminogenen Umstände jedem Unternehmen auch möglich ist, solchen Tendenzen entsprechend entgegenzuwirken. Die insoweit vorhandenen kompensatorischen Kräfte der unternehmensinternen Kontrolle werden auch als gewichtige kriminoresistente Faktoren ins Feld geführt, die gegen eine besondere Behandlung von Kriminalität aus dem Unternehmensbereich sprächen 35 • Aber gerade der Umkehrschluß ist richtig: da es in der Möglichkeit des Unternehmens liegt, selbst weitgehend die Begehung von Straftaten aus seinem Bereich zu verhindern, muß die trotz alledem erfolgte Begehung einer Straftat als Beleg für eine entsprechend fördernde Unternehmenskultur im Einzelfall gesehen werden. Aus diesem Rahmen fallen lediglich die Exzesstaten heraus, auf die gleich noch einzugehen sein wird. 3. Besonderheiten für das Kartellrecht ? Phänomenologie von Kartellrechtsverstößen
Im zuletzt genannten Zusammenhang der unternehmensinternen Kontrolle hat wiederum Schünemann bereits darauf hingewiesen, daß im Bereich der psychologischen Faktoren aus dem Unternehmensbereich eine wichtige Unterscheidung zu machen ist, die gerade für die Situation im Kartellrecht Relevanz entfalten kann: Wenn auf die Möglichkeit der internen Kontrolle hingewiesen wird, so scheint es sinnvoll, zwischen den Kontrollierten (Angestellte vor allem der unteren und mittleren Organisationsebenen) als den "Opfern" des "kriminellen Verbandsgeistes" und den Kontrollierenden (Angehörige der obersten Leistungsebene) als den Schöpfern dieser Bedingungen zu differenzieren 36 . Für die Schöpfer der ,,kriminellen Verbands attitüde" aber sollen die kriminogenen Faktoren nur begrenzt gelten. Schünemann hat daraus die Konsequenz gezogen, daß diese Delikte keine anderen Erklärungen erfordern als herkömmliche Individualtaten. Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 22 m. w. N. Vgl. zu diesem Argument und seiner Ablehnung auch: B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 24 ff. 36 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 27 f. 34 35
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Das wird an dieser Stelle bezweifelt. Besondere Relevanz dürfte jedenfalls auf dieser Ebene dem Umstand der ,Neutralisation' und der altruistischen Begehungssituation beizumessen sein37 . Wenn man nun versucht, eine Phänomenologie von Kartellrechtsverstößen zu entwickeln, so weicht diese von derjenigen gängiger Unternehmens- oder Verbandsdelikte ab, wie sie insbesondere im Umweltstrafrecht angetroffen werden können 38 . Sind für diesen ,Normalfall ' vor allem auch die arbeitsteiligen und hierarchischen Strukturen prägend, die zunächst eine unklare PfIichten- und Verantwortungslage und im weiteren die Beweis- und Zurechnungsprobleme bei der Strafverfolgung bedingen, so ist dies für das Kartellrecht von wesentlich geringerer, wenn nicht sogar von zu vernachlässigender Bedeutung. Ebenso ist die Gefahr der Risikopotenzierung nicht in ähnlichem Maße gegeben. Denn für das Kartellrecht kann festgestellt werden, daß das Verhalten des Unternehmens nur durch das Verhalten von Mitarbeitern des höheren Managements und insbesondere der Unternehmensleitung maßgeblich geprägt wird. Nur diese verfügen über die notwendige Kompetenz und Verantwortung im Unternehmen. Dem Exekutivorgan des Unternehmens - also Vorstand, Geschäftsführung, Board of Directors etc. - ist grundsätzlich die Aufgabe übertragen, mit anderen Firmen Verhandlungen von unternehmensweiter Bedeutung zu führen, gegebenenfalls ebensolche Verträge abzuschließen und damit in Zusammenhang stehende oder auch losgelöste strategische Entscheidungen über andere Verhaltensweisen und Positionierungen im Markt zu treffen39 . Es können hier also wieder das Feld der Verhandlungsstrategien, das die horizontalen Kartell- und der Vertikalvereinbarungen betrifft, und das Feld der Behinderungsstrategien unterschieden werden. Zu der ersten Gruppe können auch die Fusionsvereinbarungen gezählt werden. Wenn an den tatsächlichen Verhaltensweisen, also der Durchführung der Wettbewerbsbeschränkungen, natürlich ganze Bereiche des Unternehmens beteiligt sein werden, so liegt die eigentliche Entscheidung doch auf der Leitungsebene. Von Bedeutung bleiben aber nach wie vor: der psychologische Faktor der Neutralisierung und Potenzierung und die typische Konstellation des Verfließens der Grenzen von Begehen und Unterlassen. Das führt in diesem Zusammenhang eigentlich zu einer etwas anderen Bewertung der üblichen Argumentationen pro Verbands strafe. Dabei können an diesem Punkt der Arbeit vor allem zwei Konsequenzen formuliert werden: Einerseits die Konsequenz Schünemanns, daß es sich in diesen Fällen tatsächlich nicht um die typischen Fälle oder Erscheinungsformen der Unternehmens- bzw. Verbandskriminalität in dem Sinne handelt, wie sie regelmäßig thematisiert wird; andererseits die - noch eher thesenartige - Schlußfolgerung, daß es sich hier um den eigentlich Vgl. dazu später ausführlich: § 10 I. und § 11 1. 3. Nicht umsonst beschäftigen sich zwei der maßgeblichen Monographien zu diesem Thema mit der Situation des Umweltstrafrechts, vgl. G. Heine. Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 27 ff., 149 ff., passim; A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 127 ff. 39 Vgl. nur A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 329. 37 38
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bedeutsamen Fall dieser Art von Kriminalität handelt, an dessen besonderem Maßstab sich eine überzeugende Begründung eines Kollektivstrafrechts messen lassen muß! Würde man es bei dem Fokus auf Hierarchie-bedingte Delikte belassen, würde das psychologische Moment nur sehr einseitig untersucht und eigentlich nicht recht verständlich. Warum soll dieses nur in mehrstufigen Organisationen verfangen? Gerade Experimente wie die von Milgram belegen doch eine Relevanz auch in Kleinstgruppen-Konstellationen4o . Letztlich kann ein solcherart verengter Blickwinkel nur zu einer kriminalpolitisch motivierten und damit verkürzten Kollektivstrafrechts-Konzeption führen, die an ihrem entscheidenden Begründungspunkt - und um den handelt es sich bei dem psychologischen Moment - lückenhaft bleibt und Erklärungsdefizite nach sich zieht.
IV. Fazit: Erste Grenzen des Individualstrafrechts im Unternehmensbereich Aufbauend auf den Erkenntnissen zur Kriminalität aus dem Unternehmensbereich sind nun die Grenzen der Strafbarkeit natürlicher Personen darzustellen41 . Dies erlaubt einen ersten Eindruck, ob der Schutz des Wettbewerbs bei einer Strafbewährung von Kartellrechtsvorschriften mittels einer Strafbarkeit von Kollektiven gestärkt werden kann. Man könnte nun - unter der Annahme bestimmter dogmatischer Prämissen - den Standpunkt vertreten, daß die Strafbarkeit von Kollektiven gerade zur Schließung von Lücken im Rechtsgüterschutz durch das Individualstrafrecht dienen soll. Soweit sie dies nicht leisten kann, würde sie gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Eine solche Sichtweise ist jedoch nach dem hier vertretenen Verhältnis von Verfassung und Strafrecht abzulehnen. Es hängt letztlich von der dogmatischen Fundierung und Konzeption einer Kollektivstrafbarkeit ab, ob man zu dem Ergebnis kommen muß, daß eine solche Strafbarkeit nur im Falle von wesentlichen Lücken im strafrechtlichen Rechtsgüterschutz ausnahmsweise einzusetzen ist oder aber aus Gründen der Gerechtigkeit notwendig neben die natürlicher Personen tritt, solange keine Zweckmäßigkeitserwägungen entschieden dagegensprechen. Dies ist später - in Teil 4 - ausführlicher darzustellen. Hier sollen daher als Basis nur die Lücken aufgezeigt werden, die im heutigen, nur auf der Strafbarkeit natürlicher Personen aufbauenden Strafrechtssystem bestehen. Die Frage der Grenzen der Strafbarkeit natürlicher Personen stellt sich als praktische sinnvoll vor allem dort, wo neben natürlichen Personen auch andere SubVgl. dazu nur W. Kargt, Die Funktion des Strafrechts, 1995, passim. Vgl. dazu auch G. Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 74 ff., 95 ff.; zu der Begründung des kriminalpolitischen Bedürfnisses vgl. auch das Referat 11 A I ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (I)' des Bundesjustizministeriums an die Arbeitsgruppe ,Strafbarkeit juristischer Personen' der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionsrechts, in: M. Hettinger (Hrsg.), Reform des Sanktionsrechts Bd. 3: Verbandsstrafe, S. 183 ff. (202 ff.). 40
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jekte - wie immer sie auch aussehen mögen - als potentielle Adressaten von Strafrechtsnormen und als Verwirklieher eines Tatbestandes, also als Tater (den dann grundsätzlich die entsprechende Rechtsfolge bei rechtswidriger und schuldhafter Begehung der Tat zu treffen hat) in Frage kommen42 . Begrifflich kann dabei dem Individuum zunächst nur das Kollektiv entgegengesetzt werden. Zu der Frage, ob in dieser Gegenüberstellung nicht bereits ein grundlegender Kategorienfehler zu sehen ist, soll erst später bei der Konzeption eines strafrechtlichen Kollektivsubjektes Stellung bezogen werden43 . Neben das Individuum treten als Kollektiv gängigerweise z. B. der Staat als öffentlich-rechtlich verfaßte Körperschaft (Gemeinden, Länder, die Bundesrepublik selbst), andere öffentlich-rechtliche Körperschaften wie die Industrie- und Handelskammern oder aber die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als Anstalten öffentlichen Rechts; vor allem aber treten neben das Individuum die Verbände des Privatrechts, also die Körperschaften wie die GmbH oder die AG und die Personengesellschaften. Der Staat als Körperschaft und Kollektiv soll hier jedoch aus der weiteren Betrachtung ausgeschieden werden. Er stellt erst ein Abgrenzungsproblem für ein an den Kollektiven der Gesellschaft konzipiertes Kollektivstrafrecht dar, das hier noch nicht weiter interessiert. Die wohl größte Bedeutung kommt den juristischen Personen in unserer Gesellschaft als Träger von Wirtschaftsunternehmen zu. Auch in anderen Bereichen haben sie wichtige Funktionen44 , aber die Feststellung, daß ihre tatsächlich größte Bedeutung im System der Wirtschaft liegt, das ohnehin mannigfaltige Verflechtungen mit den restlichen Bereichen der Gesellschaft aufweist, die notwendigerweise von den juristischen Personen geteilt werden, wird kaum zu bestreiten sein. Die Frage nach den Grenzen ist insofern sinnvollerweise zunächst im Hinblick auf die Tätigkeit von Kollektiven als Wirtschaftsunternehmen zu beantworten. Es geht grundsätzlich um die Straftaten aus dem Bereich des Wirtschaftslebens. Dieser Bereich ist groß. Er reicht von der organisierten Kriminalität über die Steuerstraftaten bis hin zum Außenwirtschaftsstrafrecht und letztlich auch zu einem möglichen Kartellstrafrecht de lege ferenda, umfaßt also die Bereiche des Wirtschaftsstrafrechts als Nebenstrafrecht. Aber auch die Mehrzahl der Straftaten des Kernstrafrechts, wie es größtenteils im Besonderen Teil des StGB niedergelegt ist, können im Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeiten verwirklicht werden; das braucht nicht näher erläutert zu werden. Es handelt sich also um ein recht heterogenes Gemenge von Straftaten. Dabei nimmt die organisierte Kriminalität in dem gegebenen Zusammenhang eine Sonderstellung ein, weil es hier - sehr grob gesprochen 42 Außerdem stellt sich diese Frage natürlich auch im Rahmen allgemeiner Grenzen eines Strafrechts im Hinblick auf mögliche außerstrafrechtliche Lösungen. Davon kann hier jedoch abgesehen werden. 43 Vgl. unten § 111. 3. b. bb. 44 Hier ist insbesondere an das Vereinswesen zu denken, das weite Teile der Gesellschaft prägt. Aus dieser Richtung scheinen trotzdem weniger tatsächliche Herausforderungen an das Strafrecht im vorliegenden Zusammenhang zu kommen, was vor allem an der Wohlfahrtsorientierung der Mehrzahl der Vereine liegen mag.
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um Fälle geht, in denen eine Gruppe von Menschen sich (zunächst) vornehmlich das Ziel gesetzt hat, Straftaten zur Erlangung von eigenen Vorteilen zu begehen; Zweck des Zusammenarbeitens ist das Begehen bzw. Beenden von Straftaten (z. B. die Geldwäsche), nicht das Erwirtschaften von Gewinnen durch Teilnahme am (Leistungs-) Wettbewerb45 . Verbände der organisierten Kriminalität stellen keine Kollektive dar, was sich aus der konkreten Begründung des Kollektivstrafrechts ergeben wird46 . In allen anderen Fällen geht es um solche Unternehmen, deren Zweck es primär ist, durch Teilnahme am Wirtschaftsverkehr Gewinn zu erzielen, auch wenn das Mittel dann im Einzelfall als kriminell zu bewerten ist (unabhängig von der Tatsache, daß es auch Verflechtungen und damit Überschneidungen geben kann). Schaut man sich Unternehmen an, kann man grundsätzlich bestimmte Formen von charakteristischen Straftaten unterscheiden; charakteristisch insofern, als das Vorhandensein eines Unternehmens eine wichtige Rolle spielt. Folgende Konstellationen sind von Interesse: (i.) Ein Einzelner oder eine kleine Gruppe (von Angestellten) kann den ,Deckmantel' des Unternehmens nutzen, um Straftaten für sich zu begehen, die mit der wirtschaftlichen Unternehmenstätigkeit in keinem Zusammenhang stehen. (ii.) Das gegenteilige Extrem ist der Fall, in dem eine Gruppe von Führungskräften, z. B. Vorständen oder Geschäftsführern, gezielt Straftaten begeht (auf das große Problem dieser ,Begehung' wird später ausführlicher einzugehen sein), die dem Unternehmen einen Vorteil verschaffen sollen; (iii.) Diese Konstellation kann weiter ausgebaut werden, indem man hinzunimmt, daß die Führungskräfte zur Ausführung der Tat weiter unten in der Hierarchie angesiedelte Mitarbeiter mit einbeziehen. Dies kann dergestalt geschehen, daß entweder den Mitarbeitern die Strafbarkeit des Teil- und/ oder des Gesamthandelns verborgen bleibt (bei unbewußtem bis fahrlässigem eigenem Beitrag) oder diese sehr wohl erkennen, worum es geht, und somit bewußt ,mitgearbeitet' haben - sei es (grob) fahrlässig oder vorsätzlich. (iv.) Eine letzte Konstellation stellt sich dar wie eine Mischung aus der ersten Variante (egoistische / r Einzeltäter) und der dritten: Mitarbeiter, die nicht zu den Führungskräften, hier präziser Entscheidungsträgern, zu zählen sind, begehen Straftaten, die dem Unternehmen zugute kommen sollen, wobei aber wiederum die Position in einem Unternehmen genutzt wird, um die Begehung der Straftat zu verdecken. Dabei wird regelmäßig das, wenn auch ,unkorrekt' erzielte, gute Ergebnis bzw. der positive Effekt auf den Täter positiv zurückfallen. Mehrere Beobachtungen können nun gemacht werden: Bei allen Beispielen ist offensichtlich, daß in jedem Fall ein gewisser Komplexitätsgrad in der Organisation impliziert wird. Es besteht ein Unterschied zwischen der ersten Konstellation und den anderen insofern, als daß nur die erstere rein egoistisch geprägt ist, die 45 Zu den problematischen Versuchen der Bestimmung des Begriffs "Organisierte Kriminalität", vgl. nur G. Kaiser; Kriminologie, § 38 Rn. 15 ff. 46 Vgl. zu den tatsächlich bestehenden Zusammenhängen zwischen organisierter Kriminalität, krimiellen Wirtschaftsunternehmen und Staatskriminalität, die in E. -J. Lampes Begriff des Systemunrechts herausgearbeitet werden, unten § 8 11. 6. und § 10 I. 3.
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anderen sind zumindest auch altruistisch motiviert. Die nächste Beobachtung bezieht sich auf die Situation, daß es vorsätzlich Handelnde und unwissentlich bzw. fahrlässig Handelnde gibt, was an sich alles andere als erstaunlich ist; gemeinsam ist jedoch immer, daß eine besondere Begünstigung durch die Unternehmensorganisation vorliegt: die Motivierung vorsätzlicher Tater durch Inaussichtstellen entweder legalen Erfolges (innerhalb der Firma) oder Ausnutzen der durch die höhere Stellung in der Hierarchie bedingten Macht und die Veranlassung fahrlässiger oder unbewußter ,Tater' durch Verschleierung des Teil- oder Gesamthandelns innerhalb der komplexen Unternehmensabläufe, wodurch dem Handelnden das Bewußtsein von der Tragweite seines Beitrages verloren geht. Zusammenfassend kann daher folgendes festgehalten werden: Die Grundprobleme von solchen Straftaten, die im weitesten Sinne von Unternehmen ausgehen, liegen in der Arbeitsteilung innerhalb der Organisation einerseits und in der Verbands- oder Unternehmenskultur, neudeutsch: ,corporate culture', andererseits. Dem werden zwei mögliche (alternative) Grundbedingungen zugeschrieben47 : der Umstand, daß gesetzwidriges Verhalten entweder erlaubt oder sogar empfohlen bzw. (schwächer:) nahegelegt ist, oder der Umstand, daß Strukturen zu einer Verhinderung fehlen. Bei entsprechend komplexen Organisationen ist auch beides nebeneinander denkbar und insofern nur im Hinblick auf einen bestimmten Unternehmensbereich streng alternativ. Taten, die von Unternehmen mit entsprechend komplexer Organisation ausgehen, treten bei drei - mit Schünemann zu differenzierenden - Konstellationen auf, die auch als allgemeine Präventionslücken des Strafrechts verstanden werden: Der Tater ist gar nicht festzustellen; der Tater ist nur alternativ festzustellen; oder - was zunächst verwundert - der Tater ist individuell festzustellen. Die ersten beiden Lücken beruhen auf Problemen bei der Zurechnung der Tatbeiträge oder auf mangelnden faktischen Aufklärungs- und Beweismöglichkeiten. Die dritte Lücke wird als solche erst verständlich, wenn man es als Lücke betrachtet, daß die Tat überhaupt stattgefunden hat; insoweit liegt sie auf einer anderen Ebene als die ersten beiden. Sie wird zu einer Präventionslücke, weil es aufgrund der ersten beiden Bedingungen keine genügend große Wahrscheinlichkeit gibt, daß es zu einer Verurteilung kommt bzw. dies in dem potentiellen Normadressatenkreisen unterstellt wird. Nun gibt es natürlich Versuche, die beschriebenen Probleme mit den Mitteln zu erfassen, die das Individualstrafrecht heute schon bietet48 . Gegner einer Verbandsstrafe sind aufgrund der kriminologischen Befunde genötigt, in diese Richtung Vgl. nur A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 150 ff. Vgl. nur den Überblick über die gegebenen Möglichkeiten zuletzt bei G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen, ZStrR 119 (2001), S. 22 (26 ff.); vgl. auch den kritische Überblick bei A. Ransiek, Unternehmens strafrecht, S. 185 ff. (zu den materiell-rechtlichen Möglichkeiten), S. 212 ff. (zu den strafprozessualen Möglichkeiten). 47
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Lösungen zu suchen 49 , falls sie nicht das Ordnungswidrigkeitenrecht und seine Geldbuße gegen die juristische Person favorisieren 5o . Das Versagen dieser Lösungen braucht an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden, da sich dieses deutlich aus der BeglÜndung des Kollektivstrafrechts ergeben wird. Es sollen aber kurz die denkbaren Lösungswege und gängigen dogmatischen Probleme erwähnt werden. Es gibt zwei dogmatisch denkbare Ansätze. Grundsätzlich kann zunächst an eine aktive Täterschaft angeknüpft werden. Hier wird entweder auf einen horizontalen oder vertikalen Zurechnungsverbund oder auch eine Kombination von beidem zUlÜckgegriffen, also eine Erweiterung entweder der Mittäterschaft oder / und der mittelbaren Täterschaft vorgenommen. Dabei wird jedoch das Merkmal des gemeinsamen Tatplans aufgeweicht und letztlich sogar die Möglichkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft bejaht, was das bisher beglÜndende Kriterium des gemeinsamen Deliktsvorsatzes ad absurdum führt, ohne tatsächliche etwas Neues an seine Stelle zu setzen 51 . Im Rahmen der mittelbaren Täterschaft wird das volldeliktische Handeln des Vordermannes akzeptiert und die Situation in staatlichen Machtapparaten - in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von DDR-Unrecht untersucht 52 - auch auf Wirtschaftsunternehmen ausgedehnt53 . Das Problem ist hier, daß die tatsächlich in der Organisation vorhandene soziale Macht nicht immer die hinreichende Herrschaft für die konkrete Tat über mehrere Hierarchieebenen vermittelt54 . Es kann aber neben dem Täterschaftsmodell noch ein anderer Ansatz verfolgt werden, indem auf die unterlassene Aufsicht und Vorsorge abgestellt wird55 • Hier sind jedoch konkrete Pflichten im Hinblick auf spezielle Gefahrenquellen - zunächst Personen, dann aber auch sachliche Gefahrenquellen - zu formulieren. Der erste Weg ist nicht gangbar, weil entsprechende Pflichten für Einzelne in großen Organisationen nicht zu formulieren sind. Auch im Rahmen des zweiten Weges ist es schwierig, Pflichtenkonkretisierungen für Einzelne zu formulieren. Aber selbst wenn dies grundsätzlich möglich scheinen mag, so sind doch viele problematische Fälle - vor allem im Umweltrecht - dadurch geprägt, daß die realisierte Gefahr sich über Jahre entwickelt hat und viele einzelne Beteiligte mit Entscheidungen dazu beigetragen haben, wodurch es zunächst nur noch nachträglich möglich 49 Vgl. nur F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 262 ff., der nach Ablehnung der Verbandsstrafe eine Konzeption der Geschäftsherrenhaftung darlegt, die zu einem Schuldausgleich führen soll. 50 So z. B. A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 326 ff. 51 Vgl. nur G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen, ZStrR 119 (2001), S. 22 (28). 52 Vgl. exemplarisch BGHSt 40, S. 218 (236 f.). 53 Vgl. BGHSt 43, S. 231 ff.; BGH NJW 1998, S. 769; 2000, S. 448; kritisch dazu C. Roxin, Taterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl., S. 616 f. 54 Vgl. G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen, ZStrR 119 (2001), S. 22 (29 f.); vgl. auch unten § 10 1. 1. und 2. 55 Vgl. nur G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen, ZStrR 119 (2001), S. 22 (31 ff.).
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scheint, eine Pflicht zu fonnulieren. Nichtsdestotrotz wird auf die Fonnulierung solcher Pflichten nicht gänzlich verzichtet werden können, allerdings sind sie dann später nicht im individualstrafrechtlichen Zusammenhang zu fonnulieren 56 . Es soll hier nicht behauptet werden, daß von den Autoren und Gerichten, die das Strafrecht in diese individualstrafrechtliche Richtung fortentwickeln wollen, vollkommene dogmatische Irrwege beschritten werden. Ransiek hat auch dargelegt, daß sich solche Lösungen wohl sogar verfassungsrechtlich halten lassen57 . Teilweise gehen diese Lösungen sogar in die richtige Richtung, soweit sie versuchen, sich mit Mittäterschaft und mittelbarer Täterschaft auseinandersetzen, was auch der richtige Ansatzpunkt ist, auf den zurückzukommen sein wird 58 . Aber diese Versuche können dogmatisch nicht überzeugen, weil sie den Problemen nicht auf den Grund gehen. Sie gehen nicht den entscheidenden Schritt bei der Erfassung der kollektiven Aspekte der Thematik. Relevant ist eine Modifikation der Mittäterschaft oder mittelbaren Taterschaft nur insoweit, als es darum geht, wirklich individuelles Verschulden zu erfassen. Die richtig konzipierte Kollektivstrafe soll nun nach Ansicht ihrer Befürworter zumindest folgendes erreichen: Von einer gegen das Unternehmen gerichteten Strafe wird angenommen oder zumindest erhofft, daß sie zu einer effizienteren und praktikableren Strafverfolgung führt und damit die Präventionswirkung verstärkt; dies auf die gleiche Weise, auf die sie (neben anderen Bedingungen) geschmälert wurde: durch Anknüpfung an das Unternehmen. Dessen corporate culture wird im Zweifel eine, wenn nicht die Ursache dafür gewesen sein, daß es zu der Tat kommen konnte. Droht dem Verband eine Strafe, also eine negative Folge, wird dieser seinerseits darauf hin wirken, die Wahrscheinlichkeit solcher Tatbegehungen zu venneiden. Anders fonnuliert könnte man sagen, man möchte erreichen, daß Unternehmen der Möglichkeit einer Bestrafung ein stärkeres argumentatives Gewicht in ihrer Kosten-Nutzen-Analyse im Hinblick auf die Entscheidungsalternativen für eine Zielerreichung einräumen. Diese Ausführungen beruhen nun zum einen auf einer kriminologischen und zum anderen auf einer traditionell-strafrechtlichen Perspektive. Dies allein stellt jedoch keine hinreichende Begründung für eine Strafbarkeit von Kollektiven dar, denn hier sind noch zahlreiche andere Fragen zu berücksichtigen. Auf der Basis des hier vertretenen Verständnisses des Strafrechts als Sicherung der Grundlagen unserer Freiheit ist insofern darüberhinaus hinzuzufügen: Wenn ein Kollektiv identifiziert werden kann, das Straftaten begeht, dann kann die Individualstrafe natürlich nicht den Sinn der Strafe als Vergeltung erfüllen. Als These soll hier bereits in den Raum gestellt werden, daß in dem Fall, in dem ein strafrechtlich relevanter Rechtsbruch vorliegt, eine ausgleichende Vergeltung stattfinden muß. 56 Vgl. dazu unten die dogmatische Entwicklung in Teil 4 und zusammenfassend die Erläuterung zum Gesetzentwurf eines § 25 a StGB-E unter 11. in den Schlussbetrachtungen. 57 Vgl. A. Ransiek. Unternehmens strafrecht, S. 244 ff. 58 Vgl. unten § \0 I. 3.; in diesem Sinne vor allem E.-J. Lampe. Systemunrecht und Unrechtssystem, ZStW \06 (1994), S. 683 ff.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
§ 8 Status Quo. Die verschiedenen Konzepte einer Kollektivstrafbarkeit I. Fehlen einer eigenständigen Kollektivstratbarkeit - Historie
Das positivierte deutsche Strafrecht kannte - mit wenigen Ausnahmen - keine echte Kollektiv- oder Verbands strafbarkeit im engeren Sinne, sondern bei Berücksichtigung des Ordnungswidrigkeitenrechts nur eine Kollektivstrafe im weiteren Sinne in Form einer Geldbuße gegen juristische Personen und andere Personenvereinigungen59 . Lediglich die Kartellverordnung von 1923 sah Strafvorschriften gegen Verbände vor, und später in der Nachkriegszeit waren derartige Regelungen in den Gesetzen der Alliierten enthalten; diese wurden immerhin trotz ihrer (eigentlichen) Fremdheit in mehreren Fällen angewandt 6o • Im Ordnungswidrigkeitenrecht gibt es - mittlerweile - die Möglichkeit, gern. § 30 OWiG direkt gegen den Unternehmensträger eine Geldbuße zu verhängen 61 . Im Kriminalstrafrecht des StGB trifft man auf die zwei sog. "Maßnahmen": die Anordnung des Verfalls des aus der Tat Erlangten (§§ 73 ff. StGB) und die Einziehung der durch sie hervorgebrachten oder zu ihrer Ausführung gebrauchten oder bestimmten Gegenstände (§§ 74 ff. StGB). Letzteren wird auch punitiver Charakter zugeschrieben62 . In neuerer Zeit gibt es auch erste Gesetzgebungsvorhaben zum Komplex der Kollektivstrafbarkeit auf nationaler Ebene. Historisch gesehen wurde aber durchaus nicht immer eine Strafbarkeit von Verbänden, oder vielleicht allgemeiner gesprochen: Personenmehrheiten, abgelehnt. So kannte das Mittelalter die Strafbarkeit von Städten und Gemeinden, und bis Ende des 18. Jahrhunderts ging man in der Rechtswissenschaft in Deutschland von der Möglichkeit der Strafbarkeit juristischer Personen aus. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte dann ein allgemeiner Meinungsumschwung, der auch bis vor kurzem andauerte. Während für das römische Recht der Begriff Person mehr oder weniger ein Synonym für das Wort ,Mensch' war, kannte das germanische Recht durchaus die Rechtspersönlichkeit von Nicht-Menschen oder Nicht-Menschlichem, wie dies in Prozessen gegen Tiere, dämonische Glocken oder auch gegen Tote zum Ausdruck kam63 . Erst im ausgehenden Mittelalter gegen Ende des 16. Jahrhunderts 59 Von der grundsätzlichen Möglichkeit der Strafbarkeit von Kollektiven soll hier abgesehen werden; zu einer umfangreichen Aufbereitung der Historie des Kollektivstrafrechts, vgl. nur das Referat 11 A I ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (I)' des Bundesjustizministeriums an die Arbeitsgruppe ,Strafbarkeit juristischer Personen' der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionsrechts, in: M. Hettinger (Hrsg.), Reform des Sanktionsrechts Bd. 3: Verbandsstrafe, S. 183 ff. (185 ff.).
60
Vgl. dazu nur H. Achenbach in: GK-GWB, § 81 GWB 1999 Rn. 2 f. m. w. N.
61
Vgl. oben § 2 III. 6. f.
Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (285) m. w. N. 62
§ 8 Status Quo. Die verschiedenen Konzepte einer Kollektivstrafbarkeit
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wurde im Rahmen der Rezeption des römischen Rechts dann unter Aufgreifen der drei ,status' des römischen Rechts (status libertatis, civitatis, familiae) ein spezifisch juristischer Begriff der Person entwickelt, der in dieser Form nun aber primär auf den Menschen zugeschnitten war64 • Die drei tradierten ,status' wurden zusammengenommen mit anderen rechtlichen Eigenschaften zum ,status adventitius', der die nicht von Natur aus sondern durch menschliche Auswahl bedingte Stellung des Menschen umschrieb, unter der dieser am Rechtsleben teilnahm. Demgegenüber umfaßte der neu geschaffene ,status naturalis' die physischen und psychischen Eigenschaften des Einzelnen. Von hier aus wurde der Begriff der Person in Zusammenhang mit der moralischen Welt gebracht, deren Bedeutung für den Menschen neu begriffen wurde; dem Begriff der ,persona moralis' kam aber dabei nur die Funktion einer objektiv rechtlichen Ordnung zu und er konnte daher auch auf Personenmehrheiten bezogen werden 65 . Die Figur der ,persona moralis' stand aber in keinem Zusammenhang mit der allgemeinen Zuordnung von subjektiver Rechtsfähigkeit. Der Gedanke der allgemeinen Rechtsfähigkeit kam erst später in Sicht, namentlich mit Kant, der die Person, als "dasjenige Subjekt" definierte, "dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nicht anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen [ ... )", woran Kant dann die Schlußfolgerung anfügt, "daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie [ ... ] sich selbst gibt, unterworfen ist,,66. Im Idealismus wurden dann im weiteren der Begriff der (Rechts-)Person mit dem neuen Verständnis der Freiheit des Menschen und den neu entdeckten Menschenrechten in Verbindung gebracht67 . Dies fand dann später in den Worten v. Savignys seinen Niederschlag: "Jeder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig,,68. Dieser Zusammenhang wurde jedoch im 19. Jahrhundert durch die Konzentration der - sich nun als solche erkennenden - Rechts-Wissenschaft auf das positive Recht aus den Augen verloren, was darin einen Höhepunkt fand, daß manche Autoren den Begriff der Rechtsperson demontierten bzw. Sinn-entleerten, wie Julius Binder, der hierin nur einen Relationsbegriff bzw. eine reine Denkform sah, oder Hans Kehlsen, der in der Rechtsperson nur eine sprachlich-figürliche Bündelung von Rechtspflichten und subjektiven Rechten sah69 . Der Personen-Verband, sei es Stadt, Gemeinde oder eine andere Korporation, konnte bis zur Verbindung des Gedankens der Freiheit des einzelnen Menschen 63 Vgl. nur W. Schild in: J. Ritter/ K. Gründer (Hrsg.), HistWPhil, Bd. 7, Artikel "Person", Sp. 322 ff. m. w. N. 64 W. Schild, a. a. O. 65 W. Schild, a. a. 0., Sp. 323 f. 66 I. Kant, Werke, Ausgabe: W. Weischedel (1965 ff.), Bd. 4, S. 329 f. 67 Vgl. W. Schild in: J. Ritter/ K. Gründer (Hrsg.), HistWPhil, Bd. 7, Artikel "Person", Sp. 326 f. m. w. N. 68 V. Savigny, System des heutigen römischen Rechts (1840 ff.), Bd. 2, S. 2. 69 Vgl. dazu W. Schild in: J. Ritter/ K. Gründer (Hrsg.), HistWPhil, Bd. 7, Artikel "Person", Sp. 330 m. w. N.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
mit dem Begriff der Rechts-Person unproblematisch als persona moralis durchgehen und mit bestimmten Formen von Rechtsfähigkeiten versehen werden. Dies war nach der Aufklärung nun nicht mehr möglich. Nur in einer gedanklichen Erstreckung des Begriffs der Rechts-Person auf die juristische Person konnte diese noch für den Rechtsverkehr anerkannt werden. Dies bedeutete nicht unmittelbar die Leugnung der sozialen Realität von Personen-Mehrheiten bzw. Verbänden, aber diese spielte für die sich zunächst stellende Frage einer möglichen Vermögenszuordnung auch keine entscheidende Rolle. Letztendlich lief die Diskussion zunächst auf die Konfrontation der Fiktions- mit der Genossenschaftstheorie hinaus 7o. In der Literatur wurde die Frage der Möglichkeit der Bestrafung von Verbänden und damit auch juristischen Personen - im Gegensatz zur jeweiligen lex lata im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts - immer wieder diskutiert. Die vorwiegende Meinung ging in der Vergangenheit davon aus, daß es dem Verband aufgrund einer Mehrzahl dogmatischer Grundannahmen an Straffähigkeit fehle. Dafür dürfte vor allem die insgesamt sehr auf Systematik angelegte und weniger an der Pragmatik orientierte Lehre verantwortlich sein. Die Diskussion wurde zuletzt 1953 auf dem 43. Deutschen Juristentag mit der breiten Ablehnung einer solchen Strafbarkeit im Plenum für mehrere Jahrzehnte weitgehend abgeschlossen 71 . Dem waren die ablehnenden Referate von Engisch, Heinitz und Hartung vorangegangen 72 . Zusammenfassend ging man damals davon aus, daß diese Art von Strafbarkeit den Sinn- und Wesenselementen des überkommenen Strafrechts im deutschen Kulturkreis widerspräche 73. Dabei war zentraler Dreh- und Angelpunkt vor allem die mangelnde Schuldfähigkeit von Verbänden bzw. Kollektiven. In den letzten Jahren - seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts - hat in der Literatur hingegen ein langsamer Wandel stattgefunden, so daß heute wohl davon gesprochen werden kann, daß ein großer, wenn nicht sogar der überwiegende Teil der Strafrechtswissenschaft einer Kollektivstrafbarkeit de lege ferenda positiv gegenübersteht. Dieser Wandel hat nicht nur mit neuen dogmatischen Erkenntnissen zu tun. Ein Großteil der Argumente wurde vielmehr bereits um Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert und liegt also seit langer Zeit vor. Die neuen Betrachtungen und Erkenntnisse zum Umwelt- und Wirtschaftsrecht lassen alte wie neue Argumente aber in einem anderen Licht erscheinen. Vgl. dazu unten § 9 11. 2. Vgl. Verhandlungen des 40. DIT, Bd. 11, S. E 84, E 86, E 88. 72 K. Engisch, in: Verhandlungen des 40. DIT, Bd. II (Sitzungsberichte), 1953, S. E 7, E 23 ff., E 41; E. Heinitz, a. a. 0., Bd. I (Gutachten), 1953, S. 65 ff.; F. Hartung, a. a. 0., Bd. II, S. E 43 ff.; aus dieser Zeit für eine Kollektivstrafe vor allem: H. E. Rotberg, Für Strafe gegen Verbände! Einige Grundsatzfragen, in: Festschrift-100jähriges Bestehen DIT, Bd. 2 (1960), S. 93 ff. 73 Vgl. nur H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (286). 70
71
§ 8 Status Quo. Die verschiedenen Konzepte einer Kollektivstrafbarkeit
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Ein Großteil der Literatur sieht es als geboten, auf die neuen gesellschaftlichen Veränderungen und Anforderungen mit einer zukunftsorientierten Anpassung des überkommenen Strafrechts - wozu auch die Verbands strafbarkeit gezählt wird - zu reagieren, will dieses nicht seine Funktion und letztlich sogar Legitimation langfristig verlieren. Die Gegner solcher Veränderungen sehen vor allem nicht im Strafrecht das geeignete Instrument, um auf die Veränderungen unserer Umwelt bzw. unserer Gesellschaft zu reagieren, und gehen davon aus, daß das traditionelle Strafrecht in der bestehenden Form seinen überlieferten Beitrag zum Bestehen der Gesellschaft liefern kann und auch nur in dieser Form liefern darf. Neben der allgemeinen Entwicklung auf internationaler Ebene, d. h. vor allem im Rahmen der nationalen Strafrechte, die überwiegend zugunsten eines Kollektivstrafrechts ausfälle 4 , ist für den Bereich der deutschen Gesetzgebung vor allem zweierlei zu erwähnen: Vom Land Hessen wurde 1997 ein Diskussions-Entwure5 zu einem Kollektivstrafrecht vorgestellt und vom Bundesministerium der Justiz wurde eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems eingesetzt, die nach melujähriger Arbeit im März 2000 schließlich ihren Abschlußbericht vorlegte76 • Darüberhinaus ist die Diskussion auf europäischer Ebene vor allem durch das Corpus Juris der Europäischen Gemeinschaft vertieft worden.
11. Die Konzeptionen in der Theorie
Die Ansätze zur Schließung der offensichtlichen Lücken des geltenden Individualstrafrechts variieren recht erheblich. Sie reichen von einem modifizierten Ordnungswidrigkeitenrecht über die Konzeption einer rein subsidiären Strafe in Folge eines Präventionsnotstandes der Rechtsordnung bis zu einer separaten, am Maßregelsystem orientierten Lösung. Im folgenden sollen einige Ansätze verschiedener Autoren (an dieser Stelle weitgehend unkommentiert) vorgestellt werden, welche die dogmatische Bandbreite in der Diskussion abdecken. Die Auswahl der Autoren kann insofern als repräsentativ angesehen werden 77 . Im Anschluss daran 74 Vgl. dazu nur K. Tiedemann, Strafbarkeit von juristischen Personen? - Eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblicken für das deutsche Recht, in: Freiburger Begegnung, S. 30 ff.; auch unten § 8 III. 75 BR-Drucks. 690/98; weitere Nachweise zur Diskussion dieses Entwurfes bei G. Dannecker, Zur Notwendigkeit der Einführung kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Verbände, GA 2001, S. 101 in Fn. 4. 76 Vgl. dazu R. Schotz, Strafbarkeit juristischer Personen, ZRP 2000, S. 435 ff. (436 f.) m.w.N. 77 Die Kollektivstrafe wird im gegenwärtigen Schrifttum außer von den im folgenden behandelten Autoren grundsätzlich noch bejaht von: B. Ackennann, Die Strafbarkeit juristischer Personen im deutschen Recht und in ausländischen Rechtsordnungen, 1984; F. Deruyek, Probleme der Verfolgung und Ahndung von Verbandskriminalität im deutschen und belgischen Recht, ZStW 103 (1991), S. 705 ff.; G. Jakobs, AT, 6. Abschn., Rn. 43 ff.; R. Schotz, Strafbarkeit juristischer Personen?, ZRP 2001, S. 435 ff.; G. Dannecker, Zur Notwendigkeit
14 Kohlhoff
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
und bevor die schrittweise Ausarbeitung des Kollektivstrafrechts angegangen wird (§§ 9 ff.) - sollen die Grundstrukturen dieser Thematik und die entsprechenden dogmatischen Fragestellungen herausgearbeitet werden 78.
1. Die Notstandskonzeption Schünemanns
Bernd Schünemann ist derjenige Autor, der die Diskussion um die Verbandsstrafe Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder in Gang gebracht hat, und er ist auch bis heute einer der Autoren, die am meisten zu diesem Thema beisteuern. Sein zuerst in der Monographie "Unternehmenskriminalität" vorgestelltes Notstands-Konzept vertritt er mit einigen Änderungen auch heute noch 79. Dieses Konzept einer Verbandsstrafe fußt im wesentlichen auf zwei Gedanken. Der erste ist das Ergebnis einer umfangreichen Bestandsaufnahme für die Erfassung der Kriminalität aus dem Umfeld von Unternehmen und besagt, daß die Präventionseffizienz in diesem Bereich in notstandsähnlicher Form geschwächt und daher der Rückgriff auf die Unternehmen direkt notwendig ist8o• Die dogmatischen Hürden, die dabei zu nehmen sind - vor allem die Behandlung der Schuldfrage -, der Einführung kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Verbände. Überlegungen zu den Anforderungen und zur Ausgestaltung eines Verbandsstrafrechts, GA 2001, S. 101 ff.; M. Pieth, Internationale Anstöße zur Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung in der Schweiz, ZStR Band 119 (2001), S. 1 ff.; M. Kremnitzer/G. Khalid, Die Strafbarkeit von Unternehmen, ZStW 113 (2001), S. 539 ff., auch mit einern umfassenden Überblick über den Stand der Diskussion in der internationalen Literatur in Fn. 1 ff.; ausdrücklich abgelehnt wird die Kollektivstrafe von: F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, passim; M. Köhler; AT, S. 557 ff.; ders., Reformen des strafrechtlichen Sanktionssystems, Neue Kriminalistik 2002, S. 10 f.; C. Roxin, AT, § 8 Rn. 59 ff.; zum älteren Schrifttum vgl. oben Fn. 597; unentschlossen: G. Stratenwerth, Strafrechtliche Unternehmenshaftung ?, in: Festschrift-R. Schmitt (1992), S. 295 ff. (m. w. N. zur Diskussion bis in die 80er Jahre des 20. Jh.); K. Volk, Zur Bestrafung von Unternehmen, JZ 1993, S. 429 ff.; H. Dtto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993; G. Schmid, Gedanken eines Nicht-Strafrechtlers zu den gesetzgeberischen Bemühungen um ein Unternehmenstrafrecht, ZStR Band 119 (2001), S. 18 ff. 78 Die vorgelegten konkret ausformulierten Reformvorschläge de lege ferenda sind abgedruckt am Ende des Referats 11 A 1 ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (I)' des Bundesjustizministeriums an die Arbeitsgruppe ,Strafbarkeit juristischer Personen' der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 183 ff. (245 ff.). 79 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, passim, insbes. S. 155 ff., 197 ff.; ders. in: LK-StGB, 11. Aufl., § 14 Rn. 274; ders., Die Strafbarkeit der juristischen Person aus deutscher und europäischer Sicht, in: ders. /Gonzalez (Hrsg.), Coimbra-Symposium (1994), S. 265 ff.; ders., Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheitl Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 ff. 80 Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 59 f., 158 f. u. ö.; ders., Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskurate1, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheitl Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 ff. (131 f.).
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will Schünemann durch einen Verzicht auf eben diese Schuldfrage bei Verbänden nehmen; dies sei - trotz der grundlegenden Bedeutung des Schuldgrundsatzes im Strafrecht - aufgrund der Notstandssituation vertretbar, es könne insofern maßgeblich auf Effizienz- und Praktikabilitätsargumente Rücksicht genommen werden 8l . Der zweite Gedanke reflektiert die Frage der Bestrafung Unschuldiger, nämlich der Verbandsmitglieder, im Regelfall also der Gesellschafter. Hier bringt er als Argument - auf das sich auch viele weitere später gestützt haben -, daß dies den Eigentümern auch zuzumuten ist, da sich einerseits die Einbußen durch nichts von anderen Einbußen im normalen Geschäftsbetrieb unterscheiden und zum anderen die Verbandsmitglieder durch die Etablierung und Nutzung des Verbandes auch den zu vertretenden Anlaß für die Straftat gesetzt haben. Eine Sanktionierung des Verbandes kam für Schünemann zunächst in den Fällen in Frage, in denen der Täter selbst nicht ermittelt werden konnte 82 . In neuerer Zeit vertritt er aber die Meinung, daß auch bei Ermittlung des Individualtäters der Verband in die (strafrechtliche) Verantwortung genommen werden soll, da es mit der im wesentlichen ursächlichen kriminellen Verbandsattitüde um ein "kollektives Phänomen" geht, das dem einzelnen nicht mehr zurechenbar und von ihm auch nicht kontrollierbar ist83 . Nur wenn es sich um einen Exzeß handelt, der mit der internen Verbandskultur nichts mehr zu tun habt, oder eben in den Fällen, in denen es sich um eine rein egoistische Tat des Individualtäters handelt, soll keine Manifestation dieser Verbandsattitüde vorliegen. Insgesamt spricht sich Schünemann bei der konkreten Konzeption jedoch gegen eine Zurechnung individueller Verhaltensweisen zum Verband als dessen eigene aus 84 . Insofern muß seiner Meinung nach rein pragmatisch bei den unternehmenseigenen kollektiven Steuerungsmechanismen angesetzt werden, um die tatsächlich existierenden Taten aus dem Unternehmensbereich zu verhindern. Als Lösung favorisiert Schünemann die Unternehmenskuratel, die bei Vorliegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verhängt werden kann. Sie besteht im wesentlichen darin, daß eine Aufsichtsperson in Form des Kurators in das verurteilte Unternehmen geschickt wird, um dort eine überwachende Tätigkeit für den Staat auszuüben (ohne jedoch unternehmerische Entscheidungen zu treffen) und damit insbesondere auf das Management einzuwirken. Gerade von der Pflicht, seine Stellung unter eine Kuratel nach außen publizieren zu müssen, verspricht sich Schünemann große präventive Effekte. Allerdings stellt die Unternehmenskuratel nicht notwenVgl. nur B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 232 ff., insbes. 236 f. Vgl. B. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 241 f. 83 Vgl. B. Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheitl Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 ff. (134 ff.). 84 B. Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheitl Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 ff. (136 ff.) unter Kritik an Hirsch einerseits und Jakobs andererseits. 81
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dig eine Kriminalstrafe dar und gerade in der von Schünemann verfolgten Konzeption wird eher an ein dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuzuordnendes Sanktionsrecht zu denken sein85 . 2. Hirsch, Ehrhardt
Einen anderen Ansatz verfolgen Hans Joachim Hirsch und seine Schülerin Anne Ehrhardt86 . Sie konzipieren eine am Individualstrafrecht ausgerichtete Verbandsstrafbarkeit. Grundlegendes Argument für eine solche Strafbarkeit sind die Rolle der modemen (Wirtschafts-) Unternehmen und die mit diesen in Zusammenhang stehenden Gefahren 87 . Nach ihrer Ansicht kann die Strafbarkeit aus der Sicht des deutschen Rechts nur den Unternehmensträger als Normadressat betreffen. Da dieser Adressat von Verhaltensnormen ist und ihm somit auch Pflichten auferlegt werden, kann er die Normen übertreten und die hieraus resultierenden Pflichten verletzen 88 . Zu einer Handlungsfähigkeit gelangt man durch Anknüpfen an die unabweisbare soziale Realität, die Korporation als menschliche Organisationsform 89 . Genauer genommen resultiert sie aus der Handlung eines Organs, die neben einer natürlichen Handlung des Organinhabers auch eine des Verbandes ist. Dies wird dadurch gestützt, daß den Verbänden auch von anderen Teilen der Rechtsordnung, namentlich vor allem dem Zivilrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, Handlungsfähigkeit zugestanden wird. Gerade das Ordnungswidrigkeitenrecht kann die Handlungsfähigkeit aufzeigen, denn zwischen ihm und dem Strafrecht besteht nach Hirsch nur eine quantitative Differenz. Deutlich wird bereits, daß für dieses Konzept die strafrechtlich volldeliktische Anknüpfungshandlung eines Organs entsprechend dem geltenden Ordnungswidrigkeitenrecht konstitutiv ist9o . Unter Ablehnung der Lösung Schünemanns (und damit auch anderer), der ja unter Hinweis auf das öffentliche Interesse auf das Schulderfordernis verzichten will, wollen Hirsch und Ehrhardt auch eine eigene Schuld des Verbandes bejahen. 85 In diese Richtung sind wohl die Ausführugen von Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheit/ Arbeitskreis Strafrecht, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 ff. (140), zu verstehen. 86 H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff.; ders., Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, Opladen 1993; A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, Berlin 1994. 87 Vgl. nur H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (287). 88 H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (291). 89 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (289, 307 f.); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 176 ff. 90 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (311 f.).
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Dabei weist Hirsch darauf hin, daß in der sozialen Wirklichkeit durchaus von der Schuld von Unternehmen gesprochen und auch die Terminus der Ehre verwandt wird91 • Schuld wird dabei - entsprechend dem Individualstrafrecht - verstanden als Vermeidbarkeit der Tat, die ihren Grund in einer auf der Willensfreiheit der Mitglieder fußenden, freien Selbstbestimmung der Körperschaft hat92 . Auch hierbei kann auf die bereits bestehenden Verhältnisse im Ordnungswidrigkeitenrecht, das nur quantitativ vom Strafrecht geschieden ist, verwiesen werden. Gesichtspunkte sind hier - damit über das Ordnungswidrigkeitenrecht hinausgehend, wo es letztlich ganz wesentlich auf die Anknüpfungstat ankommt93 - zusätzliche korporative Aspekte wie die Organisation des Unternehmens im allgemeinen, die Auswahl und Überwachung leitender Angestellter im besonderen, kriminogene Geschäftspolitik und ähnliches, die immer unter der Bedingung der Vermeidbarkeit der (Anknüpfungs-) Tat zu berücksichtigen sind94 . Dabei ist (gerade) auch die Möglichkeit einer kumulativen Verantwortlichkeit von Unternehmen gegeben95 . Die Strafe kann nach Hirsch und Ehrhardt ihre Funktion gerade auch gegenüber den Korporationen erfüllen, da diese maßgeblich über die Prävention (Generalwie Spezialprävention) bestimmt wird 96. Eine Orientierung mit dem klassischen Strafbegriff an der sozialethischen Mißbilligung gegenüber der sittlichen Persönlichkeit im Anschluß an Kant erfolgt nach Hirsch im Strafrecht schon lange nicht mehr. Die Prävention kann vor allem wegen der ökonomisch-rationalen Orientierung des Unternehmens über die Geldbuße besonders gut erreicht werden. Hier entfalten vor allem die Öffentlichkeit und die Anleger gegenüber einem straffällig gewordenen Unternehmen entsprechenden Druck. Aber auch für den Fall, daß man von einem schuldorientierten Strafbegriff ausginge, wäre dies aufgrund der bejahten Schuldfähigkeit unproblematisch. Eine Straffähigkeit im Sinne von Empfänglichkeit von Strafe wird hier deshalb bejaht, weil aus den das Unternehmen mit Leben füllenden Organen auch die Möglichkeit eigener Empfindungen - also auch negativer - für das Unternehmen resultiert97 . Auch das Argument der Ungerechtigkeit einer Verbands strafe wird angesprochen und zurückgewiesen. Die Hauptpro91 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (292); ähnlich in der Konzeption auch A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 189 ff. 92 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche' Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (293); ders., Straffahigkeit von Personenverbänden, S. 15; A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 185 ff. 93 Vgl. nur dazu ausführlich A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 221 ff. 94 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (312 ff.); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 192 ff. 95 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (315 f.);A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 221 ff. 96 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (294 ff.); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 203 ff. 97 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (296); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 200 ff.
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blematik wird eher in der sinnvollen Begrenzung eines Verbandsstrafrechts gesehen, was jedenfalls für Unternehmen in Form einer juristischen Person unproblematisch sei98 . An dieser Stelle kann zumindest im Hinblick auf Hirsch konstatiert werden, daß er in seiner Konzeption keine große Differenzierung in der Terminologie vornimmt und insofern zumindest die Begriffe ,juristische Person' und ,Korporation' synonym gebraucht werden. Die beiden Begriffe haben wohl nach Hirsch zusammen auch mit dem Unternehmensbegriff eine konstitutive Bedeutung für das ,Unternehmensstrafrecht' , wobei er einräumt, daß auch nicht-unternehmerische Körperschaften Berücksichtigung finden könnten bzw. u. U. sogar müßten99 . 3. Alwart
Die Konzeption der Verbands strafe bei Heiner Aiwart 100 verzichtet auf das akzessorische Element der Anknüpfungstat einer natürlichen Person und nimmt stattdessen die komplexen Organisationsstrukturen von Unternehmen als solchen zum Ausgangspunkt der Argumentation. Diese sind die unmittelbare Ursachen dafür, daß das Individualstrafrecht an seine Grenzen stößt. In der Schaffung bestimmter Strukturen in Unternehmen, welche eine Zurechnung im strafrechtlichen Erfolgsfall vereiteln und gleichzeitig auch als kriminogene Faktoren angesehen werden können, wird das Setzen einer Gemeingefährdung durch die Beteiligten gesehen, d. h. durch die Unternehmen selbst, die sich die in Frage stehenden Strukturen unter der Möglichkeit von Alternativen selbst gegeben haben. Die Verbandsstrafbarkeit ist subsidiär ausgestaltet und kommt nur zum Zuge, wenn keine natürliche Person als Täter ermittelt werden kann. Hinzukommen muß noch, daß die Gründe für die Straftat vom Unternehmen zu vertreten sind, was letztlich der Fall sein soll, wenn sich das Gefährdungspotential der inneren Organisationsstrukturen verwirklicht hat, was sich dadurch zeigt, daß sich trotz einer eigentlich strafrechtlich erheblichen Rechtsgutsverletzung keine Straftat einer natürlichen Person feststellen läßt. Später hat Alwart seinen Ansatz noch ergänzt um die ausführliche Analyse der von ihm so genannten strafrechtlichen Tiefengrammatik, welche die unterschiedliche Erscheinung und Struktur der Formen von Kriminalität weiter herausarbeitet. Es wird nach den Subjekten, die als Akteure in Frage kommen, und nach dem jeweiligen Umfeld zwischen Mikro-, Meso- und Makrokriminalität unterschie98 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (298 ff., 308). 99 Vgl. H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 ff. (319 f.). 100 Vgl. H. Alwart, Strafrechtliche Haftung des Unternehmens - vom Unternehmenstäter zum Taterunternehmen, ZStW 105 (1993), S. 172 ff.; ders., Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 ff.
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den 101. Im Bereich der Mikrokriminalität legen Individuen sozialschädliches Alltagsverhalten an den Tag, im Bereich der Mesokriminalität sind dem Gemeinwohl zuwiderlaufende Verhaltensweisen von Unternehmen oder Individuen im Rahmen von Unternehmen/juristischen Personen relevant und im Bereich der Makrokriminalität wirken indefinite soziale Faktoren, handelnder Akteur bleibt jedoch das Individuum. Ein Kollektiv- oder Verbandsstrafrecht fallt in den Bereich der Mesokriminalität, innerhalb dessen noch nach zwei Problemlagen zu differenzieren sind: nach einem echt sozialschädlichen Verhalten und einem schlicht den ökonomischen Ordnungsrahmen sprengenden Verhalten (entsprechend einem bestimmten Verständnis des Wirtschaftsordnungswidrigkeitenrechts). Von der grundsätzlichen Idee her ist der Ansatz Alwarts daher mit der ursprünglichen Konzeption Schünemanns verwandt, insofern dieser zunächst davon ausging, daß durch die Existenz von komplexen Organisationen die Rechtsordnung in einen (Präventions-) Notstand gerät, weil kein Individuum strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.
4. Der umweltstrafrechtliche Ansatz Reines
Die Ergebnisse Günter Heines zur Verbandsstrafe fußen auf seinen Erkenntnissen zum Umweltstrafrecht lO2 • Aus diesen leitet er eine bestimmte Problemstellung ab, die notwendigerweise stark mit der Situation im Umweltrecht gekoppelt ist. So konstatiert er zunächst Probleme der Zurechnung von Rechtsgutsverletzungen aufgrund der Handlungsabläufe in stark differenzierten Großunternehmen. Diese potenzieren sich nun gegenseitig mit der Schwierigkeit, ex ante ausreichend präzise bestimmbare Verhaltenspflichten zu formulieren, die eine Beherrschung solcher Verletzungen für den Betroffenen erst erlauben und so im Falle einer Verletzung den sozialethisehen Vorwurf begründen können. Eine den individualstrafrechtlichen Maßstäben angemessene Zurechnung ist hier kaum noch einzuholen. Zusammenfassend sieht Heine daher drei Gründe für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen: (i.) Präventionslücken aufgrund (der Möglichkeit) organisierter individueller Unverantwortlichkeit, (ii.) strukturelle individuelle Unver101 H. Alwart, Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 (77 ff.). 102 Vgl. G. Heine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, passim, insbes. S. 213 ff., 241 ff.; vgl. auch die zahlreichen weiteren Arbeiten: ders., Kollektive Verantwortlichkeit, in: A. Eser/ B. Huber/ K. Cornils (Hrsg.), Einzelverantwortung, S. 95 ff.; ders., Plädoyer für ein Verbandsstrafrecht, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 90 ff.; ders., Sanctions in the field of corporate criminalliability, in: A. Eser/G. Heine/B. Huber (Hrsg.), Criminal responsibility of legal and collective entities, S. 237 ff.; ders., Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen und deren Führungskräften, ZStrR Band 119 (2001), S. 22 ff.; ders., Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: M. Hettinger(Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 121 ff.
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antwortlichkeit besonders bei Großunternehmen, die zu einer Auflösung des Täterpotentials in strategische und operative Funktionen führt und (iii.) die notwendige Übernahme neuer rechtlicher Aufgaben in der modemen Industriegesellschaft durch den Staat, die dieser nur unter (kumulativer) Zuhilfenahme des Unternehmensstrafrechts bewältigen kann 103. Daraus folgen für Heine grundsätzlich zwei Konsequenzen: Zum einen muß eine Verbandsstrafbarkeit, will sie die Probleme wirklich lösen, sich von den traditionellen Zurechnungsmodellen und damit auch von der individuellen, am Subjekt orientierten Herangehensweise lösen. Daraus folgt zum anderen, daß ein Vorwurf, der sich an konkret falschen bzw. ungeeigneten internen Organisationsmethoden des oder der einzelnen Geschäftsherren festmacht, ausscheiden muß - dies auch wegen des Gedankens, daß möglichst keine oder nur denkbar geringe steuernde Eingriffe in die Wirtschaft erfolgen sollen. Vielmehr soll auf die Eigenverantwortung der Unternehmen gesetzt werden, auf deren zugleich eigennützig egoistische und der Gesellschaft geschuldete altruistische Pflicht zum Risikomanagement 104 . Eine Anknüpfung an eine volldeliktische Tat einer natürlichen Person im Verband, die Organ oder sonstiger leitender Angestellter ist, scheidet nach Heine also aus. Es geht um das Auftreten und Handeln des Verbandes selbst. Es geht darum, daß ein Verband seiner gesellschaftlichen Rolle - die er gerade im Umweltrecht spielt, wo auch der Ausgangspunkt der Betrachtungen Heines liegt - gerecht werden soll, und die Gesellschaft stellt an ihn vor allem die Erwartung, daß er sich selbst so verantwortungsvoll organisiert, daß die Verwirklichung von entsprechenden Gefahren bzw. Rechtsgutsverletzungen im Rahmen des Möglichen ausgeschlossen werden kann; strafrechtlich gesprochen also eine Verwirklichung in vorsätzlicher und zumindest grob fahrlässiger Form. Es geht zusammenfassend um die "Aktivierung kollektiver Kräfte zu besserem, verantwortungsbewußtem Risikomanagement" 105. Eine solche Steuerung kann, da sie sich auf die Eigenverantwortung des Unternehmens bezieht, konsequenterweise auch nur an diese anknüpfen; d. h. für Heine scheiden interventionistische Maßnahmen, die in das Unternehmen eingreifen, aus. Dies auch deshalb, weil zum einen der hierfür gegebenenfalls zuständige Staat gar nicht über entsprechende Kompetenzen verfügt, die Maßnahmen richtig auszugestalten, und zum anderen dies zu nicht gewollten Nachteilen im Wettbewerb führen könne. Eine Strafbarkeit knüpft daher bei Heine an eine betriebsspezifische Gefahrverwirklichung aufgrund fehlerhafter Organisation an 106. Dabei soll aber nicht auf 103 Vgl. nur G. Reine, Plädoyer für ein Verbandsstrafrecht, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 90 ff. 104 V gl. G. Reine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 271 ff. 105 G. Reine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 197. 106 Vgl. G. Reine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen und deren Führungskräften, ZStrR Band 119 (2001), S. 22 (37 ff.); ders., Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 272 ff.
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eine strikte Erfolgshaftung gesetzt werden, die er für ein am Schuldprinzip orientiertes Strafrecht als Fremdkörper ausdrücklich ablehnt I07 . Vielmehr erarbeitet er auch eine Straftatbestands struktur in Analogie zum Individualstrafrecht, welche die subjektiven Elemente der Tat miteinbezieht und vor allem eine objektivierte Unternehmensschuld begründet, die dann von dem Erfordernis einer höchstpersönlichen, menschlichen Gewissensentscheidung bereinigt ist. Dabei ist nach Heine die Unternehmensschuld dennoch eine wirkliche Schuld, da in Großorganisationen das Phänomen des kollektiven Verantwortungsüberschusses zu identifizieren ist, womit er auf die kriminologischen und sozial-psychologischen Erkenntnisse rekurriert I08 . Der Beurteilungsmaßstab für den Organisationsmangel in Form nichtsachgerechten Risikomanagements ist das branchenübliche Verhalten, was aber auf den einzelnen Verband hin konkretisiert wird, um besonderen Bemühungen nicht den Ansporn zu nehmen. Es geht jedoch um allgemeine, gerade auch intertemporale Organisationsfragen, nicht um eine auf einen einzelnen Menschen bezogene Koinzidenz von Organisationsversäumnissen und tatverhindernden Handlungsmöglichkeiten I09 . Der eingetretene Erfolg kommt einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit gleich. Auf einen direkten Zurechnungszusammenhang wie im traditionellen Sinne soll es nicht ankommen, sondern auf einen risikoerhöhenden Beitrag des Unternehmens, da es in der Regel nicht um das Auftreten von typisch risikoträchtigen und damit prognostizierbaren Gefahrverläufen gehe. Hierzu müßte noch eine speziell auf Verbände zugeschnittene Risikoerhöhungslehre entwickelt werden. Neben den typischen Verhaltenspflichten werden also auch die typischen Gefahrverläufe als kaum bestimmbar angesehen, wobei beide natürlich einander zu einem Gutteil bedingen. Im Hinblick auf das notwendige Wissen wird nicht auf singuläres, sondern auf in seiner Akkumulation im Gesamtunternehmen vorliegendes Wissen abgestellt. Das (objektive) Verschulden schlußendlich muß sich nicht auf die konkrete Gefahrverwirklichung beziehen, was ja auch bereits aus der Einordnung des Erfolges als objektive Bedingung der Strafbarkeit folgt. Die Grenze zu einem reinen Veranlasserprinzip der Haftung sieht Heine mit seinem Entwurf dennoch nicht überschritten 110. 5. Das UntemehmensstraJrechts-Konzept Schroths
Einen anderen Weg als die Vorgenannten schlägt Hans-Jürgen Schroth in seiner Untersuchung zum Unternehmens strafrecht ein 111. Er orientiert sich nicht an dem 107 Vgl. G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen und deren Führungskräften, ZStrR Band 119 (2001), S. 22 (36). 108 Vgl. G. Heine, Europäische Entwicklungen bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen und deren Führungskräften, ZStrR Band 119 (2001), S. 22 (25). 109 Vgl. G. Heine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 287 ff. 110 Vgl. G. Heine, Plädoyer für ein Verbandsstrafrecht, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 90 (98). 111 Vgl. U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993.
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Verband oder der juristischen Person als dem Gegenstück zur natürlichen Person, sondern an dem Unternehmen, also an der sozialen Erscheinungsform von wirtschaftlich-funktionalen Einheiten 1l2 . Diese stellt er der natürlichen Person gegenüber. Konsequenterweise beziehen seine Ausführungen alle Individuen und Kollektive mit ein, die in der Form eines Unternehmens auftreten; die Bandbreite reicht von der Einzelperson (Einzelkaufmann) über die Personenhandelsgesellschaften bis zur großen AG. Sein Gedankengang unterscheidet sich daher von denen anderer Autoren grundsätzlich. Schroth setzt beim geltenden Strafrecht an und untersucht dieses auf Spuren eines Unternehmensstrafrechts. Ausgangspunkt ist die rechtstheoretische Analyse der strafrechtlichen Normen auf die von ihnen angesprochenen Adressaten hin. Hier geht er nur von der einen Funktion der Strafrechtsnormen aus, gegenüber Subjekten ein Ge- oder Verbot eines bestimmten Verhaltens auszusprechen, der Tatbestand im weiten Sinne und die Rechtsfolgenandrohung bleiben zunächst außen vor. Das entbindet ihn zunächst davon, sich an dieser Stelle mit den Fragen der Straftatstruktur auseinanderzusetzen und diese auf ihre Kompatibilität mit einer Unternehmens- oder Verbandsstrafe zu untersuchen. Im Ergebnis kann es für Schroth daher zu einem Auseinanderfallen von Normadressat und potentiellem Tater kommenl\3. Unternehmen als wirtschaftlich-funktionale Einheiten verfügen für Schroth zunächst jedenfalls über ausreichende Mindestanforderungen an ein Subjekt, um Adressat einer Strafrechts-Verhaltensnorm sein zu können. Das liegt für ihn darin begründet, daß es aufgrund bestimmter Bedingungen in Organisationen zu spezifischen Gruppeneffekten und in Folge zu einem Verhalten kommt, das über die Summe von Individualhandlungen weit hinausgeht. Das Ergebnis der Analyse ist eine lange Reihe von Normen im Neben- aber gerade auch Kernstrafrecht, die sich bereits in ihrer heutigen Fassung an Unternehmen richten, und zwar unabhängig von der Rechtsform, da auch allen Verbänden eine ausreichende Subjektfähigkeit zugesprochen wird. Es handelt sich dabei um Tatbestände, die nicht ausschließlich Bereiche der Privatsphäre betreffen. Erst jetzt kommt für Schroth die Frage nach der Fähigkeit von Unternehmen, potentielle Tater von Straftaten zu sein und folglich ein Verhalten an den Tag legen zu können, das mit den von der Straftatlehre herausgearbeiteten Voraussetzungen hierfür in Einklang zu bringen ist. Einzelpersonen-Unternehmen können ohnehin nach individualstrafrechtlichen Maßstäben gemessen werden, aber auch die Unternehmen können als Summe von Individuen genügend autonomes Verhalten an den Tag legen, das von dem privaten Individualverhalten der natürlichen Personen vollkommen getrennt ist 114 • Hieraus läßt sich nach Schroth für Unternehmen als 112 Vgl. U. Schroth. Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 13 ff., 157 ff. 113 Auf die Betrachtungen Schroths zur Strafrechtsnorm und der Figur des Normadressaten wird weiter unten noch eingegangen, vgl. § 9 IV. 114 Vgl. U. Schroth. Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 184 ff.
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Täter auch eine normative Schuld begründen, die als eigene Organisationsschuld (als Bündelung der Schuldbeiträge aller Unternehmensmitglieder) zu begreifen ist, die sich im Handeln eines Organs nur manifestiert ll5 . Täter ist bei richtiger Auslegung der entsprechenden Vorschriften (§§ 75 StGB, 29 OWiG) ebenfalls das Unternehmen, so daß der Verband (eigentlich: die juristische Person) als Unternehmensträger erst in den Blick kommt als derjenige, welcher die Strafe zu erbringen bzw. zu ,verbüßen' hat. Dies alles bezieht sich wohlgemerkt auf das Strafrecht in seiner geltenden Fassung! Schroth betont, daß es für die Unternehmen anstatt einer unangemessenen Belastung sogar zu einer Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen kommen würde: Seriöse Unternehmen, die sich an das Gesetz hielten, müßten dann keine Wettbewerbsnachteile mehr gegenüber unternehmenskriminellen Konkurrenten in Kauf nehmen, die sich auf diese Weise Vorteile verschafften. Ein gerade für die vorliegende Thematik entscheidender Punkt, geht es doch um das Kartellrecht als diejenige Rechtsmaterie, welche die fundamentalen Rahmenbedingungen im Wettbewerb setzen soll. Hier stellen sich dann die Fragen der Praktikabilität und Effizienz, auf die im folgenden Kapitel ausführlich einzugehen sein wird. 6. Der Systemunrechtsansatz Lampes
Einen wiederum anderen Ansatz wählt Ernst-Joachim Lampe 1l6 . Er stellt die Straftaten, die von Wirtschaftsunternehmen ausgehen, in einen anderen, weiteren Kontext. Sie sollen als Ausprägung von Systemunrecht zu sehen sein, wie es in verfaßter Form außer bei kriminell anfälligen Wirtschaftsunternehmen noch bei Vereinigungen der organisierten Kriminalität und pervertierten Unrechts-Staaten vorkommt. In einfacher Form ist das Systemunrecht jedoch bereits bei der Mittäterschaft gegeben 1l7 . Dieses von mehreren oder vielen produzierte Systemunrecht unterscheidet sich vom Unrecht des Einzeltäters durch eine Vervie1fältigung von Ursachen und damit Verantwortungen, denen die Kategorien des Individualstrafrechts nicht gerecht werden können. Dabei gewinnt ein psychischer Rückkoppelungsmechanismus des Menschen an Bedeutung, der bewirkt, daß sich der Mensch selbst Verantwortung zuschreibt in dem Maße, in dem er willentlich Ursachen setzt II 8. Das beim Zusammenwirken mehrerer entstehende Netz von Ursachen und Verantwortungen ist nun nur noch im Zusammenhang zu beurteilen; d. h. bei einfachen Systemen (Mittäterschaft) vor allem über den Tatplan, bei komplexen Systemen über die Zielsetzung und Organisation. Prägend sind hier die IndiviVgl. V. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 198 ff. Vgl. E.-f. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. 117 Vgl. E.-f. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (688 ff.); darauf wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein, vgl. § 10 I. 3. 118 Vgl. E.-f. Lampe, Systemunrecht und Unrechts systeme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (686 f.). 115
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duen, die mittels Kommunikation und Interaktion miteinander in Beziehung treten 1l9 . Strafrechtliche Unrechtssysteme bestimmen sich demgemäß über die auf Unrechtsziele hin organisierte Beziehung von Menschen. Dabei sieht auch Lampe eine neue Qualität des Handeins im Unrechtssystem. 120 Verfaßte Unrechtssysteme entstehen, wenn darüberhinaus die Organisation vom Wechsel ihrer Mitglieder unabhängig wird \21. Das gegenseitige persönliche Kennen wird hier durch gemeinsame Zugehörigkeitsmerkmale ersetzt. Ein hierarchisch organisiertes System ist dabei aufgrund der höheren Effizienz besonders gefährlich 122 . Während es bei den kriminellen Vereinigungen und den kriminell pervertierten Staaten auf die auf asoziale Ziele hin gerichtete Organisation ankommt, ist bei kriminell anfälligen Wirtschaftsunternehmen die (zusätzliche) Integration der asozialen Ziele in ein relativ offenes Zielsystem des Unternehmens entscheidend. Systemunrecht ist nun das Gegenstück zum ,normalen' Beziehungsunrecht im Strafrecht der Individuen \23. Es entsteht (zusätzlich), wenn durch das Handeln eines Individuums aus dem Unternehmen (System) heraus ein Unrecht eintritt. Dabei nimmt das Systemunrecht die besondere Qualität aus dem Zusammenwirken der Einzelnen im System (in den konkreten Dyaden 124) - gemeinsame Ziele und Organisation zu deren Verfolgung - in sich auf125 . Das Systemunrecht ist bei Wirtschaftsunternehmen nur ,akzidentieU d26 . Dabei wird ein Unrecht zu Systemunrecht, wenn es entweder durch Lücken der Organisation ermöglicht bzw. begünstigt wird oder mit der Philosophie des Unternehmens verträglich ist 127 . Systemunrecht ist nun eigentlich bereits Zustandsunrecht, woraus sich für Wirtschaftsunternehmen ergibt - entsprechend der Situation der Sorgfaltspflichtverletzung vor einer Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung bei der Fahrlässigkeit -, daß noch ein 119
(687).
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechts systeme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff.
120 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechts systeme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (690 f.). 121 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (693 f.). 122 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (694). 123 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (702 f.). 124 Darunter wird in der Psychologie die kleinste Form von Gruppen verstanden, die aus nur zwei Personen bestehen, vgl. W Herkner, Sozialpsychologie, S. 385. 125 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechts systeme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (703). 126 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechts systeme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (708). 127 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (709) mit einer weiteren Präzisierung in vier Konstitutionsgründe für Systemunrecht in Unternehmen.
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Verletzungserfolg hinzutreten muß I28 . Damit meint Lampe, auch dem Einwand der mangelnden Handlungsfähigkeit von Kollektiven seine Substanz entzogen zu haben. Die sozialethische Verantwortlichkeit von Systemen beruht konsequenterweise auch nicht auf ihren Handlungen, sondern auf ihrem Sein 129. Im Ergebnis trifft die Verantwortung für das Systemunrecht das Unrechtssystem selbst 130. Dafür muß es allerdings über eine ausreichend institutionelle Form verfügen, was (zunächst) bei Unternehmen mit einer juristischen Person als Unternehmensträger regelmäßig der Fall sein dürfte. Die strafrechtliche Verantwortung des Systems fußt also auf der den sozialethischen Anforderungen nicht genügenden Existenz und auf Handlungen seiner Mitglieder (im weiteren, nicht streng gesellschaftsrechtlichen Sinne), die ihrerseits nicht notwendig vorwerfbar sein müssen, z. B. weil sie erst in einer zusammenfassenden Gesamtschau den Charakter eines strafrechtlich relevanten Unrechts bekommen. Erst das richtige Erfassen dieses Systemunrechts, das immer dann entsteht, wenn mehrere Individuen bewußt auf kriminelle Ziele hin zusammenwirken, kann nach Lampe zu den Kategorien führen, die es strafrechtlich angemessen greifen und schließlich auch bewältigen können. Diese müssen sich daher auch vom Individualstrafrecht unterscheiden. Die Konsequenz besteht in der Anerkennung verschiedener Legitimationsgrundlagen für das Strafrecht, je nachdem um welche Unrechtsformen es sich handelt.
111. Konzeptionen der Praxis - Ein Überblick
Auf politischer Ebene sind in den letzten Jahren eine Reihe von Entwürfen vorgelegt worden. Auf nationaler Ebene in Deutschland hat - wie schon erwähnt das Justizministerium des Landes Hessen einen Gesetzesentwurf zur Strafbarkeit von juristischen Personen und Personenvereinigungen vorgestellt. Auf europäischer Ebene wurde von der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Kollektiven das sogenannte ,Corpus Juris' eingebracht, auf internationaler Ebene kamen z. B. Vorschläge von der OECD I31 . 128
(715).
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff.
129 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (723 ff.). 130 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (744 f.). 131 Vgl. dazu ausführlich G. Dannecker, "Good Corporate Citizen" und europäische Rechtsentwicklung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen in der Marktwirtschaft, S. 6 ff. (24 ff.) m. w. N.; zum Vorschlag der OECD: M. Pieth, Internationale Anstöße zur Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung in der Schweiz, ZStR Band 119 (2001), S. I ff. (10); zur internationalen Entwicklung vgl. auch den umfassenden Überblick in dem Referat 11 A 1 ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (I)' des Bundes-
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Darüber hinaus kann für das geltende Recht ein Trend hin zu echten Kollektivstrafrechtssystemen konstatiert werden 132. So haben neben England, Schottland und Wales, den USA, Australien und Kanada in Europa die Niederlande, Norwegen (1992) und Frankreich (1994) eine echte Kollektivstrafe eingeführt 133 . In anderen Ländern wie in Belgien, Finnland und der Schweiz sind mittlerweile Entwürfe für solche Strafbarkeiten vorgelegt worden, und Dänemark und Japan haben eine nebenstrafrechtliche Lösung für eine Kollektivstrafe eingeführt. Dies zeigt nun zunächst nicht mehr als eine kriminalpolitischen Tendenz auf. In Anbetracht einer solch intensiven Entwicklung stellt sich allerdings verstärkt die Frage, ob dies alles pragmatisch motivierte Irrwege (innerhalb sehr verschiedener Rechtsordnungen) sein können oder ob nicht vielmehr nur noch die richtige Begründung fehlt. Daß eine dogmatische Untersuchung dieser einzelnen national-rechtlichen Konzeptionen unterbleibt, dürfte allerdings für den hier verfolgten Zweck eher unschädlich sein, da kaum eine Rechtsordnung sich mehr dogmatische Gedanken machen und kritischere Fragen stellen dürfte als die des deutschen Sprachraumes. Im Hinblick auf jeden sich bietenden Rechtsvergleich ist jedoch der berechtigte Hinweis zu beachten, daß die Gefahr besteht, ,Äpfel mit Birnen zu vergleichen', da die meisten ausländischen Rechtsordnungen nicht die gewichtige Differenzierung zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht kennen, so daß aus deren Perspektive die eigenständige Geldbuße gegen die juristische Person gern. § 30 OWiG durchaus eine Kollektivstrafe darstellen kann l34 . Ein häufig gewähltes Referenzmodell für ein Unternehmens- bzw. Verbandsstrafrecht (Strafrecht dann verstanden in einem weiteren Sinne) ist das Ordnungswidrigkeitenrecht des europäischen Kartellrechts 135. Gesetzliche Grundlage dieser Sanktionsmöglichkeiten ist Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 17 /62 136 , welche die justizministeriums an die Arbeitsgruppe ,Strafbarkeit juristischer Personen' der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 183 ff. (222 ff.) (internationaler Ebene) und vor allem in dem Referat 11 AI ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (11)', a. a. O. (259 ff.) (Ebene anderer nationaler Rechtsordnungen). 132 So z. B. auch K. Tiedemann, Strafbarkeit juristischer Personen?, in: Freiburger Begegnungen, S. 30 ff. (32). 133 Vgl. zum Ganzen K. Tiedemann, Strafbarkeit juristischer Personen? - Eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblicken für das deutsche Recht, in: Freiburger Begegnungen, S. 30 ff. (32 f.) m. w. N.; M. Pieth, Internationale Anstöße zur Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung in der Schweiz, ZStR Band 119 (2001), S. 1 ff., insbes. zur aktuellen Entwicklung in der Schweiz S. 11 ff. 134 Vgl. dazu P. König, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenverbände, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 39 ff. (45). 135 Vgl. schon K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 55 ff.; aus neuerer Zeit vor allem: A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 326 ff., U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 130 ff., jeweils m. w. N.; an dieser Stelle soll nochmals kurz, aber nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß auf europäischer Ebene noch einiges in Bewegung ist, siehe dazu die Nachw. oben in Fn. 403.
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Kommission dazu ennächtigt, zur Durchsetzung der Art. 81 und 82 EGV Geldbußen gegen Unternehmen auszusprechen. Die hervorzuhebende Besonderheit des Sanktionssystems des EU-Kartellrechts ist, daß dort alleiniger Adressat der bußgeldbewehrten Pflichten und im weiteren auch Täter das Unternehmen ist I3 ? Bei der Anwendung der Vorschriften auf die relevanten Sachverhalte sind zwei Ebenen der Zurechnung zu unterscheiden: die der Zurechnung von Tatsachen, die hinsichtlich einzelner Mitarbeiter gegeben sind, zu einem einzelnen Unternehmen und die Zurechnung von Tatsachen, die im Hinblick auf zwar möglicherweise rechtlich, in jedem Fall aber nicht tatsächlich eigenständige Unternehmen gegeben sind, zum jeweiligen (Mutter-) Konzern. Das Bemerkenswerte am EU-Kartellrecht ist - wie bereits angemerkt - die Tatsache, daß es sich (fast) allein um das Unternehmen dreht: als Nonnadressat, potentieller Täter und Sanktionsobjekt 138 . Der Begriff des Unternehmens wurde in Art. 80 EGKSV legal definiert: Unternehmen sind danach im Montanbereich tätige und gewerbsmäßig betriebene organisatorische Produktions- und / oder Vertriebseinheiten, ohne daß es auf die Rechtsfonn ankommt. Dieser wirtschaftlich-funktionale Begriff des Unternehmens kann aufgrund der gleichen Konzeption des EWGRechts auch dort als maßgeblich betrachtet werden 139 . Auf diese Weise kommt die europarechtliche Regelung nicht auf Kollisionskurs mit den nationalen Regelungen zur Rechtsfonn der juristischen Person. Da der allein in Frage kommende Täter damit das Unternehmen ist (in der Fusionskontroll-Verordnung kommt die natürliche Person hinzu), stellt sich die Frage der Art und Weise der Zurechnung innerhalb eines Unternehmens bzw. der "Zusammenrechnung" der strafbegTÜndenden Umstände im Hinblick auf ein Unternehmen. Um die Kategorien der Handlung und des Verschuldens kommt dabei auch das europäische Recht nicht herum. Es müssen insofern Handlungen und Verschulden natürlicher Personen einem Unternehmen zugeordnet werden l4o . Dabei bewegt sich das Verständnis dieser Zuordnung auch für das EU-Kartellrecht zwischen den beiden logisch denkbaren Möglichkeiten der Zurechnung fremden Handelns einerseits und dem Begreifen der Handlungen der einzelnen Personen als eigenes Handeln des Unternehmens l41 . Der Kreis der in Frage kommenden Personen, welche die bußgeldrechtliche Haftung für ein Unternehmen auslösen können, wird danach bestimmt, ob die Person befugterweise für das Unternehmen tätig geworden ist, unabhängig von der rechtlichen Stellung als Unternehmensinhaber, 136
AbI. 1962, S. 204.
Vgl. nur A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 327. 138 Vgl. dazu auch U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 134 ff. m. w. N. 139 Vgl. U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 132. 140 Vgl. EuGH Slg. 1983, 1825 (1837) - Musique Diffusion/Pioneer; A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 327 m. w. N. 141 Vgl. K. Schmidt, Verantwortung von Gesellschaften im Kartellrecht, wistra 1990, S. 131 (136);A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 111, 327. I37
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Geschäftsführer, Beauftragter oder anderer Angestellter l42 , zumindest solange es sich um eine höhere Position in der Hierarchie handelt 143 . Die Eingrenzung erfolgt unter Betrachtung der sachlichen Regelung, d. h. die handelnde Person muß im unternehmerisch zugewiesenen Tatigkeitsbereich bzw. Kompetenzbereich agiert haben, anderenfalls liegt eine vom Unternehmen nicht zu verantwortende Exzeßtat vor 144 . Für das Kartellrecht bedeutet dies, daß es in aller Regel nur um das Verhalten von Mitarbeitern des höheren Managements und vor allem der Unternehmensleitung gehen kann. Nur diesen ist die Kompetenz eingeräumt, mit anderen Firmen zu verhandeln und Verträge abzuschließen (Feld vor allem der Kartell-, Vertikalund Fusionsvereinbarungen / Verhandlungsstrategien) und damit verbundene oder auch losgelöste strategische Entscheidungen über andere Verhaltensweisen und Positionierungen im Markt zu treffen (Feld vor allem der Behinderungsstrategien)145. Eine weitere Eigenart ist eine wenig dogmatische Trennung zwischen Begehen in Form des aktiven Tuns oder Unterlassens in Form eines pflichtwidrigen Unterlassens 146. Obwohl in den Entscheidungen der Kommission und in der Rechtsprechung des EuGH primär auf objektive Kriterien abgestellt wird 147 , muß wegen der Zuordnung des Ordnungswidrigkeitenrechts durch den EuGH zum Strafrecht im weiteren Sinne konstitutiven strafrechtlichen Kriterien wie dem Schulderfordernis Rechnung getragen werden. Daher muß man hier wohl von einer eigenen Unternehmensschuld sprechen, die sich nach zweierlei Gesichtspunkten zu bestimmen scheint: anhand einer möglichen fehlerhaften Organisation und anhand des Verschuldens einzelner Personen im Rahmen ihrer Entscheidungen bzw. Handlungen für das Unternehmen 148 . Insoweit trägt auch der Hinweis von Ransiek, daß es primär nicht um die Frage eigener Handlungs- und Schuldfähigkeit der Unternehmen zu gehen habe, sondern um die Erarbeitung der Zurechnungsmaßstäbe bzw. -bedingungen - also nicht um das "ob" sondern um das "wie". Das liegt jedoch daran - und daher ist dieser Hinweis auch nur bedingt richtig - daß das EU-Recht aufgrund seiner Konzeption als supranationales Recht mit allen anderen Rechtsordnungen in der Anwendung harmonieren muß 149 : Das schließt schon per se die Frage nach einer gehaltvollen Begründung des "ob" aus, da dies kaum mit allen einzelnen Rechtsordnungen harmonieren könnte, und lenkt den Blick nach einem pragmatischen "ja" zur Verbandssanktion an sich gleich auf das "wie,,15o. Eine Begründung für Vgl. nur A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht. S. 327 f. Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 328. 144 Vgl. dazu A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 328 f. m. w. N. 145 Vgl. nur A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 329. 146 Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 329, auch 327 m. w. N. 147 Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 330 f. m. w. N. 148 Vgl. A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 331; U. Schroth. Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 137 f. 149 Vgl. zu diesem Gedanken auch: U. Schroth. Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 130 f. 142 143
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eine nationale "geschlossene" Rechtsordnung ("geschlossen" nicht in einem strengen Sinn) muß das "wie" konsequent zu Ende denken und ausführlich beantworten. Der rein pragmatische Weg ist hier versperrt. Es bleibt jedoch der Erfahrungs-Ertrag einer Regelung, deren Anwendung sich an den praktischen Gegebenheiten ausrichten konnte. Das EU-Recht geht in der Anwendung durch EuGH und Kommission aber noch einen Schritt über den Zusammenhang der Zurechnung von Handlungen natürlicher Personen zu Unternehmen hinaus: Es beinhaltet zusätzlich die Zurechnung innerhalb eines Konzerns, d. h. von (u. U. auch rechtlich) selbständigen Tochterunternehmen zum Konzern-Mutterunternehmen, wodurch es in Konsequenz auch zur Haftung von nicht im EU-Gebiet ansässigen Mutter-Gesellschaften führen kann l51 . Bei der theoretischen Rekonstruktion der Zurechnung können zwei verschiedene Wege eingeschlagen werden: Wird als Unternehmen jede wirtschaftliche Einheit verstanden, dann ist das Handeln einer natürlichen Person für ein Tochterunternehmen zugleich ein Handeln für die Konzernmutter; oder man nimmt ein Handeln der Tochter selbst an und diskutiert dessen Zurechnung zur Mutter (so wohl der EuGH), was u. U. auf die Zurechnung von Fremdverschulden hinausläuft 152 . Letztlich zeigt dies jedoch die Relativität der ganzen theoretischen Zurechnungsdiskussion. Kriterien im einen wie im anderen Fall sind (und müssen wohl auch sein - dazu unten) die Macht- und Abhängigkeitsverschränkungen zwischen Tochter und Mutter l53 .
IV. Fazit: Systematik der Stratbarkeitsmodelle. Offene Fragen
Die vorgelegten Entwürfe umfassen ein breites Spektrum an dogmatischen Positionen und Lösungsansätzen. Der Vorwurf, daß es an systematischen Überlegungen mangeln würde, kann wohl nicht mehr erhoben werden. Langsam erreicht die Diskussion auch den Gesetzgeber. Nichtsdestotrotz müssen den vorgelegten Theorien im Groben drei Vorwürfe gemacht werden: Sie setzen sich nicht ausreichend mit der Problematik um Verband, Unternehmen und Unternehmensträger auseinander, nehmen weiter im Individualstrafrecht, von wo die Diskussion zwangsläufig ihren Weg nehmen muß, einen falschen Ausgangspunkt ein und bringen schließlich insbesondere die Betrachtungen zum Verhältnis von Schuld und Strafe nicht auf den Punkt bzw. zum richtigen Abschluß. Im folgenden scheint es daher sinnvoll, zunächst noch einmal die Grundstrukturen hinter den Modellen und damit der Diskussion um die Verbandstrafe herauszuarbeiten. Herkömmlicherweise wird all150 Vgl. aber U. Schroth. Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte. S. 136 ff. mit einer dogmatischen Aufarbeitung. 151 Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht. S. 331. 152 Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 332. 153 Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 332 m. w. N.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
gemein zwischen Zurechnungsmodellen, Modellen mit originärer Verbandshaftung und Maßregelsystemen unterschieden I54 . 1. Fremdzurechnungs- vs. Eigenständigkeitsmodell?
Eine erste Unterscheidung kann dahingehend getroffen werden, daß ein Teil der Autoren bei ihren Modellen mit Zurechnungskonstruktionen in dem Sinne arbeiten, daß sie das ,natürliche' Handlungselement natürlicher Personen als wesentlichen Bestandteil auch im Verbandsstrafrecht behalten. Es werden auch Handlungen von Organen des Verbandes nur als zugerechnete begriffen und nicht als eigene des Verbandes. Dies ist - wie später zu zeigen sein wird - mehr als nur eine terminologische Spitzfindigkeit. Der andere Teil der Autoren will am Verband bzw. am Unternehmen als solchem ansetzen und sucht nach den eigenen Äußerungen desselben, die dann zunächst - im Handeln seiner Organe erblickt werden. Natürlich ist unter rechtsdogmatischen - zumal strafrechtsdogmatischen - Gesichtspunkten auch die zweite Variante ein Zurechnungsmodell, aber die Herangehensweise ist eine andere: Es soll eigenes Verhalten und nicht fremdes untersucht werden. Nun stellt sich die Frage, auf welcher Ebene sich diese Differenzierung in Fremd- und Eigenzurechnung bewegt. Das Problem stellt sich meines Erachtens etwas anders bereits im Individualstrafrecht: Dort müssen bestimmte Äußerungen/ Handlungen des Individuums abgeschichtet werden, die keine (straf-)rechtlichen Handlungen darstellen, z. B. Reflexe, Bewegungen in Bewußtlosigkeit u. a. In gewisser Hinsicht muß auch hier die Frage beantwortet werden, welche (vorrechtlichen) Handlungen aus (straf-)rechtlichem Blickwinkel solche des Individuums sind und welche nicht und insofern fremde. Entweder etwas gehört zu mir oder nicht - im letzteren Fall ist es in bestimmten Sinne fremd. Natürlich besteht auch eine Differenz. In einem Fall müssen für von einer räumlich-zeitlich klar abgegrenzten Entität ausgehende Aktivitäten bestimmt werden, die zu ihr - unter rechtlichem Blickwinkel - gehören sollen bzw. die nicht als ihre zu sehen sind. Im anderen Fall hat man es mit einer räumlich-zeitlich unscharfen Entität zu tun, für die man scheinbar erst bestimmen muß, ob die fraglichen Handlungen überhaupt von ihr ausgehen. Es hängt nun offensichtlich alles von dem jeweiligen Verständnis dieser Entität ,Kollektiv' ab. Zu argumentieren, daß es sich ja um Fremdzurechnung handeln müsse, weil man auf das Individuum und seine Handlungen Bezug nehmen muß, greift erkennbar zu kurz, da man sich zuerst einmal über die möglichen Entitäten als Zurechnungssubjekte klar werden muß. Wer also ohne Umschweife von Fremdzurechnung redet, bezieht bereits eine Position. Fremdzurechnung hieße dann auch objektive Zurechnung, wobei sich bereits fragen ließe, wem hier überhaupt noch zugerechnet werden soll. 154 Vgl. nur das Referat 11 A 1 ,Zur Frage der Verbandsstrafbarkeit (I)' des Bundesjustizministeriums an die Arbeitsgruppe ,Strafbarkeit juristischer Personen' der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 183 ff. (228 ff.).
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Nur ein anderes Etikett stellt die Gegenüberstellung von Fortentwicklung des überkommenen Strafrechts und der Entwicklung eines Verbandssanktionsrechts als zweiter strafrechtlicher Spur dar. Ob man an die Kategorien des traditionellen Tatstrafrechts wie Handlungsfähigkeit, Schuld und Strafe anknüpft oder neue Wege gehen will, die sich hiervon ganz lösen, betrifft die gleiche Frage wie die nach der Form der Zurechnung. Fortentwicklung des traditionellen Strafrechts ist nur mit Eigenzurechnung zu haben. Eigenzurechnung kann dabei grundsätzlich sowohl in der Zurechnung von einzelnen oder mehreren Individualverhaltensweisen als auch in der Zurechnung von objektiven Gegebenheiten liegen, da noch nicht ausgemacht ist, ob hinsichtlich der Äußerungsformen eines Kollektivs ausschließlich an menschliche Handlungen/Unterlassungen anzuknüpfen ist. Eine Eigenzurechnung von objektiven Gegebenheiten dürfte sich jedoch vermutlich schwierig begründen lassen. Wichtig ist nun: Erst wenn man mit Fremdzurechnung nicht mehr von Strafsubjekten ausgeht, kommt man in ein Kollektiv- oder Verbands strafrecht als zweiter Spur, das sich grundsätzlich unterscheidet, auch wenn man sich vielleicht von einem Denken in Analogien nicht verabschieden kann oder will. Hier kann man z. B. ein Maßregel-inspiriertes Modell oder ein Modell der Haftung eines nicht im klassischen Sinne straffähigen Kollektivs für objektive Mißstände konzipieren. Das Kollektiv ist aber nur noch ein ,Strafobjekt' , denn es wird nur noch mit einer Strafe für etwas belegt, was es selbst nicht getan hat bzw. auch nicht tun konnte. Die Fremdzurechnung kann dann ebenfalls sowohl in der Zurechnung von Individualverhalten als auch in der Zurechnung von objektiven Gegebenheiten bestehen. Frage ist jedoch, inwieweit man auf Strafsubjekte für die Bestimmung einer Kollektivstrafe verzichten kann oder dies zu Inkonsistenzen führen muß. Man muß ein Einstehenmüssen für fremde Verantwortung begründen. Es wird auch die These kritisch zu hinterfragen sein, daß es (logisch) unmöglich ist, die strukturell als verantwortlich in Betracht kommenden Subjekte zu vermehren 155. 2. Mögliche Haftungsmodelle: Altemativität vs. Disjunktion
Von der Frage nach Eigen- oder Fremdzurechnung zu trennen ist das Aufdecken der grundsätzlich logisch denkbaren Haftungsmodelle für eine Verbandsstrafe. AIwart hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß hierbei an die logische Unterscheidung von Alternativität und Disjunktion, also die Unterscheidung zwischen dem ausschließenden und dem nicht ausschließenden ,oder' anzuknüpfen ist l56 • Das Modell der Alternativität besagt, daß entweder das Individuum oder das Kollektiv haftet, in keinem Fall beide zusammen. Da das gänzliche Entfallen der 155 So H. Alwart, Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 (80). 156 VgI. H. Alwart, Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 (82).
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
individuellen Haftung durch Einführung eines Kollektivstrafrechts ja gerade verhindert werden soll, läuft diese Lösung auf eine subsidiäre Haftung des Kollektivs hinaus. Da das Bestehen einer Alternativität bei eigenständiger Haftungsbegründung der Kollektivstrafe nicht möglich ist, weil hier ein kumulatives Vorliegen der (individuellen und kollektiven) Haftungstatbestände nicht ausgeschlossen werden kann, kommt nur eine auf das Individualstrafrecht Bezug nehmende Konzeption in Frage 157 . Das Modell der Disjunktion hat zum Inhalt, daß eine kumulative Haftung vorliegen kann, allerdings nicht notwendig muß, da es je nach der Ausgestaltung im einzelnen zu einem Ausschluß der Haftung kommen kann. Dieses Modell kann nun entweder akzessorisch oder eigenständig ausgestaltet sein, es kann also entweder an Aktivitäten von Personen oder an objektive Gegebenheiten angeknüpft werden. In jedem Fall stellt sich natürlich die Frage nach der näheren Präzisierung des zuzurechnenden Sachverhaltes. Fließende Übergänge zwischen dem akzessorischen und dem eigenständigen Modell, wie von Alwart eingeräumt 158 , kann es eigentlich nicht geben, wenn man die Unterscheidung von Zurechnung von Individualverhalten und objektiven Gegebenheiten ernstnimmt. Das eine sind Untersuchungen von menschlichen Verhaltensweisen, das andere rein strukturelle Betrachtungen, für welche die Frage nach einer Ursache in menschlichen Handlungen zunächst keine entscheidende Rolle spielt. Es empfiehlt sich jedoch, diese klare begriffliche Trennung beizubehalten, weil die Begriffe im Rahmen der Kollektivstrafbegründung ohnehin dazu neigen, unklar zu sein. Denkbar ist jedoch, daß es zu Mischformen bei der Konzeption der Verbandsstrafe kommt, also zu einer Integration von individuellen Verhaltensweisen und objektiven Gegebenheiten. Denkbar ist schließlich auch noch - wenn auch aus normativen Gründen für das Strafrecht auszuschließen - eine reine Veranlassungshaftung, die letztlich auf das Kriterium einer wie auch immer zu bestimmenden Schuld, u.U. auch eines subjektiven Tatbestandes verzichten würde 159 .
3. Grundlagenläsung vs. nebenstrafrechtliche Lösung
Schließlich ergibt sich aus einem kriminal politischen Blickwinkel die Frage, ob eine Lösung im Hauptstrafrecht und damit für alle Gebiete zu suchen ist oder es sich anbietet, im Nebenstrafrecht ein besonderes Kollektivstrafrecht zu konstituie157 Insofern ist es m. E. überflüssig, eine Koppelung der Haftungsalternativität mit der juristischen Konstruktion einer hilfsweisen Inanspruchnahme vorzunehmen, wie Alwart dies tut, ders., Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 (83). Eine Alternativität der Haftung ist nur in dieser Form denkbar. 158 Vgl. H. Alwart, Unternehmensethik durch Sanktion, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 75 (84 f.). 159 Dieses Prinzip nennt G. Heine, Plädoyer für ein Verbandsstrafrecht, in: H. Alwart, Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 90 (98), der Vollständigkeit halber, ohne allerdings die genauen Gründe einer Ablehnung herauszuarbeiten. Sie ergeben sich allerdings implizit daraus, daß er eine eigene Verbandsschuld postuliert (S. 103 ff.).
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ren. Für die zweite Variante könnte sprechen, daß nur Teilbereiche von Delikten überhaupt als Tatbestände für Kollektive in Frage kommen und daher die Anforderungen an ein Kollektivstrafrecht sich ersichtlich nur aus einem Teilbereich des Strafrechts ergeben. Dies könnte auch als willkommenes Experimentierfeld für ein Kollektivstrafrecht dienen. Im internationalen Vergleich werden tatsächlich beide Wege beschritten. Vermutlich verhält es sich jedoch so, daß es nicht möglich ist, eine echte Strafbarkeit von Kollektiven neben Individuen zu begründen, ohne diese Lösung am ganzen Strafrecht auszurichten. Eine Dogmatik die Strafsubjekte betreffend kann sich - anders als hinsichtlich einzelner Tatbestände - nur aus den grundlegenden allgemeinen Regelungen ergeben. Bei einer solch weitreichenden Fortbildung des Strafrechts hin zu einem Kollektivstrafrecht müssen die Grundlagen zuerst geklärt sein und Experimentierfelder können nicht akzeptiert werden.
4. Zusammenfassung: Dogmatische Fragestellungen
An dieser Stelle soll zunächst wieder an die Fragestellungen von Stratenwerth erinnert werden 160. Zentrale Frage war, ob ein Strafrecht nur so aussehen kann, wie wir es seit einigen Generationen (vielleicht ca. 200 Jahre) kennen, oder ob die gesellschaftliche Integration eines Kollektivstrafrechts - ganz ähnlich der Situation bei den Kollektiv-Rechtsgütern - nicht die notwendige Konsequenz unserer Zeit ist, die von einer ausdifferenzierten und stark ökonomisierten Lebenswelt geprägt ist. Es erscheint ob der kriminalsoziologischen und kriminalpolitischen Befunde unwahrscheinlich, daß die anstehenden Probleme in der Rechtsordnung der Gesellschaft sich alleine mit dem Rüstzeug des 18., 19. und 20. Jahrhunderts bewältigen lassen. Die Notwendigkeit zum Umdenken, ist da und es ist nun die Aufgabe, nach den vollständigen Grundlagen der menschlichen Freiheit im Strafrecht suchen und die Lösung dieser Aufgabe kann sich nicht im Herausbilden von (pseudo-)naturalistischen Handlungs- und Schuldbegriffen erschöpfen. Damit wäre auch der Bogen zu den dogmatischen Fragestellungen geschlagen: Im Zentrum der Diskussion müssen Schuld und Strafe stehen. Was müssen wir heute im 21. Jahrhundert als strafrechtliche Schuld empfinden, was ist daher Strafe, kurz: Wie stehen Straftat, Strafe und Schuld zueinander? Dies soll der Ausgangspunkt der dogmatischen Diskussion sein, innerhalb derer maßgeblich an die oben erarbeiteten Erkenntnisse 161 zur Bestimmung der Definition von Verbrechen bzw. Kriminalstraftat angeknüpft werden kann. Ist in diesem Punkt einmal Klarheit geschaffen, können auch die weiteren Fragen nach der Straftatstruktur und Handlungsfahigkeit gestellt werden, aber auch erst dann; alles andere würde bedeuten, daß Pferd von hinten aufzuzäumen. 160 Vgl. G. Stratenwerth, Zukunftssicherung mit Mitteln des Strafrechts?, ZStW 105 (1993), S. 679 ff. (685 ff.); vgl. auch oben § 3 I. 3. 161 Vgl. oben § 3 H. und § 4 I. 4.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
Aus den vorgetragenen Argumenten ergeben sich folgende Problemkomplexe: (i.) der Begriff der strafrechtlichen Schuld und der Schuldfähigkeit bzw. die Konzeption möglicher Alternativen dazu; (ii.) die strafrechtliche Handlungsfähigkeit von Kollektiven; (iii.) die Straffahigkeit im Sinne einer Strafempfänglichkeit; (iv.) die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit einer Verbandstrafe. Dabei stehen sich vor allem ein kriminalpolitisch-pragmatischer und ein rechtsphilosophischer (ablehnender) Ansatz gegenüber; letzteren gilt es vor allem zu überwinden. Die tatsächlich vorgetragenen Modelle in der Literatur spiegeln denn auch die ganze Bandbreite der Möglichkeiten wieder. Sie reichen von einer subsidiären Konzeption (frühe Präventionsnotstands-Konzeption Schünemanns, ähnlich AIwart) über Zurechnungsmodelle (Hirsch oder Ehrhardt), in denen aber durchaus auch das Bemühen zu sehen ist, eigenständige Sachverhalte auszumachen und neue Begriffe zu bilden, bis hin zu einem Unternehmensstrafrecht (Schroth), das überhaupt nicht mehr primär an die juristische Person oder den Verband, sondern an die Unternehmens-Eigenschaft unter Einbeziehung von Einzelkaufmann und I-Mann-GmbH anknüpfen soll, oder zu einer sehr objektiv konzipierten Haftung für fehlerhaftes Risikomanagement (Heine). Auf die einzelnen Modelle detaillierter einzugehen, würde den Rahmen der thematisch breit angelegten Arbeit sprengen. Es sollen insofern nur die Probleme und die Strukturen von möglichen Lösungen aufgezeigt werden und abschließend die theoretisch beziehbaren Standpunkte zusammenfassend einer Kritik unterzogen werden.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband I. Unternehmen und ihre gesellschaftliche Bedeutung
Die Feststellung, daß Unternehmen, vor allem Wirtschaftsunternehmen eine zentrale Stellung in unserer Gesellschaft einnehmen und ihre Bedeutung weiter stark zunehmen wird, ist mittlerweile wohl ein Allgemeinplatz. Trotzdem soll hier noch einmal kurz umrissen werden, worin genau diese zentrale Stellung gesehen wird l62 . Zunächst ist die grundlegende Ursache für die immer bedeutendere Stellung wohl darin zu sehen, daß die Wirtschaft als eigentliches gesellschaftliches Subsystem unsere Gesellschaft als ganzes immer mehr durchdringt. Die Ökonomisierung von Teilbereichen der Gesellschaft schreitet grundsätzlich voran, auch wenn immer wieder gegenläufige Tendenzen zu verzeichnen sind - wie z. B. im Rahmen der Gebiete der Informationstechnologie; hier werden kostenlose Angebote zum Herunterladen aus dem Internet oder Shareware-Programme angeboten. Für viele war das Internet zunächst und bleibt es zum Teil auch heute noch ein 162 Vgl. zur Situation des Unternehmens und insbesondere zu seiner Rolle in der Gesellschaft: G. Eidam, Unternehmen und Strafe, S. I ff., 10 ff.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
231
Bereich in der (bereits globalen) Gesellschaft, der sich traditionellen ökonomischen Denkformen und Marktmechanismen entzieht. Aber es ist auch ein Allgemeinplatz, daß das Internet nicht mehr die globale Kommune ist, von der viele anfangs träumten, sondern auch von der Wirtschaft für sich entdeckt und weitläufig genutzt wird. Dabei sind es wiederum genau die - zum Teil auch strafbaren kostenlosen Nutzungsmöglichkeiten, die vielen, wenn nicht sogar den meisten Unternehmen ein Dom im Auge sind. Doch zurück zur Ökonomisierung unserer Gesellschaft: Gerade der Rückzug der Staates aus vielen Aufgabengebieten, die er sich im Laufe der Jahrzehnte aufgeladen hat, trägt maßgeblich diese Entwicklung. Kaum ein Bereich steht heute im Rahmen der Privatisierungsbemühungen nicht zur Disposition, auch nicht Bereiche der Kultur oder des Gesundheitswesens, die sich wohl von ihrer Grundstruktur herkömmlichen Denkschemata von Ökonomen am stärksten widersetzen dürften. Je stärker aber die Gesellschaft mit der Wirtschaft und dem wirtschaftlichen Denken und Handeln verflochten wird, desto wichtiger wird die Rolle der Unternehmen: Sie stehen für das Auftreten von Personen, natürlichen wie juristischen, als Wirtschaftsakteure. Bewegen diese Personen sich nicht mehr im privaten Raum, stellen ihre Aktivitäten die eines Unternehmens dar, sei es in einzelkaufmännischer Form oder als internationaler Großkonzern. Der Unterschied ist hier lediglich, daß letzterem wohl kein Privatleben zugeschrieben werden kann. Wenn der ehemals öffentliche Nahverkehr oder Autobahnen irgendwann privatwirtschaftlich betrieben werden, dann muß jedem klar sein, daß Unternehmen für unsere Gesellschaft von ganz elementarer Bedeutung sind. Ihre Handlungen im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmen - wenn auch in stark unterschiedlichem Maße - unser Leben in der Gesellschaft entscheidend mit. Unsere Wirtschaftsordnung, wie sie vom Grundgesetz vorgegeben ist, wird nun durch eine sozialstaatlieh gestützte und präzisierte Marktwirtschaft als einziger Option umgesetzt, in deren Rahmen es nur um Nuancen der Ausgestaltung gehen kann. Das konnte in Teil 2 gezeigt werden 163. Aus einer auf der Freiheit als Möglichkeit fußenden Rechtsordnung konnte dieses Ergebnis - auch mit entsprechenden strafrechtlichen Konsequenzen - bestätigt werden. Wenn dies aber zentraler Punkt unserer Gesellschaft ist und wenn es richtig ist, daß der Mensch in seiner kooperativen Natur dazu neigt, Probleme und Herausforderungen in Gesellschaft zu lösen, dann ist auch klar, daß die Stellung des Unternehmens innerhalb der Gesellschaft eine ganz zentrale sein muß. Da Unternehmen aufgrund ihrer Bündelung von Ideen und (persönlichen und sachlichen) Energien über ein im Vergleich zum Individuum hohes Maß an Macht verfügen, bestimmen sie auch den gesellschaftlichen Diskurs und die Umsetzung seiner Ergebnisse maßgeblich - und zwar mindestens durch Unterdrückung bestimmter Tatsachen bzw. Verhinderung bestimmter Diskurse 164. 163 164
Vgl. oben § 5. I 1. Vgl. oben § 3 III. 1.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
11. Rechtliche Wurzeln im Gesellschafts- und Unternehmensrecht Unternehmen und Verband sind zunächst soziale Phänomene. Die (Rechts-) Gesellschaft und insbesondere die juristische Person sind zunächst rechtliche Konstruktionen, auch und vor allem ursprünglich des Zivilrechts. Wenn daher über die Möglichkeit der Bestrafung von juristischen Personen - ihre Behandlung im Strafrecht - diskutiert wird, muß zunächst an die rechtlichen Wurzeln zurückgegangen werden, die im Zivilrecht und dann auch im Verfassungs- und Verwaltungsrecht liegen. Wegen der thematischen Ausgrenzung der öffentlich-rechtlichen Verbände und Körperschaften in der Arbeit sollen hier nur die Konstitutionsbedingungen im Zivilrecht und auch die Verankerung im Verfassungsrecht interessieren.
1. Veifassungsrecht: Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen und die Untemehmeifreiheit und Ehre Das Grundgesetz nimmt auf juristische Personen in Art. 19 Abs. 3 ausdrücklich Bezug und spricht ihnen in näher bestimmtem Umfang die Grundrechtsfähigkeit zu. Die Grundrechte sollen auch für die juristischen Personen gelten, "soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind" (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG)165. Die rechtlichen Hintergründe zur verfassungsrechtlichen Sicherung und die praktische Relevanz in der Frage der auch für die juristischen Personen geltenden Unternehmerfreiheit und ebenso des Ehrenschutzes sollen näher betrachtet werden. Die juristische Person ist, soweit ein Grundrecht auf sie anwendbar ist, der natürlichen Person gleichgestellt; sie ist selbst Subjekt des Grundrechts und in dieser Eigenschaft ist ihr Verhältnis zu ihren Grundrechten das einer Eignerin, nicht einer Treuhänderin 166. Zugleich ist jedoch klargestellt, daß das Grundgesetz die beiden Grundrechtsträger nicht als substantiell gleich ansieht, es formuliert einen ,Wesensunterschied '. Ihrem grundlegenden Wesen nach sind die Grundrechte auf den Menschen als natürliche Person zugeschnitten, haben ihren eigentlichen, ursprünglichen Grund in der Menschenwürde, an der die juristische Person nicht teilhaben kann. Die juristische Person hat in dieser Begründung an den Grundrechten nur derivativ, durch den Menschen vermittelt teil - was inhaltlich dann, sofern das Grundrecht denn anwendbar ist, keine Unterschiede bewirkt. Dieser Status wird aber nicht nur als rechtstechnische Konstruktion angesehen, sondern ihm wird 165 Vgl. dazu insgesamt die ausführliche Darstellung von J. lsensee, in: ders. I P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118, S. 563 ff. mit. umfangreichen Nachweisen, auf die im weiteren Bezug genommen wird; außerdem: H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, 1985, passim; vgl. auch die w. N. bei l. v. Münch, in: v. Münchl Kunig, GGK, Vorb. Art. 1-19 Rn. 10, W. Krebs, a. a. 0., Art. 19 Rn. 27 ff., insbes. 34 ff.; zur Dogmengeschichte auch: K. Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 1089 ff. 166 Vgl. hierzu und zum folgenden nur J. lsensee, in: ders.!P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 3 ff. m. w. N.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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rechtsethische Substanz beigemessen 167. Die juristischen Personen als Institution bilden jedoch keine dritte Ebene zwischen Individuen und Staat, sondern haben ihren Ort in der Sphäre der die Gesellschaft bildenden Individuen; ihre Legitimation und damit ihr Ursprung soll die grundrechtliche Individualfreiheit sein l68 . So richtig dies zunächst ist, muß hier doch noch einiges ergänzt werden, wie sich später auch noch aus der Bestimmung des Kollektivs als Konstituenten der Rechtsordnung ergeben wird l69 . Als Wesensunterschiede werden aus der Sicht der Verfassung vier Punkte ausgemacht: die Tatsache, daß es sich bei der juristischen Person um eine Zweckschöpfung des Rechts handelt, das dem Gedanken der juristischen Person zugrundeliegende Kontinuitätsprinzip, die Tatsache ihrer Zweckbegrenztheit und die Ersetzung des Ichs und der Psyche durch ein sog. künstliches ,forum internum'. Das führt zu einer weitläufigen Ungleichartigkeit zwischen natürlichen und juristischen Personen, aber auch zu einer Ungleichartigkeit der juristischen Personen untereinander. Umgedreht ergeben sich daher für das Verfassungsrecht zwei Kernfragen: Auf welche inländischen juristischen Personen sind Grundrechte prinzipiell anwendbar und welches sind die Grundrechte, die ihrem Wesen nach konkret in Frage kommen 170? Dabei setzt das Grundgesetz aber die Existenz von juristischen Personen in der Rechtsordnung voraus 171. Dem Verfassungsrecht kommt insofern nur eine affirmative Rolle zu. Die juristische Person wird als Bestandteil der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft geschützt, nicht jedoch werden von der Verfassung vorgefundene Formen der juristischen Person geschützt. Dabei kommt die Verfassung jedoch nicht um einen eigenständigen Begriff der juristischen Person herum, da die ratio legis dazu führt, daß nicht jede juristische Person grundrechtsberechtigt ist und weiter auch nicht nur juristische Personen im Sinne des Bürgerlichen bzw. Gesellschafts- oder Unternehmensrechts in die Gunst der Grundrechtsberechtigung kommen. Das Kriterium der juristischen Person in Form der eigenen Rechtsfähigkeit wird als nicht geeignet angesehen, um die Fragestellung des Grundrechts zu lösen. Das ist interessant und wird sogleich bei der Frage nach dem für ein neues Strafrecht in Frage stehenden Subjekt - Verband, Unternehmen, juristische Person? - wiederkehren. Das Verfassungsrecht muß also zunächst die Unterscheidung von grundrechtsfähiger und nicht-grundrechtsfähiger, weil staatlicher Organisation vornehmen l72 und dann die lediglich gemeinsame Grundrechtsausübung von der grundrechtsfähigen Organisation abschichten. In der zweiten Frage soll es darum gehen, 167 168 169 170
Vgl. dazu F. Rittner; Die werdende juristische Person, S. 159 ff. Vgl. J. Isensee, in: ders.! P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 7 ff. m. w. N. Vgl. dazu unten § 11 I. 3. und III. J. Isensee, in: ders.!P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 19; auch W Rüfner; in: J. Isensee / P. Kirchhof, HStR, Band V, § 116 Rn. 54 ff. und 36 ff. 171 J. Isensee, in: ders.! P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 21. 172 Vgl. J. Isensee, in: ders.! P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 24 ff. m. w. N.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
ob die mögliche Kooperation von Individuen sich "im Rahmen einer gemeinsamen Organisation vollzieht", "ein kollektiv überwölbter Grundrechtsträger" hinzutritt und die "faktischen Zusammenhänge und Interdependenzen [ ... ] sich zu einer Organisationseinheit verdichten, die von den beteiligten Menschen als (relativ) eigenständige Größe erfahren und akzeptiert wird,,173. Als für die verfassungsrechtliche Qualität ausschlaggebend wird die Fähigkeit der Organisationseinheit angesehen, als solche zu entscheiden, zu handeln und die Rechtsfolgen zu tragen l74 . Die in dieser Ausdrucksweise liegenden Gedanken weisen auch für dogmatische Betrachtungen im Strafrecht in die richtige Richtung. Für eine juristische Person als Fiktion im Sinne einer rechtlichen Konstruktion ist hier keinesfalls mehr Platz. Da der Ausdruck ,juristische Person' jedoch dem Privatrecht entstammt, ist genaugenommen überhaupt nicht mehr die Rede von einer juristischen Person in diesem Sinne, also auch einer an der Verbandstheorie orientierten, sondern von einem eigenständig, weil verfassungsrechtlich herausgearbeiteten Kollektiv, für dessen Bestimmung nur auf den dem Verfassungsrecht vorausliegenden Umstand der Konstitution als juristische Person des Privatrechts maßgeblich zurückgegriffen wird. Man könnte dies - sprachlich zugegebenermaßen unelegant - als ,verfassungsrechtlich rechtsfähiges Kollektiv' bezeichnen. Die tatsächliche Berechtigung einer grundsätzlich grundrechtsfähigen (verfassungsrechtlichen) juristischen Person im Hinblick auf ein einzelnes Grundrecht wie auch das der Unternehmerfreiheit und der Ehre - wird dreifach begrenzend bestimmt: durch den Wesensvorbehalt des Art. 19 Abs. 3 GG, durch die Forderung, daß die Grundrechte mit dem Organisationstypus der juristischen Person vereinbar sind, und durch das Kriterium, daß sie der jeweiligen Zweckwidmung entsprechen 175 • Insofern kann davon gesprochen werden, daß im Verfassungsrecht - anders als im Zivilrecht ~ der Gedanke der "ultra-vires-Doktrin" gilt, also die Begrenzung der Existenz einer juristischen Person durch ihren (rechtmäßigen) Verbandszweck l76 . Dies ist für das Verfassungsrecht aber auch zu akzeptieren, da dieses die Zuteilung bzw. besser Zuordnung von besonderen Rechtspositionen in einem Staat vorzunehmen hat, der sich - im Einzelfall daher auch immer mindestens prima facie - am freiheitlichen einzelnen Individuum orientieren muß. Von den Freiheitsgrundrechten kommen für eine wesensmäßige Anwendung im konkreten Fall vor allem das Eigentumsgrundrecht l77 , der Schutz der Existenz, Funktion und Zweckidentität (in Parallele zum Recht des Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit) und der Schutz des künstlichen forum internum, weiter noch die Verfahrens grundrechte wie die Rechtsschutzgarantie und 173
J. Isensee, in: ders.! P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 28.
Vgl. J. Isensee, in: ders.! P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 28. Vgl. J. Isensee, in: ders.!P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 34 m. w. N.; auch W. Rüjner; in: J. Isensee / P. Kirchhof, HStR, Band V, § 116 Rn. 36. 176 Vgl. dazu an dieser Stelle K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 221 f. 177 Vgl. J. Isensee, in: ders.!P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 55 ff. rn w. N. 174 175
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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das rechtliche Gehör l78 in Frage. Die im Kontext der Arbeit interessierenden potentiellen Grundrechte der Unternehmerfreiheit und des Schutzes der Ehre sind dem Schutz der Existenz, Funktion und Zweckidentität (Unternehmerfreiheit, Ehre als Tätigkeitsvoraussetzung) und dem Schutz des forum internum (Unternehmerfreiheit) zuzuordnen. Der insbesondere auch in Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Kollektiven behandelte Schutz der Ehre 179 findet seine Verankerung in Art. 5 Abs. 2 GG, der das Recht der persönlichen Ehre zwar ausdrücklich benennt, es jedoch nicht als eigenständiges Grundrecht sichert 180. Es wird aufgeführt als Schranke für das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Eine konsequente Herleitung des Ehrschutzes sollte daher wohl aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 einheitlich erfolgen l81 . Inhaltlich besagt der verfassungsrechtliche Ehrbegriff vor allem, daß der Anspruch der Person auf Achtung "als Person" zu wahren ist, also daß der Mensch als Träger geistigen und sittlichen Wertes zu achten ist. 182 Hinzu kommt der aus dem individuellen Verhalten folgende soziale Geltungswert 183 . Für die - verfassungsrechtlich näher bestimmte juristische Person ist nun der grundrechtliche Schutz der Ehre seinem Wesen nach grundsätzlich anwendbar, hier ist dann allerdings die Herleitung im einzelnen umstritten 184. Ein weiteres problematisches Argument im Zusammenhang mit der Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person taucht im Verfassungsrecht auf: der Grundrechtsschutz nach der Personennähe, der in abgeschwächter Form auch vom Bundesverfassungsgericht vertreten wird l85 . Je stärker die in Rede stehende Organisa178 V gl. J. lsensee, in: ders.l P. Kirchhof, HStR, Band V, § 118 Rn. 54: soweit die juristische Person überhaupt Beteiligte in einem Prozeß sein kann, sind diese Grundrechte ohne Einschränkungen anwendbar. 179 Vgl. nur H. J. Hirsch, ZStW 107 (1995), S. 285 (292) m. w. N.; A. Ehrhardt, Unternehmensde1inquenz, S. 190 f.; kritisch dazu vor allem F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 140 ff. 180 Vgl. R. Stark, Ehrenschutz, S. 31. 181 Vgl. R. Stark, Ehrenschutz, S. 37 mit der Darstellung des Meinungsstreites über die Herleitung des Ehrschutzes unter Einbeziehung von "innerer" und "äußerer" Ehre, S. 34 ff.; vgl. auch Ph. Kunig, in: v. Münchl Kunig, GGK, Art. 2 Rn. 35 m. w. N. 182 Vgl. R. Stark, Ehrenschutz, S. 25 m. w. N. 183 Vgl. R. Stark, Ehrenschutz, S. 27. 184 Vgl. Ph. Kunig, in: v. MünchlKunig, GGK, Art. 2 Rn. 7 und 39 m. w. N.; inwieweit die Ehre eines Kollektivs deIjenigen einer natürlichen Person vergleichbar ist, soll hier nicht endgültig beantwortet werden. Eine skizzenhafte Antwort wird sich aus der Konzeption des Kollektivs in Teil 4 der Arbeit ergeben. Die vielfältigen gesellschaftlichen bzw. soziologischen Funktionen und Bezüge der Ehre kann die Kollektivehre jedenfalls weitgehend ausfüllen, vgl. hierzu nur ausführlich und m. w. N. L. Vogt, Zur Logik der Ehre, passim, 104 ff., 194 ff., zusf. S. 388 ff. 185 Vgl. BVerfGE 50, 290 (348, 357 ff.); dazu J. lsensee, in: ders.l P. Kirchof, HStR, Band V, § 118 Rn. 75 m. w. N.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
tion entpersonalisiert ist - wie dies zweifellos bei großen Kapitalgesellschaften der Fall ist - desto schwächer sei der grundrechtliche Schutz zu begreifen, bis hin zur völligen Verflüchtigung. Dieser Ansatz ist jedoch abzulehnen, da er hier einen Teil der Begründung als absolute Grenze setzt l86 . Der genauere Grund dieser Ablehnung wird sich aus der genauen Beschreibung des Kollektivs gerade auch im Verhältnis zum Individuum ergeben. Mehrere Dinge sind an dem verfassungsrechtlichen Befund bemerkenswert: Zunächst wird die juristische Person als vorverfassungsrechtliche akzeptiert als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, und vieles deutet in den Formulierungen darauf hin, daß gerade auf den nicht nur vorverfassungsrechtlichen, sondern sogar auf den vorrechtlichen Befund des Verbandes in der Gesellschaft Bezug genommen wird, denn der Begriff der Rechtsfähigkeit wird ja als ungenügend angesehen. Weiter wird die nun nicht mehr parallel zum Gesellschaftsrecht bestimmte juristische Person sehr ernst genommen, wenn sie als Eignerin, nicht Treuhänderin der Grundrechte bezeichnet wird (dem läuft eine Orientierung an der Personennähe natürlich entgegen). Und schließlich wird die juristische Person sehr differenziert betrachtet, wenn auf das forum internum und das Kontinuitätsproblem referiert wird. Es ließe sich in diesem Zusammenhang sicher begründen, daß auch das Verfassungsrecht eigentlich vom Begriff der Kollektivität und nicht von dem der zivil- / gesellschaftsrechtlich geprägten juristischen Person ausgeht. Das ist jedoch nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit. 2. Zivilrecht: Konstituierung der juristischen Person als Untemehmensträger Wie die vom Verfassungsrecht als solche (zumindest im wesentlichen) bereits vorausgesetzte juristische Person des Privatrechts zu begreifen ist und welches die Voraussetzungen für ihr Entstehen sind, darüber geben das allgemeine Zivil-, das Gesellschaftsrecht und auch das Handelsrecht Auskunft. Auch hier lässt sich das Spiel mit den verschiedenen Begriffen (Unternehmen, Verband, juristische Person) ausmachen, was für sich genommen allein schon aufgrund der lang anhaltenden Dauer der wissenschaftlichen Diskussion in dieser Sache dafür spricht, daß nicht die Rede sein kann von der schlicht fiktiven (fingierten) juristischen Person. Der allgemeine Lösungsweg der zivilrechtlichen Dogmatik ist ebenso lehrreich wie die davon abweichenden Versuche, allerdings keinesfalls allein entscheidend für ein Strafrecht, das die Wirklichkeit in sich aufnehmen will. a) Das Unternehmen und der Verband als soziale Realität Der Ausgangspunkt für die Betrachtung der juristischen Person ist zunächst das Unternehmen als soziales Phänomen. Juristische Personen müssen, solange 186
Vgl. J. lsensee, in: ders.! P. Kirchof, HStR, Band V, § 118 Rn. 75 m. w. N.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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es sich um Verbände handelt (also nur unter Ausnahme der Stiftung 187 ), grundsätzlich einen Verbandszweck verfolgen, und ein solcher Zweck kann eben auch im Betreiben eines Unternehmens liegen 188. Es wird bestritten, daß das Unternehmen notwendigerweise der Ausgangspunkt einer sich wirtschaftlich betätigenden juristischen Person ist, jedenfalls stellt es ihr soziales Substrat dar 189 . Eine allgemeingültige juristische Definition des Unternehmens gibt es nicht, d. h. in den einzelnen Rechtsgebieten wird der Begriff unterschiedlich und zwar teleologisch verwandt, also nach dem Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes; daher trifft man im Konzernrecht, im Arbeits- und Kartellrecht einen anderen Begriff des Unternehmens an als im Handelsrecht 19o . Aber auch der handelsrechtliche Begriff ist noch nicht abschließend konturiert. Hier steht er noch in Konkurrenz zu dem für das Handelsrecht traditionell konstitutiven Begriff des Gewerbes: Er soll im Verhältnis zu diesem eine Fortentwicklung des Handelsrechts aus alten, verkrusteten Strukturen des Kaufmannsrechts hin zu einem Außenprivatrecht der Unternehmen bringen 191 . Der Unternehmensbegriff soll in Anlehnung an den Organisationscharakter zum einen ein Mindestmaß an sachlichen und persönlichen Mitteln, ein Mindestmaß an organisierter Einheit und ein äußeres Auftreten der organisierten Wirtschaftseinheit am Markt enthalten 192 . Karsten Schmidt versteht das Unternehmen unter Integration der organisatorischen Elemente als selbständige, anbietende und entgeltliche rechts geschäftliche Tätigkeit am Markt, die sich durch Planmäßigkeit und Ausrichtung auf Dauer auszeichnet 193 • Diese Definition versucht die soziale Realität des Unternehmens als wirtschaftliche und soziale Einheit abzubilden. Eben diese Einheit stellt den notwendigen Ausgangspunkt aller weiteren Betrachtungen dar 194 . Dem trägt das Recht auch z. B. in der Unternehmensbewertung Rechnung: Sie betrachtet das Unternehmen als lebende Einheit 195 . Der Versuch, das Unternehmen selbst als rechtliche Einheit zu betrachten, bringt im Handelsrecht als besonderem Außen-Privatrecht Schwierigkeiten mit sich, die sich letztlich nicht lösen lassen - anders im Konzernrecht oder im Arbeitsrecht, die es einfacher haben, weil es ihnen nur um die Bewertung innerer Strukturen und Vorgänge geht. Dem Handelsrecht kann jedoch nur eine Lösung genügen, die eindeutige Ergebnisse produziert und eine genaue Zuordnung von Rechten und PfIichVgl. hierzu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 181 ff. Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 59 ff., 63 ff. und insbesondere zum Grenzproblem des Unternehmensmantels als einer "entleerten" juristischen Person und seiner Gründung und Verwendung: S. 70 ff. 189 Vgl. F. Rittner, Die werdende juristische Person, S. 189 ff. 190 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 63 f. 191 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 67. 192 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 66. 193 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 67. 194 Anders beispielsweise F. Rittner, Die werdende juristische Person, S. 191 ff. 195 Vgl. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 73 m. w. N. 187 188
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begriindung eines Kollektivstrafrechts
ten ZU einem bestimmten Zeitpunkt erlaubt l96 . Es geht also um die Frage der zivilrechtlichen Rechtsfähigkeit. Ein organisatorischer und sozialer Verband kann solche Anforderungen nicht in entsprechendem Maße erfüllen, weil dann zwangsläufig auf eine - mehr oder weniger willkürliche - wirtschaftliche Betrachtungsweise abgestellt werden müßte. Insofern ist das Ergebnis aus handelsrechtlicher Sicht vorgezeichnet: Das Unternehmen muß einem eindeutig bestimmbaren Unternehmensträger zugeordnet werden; das kann z. B. ein Einzelkaufmann sein oder auch eine Aktiengesellschaft. Nur auf diese Weise kann die Sicherheit in den Fragen der Vermögenszuordnung erreicht werden. Diese scheinbar etwas künstliche Konstruktion - dieser Formalismus 197 - bringt aber auch einige Schwächen mit sich, die nicht vergessen werden sollten: So ist es z. B. naheliegend, durch die Bildung zweier Rechtsträger für ein eigentlich wirtschaftlich und u. U. auch organisatorisch zusammenhängendes Geschäft eine Aufspaltung der (zivil- oder verwaltungsrechtlichen) Haftung herbeizuführen l98 . Die Schwachstellen dieser Konstruktion werden besonders beleuchtet von denjenigen Lehren, die für eine Anerkennung des Unternehmens selbst als Rechtssubjekt eintreten, und es empfiehlt sich, diese Fragen des Haftungsmißbrauchs, die unter dem Titel ,Haftungsdurchgriff' diskutiert werden, im Hinterkopf zu behalten. Um der Figur des Unternehmens näherzukommen, ist es auch interessant, die Behandlung des Unternehmens zu betrachten, wenn es selbst zum reinen / einfachen Gegenstand des Rechtsverkehrs wird. Hier tut sich ein weiterer fundamentaler Unterschied zum natürlichen Individuum auf, das selbst niemals Gegenstand des rechtsgeschäftlichen Verkehrs sein kann. Es zeigt sich hier bereits, daß es kaum das Unternehmen alleine sein kann, das dem Individuum im Strafrecht entgegengestellt wird. Ist es im Rahmen der schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfte noch möglich, das Unternehmen durch eine wirtschaftliche Einheitsbetrachtung als Einheit zu behandeln, ist dies bei Verfügungsgeschäften nach sachenrechtlichen Regeln, namentlich durch den Spezialitätsgrundsatz, nur sehr begrenzt möglich l99 . Abseits von § 411 BGB gilt, daß nur jeder sonderrechtsfähige Gegenstand und gerade kein Inbegriff von Gegenständen übertragen werden kann, es sei denn, es handelt sich um Fälle wie die Verschmelzung oder Spaltung von Unternehmen nach dem Umwandlungsgesetz. Aber selbst wenn alles sachenrechtlich - nach welchen Vorschriften und Grundsätzen auch immer - übertragen worden ist, ist der Erwerber noch nicht voller Unternehmensträger. Dazu müssen noch eine ganze Menge weitere Prozeduren erledigt werden, damit die ,Einheit Unternehmen' übergegangen ist; denn eine ganze Reihe von natürlichen Akten, wie die Einweisung in organisatorische Dinge, Geschäftsgeheimnisse, Handelsbräuche etc. müssen wiederum noch vollzogen werden. Hier kommt zum Tragen, daß es sich beim Unternehmen 196 197 198 199
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
K. Schmidt, Handelsrecht, S. 75. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 80. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 80 f. K. Schmidt, Handelsrecht, S. 140 f.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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um eine komplexere soziale Einheit handelt, die mit Rechten und Pflichten alleine nicht zu erfassen ist. Auch der Begriff des Verbandes ist kein genuin juristischer, sondern zunächst eine empirisch-soziale Größe - auch wenn er zu einem solchen Begriff gemacht werden kann. Neben dem Vorliegen eines Verbandszweckes und eines Gesellschaftsvertrages oder einer Satzung ist ein Verband dadurch charakterisiert, daß bei ihm eine organisatorische Verselbständigung und eine Unterscheidung der dem Verband zugeordneten Sozialforderungen und Sozialverpflichtungen von den Individualverpflichtungen und Individualforderungen, die den Mitgliedern zugeschrieben werden, und auch von Drittschuldverhältnissen stattfindeeoo . Der Begriff des Verbandes ist also offensichtlich nicht deckungsgleich mit dem des Unternehmens, hat aber wesentliche Überschneidungen. Ein Unternehmen kann eine Verbands struktur haben, muß es aber nicht, wie die Fälle des Einzelkaufmanns oder der Ein-Mann-GmbH zeigen. Auf der anderen Seite sind Vereine auch Verbände, aber - zumindest regelmäßig rechtlich und wohl auch tatsächlich - keine Unternehmen. b) Die Konstituierung der juristischen Person Jede (Rechts-) Gesellschaft hat zur Basis die Begründung von (gegenseitigen) Schuldverhältnissen, welche für die Ausgestaltung im Innenverhältnis von Bedeutung sind. Darüberhinaus kommt nun in aller Regel eine Verbandsstruktur hinzu, deren Charakteristika bereits genannt wurden 201 . Der Begriff des Verbandes ist dabei nicht mit dem der Körperschaft gleichzusetzen. Körperschaftlich verfaßte Verbände haben eine ausgeprägt verselbständigte Verfassung gegenüber ihren Mitgliedern. Diese körperschaftliche Struktur ist Voraussetzung für die Anerkennung der Rechtsfähigkeit eines Verbandes 202 . Weiter läßt sich sicher sagen, daß die Verbandsorganisation zur rechtlichen Verselbständigung geradezu drängt203 . Um sich der Schwierigkeit der juristischen Person als Unternehmensträger und der daraus folgenden Konsequenzen bewußt zu werden - und erst die Existenz von überindividuellen Verbänden als rechtliche Organisationseinheit bringt das folgende Problem auf -, scheint es zunächst hilfreich zu sein, einen Blick auf die Thematik der Mantelgründung und Mantelverwendung zu werfen. Grundsätzlich Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 175 f. Eine Ausnahme bildet insofern nur die Stiftung, die über keine verbandsstrukturelle oder verbandsrechtliche Grundlage verfügt; vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 181 ff. Konstitutiv sind hier: Stiftungszweck, Stiftungsverrnögen und die Stiftungsorganisation. Ihren Ausdruck findet der Nicht-Verbands-Charakter vor allem auch in der Stellung von Stifter und Stiftungsbegünstigtem (S. 187). 202 V gl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 177 f. 203 V gl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 189, der auch festhält, daß die Rechtsfähigkeit der Verbände als Freiheitselement gegenüber dem Staat zu verstehen ist. 200 201
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wird hier angenommen, daß der Verbandszweck - also z. B. das Betreiben eines Wirtschaftsunternehmens - konstitutive Bedeutung für die juristische Person hat. Daher sind Unternehmensmäntel, also ,leere' Gesellschaften ohne Geschäftsbetrieb, unter dogmatischen Gesichtspunkten eigentlich abzulehnen. In der Praxis werden sie aber rege verwandt und für ein vollständiges Verbot wird sowohl in der Rechtsprechung wie auch in der Literatur keine Notwendigkeit und teilweise einfach auch keine Handhabe gesehen 204 . Präziser handelt es sich bei einem Mantelverband um eine rein äußere Form einer Gesellschaft, die nur noch durch ihre Geschäftsanteile verkörpert wird, aber ansonsten mangels Zweckverfolgung und Unternehmensgegenstand nicht mehr lebensfähig ist205 . Verbandszweck und Organisation, die sich letztlich gerade im Unternehmen manifestieren, machen also auch einen wesentlichen Aspekt der juristischen Person aus. Das wird durch die skeptische Behandlung des Unternehmensmantels auch unterstrichen. Die sich gegenseitig ausschließende Gegenüberstellung von ,hier Unternehmen, dort Unternehmensträger' scheint damit unangemessen und künstlich. Dieses ist auch bereits früh gesehen worden und fand seinen Ausdruck im Theorienstreit um die juristische Person am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis heute werden mit ihm die beiden Namen v. Savigny und v. Gierke als Vertreter zweier sich scheinbar beinahe unversöhnlich gegenüberstehender Ansichten verbunden: Fiktions- und Genossenschaftstheorie. Wie aber u. a. Karsten Schmidt betont, sind die Gegensätze längst nicht so tief wie behauptet: Vielmehr betonen sie nur einen jeweils anderen Aspekt ein und der sei ben Sache ohne den anderen dabei gänzlich zu negieren - es geht um den rechtssoziologischen Befund (des Unternehmens) einerseits und die (im engeren Sinne) juristische Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Verband als soziales Gebilde vom Zivilrecht als Subjekt anerkannt werden soll, andererseits 206 . Von Gierke betont in seinen Abhandlungen die Verbandsperson als soziale Realität und somit den rechtssoziologischen Befund; damit wird zweierlei herausgehoben: zum einen, daß nur die Frage nach der Rechtsfähigkeit eine Rechtsfrage sein kann, nicht dagegen das Dasein der Verbände als solches, und zum anderen, daß die Antwort auf die Frage nach der juristischen Personifikation nicht der staatlichen Willkür anheimgestellt sein kann 207 .
204 Die herrschende Meinung behandelt die Problematik als Frage des Untemehmensgegenstandes. Karsten Schmidt hingegen als Frage des Verbandszweckes. Vgl. hierzu und zum folgenden K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 70 ff. m. w. N. 205 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 71 m. w. N. 206 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 195 f.; allgemein zu dieser Diskussion auch ders., 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 6 ff., 12 ff.; S. 20 ff. betont Schmidt auch die Ergiebigkeit des v. Gierkeschen Ansatzes zur Lösung aktueller Probleme im Privatrecht bzw. näher: Gesellschaftsrecht, insbes. für den Problemkreis des fehlerhaften Verbandes. 207 Vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 196 ff. m. w. N. und zu v. Gierke auch die Nachweise unten § 11 I. 3.
§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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Von Savigny208 hingegen konzentriert sich vor allem auf die juristische Fragestellung. Er hebt heraus, daß die Rechtsfähigkeit natürlicher und juristischer Personen etwas vollkommen unterschiedliches ist: die Rechtsfähigkeit von Verbänden beruht - im Gegensatz zur zwingenden natürlichen Rechtsfähigkeit des Menschen - auf positiv-rechtlicher Zuweisung, wobei die Differenz teils rechtsethische, teils rechtstechnische Ursachen habe 209 . Und an dieser Stelle kommen nun Gedanken zum tragen, die oben bereits angedeutet wurden. Rechtsfähigkeit setzt Identität und Publizität des Subjekts voraus - beides Eigenschaften, die nur dem Menschen von Natur aus zukommen 21O. Es muß also auch bei Verbänden darum gehen, wie Identität und Publizität sichergestellt werden können. Daher rührt die Idee des Unternehmensträgers, der durch staatliche "Verleihung" (an den Verband) entsteht. Dem Staat sind dabei theoretisch drei Möglichkeiten eingeräumt, die in der Realität der Rechtsordnung allerdings in Kombination vorliegen: ein System freier Körperschafts-Bildung (die nach dem Grundgesetz auch verfassungsmäßig geschützt ist), ein Konzessions-System (Tätigkeit der Registergerichte, welche die Publizität gewährleisten) und ein System der Nonnativbestimmungen (des Gesellschaftsrechts)211. Bisher war nur von der Rechtsfähigkeit als solcher die Rede, ohne auf den Inhalt dieses Begriffes selbst einzugehen. Der Begriff der Rechtsfähigkeit nämlich wird auch nicht einheitlich verstanden: Die einen sehen die Rechtsfähigkeit als umfassend und ungeteilt an, wohingegen andere von einer gestuften Zurechnungsfähigkeit und insofern relativen Rechtsfähigkeit ausgehen 212 . Dabei ist letzteren zuzugeben, daß endlos von der Grundrechtsfähigkeit bis hin zur Insolvenzrechtsfähigkeit differenziert werden kann; die Rechtsfähigkeit als solche ist aber auf einer abstrakteren, vorgelagerten Stufe zu thematisieren, nämlich in Abgrenzung zu nicht-rechtsfähigen Subjekten wie z. B. der Innen-Gesellschaft. Es taucht hier eine Streitfonn auf, wie sie auch für die Diskussion Indetenninismus-Detenninismus charakteristisch ist213 . Es geht zugleich um eine allgemeine abstrakte Bestimmung eines Sachverhalts und um eine konkrete Einzelfall-bezogene Betrachtung, die jedoch argumentativ auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Rechtsfähigkeit ist daher eine unteilbare Eigenschaft im Hinblick auf ein Subjekt. Um eine verwandte Problemstellung geht es bei der aus dem angloamerikanischen Rechtskreis stammenden sogenannten ,ultra-vires-doctrine .214. Rechts208 Heute wird v. Savignys Theorie maßgeblich von W Flume verfolgt, vgl. das., Die juristische Person, passim. 209 V gl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 198 ff. 210 Vgl. nochmals aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel: J. Isensee in: das. / P. Kirchof, HStR, Band V, § 118 Rn. 10 ff. 211 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 199 ff.; das., 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 24 f.; dazu i. e. F. Rittner, Die werdende juristische Person, S. 17 ff., 52 ff. 212 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 219 ff. 213 Vgl. dazu oben § 3 H. 2. 16 Kohlhoff
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
und Handlungsfähigkeit eines Verbandes sollen danach durch seinen Verbandszweck begrenzt sein. Das deutsche Recht kennt eine solche Begrenzung zu Recht nicht, denn es geht bei der Frage in Wahrheit um das Innenverhältnis und die Reichweite der Geschäftsführung und nicht um Vertretungsfragen. Eine solche Doktrin widerspricht im übrigen der oben dargelegten (zivil-) rechtlichen Forderung nach einer eindeutigen Identität und Publizität des Subjekts. Um Fragen der Vertretung geht es dagegen im Streit zwischen der Vertretungsund der Organ-Theorie. Auch mit diesem Streit werden vor allem die Namen v. Gierke und v. Savigny verbunden 215 . Im Ergebnis hat sich dieser Streit vor allem in der Interpretation des § 31 BGB niedergeschlagen. Nach der Vertretertheorie ist der Verband selbst handlungsunfähig, da er kein denkendes und wollendes Wesen ist. Nach der Organtheorie dagegen ist von der sozialen Wirklichkeit des Verbandes auszugehen und eine Handlungs- und Willensfähigkeit zu bejahen. Die Zeit hat letztlich eine Entscheidung zugunsten der bereits von v. Gierke vertretenen Organtheorie gebracht. Daher handelt es sich nach der herrschende Meinung beim Handeln der Organe einer juristischen Person um eigenes Handeln des Verbandes, und die Zurechnungsfrage ist eine der Eigen- und nicht der Fremdzurechnung216 . Die Organe können deshalb auch als Handlungsorgan (z. B. Vorstand), Willensbildungsorgan (z. B. Hauptversammlung) und Aufsichtsorgan (z. B. Aufsichtsrat) bezeichnet werden. Diese Betrachtungsweise ändert jedoch nichts daran, daß nur der Mensch verantwortlich handelt und der juristischen Person im Zivilrecht das Handeln und Wollen natürlicher Personen zugerechnet wird217 .
c) Das Unternehmen als Träger von Rechten und Pflichten? Das Unternehmen ist als wirtschaftliche Einheit ein organisatorisches und soziales Gebilde, das allerdings kein Rechtssubjekt ist und für die Teilnahme am Rechtsverkehr einem Unternehmensträger zugeordnet wird. Dennoch wird in der Literatur mit organisations- und rechtssoziologischen Argumenten, die auf das Gewicht des sozialen Gebildes Unternehmen nach innen wie nach außen im Rechtsverkehr aufbauen, die Anerkennung des Unternehmens selbst als Rechtssubjekt gefordert 218 . Die Grundmotivation hinter diesen Ansätzen liegt vor allem in dem Bestreben, den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu überwinden und das Unterneh214 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 221 f.; diesen Gedanken führt maßgeblich F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, gegen eine Kollektivstrafe ins Feld, S. 150 ff. 215 Vgl. dazu K. Schmidt, 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 15 ff. auch m. w. N. 216 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 255 ff.; ders., 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 18 f.; vgl. dazu die Kritik bei W Flume, Die juristische Person, S. 18,378 f. 217 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 260 f.; ders., 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 19. 218 Vgl. Th. Raiser, Unternehmen als Organisation, S. 166 ff.; in die gleiche Richtung zielt auch die Arbeit von C. Ott, Unternehmenskorporation, S. 226 ff., 272 ff.
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men als Versöhnung der beiden Opponenten zu sehen - nämlich als Verband von Gesellschaftern und Arbeitnehmern 219 • Der Grund für die eigene Rechtspersönlichkeit des Unternehmens soll in der real existierenden Verbandspersönlichkeit liegen, der aufgrund ihrer tatsächlichen Anerkennung (Personifizierung) etwas von der Eigenart der natürlichen Person und deren Würde zufließt22o • Diese Gedanken werden noch von anderer Seite um einen ausdrücklicheren Hinweis auf die politische Dimension der Verbände ergänzt, die im Zivilrecht nicht genügend wahrgenommen werde221 • In diesem Ansatz geht es vor allem um Kritik von verschleierter und unkontrollierter Macht im Bereich des Gesellschaftsrechts und deren Kontrolle 222 . Letztere wird in einer ,modifizierten Mitbestimmung' gesehen, die durch eine Unternehmensversammlung von Arbeitnehmern, Anteilseignern und Vertretern staatlicher Zentralinstanzen (Regierung, Parlament) verwirklicht wird223 • Auch hier wird ausgehend von der sozialen Realität für die Rechtsfähigkeit des Verbandes, eigentlich des Unternehmens, eingetreten224 • Das wird durch interessante Ausführungen zur Korporationsstruktur gestützt, die sich u. a. mit den soziologischen Befunden des Verbandes beschäftigen, jedoch an dieser Stelle nicht weiter interessieren, da es zunächst um die Sicht des Zivilrechts gehen soll. Für das Zivilrecht ist nun festzuhalten, daß die eben beschriebenen Versuche, dem Unternehmen oder dem Verband zu einer (zivilrechtlichen) Rechtsfähigkeit zu verhelfen, fehlgehen müssen. Denn diesen Ansichten muß entgegengehalten werden, daß die Zivilrechtsordnung bzw. der innerhalb dieser stattfindende Rechtsverkehr nicht schlicht auf abgegrenzte Zurechnungssubjekte verzichten kann 225 • Weder Unternehmen noch Verband können dieses elementare Bedürfnis befriedigen. Es ist zwar zuzugeben, daß die Herausarbeitung der besonderen Struktur des Verbandes und auch seine notwendige Einbindung in die politische Gesellschaft den richtigen Weg verfolgt - jedoch nicht für das allgemeine Zivil- bzw. Gesellschaftsrecht. Es ist allerdings denkbar, daß diese Erkenntnisse im Rahmen der Teilgebiete, in denen es auf faktische Betrachtungen ankommen kann (Konzern- oder Arbeitsrecht), eine gewisse Relevanz entfalten können. 219 Vgl. Th. Raiser, Unternehmen als Organisation, S. 111 ff., 138 ff., 157 ff.; diesen Gegensatz, den u. a. Raiser überwinden wollte, hatte bereits gut 100 Jahre früher v. Gierke beklagt: ders., Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 1037. 220 Vgl. Th. Raiser, Unternehmen als Organisation, S. 170. 221 Vgl. C. Du, Unternehmenskorporation, S. 52 ff. 222 Vgl. C. Du, Unternehmenskorporation, S. 127 ff., 165 ff., 184 ff.; auf die Kritik Ous an der Wirtschaftsordnung in der Gesellschaft und auf seine staatlich-zentralistischen Ansätze ihrer Kontrolle soll hier nicht eingegangen werden. Die Notwendigkeit dieser Kontrolle soll jedoch von hier aus nicht bestritten werden. Aus den Ausführungen zum Prinzip des Wettbewerbs und zur Integration des Kollektivs in die Rechtsordnung ergibt sich jedoch, daß der von ihm verfolgte Lösungsweg im Hinblick auf die der Gesellschaft zugrundeliegende und in ihr gelebte Freiheit nicht richtig sein kann. 223 Vgl. C. Du, Unternehmenskorporation, vor allem S. 289 ff. 224 Vgl. C. Du, Unternehmenskorporation, S. 85 ff. 225 So zu Recht K. Schmidt, 100 Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 34 ff.
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111. Möglichkeiten einer Anknüpfung im Strafrecht
Aus den Ausführungen zur Konstituierung von Unternehmen, Verband und juristischer Person muß nun eine erste Schlußfolgerung für die weitere Verfahrens weise im Strafrecht gezogen werden. Inwieweit der dann gewählte Ansatz der richtige ist oder ggf. noch modifiziert oder doch verabschiedet werden muß, wird sich im Rahmen der weiteren Betrachtungen zur Dogmatik einer Kollektivstrafe herausstellen. Es gibt grundsätzlich drei denkbare Möglichkeiten zur Anknüpfung eines Kollektivstrafrechts: (i) sich von den Ausführungen ganz zu distanzieren und eine ganz eigene Herangehensweise zu entwickeln, (ii) sich für einen der drei in der Diskussion stehenden Aspekte zu entscheiden (das Unternehmen, der Verband oder die juristische Person) oder (iii) mehrere, u. U. sogar alle drei Aspekte zu integrieren. Die erste Möglichkeit ist meines Erachtens abzulehnen, da sie bereits die Aufgabe des Strafrechts verkennt, sich mit gesellschaftlicher Realität zu beschäftigen, diese im für es relevanten Bereich in sich aufzunehmen und dann im Bezug darauf die ihm übertragene Schutzfunktion auszuüben. Darüberhinaus erscheint ein vollkommen neuer Ansatzpunkt, der weder auf Verband, Unternehmen noch juristische Person Bezug nehmen will, kaum in Sicht. Das Unternehmen, der Verband und die juristische Person sind nun alle drei Bestandteile des Seienden, wenn auch die juristische Person nur als rechtliche Relation: Sie sind jedoch unabweisbare Realitäten, Quelle der in Rede stehenden Probleme und damit notwendige Orientierungspunkte. Letztlich ist auch eine Entscheidung für nur einen der Anknüpfungspunkte abzulehnen, da dieser Ansatz zuwenig von der Realität erfassen würde. Das soll nachfolgend im einzelnen kurz begründet werden. 1. Das Unternehmen oder der Verband als soziale Realität
Wer an das Unternehmen anknüpft, bezieht den Einzelkaufmann und auch die Ein-Mann-GmbH notwendig mit ein, wie schon mehrfach betont wurde. Es geht dann um den Unternehmer als Einheit, seine gesellschaftliche Erscheinungsform. Der zentrale Einwand hiergegen ist, daß zuwenig von der Realität erfaßt würde, da auch denkbar ist, daß Vereine oder große BGB-Gesellschaften als Verbände Straftaten aus ihrem Bereich hervorbringen, auch wenn der Unternehmensbegriff u. U. für ein Kartellstrafrecht genügen könnte. Es wurde jedoch schon oben226 betont, daß eine nebenstrafrechtliche Lösung keine Option ist und die Begründung umfassend ausfallen muß. Außerdem ist aber noch einzuwenden, daß rein an einer Unternehmens-Dogmatik entwickelte Grundsätze zum Komplex der Kollektivstrafe zwangsläufig zu einer Art ,Taterstrafrecht' führen müssen, wie es in den liberalen Gesellschaften der Gegenwart aus gutem Grund nicht existiert227 . Letztlich kann Vgl. oben § 8 IV. 3. U. Schroth sieht als zusätzliches Ergebnis seiner Untersuchung just zum Untemehmensstrafrecht gerade einen Beitrag zur Aufdeckung von tatstrafrechtlichen Entwicklungen 226
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§ 9 Unternehmen, juristische Person und Verband
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man auch fragen, ob im Unternehmensbegriff der Gedanke der selbständigen Verbandsorganisation überhaupt ausreichend repräsentiert ist, auch wenn man die Einoder Zwei-Personen-Unternehmen ausgrenzte. Das ist zwar eine Definitionsfrage, die Qualität des Beitrags eines Strafrechts, das sich auch begrifflich von den aufgenommenen Lebenssachverhalten entfernt, erscheint jedoch fraglich. Nichtsdestotrotz erfasst der Unternehmensbegriff bestimmte Dimensionen, die von Bedeutung sind, nämlich die rechtlichen und sozialen Beziehungen und die Verknüpfung von personellen und sachlichen Mitteln. Die Verbandsstruktur erscheint dagegen schon auf den ersten Blick für sich geeignet, die kollektive, am Mehrpersonenverhältnis orientierte Dimension einzufangen, auf die ja bereits die soziologischen und näher vor allem die kriminologischen Befunde verweisen. Aber sie läßt zumindest für weite Bereiche eines Kollektivstrafrechts - vor allem auch für das Wettbewerbsrecht - die unternehmerische Dimension außen vor, bzw. diese würde automatisch über den Verbandszweck mit transportiert. Das würde das Kriterium der Verbandsstruktur dennoch nicht zu einem ungenügenden machen. Der Verband erscheint damit zumindest als notwendiges Anknüpfungskriterium geeignet.
2. Unternehmensträger als Rechtsperson
Die juristische Person als tatsächliches Geschöpf des Rechts kann keinesfalls ein hinreichendes Kriterium sein, um den Begriff des strafrechtlichen Kollektivs mit zu bilden. Dagegen spricht zunächst intuitiv, daß die positiv-rechtliche Zuteilung nicht über strafrechtliches Verhalten entscheiden können soll. Denn anders als das Zivilrecht, dem es vor allem um die Zuordnung von Vermögensmassen und die Sicherung von Regeln für deren Austausch gehen muß, hat das Strafrecht sich mit der ganzen sozialen Realität zu befassen. Dies kann auch - wie im Fall der Eigentumsdelikte - mit Bezug auf das Zivilrecht geschehen, aber eben nicht ausschließlich. Der Mensch und seine Rechtsgüter - die allgemein freiheitssichernden Grundlagen - werden vom Strafrecht anders als vom Zivilrecht betrachtet. Vor allem aber würden auf diese Weise eben die Handels- und Personengesellschaften aus dem Kollektivstrafrecht ausgeschlossen. Sie stellen jedoch wichtige verbandsmäßig verfestigte Gruppen von Menschen dar. Als notwendiges Kriterium kann die juristische Person allerdings dann Relevanz entfalten, wenn man sich vom zivilrechtlichen Sprachgebrauch entfernt und auf die allgemeine Rechtsfähigkeit abhebt (damit sich an den verfassungsrechtlichen Ansatz annähernd). Dann können auch die Handels- und Personengesellschaften wieder mit integriert werden - vor allem auch die (unternehmenstragende) Gesellschaft bürgerlichen Rechts als neuerdings auch vom BGH anerkanntes Rechtssubjekt. Es kommt also weniger auf der jüngeren Vergangenheit: vgl. ders., Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 212 in Fn. I.
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den Status als juristische Person, sondern vielmehr auf die Rechtsfähigkeit bzw. Fähigkeit zur Rechtsträgerschaft an. Mittels dieses Blickwinkels kann zweierlei herausgestellt werden: Es kommt erstens auf die rechtliche Anerkennung durch die Rechtsordnung an und zweitens auf die tatsächliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und damit auch am Rechtsverkehr an. Für das Unternehmen als eigenständigen Träger von Rechten und Pflichten ergibt sich naturgemäß nichts anderes als oben zum Unternehmen ausgeführt wurde, denn man kommt unter strafrechtlichem Blickwinkel nicht darüber hinweg, daß hier der Fokus im Hinblick auf die Realität zu stark verengt wird.
3. Das Kollektiv als hybride Verbindung von Verband, Unternehmen und Unternehmensträger
Da alle Kriterien für sich nun ungenügend erscheinen, weil sie bestimmte Aspekte der Realität außer Betracht lassen müssen, bietet es sich für das Verständnis des neuen potentiellen Strafrechts-Subjektes daher an, alle drei Aspekte - Verband, Unternehmen und Unternehmensträger (rechtsfähiges Subjekt) - im Begriff des Kollektivs aufzuheben 228 . Als Ausgangspunkt sollte das Phänomen des Verbandes genommen werden, da sehr viel dafür spricht, daß mit ihm ein notwendiges Kriterium gefunden ist. Für das Unternehmen ist zumindest sicher, daß es kein hinreichendes Kriterium für das Strafrechts-Subjekt sein kann; daß es ein notwendiges ist, erscheint jedoch ebenfalls wahrscheinlich. Es wird zwar jedenfalls zum Teil bereits über den Aspekt des Verbandszwecks integriert. Es erfaßt jedoch darüber hinausgehende Aspekte, die dem Begriff des Verbandes im Zweifel zu entgehen drohen. Der Begriff des Rechtssubjektes (bzw. wenn man möchte: der nicht zivilrechtlich verstandenen juristischen Person) beleuchtet wiederum das respektierte Agieren des Verbandes bzw. des Unternehmens in der Zivilrechtsgesellschaft. Es kann bis hierhin auch nicht ausgeschlossen werden, daß noch andere notwendige Kriterien ausgemacht werden können. Aufgrund der Tatsache, daß mehrere Momente den Begriff des neuen Strafrechts-Subjektes zu prägen scheinen und u. U. in Teilbereichen auch noch weitere hinzukommen können, ist ein Oberbegriff zu suchen, und dafür wird - wie bereits mehrfach angekündigt - hier der Begriff des Kollektivs vorgeschlagen. Abgesehen von den Konnotationen, die mit diesem Begriff mitschwingen, ist er als konkreter (rechtlicher) Subjektsbegriff noch wenig umgrenzt, in keinem Fall bereits besetzt. Lediglich im Rahmen der Diskussion um die Kollektivschuldthese wird er gebraucht 229 . Dem Begriff wird dann im Laufe 228 Dieser Begriff ist als dem Individuum entgegengesetzt nur bei Stratenwerth zu finden, der ihn jedoch unerläutert verwendet: vgl. ders., Zukunftssicherung mit Mitteln des Strafrechts?, ZStW 105 (1993), S. 679 ff. (685). 229 Vgl. dazu nur ausführlich F. W Rothenspieler, Der Gedanke einer Kollektivschuld, S. 66 ff.
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des Fortganges der Arbeit eine feste Kontur zu verleihen sein 23o . Als weitere Aufgabe steht somit im Raum, das Verständnis des Kollektivs und seiner Einzelaspekte: des Verbandes, des Unternehmens und der Rechtssubjektivität zu klären. Dabei werden grob gesprochen zwei Teilaspekte des Kollektivs zu beleuchten sein: ein sozialer, empirischer - darunter fallen die Begriffe des Verbandes und des Unternehmens - und einen rechtlichen - hierunter zählt der Begriff der juristischen Person bzw. eben besser: Rechtssubjektivität. Nimmt man den allgemeinen sprachlichen Gebrauch, dann haben Kollektive (in einem weiteren, den hier avisierten einschließenden Sinne verstanden) ihren Ursprung darin, daß der Mensch in der Lage und bestrebt ist, sich zur Verfolgung von Zielen zusammenzuschließen231 : Sei es in der örtlichen Gemeinschaft, einem Staat oder - hier relevant - in Verbänden zur Verfolgung von vor allem wirtschaftlichen Zielen. Dabei können äußerst komplexe Organisationen gebildet werden, deren vorläufiger Höhepunkt in der Wirtschaft das echte multinationale Unternehmen ist232 . Es wurde bereits für die Unternehmen festgehalten, daß solche Organisationen in ganz erheblichem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und es bestimmen; wenn man Erkenntnisse der Institutionen-Theorie mit einbezieht, liegt die Bedeutung von solchen Kollektiven vor allem auch darin, daß sie sehr verstärkt anstelle anderer Institutionen die Funktionen der Wahmehmungsorientierung, der Entlastung und des sozialen Außenhaltes der Mitglieder einer Gesellschaft übernehmen 233 . Um den Bogen zurück zum Strafrecht zu schlagen: Da weder allein von der Unternehmensrealität noch nur von der juristischen Person auszugehen ist, sondern wenn überhaupt beides mit dem Verbandsbegriff zusammengenommen werden muß, gelangt man notwendig zu einem Subjekt, das nicht der gleichen Begründung bzw. Erklärung wie der Mensch unterliegt, ihm aber ein großes Stück weit ebenbürtig sein kann. Die These ist hier daher: Gründe, die gegen eine Kollektivstrafe sprechen sollen, müßten mindestens in der spezifischen Differenz zwischen Verband und Mensch liegen. Man kann sich nun des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß auf Seiten der Gegner einer Verbands strafe die empirische Seite gegen die rechtliche rhetorisch ausgespielt wird, d. h. ein Teil der Realität gegen einen anderen, was letztlich ein sinnloses Unterfangen ist.
VgI. insbesondere unten § 11. VgI. auch oben § 3 III. 2. 232 Genaugenommen ist dabei natürlich zu berücksichtigen, daß die institutionellen Kirchen dieses Stadium bereits seit langem vorweggenommen haben. 233 Zur soziologischen Institutionenlehre vgI. nur oben § 3 1II. 3. 230 231
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IV. Die Normadressatenfrage
J. Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm Eine weitere Frage, die sich mit dem Problem der besonderen Anknüpfung im Strafrecht im Vergleich zur sonstigen Rechtsordnung und damit auch mit den Begriffen, Unternehmen', ,Verband' und ,juristische Person' beschäftigt, ist diejenige nach dem richtigen Normadressaten und den Konsequenzen aus seiner Identifikation. Bereits an diesem Punkt setzt auch eine Kritik der Kollektivstrafe an. Der Themenkomplex, der den Begriff des Normadressaten umgibt, beinhaltet im wesentlichen drei Fragen: (i.) Im Rahmen welcher Normen kommt es überhaupt auf die Person des Normadressaten an und welche Rolle kommt ihm dann zu? - wobei die Existenz der Person des Normadressaten zumindest für einen Gutteil von Normen notwendig konstitutiv ist, da die Rechtsordnung ja eine Sollensordnung ise 34 ; (ii.) Wie ist das Verhältnis des Normadressaten zum tauglichen Täter eines Straftatbestandes? (iii.) Wie muß die Person des Normadressaten beschaffen sein? Hier sollen vor allem die letzten beiden Fragen interessieren, wobei die Antwort auf Frage (iii.) von dem zur Frage (ii.) bezogenen Standpunkt entscheidend determiniert wird. Das Fundament für die unterschiedlichen Betrachtungsweisen wird vor allem von dem jeweils bezogenen Standpunkt auf der normtheoretischen Ebene gelegt. Dort wird ganz überwiegend noch immer im Anschluß vor allem an Binding angenommen 235 , daß Normen grundsätzlich aus einer Verhaltensnorm bestehen, die an den Bürger gerichtet ist, und dem Tatbestand einer Sanktionsnorm, die den Staat ermächtigt, zur Durchsetzung der Norm mit einer Sanktion wie z. B. der Strafe zu reagieren 236 . Im Falle der Strafgesetze ist die Verhaltensnorm regelmäßig aus dem Tatbestand der Sanktionsnorm abzuleiten. Im Nebenstrafrecht - maßgeblich auch im Kartellrecht - ist hingegen die Trennung von Verbot und Sanktion offensichtlich und die Verhaltensnorm dementsprechend explizit. Teilweise werden auch komplexere Klassifikationen vorgenommen, wie z. B. in Bewertungs-, Bestimmungs- und Gewährleistungsnormen 237 . Zu dieser Diskussion 234 Es gibt auch Stimmen, welche die Existenz von Nonnen ganz ohne Adressaten bejahen: vgl. dazu U. Krüger; Der Adressat des Rechtsgesetzes, S. 11 ff.; S. 56 ff. mit Kritik an diesen Ansätzen, vor allem auch vor Augen führend, daß die Berücksichtigung des Adressaten im Rahmen einer Nonn den entscheidenden Schritt von einem Recht der Unterordnungsverhältnisse zu einem Recht der Gleichordnung dokumentiert (S. 61). 235 Vgl. hierzu nur Arthur Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Nonnentheorie, S. 9 ff., 67 ff., 102 ff., 121 ff. m. w. N. im einzelnen. 236 Vgl. zur historischen Entwicklung dieses Nonnenverständnisses, A. Eser; Verhaltensregeln und Behandlungsnonnen, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 25 (31 ff.); zum ganzen auch: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 79 ff. 433 ff., 449 ff. 237 Vgl. z. B. Schönke/Schröder/Lenckner; StGB, vor § 13 Rn. 48 ff., auch vor § 32 Rn. 4 ff.; J. Vogel, Nonn und Pflicht, S. 43 f.
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muß hier keine Stellung bezogen werden. Es soll klargestellt werden, daß hier der Ansicht von einer klaren Differenzierung von Verhaltens- und Sanktionsnorm gefolgt wird, da unabhängig von nicht vollkommen unmöglichen Wechselwirkungen 238 zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm die Differenzierung einleuchtend ist. Das Recht ist in ganz weiten, letztlich wohl den überwiegenden Bereichen sicher auch von seinem historischen Ursprung in Stammesgesellschaften her - eine Sollensordnung, die Verhalten von Menschen beeinflussen will. Wie ein Mensch bei Normbruch zu behandeln ist, ist eine davon zu trennende Frage, da sie von ganz eigenen Voraussetzungen abhängt239 .
2. Normadressat und Täter: Verhältnisbestimmung
Das richtige Bild vom Normadressaten bei der Konzeption eines Gesetzes ist also von großer Bedeutung. Die Frage der Adressateneigenschaft führt dabei unweigerlich zunächst zu der Frage nach dem potentiellen Täter, wobei nicht von vorneherein klar ist, ob beide notwendig identisch sind. Das ist für ein Unternehmensstrafrecht besonders brisant, wenn man normalerweise davon ausgeht, daß weder Unternehmen noch Verband oder juristische Person Strafrechtstäter sein können, andere Rechtsgebiete - namentlich das Kartellrecht - aber zeigen, daß dort eindeutig von einer Adressatenschaft von Unternehmen ausgegangen wird 24o • Bei der Bestimmung des Verhältnisses von Normadressat und potentiellem Täter eines Straftatbestandes hat man nun offensichtlich drei Möglichkeiten: Entweder man geht von einer Gleichartigkeit aus oder man nimmt eine grundsätzliche Differenz an oder es gibt zwischen bei dem eine Schnittmenge aufgrund einer Teilkongruenz. Gewöhnlich wird wohl zum ersteren tendiert, so daß im Rahmen der Frage 238 Dies wird auch von der insoweit herrschende Meinung zugegeben, vgl. nur I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 431 in Fn. 19 und S. 438 zu der Rückwirkung des Bestimmtheitsgebotes aus Art. 103 Abs. 2 GG. 239 B. Hajjke betont die sachlogisch notwendige Unterscheidung der beiden Normentypen, vgl. ders., Die Bedeutung der Differenz von Verhaltens- und Sanktionsnorm für die strafrechtliche Zurechnung, in: Schünemann/Figueiredo Dias, Coimbra-Symposium (1994), S. 89 ff.; hierzu auch ausführlich: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 431 ff. m. w. N. vor allem auch zu weiteren strafrechtsdogmatischen Fragen in diesem Zusammenhang; J. Vogel, Norm und Pflicht, S. 27 ff. insbes. m. w. N. auch zu der bereits sprachanalytischen Differenz in Fn. 13; N. Hoerster, Das Adressatenproblem im Strafrecht und die Sozialmoral, JZ 1989, S. 10 ff.; gegen die Trennung von Verhaltens- und Sanktionsnorm hat sich maßgeblich E. Schmidhäuser ausgesprochen, ders., Illusionen in der Normentheorie und das Adressatenproblem im Strafrecht, JZ 1989, S. 419 ff.; eine Gegenkritik findet sich bei: N. Hoerster, Wer macht sich Illusionen?, JZ 1989, S. 425 ff.; J. Vogel, Norm und Pflicht, S. 30 ff.; eine weitere Differenzierung in ,Verhaltensregeln' und ,Behandlungsnormen " die aber wohl auf das gleiche Ergebnis hinausläuft, findet sich bei A. Eser, Verhaltensregeln und Behandlungsnormen, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 25 ff. (41 f.). 240 Vgl. nur G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Auflage, vor § 81 Rn. 39 ff.
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
nach dem Adressaten der Kreis der potentiellen Tater die Antwort vorgibt und dessen notwendige Eigenschaften in die Betrachtung mit einzubeziehen sind 241 . Eine grundsätzliche Differenz macht erkennbar keinen Sinn: Wären Adressat und Tater niemals identisch, könnte es kein Individualstrafrecht geben, in dem Menschen zur Verantwortung gezogen werden für Verletzungen von an sie gestellten rechtlichen Erwartungen. Wenn man zum dritten tendiert, dann können sich wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Subjekten ergeben. So nimmt für den Bereich des Unternehmensstrafrechts namentlich Schroth eine Abstufung zwischen Normadressat und Tater vor242 . Schroths Konzeption nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Frage, ob Unternehmen auch für den Fall, daß sie mit den Gegnern einer Verbandsstrafe als potentielle Tater nicht in Frage kommen, dennoch Adressaten von Verhaltensnormen (des Strafrechts) sein können. Er bestimmt dabei das Verhältnis zwischen Tatbestand (der Sanktionsnorm) und Verhaltensnorm in der - eben auch beschriebenen Form, daß Gegenstand der Verhaltensnorm der für sich sanktionslose Normbefehl an Adressaten zur Begründung einer Verhaltensverpflichtung ist243 . Da die Verhaltensnorm dabei nach allgemeiner Meinung aus dem Tatbestand abzuleiten sei, könnten als notwendige Normadressaten in jedem Fall die potentiellen Tater angesehen werden. Da aber zur Ermittlung des tauglichen Taters der gesamte Strafrechtssatz (Tatbestand i. e. S. und die seine Anwendung regelnden dogmatischen Prinzipien) heranzuziehen sei, der Normadressatenkreis aber sich nach dem Schutz des in Frage stehenden Rechtsguts und nach objektiven und abstrakten Normmerkmalen bestimme, müßten die beide Kreise nicht deckungsgleich sein, vielmehr könne sich das Bild zweier konzentrischer Kreise ergeben, wobei der potentielle Taterkreis den kleineren Kreis darstellt. Kernaussage dieser Sicht ist, daß es für die Bestimmung des Normadressaten nicht auf strafrechtsdogmatische Besonderheiten ankommen kann, sondern diese nach allgemeinen Regeln zu treffen ist, die für alle Verhaltensnormen einer Rechtsordnung einheitlich gelten.
Der so bestimmte Adressat muß also solche Eigenschaften besitzen, die ihn in die Lage versetzen, zu einem rechtstreuen und sanktionsfreiem Verhalten bestimmt zu werden. Nach herkömmlichem Verständnis ist der Adressat einer Rechtsnorm der Mensch244 . Dabei können sich zwar die Adressatengruppen verschiedener Gesetze unterschiedlich zusammensetzen, in jedem Fall aber kommt es auf bestimmte Fähigkeiten an, die der Mensch mit sich bringt und ihn in die Lage versetzen, eine Rechtsordnung mit zu konstituieren und zu leben. Daher ist als erste zu fordernde Eigenschaft eines Normadressaten die eines abzugrenzenden Subjekt zu fordern245 . Weiter muß der Adressat den Verhaltens- oder Normbefehl inhaltlich so 241 242 243
244 245
Vgl. z. B. K. Tiedemann, in: Immenga I Mestmäcker, 2. Auflage, vor § 38 Rn. 28 ff. Vgl. H.-J. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 13 ff. Vgl. H.-J. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 15 f. Vgl. nur z. B. U. Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, S. 63 ff. Vgl. H.-J. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 18 f.
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aufnehmen und verarbeiten können, daß der Normbefehl umgesetzt bzw. befolgt und damit erfüllt werden kann246 • Fragen der strafrechtlichen Zurechnungslehre wie vor allem der Handlungsfähigkeit sind erst im Rahmen der Sanktionsnorm zu erläutern 247 • Die Einwände der Gegner einer Verbandsstrafe, die sich aus den Spezifika der strafrechtlichen Dogmatik ergeben, können auf dieser Ebene der Betrachtung keine Wirkung entfalten. Wiederum von dem eben Dargestellten zu trennen ist eine Differenzierung zwischen Straftäter und Sanktionssubjekt, wie sie in der Kollektivstrafdiskussion naheliegt, wenn man neben der ordnungswidrigkeitenrechtlichen Lösung der Verbandsgeldbuße eine solcherart pragmatische Lösung für das Strafrecht diskutiert248 . Die Unhaltbarkeit dieses Ansatzes wird sich aus der Begründung der Kollektivstrafe ergeben. 3. Der potentielle Adressat eines Kollektivstrafrechts
Von der Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung eines Normbefehls im einzelnen abgesehen kommen als Adressat eines Verbandsstrafrechtes potentiell in Frage das Unternehmen, der Verband oder der Rechtsträger, also die juristische Person. Die letztgenannte juristische Person, bzw. allgemeiner gesprochen der Rechtsträger, ist für einen Einsatz als Normadressat sicher denkbar schlecht geeignet. Schließlich ist - ohne einer Fiktionstheorie hier das Wort reden zu wollen - dieser eine Erfindung des Rechts (und insoweit eine Fiktion), um dem unternehmerischen Verband Eigenschaften zukommen zu lassen, über die er als durch und von Menschen gebildete Gruppe gar nicht oder nicht in gleichermaßen deutlicher Form verfügt. Er leistet jedoch zu einem Gutteil die klare Abgrenzung des Subjektes mit, ist hierfür aber - worauf auch Schroth bereits zu Recht hingewiesen hat249 - nicht notwendig. Von der Normadressatenschaft des Unternehmens geht - wie bereist erwähnt Schroth aus. Er sieht dieses als wirtschaftlich-funktionale Einheit und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Forschungsergebnisse der Soziologie bzw. Psychologie zum Gruppenverhalten und zur Kriminalität aus dem Unternehmensbereich, die beide auch ganz wesentlich auf die Gruppe Bezug nehmen. Man kann daher wohl sagen, daß bei ihm dem Begriff ,Verband' keine eigenständige Bedeutung zukommt bzw. dieser im Begriff des Unternehmens aufgeht. Die organisationssoziologischen und -psychologischen Aspekte, deren Bedeutung über Verbände in der Erscheinungsform von Unternehmen hinausgeht, werden vollkommen dem Vgl. H.-l. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 22 ff. Vgl. in diesem Sinne auch: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 438 ff. m. w. N. 248 Eine solche klingt beispielsweise an bei R. Scholz, Strafbarkeit juristischer Personen?, ZRP 2001, S. 435 ff. (438 f.). 249 Vgl. H.-l. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 19 ff. 246 247
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
Unternehmen zugeordnet. Das versperrt aber den Blick darauf, daß die beobachteten Aspekte nicht eigentlich Ausdruck der Tätigkeit in Unternehmen sind, sondern in überindividuellen Gruppen, d. h. Verbänden ihren Niederschlag finden. Für eine angemessene Konzeption eines Kollektivstrafrechts muß sich diese inhaltliche Verkürzung negativ in einem weniger dimensionalen Bild niederschlagen und daher die Lösung angreifbar machen. Außerdem würde im weiteren bei einem Anknüpfen an das Unternehmen konsequenterweise der Einzelkaufmann mit einbezogen werden, was die eigentliche Begründung der Kollektivstrafe sprengen muß 250 . Was bleibt, ist die Fähigkeit des formalen Unternehmensbegriffes (u. U. unter Unterstützung durch die Figur des Rechtsträgers), das abgrenzbare Subjekt aufzuzeigen, das mit einer Norm adressiert werden kann. Aber damit fehlen noch entscheidende Elemente. Es ist eigentlich der physischpsychologisch auftretende Verband, der die Eigenschaften beisteuert, auf die auch Schroth seine Normadressatenschaft von Unternehmen aufbaut. Die an anderer Stelle dargestellten kriminologischen Effekte im (unternehmerischen) Verband belegen Vorgänge, die zur Aufnahme und zur Verarbeitung von Pflichtenbefehlen notwendig sind. Konstituenten dieser Fähigkeit sind die dem Verband angehörigen Menschen. Das wird noch näher auszuführen sein. An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, daß es die Qualitäten vor allem des Verbandes, die diesem durch seine Mitglieder vermittelt werden, sind, die ihn damit über ein Potential an psychischer Substanz und insofern auch potentiell über die notwendigen Eigenschaften verfügen lassen, die für die Normreflektion erforderlich sind. Der Verband ist nun notwendiges Element des Kollektivs, und dieses erscheint damit als tauglicher Normadressat. Ersichtlich falsch ist damit eine kritische Feststellung Friedrich von Freiers: dieser folgert aus dem Umstand, daß in dem Fall, in dem die strafrechtliche Sanktion - exemplarisch die Geldstrafe - den Unternehmensträger treffen soll, also auch nur zu diesem ein Rechtsverhältnis besteht, auch nur der Unternehmensträger der Adressat sein kann 251 . Solche Fehlschlüsse entstehen, wenn man sich nur auf einzelne Aspekte des Kollektivs bezieht und dieses nicht in seiner Gesamtheit betrachtet. Die Fähigkeit zur Geltungsreflexion und damit die Normadressatenschaft resultieren aus der Verbandsqualität des Kollektivs 252 . 250
S.66.
Insofern ist hier die Kritik v. Freiers berechtigt, vgl. ders., Kritik der Verbands strafe,
251 Vgl. F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 64 f.; ihm ist allerdings zuzugeben, daß die Ausführungen zu der Frage von Sanktionssubjekt und Normadressat und damit letztlich zu den Zusammenhängen von Verband, Unternehmen und juristischer Person häufig unklar sind und damit entsprechend angreifbar. 252 Auch für das Zivilrecht gilt genaugenommen notwendig, daß das Unternehmen (als Verband) und nicht der Unternehmensträger Adressat ist, weil nur dieses über die psychische Substanz zur Aufnahme eines Verhaltensgebotes oder -verbotes verfügt - wobei jedoch aufgrund der Figur des Unternehmensträgers an diesem die konkreten Pflichten festgemacht werden.
§ 10 Kriminalstraftat, Individuum und Gruppe
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§ 10 Kriminalstraftat, Individuum und Gruppe I. Die ähnlich gelagerte Fragestellung der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik: Die Tatbeteiligung mehrerer
Das traditionelle Strafrecht hat seit jeher mit einem Thema zu kämpfen, dessen Probleme sehr ähnlich zu denen der Kollektivstrafe gelagert sind. Dies sind die Bereiche der Tatbeteiligung mehrerer und damit auch die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, so wie sie auch das StGB in § 25 aufgreift und regelt: der Alleintäter, der mittelbare Täter, der die Tat durch einen anderen begeht (die bei den Alternativen des Abs. 1), und der Mittäter, der die Tat gemeinsam mit mindestens einem anderen zusammen verwirklicht (Abs. 2). Dieses Thema ist so schwer für die überkommene Dogmatik (bis heute) zu fassen, weil in ihm Strukturen und Prozesse auftauchen, die mit dem auf Interaktionsprozesse zwischen einem Täter und (in der Regel auch) einem Opfer ausgelegten Individualstrafrecht nicht recht zusammenpassen wollen (und auch nicht können, wie zu zeigen sein wird). Sie sind Ausdruck von Konstellationen, welche von der dem Menschen möglichen sozialen Komplexität geprägt sind. Für die klassische Strafrechtslehre mußten diese Fragen Fremdkörper bleiben, um deren Diskussion sie jedoch auch nicht herumkommen konnte, da sie in der empirischen Realität, wie sie vor Gericht anzutreffen ist, seit jeher vorkamen und vorkommen werden253 . Auch die Rechtsprechung mit der (mehr oder weniger) subjektiven Theorie schlug sich da nicht viel besser254 . Sie konnte allerdings durch den Kunstgriff einer (zunächst) rein subjektiven Betrachtung zu befriedigenden Ergebnissen kommen, da eine nur an inneren Einstellungen orientierte Betrachtung nicht bzw. nur sehr eingeschränkt empirisch nachzuprüfen und damit zu widerlegen und auch zu kritisieren war - letzteres jedenfalls nur an der theoretischen Wurzel. Dieser Charakter als Fremdkörper spiegelt sich daher in unbefriedigenden oder bestenfalls im Ergebnis vertretbaren Lösungen wider. Erst Claus Roxin schaffte mit seiner Monographie "Taterschaft und Tatherrschaft" - erstmals 1963 erschienen - einen Durchbruch 255 , der dazu führte, daß heute von einer weitgehenden Vereinheitlichung in Lehre und Rechtsprechung gesprochen werden kann und es in der Diskussion nur noch um Spielarten der Tatherrschaftslehre geht256 . Auch wenn es für Roxin vornehmlich um die Unterschei253 Vgl. zu diesem Themenkreis, der hier nicht in seiner Breite dargestellt werden kann nur C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, insbes. S. 546 ff. zu den aktuellen Entwicklungen; außerdem der kritische Überblick bei W. Bottke, TaJerschaft und Gestaltungsherrschaft, S. 17 ff., insbes. 49 ff., 87 ff. 254 Vgl. nur RGSt 74, S. 85 (der berühmte Badewannenfall), BGHSt 6, S. 226 ff. (229); vgl. zu den subjektiven bzw. auch gemischten Theorien: C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 51 ff., zu der heutigen Rechtsprechung: S. 90 ff. 255 Vgl. C. Roxin selbst, zur Entwicklung der Tatherrschaftslehre und früheren Ansätzen, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 60 ff. 256 Vgl. nur W. Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 5 f.
254
Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
dung von Täter und Teilnehmer ging, so wird zu zeigen sein, daß die Plausibilität und mithin der Erfolg seiner Thesen einen bestimmten Grund hat, der bis heute jedoch kaum erkannt wurde. Roxin erahnte das Problem der Tatbeteiligung mehrerer als das, was es ist: eine Frage von Unrecht, das durch soziale Komplexität geprägt ist und nicht in einfache Zweier-Interaktionsprozesse zwischen Täter und Opfer aufgelöst werden kann, und innerhalb dessen es um soziale Strukturen und Prozesse von Freiheit und Macht und ihre Beschränkungen geht. Wegen dieser Grundstruktur der Tatmehrheit geht auch bereits die Bestimmung des Strafrechts durch Ransiek als ein (einfaches) Interaktionstrafrecht fehe 5 ? Ausgehend von der Theorie Roxins (als Hauptprotagonisten der Tatherrschaftslehre) sollen im weiteren zwei Arbeiten untersucht werden, die sich weiterführend mit diesem Thema befaßt haben. Zum einem wurde die Tatherrschaftslehre Roxins durch Wolfgang Schild aufgegriffen 258 , der sie auf ihre Grundstrukturen hin analysierte und der Ausgangsthese folgend, daß der Begriff der Tatherrschaft auch auf den Alleintäter anzuwenden sein muß - der Alleintäter muß, will die Lehre in sich geschlossen sein, auch als Tatherr verstanden werden können -, dort konsequent umbaute, wo Roxin stehen geblieben war: die Grundstrukturen der Tatherrschaft des mittelbaren Täters und ihre gleichermaßene Geltung für den Alleintäter. Dabei kommt auch ein besonderes Verständnis von strafrechtlicher Handlung zum Tragen, das ebenfalls für die vorliegende Thematik fruchtbar gemacht werden kann 259 . Der zweite Autor, auf den ausführlich eingegangen werden soll, ist ErnstJoachim Lampe, der sich im Zusammenhang mit seiner Konzeption eines Kollektivstrafrechts 260 mit der Frage von sozial komplexer strukturierten, strafrechtlichen Situationen weiterführend beschäftigt und als erster versucht hat, die Situationen von Mittäterschaft auf der einen (als einfacher Grundform) und kriminellen Organisationen, kriminellen Unternehmen und kriminellen Staatsapparaten auf der anderen Seite in einen gemeinsamen Kontext von Systemunrecht zu stellen. Bei der Nennung von kriminellen Organisationen und entsprechenden Staatsapparaten wird schnell die notwendige Verschränkung mit der Tatherrschaftslehre deutlich. 1. Die Tatherrschaftslehre von Roxin
Roxin entwickelte verschiedene Formen der Tatherrschaft: die Handlungsherrschaft desjenigen, der den Tatbestand unmittelbar (also auch phänomenologisch) verwirklicht, die funktionale Tatherrschaft des Mittäters, der selbst nur einen Teil des Tatbestandes verwirklicht, und die Tatherrschaft des mittelbaren Täters kraft überlegenen Willens, die es ihm ermöglicht, einen anderen wie ein Werkzeug zu 257
258 259
260
Vgl. A. Ransiek, Untemehmensstrafrecht, S. 304 ff. W Schild, Taterschaft als Tatherrschaft, 1994. Vgl. dazu näher unten § 11. Vgl. oben § 8 11. 6.
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benutzen. Das Gemeinsame ist, daß der Täter das "Ob und Wie" der Tatbestandsverwirklichung in einer Weise zumindest mit beherrscht, daß die Handlung und der Erfolgt als Werk (auch) seines Willens erscheinen und er damit zu einer "Zentralgestalt des Geschehens" wird261 . Die Tatherrschaft kraft überlegenen Willens, die Willensherrschaft, wird ihrerseits wieder in drei Fallgruppen unterteilt: die der Herrschaft kraft Nötigung, diejenige kraft Irrtums - korrekter: kraft überlegenen Wissens bzw. kraft Täuschung und diejenige kraft organisatorischer Machtapparate - besser: in organisatorischen Machtapparaten. Die Herrschaft kraft Irrtums ist weiter aufgegliedert in vier Stufen, die sich an der möglichen Tatgestaltung orientieren: Auf der ersten Stufe erkennt der Handelnde seine Aktivitäten als (das Geschehen) lenkend, auf der zweiten Stufe wird ihm deren soziale Wertbedeutung klar, auf der dritten Stufe wird für ihn deutlich, daß es sich zugleich um eine strafbare und ihm vorwerfbare Tat handelt, und auf der vierten Stufe erkennt er den konkreten Handlungssinn 262 . Auf die weitere Darstellung der Tatherrschaftslehre soll an dieser Stelle verzichtet werden zugunsten eines Zugangs über die Interpretation von Schild, weil diese letztlich für die vorliegenden Betrachtungen zielführend ist. 2. Die Interpretation Schilds
In seinem 1994 veröffentlichten Vortrag greift Schild die Tatherrschaftslehre nun mit dem Ziel auf, zu zeigen, daß es eine Grundstruktur gibt (und geben muß), die sowohl der Figur des mittelbaren Täters als auch des Alleintäters unterliegt, da die Tatherrschaftslehre ja eine Lehre von der Täterbestimmung sein wi1l 263 . Er läßt dabei die Konstellation mehrerer Täter i. S. d. Mittäterschaft außer Betracht allerdings mit dem Hinweis, daß dies im Zusammenhang mit der Alleintäterschaft von vornherein nicht interessieren kann. Das ist jedoch eigentlich bereits aus seiner Perspektive ungenügend, denn auch diese Figur müßte sich in eine Lehre von der Täterbestimmung stimmig einpassen lassen. Oder aber man weist dem Problemkreis 1ätermehrheiten - wie auch immer diese strukturiert sein mögen - einen ganz besonderen Platz zu, der dann mit der Tatherrschaftslehre nur noch partiell verbunden ist i. S. v. sich überschneidenden Kreisen (die besondere Stellung der Mittäterschaft arbeitet Lampe heraus, dazu sogleich). So richtig die letzte Konsequenz grundsätzlich ist - letztlich muß die Kategorisierung aber zwischen dem Einzeltäter und den Tätermehrheiten verlaufen und das bedeutet, daß die Konstellation der mittelbaren Täterschaft einzubeziehen sind, da insofern mehr als ein Beteiligter vorhanden ist. Vgl. allgemein C. Roxin, Taterschaft und Tatherrschaft, S. 107 ff. Vgl. dazu C. Roxin, Bemerkungen zum Tater hinter dem Tater, in: Festschrift-Lange (1976), S. 283 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 142 ff. - die Willensherrschaft nimmt den weitaus größten Abschnitt dieser Monographie ein. 263 Vgl. W. Schild, Taterschaft als Tatherrschaft, S. 6. 261
262
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
Schild setzt nun mit seiner Interpretation bei der Figur der Willensherrschaft an und fragt, warum jemandem, der kraft Willensherrschaft das Geschehen "in der Hand hat" und im Ablauf lenkt, nicht auch die Handlungsherrschaft zuzusprechen ist, gerade im Falle der Nötigung, da sogar eine (strafrechtliche) Handlung angenommen werden kann 264 . Die Antwort liegt nahe: Da die Handlungsherrschaft beim Vordermann liegt, weil diese (wie letztlich auch die Handlung) phänomenologisch verstanden wird. Der Vordermann handelt i. d. R. nur nicht schuldhaft, was nach Roxin der Handlungsherrschaft jedoch keinen Abbruch tun soll. Ein unfreier Wille schadet also erstaunlicherweise nicht265 . Für die Willensherrschaft kraft Nötigung stellt Schild nun folgendes fest: Die Handlungsherrschaft wird durch den Willen des Nötigenden erfaßt und in die Umsetzung dieses Willens mit einbezogen, weshalb der Genötigte als Werkzeug erscheint - aus der Perspektive des Hintermannes in jedem Fall. Daher wird die Handlung des Genötigten dem Nötigenden als eigene zugerechnet266 . Der entscheidende Punkt ist die Nötigungshandlung, die den anderen wie ein Werkzeug erscheinen läßt, wofür es auf das Verhältnis zum Hintermann ankommen muß - eine reine Willensbeeinflussung reicht daher nicht aus 267 . Der Ausführende wird dabei nicht (tatsächlich) zum Werkzeug, denn ein Mensch ist von sich aus niemals Werkzeug; aber er kann wie ein solches benutzt werden 268 . Das entscheidende Argument gegen die Trennung von Handlungsherrschaft einerseits und Willensherrschaft kraft Nötigung andererseits ist, daß diese sich immer noch an einem "vor-juristischen, vor-normativen und alltäglich-phänomenologischen Handlungsverständnis orientiert,,269. Ein solches Handlungsverständnis kann aber Roxin nach der Ansicht Schilds von seinem gegenüber der finalen Handlungslehre (zu Recht) kritischen Standpunkt aus nicht widerspruchsfrei behaupten: Vielmehr müsse statt von einer finalen Handlungslehre von einer finalen Tatbestandslehre auszugehen und der Tatbestand auch als Schuldtypus zu verstehen sein 27o . Es könne also nur ein normatives Handlungsverständnis der Handlungsherrschaft zugrundegelegt werden, welche dann als "Tatbestandshandlungsherrschaft" zu begreifen sei, worunter konsequenterweise auch die sogenannte Tatherrschaft kraft Willensherrschaft durch Nötigung falle. Dieses Zwischenergebnis wird von Schild im folgenden an der Herrschaft kraft Irrtums 271 und an der Herrschaft kraft organisatorischer Machtapparate 272 erprobt. Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 10. Vgl. nur C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 133; dazu: W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. II m. w. N. 266 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 12. 267 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 12 ff. 268 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 15. 269 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 16 f. 270 Vgl. C. Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 71-121, insbes. 106, 107,117; dazu W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 17. 271 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 17 ff. 272 V gl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 21 ff. 264 265
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Zu Recht stellt Schild für die Willensherrschaft kraft Irrtums fest, daß Roxin selbst wohl immer "kraft überlegenen Wissens,,273 meint. Dies sei aber konsequenterweise noch anders, nämlich als Tatherrschaft kraft Tauschung zu bezeichnen; denn es komme nicht letztlich auf den Irrtum beim Vordermann an, der nur die Voraussetzung der "gestaltenden Überdetermination,,274 schaffe, sondern auf die Tauschung selbst. Diese zeige erst, daß der Hintermann die sich bietende Möglichkeit ergreift und den Irrenden (durch die Handlung) wie ein Werkzeug umgreift und in seine Aktivitäten mit einbezieht 275 . Daher kann man auch hier von einer Form der Handlungsherrschaft sprechen, denn wie bei der Nötigung ist der Vordermann nicht mehr in der Lage, "dem Tater seinen freien Willen [ ... ] hemmend und selbstentscheidend entgegenzusetzen,,276. In beiden Fällen handelt ein Unfreier als Werkzeui 77 . Für die Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate hält Schild zunächst fest, daß auch hier wohl eher etwas anderes gemeint sei: nämlich die Willensherrschaft "kraft des Einsatzes eines organisatorischen Machtapparates als eines Werkzeugs,m8. Es komme hier - auch nach Roxin - nicht auf den Willen an, sondern auf "Differenzierungen objektiver Art,,279: nämlich darauf, daß die Organisation ein eigenständiges Leben oder eine eigenständige Bestandskraft hat, die vom Wechsel ihrer Mitglieder unabhängig ist und wo es auf den Einzelnen und seine Existenz oder sein Tun nicht ankommt. Es geht um den Gedanken des kleinen Rädchens im System, auf dessen Funktionieren der Hintermann sich aufgrund der Machtstrukturen verlassen kann und das im Widerstandsfall bzw. im Falle der Dysfunktionalität jederzeit ausgetauscht werden kann. Noch stärker als bei den anderen beiden Fallgruppen komme es auf die Qualifikation des Ausführenden nicht an280. Die "Organisationsherrschaft" und "Befehlsgewalt" (beides von Roxin verwendete Ausdrücke 281 ) lasse für den Hintermann den Apparat (letztlich: eine Summe von Menschen und Sachmiueln) ein Werkzeug sein. Hier ist für Schild der entscheidende Punkt, daß die Beschränkung dieser Fallgruppe auf rechtsgelöste Apparate falsch sei - und darin kann ihm nur beigepflichtet werden. Der Hinweis auf den höheren Rang der Gesetzes im Falle eines Systems in einer funktionierenden Rechtsordnung gehe fehl bzw. verdecke den Kern dieser Situation, denn es gehe in Wahrheit um einen eigenständigen Tatherrschafts273 So auch C. Roxin selbst, Bemerkungen zum Täter hinter dem Täter, in: FestschriftLange (1976), S. 283 ff. 274 Vgl. C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, u. a. S. 232. 275 Vgl. W. Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 18. 276 So C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 232. 277 Vgl. W. Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 19 f. 278 Vgl. W. Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 21. 279 So C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 244. 280 Vgl. W. Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 22. 281 Vgl. C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 246, 249 und S. 248. 17 Kohlhoff
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
typus - in Abgrenzung von jenem der Willensherrschaft -, nämlich den der sozialen Herrschaft durch Macht; denn entscheidend sei hier die soziale Wirksamkeit der Gesetze 282 . Man kann hinzufügen, daß es ja genau das ist, woran sich auch derjenige orientiert, der die Situation ausnutzt, also der Hintermann. Gerade in einer Privatunternehmung sei der Fall nicht - wie es aber Roxin vertritt - so gelagert, daß gegen den Apparat und gerade nicht mit ihm gehandelt werde283 , sondern der Hintermann, der Vorgesetzte benutzt aufgrund seiner sozialen (nicht juristischen) Machtstellung einen Untergebenen wie ein Werkzeug 284 ; man möchte ergänzen, ganze funktionale bzw. soziale Zusammenhänge - der Apparat - werden wie ein, wenn man so sagen will, Werkzeugkasten benutzt. Dieser neu zu bildenden Fallgruppe ordnet Schild auch den Fall zu, daß jemand aufgrund gefälschter Beweismittel ein prozeßrechtlich richtiges Strafurteil bewirkt, das zum Freiheitsentzug für den Verurteilten führt. Roxin will hier eine Willensherrschaft kraft Irrtums annehmen 285 . Aber es ist der Hintermann in seiner Stellung als Bürger und u. U. Zeuge, der das rechtsstaatlich vorbestimmte Strafprozeßsystem und den Richter kraft seiner sozialen Macht (als Bürger) einsetzt286 . Nach Schild geht es zusammenfassend in allen Fallgruppen der Willensherrschaft um die Zurechnung zur Tatbestandshandlung, und deshalb bezeichnen alle verschiedene Formen der Handlungsherrschaft. Letztlich gehe es nicht um die Frage von Taterschaft und Teilnahme, sondern um eine normative Bestimmung der Tatbestandshandlung287 . Wer eine Tatbestandshandlung im Rahmen eines Handlungsdeliktes setzt - also eine Handlung vornimmt, die ihm zugerechnet werden kann - ist Täter; wer bestimmt oder Hilfe leistet ist daher Teilnehmer i. S. eines Anstifters oder "Beihelfers". Letzteres ist dann nur konsequent. Von hier ist dann der Bogen schnell gespannt zur Tatherrschaft des Alleintäters, der auch Handlungsherrschaft haben muß, denn auch der mittelbare Täter ist letztlich durch die Sicht auf den Vordermann als Werkzeug nur Alleintäter, aus dessen Perspektive das ganze Geschehen erst verständlich wird und seinen Sinn bekommt288 . Es geht darum, ob der Sachverhalt als Verwirklichung des Willens anzusehen ist, und dazu genügt eine auf Tatsachenfeststellung beruhende phänomenologische Sichtweise nicht, sondern es muß zugerechnet werden 289 ; und das immer unter Zusammennahme von objektiven und subjektiven Faktoren, von Äußerem und Täterinnerem, die - bereits für Roxin - als dialektische Einheit zu sehen seien: Es geht also um die Entfaltung eines Tatbestandshandlungsbegriffes und dieses bereits für den AI282 283 284 285 286 287 288 289
Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 22. So aber C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 249. Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 23. Vgl. C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 230 f. Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 24. Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 25 ff. V gl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 28. Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 29.
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leintäter9o . Es geht um Zurechnung und damit nicht um Tatsachenfeststellung, noch nicht einmal, wenn zunächst die Rede vom Willen und der Handlung ist, da diese zwar vor-juristisch, aber doch bereits normativ sind. Diese vom Juristen zu bewertenden sozialen Umstände, die normativ gebildet und gelebt werden 291 , müssen als objektiv-äußere und subjektiv-innere zusammengenommen werden - nach der Wortwahl Schilds zugerechnet werden - und ergeben so das Bild von Tat- bzw. Handlungsherrschaft. Dabei macht nach der Ansicht von Schild das neue Verständnis von Tat- bzw. Handlungsherrschaft als einer Tatbestandshandlungslehre, die auch für den Alleintäter gelten muß, die Lehre von der objektiven Zurechnung in Form der vier Zurechnungstopoi (positiv: Schaffung eines unerlaubten Risikos und Steigerung eines rechtlich erlaubten Risikos ins rechtlich Unerlaubte, negativ: Risikoverringerung und Risikoabnahme) für die Vorsatzdelikte überfiüssig 292 . Die Bewährungsprobe für diese modifizierte Tatherrschaftslehre sieht Schild aber in der Frage, ob es auch Konstellationen geben kann, in denen der Alleintäter, der alles eigenhändig ausführt und somit Handlungsherrschaft im phänomenologischen Sinne Roxins haben müßte, dennoch nicht als Tatherr zu sehen ist293 . Dabei bringt Schild wieder die neue Fallgruppe der Tatherrschaft kraft sozialer Macht ins Spiel: Hier sind Fälle denkbar, in denen jemand alles theoretisch eigenhändig und volldeliktisch ausführt, aber dennoch nicht Tatherr mangels (normativ verstandener) Handlungsherrschaft ist, weil ein bestimmtes Über- / Unterordnungsverhältnis vorliegt, die das unmittelbar Handelnden eine rein dienende Funktion zuweist294 . Schließlich wirft Schild am Ende seiner Arbeit noch grundsätzliche Fragen zur Tatherrschaftslehre als solcher (auch in der von ihm modifizierten Form) auf, da sie Antworten auf bestimmte Arten von Delikten vermissen lasse: nämlich die Gemeingefährdungsdelikte oder den Beginn des Versuchs in mittelbarer Täterschaft. Das Interessante und Wichtige an der Arbeit von Schild im vorliegenden Zusammenhang ist, das sie klar darlegt, warum in der juristischen Dogmatik mit einer juristisch-normativen Sicht auf die Probleme gearbeitet werden muß. Der Handlungsbegriff im Strafrecht kann kein materialer oder naturalistischer, sondern muß ein normativer sein. Weiter stellt sie die Bedeutung der psychologischen Momente im Rahmen der mittelbaren Täterschaft als normativ zu erfassende besonders deutlich heraus. Darüberhinaus ist gerade im vorliegenden Zusammenhang das Herausarbeiten der Variante der Tatherrschaft kraft sozialer Macht von großer Bedeutung, da sie das Problem bei der Wurzel packt: Soziale Macht räumt Tätern im Hintergrund die Möglichkeit der Instrumentalisierung von Strukturen und Prozessen, Vgl. W Schild, Tliterschaft als Tatherrschaft, S. 31. Vgl. W Schild, Tliterschaft als Tatherrschaft, S. 32. 292 Vgl. W Schild, Täterschaft als Tatherrschaft, S. 36, ausführlich zu den einzelnen Zurechnungstopoi und ihrer Aufhebung im neuen Tatherrschaftsverständnis: S. 37 ff., zusammenfassend S. 40. 293 Vgl. W Schild, Tliterschaft als Tatherrschaft, S. 42 ff. 294 Vgl. W Schild, Tliterschaft als Tatherrschaft, S. 44, unter Lösung eines von Günther Jakobs gebildeten Kellner-Falls, S. 45 f. 290
291
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auch Menschen, ein. Es gilt nun im weiteren diesen Ansatz der modifizierten Tatherrschaftslehre für die vorliegende Fragestellung fruchtbar zu machen. 3. Das Systemunrecht und die Mittäterschaft nach Lampe
Einen nahestehenden Zusammenhang hat Lampe mit seiner Arbeit zum Systemunrecht beleuchtet295 . Hier geht es um ein Überdenken der Hintergründe der Mittäterschaft, also um diejenigen Situationen, in denen das Zusammenwirken mehrerer (mehrerer Täter) eine neue besondere Situation schafft. Lampes hierauf aufbauende Konzeption eines Kollektivstrafrechts in Form eines Unrechtssystemstrafrechts wurde weiter oben bereits skizziert. Hier sollen noch einmal seine grundlegenden Ausführungen zu den Prozessen im Bereich der Mittäterschaft beleuchtet werden, denn im weiteren Verlauf der Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die Figur der Tatherrschaft kraft sozialer Macht und die des Systemunrechts zusammen zu denken. Dies wird schon sehr nah an das Problem der Verbands- bzw. Kollektivstrafbarkeit heranführen. Lampe eröffnet seine Ausführungen mit der Feststellung, daß hinsichtlich der einzelnen Erscheinungsformen von Unrechtssystemen - die zweckgerichtete Verbindung krimineller Personen (Mittäterschaft), die kriminell ausgerichteten Vereinigungen (Organisierte Kriminalität), die kriminell anfälligen Wirtschaftsunternehmen und der kriminell pervertierte Staat - ein guter Kenntnisstand vorliege, aber keine Theorie die dahinterliegenden Zusammenhänge aufgedeckt hat, da sich die Strafrechtsdogmatik seit jeher auf den "auf eigene Faust handelnden Täter" konzentriert habe 296 . Dabei gebe es jedoch bereits im geltenden Recht Bereiche, die herausheben, daß dem Zusammenschluß mehrerer eine besondere Gefährlichkeit entspringt: z. B. §§ 121, 124, 125, 223a, 224 Abs. 1 Nr. 3,250 Abs. 1 Nr. 4 StGB, § 373 Abs. 2 Nr. 3 A0 297 • Das Grundproblem bestehe darin, daß die Kategorien des Individualstrafrechts - individuelle Handlung, sozialer Erfolg, verbindende Kausalität - vor den komplexen Zusammenhängen des Systemunrechts versagten, da sich Ursachen und damit die Verantwortungen vervielfältigten und zu einem Netz verknüpften 298 . Erst die Referenz auf die Zielsetzung und die Organisation des Systems ermögliche die Beurteilung des einzelnen Tatbeitrages und im Systemzusammenhang komme diesem dann nur noch "Symptomwert für die Asozialität des Verbandes" ZU299. Das Unrechts system wird - nochmals - definiert als "auf Unrechtsziele hin organisierte Beziehungen von Menschen,,3oo. 295
E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff.
296
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff.
297
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683
(683). (684).
298 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (685 f.). 299 E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (687).
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Das Systemunrecht taucht nach Lampe bereits in einem einfachen Unrechtssystem auf, wie es maßgeblich in der Mittäterschaft seinen Ausdruck findet. Das Charakteristikum des Systemunrechts ist die Vervielfältigung der relevanten Kausalbeziehungen, die sowohl zwischen Tätern und Opfer (im Außenverhältnis) als auch zwischen den Tatern (im Innenverhältnis) verlaufen, so daß von einer kausalen Wechselwirkung zwischen Außen- und Innenwelt gesprochen werden kann. Deren Konsequenz ist vor allem, daß die Bedeutung der äußeren oder internen Kausalbeziehungen nicht ohne Rekurs auf die jeweils anderen voll erfaßt und entsprechend gewürdigt werden kann 30I . Dies findet objektiv seinen Ausdruck darin, daß die Stellung als Mittäter durch einen wesentlichen Tatbeitrag begründet wird, die ,Wesentlichkeit' jedoch - für alle komplizierteren Fälle - nur unter Berücksichtigung der internen Verantwortungsverteilung bestimmt werden kann. Aus der kumulativen Bedeutung der Erfolgsverursachung, des Verhältnisses zueinander und der Rechtsstellung in der sozialen Umwelt folgt, daß Mittäterschaft mehr ist als die Summe der Einzeltäter, nämlich ein neues, eigenständiges System, und hier eine neue Qualität des Handeins auftritt, die über die der Einzelhandlungen hinausgeht. Subjektiv findet das Unrechtssystem im überindividuellen Willen, einem Wir-Gefühl, seinen Ausdruck. Dies schlägt sich auch in dem Gedanken des Gesamtplanes bei der Tatbegehung nieder. Lampes Begriff von Systemunrecht wurde oben schon vorgestellt: Systemunrecht ist durch Aufnahme der kollektiven Momente des Unrechtssystems als Unrechtszustand charakterisiert und findet seinen Grund als Unrecht in der Möglichkeit des Handelns der Mitglieder des Systems aus diesem heraus unter Referenz kausal verflochten mit diesem - auf dessen Unrechtsstrukturen. In der Mittäterschaft entsteht das System dadurch, daß die Mittäter ihre Beziehungen auf den gemeinsamen Tatplan hin organisieren. Hier entsteht nach Lampe das Systemunrecht in dem Moment, in dem ein Mittäter entsprechend seiner Rolle im Tatplan mit der Umwelt (handelnd) in Beziehung tritt302 . Daraus folgt z. B., daß ein Exzeß nicht dem System und damit den anderen zugerechnet wird. Die Zu schreibung von Verantwortung für Systemunrecht unterscheidet sich nun auch für die Mittäterschaft als einfachem Unrechtssystem von der Zuschreibung von Beziehungsunrecht303 . Dies findet für die herrschende Dogmatik ihren Ausdruck in der Abstufung der Tatherrschaft nach organisatorischen und nach sozialen Gesichtspunkten. Damit rechtfertigt sich die Verantwortung aller Mittäter für die Tat über die Mitherrschaft über das System und damit das Systemunrecht. Eine strafrechtliche Verantwortung des einfachen Unrechtssystems selbst scheidet aller300
E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (687).
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (688 ff.). 302 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (688 ff.). 303 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 301
(716 ff.).
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dings aus, da es keine Organisation darstellt, die über das Ziel der Tatbegehung hinausweist 304 . Daß eine kriminelle Vereinigung trotz der Organisation hin auf ein kriminelles Ziel ebenfalls nicht selbst verantwortlich ist, hat nach Lampe seinen Grund darin, daß sie aufgrund ihres Verstoßes gegen die Rechtsordnung - Nichtigkeit der Gründung, keine Eintragung in staatliche Register, Gesetzeswidrigkeit des Handelns - nie als Rechtssubjekt existiert hat und daher auch nicht gebessert werden kann oder sonst einer Straffunktion zugänglich ist. Die bereits für die Mittäterschaft charakteristische funktionelle Organisation, welche die Grundlage für die stärkere Komplexität der Kausalbeziehungen nach außen und innen und ihre schwierigere Beurteilung ist, wird später in den verfaßten Unrechtssystemen, zu denen auch die kriminell anfälligen Wirtschaftssysteme zählen, durch eine Verfassung / Satzung / Vertrag institutionalisiert und damit verfestigt 305 . Das System ist mehr als die einfache (arithmetische) Summe seiner Teile, wie sich - in Parallele zum Gesellschaftsrecht - daran zeigt, daß es nun nicht mehr auf einen konkreten Mitgliederbestand ankommt. Für die Wirtschaftsunternehmen läßt sich präziser sagen, daß die institutionalisierenden Möglichkeiten des Gesellschaftsrechts bewußt ausgenutzt werden. Regelmäßig wird hier eine größere Komplexität des Systems vorliegen. Es soll um eine zweite Art von Unrecht neben dem "Einzelunrecht" in Fonn des Handlungs- und Erfolgsunrechts gehen: nämlich das Systemunrecht, das von menschlichen Handlungen ausgehen kann. Der Mensch verfügt nach Lampe einerseits über die Möglichkeit, selbst bestimmte Einwirkungen auf seine Umwelt vorzunehmen. Andererseits aber kann er sein soziales Wesen zum Einsatz bringen und sich zu komplexeren Systemen zusammenschließen und deren qualitativ neue Machtentfaltung zur Zielerreichung ausnutzen: in der einfachen Fonn der Mittäterschaft oder der Fonn der verfaßten Unrechtssysteme, also einer Vereinigung der organisierten Kriminalität, eines kriminell anfälligen Wirtschaftsunternehmens oder eines pervertierten Unrechts-Staates. Das bewußte Agieren unter Ausnutzung sozialer Systeme hat ein anderes Gepräge als die solitäre Handlung des Einzeltäters. 4. Fazit
Sowohl die Figur der Tatherrschaft des Hintennannes - herausgearbeitet als Tatbestandshandlungsherrschaft - als auch die Erscheinung des Systemunrechts, wie es sich bereits in der Mittäterschaft findet, verweisen auf den kollektiven Bereich der menschlichen Existenz. Sowohl die Figur der Tatherrschaft des Hintennannes als auch die der Mittäterschaft reiben sich stark mit dem Individualstrafrecht. Die 304
(720).
Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683
305 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 (693 ff.).
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richtigen Ansätze zu ihrer Lösung - normative Betrachtung sozialer (!), machtbezogener (!) Bezüge einerseits und das auf den vielfältigen Kausalbeziehungen beruhende Netz des Systemunrechts andererseits - öffnen die Perspektive für die noch komplexeren Zusammenhänge des strafrechtlichen Kollektivhandeins. Von hier ausgehend kann die horizontale und die vertikale Dimension des Handeins in einem Verband, näherhin: eines Kollektivs untersucht werden, welche die qualitative Differenz zum einfachen Individualhandeln darstellen könnte.
11. Schuld und Strafe - Verhältnisbestimmung im Individualstrafrecht 1. Grund von Strafe und Strafrecht Nur wenige Theorien, die sich mit einer Begründung von Strafe und Strafrecht befassen, beziehen die Schuld oder das Schuldprinzip fundamental mit ein. Regelmäßig wird dieses (nur) als Begrenzung der Strafrechtsgewalt verwandt. Der folgende Abschnitt soll die fundamentale, da sinn stiftende Bedeutung des Schuldprinzips für das Strafrecht aufzeigen. Dies wird letztendlich auch durch einen Brückenschlag zum Gerechtigkeitsprinzip bestätigt werden, der nur mit dem Schuldprinzip zu leisten ist. Vorausgeschickt werden soll den folgenden Betrachtungen, daß weithin Konsens besteht, daß Strafe als Rechtsstrafe im heutigen demokratischen Rechtsstaat unter der Geltung des Art. I GG klar von moralischen, religiösen oder erzieherischen Strafen unterschieden ist306 . Sie hat im Prozeß der Entstehung und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft viele Konnotationen notwendig hinter sich gelassen. Insbesondere Sühne als eine Frage der Ethik kann nicht Grund oder auch Zweck der Strafe sein; denn dann ginge es um Fragen und Entscheidungen, die den (inneren) Kernbereich des Menschen als autonomer Persönlichkeit betreffen und nur von diesem in freiem Willen entschieden werden und nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen erwirkt werden können 307 . Strafe ist nach heutigem allgemeinen Verständnis die Reaktion auf eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung - das Verbrechen 308 . Eine nähere Begründung von Strafe und Strafrecht kann nun unterschiedlich angesetzt werden. Dabei kann zunächst nach der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts gefragt und davon ausgehend das Wesen der Strafe bestimmt werden; oder man begründet die Strafe in sich und sucht dann von dort aus die gesellschaftliche Vgl. M. Köhler, AT, S. 37. Vgl. W. Schild, Strafe und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 (294) m.w.N. 308 Vgl. nur Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 193; vgl. aber auch die andere (tiefergehende) Bestimmung bei M. Köhler, AT, S. 37 ff. 306 307
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Funktion des Strafrechts. Es ist nun schnell erkennbar, daß eine Begründung der Strafe aus der gesellschaftlichen Perspektive nicht weit führen kann 309 . Diese gesellschaftliche Funktion des Strafrechts wird nun gemeinhin im spezifischen Rechtsgüterschutz 310 bzw. in neuerer Fassung im Schutz der (vertrauensbildenden) Grundlagen der Freiheit bestimmelI. Es geht insofern um gesellschaftlich besonders wichtige Güter und Interessen - sei es für den Einzelnen oder die Gemeinschaft. Diese Funktion soll das Strafrecht auf zweierlei Weise wahrnehmen: zunächst durch generalpräventive Stabilisierung und spezialpräventive Behandlung - wobei sich auf diese Weise für das Strafrecht keine besondere Position im staatlichen Sanktionsrecht herleiten läßt 312 . Dem Schutz von Rechtsgütern dienen ebenso Zivilrecht und Verwaltungsrecht allgemein und die Sanktionen des letzteren im besonderen. Die Besonderheit des Strafrechts kann daher erst in das Blickfeld kommen, wenn man sich die Strafe als repressives Mittel der Normrehabilitierung bewußt macht und sich damit dem Strafrecht vom Mittel der Sanktion und ihrem Bezug zur Vergangenheit her nähert. Es ist daher unausweichlich und gedanklich wohl auch vorgelagert, sich mit diesem spezifischen Sanktionsmittel zu beschäftigen. Es sind die seit langem entwickelten Straftheorien, welche die Materie aus der entgegen gesetzten Richtung angehen: Sie wollen erklären, was Strafe ihrem Wesen nach ist. Dabei ist die Bestimmung über die gesellschaftliche Funktion auch hier eine, aber eben nur eine, wenn auch überwiegend praktizierte Möglichkeit der Erklärung von Strafe. a) Die verschiedenen Präventionsansätze Heute allgemein vertretene Ansicht im Rahmen der Straftheorien sind die verschiedenen Formen der Prävention: die Spezialprävention mit dem Bezug zum Täter, die Generalprävention mit dem Bezug zur Gesellschaft; letztere wird dabei in zwei verschiedenen Fassungen vertreten: in der negativen Fassung als Abschrekkung anderer potentieller Täter für die Zukunft, in der positiven Fassung als Bestätigung der Rechtsordnung bei der rechtstreuen Bevölkerung 313 . Es handelt sich bei Vgl. dazu oben § 3 I. und 11. Vgl. dazu hier nochmals grundlegend: P. Sina, Dogmengeschichte, passim; K. Amelung, Rechtsgüterschutz, passim; auch die Analyse zum Begriff des Rechtsguts und dessen Leistungsgrenzen: G. Stratenwerth, Zum Begriff des "Rechtsgutes", in: FestschriftLenckner (1998), S. 25 ff. und oben § 3.1. 3ll Vgl. nur M. Köhler; AT, S. 22 ff., 33 f. m. w. N. 312 Vgl. nur - aus (bemerkenswerterweise) verfassungsrechtlicher Perspektive - I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 459. 313 Vgl. hierzu insgesamt: Baumbach/Weber/ Mitsch, § 3 Rn. 25; insbesondere zur Generalprävention, vgl. die drei Aufsätze von W. Nauke, Generalprävention und Grundrechte der Person, S. 9 ff., W. Hassemer; Generalprävention und Strafzumessung, S. 29 ff. und K. Lüderssen, Die generalpräventive Funktion des Deliktssystems, S. 54 ff., alle in: Hassemer/Lüderssen/Nauke, Generalprävention; auch M. Köhler; AT, S. 38 ff. m. w. N.; als 309 310
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allen Ansätzen vom Prinzip her um eine instrumentelle Bestimmung und damit Begründung der Strafe: Sie dient als Mittel zum Zwecke der Prävention, sei es gegen weitere Taten des Täters oder der allgemeinen Bevölkerung oder zur Bestätigung der letzteren, soweit sie als rechtstreu zu sehen ist; die gedankliche Nähe zum Polizei- und Ordnungsrecht ist offensichtlich 3l4 . Die Spezialprävention, die eng mit dem - vor allem auch vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen Gedanken der Resozialisierung verbunden ist, orientiert sich am Täter, genauer an seiner Gefährlichkeit, insofern er möglicherweise für weitere Taten gut ist - dazu muß sie sich auf eine empirische Prognose einlassen3l5 . Einer inhaltlichen Kritik ist die auf eine Resozialisierung zielende Spezialprävention dabei wohl nicht unmittelbar ausgesetzt, da die Rückführung des Täters als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft nur richtig sein kann, denn sie versucht, ihm zu seinem vollen Status als akzeptiertes Individuum in der Gemeinschaft zu verhelfen - womit er seine von Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Rolle und entsprechenden Möglichkeiten als menschliches Wesen erst voll ausschöpfen kann. Die Generalprävention operiert auf einer anderen, sehr viel abstrakteren Ebene: Sie sieht die gesellschaftliche Funktion der Strafe und möchte ihr das Primat einräumen. Dazu muß sie den Täter als Demonstrationsobjekt für die Allgemeinheit nehmen, dessen "Behandlung" die Normhaltung der (anonymen/unbestimmten) Einzelnen in der Gesellschaft beeinflussen soll: ebenfalls Abhaltung von einer möglichen Tatbegehung oder Bestätigung bzw. Stabilisierung der eigenen Haltung 3l6 . Es entsteht schnell der Eindruck, daß ein Exempel an einem als Objekt zu begreifenden, überführten Täter statuiert wird. Die Schwierigkeiten, eine solche instrumentelle Theorie mit dem universellen Gedanken der Menschenwürde zu vereinbaren, liegen auf der Hand 3l7 . Zum positiven Recht des Art. 1 Abs. 1 GG Begründer einer Theorie der Generalprävention (zunächst in ihrer negativen Form) gilt Feuerbach (Anfang des 19. Ih.). 314 VgJ. M. Köhler, AT, S. 38; partiell werden diese Konsequenzen auch vom Großteil der Literatur mit der quantitativen Abgrenzung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht gezogen. 315 VgJ. Baumbach/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 36, auch unter Hinweis auf die Vielzahl von Tatertypen, die nicht gleichermaßen einer solchen Prävention bedürfen; der Gedanke der Spezialprävention geht auf v. Liszt zurück (Ende 18. Ih.). 316 Dies wurde bereits im Hinblick auf das geltende Recht unter dem Grundgesetz von P. Badura, kritisiert, ders., Generalprävention und Würde des Menschen, IZ 1964, S. 337 ff.; vgJ. dazu grundlegend die kritischen Betrachtungen bei E.-A. Wolff, Generalprävention, ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; vgJ. auch Arthur Kaufmann, Über die gerechte Strafe, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 39 (39, 42 ff.), ders., Das Problem der Schuld, a. a. 0., S. 47 (56 ff.). 3I7 VgJ. E.-A. Wolff, Generalprävention, ZStW 97 (1985), S. 786 (795 ff.), der eine ausführliche Kritik der Generalprävention vornimmt. Er weist darauf hin, daß man die Generalprävention nicht auf eine rein instrumentelle Theorie verkürzen dürfe, da sie ,immerhin eine Straftheorie der Rechtswissenschaft' sei. Er geht daher die möglichen Ansätze einer generalpräventiven Bestimmung der Strafe im Hinblick auf das Gemeinwesen, auf das die Generalprävention maßgeblich Bezug nimmt, im einzelnen durch. Hauptkritikpunkt ist dabei (zu Recht), daß die verschiedenen Ansätze der Generalprävention als naturwissenschaftlich
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hat das Bundesverfassungsgericht - ganz auf dieser Linie - festgestellt, daß jeder Mensch als selbstverantwortliche Persönlichkeit Zweck an sich selbst ise ls . Die Gemeinsamkeit des an der Gesellschaft und am Täter orientierten Ansatzes liegt also in der Betrachtung der Strafe gegen den Täter als einem Mittel zu einem von der konkreten Tat losgelösten Zweck, der Prävention. Daher rührt auch die Bezeichnung dieser Theorien als relative Theorien her, sie beziehen sich auf dieses bestimmte Ziel. Schuld spielt in diesen Theorien nur eine Nebenrolle: Sie dient der Begrenzung, nicht jedoch der Begründung319 . Nur wenn der mit der Strafe ausgeteilte Tadel auch verdient ist - und das muß sich zwangsläufig über die Schuld als persönliche Verantwortung bestimmen - soll der Täter als Demonstrationsobjekt herhalten. Aber damit wird der Widerspruch der Generalprävention (in ihren beiden Spielarten) gegen die Menschenwürde nicht aufgelöst32o . b) Die absoluten Theorien Die entgegengesetzte Position wird von den absoluten Theorien vertreten. Diese kommen zu ihrem Namen aufgrund des mangelnden Bezuges zu außerhalb des Bereiches der Straftat und des Rechts liegenden (gesellschaftlichen) Zwecken, sie sind insofern losgelöst. Früher war der Vergeltungsgedanke ein unmittelbarer; das lus Talionis verstand die Vergeltung als eine Vergeltung von Gleichem mit notwendig Gleichem. Noch im Mittelalter wurde dementsprechend z. B. für einen Meineid die Zunge herausgeschnitten oder die Schwurhand abgehackt321 . Aber dies ist die Vergeltung im überlieferten physischen Sinne, deren Berechtigung ursprünglich nur daraus resultierte, daß sie dazu geführt hat, daß eine Person nur für eine von ihr begangene Tat bestraft werden konnte. Prägend ist dagegen heute der Gedanke der Vergeltungstheorie, so wie sie insbesondere von Kant und den Vertretern des deutschen Idealismus artikuliert wurde 322 : Sie versteht die Strafe als notwendige "Maßnahme" zum Ausgleich der Gerechtigkeit, die durch das Verbrechen bzw. die Straftat Schaden genommen hat. Würde man allerdings dies so stehen lassen 323 , wäre diese Begründung kaum verständlich; denn was soll z. B. hier als Gerechtigkeit begriffen werden? orientierte Theorien nur die eine Seite des Menschen herausstellen, seine intelligible Struktur, seine Fähigkeit sich mit dem Gedanken an das praktisch Richtige auseinanderzusetzen, wird ignoriert. Vgl. insbes. zur positiven Generalprävention, E.-A. Wolff, a. a. 0., S. 802 ff. 318 BVerfGE 45, S. 187 (228). 319 Vgl. nur C. Roxin, AT, § 19 Rn. I ff.; dazu kritisch W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), , S. 287 f.; vgl. dazu auch unten 4. b. 320 Vgl. aus neuester Zeit dazu den umfassenden - auch historischen - Überblick bei F. Neuß, Der Strafzweck der Generalprävention, passim, insbes. S. 151 ff. 321 Zu den Beispielen vgl. Baumann/Weber/Mitsch, § 3 Rn. 52. 322 Vgl. die weit. Nachw. bei: M. Köhler, AT, S. 43, 48 ff. 323 Vgl. zu einer Kritik verkürzter absoluter Theorie: E.-A. Wolff, Generalprävention, ZStW 97 (1985), S. 786 (788 f.).
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Eine solche ablehnende Verwunderung äußert sich beispielhaft immer wieder gegenüber der Strafrechtsbegründung Kants im allgemeinen und im Rahmen des sog. "Inselbeispiels" im besonderen; in diesem Beispielsfall fordert Kant bekanntlich, daß auch wenn ein gesamter Inselstaat aufgelöst und in alle Winde zerstreut würde, dennoch die Straftäter ihrer Strafe - also vor allem auch der Todesstrafe zugeführt werden müßten 324 . Einen anderen Interpretationsansatz zeigt Rainer Zaczyk, wenn er aufbauend auf dem Verständnis Kants von der bürgerlichen Gesellschaft und einer freiheitlichen Rechts- und Strafrechtsbegründung zu dem Ergebnis gelangt, daß es auf zweierlei ankommt: zum einen darauf, daß die Bewohner der Inselgemeinschaft die Geschichte des nicht ,abgearbeiteten' Rechtsbruchs in eine neue Gemeinschaft mit hineintragen (es sterben ja nicht alle bei Untergang des Inselstaates), und zum anderen darauf, daß es eigentlich um Bestrafung bei noch bestehender Gemeinschaft und nicht gerade kurz vor der Auflösung gehen muß 325 . Die absoluten Theorien in einer aktuellen Lesart betreiben gerade keine Lehre des "Auge um Auge, Zahn um Zahn"! Eine richtige Rezeption des Vergeltungs gedankens muß also anders aussehen. Es geht um die Wiederherstellung der durch die Tat verletzten Geltungsallgemeinheit des Rechts, um das Wiedereinholen des Täters in das in der Gesellschaft geltende Anerkennungs- und Rechtsverhältnis (das ist oben benannte ,Gerechtigkeit'), dessen Mitkonstituent er selbst ist 326, denn jeder Einzelne trägt mit seiner freiheitlichen Natur das Vermögen zur Selbstbestimmung im Lichte der Allgemeinheit in sich. Auf diese Begründungszusammenhänge wurde bereits weiter oben teilweise eingegangen327 . Gerade aufgrund seines Vermögens der Freiheit kann der Einzelne nicht als Mitkonstituent der Rechtsordnung entlassen werden 328 . Er bleibt notgedrungen der Gemeinschaft verbunden, die wiederum ihn deswegen nicht ausstoßen kann. Seinen personalen Status kann der Einzelne nicht verlieren. Daher darf eine Strafe auch im Extremfall nur statusmindernd und nicht statusentziehend wirken 329 . Die Strafe ist dabei nicht einzusetzen, weil eine schwere Tat intuitiv ,rachegleich ' durch eine schwere Sanktion gesühnt werden müßte, sondern weil sie neben der Verletzung des Einzelnen (Opfers) auch eine Verletzung der Allgemeinheit, der von allen konstituierten Garantie der Freiheit durch das Recht, darstellt. Diese grundlegende Negation des freiheitlichen Rechts der Gesellschaft macht es notwendig, den Täter so zu behandeln, daß er trotz der Tat später wieder Nachw. zu Kant und der Kritik bei R. Zazcyk, Staat und Strafe, S. 73 Fn. 1. Vgl. R. Zaczyk, Staat und Strafe, passim, insbes. S. 83 ff. 326 Vgl. nur M. Köhler, AT, S. 43 m. w. N. ; in diesem Sinne auch E.-A. Wolff, Generalprävention, ZStW 91 (1985), S. 788 (806 ff.); W. Schild, in: AK-StGB, vor § 13; R. Zaczyk, Zum Strafrecht, passim; ders., Unrecht, S. 126 ff., 194 ff. 327 Vgl. oben § 3 H. und § 4 I. 4, siehe auch die dortigen Nachw. 328 Vgl. auch oben § 3 H. und zur Konstitution der Rechtsordnung auch unten § 11 I. 3. 329 Vgl. R. Zaczyk, Staat und Strafe, S. 82. 324 325
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an der Gemeinschaft teilhaben kann; denn dieser Weg ist ihm ja zunächst versperrt. Dazu dient die Strafe. Dieser Bezug zur Vergangenheit ist das Wesensbestimmende - allgemein gesprochen: objektiv in Gestalt der Tat; es fehlt dann noch der Bezug zum Täter, und dieser erfolgt in Gestalt der Schuld des Täters als Verschuldensprozeß 33o . c) Die Vereinigungstheorien Die heute überwiegende Auffassung in der Literatur und auch die Rechtsprechung33l gehen davon aus, daß sowohl die Präventionstheorien als auch die absoluten Theorien im Kern ein jeweils Richtiges treffen, sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, also nicht in einem Alternativverhältnis zueinander stehen, sondern sich vielmehr gegenseitig ergänzen, somit komplementär zueinander verhalten. Nach der Vereinigungstheorie müssen also die verschiedenen Strafzwecke nur zusammengenommen und in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden. Dabei spielte der Vergeltungs- oder Sühnegedanke früher eine wesentlich stärkere Rolle als heute 332 . Im Rahmen des Siegeszuges der Präventionstheorien kommt dem Vergeltungsgedanken eher die Rolle eines störenden Relikts zu, auf das man aber wegen des Verständnisses von Schuldspruch bzw. Strafe allgemein als einem sozial-ethischen Unwerturteil, einem Tadel, nicht ganz herumzukommen meint. Dieses Gefühl trügt denn auch in der Tat nicht. Eine Begründung von Strafe vermögen die Präventionstheorien nämlich nicht zu geben. Damit muß aber auch eine vereinigende Theorie scheitern, solange sie mit der Vereinigung eine Verbindung gleichgeordneter Zwecke betreibt 333 , Eine richtige Einbeziehung des Präventionsgedankens soll am Ende dieses Abschnitts versucht werden 334 , d) Fazit: Von der Schuld zur Strafe und zu einem freiheits gesetzlich bestimmten Strafrecht Die Begründungsdefizite der Vertreter von General- und Spezialprävention sind schwer von der Hand zu weisen. Daher wird von den freiheitsgesetzlich orientierten Autoren in der neueren Literatur auf die genannten Schwierigkeiten der Prä330 Einen anderen Weg beschreitet beispielsweise noch Ulrich Weber, indern er auf Basis des traditionellen normativen Schuldbegriffs und der Schuldfunktion von Vorsatz und Fahrlässigkeit von einer Schuld-Sühne-Funktion der Strafe ausgeht und die Schuld dabei auch strafzweckfrei bestimmt, vgl. Baumann/Weber/Mitsch, AT StGB, § 3 Rn. 50 ff.; § 18 Rn. 2 ff., insbes. 19 ff. 33l Vgl. nur BVerfGE 45,187; w. N. zur Literatur bei C. Roxin, AT, S. 52 ff. 332 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 47 (48 f.). 333 Vgl. nur M. Köhler, AT, S. 44. 334 Vgl. unten § 10 III.
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ventionstheorien verwiesen und der Versuch unternommen, das Strafrecht und damit die Strafe umfassender zu begründen, d. h. eigentlich überhaupt erst zu begründen. Diesen bereits weiter oben335 in Teilen behandelten Ansätzen gemein ist die natürlich nicht neue, aber doch länger nicht ausreichend beachtete - Wende zu einem vom freien Individuum geprägten Recht und damit auch Strafrecht. Dies muß sich zu allererst natürlich in der Frage nach der Strafe und Schuld als den Basisbzw. Selbstverständnis-Fragen des Strafrechts niederschlagen, so daß es notwendig ist, an dieser Stelle - anknüpfend an das oben bereits Gesagte - nochmals weiter in die (dogmatische) Tiefe zu gehen. Das Strafrecht soll Schaden, der allgemein-verbindlich geltenden Rechtsnormen (immateriell) zugefügt wurde, wieder ausgleichen. In dem Maße, in dem die Verletzung in Interaktionsbeziehungen der privaten Klärung (durch insbesondere Fehde und Rache) entzogen ist, bedeutet eine Beeinträchtigung bzw. Verletzung von Rechtsgütern vor allem auch eine Verletzung von allgemein gültigen Normen und mit ihr auch der normsetzenden Instanz. Hier ist auch der Grund zu finden, warum nicht primär an die Rechtsgutsverletzung anzuknüpfen ist (auch wenn dies ein guter Ausgangspunkt zur Orientierung ist), sondern an die Norm, das Recht als solches. Ein Verbrechen bestimmt sich danach, ob die Normverletzung (der Verhaltensnorm, die insoweit den Ausgangspunkt der Argumentation darstellt) ein solches Gewicht hat, daß dadurch - wie schon mehrfach betont - eben das Recht als Recht in Frage gestellt wird, das Recht als Sicherung der Grundlagen der Freiheit336 ! Die Normrehabilitierung vollzieht sich dabei (schematisch gesprochen) in zwei Schritten: dem Vorhalten der defizitären Einstellung des Normbrechers gegenüber dem Recht und der Auferlegung eines materiellen, wahrnehmbaren Übels 337 . Mit dem ersten Schritt ist auch der Begriff des "sozial-ethischen Unwerturteils" u. ä. verbunden 338 . Dieses Vorhalten der defizitären Einstellung macht nun das spezifische der Strafe aus. Eine sinnvolle Explikation des Strafrechts und der Strafe setzt also bei dem Mittel - der Strafe - an und rekonstruiert von dort aus, also von der Natur der Strafe her, das Strafrecht in seiner gesellschaftlichen Rolle. Es bleibt nun, die besondere Bedeutung der Schuld für den Begriff der Strafe einzuholen.
Vgl. oben § 3 II. und § 4 I. 4. Vgl. nur M. Köhler; AT, S. 48 ff.; in diesem Sinne interessanterweise auch aus verfassungsrechtlicher Sicht, allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf die (vorgenannte) einschlägige Strafrechts-Literatur: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 462 ff., 496 ff. 337 Vgl. W. Schild. Strafe und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner, S. 287 ff.; I. Appel. Verfassung und Strafe, S. 466 ff. 338 V gl. hierzu und zu dem Fehler, der in der hier vorgenommenen Vermengung von Recht und Ethik/Moral liegt: l. Appel. Verfassung und Strafe, S. 468 ff.; dazu auch W. Schild, Strafe und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner, S. 287 (301). 335
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2. Der Begriff der Schuld und seine grundlegenden Differenzierungen
Die Verwendung des Begriffes ,Schuld' in unserem heutigen Sinn, also als besondere individuelle Verantwortlichkeit im Sinne eines besonderen persönlichen Verschuldens, ist noch recht jung und reicht bis an den Beginn des 19. Jahrhundert zurück 339 . Da es bei der in Frage stehenden Tat primär um den Gegensatz zur Gemeinschaft ging, dominierten zuvor im Strafrecht der Antike und des Mittelalters, im römischen und germanischen Rechtskreis verschiedene Formen der Zurechnung, bei denen nur auf unterschiedliche Weise versucht wurde, naturhaft kausale oder kaum auf eine Person zurückführbare Konstellationen (z. B. Geisteskrankheit) auszuscheiden 34o . Persönliche Einstellungen des Täters zur Tat wurden vor allem im Begriff des Vorsatzes erfaßt, in den nach heutigem Verständnis sowohl Vorsatzals auch Schuld-Aspekte mit einflossen 341 . Der dann ab dem 19. Jahrhundert verwandte Schuld-Begriff hatte zunächst in der Regel einen weniger auf persönliche Verantwortung und Verantwortbarkeit (Unerheblichkeit von Rechtsirrtümern, potentielle Normkenntnis u. ä.) zugeschnittenen Inhalt als nach heutigem Schuldverständnis 342 . Dem lag zunächst ein mit dem absolutistischen Staatsverständnis in Zusammenhang stehendes instrumentalistisches Straf-Verständnis zugrunde, das von Gelehrten wie Samuel Pufendorf begründet wurde. Später wurden dann ähnliche Ergebnisse produziert von naturalistisch orientierten Autoren wie z. B. v. Liszt mit der Konzeption des psychologischen SChuldbegriffs343 . Mit dem psychologischen Schuldbegriff nahm nichtsdestotrotz der moderne Schuldbegriff seinen Anfang. Für das heute geltende Strafrecht wird mit Hinweis darauf, daß unter dem (Ober)Begriff ,Schuld' verschiedene Sachverhalte gemeint sind und behandelt werden, regelmäßig noch eine Differenzierung hinsichtlich des Schuldprinzips vorgenommen. So ist - namentlich mit Hans Achenbach - zwischen Schuldidee, Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld zu unterscheiden 344 : Auf der Ebene der Schuldidee wird über einen überpositiven inhaltlichen Begriff der (straf-)rechtlichen Schuld gesprochen, nicht von einzelnen Elementen einer anzuwendenden Dogmatik. Hier wird gemeinhin - die bereits oben untersuchte - Frage behandelt, ob eine indeterministische Willensfreiheit zu fordern ist; weiter ist aber auch zu klären, was Gegenstand der Schuld sein kann oder muß (die Einzeltat oder 339 Vgl. HistWPhil., Bd. 8, Artikel ,Schuld', Sp. 1449 (1467 f.), Sp. 1449 ff. allgemein zum Begriff der Schuld in seinen diversen Thematisierungszusammenhängen; M. Köhler; AT, S.349. 340 Vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 217 ff.; M. Köhler; AT, S. 368 m. w. N. 341 Vgl. HistWPhil, Bd. 8, Artikel ,Schuld', Sp. 1449 (1465 ff.); M. Köhler; AT, S. 369. 342 Zur historischen Entwicklung des Schuldbegriffes ab dem 19. Ih., vgl. ausführlich H. Achenbach, Grundlagen, S. 19 ff. 343 Vgl. M. Köhler; AT, S. 369 f. m. w. N. 344 Vgl. H. Achenbach, Grundlagen, S. 2 ff.; zusammenfassend auch C. Roxin, AT, § 19 Rn. 50.
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der Charakter), also auch, was Gegenstand des Schuldvorwurfes ist, und welche Grenzen aus einer bestimmten Schuldauffassung resultieren (z. B. hinsichtlich der unbewußten Fahrlässigkeit). Dem folgt auf der dogmatischen Ebene dann die Stratbegründungsschuld, deren Aufgabe es ist, darzulegen, anhand welcher Kriterien die Schuld im Einzelfall zu bestimmen ist. Schließlich erfährt das Schuldprinzip auf einer letzten Stufe seine Konkretisierung als Strafzumessungsschuld, in deren Rahmen die Punkte herausgearbeitet werden, an die der Richter bei der Strafzumessung anzuknüpfen hat. Dabei ist es einerseits wichtig, die Ebenen zu unterscheiden, um die logischen Stufen der Argumentation nicht zu vertauschen 345 , andererseits ist es auch richtig - wie Achenbach festgestellt hat -, daß sich in der Dogmatik keine spezifischen Schulen herausgebildet haben, die sich an Grundlegungen im Rahmen der Schuldidee orientieren. Dennoch können von der dogmatischen Grundposition entscheidende Impulse ausgehen - wie unten zu zeigen sein wird. Im folgenden soll es zunächst um die zentralen Fragen der Schuldidee gehen, d. h. darum, inwieweit überhaupt von Schuld gesprochen werden kann und auf diese bei der Bestrafung zurückgegriffen werden darf und ggf. muß. Damit werden dann aber auch entscheidende Aspekte der Stratbegründungsschuld angesprochen. 3. Auffassungen des strafrechtlichen Schuldprinzips
a) Die verschiedenen Konzeptionen des Schuldprinzips Der psychologische Schuldbegriff des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts bestimmte die Schuld als den Ort aller subjektiven Tätermerkmale (Beziehung des Täters zum Erfolg), nachdem dem Tatbestand infolge der Trennung von Unrecht und Schuld alle objektiven Merkmale zugeschlagen worden waren, wobei als ,Schuldarten ' Vorsatz und Fahrlässigkeit und als eigentliche ,Schuldvoraussetzung , die Zurechnungsfähigkeit vorgesehen waren 346 . Der psychologische Schuldbegriff wurde dann Anfang des 20. Jahrhunderts abgelöst durch den - wohl auch heute noch herrschenden - normativen Schuldbegriff. Ausschlaggebend waren Unstimmigkeiten durch eine Bestimmung der Schuld ausschließlich mittels Vorsatz und Fahrlässigkeit (psychologisch, empirisch) bei gleichzeitig (notwendiger) Anerkennung des entschuldigenden Notstandes (normativer Gehalt!)347. In der Folge wurde die Zurechnungsfähigkeit als ei345 Erst wenn ich die grundsätzliche Möglichkeit von Schuld bejahe, kann ich sinnvoll dogmatisch einen Schuldbegriff konzipieren. Dann fallt eben auch besonders auf, wenn - wie z. B. bei C. Roxin - eine Grundlegung im Rahmen der Schuld nicht für notwendig erachtet wird. 346 Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 10; H. Achenbach, Grundlagen, S. 19 ff., 62. ff. m. w. N. 347 Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 11; hier war grundlegend die Arbeit von Frank aus dem Jahre 1907; sein Ansatz wurde vor allem durch die Arbeit von Goldschmidt ergänzt; vgl. die Nachweise bei C. Roxin, a. a. O.
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gentlicher Bestandteil der Schuld in den Mittelpunkt gerückt. Die finale Handlungslehre schließlich wies Vorsatz und Fahrlässigkeit dann weitgehend bzw. endgültig dem subjektiven Tatbestand ZU348. Von der formellen Konzeption der Schuld als ,Vorwerfbarkeit', wie es die normative Schuldlehre einführte, prinzipiell unabhängig ist das Verständnis der Schuld hinsichtlich ihres materiellen Gehaltes 349 . Die Auffassungen reichen vom (berühmten) ,Anders-handeln-können .350 über die ,rechtlich mißbilligte Gesinnung'351 und das ,Einstehen-müssen für den eigenen Charakter.352 hin zu einem ,Unrecht-Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit,353. Dies muß hier nicht ausführlich dargestellt werden - es genügt als gemeinsamen Nenner ein Bekenntnis zu einer wertbezogenen, ethischen Schuld und ein Abheben auf innere Faktoren und Gegebenheiten beim Täter festzuhalten. Die Variationsbreite liegt zwischen einem echten ethischen Wertungsurteil bei dem Kriterium der ,rechtlich mißbilligten Gesinnung' oder noch stärker bei dem ,Einstehenmüssen für den eigenen Charakter' und den empirisch orientierten Anknüpfungen an eine ,normative Ansprechbarkeit'. Dem ersten Ansatz wird entgegengehalten, daß Handlung und Handlungsmotivation im Augenblick der Tat als Wertungsobjekt herangezogen werden, obwohl sie sich nie tatsächlich werden feststellen lassen 354 . Dem zweiten Ansatz muß möglicherweise entgegengehalten werden, daß zu einseitig auf eine trügerische Empirie gesetzt wird und man das wertende Element verkümmern läßt. Die ausführlichere Kritik Roxins und Jakobs' am Schuldprinzip soll gleich noch eingehender behandelt werden. Es kann jedoch hier schon festgehalten werden, daß allen Ansichten gemeinsam der Vorwurf gemacht werden muß, daß sie die hinreichend konstitutive Rolle der Schuld durch ihre materielle Bestimmung nicht berücksichtigen (darauf wird sogleich noch ausführlich einzugehen sein). Letztlich (und entscheidend) wird nicht ausreichend die freie Persönlichkeit des strafrechtlichen Handlungssubjekts erfaßt. Als Bestandteile der aus der Schuldidee folgenden Strafbegründungsschuld können heute - bei erheblichen Abweichungen in Begründung und dogmatischen Details - ganz allgemein Zurechnungsfähigkeit, Unrechtseinsicht bzw. Unrechtsbewußtsein (in potentieller und aktueller Form) und mögliche Zumutbarkeit norm348 Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 14; ausführlich zu der nachhaltigen Wirkung dieser Lehre: Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 194 f.; immer noch mit ,vor-finalistischer' Konzeption der Straftat: BauTTumn/Weber/ Mitsch, AT, § 18 Rn. 19 ff., die Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldelement und im weiteren als Schuldform bzw. Schuldstufe begreifen. 349 Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 18; auch G. Jakobs, AT, Abschn. 17, Rn. 16. 350 SO Z. B. Wehel, Arthur Kaufmann und in diesem Sinne auch der BGH, BGHSt 2, 200; zusf. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 20 ff. m. w. N. 351 SO Z. B. Gallas, Jescheck/Weigend, Lenckner; in dieser Richtung auch: Schmidhäuser; zusf. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 23 ff. m. w. N. 352 SO Z. B. Heinitz, Graf zu Dohna, Engisch; zusf. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 27 ff. m. w. N. 353 Vgl. nur C. Roxin, AT, § 19 Rn. 34. 354 Vgl. nur C. Roxin, AT, § 19 Rn. 21 f., 24.
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gemäßen Verhaltens (also Nichtvorliegen weiterer Entschuldigungsgründe) angesehen werden. Es geht um den persönlichen Vorwurf, der als notwendig erachtet wird 355 . Die Schuldidee beruht somit nach allem Gesagten auf dem Prinzip der gesellschaftlich geforderten Übernahme von Verantwortung mit der Maßgabe, daß das richtig ausgestaltete materielle und formelle Strafrecht und Strafverfahrensrecht die Loslösung des raters von der Tat356 und damit seine Resozialisierung ermöglichen soll. Ein Kerngedanke des heutigen Strafrechts ist es eben, daß der Täter gerade nicht mit seiner Tat gleichgesetzt wird. Das Schuldprinzip - in Schuldidee und auch Strafbegründungsschuld - besagt also: "Verantwortung übernehmen und sich von der Schuld lösen,,357. Damit verliert die Strafe erst ihre Prägung als eigenes ,Gegen-Übel'. b) Die Kritik am Schuldprinzip Der dargestellte (herrschende) Schuldbegriff unterliegt nun vielseitiger Kritik. Es gibt zum einen grundsätzliche Kritik, die darauf abzielt, das Schuldprinzip insgesamt zu entkräften, und die Notwendigkeit einer Verbannung aus dem Strafrecht zur Folge haben müßte. Zum anderen gibt es eine inhaltliche Kritik - also bei grundsätzlicher Akzeptanz des Schuldprinzips - aus der Strafrechtswissenschaft. Namentlich Roxin und Jakobs wollen erhebliche Relativierungen bzw. Erneuerungen am Schuldbegriff vornehmen. Dabei bewegen sich die vorgebrachten Argumente auch hier wieder auf einer formalen und einer materiellen Ebene. Anhand ihrer beider Kritik soll das Schuldprinzip aus der strafrechtlichen Perspektive hinterfragt werden. Das Schuldprinzip generell - unabhängig von näherer Begründung und dogmatischer Fassung - muß sich vor allem zwei wesentlichen Einwänden stellen, die es an seiner Basis treffen und im Fall der Berechtigung unhaltbar machen würden: Es geht um den Einwand der fehlerhaften (notwendigen) Grundannahme der Freiheit des Menschen und den der grundsätzlichen Unzeitgemäßheit bzw. Unangebrachtheit. Auf die erste Frage wurde bereits in Teil I eingegangen358 und eine befriedigende Antwort gefunden, die es erlaubt, fortzufahren: Der Mensch verfügt über die Fähigkeit, sein Leben in Autonomie (selbstbestimmter Freiheit) zu gestalten. Daher sogleich zum zweiten Einwand, der Unangemessenheit bzw. Unzeitgemäßheit des Schuldprinzips. Dieser kann sich, muß sich aber nicht aus dem DeterminismusEinwand ergeben. Ein unabhängiges Argument der Unangemessenheit nimmt seiVgl. nur Maurach/Zipf, AT Tb. I, § 30 Rn. 7 f. m. w. N. Anders eben als bei einem Täterstrafrecht, bei dem der Täter für seine Person, Lebensführung, Charakter etc. einstehen muß, vgl. dazu Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 355
356
S. 193f. 357
(61). 358
Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders. Über Gerechtigkeit, S. 47 Vgl. oben § 3 H. 2.
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nen Ausgangspunkt beim Schuldprinzip, trifft aber insgesamt die (Straf-) Rechtswissenschaft: In Anbetracht der Schuld wird die Frage aufgeworfen, wie hier überhaupt wissenschaftliche Aussagen möglich sein sollen und ob man sich nicht immer noch im Bereich des Mythischen oder allgemeiner: Irrationalen wie schon vor 500, 1000 oder mehr Jahren bewegt. Fritz Bauer - seinerzeit hessischer Generalstaatsanwalt - bezeichnete das Schuldprinzip als Atavismus und Archaismus 359 . Es ist also aufgrund des Tadels, der mit der Strafe und insbesondere mit dem Schuldvorwurf einhergeht, zumindest theoretisch zu überlegen, ob Strafrecht nicht ohne Schuldvorwurf auskommen kann. Dies ist vor allem vom Konzept der d6fense sociale versucht worden, der es, wie der Name schon sagt, nur um die Verteidigung der Gesellschaft gegen die Gesetzesverletzer geht 36o . Neben den verschiedenen rechtstaatlichen Bedenken, die diese Ansicht aufwirft, ist der entscheidende Einwand gegen die defense sociale wohl der, daß der Gedanke von Schuld solange im Strafrecht Geltung beanspruchen wird und muß, solange er von der Mehrheit der Rechtsgemeinschaft als Wertung vollzogen wird361 . Solange dies der Fall ist, ist eine Feststellung der Schuld und ein symbolischer und auch ein nach außen wahrnehmbarer Schuld-Vorwurf als Distanzierung der Tat vom Tater notwendig - die Distanzierung wiederum macht erst den Gedanken der Resozialisierung möglich. In eine ganz ähnliche Richtung zielen letztlich die Ansätze, die eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorschlagen, um den vermeintlich unangemessenen Vorwurf einer (möglicherweise ethischen) Schuld zu mildem oder u. U. doch noch zu beseitigen, ohne die Strafe aber vollkommen unkalkulierbar zu machen. Dies kann jedoch nach dem zur Funktion von Strafe, Strafrecht und dem Verhältnis zur Verfassung Ausgeführten nicht angenommen werden. Wenn überhaupt kann es im Hinblick auf die Entsprechung von konkreter Strafe und Schuld zum Einsatz kommen, wobei man sich natürlich dann fragen muß, woran das Verhältnis bestimmt werden so1l362. Das Bedürfnis, entweder inhaltlich oder zumindest doch formal-begrifflich von dem Begriff ,Schuld' wegzukommen, hängt also mit den psychologischen, wertethischen und nicht zuletzt immer auch noch religiösen Implikationen zusammen, die in der Verwendung dieses Wortes mitschwingen 363 . Die Frage jedoch, ob dies wirklich möglich ist, muß wohl aus heutiger Perspektive mit einem ,nein' beantwortet werden. Eine Strafe und ein Strafrecht ohne Schuldprinzip behielten ihren mißbilligenden Charakter. Denn um eine Mißbilligung des Verbrechens als eines Vgl. Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 193 f. m. w. N. zu F. Bauer. Vgl. Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft S. 196 ff.; auch ausführlich zur defense sociale: J. Rohrbach, Schuld und Strafe, S. 110 ff. 361 In diesem Sinne auch: Th. Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 197. 362 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders. Über Gerechtigkeit, S. 47 (53 ff.) m. w. N.; vgl. dazu auch unten § 11 IV. 363 Vgl. beispielhaft das Fazit bei H. Achenbach, Grundlagen, S. 13 ff., 215 ff. 359 360
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besonders schweren Normbruches durch die Gemeinschaft, vermittelt durch den Staat, kommt man nicht herum 364 . Daß dem immer eine nicht unveränderliche Vorstellung von sozial abweichendem Verhalten zugrunde liegt365 - was gerne den Ideologie-Vorwurf gegen einen strafrechtlichen Tadel generiert - ist sicher richtig, ändert aber nichts an der Begründung im Zusammenhang mit Gesellschaft und Staat. Vor allem aber muß wohl davon ausgegangen werden, daß der verurteilte Tater es am allerwenigsten verstünde, würde seine Strafe nicht durch seinen persönlichen (Verschuldens-)Anteil an der Tat mit begründet366 . Daß dies wiederum die denkbar schlechtesten Voraussetzungen nach sich zieht für das (verfassungsrechtlich begründete) Ziel der Resozialisierung, liegt auf der Hand. Da Strafrecht nicht ohne Schuld auskommen kann und - wie bereits eingangs festgehalten wurde - die Gesellschaft auch nicht ohne normstabilisierenden Zwang und weiter ohne ein nachdrückliches Sanktionssystem mit der Qualität des Strafrechts, kann die Frage nur noch dahin gehen, welche Rolle das Schuldprinzip im Rahmen der Begründung und Ausgestaltung von Strafe und Strafrecht einnehmen muß. Der Weg ist nach dem bis hierhin Ausgeführten vorgezeichnet: Die Schuld ist begründendes Element der Strafe. Als solches ist es dann auch maßgebliche Ausprägung des Gerechtigkeitsgedankens im Recht im allgemeinen und im Strafrecht im besonderen. Obwohl sie grundsätzlich am Schuldprinzip festhalten wollen, haben Claus Roxin und Günther Jakobs jedoch sowohl formale als auch materielle Kritikpunkte an das Schuldprinzip heran getragen, auf die hier exemplarisch eingegangen werden soll. Die Kritik von Roxin meint im Kern, daß die Schuld i. S. v. Vorwerfbarkeit nicht ausreicht, um die Probleme, die im Anschluß an das Tat-Unrecht, im Rahmen der sog. ,Schuld' im Tatbestandsaufbau zu behandeln sind, zu erfassen 367 . Er schlägt daher eine Ersetzung der eigentlichen Schuld durch die Verantwortlichkeit vor, die sich dann im weiteren zusammensetzt aus einer Schuld im engeren Sinne (als Schuldfahigkeit und Unrechtsbewußtsein) und dem Aspekt der präventiver Verantwortlichkeit368 . Seine Kritik zielt aber auch weiter auf die Auffassung ab, daß im Rahmen der Schuld ein reines Werturteil zu treffen sei 369 . Vielmehr müsse zwischen dem zu beurteilenden Sachverhalt und dem zu treffendem Urteil selbst 364
(59).
365 366
(59).
Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders. Über Gerechtigkeit, S. 47 Vgl. W Hassemer, in: AK-StGB, vor § 1, insbes. Rn. 100 ff. Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 47
367 Vgl. C. Roxin, AT, Rn. 15 ff.; grundlegend dazu bereits: ders., Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrechts, in: Festschrift-Bockelmann (1979), S. 279 ff. m. w. N.; eine eingehende Auseinandersetzung mit der Lehre Roxins von einem freiheitsgesetzlichen Standpunkt aus findet sich auch bei W Schild in: Nomos-Kommentar, StGB, § 20 Rn. 45 ff. 368 Vgl. nur C. Roxin, AT, Rn. 1 ff., 15 ff., 36 ff. 369 Vgl. C. Roxin, AT, Rn. 16.
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unterschieden werden, die zusammen die vorzuwerfende bzw. (in Roxins Terminologie) zu verantwortende Handlung ausmachten. Inhaltlich will Roxin die Schuld (i. e. S.) als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit bestimmen3?o. Seine Intention ist es u. a., von dem für das Strafrecht unentscheidbaren Streit um Indeterminismus und Determinismus wegzukommen und für die Praxis empirisch nachprüfbare Kriterien für die Bestimmung der Schuld zu liefern. Willensfreiheit gilt als normativ gesetzt (ähnlich wie die Gleichheit der Menschen). Die normative Ansprechbarkeit sei durch moderne Methoden der Psychologie und Psychiatrie überprüfbar. Die Schuld ist im Ergebnis für Roxin eine "empirisch-normative Gegebenheit,,3?l. Jakobs möchte die Schuld begreifen als Zuständigkeit für einen Mangel an dominanter rechtlicher Motivierbarkeit bei einem rechtswidrigen Verhalten 372 . Eine Zuständigkeit soll dann zu bejahen sein, wenn es beim Täter an der Bereitschaft fehlt, sich entsprechend der in Frage stehenden Norm zu motivieren, und dieses Verhalten aber nicht in einer Form interpretiert oder verstanden werden kann, daß das allgemeine Normvertrauen nicht tangiert wird. Außerdem wird gegenüber dem Begriff der Schuld derjenige der Rechtsuntreue als zu verantwortende Untreue vorgezogen, weil er normativ bestimmt sei - normativ im Sinne von funktional. Diese Funktionalität wiederum bestimmt sich nach den Gedanken der positiven Generalprävention. Die Schuld ist damit überhaupt ein rein formaler, noch zu füllender Begriff. Ein Verzicht auf die "Schuld-Zuschreibung" kommt dabei im Einzelfall nur in Frage, wenn eine anderweitige Verarbeitung des Konflikts in Aussicht ist. Dabei ist festzustellen, daß sowohl die Bemühungen von Roxin als auch von Jakobs von dem (grundsätzlich formal richtigen) Bestreben getragen sind, im Rahmen der Schuld den Anschluß zur jeweiligen Straftheorie zu bekommen: also im Falle Roxins zu einer moderaten Spezialpräventionstheorie (mittels des Kriteriums der präventiven Notwendigkeit), im Falle Jakobs zur weitergehenden funktionalen, primär an der Allgemeinheit ausgerichteten Präventionstheorie (mittels des Kriteriums der Zuständigkeit)3?3. Zu kritisieren ist hier jedoch, daß eben der Anschluß an die mangelhaften Straftheorien gesucht wird. Die so konzipierte Anbindung des Schuldprinzips an die präventiven Strafzwecke lässt die Ansätze beider Autoren als ungenügend (Roxin) bzw. unhaltbar (Jakobs) erscheinen.
370
Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 36 ff.
37l Vgl. C. Roxin, AT, § 19 Rn. 42.
372 Vgl. G. Jakobs, AT, 17. Abschn. Rn. I, S. 469; grundlegend dazu bereits: Schuld und Prävention, passim; vgl. dazu auch die jüngsten rechtsphilosophischen Vorüberlegungen von dems., Norm, Person, Gesellschaft, 1999, dort zu Schuld und Strafe, besonders S. 80 ff.; ähnlich insbes. auch H. Achenbach, Grundlagen, S. 135 ff.; eine eingehende Auseinandersetzung mit der Lehre von Jakobs von einem freiheits gesetzlichen Standpunkt aus, gerade auch im Hinblick auf Modifikationen seit dem Erscheinen der 2. Auflage des AT, findet sich auch bei W Schild in: Nomos-Kommentar, StGB, § 20 Rn. 55 ff. 373 Vgl. dazu allgemein: G. Jakobs, AT, 17. Abschn. Rn. 18, in Fn. 45 m. w. N.
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Die materielle Bestimmung der Schuld durch Roxin weist jedenfalls die richtige Richtung. Der Schuld wird aber lediglich eine begrenzende Funktion zugeschrieben. Dies ist einerseits eine triviale Feststellung, da jedem strafkonstituierenden Merkmal auch eine begrenzende Funktion zukommt374 . Die Grenze und damit der Einsatz der Schuldprinzips kann aber nicht begründet werden, da zur Freiheit ja keine Stellung bezogen werden darf375 . Der Vorwurf kommt als vollkommen Fremdes an den Täter heran, der aus diesem Grunde nicht seine Rolle als auch sich selbst widersprechender Normbrecher verstehen kann. Die normative Ansprechbarkeit nennt das Richtige, zeigt aber nicht, woraus sich letztlich das Schuldurteil (normativ) speisen soll. Vor allem gegen Jakobs läßt sich wiederholt sagen, daß seine Ausrichtung auch des - auf den Täter vor allem zu seinem Schutz zugeschnittenen - Schuldprinzips an generalpräventiven Gesichtspunkten zu einer Instrumentalisierung des straffälligen Menschen allgemein und des konkreten Täters insbesondere führt. Einmal mehr wird der Eindruck bestärkt, daß die Ergebnisse der Systemtheorie bei all ihrem Erkenntniswert gerade im Rechtsbereich einer humanen demokratischen Gesellschaft vor allem zur Explikation, nicht aber zur Legitimation dienen können. c) Fazit Es kann daher zusammenfassend festgehalten werden, daß das Schuldprinzip gegen die fundamentalen Einwände verteidigt werden kann. Daß von der Freiheit des Menschen ausgegangen werden kann und muß, wurde bereits im Teil I festgehalten. Daraus resultiert nun aber auch die Fähigkeit des Menschen, sich in Schuld zu verstricken, und diese muß als sinnstiftendes Moment dem Strafrecht zugrundegelegt werden, da ansonsten das Strafrecht mangels eines direkten Bezuges zur Freiheit in Willkür abzugleiten droht. Es konnte weiter dargelegt werden, daß auch inhaltliche Kritik aus der Strafrechtswissenschaft, wie sie exemplarisch anhand der Argumente von Jakobs und Roxin behandelt wurde, das Schuldprinzip nicht zu treffen vermag: Die Kritik von Jakobs geht insgesamt fehl und sein Lösungsvorschlag für eine funktionale Schuld ist nicht haltbar. Die Kritik von Roxin weist zwar materiell in die richtige Richtung, führt dort aber nicht weit genug. Es wird zwar die Normativität betont als Charakteristikum für die Begründung der (subjektiven) rechtlichen Verantwortung, aber zugleich der Weg abgeschnitten für die Begründung, wonach sich diese Normativität bestimmen soll. Die Konzeption bleibt zwischen Empirie und Normativität hängen, kann sie letztlich auch nicht befriedigend vermitteln; es bleibt unklar, aufgrund welcher legitimen normativen Entscheidung dann auf die empirischen Möglichkeiten zurückgegriffen werden 374 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders. Über Gerechtigkeit, S. 47 (55), der weiter festhält, daß damit auch das Argument Roxins, daß der Streit zwischen Determinismus und Indeterminismus offen bleiben kann, weil es sich bei der Schuld ja nur um ein strafbarkeitseinschränkendes Merkmal zugunsten des Taters handele, brüchig wird. 375 So auch W Schild in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 35.
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darf. Der Weg über die Prävention ist ja verstellt. Hinsichtlich ihres fonnalen Kerns ist die Kritik unberechtigt, weil der Anschluß an die Präventionstheorien fehlschlagen muß. Wie weiter oben bereits dargelegt wurde, können die Präventionstheorien zum Begriff der Strafe nichts Legitimierendes beisteuern - sie können einzig Wirkmechanismen einer richtig konzipierten Strafe beschreiben. Das Schuldprinzip kann zusammenfassend als wesentlicher Kern des Strafrechts bezeichnet werden. Es bestimmt das Verhältnis des Täters zur Tat. Gesucht wird jedoch noch eine nonnative, echte Fundierung des Schuldprinzips. Daher soll im nächsten Schritt nun untersucht werden, welche Beziehung das Schuldprinzip ganz allgemein zum Gerechtigkeitsgedanken (in seinen verschiedenen Ausprägungen) als der Idee des Rechts aufweist. d) Der grundsätzliche Bezug zur Gerechtigkeit Der spezifische Bezug des Schuldprinzips zum Gerechtigkeitsgedanken bringt nun die letzte Fundierung dieses zentralen Momentes des Strafrechts. Spätestens an dieser Stelle scheitern andere Begründungsversuche von Recht und Strafrecht, weil sie einen solch fundamentalen Zusammenhang nicht befriedigend darzustellen vennögen. Es ist also im folgenden die Verbindung zu den fonnalen und materiellen Inhalten des Gerechtigkeitsprinzips aufzuzeigen 376 . Hinsichtlich der fonnalen Inhalte bedeutet dies: die austauschende Gerechtigkeit377 , die distributive Gerechtigkeit und die legale Gerechtigkeit in ein Verhältnis zu den Auffassungen des Schuldprinzips zu setzen und die weiteren Konsequenzen für die verwandten Straftheorien zu ziehen. Diese fonnalen Beziehungen im Sinne des Gleichbehandlungs376 Nach Aristoteles können im Rahmen der formalen Gerechtigkeit i. S. v. Gleichheit zwei Grundformen unterschieden werden, die später von Thomas von Aquin um eine dritte, bei Aristoteles nur immanent vorhandene Form, explizit ergänzt wurden: die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva), die ausgleichende Gerechtigkeit oder auch Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) und als Ergänzung die legale Gerechtigkeit (iustitia legalis). In Ausübung der austeilenden Gerechtigkeit - von Arthur Kaufmann als die ursprüngliche Gerechtigkeit bezeichnet - teilt der Staat den Einzelnen ihre verschiedenen Status zu (rechtliche Positionen, subjektive Rechte u. ä., Leistungen etc.), die ausgleichende Gerechtigkeit sorgt für die Gleichbehandlung im Verhältnis der Einzelpersonen zueinander und die legale Gerechtigkeit wiederum hebt die Pflichten der Einzelnen im Verhältnis zum Staat (und u. U. auch zur Gesellschaft) hervor; vgl. dazu nur Arthur Kaufmann, Gerechtigkeit, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 27 (29 f.) m. w. Nachw. zu Aristoteles, Nicomachische Ethik, Buch V, Thomas v. Aquin, Summa theologica 11; im wesentlichen gleich, mit einer etwas abweichenden Darstellungen: 0. Weinberger, Norm und Institution, S. 220 f.; B. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 352 ff.; vgl. zu einer insbesondere freiheitsgesetzlichen Sicht dazu beispielhaft: M. Köhler, iustitia distributiva, ARSP 79 (1993), S. 457 ff. 377 M. Köhler differenziert hier zwischen der ausgleichenden und austauschenden Gerechtigkeit, wobei erstere das abstrakte Recht der Person wahrt, während letztere die Verwirklichung des konkreten Rechts der Person in Tauschverhältnissen durch Ermöglichen der individuellen Gutsbestimmung und -verfolgung garantiert, vgl. ders., Iustitia distributiva, ARSP 79 (1993), S. 457 (463 ff.).
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grundsatzes und auch eines "suum cuique" können als allgemeiner Minimalkonsens gesehen werden 378 . Strafe und Schuld müssen sich also sinnvoll in den Rahmen der formalen Gerechtigkeit einordnen lassen, soll man sie nicht als ungerecht bezeichnen müssen. Es gibt nun die verschiedensten materiellen Versuche, einen (inhaltlichen) Maßstab dafür zu liefern, woran die Gleichheit auszurichten ist. Diese Maßstäbe sind zwar primär Bezugspunkt für die distributive Gerechtigkeit, müssen aber auch im Bereich der ausgleichenden und der legalen Gerechtigkeit Anwendung finden. Hier taucht nun die Schwierigkeit auf, daß diese relativen Maßstäbe in ganz weiten Bereichen nicht allgemein akzeptiert sind. Aus - bereits mehrfach erwähnten guten Gründen muß im Zusammenhang des Rechts und des Strafrechts an den Wert der Freiheit bzw. die freiheitliche Natur des Menschen angeknüpft werden letztlich sollte damit zugleich auch eine Art Minimalkonsens erzielt werden können. Der Gedanke der Freiheit ist auch den allermeisten materiellen Bestimmungen immanent, wenn nicht sogar ihr ausdrücklicher Gegenstand. Der Gedanke der Autonomie des Menschen ermöglicht dabei die weitestgehende Einbeziehung der Selbst- und Glücksbestimmung des Einzelnen und ist für das Recht aufgrund von zwei Funktionen auch unumgehbar bzw. kaum substituierbar: Er leistet die Distanzierung von sowohl unreflektierter Heteronomie (z. B. durch eine Religion, aber auch im Rahmen der Glücksbestimmung des Utilitarismus) als auch offensichtlicher Willkür. Letzteres macht diesen Gedanken nicht zuletzt zu der konsequenten Verlängerung der Inhalte der formalen Gerechtigkeit. Es kann dann im weiteren noch gezeigt werden, daß der Bezug zur freiheitsgesetzlichen Natur des Menschen nur von einer bestimmten Konzeption der Schuld geleistet werden kann. Das Verständnis der Strafe kann nach Arthur Kaufmann je nach Begründung bzw. Verständnis den verschiedenen Ansätzen des (formalen) Gerechtigkeitsgedankens zugeordnet werden 379 : die Vergeltungstheorie als ausgleichende Gerechtigkeit, die Spezialprävention als austeilende Gerechtigkeit und die Generalprävention als legale Gerechtigkeit. Diese These erhält ihren Sinn aber erst unter Integration des Schuldprinzips, da erst dieses in der Lage ist, den Mechanismus der Strafe in seinen verschiedenen Aspekten zu erklären. Die verschiedenen Straf(zweck)theorien gehen notwendigerweise von einem unterschiedlichen Schuldverständnis aus. Der (modern zu verstehende) Gedanke der Vergeltung, als Ausprägung der ausgleichenden Gerechtigkeit, führt zu einer begründenden Schuld, während die präventiven Ansätze nur zu einer begrenzenden Schuld führen können. Die begründenden Versuche aus Präventionssicht müssen nun entweder in der Schwebe verbleiben oder sie beziehen sich zuletzt doch (implizit) auf den Vergeltungsgedanken. Für die Generalprävention ist es darüber hinaus insgesamt sehr fragwür378 Dies wird auch als Metatheorie des Rechts bezeichnet, weil dieser Gedanke das unweigerlich Ungerechte aufzudecken vermag, vgl. z. B. I. Tammelo, Rechtslogik, S. 50 ff., bes. 53 ff. 379 Vgl. Arthur Kaufmann, Über die gerechte Strafe, in: ders., Gerechtigkeit, S. 39 (40 ff.).
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dig, ob sie überhaupt auch nur eine begrenzende Konzeption des Schuldprinzips zu liefern vennag. Dementsprechend kann das nonnativ-traditionelle Schuldverständnis, das an den sozialethischen Vorwurf (i. w. S.) anknüpft, zu einer eigentlichen Begründung von Strafe führen. Das nonnativ-moderne Schuldverständnis, das auf das unrechte Handeln trotz nonnativer Ansprechbarkeit Bezug nehmen will, kann und will nur eine Begrenzung der Strafe erreichen. Entsprechend ihrem generalpräventiven Ausgangspunkt kann die Meinung, die funktional auf die Verletzungszuständigkeit abheben will, noch nicht einmal eine Begrenzung liefern. Das freiheitlich-nonnative Schuldverständnis, das im Schuldvorwurf den Vorwurf sieht, daß der Täter sich gegen das Recht (aller) gewandt hat, kann schließlich der ausgleichenden Gerechtigkeit zugerechnet werden. Bleibt bei den sich aus der Spezialprävention ergebenden Ansätzen der Schuld einerseits, aber auch bei den gängigen Varianten des sozial-ethischen Vorwurfes andererseits das Problem der Heteronomie dieses Vorhalts, ist dies nicht der Fall für eine begründende Schuld anhand des Vergeltungsgedankens, welcher zugleich den Freiheitsgedanken mit einbezieht. Eine Konzeption der strafrechtlichen Schuld muß dabei - wie oben bereits angemerkt -, egal welchen Weg sie geht, berücksichtigen, daß es verschiedene Ebenen der Schulddiskussion gibt: die Schuldidee, die Strafbegründungsschuld und die Strafzumessungsschuld. Dies soll daher auch bei der unten folgenden Darlegung einer weitgehenden Entfaltung der Gerechtigkeit im Recht als Freiheit im Rahmen des Schuldprinzips zugrundegelegt werden.
III. Die Konzeption des strafrechtlichen Schuldprinzips im Detail
Bei der weiteren Ausgestaltung einer freiheitsgesetzlichen, strafbegründenden Schuld ist die Sentenz von Schuldidee, Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld zugrundezulegen. Auf der Ebene der Schuldidee geht es um die Rolle der Schuld an sich für die Strafe, nach hier vertretener Ansicht in konstituierender Funktion (nicht nur begrenzend). Im Rahmen der Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld ist dann die Umsetzung einer freiheitsgesetzlich bestimmten Schuld(idee) für den konkreten Anwendungsfall einer historischen Tat und eines darauf folgenden Verfahrens gegen den Täter zu zeigen.
1. Schuldidee
Schuld ist nach einer ganz allgemeinen Bestimmung (für das Recht) Vorwerfbarkeit und Übernahme (und damit Loslösung) von Verantwortung, denn die Kritik des Detenninismus konnte ja abgewehrt werden. Es ist nun die These zu belegen, daß Schuld strafbegründend und nicht nur strafbegrenzend ist. Der Grund liegt darin: Strafe ist die notwendige Antwort auf ein Verbrechen. Nur für einen bestimm-
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ten Ausschnitt von Grundlagen der Gesellschaft - sei es bestimmter Rechtsgüter oder Grundlagen der Freiheit - ist im Verletzungs- oder allgemeiner: Betroffenheitsfall die spezifische Folgereaktion der ,Strafe' notwendig. Diese Grundlagen der Gesellschaft sind die Essentialia, auf die jeder zur Entfaltung seiner Freiheit angewiesen ist. Nur für sie ist das Vorsehen von Strafe wichtig, da nur hier ein allgemeiner Tadel notwendig erscheint, und es ist die Schuld, also die persönliche Zurechnung, die feststellt, daß der Tadel überhaupt angebracht ist. Wesentlich ist also der Zusammenhang mit der Straftat und damit mit der Vergangenheit!38o Erst die schuldhafte Tat - Tat und Schuld - erschüttert die Rechtsgemeinschaft - andere Ereignisse treffen dafür vielleicht eine aufgrund ähnlicher Lebenswelten bestehende Emotionsgemeinschaft. Es ist diese Vergangenheitsorientierung, für die bereits festgestellt wurde, daß sie eine Legitimation nur anhand von notwendig in die Zukunft weisenden generalpräventiven Gesichtspunkten ausschließt, und die daher eine solche Fragestellung in den spezifischen staatsrechtlichen Kontext der Beurteilung von staatlichen Maßnahmen im Bezug auf staatliche Ziele verweist. Wie ist Schuld nun zu begreifen, damit Strafe eine sinnvolle gesellschaftliche Funktion haben kann? Ausgangspunkt ist ja die Autonomie des menschlichen Subjektes. Dazu muß nochmals auf die Straftat zurückgegangen werden. Die Straftat ist dreierlei: Sie ist zunächst Rechtsgutsverletzung (und Verletzung des Handlungssubstrates, also des Opfers selbst oder seiner konkreten Güter), dann ist sie aber weiter auch Verletzung der Allgemeinheit durch die Verletzung des Ge1tungsanspruches des Rechtes (aller) als Recht und schließlich ist sie auch Selbstwiderspruch des Täters - denn dieser ist frei, weil er selbstgesetzgebend handeln kann und dadurch auch begreifen kann, warum Recht seine und die Freiheit aller garantiert und garantieren muß; lehnt der Tater das Recht ab, lehnt er sich selbst als freien Mitkonstituenten der Rechtsordnung ab. Diese drei Resultate 381 der Tat werden als abstrakter Inhalt dem Täter mit der Feststellung seiner Schuld vorgeworfen. Die Schuld muß daher in der Tat selbst liegen, die zugerechnet und vorgeworfen werden soll, weil sie keinen Bestand haben darf, ohne daß dies Rechtlosigkeit bedeuten würde - dadurch vermag man ja auch nur von der Erschütterung der Rechtsgemeinschaft zu sprechen. Daß der Täter aber dennoch - positiv-rechtlich in Art. 1 Abs. 1 GG festgehalten - Mitglied der Gesellschaft bleibt (und bleiben muß), wird im Schuldspruch festgestellt, im Schuldspruch, der auch nach dem Bundesverfassungsgericht bereits Strafcharakter hat 382 . Der Schuldspruch bestätigt Vgl. nur W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in Festschrift-Lenckner, S. 287 ff. Der Terminus ,Erfolg' würde zwar grundSätzlich auch dem Gedanken entsprechen, riefe aber wahrscheinlich Verwirrungen im Zusammenhang mit den Begriffen des Handlungserfolges und -unwertes hervor. 382 BVerfGE 74, S. 358 ff. (375 f.); 82, S. 106 ff. (119 f.); in diesem Sinne z. B. auch: W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 ff. (insbes. 307 f.); anders, mit einer Differenzierung zwischen Primärsanktion (verbindliche Feststellung der defizitären Einstellung) und Schuldausspruch: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 496 ff. - wobei bei Appel die Differenz nicht recht deutlich wird, denn worin soll die defizitäre 380 381
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und bekräftigt die Rechtlichkeit aller inklusive des Täters. Die empirische Strafe vollzieht diesen Gedanken dann nur noch auf der für alle wahrnehmbaren Ebene. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, daß der Täter später weiter in der Gemeinschaft leben kann, und es wird somit auch der Gedanke der Resozialisierung durch Strafe eingeholt. Bereits auf dieser Ebene der Schuld geht es um Strafe als "resozialisierende Vergeltung,,383. Generalpräventive Effekte können nun darauf bezogen mögliche Reflexe sein. Nur mit einer so verstandenen Schuldidee wird der Freiheitsgedanke als materieller Gerechtigkeitsinhalt auch adäquat eingeholt. Im Wege der Aufhebung des dreifachen Resultates der Tat des Täters im Schuldspruch wird das ausgeglichen, was ihm bei seinem Weiterleben gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft im Wege stehen würde. Um ihn selbst zu befähigen, seiner Rolle in der Gemeinschaft gerecht zu werden, ist der Strafvollzug auf eine erfolgversprechende Resozialisierung auszurichten. Da jedem ursprünglich die gleiche freiheitsgesetzliche Position zukam und dieser Zustand durch die Tat gestört wurde, ist dieser Ausgleich auch notwendig. Dies kann aber nicht erklärt werden von anderen Theorien, denen der Bezug zur Freiheit als konstitutivem Rechtselement fehlt. Die Generalprävention mit dem Fokus auf die Gesellschaft kann keinesfalls legitimieren, wohingegen die Spezialprävention voraussetzt, daß mehreren Personen das gleiche zugeteilt werden soll. In der relevanten Hinsicht kann aber diese Form der Gerechtigkeit nur zwischen zwei Strafgefangenen zum Einsatz kommen. Die freiheitsgesetzlich bestimmte Schuld stellt den entscheidenden Bezug zur materiellen Gerechtigkeit und damit auch den Zusammenhang von Recht und Strafe her, steht dabei selbst als Manifestation des autonomen Subjektes innerhalb der Gemeinschaft im Mittelpunkt und vermag von dort aus auch Strafe zu erklären: Als Vergeltung hebt ihre Feststellung die Widersprüchlichkeit der Tat auf, leitet damit ein und ermöglicht weiter die Realisation der gebotenen Spezialprävention und vermag, wenn dies alles in einem entsprechend konzipierten Verfahren abläuft, zugleich als Reflex generalpräventive Wirkungen zu entfalten. 2. Strajbegründungsschuld
Die Schuld des Täters im Bezug auf die einzelne Tat ist das Ergebnis eines (sich in die Vergangenheit erstreckenden) Prozesses. Daher ist es notwendig, zur Begründung der Strafe auf die Straftat als solche zurückzugreifen: Sie ist der Ansatzpunkt des Schuldvorwurfes an den Täter. Erst zusammengenommen ergeben StrafEinstellung bestehen, wenn nicht in der Schuld? Die Schuld nun positivistisch zu begreifen (und in diese Richtung zielen wohl die Ausführungen auf S. 499 f.), läßt dieses Prinzip vollkommen willkürlich im Raum stehen. 383 W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 ff. (308).
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tat, Schuld und Strafe die (richtige) Metapher, daß die Strafe die notwendige und richtige "Antwort" auf die Straftat des Taters ist. Der Vorwurf wird dabei an den Kriterien der Schuldfahigkeit, Nicht-Entschuldbarkeit und der (potentiellen) Unrechtskenntnis ausgerichtet. Sind sie alle zu bejahen, ist dem Tater die (historische) Tat (!) als Manifestation der Verkehrung seiner Rechts- zu einer Unrechtseinstellung (durch Verletzung des konkreten Handlungsobjektes und damit entsprechenden Rechtsgutes) vorzuwerfen. Kann ein Kriterium nicht bejaht werden, muß kein Ausgleich bzw. keine ausgleichende Vergeltung durch Ausspruch eines Schuldspruches und Vollzug einer empirischen Strafe erfolgen: entweder, weil der Handelnde grundsätzlich (aufgrund innerer Umstände) nicht frei und damit nicht schuldfahig ist, oder, weil er sich gar nicht gegen das Recht entschlossen hat, da er (aufgrund äußerer Umstände) nicht anders handeln konnte oder gar nicht um einen fundamentalen Verstoß gegen das Recht wußte. Der Grund für die einzelne Straftat und damit für die Strafe in concreto und damit auch für die Möglichkeit der Beeinträchtigung der Rechtsordnung durch den Straftäter ist also im Verständnis der (strafrechtlichen) Schuld zu suchen. Nun wird diese vom überwiegenden Teil der Literatur und auch von der Rechtsprechung durch das sozial-ethische Unwert-Urteil festgestellt; der Tater hat also vor Maßstäben der Sozial-Ethik versagt. Schuld muß aber (zunächst) Rechts-Schuld sein. Die gängige Trennung von Unrecht und Schuld nach normativen Fragen und Fragen der Sozial-Ethik ist falsch und führt in die Irre 384 . Aus Gründen der pragmatischen Fallprüfung ist die Unterscheidung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit als Unrecht und Schuld sinnvoll. Deswegen darf jedoch nicht auf ein Verständnis von Straftat bzw. Verbrechen als Einheit verzichtet werden. Straftat, Schuld und Strafe stehen in einem solch engen Verhältnis zueinander, daß nur von Straftat als schuldhafter Handlung gesprochen werden kann. Die Schuld wird in der klassischen Lehre zu einem reinen Tater-Inneren385 • Im Zusammenhang mit der vermeintlichen Sühne-Funktion der Strafe wurde dazu bereits das Wesentliche gesagt (vgl. oben). Es ist jedoch die Straftat als Unrechtstat selbst, welche die Schuld darstellt386 . Es geht bei der Schuld um die erfolgte Willensverwirklichung in Form der äußeren Straftat, um eine rechtliche Frage, zunächst keine sozial-ethische, also eine normative, eine retrospektiv-zurechnende Frage. 387 Auf ein Tater-Inneres kommt es insoweit an, als die Schuldfahigkeit zu bestimmen ist. Ist diese zu bejahen, wird der normative, an der Tat orientierte Vorwurf zu einem vertretbaren Vorwurf, weil die Fähigkeit zur Autonomie angenommen wer384 385
(302).
Vgl. dazu ausführlich: W. Schild in: AK-StGB, Vor § 13, Rn. 8 ff., 28 ff. Vgl. W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287
386 Vgl. W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 (303); W. Schild in: AK-StGB, vor § 13, Rn. 46 ff. 387 Vgl. W. Schild, in: AK-StGB, Vor § 13, Rn. 49 ff.
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den kann und wird und damit das Versagen des Täters im Hinblick auf seine Rolle sich selbst und auch den anderen gegenüber388 . In dem Maße, in dem er sich mit der Tat in Widerspruch zur Freiheit - auch seiner Freiheit - gesetzt hat, ist diese Ablehnung der materiellen Idee der Gerechtigkeit auch Anlaß zu einem sozialethischen Vorwurf. Es sei noch eine Anmerkung zu Roxin angebracht. Er hat die Ansicht vertreten, daß die Schuld sogar als Begrenzung bei der Strafbegründung überschätzt wird, weil ja regelmäßig bereits aus Präventionsgründen kein Anlaß für eine Strafe bestehe389 . Es geht doch aber gerade um Schutz auch gegen Willkür und die kann sich im Rahmen des Präventionsgedankens wesentlich einfacher ihren Weg bahnen. Letztlich betont Roxin mit diesen Ausführungen aber nur die gegenseitige Bedingtheit und damit, daß Prävention nur soweit reicht wie Schuld und damit der Gedanke der Vergeltung. Die schuldhafte Tat ist Manifestation der Maximenverkehrung in der Person des Täters und ermöglicht die (subjektive) Zurechnung und dadurch auch die Bestätigung der Autonomie des Täters. 3. StraJzumessungsschuld
Schließlich sind die Implikationen der auf den Stufen der Schuldidee und Strafbegründungsschuld entfalteten Autonomie des Menschen auf der Ebene der Strafzumessungsschuld umzusetzen 390 . Bereits § 46 Abs. I StGB gibt an, daß die Schuld des Täters Grundlage der Zumessung der Strafe ist. Damit ist diese Regelung nach allgemeiner Ansicht zumindest Grenze für die Umsetzung präventiver Erwägungen, was sein Korrelat in der Schuldvorrang-These im Rahmen der Spielraumtheorie der Rechtsprechung findee 91 . Aber nach der hier verfolgten Rechtsund Strafbegründung dürfen präventive, insbes. generalpräventive Gesichtspunkte keinen Eingang in die Zumessung finden. Prävention kann nur willkommener Reflex sein, da sie nicht in die Begründung der Schuldidee mit einfließen kann. Das 388 Vgl. zur Vertretbarkeit des Schuldvorwurfes auch: Arthur Kaufmann, Strafrecht und Freiheit, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 65 (70 ff.). 389 C. Roxin, Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Festschrift-Bokkelmann (1979), S. 279 (308). 390 Auf eine Darstellung der Strafzumessungslehre soll hier verzichtet und sich darauf beschränkt werden, das Schuldprinzip auf dieser Ebene zu entfalten; vgl. grundlegend zur Strafzumessungslehre: H. Zipf, Die Strafzumessung, passim, insbes. S. 23 ff. zur Berücksichtigung von Schuld und Präventionsaspekten nach gängigem Verständnis; auch H-.J. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, passim, besonders S. 16 ff. zu dem Ansatz von Zipf und S. 19 ff. zur allgemeinen Kritik eines größeren Teils des Schrifttums an der Rechtsprechung; aus neuerer Zeit der Überblick bei: H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 37 ff. 391 Vgl. nur aus neuerer Zeit BGH, wistra 1988, S. 345; zu diesem Thema bereits kritisch aus verfassungsrechtlicher Sicht (allerdings unter Ablehnung der freiheitsgesetzlichen Auffassung des Rechts): P. Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 337 (insbes. 343 f.).
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notwendige Maß für Vergeltung und damit auch für Mittel der Spezialprävention ist die Verantwortung aufgrund autonomer Handlungen. Vorstrafen unterstreichen dabei die Maximenverkehrung des Täters und erhöhen damit seine Schuld, da er sich in entsprechendem Maße nachhaltiger gegen die Rechtsordnung wendet. Heteronome Motivationen wie z. B. Hilfe für die Familie oder eine bereits erfolgte Schadenswiedergutmachung sprechen dagegen für eine Rückkehr des Täters in die Rechtsgemeinschaft und damit für eine verringerte Schuld. Es können vermeintlich generalpräventive Gesichtspunkte jedoch durchaus auch bei einer freiheitsgesetzlichen Konzeption berücksichtigt werden 392 . Denn die Tat muß als spezielle Rechtsstörung im Gesamtkontext gesehen werden, so daß es u. U. aus bestimmten äußeren Umständen - z. B. besondere Häufung bestimmter Delikte allgemein oder in einer bestimmten Gegend - zu einer gesteigerten Allgemeinbedeutung der Tat führen kann 393 . Diese kann sich entweder aus der ,Verletzungsbesonderheit' oder der ,Unrechtsallgemeinheit' der Tat als verwirklichtem Deliktstypus ergeben, wobei gerade letztere an Bedeutung gewinnen und dem Delikt besonderes Gewicht und der Tat besondere Schwere verleihen kann, wenn diese z. B. unverhältnismäßig stark zunimme 94 .
IV. Rekurs: Strafe und der Grundsatz der Verhäitnismäßigkeit: der Rahmen des Grundgesetzes
Aufbauend auf den bis hier getätigten Ausführungen kann nun noch einmal 395 das schwierige Verhältnis des Strafrechts zum Grundgesetz, näher das Verhältnis von Strafe und Grundgesetz betrachtet werden. Die Begründung der Strafe in der Schuld weist jetzt den vollständigen Zusammenhang aus. Es wurde auch schon angesprochen, daß die Bedeutung des Strafrechts im Rechtsgüterschutz von einer positivistischen Herangehensweise dadurch konzipiert wird, daß die Rechtsgüter im wesentlichen aus dem Grundgesetz herzuleiten bzw. zu ,verlängern' sind. Eine theoretische Begründung der Rechtsstrafe kann sich aber nicht darauf beschränken, nur verschiedene (wenn auch wünschenswerte), an der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts orientierte Zwecke zusammenzunehmen, die sich durch Strafe erfüllen lassen. Sie muß sich darauf zurückbesinnen, was das Strafrechtsverhältnis ausmacht, was eigentlich Strafe ist und auch bestenfalls überhaupt sein kann. Eine äußere Grenze dafür ist in der Verfassung zu suchen. Sie ist Ausdruck eines freiheitsgesetzlich verfaßten Staates bzw. einer solchen Gesellschaft, indem sie den Menschen und seine unveräußerbare Würde - festgehalten im ersten Artikel des Grundgesetzes - in ihren Mittelpunkt stellt. Auch von dort aus muß eine Begrün392 393 394 395
Vgl. dazu ausführlich nur: M. Köhler; Strafzumessung, S. 49 ff. Vgl. M. Köhler; Strafzumessung, S. 51. Vgl. dazu ausführlich: M. Köhler; Strafzumessung, S. 52 ff., insbes. 54 ff. Vgl. oben § 3 11. 4.
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dung der Strafe rekonstruiert werden, will diese wirklich fundiert sein. Eine rein positivistische Auffassung sieht darin bereits die Bestimmung des gesamten Rahmens des Strafgesetzgebers 396 ; hier wird jedoch die notwendig kritische Kraft einer vorpositiven Bestimmung des Strafrechtsverhältnisses verkannt bzw. ignoriert. Eine der Hauptursachen, die dazu geführt haben, daß sich die Präventionsansätze in ihrer heutigen Form so durchsetzen konnten, ist die Annahme, man könne die Strafe als staatliche, in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifende Maßnahme am - insbesondere im Verwaltungsrecht zur Anwendung kommenden - Verhältnismäßigkeits-Grundsatz messen und damit bereits ausreichend begründen und legitimieren 397 . Prävention wäre dann ein zweifellos zulässiger Zweck und die grundsätzliche Geeignetheit der Strafe zu dessen Erreichung läßt sich zumindest über die positive Generalprävention begründen - trotz aller Schwierigkeiten beim Versuch, dies empirisch nachzuweisen. Stellt man der Strafe gegen den Einzelnen die (präventive) Kontrolle gegen "alle" gegenüber, so handelt es sich bei der Strafe wohl auch um die erforderliche Maßnahme. Die letztendliche Angemessenheit der Strafe - die dann erst für die Einzelmaßnahme / konkrete Strafe den Betroffenen mit einbezieht - wird durch den Einsatz des Schuldprinzips gewahrt, das sicherstellen soll, daß der Tater nur dann als Demonstrationsobjekt im Dienste der Generalprävention benutzt wird, wenn er den strafrechtlichen Tadel auch tatsächlich verdient 398 . Dabei ist natürlich klar, daß staatliches Eingreifen einer Rechtsgrundlage bedarf, um nicht rechtswidrig zu sein. Für die Strafe als abstrakte staatliche Maßnahme muß es um mehr als um eine einfache Rechtfertigung gehen, bei der im Einzelfall das staatliche Handeln Bestand hat. Ein erster Hinweis wird durch das Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn es festhält, daß bereits im Schuldspruch ein starker Eingriff in den in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch zu sehen ist - es also auf einen Strafvollzug gar nicht notwendig ankommt -, weil jeder Strafnorm ein 396 Vgl. hierzu beispielhaft nur: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 487 ff., insbes. 494 ff.; zu den notwendigen Kritikpunkten an jedem Positivismus vgl. nur: F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 177 ff., der auch herausstreicht, daß der Rechtspositivismus in seiner Erfassung des Phänomens Recht ungenügend ist, da er insbesondere im Bereich der - unvermeidbaren - ,Rechtslücken' und der dadurch notwendigen Analogiebildung und anderweitigen Rechtsfortbildung in akuten Erklärungsnotstand kommt, vgl. S. 248 ff.; ders., a. a. 0., S. 299 ff., exemplarisch auch zur Bildung eines werthaitigen Rechtsbegriffes. 397 In diese Richtung gehen auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, vgl. nur BVerfGE 45, S. 187 ff. (229 ff.); BVerfGE 90, S. 145 ff. (182 ff.); zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Hinblick auf die Strafnotwendigkeit (Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit) von Kriminalstraftatbeständen vgl. nur T. Weigend, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt, in: FS-Hirsch (1999), S. 917 ff. (925 ff.); in die gleiche Richtung zielen auch der Subsidiaritätsgedanke und das Ultima-Ratio-Prinzip, wenn auch hier unterschiedliche Differenzierungen anzutreffen sind; kritisch hierzu (sogar) aus verfassungsrechtlicher Sicht: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 404 ff. 398 Vgl. hierzu nur C. Roxin, AT, § 19 Rn. 1 ff.; zu einer reinen Legitimation der Strafe anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. die Kritik von Anhur Kaufmann, Das Problem der Schuld, in: ders., Über Gerechtigkeit, S. 47 (53 ff.).
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sozial-ethisches Unwerturteil über eine bestimmte pönalisierte Handlungsweise innewohnen soll, das durch das einzelne Urteil konkretisiert wird 399 . Ein besonders augenfälliger - positivrechtlicher - Kritikpunkt an den Präventionstheorien wurde oben bereits erwähnt: Art. 1 Abs. I GG dürfte sich dagegen stellen, daß ein einzelner Mensch zum Demonstrationsobjekt für die Allgemeinheit gemacht wird4OO • Daher wird eben das Schuldprinzip herangezogen, um eine Rechtfertigung im Einzelfall zu gewährleisten. Die Prävention kann aber auf keinen Fall alleine - und letztlich gar nicht - Grund der Strafe sein40I , denn der Schuldspruch ist eine Reaktion auf eine in der Vergangenheit liegende Handlung402 . Und diesem Moment wird vom Bundesverfassungsgericht auch noch (zu Recht) ein wirklicher Strafcharakter zugeschrieben - Strafe mag sicher nicht mehr als metaphysischer Vorgang betrachtet werden, nur physische Pein ist sie deshalb trotzdem nicht. Strafe kann zwar in einer Mittel-Zweck-Beziehung betrachtet, aus dieser Perspektive aber nicht allgemein begründet werden403 . Der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeits-Grundsatz scheidet zu ihrer Begründung aus. Er kann nicht den Vergangenheitsbezug, welcher gerade der Strafe typischerweise innewohnt, mit einholen, da er nur zukunftsbezogen gedacht werden kann. Ein zeitlicher Bezug besteht daher sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit.
v. Fazit: Begehung der Straftat als schuldhafte Handlung an sich Das Verhältnis von Strafe, Straftat und Schuld kann also folgendermaßen umrissen werden: Nur für einen bestimmten Ausschnitt von Grundlagen der Gesellschaft - sei es bestimmter Rechtsgüter oder Grundlagen der Freiheit - ist im Verletzungsfall oder allgemeiner: Betroffenheitsfall die spezifische Folgereaktion der ,Strafe' notwendig. Sie muß folgen, weil die Tat durch einen Konstituenten der Rechtsordnung begangen wurde, womit bereits der nicht zu eliminierende Vergangenheitsbezug der Strafbarkeit eingeholt ist. Nur für Grundlagen der Gesellschaft ist dies wichtig, da nur hier ein allgemeiner Tadel notwendig erscheint, und es ist die Vgl. z. B. BVerfG, Beschluß v. 9. 7. 98 (2 BvR 1371/96). Vgl. nur P. Badura, der jedoch kritisch zu einer rechtsphilosophisch-freiheitsgesetzlichen Interpretation Stellung bezieht, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, S. 337 (340 ff.). 401 W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 (293). 402 W. Schild, Strafbegriff und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 (297). 403 So wie z. B. auch kein Verfassungsrecht die Notwendigkeit von Zwang an sich begründen kann; hierzu muß eben weiter ausgeholt und hinter das positive Recht zurückgegangen werden; vgl. zur grundlegenden Begründung von Zwang, dessen Notwendigkeit und Gerechtigkeit ihren Grund in den Konsequenten des bekannten Gefangenendilemmas - neu formuliert: in der Trittbrettfahrer-Problematik - hat, hier nochmals O. Höjfe, Politische Gerechtigkeit, S. 412 ff. 399
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Teil 3: Vorarbeiten zur Begründung eines Kollektivstrafrechts
Schuld, also die persönliche Zurechnung, die feststellt, daß der Tadel überhaupt angebracht ist. Erst die schuldhafte Tat erschüttert die Rechtsgemeinschaft, weil nur sie Ausdruck von autonomem und damit verantwortlichem Handeln ist (mögen andere, schuldlose Taten und Ereignisse die menschliche Emotionsgemeinschaft ebenfalls erschüttern). In dieser Vergangenheitsorientierung durch die Schuld ist begründet, warum eine Legitimation nur anhand von generalpräventiven Gesichtspunkten und ebenso eines verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgeschlossen ist und die Fragestellung der Legitimation in den spezifischen staatsrechtlichen Kontext der Beurteilung von staatlichen Maßnahmen im Bezug auf staatliche Ziele verweist. Die in Frage stehende Schuld ist nun Rechtsschuld, auch wenn sie sich inhaltlich aus der Sozial-Ethik speisen mag. Sie knüpft an das äußere Verhalten an, an die Tat, die im Raume steht und nicht mehr zurückgenommen werden kann. Die Schuld liegt in der Tat selbst, die zugerechnet und vorgeworfen werden soll, weil sie keinen Bestand haben darf, ohne daß dies Rechtlosigkeit bedeuten würde - dadurch vermag man ja auch nur von der Erschütterung der Rechtsgemeinschaft zu sprechen. Es ist - neben der Auflehnung gegen das Recht als solches, der Verletzung des ,Rechts als Recht' oder Desavouierung der Norm - der Selbstwiderspruch des Täters als Mit-Konstituent des Rechts in der Tat, der nicht akzeptiert werden kann, weil er entgegen dem äußeren Anschein vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft, die unter Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG lebt, bleiben muß. Dies festzustellen, ist die Aufgabe des Schuldspruchs. Diesem Schuldspruch wird auch vom Bundesverfassungsgericht bereits Strafcharakter zugesprochen. Der Schuldspruch bestätigt und bekräftigt die Rechtlichkeit aller inklusive des Täters. Die empirische Strafe vollzieht diesen Gedanken dann nur noch auf der für alle wahrnehmbaren Ebene. Damit wird auch der Gedanke der Resozialisierung durch Strafe eingeholt. Bereits auf der Schuldgrundebene geht es um Strafe als um mit den Worten Wolfgang Schilds zu sprechen - ,resozialisierende Vergeltung'.
Teil 4
Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht Im vierten Teil der Arbeit soll nun eine Skizze des Kollektivstrafrechts gezeichnet werden, die dabei an die insbesondere zur Tatmehrheit und zu der für die Strafe konstitutiven Schuld gewonnenen Ergebnisse des dritten Teils anschließen kann. Diese Skizze beschäftigt sich sowohl mit den grundsätzlichen Begründungsfragen als auch mit der praktischen Konzeption eines solchen Strafrechts. Dabei wird auch immer zugleich das Ziel verfolgt, den Nutzen einer solchen Strafbarkeit für ein Kartellstrafrecht darzulegen (aufbauend auf den Ergebnissen des zweiten Teils der Arbeit über die Wettbewerbsmaterie und über ein hiermit verbundenes Strafrecht). In dem folgenden Abschnitt wird vor allem herausgearbeitet werden, daß erst durch den Einsatz der Kollektivstrafe dem Kartellstrafrecht zu seiner Wirksamkeit verholfen werden kann. Dabei ist es durchgängig erklärtes Ziel der Arbeit, Wirksamkeit nicht nur mit Zweckmäßigkeit gleichzusetzen. Die Kollektivstrafe wird schließlich auch in ein abgestimmtes Konzept mit verschiedenen Sanktionen für das Kartellrecht einzuordnen sein. Daß gerade Verstöße wie diejenigen gegen das Kartellrecht eine echte Bewährungsprobe für die Begründung eines Kollektivstrafrechts darstellen, das wirkliches Strafrecht sein will, wird sich dabei als abschließendes Fazit ergeben. Damit kann dann zusammenfassend auch der Beitrag eines kollektiv bestimmten Kartellstrafrechts für die Vermittlung von Freiheit und Macht bewertet werden.
§ 11 Kriminalstraftat und Kollektiv I. Schuld und Strafe in einem Kollektivstrafrecht
Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß auch das Individualstrafrecht erst langsam dogmatisch an dem Punkt angelangt, von dem aus der Mensch als individuelles rechtliches Subjekt widerspruchsfrei gedacht werden kann. Mögen Kant und die Vertreter des deutschen Idealismus (maßgeblich Hegel, Fichte und Schelling) in ihrer Rechtsphilosophie das Wesentliche bereits vor vielen Jahren formuliert haben - lange konnten die (neuen) Vertreter einer am freien Subjekt entwikkelten Verbrechenslehre (insbesondere gegen einen unzureichend reflektierten Positivismus oder eine übermäßig auf Empirie setzende kritische Lehre) nicht durchdringen und bilden auch heute kaum die herrschende Lehrmeinung. Man kann aber 19 Kohlhoff
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
davon sprechen, daß ein ausgereiftes, nicht nur rechtsstaatliches, sondern auch freiheitliches Individualstrafrecht erkennbar ist. In dieser Situation tauchen nun Herausforderungen auf, die einen grundlegenden Wandel für die Gesellschaft implizieren, so daß das Strafrecht wieder vor eine entscheidende Weiterentwicklung gestellt wird, will es nicht in eine gesellschaftliche Randexistenz gedrückt werden 1 • Es gilt allgemein, den Befund zum subjektiv-freiheitlichen Recht noch einmal unter die Lupe zu nehmen und unter Umständen manche Aspekte zu überarbeiten und bestimmte Thesen zu verabschieden, da die grundlegenden Erkenntnisse des 18. und 19. Jahrhunderts bestimmte Phänomene des Menschen, seiner Sozialstruktur und damit seines Sozialverhaltens und -lebens nicht entsprechend mit einbeziehen konnten 2 , womit jedoch nicht behauptet werden soll, daß diese Phänomene in ihrer Gänze ausschließlich ein Produkt der Neuzeit wären. Tatsächlich wird man aber wohl konzedieren müssen, daß in der Geschichte der Menschheit die gesellschaftlich weit verbreitete, freiwillige Bildung von Verbänden eine recht junge Erscheinung ist, die ihre Bedeutung erst durch den Siegeszug des Individuums erlangen konnte. Es sei nochmals betont, daß anhand des Individualstrafrechts dargelegt werden konnte, daß die Strafe ihren Grund zunächst in der Schuld hat, zu welcher der Mensch als unaufhebbares Mitglied der Rechtsgemeinschaft fähig ist. Einen anderen Sinn kann eine Gemeinschaft, in welcher der Mensch der Ausgangspunkt der Rechtsordnung ist, der Strafe nicht geben. Ein so verstandenes Strafrecht, das seinen Ausgangspunkt beim vernünftigen selbst-bewußten Individuum hat, sperrt sich auf den ersten Blick aber wohl am Nachhaltigsten gegen ein Verbandsstrafrecht. Damit stellt dieses Verständnis auch die höchsten Anforderungen an eine entsprechende Legitimation. In der Konsequenz bedeutet dies dann aber auch, daß im Falle des Gelingens - also der erfolgreichen Legitimation - das Ergebnis eine sehr hohe Plausibilität besitzt! Eine Legitimation aufbauend auf diesem Strafrechtsverständnis - entgegen der Meinung seiner die Verbandsstrafe ablehnenden Vertreter Köhler und v. Freier3 - ist denn auch Ziel der folgenden Ausführungen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die richtige Entfaltung der Gemeinsamkeiten und Differenzen von Kollektiv und Individuum. Hier liegt der Schlüssel für eine Lösung der verschiedenen Probleme. Das wesentliche Bestreben dieses Teils der Arbeit - und damit letztlich der ganzen Arbeit - ist es daher, im folgenden für die Legitimation der Verbandsstrafe zu zeigen, daß die dreifach bestimmte "Persönlichkeit" des Kollektivs (aus Verband, Unternehmen und juristischer Person) es erlaubt, dieses als den Kategorien ,Schuld' und ,Strafe' zugänglich zu zeigen, ergo Vgl. dazu der Befund oben, § 3 I. - III. Dieser Aussage steht auch nicht der Hinweis von F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 126 m. w. N., entgegen, der feststellt, daß bereits Hegel Formulierungen lieferte, die einem - allerdings eher hypostasierten - Kollektivsubjekt Anhaltspunkte liefern konnten. Aber das war aus der vorliegenden Perspektive nun wirklich spekulativ in einem negativen Sinn. Eine feine Differenzierung des Phänomens ,Kollektiv' hat eben nicht stattgefunden. 3 Vgl. dazu gleich unten § 11 I. 3. a. 1
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§ 11 Kriminalstraftat und Kollektiv
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als Mit-Konstituenten der Rechtsordnung zu verstehen. Dabei sind drei Schritte zu gehen: Zunächst muß die "Persönlichkeit" des Kollektivs näher entfaltet werden, dann ist zu fragen, inwieweit dies mit dem hier entwickelten Verständnis von Schuld und Strafe harmoniert und schließlich muß untersucht werden, inwieweit überkommende Positionen im Strafrecht aufzugeben sind, damit ein widerspruchsfreies und richtiges Bild von Konstitution und Leben der Rechtsordnung gezeichnet werden kann. Es wird dabei zu zeigen sein, daß das Strafrecht, welches am Ende der Untersuchung steht, ein freiheitliches Strafrecht im (positiv) idealistischen Sinne ist, jedoch ohne an sachlogischen Strukturen gebunden zu sein, die sich vermeintlich an individual-menschlichen Verhalten orientieren müssen 4 . 1. Drei mögliche Konzeptionen der Schuld
Zunächst ist also die Möglichkeit des Verschuldens und damit einer Schuld von Kollektiven zu untersuchen. Grundsätzlich stehen nun für die Konzeption der Verbandsstrafe drei denkbare Wege offen: (i.) Die Verbandstrafbarkeit kann lediglich über eine Zurechnung von individuell verwirklichten strafrechtlichen Kategorien konzipiert werden; das muß zu Problemen bei der Fassung der - notwendig eigenen - Schuld führen müssen. In letzter Konsequenz führt dies zu dem, was unter dem Schlaglicht des ,Maßregelrechts als zweiter Spur' rangiert. (ii.) Eine weitere Alternative bestünde darin, ein System zu konzipieren, das versucht, die Begrifflichkeiten des Individualstrafrechts aufzugreifen und ,naturalisierend' für den Verband als lebenden Organismus parallel (wertend) zu bestimmen; damit entkommt man zwar oberflächlich aus der (strafrechtlich gesehenen) Sackgasse der Zurechnung, ist allerdings unentwegt dem Einwand ausgesetzt, man würde letztlich nur eine verschleierte Zurechnung vornehmen und letztlich keine eigenständige Begründung liefern, die eine echte Strafe für ein vom Menschen so unterschiedliches Subjekt aber erfordere. (iii.) Schließlich eröffnet aber die notwendige Normativierung der strafrechtlichen Kategorien die Voraussetzungen, um das Problem an der Basis anzugehen und zu lösen. Solange man schon im Individualstrafrecht unangemessen und damit falschlieh "naturalisierend" vorgeht, muß jede Konzeption von Verbandsstrafe auch "naturalisierend" wirken - was natürlich für den Menschen als nach unserem Verständnis "natürlichem" Subjekt intuitiv akzeptiert werden kann, für das Kollektiv im Gegensatz dazu jedoch nicht. Geht man nun den notwendigen Schritt und begreift (vor allem) Schuld und Strafe normativ, dann entsteht ein Raum für (vermeintlich) nicht natürliche, zumindest nicht individuelle Subjekte. Das dies keine sprachliche Spielerei ist, wird im folgenden gezeigt werden. Im Rahmen einer Normativierung besteht allerdings die Gefahr, in die Versuchung zu kommen, auf ein schuldbasiertes Strafrecht ganz zu verzichten. 4 So wie dies z. B. B. Schünemann behauptet, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III Unternehmenskriminalität, S. 129 (136 f.).
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
Eine Herangehensweise an die Materie des Kollektivstrafrechts soll an dieser Stelle bereits beiseite gesetzt werden. So nimmt eine funktionalistisch-systemtheoretische Theorie wie z. B. die von Jakobs ebenfalls eine Form von Normativierung vor5 . Die Funktion wird zum einzigen normativen Gehalt erhoben. Damit sind natürlich bei (unproblematischer) inhaltlicher Bestimmung die Kategorien des Strafrechts auf Kollektive zu übertragen. Dieses Vorgehen ist jedoch das uninteressanteste, weil es in seiner Dogmatik selbst vollkommen unangreifbar ist - ihre Unhaltbarkeit resultiert aus ihren dogmatischen Grundannahmen. Es wird auf sie daher erst ganz am Ende im Rahmen der zusammenfassenden Kritik eingegangen, um dann exemplarisch zu zeigen, wie inhaltsleer und damit wenig hilfreich der Funktionalismus ist. Die Alternativen des Zurechnungsmodells und einer Spielart des Parallelwertungsmodells werden nun zunächst untersucht, bevor auf die Möglichkeit der Konzeptionen einer originären (normativen) Schuld eingegangen wird. Es bestehen - in Anbetracht der Varianten ,Zurechnung', Parallel wertung' und ,Normati vierung' - grob gesprochen zwei Möglichkeiten der Begründung der Verbandsstrafe: eine funktional-präventive und eine Strafzweck- bzw. Schuldbegriff-Iegitimierte. Damit besteht sozusagen die Wahl zwischen einem Verbands strafrecht mit und ohne Schuldgrundlage. Eine naheliegende Lösung für eine scheinbar bzw. scheinhaft schuldbegriff-fundierte Variante der Legitimation liegt nun eben darin, in schlichter Form die Schuld der handelnden Personen dem Verband zuzurechnen. Im Gegensatz zum normativen Begriff der Handlung, nach dem das Verständnis der Handlung des Organs als einer des Kollektivs nicht in diesem Maße problematisch ist, ist die Schuld notwendig auf ein einzelnes Subjekt bezogen, sie ist persönliche individuelle Vorwerfbarkeit - wenn auch nicht notwendig eine individuelle. Darüber aber kommt eine solche Konstruktion der Zurechnung nicht hinaus, denn sie rechnet für das Kollektiv notwendig fremde Schuld zu. Dies ist für eine Legitimation im Strafrecht, für das ein oben näher dargelegtes Schuldverständnis konstitutiv ist, nicht akzeptabel. Nun wird eine solchermaßen schlichte Zurechnung des Verschuldens eines Individuums zum Kollektiv als dessen eigene kaum vertreten. Kürzlich hat sich namentlich Rupert Sc holz für ein solches Modell ausgesprochen, wobei er von einer mangelnden Schuldfähigkeit, aber von einer existierenden Strafempfänglichkeit der Kollektive ausgeht (der juristischen Personen in seiner Diktion). Ergebnis ist letztlich ein schlichtes Individualstrafrecht mit kollektiven Sanktionen, ganz analog der Konzeption des Ordnungswidrigkeitenrechts. Hier sollte man allerdings kon5 Vgl. dazu nur G. Jakobs, AT, 17. Abschn. Rn. I ff.: Schuld als Zuständigkeit für einen Mangel an rechtlicher Motivation, aufbauend auf der Funktion der Strafe zur Einübung von Normanerkennung, 1. Abschn. Rn. 14 ff.; in eine etwas andere Richtung zielen u. U. die neueren Äußerungen von Jakobs, z. B. ders., Norm Person, Gesellschaft, S. 80 ff.; vgl. dazu W. Schild in: Nomos-Kommentar, StGB, § 20 Rn. 55 ff., m. w. N. zu Jakobs' neueren Schriften, insbes. 57 ff.; ders. in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 71 ff. zu Jakobs' ursprünglichen System im AT.
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sequenterweise in der Tat von der Sanktion gegen eine juristische Person reden. Um eine Strafe handelt es sich - mangels Zurechnung einer eigenen Schuld - dabei ja gerade nicht. Aufgrund der eben gewonnenen Erkenntnis kann man nun einen (vermeintlich) ganz anderen Weg einschlagen, der aber auch in Richtung auf ein funktional-präventives Verbandsstrafrecht führt. Diese - letztlich auch normative - Ansicht schlägt ein Kollektiv-Strafrecht vor, das sich am Maßregel-Modell orientiert. Hier steht am Anfang die Feststellung, daß das Kollektiv sich nicht selbst schuldig machen kann und eine Zurechnung aufgrund des eben Ausgeführten nicht möglich ist. Die Schlußfolgerung ist: Wenn das Kollektiv aber keine Schuld haben kann, dann ist es quasi schuldunfähig, also liegt eine Legitimation im Sinne des Maßregel-Modells unseres Strafrechts nahe, das ja ohne Schuld-Erfordernis auskommt. Es ist jedoch schnell zu erkennen, daß dieser Ansatz widersprüchlich ist: Wenn man an präventive Maßregeln denkt, dann denkt man notwendig indirekt an Schuld, nämlich an deren Nicht-Vorliegen. Die Existenz der Maßregeln gründet auf dem Gedanken, daß es Menschen ohne Schuldfähigkeit gibt, damit aber auch solche mit Schuld. Ein Maßregel-Modell, das an Prävention ausgerichtet ist, ist nur denkbar, weil es zunächst ein Schuldstrafen-Modell gibt. Wird aber die Unvergleichbarkeit von Individuum und Kollektiv postuliert, kann das Individual-Schuldstrafrecht nicht mit dem Kollektivstrafrecht zusammen als ganzes Strafrecht gedacht werden; anders: eine Gleichsetzung von (ausnahmsweise) schuldunfähigen Menschen und (generell) "schuldunfähigen" Kollektiven verbietet sich. Das Maßregel-Modell mag verlockend sein, ist aber aufgrund der genannten Widersprüchlichkeiten kritisch zu sehen und kann ebenfalls kein Kollektiv-Strafrecht begründen, sondern nur ein funktionales, den Ordnungswidrigkeitenrecht ähnliches Sanktionsrecht. Damit bringt es aber auch keine großartig neue Erkenntnis. Im Übrigen ist es sehr naheliegend, daß sich die Spielarten der Zurechnung und des Maßregel-Modells weitgehend ähnlich sind.
2. Der Fortbildungsansatz: Normative Schuld, soziale Macht und Systemunrecht Es bleibt letztlich nur die Möglichkeit, ein Kollektivstrafrecht zu entwerfen, das tatsächlich Schuld und Strafe und damit deren Zusammenhänge zur Straftat auch von Kollektiven mit einbezieht, wenn man einem rein schlicht-zurechnenden oder einem funktionalen Sanktionsrecht entgehen will. Aufgrund der hier vorzulegende Begründung wird sich auch auf den Standpunkt gestellt, daß nicht nur ein echtes Strafrecht begründbar ist, sondern die nicht auf einer echten Schuldbegründung beruhenden Konzeptionen eines Strafrechts auch - würden sie denn als solches verkauft werden - sogar verfassungswidrig wären. Dieses Ergebnis wird sich aus der tragenden Rolle der Kollektive an der Konstitution der Rechtsordnung ergeben, so daß ein Strafrecht ohne (eigene!) Schuld gegen den Schuldgrundsatz verstoßen muß.
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
Es können nun verschiedene Möglichkeiten einer spezifischen Verbandsschuld entwickelt werden. Daß dies in jedem Fall in ein Schuldanalogie-Modell münden muß - wie die Kritik glauben machen will - wird sich als falsch erweisen. Wenn man ein spezifisches Verschulden eines Kollektivs darlegen kann, ist dies eben wohl eine eigene Schuld. Es bleibt dann allerdings noch die Aufgabe, den gemeinsamen Begriff von Schuld für die Individualschuld und die Kollektivschuld zu bestimmen. In der Tat wird sich aber auch zeigen, daß die bis jetzt vorgeschlagenen Begründungen zur Kollektivschuld ungenügend sind. Der wesentliche Einwand, der hier vor allem überwunden werden muß, ist der, daß das Kollektiv nicht das "Recht als Recht,,6 durch Geltungsanmaßung einer frei gewählten Unrechtsmaxime verletzen kann, da seine geistige Realität durch Repräsentation der handelnden Individuen konstituiert ist und das Ergebnis in jedem Fall ungenügende objektive Zurechnung bleiben muß. Den genannten Argumenten wird noch angefügt, daß eine Konzeption von Hypersubjekten nicht von einem an der Freiheit orientierten vernünftigen Subjekt widerspruchslos gedacht werden kann. Dem soll hier zunächst als These entgegen gesetzt werden, daß die geistige Realität in einem Kollektiv nicht rein distributiver Natur ist. Die einzelnen Individuen sind in der Tat die Konstituenten - das Ergebnis schaut jedoch wesentlich komplexer aus, als dies von den Verfechtern dieser Meinung gesehen wird. Zur Erklärung dieser Komplexität, die ja auch schon der Gesetzgeber des traditionellen Strafrechts gesehen hat, muß nun - aufbauend auf die Ausführungen zum Begriff des Kollektiven 7 - auf diejenigen Gedanken zurückgegriffen werden, die Ergebnis von Untersuchungen zum Individualstrafrecht waren 8 und an dieser Stelle nun fruchtbar eingebracht werden können: (i.) die von Schild entwickelte Figur der mittelbaren Täterschaft im Sinne einer Tatherrschaft kraft sozialer Macht, die er von der Figur der Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate ausgehend entwickelt hat; (ii.) der von Lampe aus der Mittäterschaft entwickelte Gedanke eines Systemunrechts oder vielleicht besser Verbandsunrechts, wenn man dem System-Begriff in Legitimationsfragen skeptisch gegenübersteht9 . Dieses Unrecht soll ein Gegenstück zu dem, dem normalen Individualstrafecht zugrunde liegenden Beziehungsunrecht darstellen. Die von Schild bezeichnete Figur der Tatherrschaft kraft sozialer Macht - wie oben dargelegt - besagte, daß es soziale Abhängigkeitsverhältnisse gibt, in denen einer Person solche Macht zuwächst, daß diese Person sich der Organisation und damit auch des Einzelnen in einer Art und Weise bedienen kann, in der dieser Einzelne nur noch als Rädchen bzw. Werkzeug erscheint. Diese Macht- und AbhänVgl. M. Köhler; AT, S. 562 f. V gl. oben § 3 III. 2. und auch § 5 11. 8 Vgl. oben § 10 I. 9 Allerdings ist die Verwendung des Begriffes ,Systemunrecht' hier ungefährlich, da dieser rein deskriptiv angesetzt ist und keinen eigenen normativen Gehalt hat, sondern erst in einem zweiten Schritt aus der Perspektive des Strafrechts normativiert wird. 6
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gigkeitsstrukturen existieren neben rechtlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten charakteristischer Weise gerade in jedem Verband. Das hat auch bereits Andreas Ransiek in seiner Arbeit zum Unternehmens strafrecht festgestellt lO - wenn auch in einem etwas anderem Kontext. Diese Strukturen können nicht mit einem nur am Individuum ausgerichteten Verständnis erfaßt werden. Sie sind eine Seite dessen, was den kriminellen oder kriminell anfälligen Verbandsgeist oder eine entsprechende Atmosphäre zu konstituieren vermag. Die zweite Dimension des Verbandsdeliktes und der ihm zugrunde liegenden fehlerhaften Organisation oder Kultur stellte der von Lampe herausgearbeitete Systemunrechts-Gedanke dar. Er begründet diesen damit, daß es beim Systemunrecht zu einer Vervielfältigung von Ursachen und Verantwortungen komme, zu einer Art neu geknüpftem Netz. Erst die Referenz auf die Zielsetzung und Organisation des Systems erklärt diese Art von Unrecht, d. h. ermöglicht auch die Beurteilung des einzelnen Tatbeitrages. Die Vervielfältigungen finden zwischen Täter(n) und Opfer(n) im Außen verhältnis und zwischen Tätern untereinander im Innenverhältnis statt und es kommt zu kausalen Wechselwirkungen, so daß intern oder extern die Kausalbeziehungen nur ganz oder teilweise unter Rekurs auf die jeweils anderen verstanden werden können. Das Grundmodell dieser Vervielfältigungen ist bereits in der Mittäterschaft angelegt: eine funktionale Organisation, die zu einer inneren Verbindung der Mitglieder führt. Die von ihm herausgestellten Strukturen bilden eine spezifische Art von Unrecht, das nur in einem Verband auftreten kann, da nur er über das institutionalisierte Beziehungsgeflecht verfügt. Aufgrund der vielfältigen Wechselwirkungen kann auch keine Auflösung in Zweier-Beziehungen und auch keine Einzelpersonen-Betrachtungen erfolgen. Lampe rekonstruiert den Prozeß vom Einzelnen und im Vergleich dazu vom Gemeinschaftssystem hin zum Erfolg in einer Weise unterschiedlich, daß das Systemunrecht das Gegenstück zur Schuld in einem Verbands strafrecht stellen soll, wohingegen das Handeln des Verbandes sogleich einem Erfolgsunrecht entspricht. Bei näherem Hinsehen werden hier natürlich Differenzen zur oben vorgenommenen Bestimmung der Schuld deutlich. Deutlich wird auch, daß diese Konzeption einige schwierige Fragen aufwirft, vor allem inwieweit hier auf ein Handlungsunrecht verzichtet werden kann. Zunächst soll im folgenden nur die Idee des System- bzw. Verbandsunrechts genommen und seine Qualität für die Bestimmung einer Kollektivschuld plausibel gemacht werden. Die beiden Ansätze zusammen genommen bilden die beiden Dimensionen der Kollektivstraftat ab. Der Gedanke der Handlungsherrschaft aufgrund sozialer Macht gerade im Rahmen der Tatherrschaftslehre zeigt die Vertikaldimension auf, die es einer Person möglich macht, andere für sich einzusetzen. Dies findet auch noch seinen Ausdruck in der organisierten Unverantwortlichkeit. Die nicht-distributive Verantwortung wie sie sich in Mehrpersonenverhältnissen bilden kann, stellt die Horizontaldimension dar. Diese Verflechtungen, die noch näher zu untersuchen IO
Vgl. A. Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 41 ff.
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
sind, funktionieren exemplarisch in der Gleichordnung, können jedoch genauso in einem Hierarchieverhältnis auftauchen. Sie weisen jedoch bereits in ihrer in der Mittäterschaft zu findenden Form eindeutig auf die Bedeutung von gruppendynamischen Momenten hin, wie sie die Psychologie (vor allem die Sozialpsychologie) beschreibt und wie sie in der Kriminologie ebenfalls rezipiert wurde. Von hier aus kann nun dem Begriff des Kollektivs Kontur gegeben und seiner Bedeutung Nachdruck verliehen werden. Dabei ist vor allem das Verhältnis der Horizontal- zur Vertikaldimension zu bestimmen. Kritikern käme schon jetzt die Aufgabe zu, für diese Phänomene eine bessere Integration in das Strafrecht zu leisten, als das bisher der Fall ist. 3. Kollektiv und Individuum - Differenz und Gemeinsamkeiten
Grundproblem der Begründung eines Kollektivstrafrechts ist, daß es nicht einfach ist, das Kollektiv als Strafsubjekt zu begreifen. Richtigerweise kann das Strafrecht nur begriffen werden, wenn man es in Beziehung zu seinen Konstituenten setzt ll , und als solche werden traditionellerweise die Menschen als Personen betrachtet. Ansätze, welche dies übersehen, müssen daher in die falsche Richtung führen. Aber auch die Befürworter und Gegner eines Kollektivstrafrechts, die sich mit der Frage Konstitution - direkt oder indirekt - beschäftigt haben, verkennen ihren tatsächlichen Inhalt. Hier soll vor allem auf die Kritik der Kollektivstrafe aus der individualistischen Ecke eingegangen werden, die den Standpunkt vertritt, daß ein Kollektiv nicht nur nicht vergleichbar mit einem Individuum (was aber aufgrund von dessen konstitutiver Rolle für das Recht und Strafrecht notwendig ist), sondern die Konzeption eines kollektiven Rechts- bzw. Strafrechtssubjekts sogar unvereinbar mit dem Verständnis des Individuums überhaupt ist. Indem diese Kritik widerlegt werden kann, ist auch dargelegt, daß das namentlich von v. Gierke begonnene Projekt 12 , dem Kollektiv seinen Platz in der Gesellschaft und im Recht zu zuweisen, erfolgreich zu Ende geführt werden kann. Auf eine eingehende Kritik 11 In diesem Sinne sind viele Kritikpunkte, die maßgeblich von v. Freier und Köhler angebracht werden, durchaus berechtigt, vgl. nur zusammenfassend: M. Köhler, AT, S. 560 ff. 12 Vgl. dazu in v. Gierkes Werken nur folgende Passagen: Deutsches Privatrecht, Bd. I, S. 456 ff., insbes. S. 469 ff.; ders., Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2, S. 474 ff., 874 ff., 903 ff.; eine Kritik dieses Ansatzes aus freiheitsgesetzlicher Sicht findet sich bei v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 145 ff.; dazu sei angemerkt, daß v. Gierke die Frage der Gesamtperson nicht als Zurechnungsproblem diskutiert hat, und das wird auch nicht von Karsten Schmidt, Verbandstheorie, S. 17 f. betont, sondern letzterer stellt in dieser Schrift ganz klar die politische Motivation heraus und betont lediglich, daß sich die Lehren v. Gierkes nicht dazu eignen, im Zivilrecht Ambitionen auf Mitbestimmung oder Einführung eines Unternehmens als Rechtsträger zu stützen. Das hat nichts notwendig mit der strafrechtlichen Sicht zu tun, vgl. dazu oben § 9; allerdings ist - ebenfalls mit Karsten Schmidt, a. a. O. zuzugeben, daß die Ausführungen v. Gierkes selbst verständlicherweise für viel Kritik gesorgt haben, vgl. nur O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2, S. 6 ff. (zum Bildungsgang des deutschen Rechtsbewußtseins) und S. 573 ff. zur Stadtpersönlichkeit.
§ 11 Kriminalstraftat und Kollektiv
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der Ansätze von v. Gierke und anderen soll an dieser Stelle verzichtet werden. Sie wären Gegenstand einer noch nachzuholenden, (sicher umfänglichen) historischen Aufarbeitung des Kollektivstrafrechts-Diskurses im Hinblick auf die hier vorgelegte Konzeption. In den nun folgenden drei Abschnitten soll es um die Frage gehen, was Kontinuität und Kompetenz in einer Form ausmacht, wie wir sie beim Menschen exemplarisch vorfinden und in der auch der Grund für Ablehnung oder Akzeptanz eines Kollektivstrafrechtes liegen muß 13 . Eine These sei dabei vorangestellt: Mit einem an der menschlichen Physis orientierten Naturalismus muß das (bereits geltende) Recht ganz schnell austrocknen! Zunächst werden nun kurz die Argumente der Kollektivstrafgegner rekapituliert. a) Einwände gegen ein Kollektivsubjekt und Gegenkritik Einer der Haupteinwände gegen ein Kollektivstrafrecht wird gemeinhin in der Unmöglichkeit der Identifikation einer - notwendigen - Gesamtperson als straffähigem Kollektivsubjekt gesehen. Diese Kritik ist zunächst darzustellen. Dabei wird vor allem auf v. Freier bezug genommen, der sich am dezidiertesten mit der Verbandsstrafe auseinandergesetzt hat. Er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Rechts und des Strafrechts als Realisierung der freiheitlichen Natur des Menschen, so wie sie auch oben in § 3 dargelegt wurde. Dreh- und Angelpunkte waren dabei die Konstitution des Rechts in einem gegenseitigen Anerkennungsverhältnis und die reflektierende Geltungsverkehrung im Rahmen der Maximensetzung des Einzelnen in der Straftat. Der Prozeß der Anerkennung der menschlichen Subjekte untereinander ist notwendig, da nur über die Erkenntnis des Anderen der Mensch sich selbst als ein zur Freiheit fähiges Subjekt erkennen kann. Damit erkennt er sich aber auch als mit dem Anderen gleich in seiner freiheitlichen, in der Ratio gegründeten Natur. Auf dieser Basis kommt es nun zur Konstitution der Rechtsordnung als Umsetzung der freiheitlichen Kompetenz des Menschen. Im Falle einer Straftat aber wird dieses gegenseitige Anerkennungsverhältnis und die Existenz des Rechts in seiner bestimmten Funktion verneint, da der Andere oder die Anderen nicht als in entscheidender Hinsicht gleich betrachtet und die Allgemeingültigkeit des Rechts als Freiheitssicherung grundsätzlich in Frage gestellt bzw. negiert wird. Dies geschieht beim zur Vernunft fähigen menschlichen Subjekt, das durch Setzen seiner eigenen Handlungsmaximen agiert, indem es seine grundsätzlichen Einstellungen (zum Recht und zum Anderen) umkehrt 14 . 13 Es ist insoweit nicht eindeutig, ob an den Begriff Mensch anzuknüpfen ist oder nicht doch eher an den Begriff der Person. Selbst hinsichtlich des Gedankens der Menschenwürde ist dies nicht unbestritten. Auch wenn das Prinzip der Freiheit im Hinblick auf das Verständnis der Rechtsordnung bereits einen normativen Gehalt hat, so ist der Grund für das rechtliche Person-Sein des Menschen doch in seinen anthropologischen Bedingungen gelegt. Für das Kollektiv sind diese im (menschlichen) Verband zu suchen. 14 So auch die Ausführungen von F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 120 ff.
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Daraus wird nun gefolgert, daß es notwendig ist, auch beim Kollektivsubjekt die Existenz eines eigenen psychischen Zentrums auszumachen, das zur Reflektion befähigt ist und daher zweierlei ermöglicht: das Bilden einer eigenen Identität und das Verletzen des Rechts als Recht durch Negation des gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses. 15 Zum einen wird daher argumentiert, daß es nicht möglich ist, ein Kollektivsubjekt zu begründen, zum anderen - darüber hinaus gehend -, daß die Begründung einer kollektiven Gesamtperson notwendig einem auf freier Selbstbestimmung angewiesenen Subjekt widerspricht bzw. seine Verabschiedung unumgänglich macht 16 . Diese Kritik geht nun fehl. Zu unterstreichen ist hier nochmals, daß sie nicht in ihrer Begründung des Rechts und Strafrechts irrt. Dieser grundsätzliche Ansatz stimmt, so daß die Kritik nicht von vornherein - wie es beispielsweise ein rein funktionalistischer Ansatz tun würde - als irrelevant zurück gewiesen werden könnte. Zur Konstitution der Rechtsordnung über die Individuen muß Stellung bezogen und diese letztlich auch akzeptiert werden. Falsch ist jedoch die Art und Weise wie die individualistische Sichtweise die Konstitution im Einzelnen beschreibt. Sie gibt sich nämlich keine genügende Rechenschaft über die Grundlagen der Konstitution der Rechtsordnung über das gegenseitige Anerkennungsverhältnis. Täte sie dieses, würde ihr die nicht begründbare Verengung im Hinblick auf den relevanten Begriff der conditio humana auffallen, die dazu führen kann, kollektive Phänomene beim Menschen zu verkennen 17. Dies wird nun im folgenden in einer grundsätzlichen Skizze nachgeholt. b) Zur Konstitution der Rechtsordnung aa) Menschliche Individuen als Rechtskonstituenten
Der Gedanke der Konstitution der Rechtsordnung, der sich zunächst am Individuum orientiert, hat mindestens zur Voraussetzung, daß der Mensch überhaupt Zugang bzw. die Möglichkeit zu grundsätzlicher technischer / pragmatischer Reflexion und darüber hinaus zu ethisch-moralischer Reflexion hat 18 . Insofern ist das Recht Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbands strafe, S. 124 ff., insbes. 146 ff. Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, passim, insbes. S. 124 ff., 162 ff.; M. Köhler; AT, S. 557 ff.; ders., Refonnen des strafrechtlichen Sanktionssystems, Neue Kriminalistik 2002, S. 10 f. 17 Dies holt beispielsweise für den Bereich des Kollektiv-Rechtsgutes Zaczyk nach, vgl. ders., Der Begriff der "Gesellschaftsgefährlichkeit", in: K. Lüderssen, u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Ultima-ratio-Prinzip, S. 113 ff. - es darf allerdings bezweifelt werden, daß Zazcyk einern Kollektiv als Strafrechtssubjekt aufgeschlossen gegenüber steht, vgl. dazu nur dessen Ausführungen in: Unrecht der versuchten Tat, S. 126 ff., insbes. S. 170 ff.; die Existenz von Kollektiv-Rechtsgütern wird bekanntlich auch von Köhler zugegeben, vgl. ders., AT, S. 34 zum Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb'. 18 Vgl. zu diesen Stufen der Argumentation, die bereits notwendig auch eine entsprechende Fähigkeit zur Reflexion bedingen, nochmals: O. Höjfe, Politische Gerechtigkeit, S. 50 ff. 15
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wie auch jede Ethik auf grundlegende Annahmen zur Anthropologie angewiesen, die zugleich Ausgangspunkt und Grenze der Betrachtungen sind. Recht und Ethik dürfen und können auch nicht in einem Biologismus enden; die anthropologischen Bedingungen des Menschen ziehen beiden jedoch Grenzen im Hinblick darauf, wozu der Mensch überhaupt in der Lage ist - sie bilden sozusagen ,die Rückseite des Spiegels d9 . Die Frage kann daher nicht sein, ob überhaupt anthropologische Erkenntnis zu berücksichtigen ist, sondern nur welche und wieviel 2o . Das Selbstverständnis des Menschen im Hinblick auf seine Rolle in der Gesellschaft und bei ihrer auch rechtlichen Konstitution ist in der Neuzeit ganz überwiegend dasjenige der Selbstgesetzgebung, der Autonomie 21 . Die Anthropologie hält nun - auch in Verbindung mit der Ethologie - ein sehr viel umfänglicheres Bündel an Erkenntnissen zur Natur des Menschen bereit. Hier findet offensichtlich eine sehr starke Fokussierung statt. Die Fähigkeit zur Reflexion und vor allem zur Selbstreflexion ist dem Menschen zwar nicht vollkommen einzig, da auch seine nächsten Verwandten über eine bestimmtes (wohl geringes) Maß an Intelligenz verfügen - in dieser Ausprägung jedoch ist sie etwas Besonderes22 • Und es ist gerade diese Fähigkeit, die den Menschen zu dem hat werden lassen, was er heute ist. Recht und Ethik fußen nun im basalen Bereich auf nichts Anderem als der Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt, die Bedingungen seiner Existenz zu erfassen, seine Handlungen danach in die Zukunft strategisch zu planen und sie entsprechend seiner Motivation auch auszuführen. Die Vielzahl seiner Triebe und nichtrationalistischen Eigenschaften kommen aus dieser Perspektive nur als Erklärung der Unvollkommenheit der Ratio und Aufzeigen der Grenzen im Einzelfall in den Blick, was jedoch legitim ist. Das Organ des Menschen, das all dies grundlegend ennöglicht, ist das Gehirn als psychisches Zentrum 23 . Die entscheidende Fähigkeit des Gehirns in diesem Zusammenhang ist nun diejenige zur Ausbildung eines allgemeinen Bewußtseins und 19 R. Zippelius, Gerechtigkeit, S. 93 unter Bezugnahme auf Konrad Lorenz, der sein 1973 erschienenes Werk so betitelte; zu diesem Punkt auch R. Zippelius, Gerechtigkeit, S. 93 ff., 96 ff. 20 Vgl. L. Siep, Ethik und Anthropologie, in: A. Barkhaus u. a. (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, S. 274, der dazu feststellt, daß es sich insoweit um eine kritische Anthropologie in pragmatischer Absicht handelt, wie sie schon Kant gefordert hat. 21 Diese beiden Begriffe wurden bereits und sollen hier synonym gebraucht werden. Zu diesem Selbstverständnis gibt G. Böhme noch einmal den interessanten Hinweis, daß dies eine Trivialisierung des platonischen Ideals der Lebensform des Politikers darstellt, G. Böhme, Selbstsein und derselbe sein. Über ethische und sozialtheoretische Voraussetzungen der Identität, in: A. Barkhaus u. a. (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, S. 322 (323). Dies als ein Charakteristikum des Menschen anzusehen, dafür gibt es zwar gute Gründe; der intuitive Gedanke der Gefahr der Überforderung des Menschen sollte jedoch im Hinterkopf behalten werden. 22 Zur grundsätzlichen Frage der Freiheit des Menschen wurde oben in § 3 Stellung bezogen. 23 Der grundsätzlich sicher berechtigten Forderung, gerade auch in diesem Zusammenhang die Leiblichkeit zu berücksichtigen, soll hier nicht mehr nachgegangen werden.
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Selbstbewußtseins 24 . Auch sie ist allerdings in ihrer Grundstruktur bereits bei den Schimpansen angelegt; ebenfalls hat das gegenseitige Anerkennungsverhältnis, das zwischen menschlichen Subjekten das Zusammenleben und seine es ermöglichende Rechtsordnung begründet, hier bereits seine Wurzeln 25 . Voraussetzung von allem - Bewußtsein und Selbstbewußtsein und ihre Folgen (z. B. die Konstitution der Rechtsordnung) - ist nun aber die Ausprägung einer eigenen Identität. Erst sie ermöglicht Selbst- und damit auch bereits Fremdreflexion26 . Dieser ganz zentrale Begriff bedarf einer näheren Betrachtung. Der Begriff der Identität wird in verschiedenen Bedeutungen verwandt27 • Zunächst wird er als logischer Relationsbegriff verwandt; dann ist zu unterscheiden zwischen numerischer und qualitativer Identität. Oder aber es ist von einem grundsätzlich nicht-(dritt-)relationalen Begriff der Identität im Sinne von Selbstverständnis oder Selbstverhältnis die Rede. Dies kann zum einen in einem hermeneutischen Sinne geschehen, indem jemand danach fragt, was zu seinem Selbstverständnis zählt (auch: Identifikation) - unser Verständnis von uns als Menschen im Zusammenhang von Recht und Ethik als rationale Subjekte ist ein Beispiel hierfür. Zum anderen kann aber auch ein sozialpsychologischer Begriff von Identität gemeint sein, wie er vor allem von George Rerbert Mead ausgearbeitet und von Jürgen Rabermas im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und weiterverfolgt wurde 28 . In diesem Zusammenhang wird auch von Ich-Identität gesprochen. Allerdings ist auch der Begriff der Identität als Selbstverständnis oder Ich-Identität auf den logischen Begriff angewiesen ab dem Punkt, ab dem die psychologische Betrachtungsweise verlassen wird. Das ist bei notwendiger Integration sprachanalytischer Aspekte für eine konsistente Begriffsbildung der Fall, da diese den Rahmen überhaupt sinnvoller Aussagen abstecken 29 . Diese gehen genau genommen sozialpsy24 Zum Begriff des Selbstbewußtsein, das hier zunächst nicht weiter hinterfragt werden soll, vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 1979. 25 Vgl. dazu den Beitrag von D. Bischof-Köhler; Ichbewußtsein und Zeitvergegenwärtigung. Zur Phylogenese spezifisch menschlicher Erkenntnisformen, in: A. Barkhaus u. a. (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, S. 78 ff. 26 Es ist davon auszugehen, daß es sich hier um ein reflexives Verhältnis handelt und auch die Reflexionsfähigkeit das Bewußtsein ermöglicht. 27 Vgl. dazu nur den Artikel ,Identität' und ,Identität, Ich-Identität', HistWPhil, Bd. 4, Sp. 144 ff.; aus der juristischen Literatur: M. Pawlik, Betrug, S. 12 ff.; zum Begriff der personalen Identität die ausführliche Abhandlung von M. Knauber; Reduktionismus und personale Identität, Diss. Köln 200 1. 28 G. H. Mead, mind, self and society, S. 135 ff., insbes. S. 192 ff., 253 ff., 273 ff.; J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 28 ff.; ders., Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. 2, S. 9 ff.; vgl. dazu auch kritisch: M. Köhler; AT. S. 356 f. (aus primär rechtlicher Perspektive) und E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 282 ff. (aus sprachanalytischer Perspektive). 29 Das trifft dementsprechend genauso auf die Konzeption der individuellen Schuld anhand der selbstbestimmenden (autonomen) Natur des Menschen zu, wie sie von der freiheitsgesetzlichen Lehre vorgenommen wird, vgl. dazu M. Köhler; AT, S. 348 ff., insbes. 354.
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chologischen Betrachtungsweisen voraus. Letztlich ist damit der Begriff der numerischen Identität immer mit gedacht. In Zusammenhang mit beidem steht außerdem der Begriff der Identifizierung. Er beschreibt die dazu gehörige Tätigkeit, einen Gegenstand 30 mittels lokaler, deiktischer und sortaler Prädikate als das Gemeinte aus seiner Umgebung herauszustellen 31. Für die vorliegende Thematik sind alle drei Begriffe von Bedeutung. Wenden wir uns zunächst dem sozialpsychologischen Begriff von Identität bzw. Ich-Identität zu. Dieser ist nach Habermas - und auch Mead - Ausdruck des Umstandes, daß Menschen bestrebt sind, mit sich ,eins' zu sein 32 . Diese Identität ist nach beiden auch notwendige Bedingung dafür, daß eine moralphilosophisch fundierte Gesellschaft entstehen kann. Der Einzelne realisiert diesen Identitätsaufbau in der Meadschen Konzeption dadurch, daß er seine verschiedenen Verhaltensmuster, die auf von außen an ihn herangetragene Rollenerwartungen beruhen, für sich in Einklang bringt. Zwei Begriffe bleiben für dieses Verständnis von Identität prägend: die erstrebte Kontinuität des eigenen Lebensprozesses und die Unterschiedenheit von anderen. Beide verweisen wieder - zu Recht - auf die Gebundenheit an die logisch-semantische Ebene. Wichtig ist die Bedeutung der sozial psychologischen Erkenntnis, daß der Mensch ein bestimmtes Potential hat, nämlich durch Selbstbewußtsein eine Ich-Identität auszuprägen (zugleich sein Selbstverständnis), die für ihn eine grundsätzliche Orientierung in der Welt erlaubt - und zwar sowohl im Hinblick auf sich als Individuum als auch auf andere. Im Bereich der Logik behandelt die numerische Identität grundsätzlich den Fall, daß ein Gegenstand mit sich selbst identisch ist, also das Verhältnis in dem er zu sich selbst steht33 . Damit ist sie ein Spezialfall der Gleichheit, welche von der qualitativen Identität benannt wird. Dem entspricht im deutschen die Unterscheidung in ,das seI be , und ,das gleiche'. Gleichheit meint Identität im Hinblick auf eine oder mehrere Eigenschaften. Damit ist immer ein Drittbezug verbunden. Für den Menschen ist der Begriff der numerischen Identität vor allem im Hinblick auf seine personale Identität als zeitliche Dimension unter den Begriffen synchrone und diachrone (transtemporale) Identität (Haben von gleichzeitigen und in der Zeit verlaufenden Erlebnissen / Erfahrungen) thematisiert worden 34. ,Gegenstand' wird in einem weiteren philosophischen Sinne verstanden. Vgl. A. Barkhaus u. a. (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, Einleitung S. 21; dazu bereits P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, S. 24 ff, 232 ff.; zu der Verwendungsweise der semantischen Begriffe: vgl. auch E. Tugendhat/U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 127 ff., 146 ff., insbes. 154 ff. 32 Vgl. J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 63 ff. (67 ff.). 33 Vgl. nur P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, S. 41 f., 88 f., wobei konstatiert werden muß, daß es sich hierbei um ein in weiten Bereichen noch ungeklärtes Problem handelt, vgl. zu diesem Problem: E. Tugendhat / U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 168 ff. 34 Vgl. dazu ausführlich M. Knauber; Reduktionismus und personale Identität, Diss. Köln 2000, passim, insbesondere die Abschnitte 4.2. ff., 6., 7.4. ff. 30
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Der Mensch besitzt nun eine natürliche Identität aufgrund seiner physischen Existenz, die von der Geburt bis zum Tod reicht. Dies ist jedoch eine rein objektive Identität, die es erlaubt, ihn als solchen von der Umwelt in seiner Kontinuität zu unterscheiden. Der Mensch bringt aber auch seine Beschaffenheit als Entität mit Physis und Psyche als biologische Voraussetzungen mit. Damit kann er als Einzelner eine Identität als Ich-Identität ausprägen 35 . Hierbei ist die Reflexionsfähigkeit zentral, denn sie ermöglicht Erlebnisse in Bezug auf das Individuum und seine Umwelt und deren Speicherung. Diachrone und synchrone Identität entstehen und geben der menschlichen Existenz für sich Kontinuität und Unterscheidbarkeit von der Umwelt. Beides ist dann über die Kommunikation und eigene Abgrenzung auch anderen zugänglich. In einem solchen Fall liegt personale Identität vor. Sie ist vor allem auch im Recht betroffen. Als Subjekt wird dabei der Mensch - auch als Person - bezeichnet, weil er sich selbst als für sich von der Umwelt unterschieden begreifen kann und dies für jeden anderen Menschen ebenfalls gilt. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, daß der Begriff der Person nicht mit dem des Menschen identisch sein darf, wenn er einen eigenen Gehalt haben soll, also informativ sein so11 36 . bb) Kollektive als Rechtskonstituenten
Wie kann nun in diesen Prozeß der Konstitution der Rechtsordnung noch ein Kollektivsubjekt seinen Platz finden? Grundlegend scheinen zwei Dimensionen zu sein: die biologische und damit vermeintlich die objektivste Sicht des Menschen auf sich selbst und das Selbstbewußtsein und die Identität des einzelnen Menschen als Person. Für eine überindividuelle Dimension scheint nur unter diesen Bedin35 Von der Aufklärung des Verhältnisses der beiden Aspekte zueinander und der verschiedenen Spielarten des Reduktionismus soll hier verzichtet werden. Es soll in einem einfachen Sinne von der Notwendigkeit beider Aspekte ausgegangen werden. 36 An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß viel dafür spricht, den Begriff der Person als Phasensortal zu bestimmen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein Subjekt zutreffen kann und zu einem anderen Zeitpunkt nicht mehr. Damit wird es jedoch für die Fragestellung der personalen Identität unergiebig bzw. die in dieser Form gestellte Frage als unsinnig verworfen. Die Identitätsbedingungen legt das Sortal Mensch dann alleine fest und der Begriff der Person wird an das Kriterium der Erinnerungs- und Reflexionsfahigkeit gekoppelt. Damit werden zahlreiche Probleme vermieden bzw. gelöst, denen man ansonsten bei dem Versuch der Abgrenzung der Person ausgeliefert ist, vgl. dazu die ausführliche Darstellung dieses Problems und möglicher Lösungsversuche bei M. Knauber, Reduktionismus und Personale Identität, Diss. Köln 2000, Teil 11, zu dem hier angerissenen Lösungsvorschlag: Abschnitt 8. - nach dieser Konzeption dürfte die Frage der Schuld des Menschen allerdings nicht von personaler Identität abhängig sein, sondern von einer bestimmten psychologischen Verknüpftheit, die eine Person zu sich selbst grundsätzlich immer aufweist, ansonsten aber auch zwischen zwei Menschen gewährleistet sein kann, vgl. dazu eben Abschnitt 8.; hier mag einiges zu vertiefen sein, für den vorliegenden Zusammenhang jedoch erscheint es als ausreichend, sich zu vergegenwärtigen, daß der Begriff der Person den eigenständigen Aussagegehalt hat, daß jemand Bewußtsein und Reflexionsfähigkeit besitzt, und die Frage der Abgrenzung der Kollektivs damit nicht notwendig verbunden ist.
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gungen kein Platz zu sein. Unternehmerische Kollektive z. B. nehmen jedoch als Ganzes in vielfältiger Weise am gesellschaftlichen Leben teil, in einer über die einzelnen Mitglieder - sogar in ihrer menschlichen Identität - hinausgehenden Kontinuität. Sowohl der Einzelne als auch Kollektive sind auf die Anerkennung des Rechts durch die anderen Kollektive angewiesen. Hier müßten Gegner eines Kollektivstrafrechts ansetzen und näher zeigen, daß es auf diese Anerkennung durch Kollektive nicht ankäme, weil bereits die Normanerkennung und -konstituierung durch jeden Einzelnen ausreicht 37 . Die - notwendige - Bestimmung der Möglichkeiten und der Grenzen des Menschen im Hinblick auf seine Fähigkeit und auch Aufgabe zur Ethik greift nun zu kurz, wenn nicht die soziale Dimension des Menschen eingeholt wird. Das einfache Schema der gegenseitigen Anerkennung reicht dafür nicht aus. Hier entfalten nun systematisch die Erkenntnisse der Sozialpsychologie ihre stimulierende Wirkung. Von "stimulierender Wirkung" muß insofern gesprochen werden, als die praktische Erkenntnis letztlich vorausgehend ist und auch ohne die Sozialpsychologie gewonnen werden kann. Für sie soll eine neue - wenn auch sicher in vielerlei Hinsicht zu bereits durchgeführten Versuchen ähnliche - Interpretationsweise versucht werden. Die Gegner eines Kollektivstrafrechts führen zu allererst ins Feld, daß das Kollektiv nicht über ein eigenes Zentrum der Selbstorientierung verfügt, womit dann vermeintlich bereits auch die sich anschließende Reflexionsfähigkeit und Identitätsbildung ausfällt. Verbandsgeist und -kultur sind für diesen Standpunkt nur unter strafrechtlichem Blickwinkel unergiebige Metaphern. Allein, schon die Annahme, daß ein eigenes Zentrum der Selbstorientierung vorliegen muß, ist nicht verständlich. Richtig ist lediglich, daß eine psychische Fähigkeit zur Reflexion vorliegen muß 38 . Es ist letztlich zu konstatieren, daß Kollektive über eine Reflexionsfähigkeit verfügen und ein besonderes Bewußtsein entwickeln, das in die Normgeltung miteinbezogen werden muß. Zu bedenken ist bereits, daß ein Zentrum der Reflexion durchaus nicht zum Begriff der Person gehört: Für diesen ist lediglich das Vorliegen von (geistigen / psychischen) Erlebnissen wichtig, die zu einer Reflexionsfähigkeit führen müssen. Über ihre Bewußtwerdung wird die diachrone und synchrone Identität bedingt. Warum ein Zentrum der Reflexion als physische Gegebenheit notwendig vorhanden sein muß, ist nicht ersichtlich. Es sind hier lediglich die biologischen oder neurophysiologischen Voraussetzungen (Nervenbahnen, Synapsenbildung und Kommunikation) von Bedeutung. Erlebnisse bringen alle Mitglieder eines Verbandes in das Kollektiv mit ein, mögen sie zunächst auch sehr distributiv sein. Hinzukommen tatsächlich gemeinsame Erlebnisse, die mit der Rolle im Kollektiv eng verbunden sind. Über eine notwendige Physis - nämlich die der Mitglieder und aller Sachmittel, insbesondere der Infor37 Es ist allerdings anzunehmen, daß die Gegner der Verbandsstrafe davon ausgehen, hier bereits ausreichend begründet zu haben. 38 So redet Köhler eben im Hinblick auf die Normeinsicht, Zurechnungsfähigkeit und Identitätskonstitution des praktischen Subjekt nur von der "psychisch-physischen Fähigkeit zum kategorial richtigen Begreifen", ders., AT, S. 354.
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mationskanäle und -speicher - verfügt das Kollektiv ebenfalls und darüber hinaus auch noch über technisch-materiale Gegebenheiten, die einen Zugang für viele ermöglichen. Letzteres geschieht zwar nicht mehr über die neurophysiologische Ebene, was jedoch unschädlich ist, da der Mensch nur seine speziellen Voraussetzungen für die Identitätsbildung mitliefert. Die Kritiker dürften sich auch schwer damit tun, gerade die neurophysiologischen Gegebenheiten in concreto zur Stützung ihrer Argumentation anzuführen, da diese jedenfalls nicht zum Begriff der Person gehören. Der Begriff der Reflexionsfähigkeit interessiert uns nur deshalb, weil er Identität und freiheitliches Handeln ermöglicht. Die Existenz der kollektiven Person wird nun durch den Umstand ermöglicht, daß der einzelne Mensch nicht isoliert lebt - dieser würde dann vermutlich noch nicht einmal sein Selbstbewußtsein bzw. -verständnis entwickeln -, sondern ein soziales Wesen ist, daß mit anderen in Interaktion tritt. Dies kann in einer Weise geschehen, daß sich zunächst einmal die Kontakte des Menschen mit der Außenwelt um ihn selbst drehen - eine eher analytische Betrachtung. Dann aber tut sich der Mensch auch mit anderen zusammen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, er bildet Gruppen. Diese Gruppen können eher lose und informell (von den normalen regelmäßigen und unregelmäßigen Sozialkontakten bis hin zur strafrechtlichen Mittäterschaft) oder eben formell und dauerhaft angelegt (so schon im klassischen Kegelverein) sein. Die gemeinsame Zielsetzung und Zielverfolgung ist nun das ganz zentrale Element der Kollektivkonstitution. Dementsprechend wichtig sind seine Mechanismen und Konsequenzen, wie sie vor allem von Lampe herausgearbeitet wurden 39 . Auch das Unternehmen ist eine Ausprägung dieser Anlage. Das Anerkennungsverhältnis wird nur dann vollständig und somit richtig beschrieben, wenn man berücksichtigt, daß der Einzelne sich bereits in Betrachtung mit dem Anderen als soziale Person betrachtet und sich dabei auch bereits als Teil einer Gruppe ("wir") thematisiert und im weiteren auch abgrenzt. Hier gehen die freiheitsrechtliche Strafrechtsautoren nicht weit genug. Im Rahmen dieses Prozesses treten nun bestimmte Phänomene auf, die sich empirisch auch in der Sozialpsychologie fassen lassen (wie bereits mehrfach erwähnt). Sie bestehen darin, daß es beim gemeinsamen Handeln in Organisationen, wie auch bereits in den kleinsten Gruppen, den sogenannten Dyaden, zu einer vielfältigen Verstrickung von Einzel- und Gruppeninteressen kommt40 . Der häufigste Fall von bereits in Dyaden herrschenden Interaktionssequenzen ist dabei derjenige 39 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (insbes. 702 ff.). 40 Vgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 385 ff.; auch W Scholl. Grundkonzepte der Organisation, in: H. Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie, S. 426 ff.; mit diesen Aspekten der Kollektivbildung wird auch der Gedanke der Autopoiese (ganz allgemein: Selbstorganisation) in Verbindung gebracht (vgl. zu diesem Begriff nur G. Teubner; Recht als autopoietisches System, S. 21 ff.); auch Lampe. Systemunrecht und Unrechtssysteme. ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (691). erwähnt diesen Begriff, allerdings ohne ihn notwendig seiner Konzeption des Systemunrechts zugrunde zu legen und insofern nur - zumal in Gegenüberstellung zu einem psychoanlaytischen Ansatz - zu erklärenden Zwecken.
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der wechselseitigen Kontingenz, d. h. daß die Beteiligten in der Gruppe sowohl eigene Ziele verfolgen als auch als auf die Reaktionen des Interaktionspartners reagieren41 . In größeren Gruppen, vor allem solchen mit formellen Strukturen, kommt nun hinzu, daß der Handlungsrahmen durch Normen der Organisation und des Verhaltens in einem bestimmten Maße festgelegt ist42 • Die dadurch (regelmäßig) entstehende Konformität ist notwendig, damit die Gruppe überhaupt weiterbestehen kann43 . Im Hinblick auf zu treffende Entscheidungen konnte festgestellt werden, daß Gruppenentscheidungen häufig risikofreudiger sind als Einzelentscheidungen44 . Der einzelne Mensch ist nun bei seinen Überlegungen aber grundsätzlich auch in der Lage, von seinen eigenen Motivationen abstrahierend über das Gruppeninteresse zu reflektieren. Dieses wird von dem Unternehmen vorgegeben45 . Solche Gruppeninteressen werden natürlich ursprünglich von Individuen formuliert, dann jedoch liegen sie in der Organisation vor und sind - je nach konkretem Inhalt - bestimmten bzw. allen Bereichen zugänglich. Nun ist es so, daß Menschen zwei Neigungen aufweisen: zum einen das Akzeptieren von Motiven als Grundlage ihres Handeins innerhalb des Verbandes, die sie außerhalb nicht anwenden würden. Zum anderen lassen sie sich auch um so schlechter motivieren, je weiter eine negative Konsequenz entfernt und ihr Eintritt ungewiß zu sein scheint46 . Sowohl der Eintritt einer negativen Konsequenz an sich als auch seine Wahrscheinlichkeit werden beim Handeln für ein Kollektiv stark relativiert. Die Weigerung einer Selbstzuschreibung oder Verantwortungsübernahme im nachhinein in problematischen Fällen stellt dies unter Beweis. Man kann dies nun erklären - und dies ist die zentrale These dieses Teils der Arbeit -, indem man davon ausgeht, daß der Mensch kollektiv motivierbare psychische Bereiche hat, die mit den individuellen in starker Wechselwirkung stehen und insofern nicht vollkommen von diesen getrennt werden können, aber doch anhand ihres Auftretens und ihrer Wirkungen für sich zu identifizieren sind. Diese Phänomene werden in der Verbandsorganisation verfestigt, nehmen einen nicht mehr rein spontanen Ausdruck an. Der Verband mit seinen aus dem Unternehmensinhalt gespeisten Auf- und Ablauforganisationen bildet einen Rahmen, innerhalb dessen sich die Individuen nunmehr bewegen. Zusätzlich zu einer VerfestiVgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 387. Die Tendenz zur Lösung von Interessenkonflikten ist auch bereits bei Dyaden zu beobachten, vgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 399 f. 43 Vgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 453. 44 Vgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 483 f.: das hat u. a. der Vergleich von Einzelentscheidungen vor Gruppensitzungen und Gruppenentscheidungen gezeigt, ders., a. a. O. m.w.N. 45 Vgl. allgemein zu den Möglichkeiten einer Beeinflussung von Einstellungen durch Kommunikation, wie sie notwendig elementarer Bestandteil eines Verbandes ist: W Herkner; Sozialpsychologie, S. 229 ff., dort auch allgemein zu den psychologischen Erkenntnissen über den Zusammenhang von Einstellungen und Verhalten, S. 211 ff. 46 Dies führt im Extremfall zu einer Deindividuierung, dazu gleich unten im Zusammenhang mit dem Argument der Aufhebung des individuellen Subjekt. 41
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gung kann auch von einer Dynamisierung gesprochen werden, weil das längere Verbleiben als in spontanen Gruppen, die jederzeit verlassen werden können, einen zusätzlichen Effekt hat. Dies ist auch die notwendige Grundlage, damit eine kriminogene Verbandskultur und eine fehlerhafte Organisation überhaupt eine Bedeutung erlangen können. Zugleich ist hier allerdings tatsächlich die Gefahr einer Aufhebung des Individuums angelegt. Gegen eine solche Sichtweise kann zunächst der Vorwurf einer Kategorienverwechslung erhoben werden. Man könnte den Standpunkt vertreten, daß eine Ansammlung von Menschen und Sachmitteln (z. B. in einem Unternehmen) eben eine Ansammlung von Menschen und Sachmitteln und der Begriff des Kollektivs nun eine andere, nämlich übergeordnete Kategorie sei und daher ihre Gleichbehandlung bei der Konstitution der Rechtsordnung einen Fehler darstellt47 . Als Beispiel kann eine Person dienen, der alle Gebäude und Einrichtungen z. B. einer Universität nacheinander gezeigt werden und die sich dann nicht sinnvollerweise hinstellen und fragen kann, wo denn nun die Universität selbst ist. Dies läßt sich auf viele ähnliche Bereiche übertragen. Schwierig wird die Übertragung jedoch in dem Augenblick, in dem man sich auf klar psychisch strukturierte Gesamtheiten bezieht, z. B. auf eine Fußballmannschaft. Dieser Einwand ist - soweit ersichtlich - so ausdrücklich nicht in der strafrechtlichen Literatur erhoben worden. Aber er muß neben dem letztlich darauf aufbauenden Einwand der notwendigen Aufhebung des Subjekts - das zentrale Argument gegen das Kollektivsubjekt sein und wird implizit auch den meisten Einwänden zugrunde liegen. Dieser Einwand kann jedoch dadurch entkräftet werden, daß das Zusammennehmen von Individuen und Sachmitteln nicht das volle Kollektiv abbildet, da hier ja lediglich von dem einzelnen, selbstbestimmten Individuum geredet wird und damit die kollektiv motivierbaren Strukturen des Menschen bei der Betrachtung außen vorgelassen werden. Auf diesem Wege ist die Wirklichkeit im Hinblick auf eine Frage - Konstitution der Rechtsordnung - nicht vollständig erklärt. Anders als bei dem Beispiel der Universität und den Gebäuden und Einrichtungen, z. B. bereits im Hinblick auf die Fußballmannschaft, vernachlässigt man das kollektiv-psychologische Moment. Dieser Schritt kann an dem Beispiel des Sports illustriert werden: Würden dort einzelne wie Gruppen gegeneinander antreten, wäre es keine Kategorienverwechslung, die beiden gegenüber zu stellen. Der Einzelne gegen die Mannschaft. Dies kann auch sprachlich belegt werden, indem man sich vergegenwärtigt, daß wir verfestigte Gruppen besonders ansprechen, lose Gruppen aber auch als solche betrachten können: "Wir haben die Festung genommen" oder "sie haben das Spiel verloren,,48. Es ist nur im Sport nicht sinnvoll, daß Einzelne gegen Gruppen antreten. Wir vergleichen Mannschaften oder einzelne Sportler. Darum ist die Frage nach dem Mannschaftsgeist im Hinblick auf die Mannschaft unsinnig. In der Gesellschaft all47 Eine Darstellung des Argumentes der Kategorienverwechslung findet sich bei G. Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 14 ff. 48 Diesse Beispiel findet sich bei P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt (Individuais), S. 146.
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gemein und im Hinblick auf die Konstitution der Rechtsordnung verhält sich dies jedoch anders. Die kollektiv-psychischen Momente des einzelnen Menschen sind für die Geltung des Rechts und auch zur Erklärung seines Bruches notwendig49. Das Recht wird nicht nur durch das autonome - gerade noch den anderen mit einbeziehenden - Individuum bestimmt und verwirklicht, sondern durch kollektive Momente. Bedingung dafür sind jedoch verfestigte Strukturen wie die eines Verbandes (die wiederum nicht so weitläufig sein dürfen wie die eines Staates; dazu unten)50. Was jedoch zunächst bleibt, ist der Einwand, daß diese Betrachtungsweise zu einer Autbebung des Einzelnen und seiner Verantwortung führen so1l5l. Ausgangspunkt ist somit das jeweilige besondere Bewußtsein der einzelnen Mitglieder im Verband, das sich von ihrem Bewußtsein und ihren jeweiligen Einstellungen zu ihrer Rolle als Individuum (vor allem außerhalb des Berufes) regelmäßig unterscheidet. Dabei gibt es eine Wechselwirkung zwischen den sowohl persönlichen als auch kollektiven Einstellungen der Einzelnen - sowohl für den Einzelnen auch als untereinander, so daß eine Distributivität des so entstandenen kollektiven Bewußtseins nicht mehr möglich ist. Unter dem analytischen Gesichtspunkt kann nun dieser spezielle kollektive Bewußtseinsbereich des Einzelnen auch mit dem psychischen Erlebnis im Begriff der Person festgemacht werden. Dieses wird sich auch in Einzelaspekten als insoweit gleiches bei allen beteiligten Personen eines Kollektivs wiederfinden. Zusammengenommen hat man dann eine diachrone und synchrone Identität, denn in formellen und informellen Kommunikationskanälen des Verbandes sind diese psychischen Erlebnisse als solche des Verbandes (unter Umständen zugleich: der beteiligten Personen) niedergelegt. Noch einmal sei daher betont: Eine zentralisierte Struktur wie die des einzelnen Gehirns ist dafür nicht notwendig. Ein zentrales Argument für die Kollektivstrafe als Strafandrohung in einem Tatbestand ist daher: Durch den individuellen Appell ist den auf ein unternehmerisches Kollektiv bezogenen Normen - wie insbesondere im Kartellrecht - auf kollektiver Ebene keine oder nur ungenügende Geltung zu verschaffen, da der Ein49 Auch die Sozialpsychologie beschreibt die Ausbildung von sozialen Identitäten recht genau, vgl. W Herkner; Sozialpsychologie, S. 490 ff. 50 Es kann gut sein, daß Ryle auch gar nicht für einen Fall wie den vorliegenden den Einwand der Kategorienverwechslung erheben würde, da sich seine Kritik insgesamt auf die Betrachtung des Geistes im Anschluß an Descartes als ,Geist in der Maschine' bezieht und insofern auch bereits die Betrachtung des Geistigen beim einzelnen Menschen betreffen muß, vgl. dazu nur seine Ausführungen, in: ders., Der Begriff des Geistes, S. 17 ff. 51 Diese Gedanken schließt dann auch Strawson an seine Betrachtungen zur ,GruppenSeele' an, wo er ausführt, daß es seines Erachtens nach eine Grundbedingung für Existenz des Begriffes der individuellen Person ist, daß solche Gruppenbetrachtungen nur hin und wieder vorkommen, ders., Einzelding und logisches Subjekt (lndividuals), S. 146. Aber die hier vorgenommenen Betrachtungen führen nicht zu der Ausblendung des Individuums. So sind den auch die Betrachtungen von mehreren Menschen, die ,wie einer' handeln der Extremfall, für den dann (als Einzelsituation) u. U. unter psychologischen Gesichtspunkten auch tatsächlich an einen Schuldausschluss zu denken wäre.
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zeIne sich nicht angesprochen fühlt und auch - und das ist wesentlich - durch diesen Befehl nicht angesprochen fühlen kann! Darum kann das Kollektiv nicht nur, sondern es muß im Zweifel auch selbst Adressat einer strafrechtlichen Norm sein. Dabei handelt es sich um eine echte Adressaten-Eigenschaft, nicht um eine rein praktische, wie man sie noch den jetzigen Normen des GWB unterstellen könnte. Es handelt sich insofern im Kern um ein anthropologisches oder sozial-psychologisches Argument. Zu seiner Verträglichkeit mit einer simultanen Schuld von Kollektiv und Individuum wird sogleich Stellung zu beziehen sein52 . Diese Schlußfolgerung gilt nun in beide Richtungen. Ohne expliziten Rückgriff auf eine freiheitsgesetzliche Position muß man darauf hinweisen, daß der Geltungsanspruch einer Norm, die sich zwar aufgrund ihres Wortlautes an ein Kollektiv bzw. Unternehmen (GWB!) wendet, aber als Sanktion nur Individualstrafe vorsieht, unterminiert wird. Ein Auseinanderfallen von Normbefehl und Strafbewährung ist also nicht akzeptabel. Auf den Ursprung der Sanktion und der Sekundärrechtsordnung in einem Wirksamkeitsdefizit braucht hier nicht noch einmal eingegangen werden 53 . Dies stellt auch den entscheidenden Einwand gegen den Ansatz von Schroth dar, der ja den Normbefehl von der Sanktionsandrohung analytisch trennen will 54. Auf diese Weise wird eine normative Verschränkung der beiden Tatbestandsebenen übergangen und es zeigt sich, daß eine Trennung eben nur analytisch möglich ist. Zusammenfassend läßt sich die Konstitution der Rechtsordnung durch Individuen und Kollektive folgendermaßen darstellen: Während der einzelne Mensch über seine physischen Voraussetzungen (Gehirn) über Erlebnisse und deren Erinnerung zu einem Selbstbewußtsein, zu einer Identität und schließlich zu einer Geltungsreflektion gelangt, sind es beim Kollektiv die physischen Voraussetzungen der Mitglieder und ihre psychischen Leistungen, die sonstigen organisatorischen materialen Gegebenheiten und die Kommunikation innerhalb der Organisation, die eine nicht distributive Struktur bilden und damit eine Person mit eigener Identität. Zentrales Element ist die Schnittmenge der kollektiven Einstellungen der Mitglieder. Wahrend im ersten Fall die Fähigkeit zur Freiheit und damit zur gegenseitigen Anerkennung und Konstitution des Rechts aus den (zumindest überwiegend) mentalen Erlebnissen (Fähigkeiten) des Einzelnen resultiert, ergibt sich dies im zweiten Fall aus aglomerierten mentalen Schnittmengen der kollektiven Bewußtseinsebene der Einzelnen. Dieser Prozeß der Aglomeration wurde bereits beschrieben. Die Unterschiede zwischen den beiden Konstituenten braucht man daher nicht für sich alleine herauszustellen, da sie keine Wirkung mehr als Argument gegen ein Kollektivstrafrecht entfalten können. Die notwendigen Bedingungen für die Rolle als V gl. unten § 11 I. 3. C. Es sei nur nochmals hingewiesen auf die Ausführungen von O. Höjfe, Politische Gerechtigkeit, S. 407 ff. 54 Vgl. nochmals U. Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, S. 13 ff. 52 53
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Konstituent erfüllt das Kollektiv. Ob es in genügendem Maße auch von der Öffentlichkeit identifiziert werden kann 55 , ist eine Frage, die im Zusammenhang mit der Untersuchung der als strafrechtliche Kollektive in Frage kommenden Verbände zu beantworten ist. Denn jedenfalls sind wir in der Lage, z. B. die Deutsche Bank AG zu benennen und können sagen, da und dort ist ihr Firmensitz, dies ist ihr Vorstand und z. B. diese Immobilien gehören ihr usw. Diese rechtlich orientierte Sicht ist dann u. U. noch um eine tatsächliche zu ergänzen, indem z. B. festgestellt wird, daß aufgrund personeller Verflechtungen auch die und die Firma mit von den kollektiven Mechanismen eines Verbandes erfaßt wurde. Das ist für den Moment ausreichend. c) Konsequenzen: die Möglichkeit einer Schuldverstrickung des Kollektivs Die These, daß ein Kollektiv über ein Vernunftpotential und die Fähigkeit zur Geltungsreflektion und damit zur Normverletzung und Verantwortung verfügt, konnte bestätigt werden. Daraus folgt mit der oben vorgenommenen Definition der Schuld an sich schon, daß sich das Kollektiv schuldig machen kann. Mehr erfordert eine strafrechtliche Schuld nicht56 . Schuld war die schuldhafte Tat an sich, welche die Verkehrung der Einstellung des Taters zu einer Unrechtsmaxime und seine Einstellung gegen die Rechtsordnung zeigte - diese dokumentiert in der äußeren empirisch erfaßbaren Tat. Denn der Täter war ursprünglich zu einer freien Handlung in der Lage. Damit war die Tat auch ein Selbstwiderspruch des Täters und ein Hindernis auf dem ihm grundsätzlich offenen Weg zurück in die Gesellschaft. Der Schuldspruch war damit bereits seinerseits Strafe und hatte die Funktionen des Ausgleiches der Verletzung der Rechtsordnung in der einzelnen Straftat, der Bestätigung des Täters als freier Person und damit auch Aufhebung seines Selbstwiderspruches. Auf diesem Wege wird ihm dann zusammen mit der physischen Strafe die Resozialisierung eröffnet. Die Schuldverstrickung ist nun der Verschuldensprozeß 57 . Bis es zu einer Verkehrung der individuellen Einstellungen zu einer Unrechtsmaxime des Kollektivs kommt, werden viele psychische Schnittmengen zwischen den Individuen gebildet. Betriebswirtschaftliehe Aufbau- und Ablauf-Diagramme oder Konzepte zum sogenannten Informations- oder Wissensmanagement können davon ein Bild vermitteln. Die Unrechtsmaximen werden beim Kollektiv in Form der schlechten, weil fehlerhaften Organisation, die Ausdruck einer Gleichgültigkeit ist, und in einer kriminell anfälligen Unternehmenskultur ausgedrückt. Die Entstehung solcher Un55 Strawson weist zu Recht darauf hin, daß es nicht viel Sinn macht, von einem Subjekt an sich zu reden, wenn wir nicht in der Lage sind, dieses (letztlich vor allem mit der Sprache) zu identifizieren, vgl. ders., Einzelding und logisches Subjekt (Individuals), S. 147. 56 Vgl. dazu oben § 10 III. und V. 57 Vgl. dazu nur M. Köhler, AT, S. 361 ff.
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rechtsmaximen ist an eine Verbandsstruktur gekoppelt. Sie sind nicht mit einem individualistischen Ansatz erklärbar. Ihre Manifestation findet die Schuld wie beim Individualdelikt in einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung außerhalb des Verbandes. Insofern ist keine volldeliktische Tat eines einzelnen Individuums notwendig, sondern nur ein Gesamttatbild durch Zusammennehmen der einzelner Beiträge - ganz in Fortführung der mittäterschaftlichen Dogmatik58 . Der Kreis der Individuen, deren - nicht notwendig für sich genommen tatbestandlichen - Handlungen dies repräsentieren können, muß sich nach deren tatsächlicher Funktion im Kollektiv, näher im Verband und gegebenenfalls Unternehmen richten 59 . Empirische Bezugspunkte der Kollektivschuld sind dabei eben die Verbandskultur und die Verbandsorganisation, die eine entsprechende Fehlerhaftigkeit aufweisen müssen. Hier kann vor allem auf die Maßstäbe der fehlerhaften Organisation zurückgegriffen werden 60. Die kriminelle Verbandskultur kann nur wertend anhand der konkreten Situation im Einzelfall und vor allem den informellen Strukturen des Unternehmens ermittelt werden. Der entscheidende Unterschied zu einer objektiven (ungenügenden) Verbandsschuld ist hier nun, daß die vorgelegte Schuld auf ein echtes Kollektivsubjekt zurückgeführt werden konnte, daß aktiv an der Konstitution der Rechtsordnung teilnimmt. Mit dieser Formulierung der Schuld ist allerdings noch nicht der Einwand aus dem Weg geräumt, daß es zu einer Entlastung oder gar Auslöschung des Individuums durch das Kollektiv durch die Anerkennung der Kollektivstrafe kommt. Die Erkenntnis der kollektiv gebildeten Unrechtsmaximen, die zunächst von Lampe formuliert wurde, entzieht jedoch zumindest dem pauschalen Argument den Boden, es müsse durch die Anerkennung einer Verbandsstrafe zu negativen dogmatischen Rückkoppelungen auf das Individualstrafrecht kommen. Hier wird der Gesamtzusammenhang und der spezielle Kontext nicht gesehen oder nicht entsprechend berücksichtigt: die spezifische Differenz, die sich nicht in einer plumpen Konstruktion von Hypersubjekten erschöpft, verhindert Rückschlüsse auf das Individualstrafrecht. Als zentraler Einwand gegen eine Kollektivperson und ihre Rechtskonstitutionsund Verantwortungsfähigkeit bleibt also noch das Argument, daß eine solche Ver58 Daher gehen die Ausführungen bei z. B. A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 235 ff., insbes. S. 239, fehl (vor allem zu einem konkreten Tatbestand). 59 So auch z. B. zu Recht A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 227 ff. im Hinblick auf ein notwendiges Anknüpfen an das Unternehmen im Gegensatz zum Unternehmensträger und unter Hinweis auf die gängige Praxis in dieser Richtung in den USA und auch im EURecht, S. 222 m. w. N.; sie verkennt dabei allerdings, daß es zur eigentlichen Begründung primär auf den Verband und erst in zweiter Linie auf das Unternehmen ankommt. 60 Vgl. dazu z. B. G. Heine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 271 ff., der auf ein fehlerhaftes Risikomanagement abheben will; hier sind sicher viele Konstellationen denkbar; vgl. auch ders., Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 121 ff. (137 ff.); ein kritischer Überblick findet sich bei G. Spindler; Zivilrechtliche Verantwortlichkeit statt Unternehmensstrafbarkeit?, a. a. 0., S. 77 ff. (106 ff.).
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haltensweise dazu führen muß, das Individuum als freie, selbstbestimmte Person zu verabschieden, weil seine Freiheit nicht widerspruchslos mit der des Kollektivs zusammen gedacht werden kann - als Extremform wird dabei auf die Ansätze der Systemtheorie verwiesen 61 • Wenn man eine auf Selbstbewußtsein ruhende Identität und eine Fähigkeit zur Geltungsreflektion und damit Maximenverkehrung beim Individuum annimmt, dann soll nach dieser Ansicht die Existenz eines Kollektivs, das im Bezug auf das Individuum konstituiert ist, das Individuum selbst in Frage stellen. Oder aber es führt zu dessen Entlastung im Bereich der Verantwortung für faktisch auf es zurückführbare Handlungen62 . Zunächst sind Formen von Deindividuierungen in der Sozialpsychologie durchaus belegt63 . Keine Probleme scheinen hier diejenigen Fällen aufzuwerfen, bei denen von einer organisierten Unverantwortlichkeit gesprochen wird (so z. B. die Konstellationen von denen Heine für das Umweltstrafrecht ausgeht). Eine einzelne Person, bei der Schuld für Handlungen festzumachen ist, gibt es typischerweise gar nicht. Es hat hier eine Kette von in sich nicht kritisierbaren Einzelhandlungen stattgefunden, die aber bei entsprechender kollektiver Orientierung hätten vermieden werden können, insbesondere durch vorausgreifende Informationsflußsicherung. Nur dies sind ohnehin die für eine Verbandsstrafe nur im Rahmen einer funktionalistischen Argumentation attraktiveren Fallkonstellationen. Es verbleiben diejenigen Konstellationen, in denen auf hoher Ebene eine Gruppe von Personen zusammenwirkt - also der typische Fall (gerade im Kartellrecht), in dem man die Hoffnung haben könnte, doch noch individuelle Verantwortung zuzurechnen. Betont man eine Schicht des kollektiven Bewußtseins, scheint das Individuum entlastet, weil es ja nur für seine individual-orientierte Bewußtseinsebene verantwortlich sein kann. Das ist aber gerade nicht der Fall. Der Einzelne ist für seine Motivationen und Handlungen natürlich verantwortlich, weil sie auch Teil seiner personellen Identität sind. Im Idealzustand einer funktionierenden Anerkennung in der Rechtsordnung erkennen sich nicht nur die Einzelnen gegenseitig als Gleiche und respektieren sich und die Freiheit der jeweils Anderen, sondern sie sehen auch ihren Beitrag zu den Gruppen, in die sie integriert sind, also auch zu den Kollektiven, die tatsächlich Strafrechtssubjekte und damit auch Adressaten der Ge- und Verbote des Strafrechts sind. Da sich alle des Umstandes bewußt sind bzw. sein können, daß sowohl ihre individuelle Rolle als auch die Rolle innerhalb der Gruppen von Bedeutung ist, und sie diese verantwortungsbewußt ausfüllen, kommt es zu keiner Straftat von irgendeiner Seite. Daß keine Straftat von der Seite der Kollektive begangen wird, erklärt sich daraus, daß sich keine ungünstigen psychischen Schnittmengen oder 61 Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 132 ff. auch bereits unter Hinweis auf die Arbeiten von N. v. Hartmann. 62 Vgl. ausführlich F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 18 f., 125 ff., insbes. 162 ff.; wohl auch M. Köhler, AT, S. 562. 63 Vgl. dazu W Herkner, Sozialpsychologie, S. 486 ff., auch mit kritischen Relativierungen.
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Beziehungen gebildet haben, die ihren Ausdruck in einer kriminell anfälligen Verbandskultur oder schlechten Organisation gefunden haben. Die Einzelnen waren sich auch gerade der Rolle der Gruppe bewußt und haben auf deren Bestimmung und Ausübung Einfluß ausgeübt. Aber die Situation kann sich eben auch anders darstellen. Durch das ,Zusammen-tätig-werden', finden nun bestimmte Modifikationen in den Einstellungen von Einzelnen statt, die sich auf die Gruppe beziehen und die Art und Weise wie diese ihre Rolle ausfüllen sollte. Das wird sich regelmäßig auch auf die eigene Rolle innerhalb der Gruppe beziehen. Diese Modifikationen finden nun in mehrfacher bzw. vielfacher Rückkoppelung im Rahmen der Kommunikation statt. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Vernunft erwarten wir vom Einzelnen, daß er dies bis zu einem gewissen Maß erkennt und Aktivitäten dagegen entwickelt. Dies geschieht in zweierlei Richtung: zunächst im Hinblick auf sein eigenes konkretes Verhalten, dann aber auch im Hinblick auf die Tätigkeit der Gruppe als Ganzes. Dies ist bereits Bestandteil des Gedankens der Freiheit. Wenn er beides befriedigend tut, wird ihm kein Vorwurf gemacht. Dieser Gedanke ist nach hiesiger Ansicht auch im etablierten Strafrecht der Tatmehrheit im Hinblick auf die Möglichkeit eines Rücktritt von der Tat grundlegend64 : Ein solcher ist - solange die Tat nicht vollkommen verhindert wird - gern. § 24 Abs. 2 S. 2 StGB grundsätzlich nur möglich, wenn der eigene Tatbeitrag noch aktiv neutralisiert wird oder keine Wirkung mehr entfaltet - reine Bemühungen reichen nicht mehr aus. Ein einfacher Hinweis auf das Erfolgsunrecht würde die Sache sehr - und zu Unrecht - simplifizieren. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Gruppe oder das Kollektiv nicht dennoch eine Straftat begeht oder das dieses Ergebnis Bedingung dafür wäre, daß der Einzelne entlastet ist. Und wenn er seinen Beitrag geleistet hat, bedeutet daß auch noch nicht, daß seine ursprünglichen Beiträge psychisch nicht mehr fortwirken. Die Psyche eines Kollektives speist sich nicht nur über die aktuellen Einstellungen der Mitglieder, sondern auch über vergangene und kann diese in großem Maße aktualisieren. Damit ist der Einzelne zwar aus dem Prozeß ausgeschieden, aber das Netz aus psychischen Beiträgen besteht fort - ein Netz, das sich nicht in seine Einzelbeiträge einfach auflösen ließe, wie erinnert sein mag. Dies wird im Rahmen der Mittäterschaft auch alles thematisiert. Nur die dogmatischen Konzepte wie die des Rücktritts greifen nicht mehr. Der Einzelne muß früher aus seiner Verantwortung entlassen werden als das Kollektiv - das führt aber keineswegs zu seiner Aufhebung oder auch nur zu einer Eingrenzung über das hinaus, was bereits heute als Grenze der individuellen Verantwortung gesehen wird. Es wird nur eine Dimension erfaßt, die bisher einen blinden Fleck in der strafrechtlichen Sicht bildete. Wenn man jedoch sieht, daß der Einzelne durchaus nicht alles getan hat, was er dank rationaler Einsicht hätte tun können, dann ist er natürlich verantwortlich. Das führt jedoch nicht zu einem Widerspruch zu einer Kollektivverantwortung: Die 64
Vgl. dazu nur Schönke / Schröder / Eser; 26. Auflage, § 24 Rn. 73 ff.
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psychischen Beiträge und die kommunikativen Mechanismen, die diese aufgegriffen und modifiziert - verstärkt oder abgeschwächt - haben, würden auch dann nicht erfaßt, wenn beim Handeln einer fünfköpfigen Gruppe für ein Kollektiv alle fünf verurteilt würden, da man ihnen die volle eigenständige Verwirklichung eines Straftatbestandes nachweisen kann. Dabei muß im Zweifel ohnehin schon auf mittäterschaftliche Gedanken zurück gegriffen werden. Aber die kollektiven Effekte werden immer nur in ihrem Bezug zum Einzelnen gesehen, nicht in ihrer zusammenhängen Gestalt in Zusammennahme mit dem dahinter liegenden und dies ermöglichenden und stützenden Verband. Man kann zusammenfassend sagen, daß die kollektiven Effekte einer Gruppe bereits im Rahmen von Kleinstgruppen früh auftreten und für soziale Interaktion sogar grundlegend sind. Sie finden sich verstärkt in formellen größeren Gruppen wie z. B. Unternehmen wieder, führen aber nicht notwendig in die Aufhebung individueller Verantwortung wie sie in der Sozialpsychologie unter dem Stichwort der Deindividuierung beschrieben und diskutiert wird. Dieses Phänomen liegt erst am Ende der Skala von kollektiven Phänomenen, die ihre Erklärung in der Motivation von kollektiven psychischen Bereichen der einzelnen Individuen haben. Die ,normale' Delinquenz eines Verbandes und die dem zugrunde liegenden inneren Prozesse bewegen sich in der Regel weit davor. Schließlich muß natürlich an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, daß das Strafrecht selbst in den extremen Fällen nur widerwillig einen Verantwortungsausschluss anerkennt, obwohl die dort zugrunde liegenden, recht präzise analysierten Fälle einen solchen nahelegen 65 . Damit ist es möglich, die bei den Dimensionen der Kollektivstraftat - soziale Macht und Abhängigkeitsstrukturen und spezifisches Verbandsunrecht - in Dekkung mit dem Verständnis der Schuld als schuldhafte Tat zu bringen. Die schuldhafte Tat ist vorwerfbar und muß die Strafe zur Reaktion haben. Es wurde in diesem Zusammenhang schon (mehrfach) betont, daß das Strafrecht auch unter Einbeziehung der Kollektivstrafe nur einheitlich begriffen werden kann und darf, will es sich nicht selbst aushöhlen und aufgeben - was jedoch keineswegs heißen muß, daß dies auf eine "Gleichmacherei" hinausliefe. Es bestehen spezifische Differenzen zwischen Individual- und Kollektivstraftat und ebenso zwischen den jeweiligen strafenden Reaktionen. Aber diese müssen in eine Gemeinsamkeit gesetzt werden, die im Schuldbegriff gesucht und gefunden werden kann. Dies wird nun im folgenden versucht. Die konkrete Tat aus dem Unternehmensbereich steht im gesellschaftlichen Raum und kann nicht akzeptiert werden. Sie ist aber nicht das Produkt einer individuellen Verantwortung, sondern der kollektiven Verantwortung eines Verbandes, der besondere, von den sozialen Möglichkeiten des Menschen ausgehende Macht-, Verantwortungs- und Kausalitätsnetze bildet. Diese kollektive Dimension kann nicht mehr auf den Einzelnen zurückgeführt werden, spiegelt aber menschliches Zusammenwirken wieder. Dies kann von der Rechtsgemeinschaft, in welcher das 65
Vgl. dazu nochmals W. Herkner; Sozialpsychologie, S. 487 f.
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Kollektiv sich nicht nur als juristische Person (überspitzt gesprochen: als Fiktion) bewegt, nicht akzeptiert werden. Darum muß auch hier eine Strafe folgen und zwar gegen das Subjekt, dessen psychische wie soziale Strukturen die Tat ermöglicht haben. Es würde also die Rolle des Kollektivs bei der Konstitution der Rechtsordnung verfehlen, wenn man die Bestrafung auf besonders strafwürdige und strafbedürftige Fälle über das normale, mit den Mitteln des materiellen Straftatbegriffs zu erzielende Maß hinaus beschränkte66 . Wenn man dies alles in eine systematische Ordnung im Hinblick auf die strafrechtliche Schuldidee67 bringen will, muß man im Ergebnis von einer spezifischen Individualschuld und einer spezifischen Kollektivschuld sprechen. Die Differenz liegt offensichtlich im Verschuldensprozeß. Dieser kann Inhalt der strafrechtliche Schuldidee werden, die den gemeinsamen Oberbegriff bildet, der Individualschuld und Kollektivschuld umgreifen soll. d) Die Handlungsfähigkeit des Kollektivs Gegen die Handlungsfähigkeit von Verbänden wird heute kaum noch etwas eingewandt68 . Das ist allerdings wohl eher Konsequenz einer entweder naturalistischorganologischen oder funktionalistische Sicht. Richtig ist jedenfalls, und das wurde oben bereits betont, daß der scheinbar naturalistische und neutrale Begriff der Handlungsfähigkeit sich wesentlich eher dazu eignet, analog übertragen zu werden als dies für den Begriff der Schuld möglich ist. Nachdem aber auch die Möglichkeit einer Schuldverstrickung des Kollektivs nachgewiesen werden konnte, scheint die Handlungsfähigkeit erst recht keine große Hürde mehr zu sein. Das hat jedoch andere Gründe, als sie von den Verfechtem einer Verbandsstrafe identifiziert werden. Namentlich Roxin lehnt eine Strafbarkeit juristischer Personen ab, weil es seiner Meinung nach gerade an der Handlungsfähigkeit fehlt. Sein Argument: Juristischen Personen fehle es an eigener psychisch-geistiger Substanz, sie äußerten sich nur durch Organe, die dann mit Wirkung für sie handelten. Von einer - notwendigen - Persönlichkeitsäußerung des Verbandes könne daher nicht die Rede sein69 . Der Grund für seine Ablehnung ist nun unschwer in seinem spezifischen Handlungsbegriff ausgemacht, der bereits finale, soziale und letztlich auch am Gedan66 So aber z. B. G. Dannecker, Zur Notwendigkeit der Einführung kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Verbände. Überlegungen zu den Anforderungen und zur Ausgestaltung eines Verbandsstrafrechts, GA 2001, S. 101 ff. (120). 67 Vgl. dazu ausführlich oben § 10 11.3. und 4, III. 1. 68 Vgl. aus der älteren Literatur nur R. Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 181 ff., der hier ein maßgebliches Gegenargument sieht; aus der neueren Literatur nur F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 88 ff., 90, 100, auch m. w. N. 69 Vgl. C. Roxin, AT, § 8 Rn. 58 ff.; in die gleiche Richtung gehen auch die Ausführungen bei Jescheck/Weigend, AT, S. 227 ff.
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ken der Freiheit des Willens orientierte Elemente aufnimmt - auch wenn das Roxin seinerseits für das letztere Element so kaum behaupten würde 7o . Er muß als Fortentwicklung der überkommenden Handlungsbegriffe verstanden werden. Roxin kann zunächst entgegen gehalten werden, daß ja nicht der Ausgangspunkt die juristische Person ist, sondern das Kollektiv als Verband. Damit dürfte das hier entwickelte Verständnis des Kollektivs sich sogar mit Roxins Handlungsbegriff vertragen. Das Kollektiv verfügt erstens über psychisch-geistige Substanz, nämlich die seiner Mitglieder, insbesondere als Organe; und zweitens zeigt die Differenz zum Handeln von Leuten außerhalb des Unternehmens, z. B. eines Kommissionärs oder Handelsvertreters, daß es eindeutig fremdes Handeln auch für einen Verband gibt. Erkennt man die empirische Realität des Verbandes an, führt auch kein Weg daran vorbei, im Strafrecht ebenso ein eigenes Handeln anzuerkennen. Dieses kollekti ve Handeln ist durch seine Referenz auf den Verbandszweck spezifisch71. Letztlich lösen sich die genannten Probleme an dieser Stelle aber aus ganz anderem Grunde auf. Geht man nämlich von einem richtig normativ konzipierten Handlungsbegriff des Strafrechts aus, fügen sich die Erkenntnisse zum Kollektiv ohnehin ohne Schwierigkeiten in das Bild ein. Einen solchen normativen (konstituierten) Handlungsbegriff hat Schild entwickelt72 • Das Strafrecht hat - so stellt er fest - in dem heute häufig gebrauchten Sinn keinen Handlungsbegriff, sondern nur eine Handlungslehre, deren Aufgabe es als erster Prüfungsschritt im Schema der Straftataufbaus lediglich ist, bestimmtes Verhalten von Menschen aus der Strafrechtlichen Perspektive zu nehmen - ganz im Sinne der überkommenen kausalen Handlungslehre 73. Der Handlungsbegriff ist letztlich der Straftatbegriff in seinen analytischen Abstufungen (der Handlung als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte). Im Ergebnis wird dies von der überwiegenden Zahl der Autoren in der Strafrechtswissenschaft zwar ebenfalls erreicht, jedoch ohne ein entsprechendes dogmatisches Ausweisen. Ergänzt werden muß dieses Ergebnis noch durch eine Dimension, die Schild in seiner Auseinandersetzung mit der TatherrschaftsLehre von Roxin herausgearbeitet hat. Darauf wurde bereits in § 10 ausführlicher eingegangen. Dabei wird die Tatherrschaft als ausschlaggebendes Kriterium für die positive Bestimmung einer Tatbestandshandlung identifiziert. Als solche hat sie zum Inhalt, nach sozialen Aspekten (soziale Macht und Handlungsherrschaft) 70 Vgl. dazu nur seine Stellungnahme zum Problem der Willensfreiheit im Strafrecht, AT, § 19 Rn. 36 ff. 71 Insofern kann die Betonung der Betonung des Verbandszwecks durch Lampe nur unterstrichen werden, Systemunrecht und Unrechtssysteme, vgl. ders., ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (694 f., 707 ff., 728 ff.). 72 Vgl. dazu vor allem W. Schild, Strafrechtsdogmatik ohne Handlungsbegriff, GA 1995, S. 101 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, Berlin u. a. 1994; ders. auch in: AK-StGB, vor § 13 Rn. 13,73 ff., insbes. 89 ff., Rn. 95 mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen normativer Konstitution und Konstruktion. 73 Vgl. zum Handlungsbegriff, seiner Entwicklung und dem Stand der Dogmatik nur zusammenfassend: Jescheck/Weigend, AT, S. 217 ff.; C. Roxin, AT, § 8, insbes. Rn. 7 ff., jeweils m. w. N.
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die Zurechnung von Handlung zu bestimmen, was auch für das Individualstrafrecht konsequent und notwendig ist. Damit hat die Handlungslehre zwei Aufgaben, eine eingrenzende und eine erweiternde: Im klassischen, kausalen Sinne grenzt sie bestimmte menschliche ,Aktionen' aus und im tatherrschaftlichen Sinne bezieht sie weitere ,Aktionen', die von anderen Menschen als dem unmittelbar ,Handelnden' ausgehen, in dessen zu bestimmende Handlung mit ein. Eine so bestimmte Handlungslehre verträgt sich nun auch sehr gut mit dem Verständnis von für den Verband handelnden Organen. Richtig ist zwar, daß ein Kollektiv nicht in einem offensichtlichen Sinne selbst handeln kann, weil es keine offensichtlich durchgängig nach außen abgegrenzte Erscheinung wie ein einzelner Mensch bzw. jedes Individuum verfügt. Zwangsläufig handeln Mitglieder für es bzw. aus seinem Verband hinaus. Sie handeln dann als Organe, und diese Handlung wird namentlich im Zivilrecht nicht als eine fremde verstanden, sondern als eine des Kollektivs. Das dies an dieser Stelle auch für das Strafrecht konsequent ist, ergibt sich aus den Ausführungen zur Konstitution des Kollektivs und dessen Schuldfähigkeit. Die Gedanken der Tatherrschaftslehre, die sich mit den Auswirkungen sozialer Macht befassen sind bereits in die Erklärung des Kollektivs mit eingeflossen. Und der eingrenzende Aspekt einer (beschriebenen) normativen Handlungslehre hat hier lediglich einen erweiterten Inhalt: Es müssen auf dieser Ebene auch die Handlungen von Kollektivmitgliedern, die nicht Ausdruck seines Selbst sind, ausgeschlossen werden. Das sind vor allem Exzesstaten, aber auch Taten für das Unternehmen, die trotz intensiver eigener Präventionsbemühungen des Unternehmens geschehen sind. Inwieweit eine solche Exzesstat anzunehmen ist, erklärt sich wiederum unter Referenz auf den Verbandszweck, also die Unternehmensziele bzw. Unternehmenskultur. Daher ist die Konzeption von Lampe, der ja auf das Systemunrecht als Unrechtszustand und außerdem nur auf den Unrechtserfolg abstellen will74 , im Ergebnis richtig, verkennt allerdings, daß er damit den strafrechtlichen Handlungsbegriff nicht aufgegeben hat. Zuletzt sei zum Aspekt der Handlungsfahigkeit des Kollektivs noch angemerkt, daß die hier vorgestellte Sicht keine distanzierte System-externe Sicht ist, wie sie ein Systemtheoretiker wie z. B. Jakobs einnimmt75 . Sie ist vielmehr ein Ergebnis gerade der inner-gesellschaftlichen Sicht auf die Dinge. Für jeden innerhalb des Systems stellt sich das Handeln eines Verbandes bzw. Kollektivs (so wie es bereits bestimmt wurde und weiter unten, III., noch weiter zu präzisieren ist) als tatsächlich eigenes Handeln dar, das zwar (überwiegend) auf menschlichen Beiträgen beruht, jedoch dieses unauflösbare Geflecht von eben diesen Beiträgen darstellt, die es von einer (einfachen) menschlichen Handlung qualitativ unterscheiden. 74 Vgl. E.-J. Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme, ZStW 106 (1994), S. 683 ff. (703 ff.); diesem ausdrücklich zustimmend G. Dannecker; Zur Notwendigkeit der Einführung kriminalrechtlicher Sanktionen gegen Verbände. Überlegungen zu den Anforderungen und zur Ausgestaltung eines Verbandsstrafrechts, GA 2001, S. 101 ff. (111). 75 Vgl. zu einer Kritik an dieser Sichtweise W. Schild, Strafrechtsdogmatik ohne Handlungsbegriff, GA 1995, S. 101 (119 f.).
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11. Zusammenfassende Kritik der verschiedenen Ansätze eines Kollektivstrafrechts
Zusammenfassend kann für die Mehrzahl der Verfechter einer Verbandsstrafe festgestellt werden, daß sie die richtige Richtung eingeschlagen haben. Es wird versucht, aus dem Zusammenspiel von individuellen Mitgliedern und Kollektiv die Voraussetzungen für ein Strafsubjekt herauszulesen. Das führt dann auch größtenteils zu pragmatisch mehr oder weniger überzeugenden - im Übrigen auch nicht großartig variierenden - Lösungen für die einzelnen Problemfelder. Regelmäßig wird dabei jedoch das Zusammenspiel von Verband, Unternehmen und juristischer Person verfehlt, was zu ersten notwendigen Fehlern führen muß. Allen Lösungsansätzen muß jedoch vor allem aufgrund der hier begründeten Fundierung des Strafrechts entgegen gehalten werden, daß sie die dogmatischen Wurzeln des Strafrechts verfehlen; und das nicht nur im Hinblick auf den Ausgangspunkt vom Individualstrafrecht - was für sie eindeutig zu Erleichterungen führt - sondern eben dann auch im Kollektivstrafrecht. Dabei wird zwar auf die kriminologischen und auch weiteren sozial-psychologischen Erkenntnisse referiert, aber versäumt, diese in Beziehung zum Moment der Konstitution der Rechtsordnung zu setzen. Ebenso wie dies im Individualstrafrecht dann nur zu oberflächlich plausiblen Lösungen führt, verhält es sich im Kollektivstrafrecht. Letztlich führt die Integration des Kollektivsubjektes in die Konstitution der Rechtsordnung gerade zu einer Stärkung der freiheits gesetzlichen Dogmatik vom Strafrecht - auch wenn diesen Standpunkt ein Großteil der Vertreter dieser Lehre nicht teilen werden. Unter dem hier entwickelten Blickwinkel kommt der Ansatz von Lampe einer wirklichen Begründung von Kollektivstrafe noch am Nächsten. Einfache Zurechnungsmodelle brauchen hier nicht behandelt zu werden, da ihre Mangelhaftigkeit bereits aus der im Ansatz verfehlten Zurechnung fremder Schuld resultiert. 1. Funktionalistische Herangehensweisen
Rein funktionalistische Herangehensweisen kommen naturgemäß von denjenigen, die nur an Struktur und Funktion im Sinne der Systemtheorie orientiert sind und daher nicht nur den (gerechtfertigten) deskriptiven Gehalt von dieser übernehmen, sondern auch einen legitimatorischen Anspruch anmelden. Stichwort ist hier das Kriterium Schuld als ,Zuständigkeit' im Rahmen einer Rechtsgutsverletzung 76 • Hier ist Jakobs der Wegbereiter77 • Entscheidender Haupteinwand gegen Konzeptionen, die auf diesem dogmatischen Fundament ruhen, ist der Umstand, 76 Vgl. dazu G. Jakobs, AT, 17. Abschn. Rn. I ff.; ders., Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl., Berlin 1999; in naher Verwandschaft zu Jakobs auch sein Schüler M. Pawlick, der allerdings ein ausführlich dargelegtes rechtsphilosophisches Fundament bemüht, vgl. ders., Betrug, S. 38 ff., zum Verhältnis zu Jakobs S. 61 ff. 77 Vgl. dazu dessen Ausführungen, AT, 6. Abschn. Rn. 43 ff.
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daß das dogmatische Fundament nicht trägt. Es vernachlässigt genau die freiheitsgesetzlichen Grundlagen, die Recht und Strafrecht erst begründen können. Daher kann eine in sich schlüssige Kollektivstrafbegründung aus dieser Richtung nicht genügen. 2. Organologische Standpunkte
Die namentlich von v. Gierke 78 mit geprägten organologischen Standpunkte, die das Kollektiv einer zum Mensch analogen Betrachtungsweise unterziehen, bewegen sich zwar in der Sache in die richtige Richtung, doch hält ihre analoge Betrachtung sie davon ab, den Begründungen einer Kollektivperson wirklich auf den Grund zu gehen. Damit bleiben auch Ansätze eines Kollektivgeistes wie z. B. bei Husserls zu schwach. In die Kategorie der organologischen Betrachtungsweisen fallen auch die Konzeptionen von Hirsch und Ehrhardt. Zwar führen sie aus, daß es sich bei der Handlungs-, Schuld- und Straffähigkeit der Kollektive nicht um ,natürliche' handeln so1l79, sondern um solche, die nur durch Sachverhalte bei den Individuen als den Organen, vorliegen. Die Betonung der Organhandlungen als gleichzeitig solche des Kollektivs läuft aber notwendig auf eine organologische Betrachtung hinaus, wenn dieser Standpunkt auch nicht objektive Zurechnung betreiben möchte. Aus diesem Zirkel kann eben nur entkommen, wer die Prozesse innerhalb des Kollektivs tiefer in die Begründung mit einbezieht als von diesem Standpunkt aus geschieht. Die kriminologischen Erkenntnisse werden überwiegend unter dem kriminalpolitischen Aspekt betrachtet und ansonsten bestenfalls oberflächlich in die Begründung des Kollektivstrafrechts - Unternehmensstrafrecht in dort verwandter Begrifflichkeit - einbezogen8o .
3. Unmöglichkeit eines Kollektivstrafrechts als zweiter Spur
Lehnt man rein funktionalistische, inhaltsleere Begründungszirkel ab und will sich aber auch nicht organologischen Betrachtungsweisen anschließen, weil sie auf ein nicht durchführbares Analogieprogramm setzten, dann ist es naheliegend, eine sogenannte ,zweite Spur' für das Kollektivstrafrecht zu propagieren. Ein Einpassen in das Individualstrafrecht wird als unmöglich abgelehnt, eine wirkliche Begründung aber dennoch gesucht. Dazu wird auf eigene Phänomene des Verbandes gesetzt und diese Spezifika zur Kategorienbildung eigener Art herangezogen. Hier liegt die Idee unter anderem in der Auffassung des Kollektivs als schuldlosem Sub78 Zu v. Gierke vgl. nur die Nachw. oben § 11 I. 3.; vgl. auch F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 127 ff. mit weiteren Nachweisen auch zu Ansätzen der Begründung einer Kollektivperson bei Husserls und Seheler. 79 Vgl. nur ausdrücklich bei A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz. S. 176, 186, 200 ff. 80 Vgl. nur A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 142 ff., 192 ff.
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jekt, da die Kategorie der Schuld ja von diesen Ansichten als nicht übertragbar herausgestellt wird. In diese Richtung zielen u. a. die Arbeiten von Schünemann und Alwart, letztlich aber auch - entgegen seiner Intention - von Heine. Die Unmöglichkeit, auf eine persönliche Schuld zu verzichten, wurde nun bereits begründet und mehrfach betont. Die Unmöglichkeit in diesem konkreten Fall auf eine eigene Schuld zu verzichten hat folgenden Grund: Eine solche Konzeption setzt voraus, das auch ein Schuldstrafrecht für Kollektive existiert, was ein Widerspruch ist, da etwas nicht gleichzeitig der Fall und nicht der Fall sein kann. Aber auch die Konzeption einer eigenen Verbandsschuld - wie sie z. B. Heine anstrebt - fällt dem gleichen Einwand zum Opfer, solange sie über objektive Zusammenhänge nicht hinauskommt, da Schuld zwar in der Tat selbst liegen mag, aber eben doch auf einer persönlich-geistigen Grundannahme basiert. Diese wird aber nur ernst genommen, wenn man die Rolle des Kollektivs bei der Konstitution der Rechtsordnung im Verhältnis zum menschlichen Individualperson thematisiert. Solange dies nicht passiert, sind alle - ansonsten vollkommen berechtigten - Verweise auf einen kollektiven Verantwortungsüberschuß oder eine kriminelle Verbandskultur hinfällig. Sie bleiben Fremdkörper und damit die Schuld eine rein objektive. Der Grund mag regelmäßig darin liegen, daß der Blick auf die komplexe Organisation die besondere Bedeutung der bereits im Horizontalverhältnis wirkenden sozial-psychologische Momente verkannt werden. Nichtsdestotrotz kommen die Entwürfe von Heine und noch stärker Lampe, dem man neben einiger kleinerer dogmatischer Kritiken lediglich den Vorwurf machen kann, nicht die Grundfrage der Konstitution der Rechtsordnung beantwortet zu haben, einem wirklichen Kollektivstrafrecht sicher am nächsten. 4. Fazit: Offene Fragen
Bis hierhin wurde nur das dogmatische Fundament eines Kollektivstrafrechts gelegt. Damit verbleiben eine Mehrzahl offener Fragen, die zum Großteil Gegenstand der näheren Ausgestaltung eines Kollektivstrafrechts und einer Kollektivstrafe sind, wie z. B. Fragen der Gestaltung des Prozeßrechtes und Fragen der konkreten Formen der Kollektivstrafe. Hier geht es um die - mit dem Kartellstrafrecht zu verknüpfenden - Aspekte einer Praktikabilität und Effektivität eines Kollektivstrafrechts. Bei der grundsätzlichen Konzeption im materiellen Recht gilt es zunächst, die Weichenstellungen umzusetzen, die sich aus der konkreten Legitimation ergeben. Kernfragen sind: (i.) Wie müssen Handlungen/Unterlassungen etc. aussehen, um eine Haftung auszulösen? Wesentliche Probleme bringt dabei vor allem die Behandlung von kollektivem Wissen (Vorsatz und Schuld) und die Bestimmung der Rolle eines Nachweises von sorgfältiger Prüfung/Überwachung im Unternehmen (Schuld/Entschuldbarkeit) mit sich. (ii.) Wessen Handlungen sollen strafrechtliche Relevanz besitzen (der enge Führungskreis aus den Organen oder jeder Mitarbeiter mit einem Mindestmaß an funktionaler Eigenverantwortlichkeit, der repräsentativ sein kann)? und: (iii.) Wie ist ein Prozeßrecht für Kollektivstraf-
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taten auszugestalten? Hier geht es vor allem um die weitere Behandlung bestimmter verbürgter Rechte oder Privilegien von Verdächtigen, Angeschuldigten oder Angeklagten. Für die Konzeption eines Kollektivstrafrechts, wie sie hier vorgeschlagen wird, die sich an einem Strafrechtsverständnis orientiert, für das originärer Bezugspunkt zwar der einzelne Mensch als vernünftiges Subjekt ist, welches aber das Kollektiv (als Zusammenfassung von Verband, Unternehmen und juristischer Person) als eigene Realität nicht wegleugnet, sind nun schon folgende Weichenstellungen zu konstatieren: (i) Im Unternehmen vorhandenes Wissen muß auch in seiner kollektiven, nicht distributiven Dimension relevant sein; (ii.) Es kann nicht nur an (positivrechtlich geborene) Organe und ihre Handlungen angeknüpft werden; und: (iii.) Ein nicht originäres Subjekt wie das Kollektiv nimmt im Strafprozeß eine andere Rolle ein als der individuelle Mensch, dessen (Menschen-) Würde notwendig anders strukturiert sein muß als die Würde eines Kollektivs - was nicht notwendigerweise weniger Schutz oder Privilegien heißen muß, sondern nur u. U. andere. Die Fragen werden in den folgenden Abschnitten behandelt. Von den grundlegenden Fragen sind jedoch zuvor - gleich im Anschluß - zwei besonders wichtige zu beantworten: die nach dem Kreis der Strafrechtskollektive und die der Gerechtigkeit einer Kollektivstrafe, da sie ein Kollektivstrafrecht noch in seinem Kern treffen können. 111. Die Bestimmung des Kreises der rechtskonstituierenden Kollektive Aus der oben getroffenen Bestimmung des Begriffs des rechtlich und strafrechtlich konstitutiven Kollektivs ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Begrenzung des Kreises der Kollektive, die bis jetzt noch nicht deutlich herausgearbeitet wurden 81 . Zugleich werden diese Betrachtungen auch verdeutlichen, daß und inwiefern es möglich ist, Kollektive auch tatsächlich, d. h. zugleich auch ausreichend, zu identifizieren82 . Als notwendige Kriterien für den Begriff des Kollektives wurden die Verbandsstruktur, die Unternehmenseigenschaft und die Rechtsfähigkeit bzw. rechtliche Anerkennung herausgearbeitet. Zunächst muß also die Mindestzahl von zwei Personen gegeben sein, damit man von einem Kollektiv sprechen kann. Der Begriff 81 Vgl. dazu auch H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 (298 ff., 308 ff.); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 217 ff.; zur ähnlich gelagerten Situation im Rahmen von § 30 OWiG, vgl. Rogall in: KK-OWiG, § 30 Rn. 43 ff. m. w. N.: grundSätzlich wird - auch vorn BGH - der Einzelfall betrachtet und beurteilt (was natürlich auch bereits für das OWiG ungenügend ist, da sich Maßstäbe erarbeiten lassen), vgl. dazu nur BGH, wistra 1986, S. 221. 82 V gl. zum Begriff ,Identifizieren' nur P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, S. 17 ff.
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des Unternehmens kann nun weiter die Inhalte dessen, was als Verbandsgeist oder -kultur bezeichnet wird, beisteuern, sozusagen die originären gemeinschaftlichen Motive (die durch egoistische Motive von Mitgliedern in aller Regel ergänzt bzw. überlagert werden), deren Inhalt den schlichten und letztlich weitgehend statischen Verbandszweck zwar mit einschließt, über diesen aber noch hinausgeht. Es geht hier um die nach außen in die Gesellschaft gerichtete Tätigkeit des Kollektivs. Bei nicht unternehmerischen Verbänden kann entsprechend auch auf die allgemeine Verbandstätigkeit zurückgegriffen werden. Der Status als zivilrechtlich bestimmte juristische Person war hingegen nicht notwendig, da dieser lediglich ein besonderes Maß an Kontinuität und Unterscheidbarkeit für den zivilen Rechtsverkehr und damit Rechtssicherheit bringen soll. Das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht spiegelt diese Erkenntnis bereits wider, da es sich in letzter (praktischer) Konsequenz lediglich die Frage der Haftbarmachung von weiteren Vermögensmassen stellt. Hingegen ist das Kriterium der Rechtssubjektivität, über das auch die Personengesellschaften - beinahe alle - verfügen, als ebenfalls notwendig erkannt worden. Es schließt solche Verbände aus, die nicht innerhalb Rechtsgemeinschaft agieren, wie z. B. eine Mafia. Die Aktiengesellschaft oder die verbandsmäßig strukturierte GmbH sind daher die typischen Fälle des Kollektivs. Ein Extrem, das in die Diskussion der Verbandsstrafe hinein fällt, scheidet damit als Strafsubjekt aus: die Ein-Gesellschaft, wie sie typischer weise bei der GmbH zur Erscheinung kommt. Gleiches gilt selbstverständlich für den Einzelkaufmann, den z. B. Schroth aufgrund seines Ansatzes beim Unternehmen mit in ein Unternehmensstrafrecht einbeziehen will. In all den genannten Fällen ist also das notwendige Kriterium der kollektiven Verbandsstruktur nicht erfüllt, weil das überindividuelle Moment in Form der kollektiven psychischen Prozesse gänzlich fehlt. Sie können daher nicht Subjekt eines Kollektivstrafrechtes sein. Das andere Extrem stellen extrem große und diffuse Verbände wie z. B. typischer weise Staaten dar. Die regelmäßig enorme (personelle) Größe ist jedoch nicht das negativ Ausschlaggebende, sondern das Diffuse. Diesen Verbänden fehlt es an einer notwendigen klaren und gefestigten formellen (u. U. auch informellen) Struktur. Eine solche liegt zweifelsfrei im Staatsgebiet, aber wohl auch in Regierung und Verwaltung vor. Aber diese sind eben nicht der Staat (z. B. als Völkerrechtssubjekt)83. Ein Unternehmen von 100.000 Mitarbeitern verfügt darüber eher als ein Staat von einigen hundert Einwohnern. Der Grund liegt in zweierlei: zunächst regelmäßig in der Ausgestaltung. Ist sie freiheitlich-demokratisch, so ist sie dezentral und beschränkt sich auf das Nötigste (sicher der Idealfall)84 - aber auch 83 Zum Begriff des Staates allgemein vgl. nur: W Maihojer in: Benda/Maihojer/Vogel (Hrsg.), Handbuch Verfassungsrecht, § 12 Rn. 120; zum Verhältnis von Kultur und Staat: ders., a. a. 0., § 25 Rn. 29 ff.; zum Staat als Volkerrechtssubjekt: Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 231, 240. 84 Vgl. dazu F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, passim, vor allem Bd. I, S. 133 ff. (zum Recht), S. 169 ff. (zur Gesetzgebung), Bd. 2, S. 194 ff., Bd. 3, S: 147 ff., 177 ff. 21 Kohlhoff
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wenn sie totalitär-zentralistisch ist, sind in diese Hierarchisierung nicht alle in dem Maße eingebunden, wie das im Falle eines Unternehmens der Fall wäre. Zum anderen ist die Staatenzugehörigkeit eine andere Form von Mitgliedschaft als bei einem Unternehmen. Sie ist eben nicht in dem Maße freiwillig wie bei einem Unternehmen, ein Wechsel wesentlich schwerer möglich. Wenn man sich die nationalethnischen Implikationen vergegenwärtigt, die mit der Staatsangehörigkeit immer noch verbunden werden, wird dies um so deutlicher. Eine entsprechende Entstehung von klarer Identität ist zwar möglich, aber aufgrund der wesentlich größeren Distanz der Mitglieder schwierig. Identität im hier gebrauchten Sinn und nationale Identität fallen auseinander. Daraus folgt, daß es auch bei Existenz eines internationalen Strafrechts nicht möglich wäre, Staaten oder auch nur ethnische Gemeinschaften mit Kriminalstrafe zu belegen85 . Vereine und Stiftungen können ebenfalls als Kollektive Subjekte des Strafrechts sein 86 . Für Stiftungen ist das aufgrund ihrer Struktur nicht selbstverständlich, da hier das Vermögen eigentlich charakterbildend ist. Nichtsdestotrotz verfügen sie zur Umsetzung ihres Stiftungszweckes häufig über eine Verbandsstruktur. Hier wird der Verband sogar durch den Zweck der Stiftung regelmäßig noch stärker in Richtung auf ein Ziel hin strukturiert sein. Die Äquivalenz der Stiftung und z. B. einer AG zeigt sich in der Praxis gerade auch darin, daß verschiedene große Unternehmen - wie z. B. Bertelsmann - in Form einer Stiftungsholding organisiert sind. Stiftungen ohne faktische Verbandsstruktur können dementsprechend nicht als Strafrechtskollektive eingeordnet werden. Bleiben schließlich die Handelsgesellschaften (oHG und KG) und Gesellschaften Bürgerlichen Rechts (GbR). Für diese muß aus der Bestimmung des Kollektivs folgen, daß sie grundsätzlich ebenfalls Strafrechtssubjekte sein können. Hier stellt sich jedoch das Problem - für die BGB-Gesellschaft sogar in verschärftem Maße der mangelnden Kontinuität bzw. der Möglichkeit zur Kontinuität. Das ist auch zugleich das Problem des "Verbandssuizids" bzw. der Flucht in die Auflösung. Dieses Problem ergibt sich für jedes Kollektiv, kann hier jedoch in seiner ganzen Problematik am besten illustriert werden. Grundsätzlich ist nach der vorgenommenen Bestimmung klar, daß eine KG, oHG oder GbR mit mindestens zwei Mitgliedern aufgrund ihrer Verbandsstruktur ein Kollektivsubjekt darstellen können, da 85 Insofern sind auch die Ausführungen bei v. Gierke zur Stadtpersönlichkeit im historischen Kontext zu sehen. Er betrachtet die Städte als politische Einheit und damit Besonderheit an der Schnittstelle von Mittelalter und Neuzeit. Aufgrund der Rolle des Staates in unserem heutigen Gemeinwesen als Rahmen für die Verwirklichung der individuellen Freiheit (Funktion des Aufstellens von Regeln für ein Recht der Freiheit, d. h. ein Recht der spontanen Ordnung ,Gesellschaft', vgl. dazu F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 179 ff.), fehlen jeder Form von staatlicher Körperschaft oder sonstiger Institution grundsätzlich die strafrechtliche Persönlichkeit. Eine Gemeinde kann also höchstens faktisch einem Verband in Form des Unternehmens gleichstehen, der dann nicht von allgemeiner Freiheit sondern von vorgegebener Zielverfolgung bestimmt wird. 86 Zu diesen beiden Organisationsformen vgl. nur K. Schmidt, Verbandszweck und Rechtsfähigkeit im Vereinsrecht, S. 14 ff., insbes. 15 f., auch m. w. N.
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bereits hier alle Mechanismen zur Entstehung gelangen, die das Kollektiv zu einem Konstituenten der Rechtsordnung und dessen potentiellen Verletzer werden lassen. Eine unternehmerische oder andere gesellschaftlich ausgerichtete Tätigkeit üben sie grundsätzlich aus und ebenso verfügen sie über eine eigene Rechtssubjektivität (mit Ausnahme der nicht-unternehmenstragenden GbR und der stillen Gesellschaft i. S. d. HGB). Gerade diesen Gesellschaften steht es aber relativ leicht offen, ihre äußere Erscheinung durch Umfirmierung zu verändern - der (vermeintliche) Fall des Verbandssuizids. Dieses Problem stellt sich bereits im Ordnungswidrigkeitenrecht bei der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG und auch im europäischen Recht: Hier wird mit pragmatischen Mitteln gearbeitet und dann eine Geldbuße verhängt, wenn das Unternehmen der Sache nach dasselbe geblieben ist, wie z. B. bei einem reinen Rechtsformwechsel oder im Falle des Unternehmenskaufes bei Übernahme wesentlicher Teile, wobei vom BGH vor allem an die Vermögensmasse angeknüpft wird 87 . Vom Ergebnis her sind diese Ansätze durchaus richtig - wohl mit Ausnahme der Anknüpfung an die Vermögensmasse -, aber sie können diese Möglichkeiten und ihre Grenzen nicht richtig begründen, da sie keinen Begriff des Kollektivs haben. Die reine Vermögensmasse jedoch stellt regelmäßig nichts dar, was zu den Identitäts-konstitutiven Elementen eines Verbandes zählt, da Finanz- und Sachmittel (ohne Personen) zwar zum Verband und auch Unternehmen gehören, jedoch einer starken Austauschbarkeit unterliegen. Nur wenn gerade diese (sachlichen) Vermögensbestandteile eine entscheidende Rolle bei der Begehung der Tat gespielt haben, kann es begründet sein, die übernehmende Firma als wirklichen Kollektiv-Nachfolger zu sehen. Gerade in der Frage des (vermeintlichen) Verbandssuizids zeigt sich die Stärke und Richtigkeit einer Kollektivbestimmung unter Verzicht auf das Kriterium der juristischen Person als ein notwendiges und unter Anwendung des Gedankens einer notwendigen Rechtssubjektivität. Eine neue Gesellschaft mit den gleichen Gesellschaftern unter anderem Namen ist der gleiche Verband. Es ist die spezielle kollektive Gemeinschaft, die Strafrechtssubjekt ist. Einem Schuldspruch gegen dieses Kollektiv, das ja nur einen anderen selbst gewählten Namen trägt, ist unproblematisch. Ein Verbandssuizid liegt eben erst vor, wenn die entsprechenden Individuen nicht wieder ein gleichermaßen strukturiertes Kollektiv bilden - dann gibt es aber auch tatsächlich keine negative Interaktion und kein Systemunrecht (i. S. v. Lampe) mehr - es geht um die Frage der psychischen Kontinuität88 . Die Frage nach der Verbandstodesstrafe, die sich in diesem Zusammenhang natürlich ebenfalls aufdrängt, ist sogleich im Zusammenhang mit den anderen Sanktionen zu behandeln. 87 Vgl. BGH, wistra 1986, S. 221; vgl. G. DanneckerlJ. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Auflage, vor § 81 Rn. 79; Göhler, OWiG, § 30 Rn. 38. 88 Vgl. an dieser Stelle nochmals zu dem Problem der personalen Identität und der Vorzugswürdigkeit des Kriteriums einer psychischen Kontinuität bereits im Hinblick auf den Menschen M. Knauber, Reduktionismus und personale Identität, Diss. Köln 2000, Abschnitte 7. und insbes. 8.
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Zugleich kann aber auch der Fall auftreten, daß die eigentliche Gesellschaft als Firma beibehalten wird und die Gesellschafter sich zurück ziehen und Strohmänner einsetzen - sei es in der Geschäftsführung und / oder als Gesellschafter. Kann dann noch von dem selben Kollektiv gesprochen werden? Die Antwort ist: grundsätzlich ja. Dies bedarf aber einiger Einschränkungen. Zunächst kann von demselben Kollektiv deswegen gesprochen werden, weil es bei dem Kollektiv um das Auftreten bestimmter sozial strukturierter Entitäten geht. Die gesellschaftsrechtliche Umsetzung kann auch hier nicht ausschlaggebend sein. Haben die ehemaligen Gesellschafter noch den faktisch gleichen Einfluß, dann ist es in seinen wesentlichen Grundzügen noch derselbe Verband. Nur eröffnen die rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Strohmännern eine gewisse Distanz und Sicherheit im Verhältnis zu den ehemaligen Gesellschaftern einräumen, diesen einen eigenen potentiellen Spielraum. Von der Art und Weise der Nutzung dieses Spielraumes hängt es nun ab, ob nicht - durch faktische Eindämmung des Einflusses der Hintermänner - ein neues Kollektiv entsteht. Ein weitere Frage, deren Lösung hier nur angedeutet werden kann, ist die nach der Strafbarkeit bei verbundenen Unternehmen, bei denen die Gefahr besteht, daß die eigentlich Verantwortlichen - für die finale Handlung, die organisierte oder die strukturelle Unverantwortlichkeit - in dem beherrschenden Unternehmen gar nicht von der Strafe erreicht werden 89 . Hier kann aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive zunächst mit dem Aktiengesetz zwischen den faktischen Konzernen (§ 17 AktG) und den Vertragskonzernen (§ 291 AktG) unterschieden werden. Dabei wird es einerseits pragmatisch darum gehen, ein "Vorschicken" finanzschwacher Tochtergesellschaften zu verhindern, andererseits aber vor allem darum, die tatsächlichen Ursachen zu erfassen und dementsprechend die Strafe gegen das richtige Kollektiv zu richten. Aus der Begründung der Kollektivstrafe ergibt sich als erste Konsequenz: Auf die gesellschaftsrechtliche Perspektive kann es alleine nicht ankommen, da sie nur rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten erfaßt. Aber soweit sie die tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten abbildet, kann an sie angeknüpft werden. Dabei trifft den Mutterkonzern im Zweifel die Pflicht, eine entsprechende Organisation und Unternehmenskultur in seinen Tochtergesellschaften zu gewährleisten. Verstößt er gegen diese Pflicht, trifft ihn eine eigene Kollektivschuld. Auch hier zeigt die Tatigkeit der EG-Komrnission auf dem Gebiet des Kartellrechts erste Wege aufo.
89 Vgl. hierzu die Übersicht bei Bundesjustizministerium. Zurechnungsmodell, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 155 ff. (173 ff.); auch G. Spindler; Zivilrechtliche Verantwortlichkeit statt Untemehmensstrafbarkeit?, a. a. 0., S. 77 ff. (80 ff.). 90 Vgl. dazu die Nachweise oben § 8 III.
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IV. Gerechtigkeit der Verbandsstrafe
Ein gewichtiger Einwand gegen die Grundlagen der Kollektivstrafe ist zu guter letzt noch derjenige der Ungerechtigkeit. Er wurde bereits von Busch9 ! diskutiert und hatte in der früheren - überwiegend ablehnenden - Diskussion eine große Bedeutung 92 • Gerade in der Konstellation der Handelsgesellschaften und der BGBGesellschaft - anders als vor allem hinsichtlich der weitgehend entpersonalisierten AG - muß sich dieses Argument entkräften lassen, denn hier scheint ein Urteil gegen das Kollektivaufgrund der regelmäßig sehr gedrängten Verbandsstruktur auf die Mitglieder - Geschäftsführung und Gesellschafter, ggf. auch Arbeitnehmer - abzufärben. Eine Ungerechtigkeit der Kollektivstrafe soll sich unter zwei Gesichtspunkten ergeben: Zum einen würden zumindest auch, u. U. sogar ausschließlich Unschuldige, nämlich sämtliche Verbandsmitglieder (i. w. S.) bestraft, zum anderen würde es - exemplarisch am Fall der Ein-Mann-GmbH dargestellt - zu einer Doppelbestrafung ein und derselben Person kommen. Es ist naheliegend, daß die Stimmigkeit und Überzeugungskraft dieses Argumentes damit steht und fällt, wie die Konzeption des Kollektivstrafsubjektes ausfällt. So ist es denn auch charakteristisch - und natürlich von seinem Standpunkt aus auch wieder konsequent -, daß v. Freier zu Beginn seiner Argumentation für eine Ungerechtigkeit der Verbandsstrafe unter Hinweis auf die Unmöglichkeit eines eigenständigen Kollektivsubjektes den weiteren Argumentationsgang in diese Richtung abschneidet93 . 1. Die vermeintliche Bestrafung Unschuldiger
Die Bestrafung Unschuldiger wird mit dem Argument behauptet, daß die eigentlich Leidtragenden die Mitglieder seien: sowohl die Angestellten als auch die Anteilseigner. Diese sollen - aus Ermangelung eines Kollektivstrafsubjektes - eigentlich unmittelbar, zumindest aber mittelbar betroffen sein, indem auf sie der (Schuld-)Vorwurf zurückfällt und sie die Auswirkungen durch persönliche Einbußen zu spüren bekommen: Verlust des Arbeitsplatzes oder Einschränkung der unternehmerischen Handlungsfreiheit oder finanzielle Einbußen im Hinblick auf die Beteiligung. Die Zwitternatur der Strafe - ideeller Vorwurf und materielle Sanktion94 - muß sich insofern natürlich auch hier widerspiegeln. 91 Vgl. R. Busch, Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände, S. 55 ff., 165 ff., 183 ff. u. Ö. 92 Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 231. Ablehnend namentlich in ihren Referaten zum 40. DJT: K. Engisch, Verhandlungen des 40. DJT Bd. 2, S. E 26 ff.; F. Hartung, a. a. 0., S. E 43; E. Heinitz, a. a. O. Bd. 1, S. 89. Weitere Nachweise zum Schrifttum bei F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 231; zum älteren Schrifttum, vgl. E. Hafter, Deliktsfahigkeit, S. 132. 93 V gl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 231 und S. 238. 94 Vgl. oben § 1011. 1. d. und 3., III.
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Zunächst wird also eingewandt, daß der Schuldvorwurf an das Kollektiv gerade die Mitglieder trifft. Da ein eigenständiges Kollektiv-Subjekt nach dieser Ansicht nicht existieren kann, kommen als Adressaten nur noch die Mitglieder in Frage95 . Dieser Einwand kann natürlich nur Wirkung im Hinblick auf ein Kollektiv-Schuld-Strafrecht entfalten; setzt man auf ein Maßregelsystem, spielt dieser Gedanke keine Rolle mehr. Sicher ist der Hinweis von Hirsch auf den historischen Hintergrund der strikten Ablehnung der Verbandsstrafe vor allem wegen der Bestrafung Unschuldiger richtig: Für Hirsch ist klar, daß in geringem zeitlichen Abstand zum Ende des 2. Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft der Gedanke einer letztendlichen Kollektivschuld der Mitglieder (sprich der Deutschen) unerträglich gewesen sein mag96 . Oben ist aber ausgeführt worden, daß eine eigene Schuld von bestimmten Kollektiven (auf der gesellschaftlichen Ebene) durchaus existiert. Sie steht eben nicht im Widerspruch zu unserem Strafrechtsverständnis, nimmt man die Grundlagen nur wirklich ernst. Dann kann aber höchstens noch von einer Doppelbestrafung die Rede sein; darauf wird gleich noch einzugehen sein. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang, daß mit der auf ein "konstruiertes" Kollektiv gerichteten Strafe letztlich in diffuser Weise die einzelnen Individuen angesprochen werden sollen, damit entsprechende präventiv wirkende Prozesse innerhalb des Verbandes stimuliert werden 97 . Und diese ,Fernwirkung' soll sogar erwünscht sein98 . In der Tat baut z. B. das System der U.S.-Sentencing Guidelines auch auf diesem Konzept auf. Es werden also das "offizielle" Anknüpfen an das Kollektiv und die bewußte Nutzung individual-subjektiver Momente zumindest als inkonsequent hingestellt. Dem kann entgegengehalten werden, daß von dem Standpunkt eines rein präventiv ausgerichteten Verbandsstrafrechts ,als zweiter Spur,99 dies in der Tat ein Widerspruch zu sein scheint. Wenn man eine kollektive Schuld und ein entsprechendes Subjekt ablehnt (bei gleichzeitiger Betonung der kollektiven Mechanismen) und letztlich nur noch der präventive Aspekt verbleibt, dann ist es ein Problem, wenn man zu dessen Realisierung nur an individuelle Mechanismen anknüpft. Wenn man nun aber über ein kollektives Subjekt als Bezugspunkt verfügt, das von einer echten (Kriminal-) Strafe getroffen wird, von einem Schuldvorwurf, der vor allem die Rechtsordnung restituiert, dann ist ein echtes kollektives Moment der Strafe bereits in ihrer Begründung gegeben. Das Anknüpfen an 95 Vgl. schon R. Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 196 ff.; auch F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 236 ff. m. w. N. 96 Vgl. H J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 (297); ausführlich dazu F. W Rothenspieler; Der Gedanke einer Kollektivschuld, S. 66 ff. 97 Vgl. nur F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 236 ff. 98 In der Tat so: A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 209; H. J. Hirsch, Straffabigkeit von Verbänden, S. 18. 99 Vgl. nur G. Heine, Kollektive Verantwortlichkeit, in A. Eser / B. Huber / K. Comils (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung, S. 95 ff.
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individuelle Leistungen bei der materiellen Umsetzung der Strafe ist dann unschädlich, wurde doch weiter oben festgehalten, daß das Kollektiv keine ,Blackbox' ist und sich auch aus seiner Teilhabe an den Fähigkeiten seiner Mitglieder speist. Aber genau wie die Prozesse, die zur Straffalligkeit des Kollektivs geführt haben, sind auch die zur Prävention ausgelösten oder auszulösenden Prozesse nicht vollständig individual-subjektiv auflösbar. Ein nächster nachhaltiger Kritikpunkt ist der, daß die auf die Strafe gegenüber dem Verband zurückgehenden Einbußen bei den Mitgliedern nicht als mittelbare, sondern als unmittelbare Folgen i. S. e. unmittelbaren Eingriffs in das Eigentum nach öffentlich-rechtlichen Grundsätzen eintreten 1OO• Kriterium für eine Unmittelbarkeit ist hier die Finalität - und bei der Verbandsstrafe wird auch final auf die Prozesse im Bereich der individuellen Verbandsmitglieder abgezielt. Fraglich ist, was nun hieraus für Konsequenzen zu ziehen sind. Sinn und Zweck der Regelung im öffentlichen Recht - des Begriffs der Finalität - ist es doch wohl, den Staat im Rahmen der Grundrechtseingriffe, vor allem der Enteignung, anzuhalten, klare Regelungen zu treffen und ihm Hintertüren zu verschließen, die ihn zu einer Aushebelung des Grundrechtsschutzes verführen könnten. Ein vergleichbare Situation ist hier aber nicht gegeben. Was jedoch bleibt, ist die Mitbeteiligung der Einzelnen an der Konstitution des Verbandes und sei sie auch noch so abstrakt wie im Hinblick auf die Anteilseigener einer AG. An diesen Punkt der Diskussion gehört auch das Beispiel des Familienvaters, bei dem im Rahmen der gegen ihn zu verhängenden Strafe (grundsätzlich) auch nicht auf die Frau oder Familie Rücksicht genommen wird lOI • Dagegen wird von v. Freier eingewandt, daß im sozialen Bereich der Familie auch keine Sanktion erfolgt, um die restliche Familie zu motivieren, zukünftige Straftaten zu verhindern bzw. diese für eine Mitschuld einstehen zu lassen, was wohl einer mittelalterlichen Sippenhaft gleichkommen würde lO2 • In diesen Zusammenhang paßt dann auch weiter der Hinweis, daß die herrschende Lehre eine Garantenpflicht unter den Eheleuten zur Verhinderung von Straftaten verneint lO3 • Und in der Tat: Dieser Vergleich ist ein äußerst hinkender und die Einwände gegen ihn durchaus berechtigt: Im Falle des Familienvaters käme eine entsprechende Regelung in der Tat einer Sippenhaft gleich. Diesen Geruch einer Reinkarnation von Sippen- und Gemeinschaftshaft (z. B. Städtehaft) führt die Verbandsstrafe eigentlich seit der Diskussion um ihre Einführung mit sich. Aber genauso, wie die Ablehnung von Sippenhaft oder Städtehaft oder völkischer Kollektivschuld aus spezifischen, guten Gründen berechtigt war, sowenig sagt dies etwas über den vorliegenden Fall aus. Nicht jede soziale Struktur ist eben die gleiche, nur weil sie menschlich konstituiert ist lO4 • 100 V gl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 242 ff., der wohl tatsächlich als erster auf diesen Gedanken hinweist. 101 Vgl. z. B. A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 209, auch m. w. N. 102 Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 244. 103 Vgl. F. v. Freier, a. a. O.
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Die Frage ist also, ob im speziellen Zusammenhang der Verbandsstrafbegründung die Gedanken berechtigt sind, welche die "Nebenfolgen" rechtfertigen wollten: Es geht um die beiden Gedanken des Kollektivs als Risikogemeinschaft und als Schicksalsgemeinschaft. Der Begriff der Risikogemeinschaft spielt darauf an, daß die Strafe eigentlich aus der Perspektive der mittelbar betroffenen Eigner sich wie jedes ökonomische Risiko ausnimmt. Das findet seinen Ausdruck auch darin, daß sie nur mit ihrem jeweiligen Sondervermögen (Anteilen) nur einer insoweit begrenzten Haftung ausgesetzt sind. Darüber hinaus sind ihnen ja auch entsprechend eigene Möglichkeiten zur Kontrolle eingeräumt 105. Nur deshalb kann ein Werk wie die Sentencing Guidelines ja überhaupt funktionieren. Dieser Teilbegründung kann man nun entgegen halten, daß die Mehrheit der Mitglieder (Organe oder Angestellte wie Eigner) mit ihren gemeinsamen Einbußen immer einer kleinen Minderheit von tatsächlich bewußt an der Tatbegehung Beteiligten gegenübersteht. Gegen diesen Einwand ist jedoch mit dem Hinweis auf die regelmäßig nicht einkalkulierten und auch einkalkulierbaren Folgen das Wesentliche gesagt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Kollektiv unterschieden ist von der Gesamtheit der Mitglieder und es sich immer auch bereits um das Vermögen des Kollektivs handelt. Dann stellt der finanzielle Verlust tatsächlich nicht mehr als eine indirekte Folge dar, ähnlich dem Nachteil für einen Gläubiger, wenn sein Schuldner ins Gefängnis geht. Der indirekte, individuell orientierte Motivationsaspekt, der in diesem Zusammenhang als Kritikpunkt gebracht wird, weil auf diese Weise doch die Unmöglichkeit eines Kollektivsubjektes eingestanden werde, geht ebenso fehl. Dazu muß nur kurz die Struktur der Strafnorm und der Strafe rekapituliert werden: Daß die Verhaltensnorm - und die ist natürlich auf zukünftiges Verhalten gerichtet - sich an das Kollektiv richtet, ist ohnehin aufgrund der herausgearbeiteten psychischen Struktur des Kollektivs notwendig; general- oder spezialpräventive Ziele werden mit der hier vertretenen Grundauffassung von der Strafe nicht verfolgt - wenn also solche Effekte eintreten, dann ist dies lediglich Ausprägung der inneren Struktur des Kollektivs. Der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft schließlich meint, daß die Mitglieder einer bestimmten Gruppe durchaus - wie z. B. bei völkerrechtlichen Sanktionen 106 104 Das ist auch der richtige Gehalt in den Ausführungen von Alwan zu den Kriminalitätsformen: Mikro-, Meso- und Makrokriminalität, vgl. das., Unternehmensethik durch Sanktionen?, in: das. (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen in der Marktwirtschaft, S. 75 ff. (77 ff.). 105 So merkt schon G. Spindler, Zivilrechtliehe Verantwortlichkeit statt Unternehmensc strafbarkeit?, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S.77 ff. (92 f.) (m. w. N.), an, daß das diesbezügliche Argument der Verbandsstrafengegner zumindest aus zivilrechtlicher Perspektive bereits ein erstaunliches und wenig einleuchtendes darstellt. 106 Vgl. dazu schon R. Busch, Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände, S. 187 ff.
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- mittelbar und scheinbar legitimerweise Objekte von Sanktionen sein können. Dem wird entgegen gehalten, daß der Verweis auf das Schicksal ein Verzicht auf Begründung sei 107. Dabei käme der Verweis auf Erkenntnisse der Systemtheorie dem auf einen vormodemen mythischen Begriff gleich lO8 • Dazu ist zunächst zu sagen, daß es nach der hier vorgelegten Konzeption gar nicht darauf ankommt, ob der Gedanke der Schicksalsgemeinschaft verfängt. Es soll aber die These vertreten werden, daß er trotz der altertümlichen Formulierung - die ja im historischen Kontext gesehen werden muß - durchaus rechtlich relevante Substanz und damit seine Berechtigung hat. Dies hat seinen Grund in dem Umstand, daß über das Netz von Handlungen (Kausalitäten) und Verantwortungen im Inneren des Kollektives - so wie es von Lampe beschrieben wurde - tatsächlich alle Mitglieder miteinander verbunden sind. Sie können in mannigfacher Weise auf dieses Netz in positiver Weise zurückgreifen, z. B. durch Erwerbsarbeit im Rahmen des Kollektives, Nutzen von Kontakten oder auch tatsächliches Partizipieren an der direkten Zielerreichung, und dementsprechend verhält es sich auch im negativen Sinne.
2. Das Argument der DoppelbestraJung
Das Argument der Doppelbestrafung läßt sich nach dem Vorgesagten kaum noch halten 109. Denn wenn - wie hier argumentiert - es ein Kollektivstrafsubjekt gibt, dann gibt es auch eine von der Individualverantwortlichkeit zu unterscheidende Kollektivschuld - allgemein gesprochen als die Trennung von Verband bzw. Kollektiv und Mitglied l1o . Diese kann ebensowenig durchschlagen auf die hinter dem Kollektiv stehenden Individuen, wie es sie von einer individuell begründeten Verantwortung befreien kann 111. Es sei aber zugleich angemerkt, daß sich natürlich auch nicht gleichzeitig einwenden läßt, das Individuum werde durch die Konstitution eines Kollektivs aufgelöst, und außerdem käme es zu einer Doppelbestrafung 112 . Diesem Einwand sehen sich auch vor allem die Konzeptionen der Verbandsstrafe ausgesetzt, die ein dem Maßregelrecht analoges Kollektivstrafrecht vorschlagen. In diesem Fall bleibt das kollektive Subjekt in der Begründung so unprä107 Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 257; auch schon: R. Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen, S. 197. 108 Vgl. F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, a. a. O. 109 Es wurde vertreten wiederum auf dem 40. DJT von K. Engisch, Verhandlungen d. 40 DJT Bd. 2, S. E 38; F. Hartung, ebd., S. E 44; E. Heinitz, ebd. Bd. I, S. 90; auch ausführlich F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 258 ff. m. w. N. 110 Auch in diesem Sinne, wenn auch auf unterschiedlichem dogmatischen Fundament: B. Ackermann, Strafbarkeit juristischer Personen, S. 206; E. Müller, Stellung der juristischen Person, S. 28; H. J. Hirsch, Strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen, ZStW 107 (1995), S. 285 (297); A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 214. 111 Vgl. oben § 11 I. 3 c. 112 Wie dies von F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 230 ff., 258 ff., getan wird.
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zise gefaßt, daß die eindeutige Differenz zum Individualsubjekt nicht erkennbar wird. In Konsequenz wird die Nicht-Distributivität, eben die Unaufteilbarkeit des Kollektivs verfehlt. Auf diese Weise werden Verband und Organwalter in eins gesetzt bzw. zumindest werden entsprechende Überschneidungen gesehen, die eine (partielle) Identifizierung möglich machen. Gleiches gilt natürlich für das Bezugspaar Verband und Mitglied (Gesellschafter oder auch Mitarbeiter). Wenn aber mit der richtigen Begründung des Kollektivsubjektes der Charakter vor allem der Nicht-Distributivität der sozialen Strukturen gesehen wird und damit die Unauflösbarkeit, dann wird auch die neue Qualität erkannt, die hier vorliegt und die es ausschließt, vom Verband auf seine Teile zu schließen. Eine Assoziierung oder Identifizierung des Einzelnen mit dem Verband per se, also ohne konkreten Anknüpfungspunkt mag zwar im Alltag geschehen, ist jedoch verfehlt. Darüber hinaus gibt es diesen Effekt wiederum wohl auch regelmäßig in allen sozialen Gruppen. Erst wenn Organe oder Mitarbeiter sich tatsächlich etwas zu schulden kommen lassen haben, ihnen daher eine eigene Straftat zugerechnet werden kann, ist hier zu recht die Rede von sich überschneidenden Kreisen. Nichtsdestotrotz scheint es empfehlenswert, auf die alltägliche Art und Weise des pauschalen Ineinssetzens von Verband und Mitglied bzw. Kollektiv und Individuum einzugehen. Insofern wird hier der Vorschlag gemacht, im Strafverfahren vor Gericht herauszustellen, inwiefern eine Verwicklung einzelner Individualsubjekte in eine Tat des Kollektivs gegeben ist. Entsprechende Ermittlungsverfahren werden ohnehin parallel oder zugleich laufen. Es würde sich insofern anbieten, diesem Problem dadurch Rechnung zu tragen, daß man in jedem Fall in ein Urteil eine entsprechende Formel aufnimmt, die klar herausstellt, daß der und der Einzelne nicht mit einer eigenen Straftat beteiligt gewesen ist. Man kann auch an einen entsprechenden Passus denken, der nochmals im Urteil ausdrücklich klar stellt, daß kein Mitglied des Verbandes, das nicht ausdrücklich erwähnt wurde, von dem in Frage stehenden Schuldspruch betroffen ist. Eine schlichte Einstellung im Ermittlungsverfahren würde also nicht mehr ausreichend sein, da hier immer noch nach außen der Schein einer Verquickung von Einzelnem und Verband entstehen könnte. Das kann zwar mit unter ärgerlich sein, wenn eine eigene individuelle Tat naheliegt und nur nicht ausreichend bewiesen werden kann und trotzdem eine Art ,Persilschein' erteilt werden muß. Aber dies ist letztlich ohnehin genau das, worauf jeder Beschuldigte einen Anspruch hat, gegen den ein Verfahren eingestellt wird, da er eben als unschuldig gilt. Eine Unsitte ist daher das Einstellen des Verfahrens in der Hauptverhandlung, wenn eigentlich ein Freispruch erfolgen müßte.
§ 12 Antworten zur Strafbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts
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§ 12 Antworten zur Stratbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts Die dogmatischen Grundlagen einer Kollektivstrafe sind nun mit dem letzten Abschnitt (§ 11) in Form der Begründung und durch Aufzeigen der grundlegenden Konsequenzen gelegt. Es gilt sie in Zusammenhang mit dem oben als strafwürdig herausgearbeiteten Kartellstrafrecht zu verbinden. Damit wird zum einen die pragmatische Tauglichkeit der Kollektivstrafe indiziert - Sicherheit kann insoweit leider nur die echte Praxis bringen - und zum anderen die Strafbedürftigkeit des Kartellstrafrechts nachgewiesen. Eine Strafbedürftigkeit ergibt sich primär aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Dazu wurde oben bereits Stellung bezogen 1l3 . Da es hier nun konkret um die Strafbedürftigkeit gehen wird, soll noch einmal kurz rekapituliert werden, wie diese Kategorie zu verstehen ist. Otto - stellvertretend sicher für den Großteil der Strafrechtswissenschaft - hat die Strafbedürftigkeit dergestalt umrissen, daß sie darlegen muß, warum Strafe ein unerläßliches Mittel zum Rechtsgüterschutz im konkreten Fall ist und damit maßgeblich durch den Begriff der Zweckmäßigkeit bestimmt wird. Daraus folgt, daß erst dann zur Inkriminierung gegriffen werden darf, wenn nicht zumindest ein gleich wirksames, aber weniger eingreifendes Mittel zur Verfügung steht 114. Darin folgen ihm u. a. Möschel und Lüderssen gerade im Hinblick auf eine Inkriminierung des Kartellrechts 115. Gegen diese Sichtweise hat bereits Tiedemann aus seiner spezifischen (weil nicht freiheitsgesetzlichen) Perspektive überzeugend argumentiert. Er hat unterstrichen, daß die Strafe in dem Moment, in dem man sie mit dem Kriterium der sozial-ethischen Mißbilligung verknüpft, eine eigene Wertigkeit bekommt, zu einem ,eigenartigen' Reaktionsmittel wird ll6 . Die Mängel bzw. Inkonsistenzen der an der Quantität ausgerichteten Abgrenzungslehren des Strafrechts wurden nun bereits benannt ll7 . Die Feststellung Tiedemanns gilt jedoch auch bzw. erst recht, wenn man der hier vertretenen Abgrenzung nach neueren qualitativen Kriterien folgt. Die Strafe ist ein einzigartiges Reaktionsinstrument, weil sie als vergeltende Sanktion der Restituierung der verletzten Norm und damit der Rechtsordnung dient ll8 . Der Gedanke der Zweckmäßigkeit ist daher dahingehend zu modifizieren, daß die Inkriminierung dann als unzweckmäßig zu betrachten ist, wenn die Nachteile die Vorteile überwiegen, wenn also die Chancen der Konfliktbewältigung durch das Strafrecht gerade verschlechtert werden l19 . § 4 Einleitung. Vgl. H. Otto, Die strafrechtliche Bekämpfung unlauterer Einflußnahmen auf öffentliche Versteigerungen durch Scheingebote, NJW 1979, S. 681 (683). 115 Vgl. W. Mäschel, Kriminalisierung, S. 44; K. Lüderssen, Strafrechtliche Interventionen im System des Wettbewerbs - kritische Betrachtungen de lege ferenda, in: H. Dahs (Hrsg.), Kriminelle Kartelle?, S. 53 ff. (62 ff.). 116 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 96, 174. 117 Vgl. oben § 4 11. 4. 118 Vgl. nur oben § 10 III. und V. 113
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Im Rahmen der Betrachtungen einer möglichen Unzweckmäßigkeit können grundsätzlich zwei Aspekte unterschieden werden 120: Die Strafbewährung kann zunächst so konzipiert sein, daß das Ziel zwangsläufig überhaupt nicht erreichbar ist. Es ist aber auch denkbar, daß das Ziel nur schlecht erreicht werden kann - dies entweder aufgrund mangelnder Praktikabilität der Regelungen bei der Anwendung in der Praxis oder aufgrund mangelnder Effektivität. Eine Regelung kann unpraktikabel sein, (i.) weil der Tatbestand in der Praxis - zunächst durch die Verfolgungsbehörden, dann vor allem durch das Gericht (Opportunität vs. Legalität, Wechselwirkung von Verhaltens- und Sanktionsrecht, Umgehung) - nicht angewandt werden kann, weiter (ii.) weil der Strafverfolgung ernsthafte Probleme im Wege stehen (Beweisbarkeit, Zuständigkeitsfragen) und schließlich (iii.) weil der Strafvollzug nicht sinnvoll durchführbar ist. Unter mangelnder Effektivität sind (i.) mögliche unerwünschte Nebenfolgen abzuhandeln und (ii.) auch die Frage nach der Erreichbarkeit der erstrebten Wirkungen. Aus der Perspektive der herrschenden Meinung heißt das in Zusammenhang mit der Bestimmung der Strafzwecke, vor allem nach der möglichen Prävention zu fragen. Die Beleuchtung im Rahmen dieser Arbeit muß aufgrund der dogmatischen Fundierung und der daraus folgenden Ablehnung der (General-) Prävention als Strafzweck. naturgemäß anders ausfallen. In jedem Fall bestimmt sich die Praktikabilität und Effektivität eines Kollektivstrafrechts in weiten Bereichen nach der konkret zu wählenden Strafe. Diese ist zunächst darzustellen.
I. Die Formen der Kollektivstrafe Welcher Art müssen und können nun die materiellen Strafen sein, damit sie als wahrnehmbarer Ausdruck von Rechtsstrafe ihre - ganz allgemein gesprochen Ausgleichsfunktion erfüllen können. Dabei ist offensichtlich, daß lediglich die Geldstrafe unter den heute im Individualstrafrecht vorgesehenen materiellen Strafen eine grundsätzliche Eignung zum Einsatz in einem Kollektivstrafrecht aufweist. Eine an einem einzelnen Verbandsmitglied vollstreckte Freiheitsstrafe als Kollektivstrafe würde sich nur - wenn überhaupt - mit einer bestimmten organologischen Konzeption des Kollektivs vertragen (als stellvertretende Vollstreckung am Einzelnen). Es gibt jedoch bereits zahlreiche Vorschläge für neue Strafen in diesem Bereich und einige von ihnen sind auch schon seit mehreren Jahren in anderen Rechtsordnungen im Einsatz, so daß auf empirische Erfahrungen insoweit zurückgegriffen werden kann. Namentlich zu erwähnen sind hier vor allem die Erfahrungen mit den ,U.S. Sentencing Guidelines' in den Vereinigten Staaten. Insgesamt sollen hier nicht die einzelnen Formen der Strafe in aller Ausführlichkeit 119 Vgl. auch K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 174 ff., 177, der noch eine Differenzierung nach Inkriminierung innerhalb und außerhalb des traditionellen Kernbereichs des Strafrechts in Anlehnung an das BVerfG (z. B. BVerfGE 27 (18 ff.» vornimmt, die hier jedoch vernachlässigt werden kann. 120 Vgl. oben § 6 VI.
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diskutiert werden. Im Rahmen dieser Legitimation der Kollektivstrafe kann und wird es nur darum gehen, ob Alternativen der (empirischen) Strafe für Kollektive in Sicht sind, die mit der dogmatischen Fundierung vereinbart werden können und die darüberhinaus praktischen Erfolg versprechen. Zunächst noch einmal eine kurze Rekapitulation der Bestimmung der Funktion der Strafe: Das Strafrecht soll Schaden, der allgemein-verbindlich geltenden Rechtsnormen (immateriell) zugefügt wurde, wieder ausgleichen. Eine Kriminalstraftat bestimmt sich danach, ob die Normverletzung (der Verhaltensnorm, die insoweit den Ausgangspunkt der Argumentation darstellt) ein solches Gewicht hat, das dadurch das Recht als Recht in Frage gestellt wird, das Recht als Sicherung der Grundlagen der Freiheit l21 ! Die Normrehabilitierung vollzieht sich dabei (schematisch gesprochen) in zwei Schritten: dem Vorhalten der defizitären Einstellung des Normbrechers gegenüber dem Recht (Primärstrafe) und der Auferlegung eines materiellen, wahrnehmbaren Übels (Sekundärstrafe) 122. Mit dem ersten Schritt ist auch der Begriff des "sozial-ethischen Unwerturteils" u. ä. verbunden l23 . Dieses Vorhalten der defizitären Einstellung macht nun das Spezifische der Strafe aus. Es geht um das Vorhalten der Tat gegenüber dem Täter (Appellfunktion), die Restitution der Norm und damit der Rechtsordnung und die Distanzierung der Tat vom Täter durch die empirische Strafe, wobei nach bestätigter Freiheit im Schuldurteil das Ziel die Resozialisierung sein muß. Die Primärstrafe, d. h. der Vorhalt des Normverstoßes und entsprechende Restitution und auch das Aufzeigen des Selbstwiderspruches durch den Täter mittels des Schuldspruches, ist für ein Kollektivstrafrecht allemal zu leisten, solange sich die Handlungen/Unterlassungen und das Verschulden des Kollektivs in Worte fassen läßt - warum dies nicht möglich sein sollte, ist nicht ersichtlich. Kommen wir daher zu den möglichen Formen einer zukünftigen Verbandsstrafe. Dabei können analog zum Individualstrafrecht zunächst Sanktionen unterschieden werden, die auf der Auferlegung von Geldzahlungen (sehr unterschiedlicher Art) beruhen, und solche, die auf der Einschränkung der Freiheit, letztlich der unternehmerischen Freiheit, beruhen. Die geldbezogenen Sanktionen reichen von einer Art Pfand oder der schlichten Abschöpfung von Vorteilen über die Wiedergutmachung oder Wiederherstellung und den Ausschluß von anderen Vorteilen vor allem hin zur eigentlichen Geldstrafe - bei der sich die Diskussion vor allem über die Art und Weise der Berechnung erstreckt - und schließlich auch bis zur völligen Beschlagnahme des Vermögens. Die Einwände gegen die verschiedenen Konzepte sind unterschiedlicher Natur. Vor allem wird das Argument angebracht, daß alle 121 Vgl. hier nur M. Köhler, AT, S. 48 ff. und aus verfassungsrechtlicher Sicht I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 462 ff., 496 ff. 122 Vgl. W. Schild, Strafe und Grundgesetz, in: Festschrift-Lenckner (1998), S. 287 ff.; l. Appel, Verfassung und Strafe, S. 466 ff. 123 Vgl. hierzu und zu dem Fehler, der in der hier vorgenommenen Vermengung von Recht und Ethik/Moral liegt: I. Appel, Verfassung und Strafe, S. 468 ff.; dazu auch W. Schild, Strafe und Grundgesetz, in: Festschrift -Lenckner, S. 287 (301).
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finanziellen Strafen wirkungslos bleiben müßten, weil dem Unternehmen bestenfalls die erworbenen Vorteile entzogen werden 124 . Möschel hat hierzu angemerkt, daß es mit der Kalkulation für das Unternehmen nicht so weit her wäre, weil letztlich Preiserhöhungen für Produkte notwendig wären, die aber im Markt nicht einfach durchgesetzt werden könnten 125 . Zu welchen nicht vorhersehbaren ,arithmetischen' Fähigkeiten Unternehmen in der Lage sind, haben jedoch die Fälle von Automobilherstellern gezeigt, bei denen die Rückholkosten für fehlerhafte Autos (enorme Explosionsgefahr der Autos bei Auffahrunfällen) gegen die möglichen Verfahrens- und Schadensersatzkosten aus der Konfrontation mit den Opfern verrechnet wurden - mit einem positiven Saldo zugunsten der Verfahrens- und Schadensersatzkosten, so daß auf die Warnung und Rückholaktion verzichtet wurde. Aber das Argument von Möschel überzeugt vor allem auch aus einem weiteren Grund nicht. Die Nichtdurchsetzbarkeit von erhöhten Preisen durch Umlage (vorab oder im nachhinein) von Geldstrafen setzt einen intakten Markt voraus. Kartellrecht beschäftigt sich aber ganz überwiegend mit Fällen von vorhandener und mißbrauchter Marktrnacht und das impliziert zumindest eine Verzerrung der Marktstrukturen. Es kann daher davon ausgegangen werden, daß in den strafrechtlich relevanten Fällen - nach Abschichtung der Bagatellfälle - auf die sichernde Funktion des Marktes nicht vertraut werden kann. Als weiterer Beleg kann der Medikamenten- und auch Vitaminmarkt gelten, auf dem weltweit ein massives Preisgefälle herrscht und auf dem die Unternehmen keineswegs gehindert sind, Preiserhöhungen in einem Markt vorzunehmen, um mögliche Defizite in einem anderen Markt ausgleichen. Ein weiterer gewichtiger Einwand ist, daß es an Praktikabilität fehlt, wenn z. B. Wiedergutmachung oder -herstellung gefordert wird und unklar ist, wie hier der Schaden durch die Verletzung des Rechtsgutes ,Wettbewerb' in der Gesellschaft oder beim Verbraucher zu berechnen wäre. Schließlich führt natürlich die vollkommene Beschlagnahme des Vermögens zu schwierigen Problemen im Bereich der Möglichkeit der Enteignung und der Eigentumsgarantie (der Anteilseigner - dazu wurde jedoch bereits oben im Rahmen der Frage der Gerechtigkeit der Verbandsstrafe Stellung bezogen)126. Im Bereich der die Freiheit des Kollektivs betreffenden Sanktionen gibt es ebenfalls ein ganzes Bündel von Möglichkeiten: Genannt werden sollen hier die verschiedenen Formen von Auflagen (Einschränkungen von Rechten, Verbot von bestimmten Tätigkeiten und Eingriffen in die Organisation und Produktion), der Austausch im Bereich des Managements, die Bestellung eines Treuhänders / zusätzlichen Verwalters (die Unternehmenskuratel, wie sie von Schünemann vor124 Vgl. nur für viele B. Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III Unternehmenskriminalität, S. 129 (132). 125 Vgl. W. Möschel, Kriminalisierung, S. 55. 126 Vgl. oben § 11 IV. 2.; hier nur G. Heine, Sanctions in the field of corporate criminal liability, in: A. Eser/G. Heine/B. Huber, Criminal Responsibility, S. 237 (241 ff.).
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geschlagen wird), der zwangsweise Verkauf des Unternehmens, die Schließung von Abteilungen oder Unternehmensteilen und schließlich die komplette Schließung des Unternehmens l27 . Auch diese Strafen stehen in einem starken Spannungsfeld zur Unternehmer- bzw. Unternehmensfreiheit und vor allem den Eigentumsrechten der Verbandsmitglieder (i. e. S.), also der wirklichen Eigner. Ihr Vorteil liegt darin, daß die Strafen sich für das Unternehmen nur schwer vorausschauend in eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse mit einbeziehen lassen und darüberhinaus vor allem auf eine Besserung des Unternehmens hin wirken und in entsprechender Weise eine tatsächliche Resozialisierung bewirken können. Nun gibt es noch das besondere Problem der ,Verbands-Todesstrafe'. Die Gegner einer Verbandsstrafe merken dazu an, daß gerade an dieser Stelle die Unvergleichbarkeit des Kollektivs und des Individuums deutlich zu Tage treten 128 . Aber dieses Argument geht fehl: Ein Kollektiv kann natürlich nicht exakt gleich mit dem Individuum sein, was hier auch nicht behauptet wird - aber es kann insoweit dem Individuum gleich sein als es zur Konstitution der Rechtsordnung beiträgt. Dabei bleiben aber die spezifischen Differenzen stehen. Dem Verband kommt keine eigene Menschenwürde zu! Er ist ja auch kein einzelner Mensch - sondern ein Kollektiv. Aus diesem Grunde muß er als zweite Ausdrucksfonn des Menschen zwar auch eine eigene Würde haben, aber eben eine spezifische Verbandswürde, die sich dann natürlich auch aus der freiheitlichen Natur seiner Mitglieder speist. Es führte zu weit, deren Inhalt in dieser Arbeit aufzuarbeiten. Er kann nur umrissen werden (vor allem weiter unten, wenn es um die strafprozessuale Position des Kollektivs als Beschuldigter geht). Eine ,Verbands-Todesstrafe' könnte nach hiesiger Ansicht daher widerspruchsfrei begründet werden, weil Kollektive über eine geringere Kontinuität verfügen können, die nicht notwendig an die der Mitglieder gekoppelt ist. Daß es auf die Restitution der Rechtsordnung durch die Strafe ankommt und daher eine ,Auslöschung' des Konstituenten ausscheidet, ist zwar richtig. Aber die Unmöglichkeit, die Rechtsordnung durch Liquidation des Verletzers zu restituieren, resultiert eben aus der Menschenwürde. Das Kollektiv ist nur phasenweise Konstituent der Rechtsordnung. Allerdings ist diese Fonn der Sanktion kaum zweckmäßig. Kollektive erfüllen ganz wesentliche gesellschaftliche Funktionen, die eine Liquidation als mit zu großen Nebenwirkungen erscheinen lassen. Nicht auszuschließen ist unter Zweckmäßigkeitserwägungen dagegen eine Aufspaltung des Verbandes in Teilbereiche. Bei der Beschäftigung mit dieser Option wird nur zu deutlich, wie berechtigt die Kritik der Gegner einer Verbandsstrafe an der häufig benutzten Metaphorik ist; es wird aber ebenfalls deutlich, wie sehr sie selbst dieser Kritik ausgesetzt sind. So wie schon die Verbandsliquidation keine ,Todesstrafe' darstellt, so stellt erst recht eine Aufspaltung des Verbandes keine dar. Dies kann zweckmäßig 127 Vgl. nur G. Heine, in: Sanctions in the field of corporate criminal liability, A. Eser/G. Heine/B. Huber; Criminal Responsibility, S. 237 (245 ff.). 128 Vgl. dazu nur F. v. Freier; Kritik der Verbandsstrafe, S. 181 m. w. N.
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sein, um bestimmte strukturelle Gefahrenpotentiale für die Zukunft zu verringern oder gar auszuschließen. Gerade im Bereich des Kartellrechts ist dies eine (zumindest theoretisch) wichtige Möglichkeit. Die sogenannten Entflechtungen bringen allerdings ganz erhebliche praktische Probleme vor allem im Hinblick auf eine ausreichende staatliche Macht zur Durchsetzung und einen durch politisch einflußreiche Interessengruppen korrumpierten politischen Willen mit sich. Bei allen direkten Eingriffen in die Unternehmensentscheidungen und Unternehmenspolitik besteht zusätzlich zum Problem eines Eingriffs in die Eigentumsrechte ein weiteres schwieriges Problem: Wer soll für die Konsequenzen falscher Entscheidungen gerade stehen, wer soll die Kosten tragen müssen - der Verwalter oder die Eigner l29 ? Auf diese Frage kann hier nur hingewiesen werden. Einer Lösung kann diese Frage - wie leider auch andere - nicht mehr zugeführt werden. Wenn man aber die Argumente aus der Diskussion der Gerechtigkeit einer Kollektivstrafe mit einbezieht, deutet sich eine Lösung an, welche die Eigner grundsätzlich als eine Art Gruppe ursprünglicher Gefahrverursacher sieht und darüber hinaus in Rechnung stellt, daß mit der Investition in Unternehmen eine ökonomische Gefahr verbunden ist, die sich hier nun in spezieller Weise realisiert 130. Es gibt über die genannten Vorschläge hinaus auch noch eine Gruppe von Sanktionen, die ganz eigener Natur sind: Das reicht von der einfachen Warnung über die Unternehmens-Bewährung (,corporate probation') und Anteilsstrafen (im bezug auf Aktien und andere Finanzierungsmittel) bis hin zur besonderen Veröffentlichung von Verurteilungen 131 - ein Vorschlag, den Lüderssen schon vor längerer Zeit gemacht hat, allerdings als Alternative zur eigentlichen Strafe im Wirtschaftsrecht, und auf den weiter unten als mögliche Alternative zum Strafrecht noch besonders eingegangen wird 132. Diese spezifischen Sanktionen haben grundsätzlich den Vorteil, die speziellen Konstitutions- und Funktionsgegebenheiten der Kollektive mit einzubeziehen und damit effektiv sein zu können, ohne zu stark in wirtschaftliche Mechanismen einzugreifen - ja eher sogar diese zu nutzen.
Im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Kollektivstrafe stellt sich nun die Frage, inwieweit nach den hier erarbeiteten Grundlagen eines Kollektivstrafrechts die einzelnen Formen der Strafe als Sanktion wirklich in Frage kommen. Dabei ist wohl unstreitig, daß es nicht auf Funktionalität als dem einzigen Kriterium ankommen kann. Es muß darum gehen zu untersuchen, inwieweit die einzelnen Strafen auch im Kollektivstrafrecht genauso wie im Individualstrafrecht dazu in der Lage sind, den Schuldspruch bzw. die Verurteilung, das eigentliche Urteil 133 , nach außen 129 Vgl. auch G. Heine, Sanctions in the field of corporate criminal liability, in: A. Eser/G. Heine/B. Huber, Criminal Responsibility, S. 237 (247 f.). 130 Vgl. nur oben § 11 IV l. I31 Vgl. die Übersicht bei: G. Heine, in: Sanctions in the field of corporate criminalliability, A. Eser/G. Heine/B. Huber, Criminal Responsibility, S. 237 (238 f.). 132 Vgl. unten § § 12 V. 2. m Die Primärsanktion in der Terminologie Appels, vgl. hier nur dens., Verfassung und Strafe, S. 79 ff.
§ 12 Antworten zur Strafbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts
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zu vollziehen und damit eine Mahnung und Zeichen an den Täter zu sein und zugleich seine Resozialisierung zu fördern. Damit scheiden zunächst alle Strafen aus, deren Konsequenz der Ruin des Unternehmens wäre. Ausnahme bildet hier nur die bewußte Schließung aufgrund einer zu großen dauerhaften Gefährdung der Allgemeinheit - hier liegt die Parallele aber wohl eher zur Maßregel der Sicherung, weil eine "Heilung" und Resozialisierung ausgeschlossen ist, als zur Todesstrafe\34, da sich ein Verband bei Liquidation nicht in Luft auflöst, sondern im Ganzen oder in Teilen veräußert wird und insofern in einzelnen Teilen weiter besteht. Nach vollzogener Strafe kommt - anders als bei der Todesstrafe gegen Menschen - eben auch eine Rekonstitution des Kollektivs zumindest theoretisch in Frage, in nichtökonomischen Bereichen ist die Rekonstitution sogar eine ganz reale Möglichkeit. Im Gegensatz nun zum Individualstrafrecht, in dem Strafen mit "Prangerwirkung" aufgrund eines Verstoßes gegen die Menschenwürde per se ausgeschlossen sind, ist die medienwirksame Publikation im Bereich des Kollektivstrafrechts durchaus eine ernsthaft zu erwägende Option. Das Problem des Prangers ist jedoch die Gleichsetzung von Täter und Tat und Instrumentalisierung eines Menschen zu Demonstrationszwecken. Im Bereich der Wirtschaft besteht diese Gefahr nicht in gleichem Maße: Ein Unternehmen wird wesentlich rationaler eingeschätzt als ein Mensch und daher auch die Tat viel distanzierter gesehen als beim Menschen. Das Grundprinzip des Schuldstrafrechts ist jedoch gerade - und das kommt auch im Schuldspruch zum Ausdruck -, daß der Täter Verantwortung (für seine Tat als Schuld) übernehmen und sich davon distanzieren soll bzw. davon durch die Strafe distanziert wird. Wenn dadurch letztlich das Ziel eine Resozialisierung sein soll, dann muß auf eine ausgewiesene Prangerwirkung verzichtet werden, da sie dem Verband vermutlich zu stark mit einem strafrechtlichen Schuldspruch schaden würde. Wenn also an Veröffentlichungen gedacht wird, dann muß eine tatsächliche Prangerwirkung außen vor bleiben. Unter strafrechtlichem Blickwinkel scheidet die Publizitätsidee aus. Auch die Unternehmenskuratel Schünemanns ist trotz ihres freiheitsentziehenden Charakters wohl mit den Vorschlägen Lüderssens vergleichbar 135 . Auch bei dieser handelt es sich um eine Sanktion, die versucht mit den ganz spezifischen Bedingungen des Kollektivs zu arbeiten: dem individuellen und kollektiven Moment in ihrer besonderen Verquickung, so wie sie oben auch beschrieben wurde. Schünemann geht davon aus, daß es darauf ankommt, vor allem das Management eines Unternehmens zu beeindrucken; der präventive Gedanke der Strafe steht hier - Idee des Präventionsnotstandes! - im Vordergrund. Entsprechend ist die Ausgestaltung: Auslöser ist eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit im Leitungsbereich eines Unternehmens. Sinn der eingesetzten Kuratel soll die Resozialisierung sein. 134 Auch aus diesem Grunde gehen die Ausführungen v. Freiers fehl, vgl. dazu dessen Ausführungen, Kritik der Verbandsstrafe, S. 181. 135 Vgl. dazu B. Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 (139 ff.); vgl. zu diesem auch oben, § 8 11. 1.
22 Kohlhoff
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Der Kurator ist auf der obersten Leistungsebene mit umfassenden Informationsrechten und Berichtspflichten (z. B. über neue Rechtsgutsverletzungen) eingesetzt. Das betroffene Unternehmen hat den Zusatz ,unter Kuratel' in den Firmennamen / briefkopf zu übernehmen, wodurch vor allem auch eine Wirkung gegenüber der (allgemeinen und branchenspezifischen) Öffentlichkeit erzielt werden soll. Zwei weitere besondere Umstände zeichnen die Kuratel aus und machen sie vermutlich vor allem deshalb für Schünemann nun zum "Ei des Columbus,,\36: der Umstand, daß der Kurator keine eigenen unternehmerischen Entscheidungen treffen darf, insofern ,nur' das Auge des Staates darstellt, und deshalb der immanente Konflikt der Verbandsstrafe mit Art. 14 GG im Hinblick auf die Rolle der Anteilseigner gelöst werden könne. Weiter ermöglicht dies aber nun auch - wie Schünemann zu Recht feststellt -, daß die Kuratel bereits im Strafverfahren angeordnet werden kann, da der Kurator ja nicht entscheidend in irgendjemandes Recht eingreift entsprechend der vorläufigen Entziehung des Führerscheins. Gerade im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit langer Verfahren (z. B. im Umweltrecht) wird das als ein enormer Vorteil angesehen. In der Tat weist die Idee der Unternehmenskuratel viele Vorteile auf. Die Einschätzung als ,Ei des Columbus' möchte man allerdings schwerlich teilen. Das liegt nun an der dogmatischen Grundposition, auf der Schünemann sie aufbaut und von der sie gelöst werden muß. Die Strafe ist eben nicht nur: Prävention und einfache Resozialisierung - wobei sich im Rahmen des ,Kuratel' -Zusatzes ohnehin die Frage stellt, inwieweit hier nicht (entsprechend dem eben zur Prangerwirkung ausgeführten) gerade dem Ziel der Resozialisierung entgegengearbeitet wird. Das Erstgenannte (Prävention) ist nur Reflex und das zweite (Resozialisierung) das Fernziel der Strafe. Diese ist - wie schon mehrfach betont - Ausgleich der Störung der Rechtsordnung und Distanzierung des Taters und damit Vergeltung. Das muß an dieser Stelle nicht ein weiteres mal ausgeführt werden. Es ist jedoch zuzugeben, daß sich der Gedanke der Kuratel (ohne Pranger-Idee) in ein entsprechend zu konzipierendes Gesamtkonzept des Sanktionssystems aufgrund ihrer zahlreichen Vorzüge gut einzufügen könnte. In der Tat tastet sie die Rechte der Eigentümer kaum an. Sie ist u. a. deswegen auch bereits im Verfahren einzusetzen - natürlich unter der bereits von Schünemann benannten Voraussetzung eines entsprechend dringenden Tatverdachtes. Die Kuratel kann daher vor allem als besondere Maßnahme der Besserung gesehen werden, der jedoch zugleich eine dem Haftbefehl ähnliche, präventive Funktion vor einer Verhandlung zugeschrieben werden kann. Da auch und gerade hier aber die Resozialisierung aufgrund der stärker rationalen Struktur des Kollektiv-Subjektes das Ziel sein kann, muß eine Konzeption sich an den in Unternehmen wirkenden Mechanismen orientieren: Und das sind vorwiegend organisatorisch bedingte (funktionale) und ökonomische Mechanismen. Die136 B. Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmenskuratel, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. III: Unternehmenskriminalität, S. 129 (139).
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sen Weg haben die bereits erwähnten U.S.-Sentencing Guidelines beschritten. Aufgrund der Erfahrung, welche Schwierigkeiten die Wahl der richtigen und angemessenen Strafe den Richtern machte, wurde in den USA seit längerem von einer Kommission an Richtlinien für diese Frage gearbeitet, was 1991 mit Inkrafttreten der Sentencing Guidelines dann vorläufig seinen Abschluß fand 137. Diese sollen nun hier kurz vorgestellt werden und ebenfalls nach den oben erarbeiteten Maßstäben (Begründung von Strafe, Verhältnis Schuld-Strafe, Konstituierung der Rechtsordnung) beurteilt werden. Die Sentencing Guidelines regeln nur die Frage der Strafzumessung, wobei jedoch - und das macht diese Richtlinien erst so attraktiv - auch die Frage nach dem "wie" der Strafe, also der konkret zu wählenden Strafform, mit inbegriffen ist\3s. Die Frage der Strafbarkeit wird nach im anglo-amerikanischen Rechtskreis anerkannten Prinzipien in dreifacher Weise differenziert i39 : Die klassischen ,mensrea ' -Delikte werden nach der auch im englischen Rechtskreis angewandten ,alterego'-Theorie behandelt 140, die etwaige Äußerungen einer Person des engeren Führungskreises (z. B. des Unternehmens) als Äußerung des Kollektivs ansieht. Andere ,mens rea'-Delikte, die nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (auch) für Unternehmen gelten sollen, kann das Kollektiv durch Handeln jeder seiner Angestellten begehen - allerdings mit der Möglichkeit der Exkulpation 141. Schließlich kennt das U.-S.-amerikanische Recht aber auch die sogenannten ,strictliabillity'-Delikte, die einer Zufallshaftung entsprechen ohne Schulderfordernis und ohne Möglichkeit der Entlastung 142. Nach den hier erarbeiteten Grundlagen eines Kollektivstrafrechts ist klar, daß die letzte Alternative als Strafrecht nicht begründbar und die Differenzierung zwischen der ersten und der zweiten Alternative in dieser abstrakten Form nicht möglich ist. Das Prinzip der Guidelines hinsichtlich des Einsatzes seines Strafinstrumentariums wird beschrieben als "Carrot and Stick", die englische Wendung des deutschen "Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzips" 143. Grundsätzlich sind empfindliche \37 Vgl. dazu: G. Dannecker, "Good Corporate Citizen" und europäische Rechtsentwicklung, in H. Alwart, Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 6 ff. (9 ff.); im gleichen Band auch: SteinherrlSteinmannlOlbrich, Die U.S.-Sentencing Guidelines. Eine Dokumentation, S. 153 ff. 138 Zu den Schritten bei der Auswahl und genauen Ennittlung der Strafe. vgl. A. Ehrhardt, Unternehmensde1inquenz, S. 124 ff.; G. Dannecker, Good Corporate Citizen" und europäische Rechtsvergleichung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 6 ff. (10); ausführlich: SteinherrlSteinmannlOlbrich, Die U.S.-Sentencing Guidelines. Eine Dokumentation, S. 153 ff. 139 Vgl. dazu im Überblick G. Dannecker, ,Good Corporate Citizen' und europäische Rechtsvergleichung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 6 ff. (8 f.); dazu auch ausführlich A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 90 ff. m. w. N. 140 Vgl. dazu auch ausführlich A. Ehrhardt. Unternehmensdelinquenz, S. 91 ff. 141 Vgl. nur A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 102 ff. 142 Vgl. nur A. Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz, S. 92 ff.
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Geldstrafen für ein Unternehmen im Falle einer Verurteilung vorgesehen. Die Strafen werden im Groben folgendermaßen berechnet 144: In einem ersten Schritt wird anhand der Situation des Unternehmens (Gewinn aus der Tat) und der Auswirkungen der Tat (Schaden) eine Basisstrafe errechnet (,base fine'). Danach wird ein Art Schuldfaktor (,culpability score') ausgehend von einem Mittelwert (5) kalkuliert, auf den boni (z. B. für Präventionsmaßnahmen wie Durchführung von Ethikprogramme, Verhalten im Rahmen des Ermittlungsverfahrens) und mali (z. B. für Stellung der handelnden Person, Bewährungsversagen) angerechnet werden. In einem dritten Schritt wird anhand einer Tabelle unter Anwendung des Schuldfaktors und auch der Basisstrafe der Strafrahmen errechnet. Besonders interessant werden die Guide1ines - neben der Möglichkeit, Bemühungen des Unternehmens im Vorfeld über boni bei der Strafenberechnung zu berücksichtigen - vor allem aufgrund der Ergänzung des Programms im Kartellrecht durch eine Amnestie-Politik für Unternehmen 145 . Diese eröffnet für Unternehmen in zwei Fällen die Möglichkeit der Straffreiheit: entweder durch Hinweis auf die Verwicklung in ein Kartell vor Aufnahme offizieller Ermittlungen oder für den Fall bereits laufender Ermittlungen durch Aufdecken von Informationen, die anderenfalls für die Behörden nur schwer zugänglich gewesen wären. Hier soll nur auf die große Problembeladenheit einer Kronzeugenregelung hingewiesen werden, die auch die deutsche Strafrechtswissenschaft und -praxis bereits im Rahmen der Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung seit den 1970er Jahren beschäftigt hat und in Folge der zukünftigen Bekämpfung des internationalen Terrorismus wieder beschäftigen wird 146 . Gerhard Dannecker hat sich aufbauend auf einem auf Europa gerichteten Rechtsvergleich gegen eine entsprechende Übertragung der Guidelines auf Europa ausgesprochen. Er hat sich zum einen gegen eine Anwendung auf europarechtlicher Ebene ausgesprochen, weil die Guide1ines mit ihrer Berücksichtigung der präventiven Organisationsbemühungen auf der Strafzumessungsebene vor allem auch die Aufgabe hätten, die im amerikanischen Recht oft unbestimmten Straftatbestände stärker zu konkretisieren. Vor diesem Problem stände man im europäischen Rechtskreis nicht, in dem sich um hinreichend bestimmte Tatbestände bemüht würde. Nach seiner Einschätzung paßt aber auch die Strafberechnung nicht, 143 Vgl. dazu ausführlich das Mitglied der Guidelines-Kommission: W M. Swenson, "Carrot and Stick" - über die Grundgedanken und die Funktionsweise der Organizationale Sentencing Guidelines, in H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 36 ff. m. w. N. 144 Vgl. den Überblick bei G. Dannecker; ,Good Corporate Citizen' und europäische Rechtsvergleichung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S.IO. 145 1978 beschlossene und 1993 erweiterte Corporate Amnesty Policy, vgl. dazu auch: J. Wieland, Globalisierung und rechtliche Verantwortung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 46 (47 f.). 146 Vgl. nur C. Krehl in: HK-StPO, Einl. Rn. 14 m. w. N. zu dieser Diskussion.
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da sie einerseits - dieses stichhaltige Argument wurde bereits erwähnt - dem Unternehmen immer noch die Möglichkeit einer Vorabkalkulation erhält, andererseits aber aufgrund ihrer Tabellenhaftigkeit auch gegen den Grundsatz der individuellen Strafzumessung verstößt l47 . Josef Wieland hat sich hingegen für die Übernahme der Gedanken der Sentencing Guidelines in das deutsche bzw. europäische Recht ausgesprochen l48 . Er befürwortet vor allem eine Übernahme von deren anreiz-sensitiver Ausgestaltung. Nun wurde oben 149 bereits in den Ausführungen zum Begriff der Sanktion betont, daß im Recht vor allem mit negativen Sanktionen gearbeitet wird, weil allgemein (und zu recht) angenommen wird, daß die Einhaltung allgemein gültigen Rechts für jeden unabdingbare Pflicht ist und keine Dokumentation des guten Willens auch wenn die höhere Effizienz positiver Sanktionen als durchaus belegt angesehen werden kann. Was sind daraus für Konsequenzen zu ziehen, daß hier mit dem sprichwörtlichen "Zuckerbrot" gearbeitet wird? Zunächst muß in einer ersten Antwort dies zwar als problematisch, aber nicht grundsätzlich systemwidrig angesehen werden. Die Strafmilderungen beziehen sich grundsätzlich nur auf das ,wie' der Strafe und nicht das ,ob'. Ansonsten werden im Rahmen der Strafzumessung bei Individualstraftaten sehr ausführlich die gesamten Tatumstände und vor allem auch Fragen des Täters und seines Verhaltens vor und nach der Tat berücksichtigt. Dabei findet gerade auch das positive Vorleben eines Straftäters Berücksichtigung l5o . Die darüber hinaus gehende Amnestie wiederum ist eine Form der KronzeugenRegelung, ohne die in bestimmten Gebieten aufgrund der teilweise stark ausgeprägten Informationsasymmetrie zwischen dem Staat und seinen ermittelnden Behörden einerseits und den Tätern andererseits ohnehin nicht auszukommen ist. Wieland schlägt vor, dies weniger unter der Überschrift ,Belohnung' als eher ,Pädagogik' zu sehen 151. Aber das wiederum ist eine Kategorienverwechslung, da die Sanktion in ihrer negativen und positiven Form (Strafe und Belohnung) ein Mittel der Pädagogik sein muß. Überzeugender ist da schon der Hinweis, daß sich Rechtstreue als effektiv herausstellen ("lohnen") müsse. Das wiederum ist natürlich auch der Gedanke der freiheitlichen Vernunft, von dem aus eine Rechtsordnung konstituiert wird, die für alle Vorteile bringt l52 . Unter den gegebenen Bedingungen kann ein Kronzeuge tatsächlich zu Wiederherstellung der Rechtsordnung 147 G. Dannecker, Good Corporate Citizen' und europäische Rechtsvergleichung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 29 f. 148 J. Wie land, Globalisierung und rechtliche Verantwortung. Die Unternehmen als Akteur der Gesellschaft, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 46 ff. 149 Vgl. oben § 21. 150 Vgl. dazu nur H.-J. Bruns, Strafzumessung, S. 144 ff., insbes. S. 219 ff. 151 Vgl. J. Wieland. Globalisierung und rechtliche Verantwortung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 52. 152 Vgl. dazu und vor allem der Einbeziehung der sog. "Free Rider" O. Häffe, Politische Gerechtigkeit, S. 421 ff.
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beitragen und damit auch einen ganz wesentlichen Teil seiner eigenen Schuld ausgleichen. Nun könnte natürlich weiter eingewandt werden, daß hier für das Strafrecht viel zu stark mit ökonomischen Mitteln gearbeitet wird 153. Aber das muß der falsche Schluß sein! Denn wenn erst einmal die Stellung von Kollektiven (u. a. eben auch von untemehmerischen Kollektiven) als Mit-Rechtskonstituenten festgestellt und begründet ist, kann es nur darum gehen, die hier richtige materielle Strafe zu finden. Und in einem Bereich, der die wirtschaftliche Lebenswirklichkeit aufzuarbeiten hat, wie es die Rolle des Wirtschafts(straf)rechts ist, ist dies der einzig gangbare Weg. Aufgrund der tatsächlichen strukturellen Kopplung von Rechts- und Wirtschaftssystem muß im weiteren Verfahren ökonomischer Logik breiter Raum eingeräumt werden, will man nicht ein vollkommen nutzloses Recht konzipieren I54 . Dabei verträgt sich das auch durchaus mit dem Gedanken der Vergeltung, denn auch die Funktion der Vergeltung kann nur eine Strafe erfüllen, die sich an der Lebenswirklichkeit orientiert. Die Strafe besteht, wie oben herausgearbeitet wurde, aus zwei Teilen: dem strafenden Schuldspruch und der empirisch zu vollziehenden Strafe. Sie ist einerseits ideeler Ausgleich und Symbolik (Vorhalt der defizitären Einstellung und Distanzierung des Taters), andererseits Mittel der Resozialisierung. Daß das Individualstrafrecht im Hinblick auf letzteres sich noch schwer tut, ändert aber an dem Prinzip nichts - zumal wenn die Chancen für eine Resozialisierung im Wirtschaftsrecht vermutlich sogar besser stehen als im Individualstrafrecht. Somit ist die Strafe als (auch) empirisches Ereignis an den empirischen Gegebenheiten im Taterbereich auszurichten. Man könnte das - neudeutsch - als eine Art Rückkoppelung des Strafrechts mit der Wirtschaft bezeichnen, aber das würde ein verzerrtes Bild ergeben: Denn Recht und Strafrecht mußte schon immer Realität abbilden und formen und dazu mit den geltenden Bedingungen abgleichen.
11. Fragen der Praktikabilität
Einige Punkte, die eine Praktikabilität von Normen maßgeblich beeinflussen, wurde oben schon im Anschluß an die Feststellung der Strafwürdigkeit von Kartell153 So geht beispielsweise ein Einwand R. Zaczyks, Der Begriff der "Gesellschaftsgefahrlichkeit", in: K. Lüderssen u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Ultima-ratio-Prinzip, S. 113 ff. (1l5), gegen die Inkriminierung von Verletzungen von Kollektivrechtsgütern dahin, daß entsprechenden gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu einer zunehmenden Distanzierung der Einzelnen, auch in ihrer gesellschaftlichen Gemeinschaft, von einander weg, nicht durch strafrechtlichen Schutz auch noch Vorschub geleistet werden dürfe. 154 Vgl. dazu - zu ökonomischen Anreizen und Rechtspflichten - und weiter der Logik der Steuerung der Unternehmen durch das Instrumentarium der Guidelines: J. Wie land, Globalisierung und rechtliche Verantwortung, in: H. Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen, S. 46 (51 ff. und 54 ff.).
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rechtsdelikten behandelt 155 . Von der Praktikabilität eines Gesetz kann in der Regel dann gesprochen werden 156, wenn es vorprogrammiert unwirksam ist. Die Praktikabilität eines Gesetzes wird vor allem durch seine Konzeption bedingt, d. h. inwiefern es so klar formuliert ist, daß der Adressat es verstehen und auch befolgen kann und die Vollzugs- und Sanktionsinstanzen es umsetzen können. Es geht also im folgenden um die praktischen Hinderungsgrunde der optimalen Wirkung eines Gesetzes aus dem Bereich der Rechtsumsetzungs- bzw. Rechtsanwendungsinstanzen.
1. Probleme des materiellen TatstraJrechts
Es wurde bereits im Rahmen des zweiten Teils dargelegt, daß eine hinreichend klare Fassung bestimmter Kartellstraftatbestände im Hinblick auf das mit Strafe bedrohte Verhalten zwar einigen Schwierigkeiten ausgesetzt sein mag, aber doch möglich ist. Dazu ist vor allem die Regelbeispieltechnik und das Einbeziehen bestimmter subjektiver Momente (spezieller Absichten) geeignet. Für diejenigen Tatbestände des GWB, für die eine solche Möglichkeit nicht gefunden werden konnte, wurde daher von einer Inkriminierungsempfehlung abgesehen. Für bestimmte Verhaltensweisen konnte bei trotzdem gegebener regelmäßiger Strafwürdigkeit auf die Strafbewährung des Zuwiderhandelns gegen kartellbehördliche Verfügungen zuruck gegriffen werden. Große Schwierigkeiten hätten vor allem Ermessensspielräume auf der Tatbestandsseite der GWB-Verbote bereitet, wie sie von der sogenannten ,rule of reason' benutzt werden. Im deutschen Kartellrecht sind diese Normen nicht (mehr) vorherrschend. Gegen sie sprechen auch erhebliche wettbewerbsrechtliche Argumente, die oben ausführlich diskutiert wurden. Von der Möglichkeit einer klaren Formulierung der Normen eines Kartellstrafrechts kann daher ausgegangen werden. Dies gilt umso mehr, als mit einem Kollektivstrafrecht nunmehr auch die unmittelbare Adressierung konsequent ausgestaltet werden kann, weil dargelegt ist, warum ein Kollektiv nicht nur Adressat einer Norm sein kann, wenn sie auf die Beeinflussung seines Verhaltens abzielt, sondern auch sein muß. Nur auf diese Weise kann die kollektive Persönlichkeit angesprochen werden. Auch das Problem der Ausnahmebereiche und der Ausnahmetatbestände zum Kartellverbot wurden oben bereits behandelt 157. Dort konnte dargelegt werden, daß sie sich in das System der Rechtswidrigkeit von strafrechtlichen Handlungen gut einfügen lassen. Die Fragen der Schuld des Taters in Form der Vorwerfbarkeit der Tat als Ganzes und des Unrechtsbewußtseins waren aus der Sache heraus speziell für das Kollektiv zu betrachten, da hier die (abstrakte) Taterpersönlichkeit und möglicherweise in ihr angelegte Grunde, die gegen eine Strafbarkeit im konkreten Einzelfall sprechen, wesentliche Implikationen liefern mußten. Auch für die 155 156 157
Vgl. dazu oben § 6 IV. Vgl. dazu auch oben die Nachweise § 6 VI. Vgl. oben § 6 IV. 2.
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
Konzeption der Schuld und des Schuldspruches sowie der empirischen Strafe konnte insofern eine befriedigende Lösung gefunden werden i58 , wobei hier an die - schon ausführlich diskutierte - fehlerhafte Organisation und die kriminelle Verbandskultur angeknüpft wurde. Schließlich kann auch eine ausreichend kompetente Rezeption eines solchen neuen Strafrechts in den betroffenen Kreisen - die bei anderen Regelungsmaterien durchaus problematisch sein kann - aufgrund der dort stetigen Reflexion der (auch rechtlichen) Rahmenbedingungen und weiter der zur Verfügung stehenden Rechtsberatungskompetenz angenommen werden.
2. Probleme der Rechtsanwendung und der Strafverfolgung
Die Vorschriften eines Kartellstrafrechts, wie sie vorgeschlagen wurden, stellen entsprechende Voraussetzungen für eine rechtsstaatliche Anwendung durch die Behörden sicher. Einer materiell-rechtlichen ,rule of reason' wurde aus wettbewerbsrechtlichen Gründen der Weg verstellt. Das wirft nun die Frage auf, inwieweit nicht die Arbeit der Behörden durch die Einführung eines Kartellstrafrechts erheblich erschwert wird. Der Existenz des Opportunitätsprinzips und der Flexibilität des Ordnungswidrigkeitenrechts wird von den Kartellbehörden eine große Bedeutung zugesprochen. Unabhängig von der Frage, wer die Ermittlungen nun übernehmen würde, Kartellbehörden oder Staatsanwaltschaft, sind mit der Einführung des Strafrechts einige Konsequenzen verbunden. Auf der Ebene des Zusammenwirkens von Primär- und Sekundärrecht wird regelmäßig der Hinweis der Gefahr des ,Durchschlagens' der Strafrechtsnormen auf das materielle Kartellrecht gegeben 159 . Dabei wird ein Einfluß der gebotenen restriktiven Auslegung im Strafrecht auf die Rechtsfortbildung im materiellen Kartellrecht prophezeit. Zunächst ist zu unterstreichen, daß dieses Auslegungsgebot nicht existiert l60 , womit der Einwand bereits hinfällig ist. Die Gefahr einer Normambivalenz, also der notwendigen Auslegung derselben Tatbestandsmerkrnale je nach ihrer Anwendung im wettbewerb lichen oder strafrechtlichen Bereich, kann mit der Formulierung eigenständiger Tatbestände entgegnet werden. Es bleibt dann nur noch der Einwand der (schädlichen) Entwicklung eines Nebenkartellrechts durch die Rechtsprechung. Aber diese Gefahr dürfte gering einzuschätzen sein, da nicht ersichtlich ist, warum sich die Rechtsprechung von den Erkenntnissen des Primärrechts der letzten 50 Jahre entfernen sollte. Ein neuerliches Ausdehnen der Straftatbestände stünde aber naturgemäß erst an, wenn neue systemschädigende Verhaltensweisen einwandfrei identifiziert sind und diese können dann aber auch bei Verwendung einer Regelbeispieltechnik im Tatbestand integriert werden. 158 159
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V gl. § 11 I. 3. d. (zur Schuld) und H. (zur empirischen Strafe). Vgl. nur W Möschel, Kriminalisierung, S. 50 f. So schon K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 34, 167 f.
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Wahrscheinlicher ist da schon eine Kartellbehördenpraxis, die sich dem Interventionismus zuwendet. Gänzlich substanzlos ist bei der Einführung eines Kartellkollektivstrafrechts der Einwand Möschels, daß es zu einer Verzerrung der natürlichen Perspektive weg vom Verband bzw. Unternehmen hin zum Individuum käme l61 . Als weiterer Kritikpunkt an der Inkriminierung wird daher häufig die mangelnde Eignung des Strafverfahrens nach der StPO genannt. In ihrer Grundaussage meint die Kritik, daß die StPO insgesamt im Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts vor solche Probleme gestellt ist, daß eine befriedigende Lösung in nicht-strafrechtlichen Regelungsalternativen gesucht werden muß. An dieser Stelle ist zunächst nur auf die grundsätzliche Eignung der StPO einzugehen. Für die Bedeutung des Opportunitätsprinzips des Verwaltungs- und Ordnungswidrigkeitenrechts, das im Grundsatz zu opfern wäre, werden vor allem zwei Gründe genannt: zunächst der Umstand, daß auf diesem Wege doch Argumente der Nützlichkeit einer Wettbewerbsbeschränkung berücksichtigt werden können. Eine solche Praxis geht auf Kosten der freiheitssichernden Funktion des KarteIlrechts und verwickelt sich darüber hinaus auch in immanente Widersprüche, wenn sie z. B. die niedrigeren Preis als Maßstab nimmt, aber außer Betracht läßt, daß bei aufgrund der Beschränkung reduziertem Wettbewerb bald kein Grund mehr für die Beteiligten zur Beibehaltung solcher Preise besteht l62 • Eine hierauf fußende Praxis der Kartellbehörden, die einer quasi-,rule of reason' gleich kommt, ist bereits nach geltenden Recht gesetzeswidrig l63 • Berücksichtigung können derartige Überlegungen aber zum Teil im Rahmen einer tatbestandlichen Schwereklausel finden, wie sie namentlich von Tiedemann vorgeschlagen wurde, aber auch im Alternativ-Entwurf zum StGB enthalten war l64 . Als weiteres Argument gegen eine Inkriminierung wird angeführt, daß die Möglichkeiten einer Wettbewerbsförderungspolitik verbaut werden 165. Das GWB soll breiter angelegt sein als nur auf reinen Wettbewerbsschutz. Hier könnten die Kartellbehörden im Vorfeld von Sanktionsverhängungen Aufklärungsarbeit leisten und tatsächlich eine Menge bewirken. Dieses Potential müßte zwangsläufig aufgegeben werden, da die Kartellbehörden durch eine Inkriminierung in die Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei gerückt würden. Dem ist zweierlei entgegen zu halten. Zum einen ist diese Konsequenz keinesfalls ausgemacht, denn den Unternehmen könnte gerade an einer tatsächlichen Kooperation mit den Kartellbehörden gelegen zu sein, um von vorne herein nicht ins Fadenkreuz staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen zu geraten - denn die Rolle der Kartellbehörden im Strafverfahren, sprich: Vorverfahren, ist im Zweifel die eines neutralen Beraters der StaatsanwaltVgl. W. Möschel, Kriminalisierung, S. 50. Vgl. dazu nur K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 164 f. 163 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 167 m. w. N. 164 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 154 ff.; zum Alternativ-Entwurf vgl. oben § 2 IV. 3. 165 SO Z. B. W. Möschel, Kriminalisierung, S. 49 f. 161
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schaft und damit auch eines möglichen Anwalts der Unternehmen über die "neutrale" Rolle der Staatsanwaltschaft hinaus. Weiter kann auch an der Möglichkeit dieser Förderungspolitik gezweifelt werden, solange sie auf die Zusagenpraxis der Unternehmen gestützt wird 166 . Die Ineffizienz dieser Praxis - insbesondere die mangelnde lustiziabilität - hat im Rahmen der 6. Novelle dazu geführt, die Möglichkeit von Zusagen im Rahmen der Fusionskontrolle gegen klare Auflagen auszutauschen. Zum anderen ist oben im Rahmen der Behandlung der Sanktionen darauf hingewiesen worden, daß ein Kollektivsanktionssystem diesen Fragen - letztlich Fragen der notwendigen Kooperation aufgrund der starken Informationsasymmetrie zwischen Kartellbehörden und Unternehmen - Rechnung tragen kann. Beispiel hierfür waren die U.S. Sentencing Guidelines. An dem Verfahren ändert sich letztlich nichts so Bedeutendes, daß ein Verzicht auf die Inkriminierung gerechtfertigt wäre. Von bestimmten liebgewonnenen Praktiken müßte sich das Bundeskartellamt ohnehin verabschieden. Es wird aber auch als problematisch empfunden, daß es zum Nachweis der Verwirklichung eines Tatbestandes in aller Regel des Indizienprozesses bedürfte. Für die Beschränkungen mittels Verhandlungsstrategien muß in der Tat festgehalten werden, daß schriftliche Verträge kaum noch geschlossen werden, so daß aus einer Vielzahl von Puzzle-Stückchen (Protokolle, Notizen, Zeugenaussagen etc.) das Geschehen rekonstruiert werden muß. Dies gilt jedoch bereits für die Arbeit des Bundeskartellamtes und im weiteren auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren, für den Fall - und von dem müssen die Kartellbehörden ausgehen -, daß die Sache vor Gericht gelangen sollte, da dort die Regeln der StPO ganz überwiegend zur Anwendung kommen (unter Ausnahme der strengen Form der Beweisaufnahme) 167. Die vermeintlich fruchtbare Kooperation der Kartellbehörden mit den Unternehmen dürfte sich auf Fälle beschränken, in denen die Unternehmen von den Kartellbehörden mehr zu befürchten haben und die Behörden im Hinblick auf ihren eigenen Informationsstand "bluffen". Der Indizienprozeß ist hingegen auch durchaus effektiv, zumal wenn der Prozeß durch Übertragung der Zuständigkeit an auch sonst für Wirtschaftsdelikte zuständige Staatsanwaltschaften und Gerichte und durch Konzentration auf eine Kammer an den zuständigen Gerichten unterstützt wird 168 . Im weiteren hat Tiedemann darauf hingewiesen und ist durch den Fall ,Microsoft' in jüngster Vergangenheit bestätigt worden -, daß die Kriminalistik in der Lage ist, typische Strukturen wie die der Arbeitsteilung oder andere z. B. technische Umstände (so geschehen mit belastenden e-mails im Fall ,Microsoft') für ihre Ermittlungen zu nutzen. Es hat sich auch Vgl. W Möschel, a. a. O. Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 169 f.; vgl. dazu allgemein nur L. Senge in: KK-OWiG, § 71 Rn. 13 ff., zur Beweisaufnahme vor allem § 77 Rn. 3 ff.; vgl. auch J. lAmpe in: KK-OWiG, § 46 Rn. 5, der zu Recht darauf hinweist, daß die Verwaltungsbehörden bereits für das normale Verfahren wegen § 46 OWiG in die Rolle der Staatsanwaltschaft versetzt werden. 168 Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 170, 171 m. w. N. 166 167
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gezeigt, daß im Kartellverfahren heute schon auf der Seite der Beschuldigten mitunter alle prozessualen Register gezogen werden l69 . Schließlich wirft die notwendige Integration der Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde - traditionelle ,Herrin des Vorverfahrens' - einige Fragen auf. Die Rolle der Kartellbehörden, insbesondere des Bundeskartellamtes, muß hier neu definiert werden. Die Befürchtung ist, daß keine Wettbewerbspolitik aus einem Guß gewährleistet wäre und es zu starken Reibungsverlusten zwischen Kartellbehörden und Staatsanwaltschaften kommen könne l7o. Es ist nun keine Frage, daß das know-how der Kartellbehörden erhalten bleiben muß und daher eine generelle Übertragung des Verfahrens auf die Staatsanwaltschaft ausscheidet l71 • Minimalfassung könnte das Einholen einer umfassenden Stellungnahme der Kartellbehörden durch die Staatsanwaltschaft sein. Wahrscheinlich würde dies aber als Standardregelung zu kurz greifen. Diesem Bedürfnis kann eher dadurch Rechnung getragen werden, daß die primäre Ermittlungstätigkeit im Verdachtsfalle bei den Kartellbehörden verbleibt. Dann stünde der Vorteil der zusätzlichen Integration der Staatsanwaltschaft im Vordergrund: Es kann weniger zur Überbewertung rein wirtschaftlicher Zusammenhänge kommen 172. Schlußendlich ist als eine weitere Forderung der Praktikabilität die Notwendigkeit der fachlichen und sachlichen Ausstattung der Behörden, um das Gesetz umzusetzen, zu unterstreichen. Von der hiesigen Warte aus kann dazu jedoch nicht mehr getan werden, als zu unterstreichen, daß dieser Forderung gerade im komplexen Bereich der Wirtschaftskrimininalität eine enorme Bedeutung zukommt. Ein Kartell- und Kollektivstrafrecht, für das dies nicht fundamental beachtet wird, ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Bei richtiger Konzeption der Kooperation von Kartellbehörden und Staatsanwaltschaften wird sich der Mehraufwand aber in Grenzen halten lassen, da umfangreiche Kompetenzen bereits vorhanden sind. Das Problem verlegt sich mehr auf die Nutzung der Kooperationsmöglichkeiten.
3. Strafprozessuale Fragen
Nach den in den vorherigen Abschnitten entfalteten Aspekten eines Kollektivstrafrechts unter Einbeziehung der Aspekte des Verbandes, des Unternehmens und der Rechtssubjektivität bzw. rechtlichen Anerkennung ist die hier im Rahmen der Thematik eines Prozeßrechtes zu treffende grundsätzliche Schlußfolgerung schon zu vermuten: Ein Prozeßrecht für ein Kollektiv kann nicht aussehen wie das Prozeßrecht, das für und mit dem Individualstrafrecht entwickelt wurde. Dabei soll es 169 Klassischer Beispielfall ist das Verfahren gegen die Bundesärztekammer, Nachweise dazu bei K. 1iedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 91. 170 So W Möschel. Kriminalisierung, S. 51,48. 171 So bereits K. Tiedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 180 f. 172 V gl. K. 1iedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 181.
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an dieser Stelle um die prozessualen Schutzrechte des Beschuldigten gehen. Trotz der Gemeinsamkeiten von natürlichem Subjekt und Kollektiv-Subjekt sind die Unterschiede zu groß, als daß sie hier einerseits eine Gleichbehandlung sinnvoll erscheinen lassen - der prozessuale Schutz geht insoweit zu weit -, andererseits eine Sonderstellung angemessen zu sein scheint - hier geht der Schutz für die Kollektive und ihre Bedürfnisse nicht weit genug. Es ist aber zu betonen, daß im Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgrund des Umfanges kein neues, abschließendes Kollektivstrafprozeßrecht konzipiert werden kann: An dieser Stelle soll nur skizziert werden, in welchen zentralen Fragen des Prozeßrechts Regelungen im Hinblick auf Kollektive zu relativieren bzw. u. U. sogar abzuschaffen sind und in welchen anderen spezifisch kollektivistischen Belangen neue, im Schutz weitergehende Regelungen angedacht werden müssen. Zunächst ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß das Subjekt der Ermittlung, des Prozesses und des späteren Vollzuges in aller Regel ein Kollektiv sein wird, daß im ökonomischen Bereich tätig ist 173 • Auf dessen spezifische Belange muß daher Rücksicht genommen werden. Auszugehen ist insgesamt von der grundsätzlichen Aufgabe des Prozeßrechtes, die Wahrheit aufzuspüren, um die tatsächlichen Täter ihrer Strafe zu zuführen und Unschuldige vor Belastungen und gar Verurteilungen zu schützen; es geht also um notwendige Tatsachenermittlung l74 . Aus dieser Aufgabenbestimmung folgen nun zwei Anforderungen, die jedes Prozeßrecht soweit wie möglich erfüllen und dabei in Ausgleich bringen muß: Wie ist ein Verfahren am besten auszugestalten, damit die Wahrheit tatsächlich gefunden werden kann (Effektivität); aber eben auch: Wie ist der Beschuldigte oder sind die Beschuldigten vor unnötigen oder unerträglichen Eingriffen zu schützen. Die Ermittlungen müssen sich dabei naturgemäß im Umfeld bzw. innerhalb von Kollektiven, also Unternehmen bzw. Verbandsorganisationen, die jedoch zugleich selbst Betroffene sind, bewegen; Dabei ist die betroffene (nicht nur rein derivative) Würde eines Unternehmens anders strukturiert, als die originäre Würde des Menschen. Daß eine solche Aufgabe für das Strafprozeßrecht grundsätzlich nichts Neues ist, macht ein Hinweis Nijboers klar, wenn man an das Jugendstrafrecht denkt, für das eine Vielzahl von Sonderregelungen für Prozeß und Vollzug anzutreffen sind, weil man das herkömmliche Prozeßrecht als nicht angemessen ansieht l75 ; in diesem Sinne sollte man sich auch der hier zu behandelnden Materie nähern. Das Hauptaugenmerk in Hinsicht auf Detailfragen im Prozeßrecht sollte folgenden Punkten gelten: dem begründenden Zusammenhang von Menschenwürde und 173 Vgl. dazu H. Nijboer, Plea for a systamatic approach, in: A. Eser / G. Heine / B. Huber (Hrsg.), Criminal responsibility, S. 303 ff. (304): in den Niederlanden hat die mittlerweile Jahrzehnte-lange Kollektivstrafrechts-Praxis sich zu ca. 80% mit am Markt unternehmerischen Verbänden beschäftigt, vgl. dens. auch zum folgenden. 174 Vgl. H. Nijboer, Plea for a systamatic approach, in: A. Eser / G. Heine / B. Huber (Hrsg.), Criminal responsibility, S. 303 ff. (304). 175 In diesem Sinne auch: H Nijboer, Plea for a systamatic approach, in: A. Eser/G. Heine/B. Huber (Hrsg.), Criminal responsibility, S. 303 ff. (309).
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Prozeßrechten, also vor allem der Unschuldsvermutung und dem Schweigerecht, der Beweislastverteilung, den Untersuchungsmitteln im Ermittlungsverfahren, der Frage der Repräsentation des Kollektivs im Prozeß, dem Geheimnisschutz für das beschuldigte Kollektiv, der Zeugenbehandlung, dem Zeugenschutz und zuletzt der Kronzeugenregelung, die oben schon kurz erwähnt wurde und auch hier im Hinblick auf die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen nicht näher behandelt werden soll 176. Unabdingbar ist die Unschuldsvermutung für jeden Prozeß, der ein strafrechtlicher sein will. In der alltäglichen Bewertung geht einiges durcheinander im Hinblick auf Individuum und Kollektiv (Stichwort: Identifikation von Individuum und Kollektiv 177). Dem muß durch deutliche Kommunikation nach außen an die allgemeine Öffentlichkeit Rechnung getragen werden. Die große Rolle der Unschuldsvermutung hat zwar eine ebenso große Bedeutung im Kollektivstrafrecht wie im Individualstrafrecht, fußt aber auf einer anderen Begründung. Geht es dort um die originäre Menschenwürde ist hier der Ruf des Unternehmens am Markt und damit häufig auch in der Gesellschaft von enormer Bedeutung. Wirtschaftliche Prozesse, die in der Aufmerksamkeit des Marktes von statten gehen, insbesondere der Analysten und weiteren Börsenbeteiligten, sind sensibel. Es erscheint zwar unvermeidbar, daß Nachrichten über ein Verfahren negative Auswirkungen z. B. auf den Aktienkurs eines Unternehmens haben werden. Dem kann aber durch eine restriktive Informationspolitik im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens ein Stück weit Rechnung getragen werden, die erst das unmittelbare Bevorstehen eines Prozesses bei eben entsprechender Wahrscheinlichkeit der Verurteilung zum Anlaß der Information nimmt 178 . Zur Beweislastverteilung wurde bereits im Rahmen der Konzeption eines Kartellstrafrechts Stellung bezogen. Grundsätzlich hat der Staat dem Beschuldigten seine Tat vollständig nachzuweisen. Eine Beweislastumkehr kommt zunächst nicht in Frage. Eng verbunden ist dies mit dem Verbot des Zwingens zur Selbstbelastung: Wenn jemand einer Beweislast unterliegt, muß er gegebenenfalls sich selbst belasten, um von dem konkreten Vorwurf weg zu kommen. Beides aber hat auch hier wieder seinen wesentlichen Grund in der Menschenwürde, die nicht auf das Kollektiv angewandt werden kann. Dennoch sollte auch hier die Beweislastumkehr nur die ganz besondere Ausnahme sein, wenn der - oben bereits näher dargelegten - Informationsasymmetrie in besonders kritischen Fällen gar nicht anders abgeholfen werden kann, d. h. letztlich das Kollektiv über eine Art Monopol auf dieses Wissen verfügt 179 . Vgl. dazu oben § 12 I. a. E. Vgl. dazu oben § 11 a. E. 178 Vgl. zu diesem Problemkreis der Publizität bereits im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Kartellbehörden K. Tiedenumn, Kartellrechtsverstöße, S. 37 m. w. N. 179 Zu der Frage eines Aussageverweigerungsrechtes wegen der Gefahr der Selbstbezichtigung hat sich das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf eine Unanwendbarkeit des 176
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Das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung bringt einen zu der Frage, wie denn die Behandlung der Angestellten und sonstigen Mitglieder des Kollektivs auszusehen hat, die ggf. als Zeugen vernommen werden. Die Rolle des Zeugen ist dabei im Verhältnis zum Angeklagten näher zu beleuchten. Angeklagter ist das Kollektiv. Auf diese Weise ist es denkbar, nicht gegen Individuen zu ermitteln, sondern diese nur als Zeugen zu vernehmen. Aber dieses Problem kann man bereits mit dem geltenden Prozeßrecht lösen: Besteht der Verdacht einer Individualhandlung, muß eine Ermittlung eingeleitet werden. Wird dies versäumt und kommt es zum Prozeß gegen das Kollektiv, kann der entsprechende Mitarbeiter sich auf sein Schweigerecht berufen. Umgekehrt steht den Mitarbeitern dieses Recht im Hinblick auf das Kollektiv nicht zu. Sie werden in ihrer Rolle als Individuen und nicht als Konstituenten des Kollektivs befragt l8o . Allerdings kann es - so sei an dieser Stelle angemerkt - gerade bei vertikaler individueller Verantwortungszersplitterung möglich sein, aus den Aussagen für sich selbst nicht strafbar Handelnder ein Gesamtbild der kollektiven Tat zu rekonstruieren, ohne daß entsprechende Zeugnisverweigerungsrechte problematisch würden (dabei dürfte es sich um die Fälle handeln, die Heine in seinem Unternehmensstrafrecht vor Augen hat). Ein wichtiger Punkt, der bereits heute eine große Bedeutung im Alltag der Kartellverfahren hat, ist der Geheimnisschutz für das beschuldigte Kollektiv im Prozeß. Es kann im Rahmen der Ermittlungen zu der Aufdeckung einer Vielzahl von Interna und Betriebsgeheimnissen kommen. Hier sind wieder ganz elementare Schutzrechte des Kollektivs betroffen, die denen vergleichbar sind, die aus der Menschenwürde des Einzelnen resultieren. Das Problem des Geheimnisschutzes stellt sich für Dritte, die am Verfahren beteiligt sind, ebenfalls. Es soll im Hinblick auf mögliche Lösungsansätze auf eine einschlägige Monographie von Karsten Schmidt verwiesen werden \81. Für Dritte geht es aber auch um den Schutz der persönlichen Identität, da sie im Wirtschaftsalltag mit erheblichen negativen Konsequenzen rechnen müssen, wenn ihre Beteiligung an Ermittlungen bekannt wird. Auch das ist ein klassisches Problem des Kartellrechts. Aber auch für dieses Problem hält das existierende Prozeßrecht schon einiges an Lösungsmöglichkeiten bereit. Eine letzte Frage stellt sich im Hinblick auf den praktischen Weg der Entwicklung eines neuen Kollektiv-Strafprozeßrechtes: Sollte hier versucht werden, ein durchgängiges, in sich weitgehend geschlossenes Regelungs-System zu schaffen, oder sollte man nach einigen Grundlegungen (vor allem: die wesentlichen Verfahallgemeinen Persönlichkeitsrechtes in diesem Fall ablehnend geäußert, BVerfGE 95, S. 220 ff.; vgl. dazu auch G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Auflage, vor § 81 Rn. 167 ff. m. w. N. 180 Anders die hM für das Ordnungswidrigkeitenrecht auf nationaler und europäischer Ebene, vgl. dazu G. Dannecker/J. Biermann in: Immenga/Mestmäcker, 3. Auflage, vor § 81 Rn. 169 m. w. N. 181 Vgl. zu diesem Problemfeld im geltenden Kartellverwaltungsrecht ausführlich K. Schmidt, Drittschutz, Akteneinsicht und Geheimnisschutz, passim, insbes. S. 3 ff., 15 ff.
§ 12 Antworten zur Strafbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts
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rensrechte des Beschuldigten) die nähere Ausgestaltung eher der Entwicklung in der Praxis überlassen? Nijboer als Richter am ,Court of Appeals' / Amsterdam hat aus der erfahrungsreichen niederländischen Perspektive für die letztere Variante votiert, weil in einem derartig neuen Gebiet die Herangehensweise des ,case law' eine nähere Orientierung an den tatsächlichen Problemen erlaube. Man könnte angesichts solch neuer Fragestellungen dem Gesetzgeber sicher ein Stück weit Anmaßung vorwerfen, würde dieser ein abschließendes Prozeßrecht zur Anwendung für die Praxis konzipieren wollen. Auf der anderen Seite kann man heute wohl schon feststellen, daß durch die (teilweise längjährige) Praxis anderer Länder wie z. B. der Niederlande, Großbritanniens oder der USA der deutsche Gesetzgeber sich auf eine breitere empirische Grundlage stützen kann. Gerade zur Thematik des Geheimnisschutzes kann außerdem das Kartellverwaltungsrecht und seine Praxis einiges an Erfahrungen beisteuern.
111. Fragen der Effektivität
Auch wenn auf allen beteiligten Seiten die Voraussetzungen für die Umsetzung einer Idee eines Gesetzes vorhanden sind, muß dieses Gesetz noch lange nicht tatsächlich wirksam sein. Das Gesetz muß auch effektiv sein. Von der Effektivität eines Gesetzes kann gesprochen werden, wenn es nicht nur grundsätzlich praktikabel ist, sondern auch in der Gesamtbetrachtung den gewünschten Erfolg erzielt, also gerade keine unerwünschten Nebenfolgen und Wirkungen auftreten 182. Da diese Nebenfolgen oder Wirkungen im Laufe des Vollzuges erst auftreten, können diese determinierenden Faktoren vor allem der Sphäre der Normadressaten entspringen, aber auch aus der Ebene der Vollzugs- und Sanktionsinstanzen. Da letzteres bereits weitgehend behandelt wurde, soll es hier nur um die Sphäre der Kollektive gehen. 1. Präventions- und Restitutionsaspekte
Die Effektivität eines Kartellstrafrechts wird maßgeblich auf die Frage nach seiner Präventionstauglichkeit bezogen. Dies wird aufbauend auf dem hier vertretenen Verständnis von Schuld und Strafe nur als Nebeneffekt verstanden und insofern als echte Zweckmäßigkeitsfrage. Im Vordergrund steht jedoch grundsätzlich immer die Aufgabe der Strafe als Restitution, also der Wiederherstellung des Geltungsanspruches der verletzten Norm 183 . Die Frage nach der Prävention stellt sich hier auch im Vergleich zu anderen Regelungsalternativen. Zunächst ist allerdings nur zu klären, ob von einem Kartell182 183
Vgl. nur die Nachweise oben § 6 VI. Vgl. dazu oben ausführlich: § 10 11. ff.
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
strafrecht überhaupt nachhaltige präventive Impulse ausgehen können. Dabei ist nach der typischen Täterpersönlichkeit im Wirtschaftsstrafrecht zu fragen. Folgendes wird in individualstrafrechtlicher Orientierung in diesem Zusammenhang angenommen 184 : Es handelt sich bei den potentiellen Tätern um "abschreckungs-intensive", vor allem planerische Persönlichkeiten, für die es von großer Bedeutung ist, den eigenen sozio-ökonomischen Status nicht zu riskieren. Darüber hinaus haben allerdings auch weitere Untersuchungen ergeben, daß es sich bei diesem Täterkreis als schwierig erweist, eine Verinnerlichung der Gründe für die Inkriminierung und Integration in das eigene Wertesystem zu bewirken und damit gerade die bewußtseinsbildende Funktion des Strafrechts zunächst nicht entsprechend, zur Geltung kommen kann. Hier liegt jedoch der Fehler in der mangelnden kollektiven Strafandrohung für kollektive Normbefehle, die als Bestandteil der Strafrechtsnorm auf den Normbefehl zurückwirkt und damit in der Lage ist, auch auf die kollektive Persönlichkeitssphäre einzuwirken. Dieser Effekt dürfte - dies läßt sich hier allerdings nicht empirisch belegen - dadurch gefördert werden, daß im deutschen Rechtskreis - anders als vor allem im anglo-amerikanischen - eine klare Trennung von Ordnungswidrigkeitenrecht und Kriminalstrafrecht existiert, was die elementare Bedeutung des eigentliche Strafrechts hervortreten läßt und damit einer Erosion der Bedeutung des strafrechtlichen Normbefehls und dann auch des Schuldspruches vorbeugt. Eine um so größere Bedeutung wird daher der Abschreckungsfunktion zugesprochen. Deren Bedeutsarnkeit wird vor allem für hohe persönliche Geldstrafen und die Freiheitsstrafe angenommen; dies zumindest dann, wenn es aufgrund der Strafverfolgungs- und Gerichtspraxis zu einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit der Verurteilung kommt. Wegen der Übernahmemöglichkeit der Geldstrafe durch das letztlich begünstigte Unternehmen kommt vor allem der Freiheitsstrafe besondere Bedeutung zu. Die Bedenken gegen die Prävention sind mit der richtigen Kombination von Strafen für die kollektive Ebene zu lösen. Zu denken ist dabei vor allem an die Geldstrafe in Zusammenhang mit der Unternehmenskuratel, wobei in den schwereren Fällen der Kurator gerade sicher stellen kann, daß ein bestimmte Umlage der Geldstrafe auf die Preise gar nicht vorgenommen wird. Weiter bleibt dies verbunden mit einer gewissen Publizität, die von jedem Strafverfahren ausgeht und die ihr übriges leisten kann.
2. Auftreten unerwünschter Nebenfolgen
Auch wenn die Bewährung eines Verhaltens mit Strafe unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten grundsätzlich gerecht wäre, so kann einer Inkriminierung entgegenstehen, daß damit notwendigerweise wesentliche unerwünschte Nebenfolgen 184
Vgl. K. Tiedemann, Kartellechtsverstöße, S. 177 ff.
§ 12 Antworten zur Strafbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts
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verursacht werden (können). Im Rahmen des Wettbewerbs ist dabei zunächst an eine Verhinderung von - auf Grund der zu erwartenden Ergebnisse - ökonomisch erwünschten Verhaltensweisen der Marktteilnehmer, die zunächst auch eine Wettbewerbsbeschränkung darstellen, zu denken. Möglich ist aber auch, daß von strafrechtlichen Regelungen psychisch vennittelte negative Wirkungen auf den Ablauf des Wettbewerbes und des Marktes ausgehen. In diesem Zusammenhang kann auch die Venneidung einer sog. Nonnspaltung, d .h eine unterschiedliche Auslegung von Tatbestandsmerkmalen im Zivil-, Verwaltungs- oder Strafverfahren, oder ein Abfärben von restriktiven Straftatbeständen auf die Kartellrechtstatbestände diskutiert werden 185 . Eines der Hauptargumente der Gegner einer Inkriminierung ist, daß die ökonomische Vorteilhaftigkeit verschiedener Wettbewerbsbeschränkungen im Einzelfall nicht berücksichtigt werden kann 186. Dies wird bereits gegen die Ausgestaltung des Kartellrechts durch die sog. per-se-Verbote eingewandt. Insofern ist das Argument auch nicht neu, sondern taucht auf dieser Stufe nur erneut auf. Diese ökonomische Nützlichkeit kann zunächst - und dies wird sowohl von ausländischen Rechtsordnungen als auch vereinzelt dem deutschen Recht praktiziert durch die ,rule of reason' im materiellen Recht berücksichtigt werden l87 . Darüber hinaus wird dieser Aspekt in ausländischen Rechtsordnungen aber auch über ein strafprozessuales Opportunitätsprinzip oder über eine strafrechtliche Unterwerfungsklausel berücksichtigt I 88. Zur der materiell-rechtlichen Lösung wurde bereits Stellung bezogen, so daß hier darauf verwiesen werden kann. Zusammenfassend kann zu dieser Kritik gesagt werden, daß sie von einem falschen Verständnis des Wettbewerbs ausgeht und daher auch zu den falschen Therapieansätzen gelangt. Dieser theoretische Ansatz unterliegt auch keinesfalls überwiegend oder gar ausschließlich dem deutschen Wettbewerbsrecht, das eindeutig, wenn auch nicht vollkommen ausschließlich, dem Freiheitsschutz durch Systemschutz verpflichtet ist. Für das Gesagte ist jedoch eine Einschränkung zu machen: Es gibt in der Praxis tatsächlich Fälle, die sich zumindest unter ökonomischen Gesichtspunkten überwiegend als nützlich und für nahezu niemanden spürbar schädlich erweisen. Dies muß Berücksichtigung finden, da ansonsten eine Akzeptanz strafrechtlicher Regelungen nicht zu erreichen wäre, auch wenn unter Fragen eines wirksamen Systemschutzes ein Festhalten an der Stratbarkeit vertretbar erscheint. Diese Konstellationen werden aber bereits als Bagatellfälle über den Tatbestand erfaßt und ausgeschieden l89 . § 6 IV. Vgl. dazu nur W Möschel, Kriminalisierung, S. 49 ff.; zur Berücksichtigung von (ökonomischer) Nützlichkeit im Einzelfall auch allgemein: E.-J. Mestmäcker in: E. Hoppmann/ das.: Nonnzwecke und Systemfunktion, S. 21 ff. 187 Vgl. dazu oben § 1 V. 188 Vgl. dazu K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 164 m. w. N. 189 Vgl. oben § 6 V. 2. 185
186
23 Kohlhoff
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Ein weiteres Problem ist die Gefahr der Umgehung der Straftatbestände durch Ausweichen auf noch subtileres Verhalten. Die Gefahr der Umgehung der Kartellverbote an sich ist heute bereits in gleichem Maße gegeben. Es kann daher nur um die Umgehung des Straftatbestandes zugunsten eines Ordnungswidrigkeitentatbestandes gehen. Wenn ein solcher Fall vorliegt, dann ist jedoch auch davon auszugehen, daß das Verhalten trotz der Möglichkeiten der Regelbeispielstechnik eben nicht als Straftat zu werten war. Auf diese Weise ist im Zweifel die beabsichtigte Beeinflussung durch die primäre Verhaltensnorm erfolgt.
IV. Fazit: Strafbedürftigkeit und Strafnotwendigkeit von KarteIlrechtsverstößen
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß bei (zusätzlicher) Einführung einer Kollektivstrafe - neben der Strafwürdigkeit - auch die Strafbedürftigkeit von Kartellrechtsverstößen bejaht werden muß. Ein Kollektivstrafrecht läßt sich praktikabel realisieren, es stehen vor allem mehrere Konzeptionen für eine konkrete Kollektivstrafe zur Auswahl, deren Wirksamkeit sehr wahrscheinlich ist. Wiederholt muß jedoch betont werden, daß die Aspekte der Strafbedürftigkeit nicht der Stellenwert zukommt, den Auffassungen ihm einräumen, die von einem präventionsorientierten Strafrecht ausgehen. Die zentrale Funktion der Strafe im Schuldspruch ist empirisch nicht zu messen. Ihre Grenze ist erst dort erreicht, wo man das Strafrecht und die zu verhängende Strafe nicht mehr ernst nehmen würde - so sie verhängt wird, nicht erst in ihrer Erwartung. Nichtsdestotrotz können die Fragen der Praktikabilität und der Effektivität positiv beantwortet werden, wie dies auch schon durch Tiedemann in den 1970er Jahren geschehen ist 190• Entscheidende Defizite im Bereich der Unternehmenskriminalität konnten dadurch geschlossen werden, daß diese Delikte nunmehr so behandelt werden, wie es aufgrund ihrer Natur sinnvoll ist: vor allem auch als Kollektivdelikte. Die Verfolgung als Kollektivdelikt und auch der Prozess gegen das Kollektiv schließen hier die Lücken, die zuvor einem Individualstrafrecht noch (größtenteils zu recht) nachgesagt wurden.
V. Regelungsalternativen: Die Kollektivstrafe und ihr Platz im Sanktionssystem des Kartellrechts Ein Einholen der Regelungsalternativen in die Betrachtungen der Arbeit hat nun einen präziseren Ausgangspunkt als am Ende des zweiten Teils, als lediglich die Strafwürdigkeit feststand, nicht jedoch die konkreten praktischen Konsequenzen, da diese vom Strafsubjekt abhängen mußten. Die Konfrontation mit den Alternativvorschlägen kann nun theoretisch drei denkbare Ergebnisse mit sich bringen: 190
Vgl. K. Tiedemann, KarteIlrechtsverstöße, S. 164 ff.
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Die Regelungsalternativen sind (wesentlich) erfolgversprechender und damit insgesamt vorzugswürdig - dies wird vor allem von Andreas Ransiek vertreten 191 -, die Alternativen bringen keinen Beitrag und sind daher irrelevant oder die Ansätze der Alternativen bringen wesentliche Aspekte mit ein, die sich aber nur dahingehend eignen, das Strafrecht zu ergänzen. Auch hier kann allerdings nicht mehr als ein kursorischer Überblick geleistet werden. Im Ergebnis wird er zeigen, daß es durchaus auch weitere Aspekte im Sanktionssystem des GWB zu identifizieren sind, die bei der Etablierung eines besseren Schutzes für den Wettbewerb helfen können. Sie alle sind jedoch nicht in der Lage, die Strafe zu ersetzen.
1. Modijizierung des Kartellprimärrechts, des Kartellverwaltungsrechts oder des Ordnungswidrigkeitenrechts
Die naheliegendste Möglichkeit, die Einführung eines Kartellstrafrechts zu umgehen, wäre die Modifizierung zunächst von primärrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Normen dahingehend, daß ein Normbruch dem Adressaten erschwert bzw. unmöglich gemacht wird. Der Gesetzgeber ist hieran allein schon aus Gründen der Vernunft gehalten. Als Beispiel kann das Steuerrecht gelten, in dem eine mögliche Quellensteuer grundsätzlich einer eigens abzuführenden Steuer vorzuziehen ist. Im Steuerrecht ist das höchstens eine Frage der Praktikabilität. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle in anderen Rechtsgebieten aber muß der Versuch einer solchen Regelung doch schnell zu starker Einschränkung führen, da es schwer ist, eine Handlung einzuschränken ohne nicht gleich mehrere andere mit zu erfassen. Regelungen, die im Kartellrecht eine solche Idee umsetzen sollten, würden eine enorme präventive Kontrolldichte mit sich führen. Es kommt aber gerade im Hinblick auf die Natur des Wettbewerbs noch weiteres erschwerend hinzu. Wenn vom Schutz des Eigentum die Rede ist, so wird primär an das Zivilrecht gedacht und im weiteren erst später an einen strafrechtlichen Schutz. Das Eigentum wird von der Zivilrechtsordnung näher bestimmt. Es ist vielleicht ein vorrechtliches Interesse, über Dinge eine eigene Herrschaft auszuüben und den Besitz anderen gegenüber verteidigen oder die Nutzung bestimmen zu können. Das Institut des Eigentums und seine konkrete Gestalt sind jedoch etwas genuin normatives und positiv-rechtliches. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim Wettbewerb zu allererst um ein sozial-empirisches und anthropologisches Phänomen. Ein Staat schafft im Zweifel Rahmenbedingungen für sein besseres und dauerhaftes Funktionieren. Von seiner Natur her ist der Wettbewerb etwas natürlich, sozial und gesellschaftlich Gewachsenes. Insofern ist das Kartellrecht bereits der tatsächliche Schutz dieses dann gesellschaftlich gebildeten Rechtsgutes. Es benennt die Strategien der Marktteilnehmer, die ihm tatsächlich oder potentiell schaden. Die Ausgestaltung dieses Regelwerkes ,Kartellrecht' ist auch im deutschen Recht bereits 191
23*
Vgl. A. Ransiek, Untemehmensstrafrecht, S. 322 ff., zusammenfassend: S. 434 ff.
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sehr ausführlich. Es ist ein Stück staatlicher Kontrolle und - leider auch - Planung. Diese ist aber in einer Marktwirtschaft nur sehr dosiert einzusetzen. Der institutionalisierte Schutz des ,Wettbewerbs' kann damit zugleich auch zu seiner Fessel werden. Dies wird von der Theorie der komplexen Phänomene v. Hayeks l92 ausführlich dargelegt. Über Rahmenbedingungen dürfen Regelungen nicht hinausgehen, wollen sie das System nicht negativ beeinflussen bzw. außer Kraft setzen. Dies wurde bereits weiter oben ausführlich dargestellt 193 . An eine weitergehende Regelung des Wettbewerbs mittels veränderter, d. h. grundsätzlich verschärfter Rahmenbedingungen ist daher nicht zu denken 194. Sie würde sehr schnell den Wettbewerb an seine Grenzen der Funktionsfähigkeit bringen. Ein solcher Ansatz müßte sich auch ein weiteres Mal auf die Annahme stützen, es könnten genügend sichere Einzelfall-Vorhersagen gemacht werden. Es geht jedoch vielmehr darum, die Einhaltung der gesetzten Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Dazu stellen Verhaltensnonnen, die sanktionsbewährt sind, zunächst die bessere Wahl dar. Auch das Kartellverwaltungsrecht bringt einen nicht weiter 195 . Worin eine Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten des Bundeskartellamtes liegen könnte, die durch Verhinderung im Vorfeld zu einem besseren Wettbewerbsschutz führen könnte, ist nicht ersichtlich. Infonnelle Möglichkeiten, bei den Unternehmen für ein rechtmäßiges Verhalten im Wettbewerb zu werben, bestehen schon jetzt und würden durch ein Kartellstrafrecht auch nicht beschnitten. Das Argument, daß gerade diese Möglichkeiten für die Zukunft beeinträchtigt würden, wurde oben bereits als nicht stichhaltig zurückgewiesen. Daß über das Ordnungswidrigkeitenrecht alleine die Probleme des Kartellrechts nicht zu kompensieren sind, war schon in der Analyse des ersten Teils angedeutet. Nach der Funktionsbestimmung des Strafrechts kann es dies auch tatsächlich gar nicht leisten, da nur die Strafe die entsprechende Restitution und auch im weiteren eine Resozialisierung bringen kann. Der Gedanke der Resozialisierung bedingt entsprechende Eingriffe in die Sphäre des Täters und das heißt dann auch, daß alles, was über eine Geldbuße hinaus geht, auch nur Instrument des Strafrechts sein darf; das Ordnungswidrigkeitenrecht muß es bei der ,nachdrücklichen Pflichtenmahnung' belassen. In jedem Fall besteht das Ordnungswidrigkeitenrecht parallel zu einem Kartellstrafrecht weiter fort, und zwar sowohl mit einer Geldbuße gegen / für Individuen als auch gegen / für Kollektive. Hier kommt es auf ein sinnvolVgl. F. A. v. Hayek. Theorie komplexer Phänomene, 1972, passim. Vgl. oben § 5 I. 3. 194 Die Vorschläge von Möschel zum ,Submissionsbetrug', Kriminalisierung, S. 55 ff., sind insoweit nicht übertragbar, als daß es hier um den Sonderfall einer tatsächlich (meist staatlichen) Veranstaltung im engeren Sinne (die Ausschreibung) geht und insofern dort auch an konkreten Möglichkeiten, insbesondere auch der VOB I A, gearbeitet werden konnte. 195 Vgl. zu diesen Möglichkeiten die Übersicht bei G. Heine, Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 121 ff. (133 ff.). 192 193
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les Wechselspiel von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht an, das vor allem in der geeigneten Abstimmung der Kompetenzen des Bundeskartellamtes und der Staatsanwaltschaft zu verwirklichen ist.
2. Publizität
Als vorzugswürdige Alternative wird auch die Institutionalisierung der Publizität von Kartellrechtsverstößen ins Feld geführt 196 . Dazu wurde oben bereits einiges gesagt 197 . Diese Idee wird vor allem von Lüderssen mit Nachdruck vertreten 198 . Die Verfechter dieses Konzeptes verweisen regelmäßig auf die positive Präventionswirkung der schon heute vom Bundeskartellamt praktizierten Publizität, die eine Bekanntgabe der Namen der beteiligten Unternehmen zu Beginn des Verfahrens beinhaltet; so wurde berichtetet, daß in mehreren Fällen die Unternehmen zu den weitreichendsten Zugeständnissen, bis hin zum Geständnis, bereit waren, wenn nur die Veröffentlichung des eigenen Namens im Zusammenhang mit dem Verfahren unterlassen bzw. eingeschränkt würde 199 . Die von Lüderssen vertretene Institutionalisierung der Publizität beruht auf einem umfassend entwickelten theoretischen Konzept, das hier eine etwas nähere Erläuterung interessant macht. Das Konzept setzt sich in einer komplexen Herangehensweise mit der Erfassung von Wettbewerbsverletzungen auseinander. Es befaßt sich mit den Fragen der Funktion von Strafe ebenso wie mit der Frage nach der Rolle und Bedeutung von Unternehmen in unserer heutigen Gesellschaft. Eine eigene Antwort kann nur in den einzelnen Diskussionen der Probleme erbracht werden; die Argumentation soll jedoch im Ganzen einmal nachgezeichnet werden. Ihren Ausgang nimmt die Argumentation bei der Bestimmung der nach Lüderssens Ansicht richtigen Funktion von Strafe in der Prävention. Dem folgt die Feststellung, daß einzelne Kartellrechtsverstöße die Grenze der Sozialschädlichkeit von Ordnungswidrigkeiten bei weitem überschreiten und daß die Tater durchaus über ein entsprechendes Unrechtsbewußtsein verfügen und Strafe daher auch gerechtfertigt wäre. Die Strafe kann aber nach Lüderssen in Form der Geldstrafe ganz vernachlässigt werden und in Form der Freiheitsstrafe auch nur begrenzt Wirkung zeigen, zumal im Wirtschaftsstrafrecht. Letztlich würde hier auf eine nicht akzeptable Stigmatisierung durch die (stellvertretend für das Unternehmen / Kollektiv zu verbüßende) Freiheitsstrafe gesetzt. Die Lösung soll daher woanders gesucht werden. Der richtige Ansatzpunkt sei die politische Verantwortung der Unternehmen in unserer Gesellschaft: Wettbewerbs verstöße als Verstöße gegen die Prinzipien der Marktwirtschaft (als gegebenem Wirtschaftssystem) stellten politische Fehlentscheidun196 197 198
199
Zum Ganzen auch ausführlich K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 34 ff. Vgl. oben § 12 I. K. Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, S. 195 f., 206 ff. Vgl. K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 34-t'. m. w:N.
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gen dar, die so zu verantworten seien, wie dies in der Politik einer Demokratie vorgesehen ist, nämlich über die Publizität. Daher müßten Bußgeldbescheide (de lege ferenda) in das öffentlich einsehbare Kartellregister eingetragen und im Bundesanzeiger bekannt gemacht werden. Dieses Konzept wurde auf dem 49. Deutschen Juristentag mit ganz überwiegender Mehrheit verworfen 2OO • Auch nach der hier vertretenen Ansicht ist der Vorschlag nicht geeignet, die grundsätzlich gerechte Strafbewährung als unverhältnismäßig erscheinen zu lassen und mithin zu verdrängen. Dies hat mehrere Gründe. Zunächst ist natürlich die Grundannahme der reinen Präventionsfunktion des Strafrechts nach ganz h. M. einseitig, nach hier vertretener Ansicht sogar gänzlich abzulehnen. Das wurde bereits ausführlich behandelt. Weiter aber überzeugt der Gedanke der Publizität als Kehrseite von politischer Verantwortung in der Demokratie nicht. Verstöße gegen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft sind keine politischen Fehlentscheidungen. Sie sind private Entscheidungen eines Unternehmens als Kollektiv, das die Konsequenzen im Positiven wie im Negativen privat zu tragen hat. Die Tatsache, daß das Handeln von Unternehmen einen enormen gesellschaftlichen Stellenwert und auch erhebliche Auswirkungen hat, ändern daran nichts. Der Begriff des Politischen ist an den Staat gekoppelt. Erst wenn Unternehmen zentrale Staatsfunktionen übernehmen - was sie in der politischen Willensfindung (Verbände) ja schon tun und was für die Zukunft auch im exekutiven Bereich vielleicht nicht wünschenswert, aber leider gar nicht so unwahrscheinlich ist - befinden sie sich gesellschaftlich gesehen im Bereich der Politik. Auch funktioniert die öffentliche Verantwortungsübernahme im Bereich des Politischen anders als die von Lüderssen vorgeschlagene Konzeption: Sie ist gegebenenfalls mit Konsequenzen in der Ämterausübung und Verantwortungsentbindung verbunden. Nur wer kein (politisches) Amt ausübt, kann auch keines verlieren. Was bleibt ist die Prangerwirkung der Publizität, die Lüderssen gerade für die Alternative der (individuellen) Freiheitsstrafe im Rahmen des Kartellrechts zu Recht abgelehnt hat2o ,.
3. Zivi/rechtliche Sanktionen
Das Instrument der zivilrechtlichen Stimulation von Normeinhaltung bzw. zumindest Schadensausgleich über die Möglichkeit von Schadensersatz- und Unterlassungsklagen geschädigter Drittunternehmen nutzt das geltende Kartellrecht bereits. Es ist fraglich, ob in diesem Zusammenhang noch eine weitere sinnvolle Verstärkung stattfinden kann 202 • Ein erstes Problem folgt dabei aus dem Umstand, daß bei Vgl. 49. DJT, Verh. Bd. Il S. MISS.; vgl. auchK. Tiedemann. Kartellrechtsverstöße, S. 36. So auch wohl die Resonanz auf dem 49. Deutschen Juristentag. vgl. K. 1iedemann. Kartellverstöße. S. 36. 202 Vgl. dazu auch G. Spindler; Zivilrechtliche Verantwortlichkeit statt Untemehmensstrafbarkeit? in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts. Band 3: Verbandsstrafe. S. 77 ff. (80 ff.). 200
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kollektiven Gütern nicht immer einzelne Schäden festgestellt werden können, und selbst wenn dies möglich wäre, wird dies nicht dem (kollektiven) Gesamtschaden entsprechen203 • Es wird also einerseits nicht immer Unternehmen geben, die im Falle einer Verletzung des Wettbewerbs einen eigenen wirtschaftlichen Schaden davontragen oder tatsächlich belegen können. Und letzten Endes stellen solche Schäden auch nicht den Schaden des Wettbewerbs dar. Auf der anderen Seite aber ist die Aufklärung im Kartellrecht immer durch den Umstand belastet gewesen, daß geschädigte Unternehmen aus Angst vor negativen Sanktionen sich vor Hinweisen und Aussagen scheuten. Ein Beispiel hierfür ist die Angst vor der berüchtigten ,Auslistung' im Handel, gegen die kaum Hilfe zur Verfügung stand. Das muß aber natürlich gerade im Zivilrecht problematisch sein. Eine solche Klage muß eigentlich notwendigerweise bedeuten, daß etwaige Geschäftsbeziehungen beendet sind. Damit droht regelmäßig auf horizontaler Ebene der mögliche Initiator der Sanktion aus mangelndem Interesse zu entfallen, wohingegen auf der vertikalen Ebene die Angst vor den Konsequenzen dieselben Folgen zeitigt. Übrig bleiben die Fälle, in denen eine gleichgeordnete Kooperation mit dem Täter ausscheidet und auch ein geschäftlicher Kontakt nicht (mehr) in Frage kommt. Nun übersteigt im amerikanischen Rechtskreis die Zahl der privat initiierten Verfahren diejenigen der staatlich initiierten erheblich204 . Es scheint daher durchaus möglich zu sein, die Wettbewerbsteilnehmer zu mobilisieren 205 . Dieses muß in Form der Einbindung in das staatliche Verfahren geschehen, das so auszugestalten ist, daß der Schutz der dann als Zeugen auftretenden Unternehmen entsprechend gewährleistet ist. Solange sie vor allem nur als Hinweisgeber fungieren, ist die Möglichkeit der Geheimhaltung das richtige Mittel, das bereits heute nach der 6. Novelle im Ordnungswidrigkeitenrecht des Kartellrechts angewandt wird.
4. Gesellschaftsrechtliche Lösungen
Schließlich ist auch daran zu denken, die notwendige zusätzliche Sicherung des Wettbewerbs mittels der Korrektur des geltenden Gesellschafts- und Handelsrechts 203 Vgl. G. Spindler; Zivilrechtliche Verantwortlichkeit statt Unternehmensstrafbarkeit?, in: M. Hettinger (Hrsg.): Reform des Sanktionsrechts, Band 3: Verbandsstrafe, S. 77 ff. (81) m.w.N. 204 Vgl. dazu nur K. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße, S. 40 f. 205 Für eine solche Lösung im Kartellrecht im Vergleich zu einer mächtigen Behörde als Hüterin des Wettbewerbs hat sich auch F. A. v. Hayek ausgesprochen, vgl. ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, S. 120 ff.; dieser Gedanke hat zwar grundSätzlich etwas flir sich, vermag aber als alleinige Lösung letztlich nicht zu überzeugen: zum einen haben sich in den letzten 50 Jahren etwaige Beflirchtungen gerade im Hinblick auf das Bundeskartellamt nicht bestätigt, und das obwohl in den I 970er Jahren sogar eine Teilwendung zu anderen Wettbewerbskonzepten zu beobachten war, zum anderen, weil der Ausgleich von Verstößen gegen elementare Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft eben mit Strafe beantwortet werden müssen.
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zu erreichen. Hiermit hat sich in jüngster Zeit Ransiek ausführlich auseinandergesetzt206 . Ransiek stellt nach einer ausführlichen Analyse des Ist-Zustandes des Unternehmens strafrechts fest, daß das existierende Strafrecht die dort gestellten Probleme letztlich nicht zu lösen vermag. Er zeigt die Tendenzen auf, die durch Anpassung des Strafrechts zu einer strafrechtlichen Lösung kommen wollen. Diese (überwiegend) funktionalistischen Tendenzen würden nach Ransiek zur Preisgabe notwendiger Schutzmechanismen im materiellen und im Prozeßrecht führen. Eine solche Entwicklung würde zwar nicht über verfassungsrechtliche Grenzen des Strafrechts hinausgehen, geschehe aber ohne Not, da im außer-strafrechtlichen Bereich effektivere Mittel zu finden seien. Diese Alternativen seien vor allem in Kombination dem Strafrecht im Unternehmensbereich überlegen. Scheiden Rechtsgestaltungen aus, die Verstöße von vorne herein quasi unmöglich machen 207 , geht es namentlich vor allem um die bessere Nutzung der Möglichkeiten des Ordnungswidrigkeitenrechts auf der einen und eine Änderung der unternehmerischen Interaktionsstrukturen auf der anderen Seite. Der Weg, den Ransiek über das Ordnungswidrigkeitenrecht beschreiten will, ist allerdings nach der hier vertretenen Ansicht verstellt. Insgesamt schwebt ihm eine Modifikation in diesem Bereich noch weiter in Richtung auf das EU-Recht vor, weil dies die Möglichkeit einer besseren Unternehmenssanktion mit sich bringen würde. Der Status als noch Ordnungswidrigkeitenrecht ist für das EU-Kartellrecht aber bereits fragwürdig. Insgesamt kann und muß das, was Ransiek in diesem Bereich verwirklichen will, nach der hier vertretenen Ansicht wesentlich im Strafrecht zu geleistet werden. Seiner Argumentationen liegen zwei aufeinander aufbauende Grundoperationen zugrunde, die fehlgehen: Er bestimmt die Strafe als Schutz der Interaktion freier Individuen, jedoch nicht der Interaktionsstrukturen 208 . Die Funktion der Strafe wird im Weiteren zwar ganz ähnlich der hier vertretenen Position als Schuldausgleich verstanden, aber eben nur als Schuldausgleich bei freien Individuen, da Schuld menschlich-individuell interpretiert wird. In dem Bereich der Interaktionsstrukturen, zu dem vor allem das Kartellrecht als Wirtschaftslenkungsrecht zählen soll, kann das Unternehmen durchaus Normadressat sein bzw. muß dies sogar sein, weil nur dieses als Ganzes die (Sonder-) Pflichten erfüllen kann. Das dort eingesetzte Ordnungswidrigkeitenrecht ist bereits ein Baustein für ein Umschwenken auf die Eigen- und Drittkontrolle. Insbesondere ist aber auch die (natürlich konsequente) Abgrenzung des Bereichs des Ordnungswidrigkeitenrechts über das Kriterium der Interaktionsstrukturen falsch, denn soziale Strukturen sind nicht vom 206 Vgl. A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 237 ff. zu den verfassungsrechtlichen Schranken des Strafrechts, S. 322 ff. zu den Alternativregelungen, insbes. S. 363 ff. zu aktienrechtlichen Kontrollmechanismen. 207 Davon ist für den Wettbewerbsschutz durch das Kartellrecht nach dem im vorigen Abschnitt Ausgeführten auszugehen. 208 Vgl. A. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 293 ff.
§ 12 Antworten zur Strafbedürftigkeit eines Kartellstrafrechts
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Menschen entkoppelt - sie führen ("lediglich") zu der Entstehung neuer kollektiver Subjekte bzw. Personen. Die Arbeit an den Strukturen soll zusätzlich bzw. wohl vorwiegend durch eine Umgestaltung der Eigen- und Drittkontrolle angestrebt werden, die vor allem auf gesellschaftsrechtlichen Lösungen aufbaut. Zugleich wird auf die Präventionswirkung des zivilrechtlichen Haftungsanspruches gesetzt, der durch eine neue Dritthaftung des von dritter Seite / außen Kontrollierenden (insbes. die Wirtschaftsprüfer) bewirkt wird, und zugleich das Opfer über die Schaffung einer zweiten Haftungsmasse besser absichert; nur' ist das Hinzukommen einer weiteren Haftungsmasse nicht das ausschlaggebende Moment. Positiv zu bewerten ist bei den Überlegungen Ransieks sicher einerseits, daß sie darauf abzielen, die Konstitution des Kollektivs fruchtbar zu machen für zukünftige Veränderungen (Resozialisierung), andererseits aber auch den Gedanken des Anreizes zur Normbefolgung integrieren 209 , Dabei geht Ransiek allerdings davon aus, daß es auf dem beschriebenen Wege möglich ist, Interaktions- und folglich Entscheidungsstrukturen zu verändern und so zu beeinflussen, daß Verstöße weniger wahrscheinlich werden, Auch wenn dies hier nicht näher belegt werden kann, so ist jedoch stark zu bezweifeln, daß die materiell-rechtlichen Änderungen geeignet sind, den gewünschten umfassenden Erfolg herbei zu führen. Die Änderungen des KonTraG im Jahre 1998 waren ebenfalls von Wünschen in diese Richtung getragen. Dort wurde eine neue Pflicht der Wirtschaftsprüfer zur Testierung eines ausreichenden Risikomanagementsystems statuiert, die durch die eigene Haftungsmöglichkeit des Prüfers abgesichert ist. Ziel war eine bessere Vorsorge gegen vor allem existentielle Risiken. Aber die Wirtschaftsprüfer sehen sich zu einem solchen Testat weitgehend gar nicht in der Lage. Und die Interessengemengelage zwischen den Kontrollinstanzen führt dazu, daß regelmäßig nicht die kritische gegenseitige Überwachung stattfindet. Ob die Anteilseigner als letzte Druck-Instanz das Verhalten an den Tag legen, was erwartet wird, ist ebenfalls zu bezweifeln. Für all diejenigen, die solche Alternativmodelle propagieren, dürften die Jahre 2001 und 2002 mit ihren spektakulären Firmenskandalen und -pleiten vor allem in den USA - insbesondere sei hier an die ENRON-Pleite erinnert - sehr schwarze gewesen sein. Nicht nur in den USA wird insofern eifrig an Verbesserung der gesetzlichen Regelungen gearbeitet, auf deren Erfolg man gespannt sein darf. Es soll jedoch nicht die vollkommene Unwirksamkeit solcher Ansätze behauptet werden. Auch derartige Maßnahmen sind wohl mittelfristig in der Lage, eine Gesellschaftskultur (als Unternehmenskultur) zu verändern, indem ein neues Problembewußtsein geschaffen wird. Hier ist dann aber wohl eher an einen zum Kollektivstrafrecht komplementären Einsatz zu denken.
209
Vgl. oben § 12 I. und 111.
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Teil 4: Kollektivstrafe de lege ferenda und Kartellstrafrecht
5. Verschäifung des Individualstrafrechts
Nur der Vollständigkeit halber soll die Alternative der Verschärfung des Individualstrafrechts genannt werden. Sie ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Da die Rolle des Kollektivs im dritten Teil zentral als die eines Konstituenten der Rechtsordnung und potentiellen Verletzers bestimmt wurde - eine Rolle, der Unternehmen gerade im Kartellrecht gerecht werden - kann ein Individualstrafrecht alleine gar nicht das leisten, was ein Kollektivstrafrecht vermag: die Restitution der Verletzung - und damit kann es auch nicht in Folge eine präventive Wirkung nach sich ziehen. Die Normen des Kartellstrafrechts sind so zu fassen, daß sie an Kollektive wie Individuen gleichermaßen gerichtet sind. Nichtsdestotrotz spricht einiges dafür, daß das Schuldpotential der Handlungen der beteiligten Individuen, die sich wie gezeigt wurde - kumulativ strafbar machen können, noch nicht vollständig erfaßt wird bzw. mit dem geltenden Recht erfaßt werden kann. Dies ist der Themenkomplex der Modifizierung der Strafbarkeit von Leitungspersonen in Form der sogenannten Geschäftsherrenhaftung und der Haftung für Grernienentscheidungen. Dies ist jedoch ein eigener facettenreicher Komplex, für den hier lediglich auf die ausführlichen Betrachtungen in den Arbeiten von Ransiek, v. Freier und Schaal verwiesen werden S01l21O.
210 A. Ransiek, Untemehmensstrafrecht, S. 43 ff., F. v. Freier, Kritik der Verbandsstrafe, S. 262 ff., A. Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen, passim.
Schlußbetrachtungen Die vorliegende Arbeit soll nun mit einigen Schlußbetrachtungen abgeschlossen werden, die zunächst noch einmal eine kurze Rekapitulation des Argumentationsganges erlauben, dann einen kurzen Nachgang zu den zentralen Punkten der Arbeit - Schutz des Wettbewerbs als Institution und Einholen des Kollektivs als Strafrechtssubjekt - liefern, die zentralen Gedanken zu einem Kollektivstrafrecht in einem Modell-Paragraphen bündeln und schließlich aber auch einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der hier behandelten Materie geben sollen.
I. Zusammenfassung
Ihren Ausgangspunkt nahm die Untersuchung bei der Bestandsaufnahme des geltenden Kartellrechts, das in seiner Gesamtheit nicht nur die Situation des Kartellstrafrechts, sondern auch die des Kollektivstrafrechts im deutschen Recht aufzeigt. Die Beschreibung des geltenden Kartellrechts hat nun eine charakteristische Situation für das Nebenstrafrecht (i. w. S.) aufgezeigt: Die Trennung von Verbot und Sanktionsandrohung, so daß Primärnormen (die Verbote beschränkender Verhaltensweisen) und Sekundärnormen (das Sanktionssystem) offenliegen. Anders als in der Vergangenheit des Kartellrechts handelt es sich bei den kartellrechtlichen Primärnormen mittlerweile um eindeutige Verbote von bestimmten Verhaltensweisen, sog. ,per se mies' in der kartellrechtlichen Diktion. Der Gesetzgeber ist der klassischen Einteilung der Wettbewerbsbeschränkungsstrategien in ,horizontale', ,vertikale' und behindernde Verhaltensweisen gefolgt. Er hat nicht von einer wettbewerbstheoretisch denkbaren - Konzeption des Gesetzes nach sog. ,mIes of reason', nach deutschem Rechtsverständnis letztlich: Ermessensentscheidungen eröffnende Normen, Gebrauch gemacht. Generelle Aspekte, unter denen es gesellschaftlich vertretbar oder geboten erscheint, auf das System ,Wettbewerb' zu verzichten, werden im GWB durch Ausnahmegenehmigungs-Möglichkeiten des Bundeskartellamtes (Bereich des Kartellverbotes gern. § 1 GWB) oder über generelle Ausnahmebereiche erlaßt. Das Sanktionssystem des Kartellrechts hat die Möglichkeiten eines Kollektivsanktionssystems nach geltendem deutschen Recht aufgezeigt. Es wird mit Klagemöglichkeiten auf zivilrechtlichen Schadenersatz, Individualsanktionen in Form von Geldbußen, Geldbußen gegen juristische Personen und seit kurzem mit Geldstrafe gegen Individualpersonen im speziellen Bereich der "wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen" (§ 298 StGB - ehemals und vermutlich
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Schlußbetrachtungen
auch teilweise noch in der Zukunft als Submissionsbetrug gehandelt) gearbeitet. Die Stratbarkeit dieser speziellen Submissionsabsprachen unterliegt allerdings Bedenken im Hinblick auf das Gebot einer ausgeglichenen Inkriminierung von Lebensbereichen, da es alleine aus dem weiten Bereich der Wettbewerbsbeschränkungen herausgegriffen wurde. Da eine konsequente Ablösung dieses Tatbestandes von den vermögensschützenden Ansätzen älterer Vorschläge stattgefunden hat, vermag der Schutz des Vermögens der öffentlichen Hand eine Sonderstellung dieses Deliktes nicht mehr zu rechtfertigen. Dieser Tatbestand kann insofern nur ein Schritt in Richtung auf eine weitgehendere Inkriminierung von Kartelldelikten darstellen; erfolgt dieser Schritt nicht, muß der Tatbestand abgeschafft oder radikal umgearbeitet und - allerdings auch nicht in Anlehnung an den Betrug - auf den selbstschützenden Einsatz des Wettbewerbs durch die öffentliche Hand bezogen werden - hier sind allerdings erhebliche Begründungsprobleme zu erwarten. Neben zu Tage getretenen Problemen einer möglichen Unbestimmtheit (Rechtsgut und Verletzungsverhalten) und auch Problemen im Hinblick auf mögliche Irrtümer bei der Tatbegehung ist vor allem die Geldbuße gegen juristische Personen gern. § 30 OWiG als vermeintlich eigene Sanktion zu erwähnen. Aus der Sicht eines wirklichen Kollektivstrafrechts wird sich die Behauptung einer eigenständigen Stratbarkeit jedoch relativieren. Im Anschluß an die Darstellung des geltenden Kartellrechts wurde die aktuelle Situation des Strafrechts im Allgemeinen erläutert, in die eine Diskussion um die Reform eines Kartellrechts und auch des allgemeinen Strafrechts durch eine Kollektivstrafe notwendig eingebettet ist. Diese Situation ist durch ein Festhalten an traditionellen Positionen (Bewahren des Individualstrafrechts) einerseits und grundlegenden Umbrüchen im gesellschaftlichen Bezugsrahmen andererseits (z. B. im Bereich der Umwelt und Wirtschaft) charakterisiert. Es sind die enormen gesellschaftlichen Dimensionen von Delikten im Bereich der Umwelt und der Wirtschaft, die es als fragwürdig erscheinen lassen, ausschließlich auf die traditionelle Individualstrafe zu setzen, wenn damit doch offensichtlich größere Unrechtszusammenhänge (sowohl systemischer Natur als auch personeller Verstrickung) ausgeblendet werden; ebenso verhält es sich, wenn primär an die IndividualRechtsgüter angeknüpft werden soll, obwohl kollektive Zusammenhänge (vor allem Institutionen) doch eine konstitutiven für unsere Gesellschaft haben - wie für das Kollektiv-Rechtsgut ,Wettbewerb zu zeigen sein wird. Vieles zwingt daher so konnte resümiert werden -, zumindest den ernsthaften Versuch zu machen, die traditionellen Grenzen des Strafrechts zu überschreiten. Einem Diskurs des grundlegenden Umdenkens im Strafrecht waren jedoch diejenigen Grundpositionen voranzustellen, die für das Strafrecht konstitutiv sind und die nicht verabschiedet werden können, ohne daß sich das Strafrecht selbst aufgibt. Hier kann der Fehler Stratenwerths ausgemacht werden, an dessen Analyse des aktuellen Strafrechts maßgeblich angeknüpft wurde. Seine Versuche, von einem anthropozentrischen Denken im Recht und Strafrecht wegzukommen, können nicht zum Ziel führen, da sie dem aufgeklärten Menschen solange uneinsichtig und äu-
Schlußbetrachtungen
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ßerlich bleiben, wie sie nicht auf seine Freiheit und Vernunft referieren. Ein wirklich ökozentrisches Weltbild kann nur ein Naturvolk ernsthaft entwickeln; dies bedeutet jedoch nicht, daß es für den Menschen nicht möglich ist, aus seiner Vernunft einen umfassenden Schutz der Umwelt zu begründen. Die gesuchten essentiellen Grundlagen konnten also im notwendigen Bezug des Rechts und Strafrechts zur freiheitlichen Natur des Menschen und einer entsprechenden Konzeption des Strafrechts gefunden werden. Strafrecht wird als Sicherung der Grundlagen einer freiheitlichen Entwicklung des Menschen verstanden. Die Fähigkeit des Einzelnen, nach seinen Maximen zu handeln, die gegen verschiedene Einwände verteidigt werden kann, stellt den primären Legitimations-Bezugspunkt des Strafrechts und auch des Rechts dar. Dabei blieb diese Grundlegung des Strafrechts allerdings hinter einer umfassenden Begründung zurück, da ihr Ziel lediglich war, die Grundannahmen der weiteren Untersuchung aufzuzeigen und plausibel zu machen. Die besondere Situation der Kartelldelikte bestand nun darin, daß sie besonders im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Freiheit, Macht und kollektiven Strukturen liegen. Freiheit ist notwendig durch Macht nicht nur begrenzt, sondern - da Macht die Möglichkeit der Durchsetzung der eigenen Maximen ohne Rücksicht auf die Interessen anderer bedeutet - vor allem bedroht. Erst die Bestimmung der Freiheit als Abwesenheit vom Zwang anderer bringt einen gehaltvollen Freiheitsbegriff zustande. Besonders kompliziert wird der Umgang mit der Kartellrechtsmaterie durch dessen kollektive Struktur. Das Phänomen der Kollektivität ist indes für die Gesellschaft und das Recht nicht unbekannt. Es wurde hier in einem ersten Ansatz (anhand einer Betrachtung der kollektiven Güter in der Ökonomie und des Begriffes der Institution) gezeigt, daß Kollektivität eine besondere Bedeutung für das Zusammenleben hat und daß sie sich vor allem dadurch auszeichnet, Sachverhalte zu beschreiben, die nicht auf einzelne Menschen oder deren Handlungen zurückgeführt werden können - das Prinzip der Nichtdistributivität. Hierauf aufbauend wurde das Thema eines Kartellstrafrechts in zwei Schritten behandelt: Zunächst wurde in Teil 2 der Frage nach einer Strafwürdigkeit von Kartellrechtsdelikten nachgegangen, die sich nach Rechtsgut und dessen möglicher Verletzung richtet - der potentielle Tater kommt hier noch nicht richtig in Sicht. Eingeleitet wurde die Untersuchung der Strafwürdigkeit mit der grundlegenden Bestimmung der Abgrenzung von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, insofern das Sanktionssystem des Kartellrechts beinahe ausschließlich von letzterem gestellt wird. Hier konnte bereits das Verständnis des Strafrechts nach freiheitsgesetzlichen Aspekten fruchtbar gemacht werden. Es muß an einer qualitativen Abgrenzung des Strafrechts vom Ordnungswidrigkeitenrecht festgehalten werden, wobei die Grenzziehung weder anhand der Moralität hier und der moralischen Neutralität dort oder des Rechtsgüterschutzes hier und der Wohlfahrtsförderung dort vorgenommen wurde, sondern danach, ob eine Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeingesetzlichen Geltung (also "als Recht an sich") in einem Maße, das die rechtliche Selbständigkeit der betroffenen Person oder der Gemeinschaft als Grundbedingung der Freiheit fundamental beeinträchtigt. Grundlage die-
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Schlußbetrachtungen
ser rechtlichen Selbständigkeit ist das gegenseitige Anerkennungsverhältnis der Menschen. Dessen Verletzung bestimmt den Kern des Verbrechens. Es wird das Verhältnis der Bürger untereinander und auch in ihrer gesellschaftlichen Gemeinschaft und nicht das Verhältnis des Einzelnen zur staatliche Gemeinschaft thematisiert, wie dies im Rahmen der Ordnungswidrigkeiten der Fall ist. Im weiteren Verlauf der Arbeit konnte dann gezeigt werden, daß das Rechtsgut ,Wettbewerb' eine zentrale gesellschaftliche Stelle besetzt und die grundlegende freiheitliche Struktur der Gesellschaft verkörpert. Erst das Verständnis des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren im v. Hayekschen Sinne vermag diesen in seiner gesellschaftlichen Bedeutung zu erklären und entzieht damit jeder rein ökonomischen Begründung oder Rechtfertigung im Recht den Boden. Der Wettbewerb wird gesellschaftlich gewollt, weil er das Einbringen jedes Einzelnen ermöglicht und damit auch die Nutzung des distributiven Wissens. Der Wettbewerb stellt im Gegensatz zu einem Unternehmen eine Katalaxie dar, ein komplexes System, das wir durch Setzung der Rahmenbedingungen zur Funktion bringen, nicht jedoch beliebig formen können, ohne daß es seine Funktion verlöre. In dieser Form ist er - und mit ihm zusammen die Marktwirtschaft in enger Verschränkung mit dem Sozialstaatsprinzip - auch verfassungsrechtlich geschützt. Aufgrund seiner Entstehung durch das Zusammenwirken vieler kann der Wettbewerb nur als nicht-distributiv verstanden und als Kollektiv-Rechtsgut gefaßt werden. Seine Bedeutung liegt vor allem in der Sicherung der Freiheit durch eine Kontrolle und Verhinderung von Machtstrukturen in der Gesellschaft und erst in zweiter Linie in den positiven ökonomischen Ergebnissen. Der Wettbewerb konnte in dieser Form weiter auch als bedeutsames Rechtsgut für die Konstitution des aus dem Anerkennungsverhältnis folgenden Basisvertrauens bezeichnet und damit als grundsätzlich taugliches Strafrechtsgut identifiziert werden. Mit diesen Betrachtungen wurde gleichzeitig die Rolle, Berechtigung und Bedeutung von Kollektiv-Rechtsgütern in der Gesellschaft exemplarisch herausgestellt. Die Verletzung des Wettbewerbs erfolgt durch systemschädigende Handlungen bzw. Wettbewerbsbeschränkungen. Diese werden identifiziert über ihre Auswirkungen auf die Handlungsfreiheit, näherhin den Handlungsspielraum. Ob diese letztlich als strafwürdig zu beurteilen sind, hängt davon ab, ob nach den Aussagen der Markt-Preis-Theorie oder nach anderen normativen Kriterien eine besonders negative Beurteilung (z. B. bei echtem Zwang) notwendig ist. Weiter konkretisierend konnte auf die Leistungsbezogenheit von Handlungen und den machtneutralisierenden Mechanismus des Wettbewerbs von Chance und Risiko zurückgegriffen werden. Zielt ein Verhalten gerade nicht auf eine eigene Leistung am Markt und dient eigentlich dem Ausschalten dieses Mechanismus von Chance und Risiko, ist es systemschädigend. Anhand dieser Abgrenzungskriterien konnte schließlich gezeigt werden, daß zumindest auf bestimmte - näher zu beschreibende - Verstöße gegen das Kartellrecht grundsätzlich mit strafrechtlichen Sanktionen reagiert werden muß, also von einer - jedenfalls partiellen - Strafwürdigkeit auszugehen ist. Es handelt sich dabei um die horizontalen Kartellabsprachen, die Vertikalverein-
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barungen und bestimmte Behinderungsstrategien im Rahmen des § 21 GWB. Weiter ist an eine Inkriminierung von Verhaltensweisen zu denken, die von den Kartell behörden im Rahmen der Mißbrauchsaufsicht als eindeutig kartellrechtswidrig identifiziert wurden, und u. U. auch an Zuwiderhandlungen im Rahmen der Fusionskontrolle. Letztlich mußte allerdings im Rahmen der Verhaltensweisen, die unter dem Begriff des Mißbrauchs von Marktrnacht behandelt werden, konstatiert werden, daß sich hier keine genügend typisierbaren Verhaltensweisen beschreiben lassen, die einen konkreten Tatbestand bilden könnten. Die primäre Aufgabe eines Kartellstrafrechts liegt daher im Bereich der Verhaltensweisen, die den noch bestehenden Wettbewerb aushebein wollen. Der konkrete Gebrauch bestehender Macht stellt sich als strafrechtlich zu schwierig zu fassen heraus. Insgesamt konnte auch dargelegt werden, daß potentielle Tatbestände ausreichend bestimmt zu beschreiben sind: Teils durch den Einsatz zwar unbestimmter, aber in jahrzehntelanger Rechtsprechung präzisierter normativer Tatbestandsmerkmale, teils durch den Einsatz subjektiver Elemente. Auch konnten die verschiedenen Relativierungen des Wettbewerbs (Ausnahmemöglichkeiten vom Kartellverbot, Ausnahmebereiche) sich in ein Kartellstrafrecht dogmatisch integrieren lassen, vor allem durch Aufnahme in Dogmatik der Rechtswidrigkeit. Bejaht man nun die Strafwürdigkeit in Kartellsachen, schließt sich die Frage nach der Strafbedürftigkeit an, also vornehmlich nach Effizienz und Praktikabilität potentieller Regelungen. Hier muß eine Antwort naturgemäß unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob man die Strafbarkeit natürlicher Personen oder die von Kollektiven betrachtet. Eine abschließende Bewertung wurde insofern erst nach Abschluß der Kollektivstrafrechts-Begründung vorgenommen. Im Rahmen eines freiheits gesetzlich bestimmten Strafrechts konnte jedoch manchen PraktikabilitätsArgumenten, vor allen denen zur Präventionstauglichkeit, nicht die herkömmlicherweise zugestandene Rolle zukommen, da die Aufgabe des Strafrechts in der Vergeltung der Tat liegt, wie sogleich am Ende des Teil 3 gezeigt wurde. Die Begründung eines Kollektivstrafrechts bedurfte nun einiger Vorarbeiten, denen Teil 3 der Arbeit gewidmet war. Es wurden dort zunächst die Ursachen der Kriminalität aus dem Bereich von Wirtschaftsunternehmen in der Form untersucht, wie sie in der Diskussion stehen; daß eine solche Kriminalität - unabhängig von einem Kartellstrafrecht - existiert, ist weitgehend unbestritten. Hier wurden die verschiedenen Beiträge der Kriminologie, der Soziologie und Psychologie vorgestellt. Die zentrale Aussage war dabei - neben der grundsätzlichen gesellschaftlichen Bedeutung der Wirtschaftskriminalität und auch ihrer grundsätzlich schwierigen Greifbarkeit -, daß zwei kriminogene Dimensionen bei einem Verbandsdelikt ausgemacht werden können, die allerdings regelmäßig zusammenwirken: Die strukturelle bzw. organisatorische und die psychologische. Die eine bewirkt - primär in vertikaler Richtung -, daß Verantwortlichkeiten bis zur Unkenntlichkeit zersplittert werden, sei es aus Absicht und als ungewollte Folge; die andere hat zur Folge, daß Individuen in verbandsmäßigen Organisationen zu Verhaltensweisen neigen, die sie in ihrem privaten Umfeld regelmäßig nicht ausführen würden. Auch
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Schluß betrachtungen
hier ist wieder eine Bandbreite von Erscheinungsformen möglich, von einem ungewollten Effekt bis hin zum von der Firmenleitung gesteuerten Einsatz. Im Anschluß an diesen Befund wurde der Status Quo der Diskussion um die Kollektiv- bzw. Verbandsstrafe vorgestellt - anhand einer Auswahl der Autoren aus dem deutschsprachigen Raum und einem kurzen Abriß der Situation auf der internationalen Ebene - und dieser anschließend einer ersten Analyse zugeführt. Dabei konnten folgende Ansätze unterschieden werden: Grundsätzlich können nach ihrem eigenen Anspruch Versuche unterschieden werden, die ein Kollektivstrafrecht entwickeln wollen, das mit dem Individualstrafrecht dogmatisch durch Gemeinsamkeiten harmoniert oder die ein Kollektivstrafrecht als zweite Spur entwickeln wollen. Es geht hier vor allem um die Frage, ob auf das Schuldprinzip aufgebaut werden soll oder nicht. Orientiert man sich an der dogmatischen Konzeption, ist danach zu differenzieren, ob ein schlichte Zurechnung von Individualtaten vorgenommen und das Kollektiv nur als weitere Haftungsmasse betrachtet wird, ob der Versuch einer (organologischen) Parallelwertung gemacht wird, wobei eine Loslösung von Individualstraftaten nicht Individualverhalten als Bezugspunkt stattfindet, und schließlich, ob eine wirkliche Normativierung der Zurechnungsmaßstäbe betrieben wird, die dann sowohl in einer normativen Kollektivschuld als auch in einer Unfähigkeit zur Schuld und damit Maßregel-Adressierung resultieren kann. Die so häufig aufgeworfene Frage nach der objektiven oder subjektiven Zurechnung konnte als unfruchtbar zurückgewiesen werden, da letztlich bereits jede Antwort eine Vorwertung in sich trägt, die sie ja selbst erst aufstellen will. Zwei Bereiche wurden dann untersucht, die eine Antwort auf die Frage nach dem Kollektivsubjekt im Strafrecht vorprägen: Zunächst seine Behandlung in anderen Bereichen der Rechtsordnung, namentlich im Zivil- und Gesellschaftsrecht und in der Verfassung und der Umgang mit dem Phänomen kollektiver Verhaltensweisen im überkommenen Individualstrafrecht - Thematik der mittelbaren Taterschaft und der Mittäterschaft. Die Diskussion eines Unternehmens- oder Verbandsstrafrechts oder eines Strafrechts für juristische Personen krankt nun weitgehend daran, daß sie kein klares Verständnis des betreffenden Subjekts hat; aufbauend auf verfassungsrechtlichen, empirischen und gesellschaftsrechtlichen Betrachtungen war für die Diskussion im Strafrecht festzuhalten: Es muß an den Begriff des Kollektivs als Zusammenfassung von Verband, Unternehmen und juristischer Person angeknüpft werden. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, daß es sich zunächst um das empirische Phänomen eines - u. U. unternehmerischen - Verbandes handelt. Grundlegende Bedeutung kommt der Präzisierung der Gemeinsamkeiten des Kollektivs mit dem individuellen Menschen und der Differenz zu ihm zu. Darauf weisen ja bereits die verschiedenen kriminologischen Befunde hin. Aber auch die Begriffe des Unternehmens und der juristischen Person - wenn man diese wie auch schon das Verfassungsrecht als Rechtspersönlichkeit von der engen gesellschaftsrechtlichen Nomenklatur befreit - haben eigenständige Bedeutung für die Konstitution des Kollektivs, wie später vor allem auch die Bestimmung des Kreises der strafrechtssubjektiven Kollektive erweist.
Schlußbetrachtungen
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Im dritten Abschnitt des Teil 3 waren schließlich noch die entscheidenden dogmatischen Grundlagen im bestehenden Individualstrafrecht aufzuspüren, die für eine Legitimation des Kollektivstrafrechts von Bedeutung sind: (i.) Das Individualstrafrecht enthält in bestimmten Tatbeständen des Besonderen Teils bereits Hinweise auf die spezifische Qualität der Taten von Personenmehrheiten (Rotten- und Bandendelikte und Delikte der organisierten Kriminalität); (ii.) Untersuchungen zur mittelbaren Täterschaft bringen im Ergebnis zum einen einen normativen Handlungsbegriff, der an die Tatherrschaft anknüpft und zum anderen die Figur der Tatherrschaft kraft sozialer Macht zu Tage; (iii.) Untersuchungen zur Mittäterschaft legen die Existenz eines besonderen System- bzw. besser: Verbandsunrechts nahe, das für von Personenmehrheiten ausgehende Taten spezifisch ist, im Rahmen der - nicht verbandsmäßig organisierten Mittäterschaft - bereits ihre Wirkung entfaltet, jedoch erst im Rahmen des Verbandes zur vollen Geltung gelangt; (iv.) abschließend wurde eine eingehende Begründung der zentralen Weichenstellung im Strafrecht durch Herausstellen der Schuld als dessen konstitutives Merkmal dargelegt. Damit kann für das Verhältnis von Schuld und Strafe angenommen werden, daß ein Verständnis der Straftat als schuldhafte Handlung an sich für das Individualstrafrecht gerechtfertigt ist; die Straftat ist neben der konkreten Handlungsobjekt- und damit Rechtsgutsverletzung vor allem Verletzung des ,Rechts als Recht' und Se1bstwiderspruch des Täters zugleich; die Strafe hat dann ihren Grund in einer Rechts-Schuld, zu welcher der Mensch aufgrund seiner vernünftigen Natur als unaufhebbares Mitglied der Rechtsgemeinschaft fähig ist. Ein Strafrecht, das sein Verhältnis zur Schuld wie benannt bestimmt und letztlich seinen Ausgangspunkt beim vernünftigen selbst-bewußten Individuum hat, sperrt sich am nachhaltigsten gegen ein Verbandsstrafrecht. Konsequenterweise gehen von diesem Verständnis auch die höchsten Anforderungen an eine entsprechende Legitimation aus. Im Falle einer erfolgreichen Legitimation kommt damit dem Ergebnis aber eben auch eine sehr hohe Plausibilität zu. Diese Legitimation des Kollektivsubjektes im Strafrecht und damit auch der Kollektivstrafe wurde dann schließlich in Teil 4 der Arbeit einer Antwort zugeführt, die sich zentral um das Problem der kollektiven Schuld drehte. Auf diesem Wege hat sich schließlich auch die Strafbedürftigkeit von Kartelldelikten ergeben, die zuvor in Teil 2 der Arbeit zurückgelassen wurde. Zunächst wurde der entscheidende Begründungsschritt, der bisher hinten angestellt wurde und auch allgemein in der Diskussion um ein Kollektivstrafrecht vernachlässigt wurde, nachgeholt: Die Begründung der Rolle des Kollektivs als Konstituent der Rechtsordnung neben dem Individuum. Zunächst wurde kurz der Gedanke der Konstitution der Rechtsordnung nachgezeichnet. Die Begründung der Rolle des Kollektivs erfolgt hier anhand eines letztlich sozial-psychologischen Argumentes, das besagt, daß die Betrachtung des vernünftigen Subjektes nicht ausreicht, um die Konstitution der Rechtsordnung zu erklären, da bestimmte Aspekte der einzelnen Person ausgeblendet werden, die jedoch notwendig zur vollständigen Beschreibung sind. Die sozialpsychologischen Erkenntnisse zum Handeln des Menschen in Organisationen müs24 Kohlhoff
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Schlußbetrachtungen
sen dahingehend interpretiert werden, daß der Einzelne über eine kollektive Schicht in seinem Bewußtsein verfügt, die nur in kollektiven Zusammenhängen ihre Wirkungen entfaltet und auch nur in kollektiver Ansprache motiviert werden kann - dies im negativen wie im positiven, so daß ein wesentlicher Fehler bei Betrachtungen des Kollektivstrafrechts darin besteht, sich nur auf die negativen kollektiven Phänomene zu beziehen und nicht die positiven Leistungen zu erkennen. Über die psychologischen Schnittmengen konstituiert sich nun das Kollektiv und nimmt an der Gesellschaft und damit auch an Recht und Strafrecht teil. Das psychologische Moment ist mithin zentral, ist aber von vorne herein an den Gedanken einer verbandsmäßigen Personenmehrheit gebunden. In diesem Zusammenhang konnte auch die gleichennaßen gerechtfertigte Anwendung der Inhalte des Personenbegriffs auf Individuen wie Kollektive gezeigt werden, vor allem im Hinblick auf Reflexionsvennögen und Identität. Aus dem Ergebnis der Betrachtungen zur Rolle des Kollektivs als Konstituent der Rechtsordnung konnte dann konsequenterweise seine Fähigkeit zum Verstrikken in echte, eigene, weil persönliche, Schuld gefolgert werden. Die Schuldverstrickung besteht beim einzelnen Menschen wie beim Kollektiv im Verschuldensprozeß. Bis es zu einer Verkehrung der individuellen Einstellungen zu einer Unrechtsmaxime des Kollektivs kommt, werden viele psychische Schnittmengen zwischen den Individuen gebildet, sowohl in gleichzeitiger als auch intertemporaler Dimension. Die Unrechtsmaximen werden beim Kollektiv in Fonn der schlechten, weil fehlerhaften Organisation, die Ausdruck einer Gleichgültigkeit ist, und in einer kriminell anfälligen Unternehmenskultur ausgedrückt. Auf dem Wege dieser Argumentation müßte dann nicht zuletzt eine Versöhnung mit der Auffassung des Strafrechts als Schutz der grundlegenden Bedingungen unserer Freiheit gelungen sein, aus deren Lager wohl die entschiedensten Gegner eines Kollektivstrafrechts kommen. Ausgehend von dem so bestimmten Begriff des Kollektivs wurden schließlich die verschiedenen dogmatischen Problemkreise des Kollektivstrafrechts einer Lösung zugeführt: Die Handlungsfähigkeit - hier wurden durch einen bereits konsequenterweise für das Individualstrafrecht nonnativ bestimmten Handlungsbegriff keine größeren Probleme mehr aufgeworfen -, die Bestimmung des Kreises der straffähigen Kollektive - hier war an das Kriterium der Verbandsfonn, zugleich an die psychologische Kontinuität im Rahmen von Verbands- bzw. Rechtsfonnwechsein anzuknüpfen - und die Gerechtigkeit einer solchen Strafe und ihre konkrete Fonn - wobei für Argumente zugunsten der Ungerechtigkeit einer Kollektivstrafe nach der Konzeption eines eigenen, wenn auch dem Menschen nach wie vor verhafteten Kollektivs ohnehin kaum noch Raum war. Ein Kollektiv, das zu seinen Konstituenten eine spezifische Differenz aufweist, kann mit diesen ebensowenig gleichgesetzt werden wie die Kollektivstrafe die Konstituenten mehr als ausgesprochen mittelbar zu treffen vennag. Die hier vorgenommene Bestimmung des strafrechtlichen Kollektivs macht es zugleich unmöglich, diesen Begriff auf eine Gesellschaft, also einen Staat, eine Stadt oder Gemeinde schlicht zu übertragen. Es
Schlußbetrachtungen
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fehlt das spezifische organisatorische Element, das exemplarisch im Unternehmen vorliegt; auch ist eine negative Rückkoppelung auf das Individualstrafrecht - die so gerne schwarzmalerisch in den Raum gestellt wird - zu befürchten. Diese Gefahr besteht nur für diejenigen, die in die Begründung des Individualstrafrechts problematische Grundannahmen eingelagert oder bestimmte Problemkomplexe umgangen haben. Gerade im Rahmen der Schuld muß man natürlich Farbe bekennen, warum jemand trotz bestimmter massen-psychologischen Effekte zu Recht strafbar ist. Wenn man dies begründen kann, braucht man aber vor dem Kollektivsubjekt in der Dogmatik auch keine Angst mehr zu haben. Aus den Betrachtungen zu einem Kollektivstrafrecht resultierte dann zuletzt auch die Folgerung, daß zu Recht von der Effektivität und Praktikabilität einer Kollektivstrafe und damit in Konsequenz auch eines darauf aufbauenden Kartellstrafrechts gesprochen werden kann. Diese Lösung wurde noch abschließend in ein Verhältnis zu verschiedenen Alternativlösungen gesetzt, die noch einmal deutlich werden ließen, daß ein Kollektivstrafrecht sich davor hüten muß, sich selbst als Lösung aller gesellschaftlichen Probleme im Umgang mit Kollektiven wie z. B. Unternehmen zu präsentieren, sondern sich abstimmen muß mit den Problemlösungen im Zivilrecht, Gesellschaftsrecht und nicht zuletzt Individualstrafrecht.
11. Rückkoppelung zwischen Kartellstrafrecht und Kollektivstrafrecht
Inhaltlich steht nun noch eine letzte Rückkoppelung zwischen den beiden Hauptthemen der Arbeit, Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe, aus. Oben wurde bereits die Phänomenologie von Kartellrechtsverstößen dargelegt'. Hier steht die horizontale Dimension des Kollektivs im Vordergrund, was einen spezifischen Unterschied zum Regelfall im Umweltstrafrecht bedeutet. Einleuchtender Weise handelt es sich hier zunächst um strategische Entscheidungen einer kleinen Gruppe von Unternehmensführern. Diese werden dann jedoch im weiteren im gesamten Unternehmen verwirklicht, denn hier handelt es sich - anders als häufig im Umweltrecht - um zielgerichtetes aktives Handeln eines Unternehmens als Ganzem am Markt. Eine Kartellvereinbarung wird von den entsprechenden Bereichen des Unternehmens umgesetzt, sei es im Hinblick auf den Preis oder die Produktgestaltung. Eine Vertikal vereinbarung wiederum erfolgt zwar auf der bindenden Seite im Zweifel nur auf der Führungsebene, aber das gebundene Unternehmen muß wieder als Ganzes reagieren. Ebenso verhält es für die Behinderungsstrategien. Der Fall, daß aus Versehen durch Zusammenwirken vieler, auch über einen längeren Zeitraum, eine Wettbewerbsbeschränkung zustande kommt, ist bereits auch aus diesem Grund ausgeschlossen (außerdem hat dies seinen Grund natürlich in der Bestimmung des Begriffs der Wettbewerbsbeschränkung selbst). Mit einer Kol1
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Vgl. oben § 7 III. 3.
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Schlußbetrachtungen
lektivstrafe, die auf die vertikale Ebene im Unternehmen und vor allem auch auf die intertemporale Struktur der Tathandlung fokussiert wie z. B. die von Heine vorgeschlagene, wären Kartellverstöße nicht zu fassen. Daß sie doch gefaßt werden können, ergibt sich nun jedoch nicht aus einem pragmatischen Argument, weil hier Prävention bei strafwürdigen Kartelldelikten Not täte und daher gerade die Kollektivstrafe einzuführen wäre. Dies hieße eindeutig, das Pferd in kriminalpolitischer Intention von hinten aufzuzäumen (ausgeschlossen scheint eine solche Motivation allerdings bei manchen Vorschlägen durchaus nicht). Vielmehr konnte dargelegt werden, wie wichtig bereits die horizontale Dimension, die bereits für die Mittäterschaft charakteristisch ist, für die Begründung der Kollektivstrafe ist. Zugleich konnte mit den Betrachtungen zur mittelbaren Taterschaft zwar auch die vertikale Dimension in die Begründung eingeholt werden; die horizontale Ebene ist aber maßgeblich mitbestimmend für die Fassung des Kollektivs als Konstituent der Rechtsordnung und damit für den Begriff des Kollektivs notwendig. Ohne diese Ebene muß sich letztlich auch ein Ansatz wie der von Heine die Begründung abschneiden, wie bereits dargelegt worden ist2 . Damit findet nun aber die Kollektivstrafe im Angesicht der Kartellverstöße gerade erst ihre echte Bewährung. Soll sie kein Anhängsel im Strafrecht sein, ähnlich der Geldbuße gegen juristische Personen im alten Ordnungswidrigkeitenrecht als Nebenfolge, muß sie auch strafwürdige Rechtsverstöße erklären können, die das Unternehmen in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung wie in keinem anderen Gebiet als Ganzes und durch einzelne Mitglieder betreibt. Die auf diesem Wege begründete Kollektivstrafe erklärt Kartellrechtsverstöße in ihrer strafrechtlichen Relevanz nicht zusätzlich, sondern macht ein Kartellstrafrecht überhaupt erst wirklich sinnvoll. Das mag als weiterer Beleg für Richtigkeit der Begründung beider dienen. Keine der vorgeschlagenen Alternativen zu einem Kollektivstrafrecht vermochten nun für sich genommen zu überzeugen. Ein Mangel vieler Äußerungen zur Frage der Einführung eines Kartellstrafrechts liegt häufig im Gegenüberstellen zweier strenger Alternativen: Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht, letzteres eventuell zusammengenommen mit anderen nicht unmittelbar sanktionsrechtlichen Regelungen. Es liegt aber keine strenge Alternativität vor, vielmehr muß mit einem ausdifferenzierten System von Schutzregelungen gearbeitet werden, deren zentraler Bezugspunkt und damit Dreh- und Angelpunkt jedoch die Strafbewährung von bestimmten Verstößen ist, die dann durch das Ordnungswidrigkeitenrecht gestützt und das Zivil- und Gesellschaftsrecht ergänzt wird. Ein solchermaßen eingebettetes Strafrecht zeigte damit auch deutlich den Platz auf, den das Kartellrecht innerhalb der Rechtsordnung einnimmt. Das Strafrecht übernimmt also insoweit - um die Diktion Schilds aufzugreifen die zentrale Schutzfunktion, die es aufgrund seiner Begründung und Zwecksetzung auch entsprechend ausfüllen kann: ,resozialisierende Vergeltung' durch Bestätigung der Schuld, Ausgleich der Rechtsverletzung und Distanzierung von der Tat. 2
Vgl. oben § 11.
Schlußbetrachtungen
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Straftaten eines Rechtskonstituenten können nur durch Strafen gegen diesen ausgeglichen werden. Ein an ökonomischen Betrachtungen geschärftes System der Geldstrafe zusammen mit der Unternehmenskuratel bilden hier den sinnvollsten Weg zu einer empirischen Strafe. Hinzu tritt das Ordnungswidrigkeitenrecht, das die Fälle minder schwerer Verstöße gegen das Kartellrecht abdeckt und darüber hinaus auch Lücken schließen kann hinsichtlich möglicher strafrechtlich relevanter Umgehungsversuche von Unternehmen. Bestehen bleiben auch die zivilrechtlichen Instrumente, die eine Wahrnehmung des Wettbewerbsschutzes durch die Wettbewerbsteilnehmer mobilisieren. Die Publizität verliert ihre eigenständige Rolle als Alternative (im Hinblick auf die strafrechtlichen Argumente gegen eine Stigmatisierung auch zu Recht), da sie im Kanon der möglichen Unternehmensstrafen aufgeht. Schließlich wird zu überlegen sein, inwiefern gesellschaftsrechtlich auf die Verbandsstrukturen langfristig eingewirkt werden kann, so daß Straffälligkeit in diesem Bereich schon vorgebeugt ist. Insofern würden diese Maßnahmen eben der Heranbildung der Zurechnungsfähigkeit und des Unrechtsbewußtseins beim Menschen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter gleich kommen. Dieser Möglichkeit ist jedoch mit einer gewissen Skepsis entgegenzutreten, wie die Probleme bei der Umsetzung des Kontroll- und Transparenzgesetzes (KonTraG) gezeigt haben. Unterstützend sollte aber wohl nicht auf sie verzichtet werden. Die Menge der Anteilseigner haben es letztlich besonders gut in der Hand, den gesellschaftlichen Kurs eines Unternehmens zu bestimmen, wenn ihnen die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung nur bewußt wird. Damit ist abschließend die zentrale These der Arbeit bestätigt, daß eine notwendige Vermittlung von Freiheit und Macht, so wie sie im ersten Teil der Arbeit begründet wurde 3 , in angemessener Form in einem Kartellstrafrecht, das im wesentlichen auf einem Kollektivstrafrecht beruht, gelingen kann. Seinen Grund hat dies darin, daß diese Vermittlung nur in der Aufarbeitung und angemessenen Integration von kollektiven Strukturen in das Recht Erfolg haben kann. Diese Strukturen sind in der Gesellschaft vor allem in den Kollektiv-Rechtsgütern und in den Kollektivsubjekten verwirklicht. Dabei bleibt deren Rekonstruktion durchaus individuell bezogen und wird keineswegs hypostasiert. Sowohl das hier untersuchte Rechtsgut ,Wettbewerb' als auch die begründete Form des Kollektivs sind Ausdruck der Freiheit der einzelnen Individuen und damit auch der freiheitlichen Struktur der Gesellschaft. Ein Kartellstrafrecht dient nun grundsätzlich der Sicherung des Wettbewerbs vor der Bildung schädlicher Macht und damit auch dem Schutz vor einem inakzeptablen Gebrauch derselben. Aufgrund der Struktur des Phänomens ,Macht' muß jedoch der Schwerpunkt auf der Verhinderung entsprechender Machtpositionen durch vorgelagerte Verbote und Sanktionen liegen. Die Explikation des Kollektivs wiederum führt zu einer adäquaten Erfassung des Phänomens in seiner problematischen gesellschaftlichen Dimension, denn Kollektive stellen Machtkomplexe dar. 3
Vgl. oben § 3.
Schlußbetrachtungen
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Machtkomplexe bleiben dabei aber Ausdruck menschlichen sozialen Verhaltens. Blendet man sie aus dem Strafrecht aus, erodiert man dessen gesellschaftliche Funktion, da strafrechtlich relevante Verhaltensweisen - Verletzungen der Freiheitsbedingungen durch Verletzung entsprechender Rechtsgüter - nicht ausgeglichen werden und in die Gesellschaft hineinwirken. Zugleich steht zu befürchten, daß Kollektive mittelfristig gesellschaftlich desavouiert werden, denn in der sozialen Realität wird ein Kollektiv auch als solches gesehen: Als Schlagwort sei hier nur der Kampfruf ,Brecht die Macht der Konzerne!' angeführt und auf eine wachsende (allerdings weitestgehend sinnlos agierende) Gegenbewegung zur Globalisierung und vor allem die diese repräsentierende WTO hingewiesen. Ein nur an individuellen Strukturen orientiertes Recht und Strafrecht als dessen zentralem Bestandteil ließe die Lücke zwischen den Phänomenen Macht und Freiheit offen mit fatalen Folgen für das Letztere und damit für den Menschen als das umsorgte vernünftige Subjekt.
III. Formulierungsvorschlag für einen § 2S a StGB-E Die dogmatische Grundlegung des Kollektivstrafrechts kann nun abschließend in einem Modelparagraphen gebündelt werden, der Dreh- und Angelpunkt eines Kollektivstrafrechts de lege ferenda sein könnte - allerdings ohne alle Zurechnungsfragen abschließend zu beantworten: § 25 a StGB-E (1) Täter können einzelne Menschen (individuelle Personen) oder Kollektive (kollektive
Personen) sein.
(2) Kollektive sind Verbände und Stiftungen, soweit sie privatrechtlich anerkannt sind, eine nach außen gerichtete Tätigkeit ausüben und ihnen als Konstituenten und I oder Mitarbeiter mindestens zwei individuelle Personen angehören. (3) Die vorsätzliche Tat eines Kollektivs ist gegeben, wenn eine Straftat durch eine einzelne oder mehrere individuelle Personen aus dem Kollektiv heraus begangen wird und diesem zugute kommen soll und wenn ein entscheidungsbefugter Vertreter aktiv beteiligt ist, die Tat duldet oder von ihr bei ordnungsgemäßer Organisation wissen müßte. (4) Die fahrlässige Tat eines Kollektivs ist gegeben, wenn eine Straftat im Sinne von Absatz 3 durch nicht entscheidungsbefugte individuelle Personen vorsätzlich begangen wird, das Unternehmen jedoch im Vorfeld ausreichende vorbeugende Organisationsmaßnahmen durchgeführt hat. Zur Konzeption dieses Modelparagraphen seien an dieser Stelle noch einige kurze, teilweise auch wiederholende Erläuterungen angebracht: Die Grundzüge der Strafbarkeit des Individuums werden im Strafgesetzbuch an keiner Stelle zusammenfassend behandelt, sondern teilweise explizit an einzelnen Stellen (so namentlich verschiedene Rechtfertigungsgründe und die Fragen schuldlosen bzw.
Schlußbetrachtungen
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schuldunfahigen Handeins), teilweise -letztlich überwiegend - werden sie implizit vorausgesetzt. Insofern ist die Frage des Standortes eines Kollektivstrafrechts von vorne herein systematisch schwierig. Wie im Laufe der Arbeit dargelegt wurde, findet die Problematik der Kollektive ihren Ausgang nun zunächst bei den Fragen der Beteiligungsmehrheiten im Strafrecht, so daß ein Anknüpfen bei den §§ 25 ff. StGB naheliegend ist. Weiter aber beschäftigen sich diese Paragraphen grundlegend mit der Frage nach dem Täter bzw. den Tätern. Insofern ist konsequent an dieser Stelle klarstellend anzusetzen und herauszustellen, wer alles (als Person) taugliches Subjekt des Strafrechts ist. Damit wird zugleich deutlich, daß es sich bei dieser Frage um eine Frage des AT eines in den Grundlagen einheitlichen Strafrechts handelt und damit grundsätzlich auch im Kollektivstrafrecht entsprechend nach den überkommenen Vorschriften des AT vorzugehen ist - naturgemäß mit all den bereits oben gemachten Einschränkungen und Präzisierungen. Inhaltlich bestehen nun grundsätzlich die Alternativen, (i.) zu den bereits im Individualstrafrecht getroffenen Regelungen zu Vorsatz / Fahrlässigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld usw. jeweilige Parallelregelungen anzufügen, sie (ii.) zentral zusammenzufassen oder sie (iii.) vereinzelt oder weitgehend in die Gesetzesbegründung zu verlegen. Auf diesem Wege würde eine weitere Rechtsentwicklung sicher begünstigt, ohne daß - in Anbetracht der Bedeutung historischer Auslegung für jüngere Gesetze - eine Kollision mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu befürchten wäre. An diesen Weg wäre insbesondere für den Absatz zwei zu denken, der im vorliegenden Entwurf den Kreis der Kollektive umschreibt. Zumindest aber für die Grundzüge der Kollektiv-Schuld sollte von einer ausdrücklichen Positivierung abgesehen werden und diese in der Gesetzesbegründung in ergänzender Auslegung zu §§ 20,21 StGB erläutert werden. Dabei geht es um den Verschuldensprozeß und um die Frage, ob keine der beteiligten Personen, insbesondere der Leitungsebene, in der Lage war - entsprechend der Voraussetzungen der §§ 20, 21 - die Verstrickung des Kollektivs zu erkennen und aufzuhalten. Zentrales Element der Kollektivtat ist der ihr zugrunde liegende Altruismus, der um die mangelnde Organisation des Kollektivs zur Verhinderung solch altruistischer Taten ergänzt wird. Tatbeiträge können von einzelnen individuellen Personen - auch ohne gegenseitige Kenntnis - geleistet werden. Im Verband verteilt vorhandenes Wissen ist dabei grundsätzlich zusammenzurechnen, da ein Kollektiv die Pflicht trifft, einen durchgängigen Informationsfluß für risikorelevante Bereiche zu gewährleisten (eine solche Pflicht zum Risikomanagement wird im außerstrafrechtlichen Bereich z. B. den Aktiengesellschaften nach § 90 Abs. 2 AktG auferlegt). Eine entsprechende strafrechtliche Pflicht besteht für die Dokumentation von Risiken im Zeitverlauf. Dabei sind die fraglichen Pflichten nicht Gegenstand eines speziellen Tatbestandes des BT - in Entsprechung zu § 130 OWiG -, sondern des Verbandshandelns und damit eine Frage des AT. Inhaltlich wären die Organisationspflichten entsprechend den Arbeiten von Heine4 und in neuester Zeit von 4
Vgl. G. Heine, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 272 ff.
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Bosch5 in der Gesetzesbegründung zu präzisieren, wobei es um das Herausarbeiten von branchenspezifischen Grundsätzen für ein (strafrechtlich relevantes) Risikomanagement und die individuelle Berücksichtigung der einzelnen betroffenen Unternehmen gehen wird. Für letzteres könnte an präventive, verpflichtende Eigenaudits der Unternehmen gedacht werden, bei denen sich die Unternehmen selbst bewußt einen (wenn auch nicht für den Richter letztverbindlichen) Maßstab setzen müssen. Wird nun eine entsprechende vorbeugende Organisation durchgeführt und gerade eine Aufklärung im Hinblick auf verbandsbezogen motivierte Straftaten betrieben, wird der Verband dadurch für vorsätzliche Delikte in dem Fall entlastet, daß einzelne individuelle Personen der unteren Hierarchieebenen vorsätzlich handeln. Hier ist dann eine Fahrlässigkeit zu untersuchen. Diese scheidet für den Fall aus, daß diese Tat auch bei verbesserter Organisation nicht hätte verhindert werden können. Wird auf der unteren Hierarchieebene nur fahrlässig gehandelt und wurde eine ausreichende Organisation durch die Leitungsebene gewährleistet, scheidet eine Strafbarkeit des Kollektivs vollständig aus. Die möglichen Sanktionen für Kollektive könnten systematisch sinnvoll hinter den (Straf-) Sanktionen des Individualstrafrechts in §§ 43 b StGB-E ff. geregelt werden.
IV. Ausblick Das hier gewonnene Ergebnis - ein Kartellstrafrecht, das dogmatisch wesentlich durch ein Kollektivstrafrecht bestimmt wird - soll nun in einem letzten Schritt in einen internationalen Kontext gestellt werden. Dieser drängt sich im Rahmen der nachhaltigen Globalisierungstendenzen des letzten Jahrhunderts für ganz grundlegende Fragen der Gesellschaft und des Rechts - und um solche handelt es sich hinsichtlich des Wettbewerbs und der Kollektive - förmlich auf. Der hier gegebene Ausblick muß allerdings noch stärker als bereits weite Teile dieser Arbeit zuvor einen kursorischen Charakter haben. Es geht nur darum, Tendenzen und Möglichkeiten aufzuzeigen, keinesfalls darum, Fragen abschließend zu beantworten oder Probleme grundlegend zu lösen. Drei Aspekte sollen behandelt werden: Die Internationalisierung der Kartellrechtsmaterie, der Weg zu einem internationalen Strafrecht und die vereinigende Vision einer weltstaatlichen Entwicklung. Die Internationalität der Wettbewerbsmaterie wohnt der Globalisierung inne. Dem steht eine Nationalität des Kartellrechts entgegen, sieht man einmal von dem Ausnahmefall des europäischen Kartellrechts ab - wobei hier bereits aus rechtlicher Sicht konzediert werden muß, daß es sich lediglich formal noch um internationales Recht handelt. Praktisch müssen Unternehmen sich eine Fusion in all denjenigen Staaten genehmigen lassen, die von ihr betroffen sind (wobei nach deutschem Recht die Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung auf einem 5
Vgl. R. Bosch, Organisationsverschulden in Uriternehmen, S. 411 ff. und insbes. 516 ff.
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deutschen Markt entscheidend ist). Es besteht auch die Möglichkeit der nationalen Kartellbehörden, gegen diejenigen international zusammenarbeitenden Unternehmen vorzugehen, deren Verhaltensweisen sich auf einem nationalen Markt auswirken (z. B. bei Kartellierungen) - diese Möglichkeit kann das jeweilige internationale Privatrecht ermöglichen. Jenseits dieser Situation stellt sich jedoch die Frage, welche Perspektiven das Kartellrecht und damit der Schutz des Wettbewerbs haben, wenn der Wettbewerb trotz des globalen faktischen Wettbewerbs in der Wirtschaft für die einzelne (nationale bzw. staatliche) Gesellschaft als Institution die elementare Bedeutung hat und auch behalten muß, die weiter oben in der Arbeit dargelegt wurde 6 : Ausdruck und Sicherung der Freiheit. Im Hinblick auf das Kartellrecht werden nun zwei denkbare Ansätze vertreten?: die Etablierung eines Weltkartellrechts und die Beibehaltung eines weiterhin zu pflegenden Wettbewerbs der Kartellrechtsordnungen. Allerdings treten auch die Vertreter der letztgenannten Ansicht für die Einführung bestimmter weniger internationaler Regelungen ein. Die Bemühungen um ein Weltkartellrecht müssen dabei gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen, bereits weit fortgeschrittenen Handelsliberalisierung im Rahmen der WTO (und der verschiedenen, aus dieser Runde hervorgegangenen Abkommen), der nach dem Zusammenbruch des Ostblocks grundsätzlichen Ausbreitung der Marktwirtschaft (unabhängig von ihrer konkreten, oft sicher fragwürdigen Ausprägung) und der ebenfalls sehr weit VOfangeschrittenen Harmonisierung im privaten Wirtschaftsrecht gesehen werdens. Die Frage nach einem einheitlichen Kartellrecht stellt sich vor allem, weil viele Versuche der Handelsliberalisierung ihre Grenze dort finden, wo es die Verhaltensweisen privater Marktteilnehmer eines nationalen Marktes sind, die es ausländischen Unternehmen unmöglich machen, in diesen einzutreten. Die Befürworter eines Weltkartellrechts propagieren die Zielerreichung allerdings über die Realisierung kleiner Zwischenziele. Dabei wird vor allem ein Etablieren von Mindeststandards über WTO-Abkommen angestrebt. Deren Grundprobleme liegen jedoch u. a. in der Schwierigkeit von Teilregelungen im Bereich des Kartellrechts, so daß ein solcher Ansatz vermutlich zu wenig mehr als kaum justiziablen Bekenntnissen zu Wettbewerb und Marktwirtschaft reichen wird 9 . Aber selbst wenn man diese Probleme auf einer Zwischenstufe akzeptieren will, kann auch ein Weltkartellrecht nach Ansicht seiner Gegner wenig Attraktivität zeigen. Dessen Probleme liegen in der - bereits aufgezeigten - engen Verknüpfung von Kartellrecht und Wettbewerb und gesellschaftlichen Zielen eines Staates und deren Verwirklichung in den Ausnahmemöglichkeiten zum Wettbewerbs6
Vgl. oben § 5 I. und 11.
Hier soll lediglich auf den Aufsatz von K. M. Meessen. Das Für und Wider eines Weltkartellrechts, WuW 2000, S. 5 ff., verwiesen werden, der zu diesem Komplex auch zahlreiche weitere Nachweise enthält. 8 Vgl. K. M. Meessen. Das Für und Wider eines Weltkartellrechts, WuW 2000, S. 5 (5 f.) 9 Vgl. K. M. Meessen. Das Für und Wider eines Weltkartellrechts, WuW 2000, S. 5 (8 f.). 7
Schlußbetrachtungen
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prinzip. Dies läßt sich dann nur noch in äußerst umfang- und detailreichen Regelungswerken umsetzen, denen man wohl zumindest drei Konsequenzen prophezeien muß (zwei davon wohnen jeder internationalen Regelung inne, eines ist wettbewerbsspezifisch): Zunächst wird ein hohes Defizit an demokratischer Legitimation auftreten - das Defizit im Rahmen der Europäischen Union mag gerade noch zu tolerieren sein -, weiter eine mangelnde Anpassungsfähigkeit aufgrund des regelmäßigen Einstimmigkeits-Prinzip bei völkerrechtlichen Regelungen ein Mehrheitsprinzip würde das Defizit der demokratischen Legitimation im Hinblick auf einen Einzelstaat noch verschärfen - und schließlich der Umstand, daß - der Idee des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahrens gemäß - ein zeitgemäßes und praktisches Kartellrecht nur in einem Wettbewerb des Kartellrechtssysteme entstehen kann lO • Bei allen denkbaren Argumenten für ein Weltkartellrecht bleibt dagegen einzuwenden, daß den unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen und Bedürfnissen nur schwer Rechnung in einem System getragen werden kann, das noch als einheitliches Kartellrecht aufgefaßt werden soll, und letztlich auch die Umsetzungsmöglichkeiten in vielen Ländern nicht gegeben sein dürften (die Bandbreite der teilnehmenden Staaten liegt zwischen den wohlhabenden europäischen und den ärmsten afrikanischen oder südamerikanischen Staaten). Nach Ansicht derjenigen Autoren, die sich gegen ein solches Weltkartellrecht aussprechen, besteht die Alternative darin, die Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb der Systeme festzulegen. Diese würden vor allem darin bestehen, marktschließende Verhaltensweisen privater Unternehmen eines Landes gegenüber ausländischen Unternehmen zu verbieten und die Durchsetzung solcher Regeln dann z. B. der WTO zu übertragen; daneben ist auch eine Vereinheitlichung in formalen Fragen anzustreben, vor allem im Rahmen der Fusionskontrolle 11. Dem kann allerdings so nicht gefolgt werden. Zwar sind die Bedenken gegen ein einheitliches Kartellrecht erheblich. Zu beachten ist jedoch, daß Kartellrecht nicht lediglich (letztlich austauschbare) Parameter der Wirtschaft setzt, sondern ein freies Gesellschaftssystem ermöglicht und repräsentiert. Es schadet der Marktwirtschaft erheblich, koppelt man den Wettbewerbsgedanken von seiner gesellschaftlichen Relation ab. Es ist somit der Gedanke naheliegend, daß es darum gehen muß, grundsätzliche Machtbildungsmechanismen zu verbieten bzw. zu verhindern. In diesen Fragen müßte trotz aller Bedenken ein Weltkartellrecht angestrebt werden, jedoch zunächst ohne eine zentrale Vollzugsinstanz, sondern als vertragliche Pflicht, entsprechende Regeln zu setzen (die internationale Behinderungen verhindern), die dennoch einen Spielraum für eigene - gesellschaftspolitische - Ausgestaltungen bei den Ausnahmemöglichkeiten im nationalen Bereich läßt. 10
Vgl. K. M. Meessen. Das Für und Wider eines Weltkartellrechts, WuW 2000, S. 5
(11 ff.). 11
Vgl. K. M. Meessen. Das Für und Wider eines Weltkartellrechts, WuW 2000, S. 5
(15 f.).
Schlußbetrachtungen
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Etwas anders stellt sich die Situation im Rahmen der Internationalisierung des Strafrechts dar. Über Kooperationen bei Strafverfolgung hinaus sind hier zum einen einige internationale Institutionen zu nennen, die für die Verfolgung und Aburteilung weitreichender Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit u. ä. zuständig und maßgeblich in Folge des Balkankrieges tätig geworden sind. Im Jahr 2002 hat den nach langer Vorarbeit der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufgenommen, allerdings noch unter unklarer Abstimmung mit den Vereinigten Staaten, die ihre Soldaten von dieser Strafgerichtsbarkeit ausgenommen wissen wollen. In diesem Zusammenhang ist weiterhin die Europäisierung des Strafrechts zu nennen, die zwar weiter fortgeschritten ist, als dies vielleicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird 12, jedoch noch nicht den Grad Europäisierung der Kartellrechtsmaterie erreicht hat. Hier können als Beispiel das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 1995, daß sich unmittelbar auf das nationale Strafrecht auswirkt, das Corpus Juris als Skizzierung der weiteren Entwicklung und auch - eine andere Interpretation erscheint hier jedoch nicht ausgeschlossen - die Kompetenzzuweisung an die Europäische Gemeinschaft für Rechtssetzung im Hinblick auf die finanziellen Interessen der EG durch Art. 280 Abs. 4 EGV genannt werden l3 . Interessanter als die erwähnten, eher pragmatischen Aspekte ist jedoch die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit einer Entwicklung eines internationalen und damit interkulturellen Strafrechts 14. Hier ist zunächst zu konzedieren, daß das Strafrecht wohl wie kaum ein anderes Rechtsgebiet von den jeweils vielfach individuell normativen Gegebenheiten der jeweiligen Kultur abhängig ist; dies gilt für das materielle wie für das prozessuale Strafrecht l5 . Zwei Entwicklungen lassen es jedoch bis jetzt als geboten erscheinen, sich mit einem interkulturellen - nicht notwendig internationalen - Strafrecht ernsthaft zu beschäftigen: die Prozesse der Migration und der Globalisierung l6 . Im Rahmen der 12 Vgl. nur F. Zieschang, Chancen und Risiken der Europäisierung des Strafrechts, ZStW 113 (2001), S. 255 (256), unter Hinweis darauf, daß diese Entwicklung auch nicht mehr umzukehren ist und die Diskussion, ob sie überhaupt im Strafrecht notwendig sei, damit obsolet. 13 Vgl. zu diesen Beispielen: F. Zieschang, Chancen und Risiken der Europäisierung des Strafrechts, ZStW 113 (2001), S. 255 (256 ff.). 14 Der Begriff ,Interkulturelles Strafrecht' findet sich vor allem in dem Titel des von O. Höffe herausgegebenen Sammelbandes: Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Ein philosophischer Versuch, Frankfurt. a. M., 1998; hier soll maßgeblich bezug genommen werden auf die Abhandlung von W. Hassemer, Interkulturelles Strafrecht, in: Festschrift-E.-A. Wolff (1998), S. 101 ff. m. w. N. zu dieser Thematik, der in dem Band von Höffe ebenfalls (unter anderem Titel) abgedruckt ist. 15 Vgl. W. Hassemer, Interkulturelles Strafrecht, in: Festschrift-E.-A. Wolff (1998), S. 101 (102 f.). 16 Vgl. W. Hassemer, Interkulturelles Strafrecht, in: Festschrift-E.-A. Wolff (1998), S. 101 (103 ff.).
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Schlußbetrachtungen
Migration stellt sich maßgeblich die Frage, ob jemand, der eine Tat begeht, die in seinem Land nicht inkriminiert ist, sich auf einen Verbotsirrtum berufen kann oder nicht, sich also in Schuld verstricken kann. Es geht letztlich um eine Einschätzung der Kulturrelativität der eigenen normativen Einstellungen. Im Rahmen der Globalisierung stellt sich vornehmlich die Frage nach Maßstäben für Handlungen, die in verschiedenen Kulturen u. U. unterschiedliche strafrechtliche Auswirkungen haben (zugleich führt einem die Information aus der globalen Welt die unterschiedlichen Rechts- und Strafrechtsvorstellungen nur zu deutlich vor Augen). Mit Winfried Hassemer kann man wohl festhalten, daß unser Strafrecht und damit auch alle unserem Strafrecht ähnlichen Strafrechtssysteme auf die Verarbeitung und Lösung interkultureller, strafrechtlich relevanter Konflikte recht gut vorbereitet sind 17. Aber die entscheidende Frage ist wohl, in welchen Bereichen wie schnell ein interkulturelles Strafrecht im Sinne eines internationalen Strafrechts notwendig wird und wie es aussehen soll. Im alltäglichen lebensweltlichen Bereich liegt ein solches Bedürfnis wohl noch in weiterer Feme - der Einzelne lebt doch in einem regional begrenzten Bereich und dort ist ein regionales Strafrecht gefordert, das allerdings über die eben beschriebene Kapazität verfügen muß, wenn es Auswirkungen von Migration und Globalisierung ausgesetzt ist. Wie der Gedanke der Konstitution der Rechtsordnung nahe legt, verläuft die Grenze um solche regionalen Räume herum, die zusammen entsprechende Kemwerte teilen - in unserem (vor allem deutsch-europäischen) Fall geht es um die zentrale Rolle des einzelnen Menschen für die Gesellschaft und für das Recht und damit vor allem um den Gehalt der Menschenrechte. Es muß uns allerdings natürlich ein Anliegen sein, diese Gedanken weiter zu tragen und damit letztlich auch einem weitergespannten Strafrecht den Boden zu bereiten. Eine etwas andere Perspektive ergibt sich jedoch gerade für den Bereich deIjenigen Konstituenten einer Rechtsordnung, die schon heute in einem überregionalen Maß agieren. Dies sind zunächst die Akteure einer international organisierten Kriminalität, aber weiter auch die in der internationalen Wirtschaft tätigen Kollektive und mitunter auch Individuellen Personen. Ihr Handeln hat den - schon eben erwähnten - globalen Effekt und betrifft nicht nur eine Gesellschaft und Gemeinschaft. Für diesen Bereich kann die Erarbeitung von allgemeinen Normen nicht abgewartet werden, bis sich vielleicht lebens weltlich - wobei man sich fragen muß: im Hinblick auf welche Lebenswelt eigentlich? - neue internationalisierte Maßstäbe gebildet haben. Hier kann auf die Gedanken zu einem internationalen Kartellrecht verwiesen werden. Die Grundgedanken des Wettbewerbs, ebenso aber 17 Vgl. W Hassemer, Interkulturelles Strafrecht, in: Festschrift-E.-A. Wolff (1998), S. 101 (106 ff.), der dort vor allem die feinen Differenzierungen des Strafanwendungsrechts (Internationales Strafrecht, §§ 3 ff. StGB), die Systematik von Rechtfertigung und Schuld und schließlich weitere Unterscheidungen im Rahmen von Normrechtfertigung (Rechtsgüterschutz), Normgeltung, dem Verhältnis von Strafrecht und Strafe und Strafrechtsnormen und Sozialnormen nennt - inwieweit dem im Einzelnen zu folgen ist, braucht hier nicht geklärt werden.
Schlußbetrachtungen
381
auch die des Umweltschutzes müssen bereits vorher normativ festgeschrieben und durchgesetzt werden. Und hier muß es gerade um das Setzen zentraler allgemeiner Normen gehen, deren Verletzung im internationalen Bereich genau in gleichem Maße eine Verletzung des Rechts ,als Recht' zur Folge hat, wie sie in dieser Form im nationalen Recht die Geltungsgrundlage des Strafrechts bildet. Letztlich muß es für die hier behandelten Grundwerte darum gehen, ihrer Nichtrelativität Ausdruck zu verleihen. Dabei können Alternativen zum Strafrecht nur in der vorbereitenden Phase eine besondere Bedeutung zukommen. Wie im Rahmen der Verfolgung von Kriegsverbrechen muß es - wenn auch in einem sicher nicht so elementaren Maße - bei fundamentalen Wirtschafts- und Umweltschädigungen um die strafrechtliche Verarbeitung der Tat gehen. Sowohl im Hinblick auf die Internationalisierung des Kartellrechts bzw. Kartelldeliktsrechts als auch auf diejenige des Strafrechts fällt recht schnell ins Auge, daß hier ein Wirksarnkeits- bzw. Vollzugsdefizit zu erwarten ist. In beiden Fällen kann über völkerrechtliche Verträge sicher einiges bewirkt und kompensiert werden. Dem müssen aber notgedrungen Grenzen gesetzt sein, spätestens wenn es im Zweifel doch in das Gutdünken eines - entsprechend gewichtigen - Staates gestellt sein wird, ob er sich zuletzt an den völkerrechtlichen Vertrag halten will oder ob es nicht seinen nationalen Interessen eher entspricht, sich den Konsequenzen für ein Verhalten seiner Mitglieder zu entziehen. Mit den Fragen dieses Vollzugsdefizits, das im nationalen / regionalen Bereich historisch zur Staatenbildung und in der Theorie zur Legitimation des Zwangsgewalt ausübenden Staates geführt hat, hat sich Otfried Höffe in seiner Abhandlung "Demokratie im Zeitalter der Globalisierung" beschäftigt l8 . Einige hier interessante Kernthesen sollen abschließend eingeführt werden, um den vorliegenden Ausblick durch Einordnen der Thematik in eine grundlegende Vision - die Idee eines Weltstaates - abzurunden. Ein Weltstaat in der Konzeption Höffes zeichnet sich vor allem durch zwei Charakteristika aus, die er letztlich mit jeder politischen Einheit teilt l9 : Er ist nur legitim, (i.) sofern er überhaupt und (ii.) insoweit er gebraucht wird - der erste Gedanke bezieht sich auf das Wirksamkeits- bzw. Vollzugsdefizit jeder nicht institutionell abgesicherten Rechtsordnung und der zweite auf aus dem notwendigen Letztbezug zum Individuum resultierenden Subsidiaritätsgedanken. Von der Notwendigkeit einer "international-rechtlichen" Lösung vieler Probleme geht Höffe aufgrund einer eingehenden Analyse aus, die sowohl fundamentale Veränderung im Inneren als auch eine äußere Erosion des Nationalstaates diagnostiziert2o . 18 O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, passim; eine Entfaltung des auch in dieser Arbeit behandelten freiheitlichen Rechtsbegriffs im Kontext der Internationalisierung nimmt M. Köhler vor, vgl. ders., Gesellschaft und Staat nach freiheitlichem Rechtsprinzip im Übergang zu einer internationalen Gerechtigkeitsverfassung, in: Festschrift-E.-J. Mestmäcker (1996), S. 211 ff. (insbes. S. 220 ff.). 19 Vgl. O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 296 ff. 20 Vgl. O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, nur S. 13 ff., 153 ff.
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Schlußbetrachtungen
Die Grundgedanken über die Notwendigkeit einer internationalen Rechtsordnung lassen sich in sieben Modelle einteilen, die Höffe bereits aus dem Diskurs der Antike herausarbeitet21 : (i.) Das kommunitaristische Modell, das von dem bloßen Nebeneinander mehr oder weniger autarker Gemeinwesen ausgeht, (ii.) ein Völkerrecht ohne jede supranationale Staatlichkeit, worin ein internationaler sekundärer Naturzustand gesehen werden kann, (iii.) ein nationales Völkerrecht in der Art eines internationalen Privatrechts (ähnlich dem ius gentium der Römer), (iv) ein internationales Völkerrecht mit einer internationalen Organisation in der Art der Delphischen Kultgemeinschaft im antiken Griechenland, die allerdings nur nachrangige Staatsaufgaben wahrnimmt und auch nicht-demokratische Staaten einbindet, (v.) eine gestufte Weltstaatlichkeit, jedoch mit wirklicher Staatlichkeit auf jeder Ebene, (vi.) die Aufhebung aller national-staatlichen Grenzen in einem homogenen Nationalstaat und (vii.) der hegemoniale Weltstaat unter der Führung eines Einzelstaates. Die Leitschnur, die zu der richtigen Form des Weltstaates führt, ist das Ziel der Verwirklichung einer politischen Gerechtigkeit, also die im internationalen Umgang bestehende Willkür durch klare Regeln abzulösen, die Regeln (ihre Anwendung und letztendliche Durchsetzung) öffentlichen Gewalten zu überantworten und diese Gewalten als qualifizierte Demokratien auszugestalten 22 • Ein Weltstaat als notwendiges Mittel der Verwirklichung politischer Gerechtigkeit muß sich gegen verschiedene Einwände zur Wehr setzen, die hier zusammen mit möglichen entkräftenden Entgegnungen nur kurz angedeutet werden sollen: Während der eine Teil der Einwände andere Lösungen für eine Weltordnung abseits eines Weltstaates sieht, beschäftigt sich der andere Teil vor allem mit den pragmatischen Grundproblemen eines möglichen Weltstaates und sieht angesichts dieser Probleme einer Scheitern jedes Weltstaates. Die Alternativen bestehen zunächst in einer strategischen Weltordnung - so wie wir sie Gutteils schon heute kennen -, in der Einzelstaaten anhand vor allem nationaler Interessen im Idealfall zusammen pragmatische Entscheidungen treffen, weiterhin in einer "Regierung" mittels internationaler Institutionen und schließlich in einer Demokratisierung der Staatenwelt23 . Während die ersten beiden Konzepte in ihrer heutigen Form wohl bereits alles an Potential ausgeschöpft haben, was in ihnen steckt und damit kaum als Vision gesehen werden können und darüber hinaus an einem Defizit von Unparteilichkeit und auch demokratischer Legitimation in weiten Bereichen der Entscheidungen leiden, kann auch die dritte Alternative nicht befriedigen; denn daß sich Staaten, die selbst demokratisch organisiert sind, letztlich dauerhaft in eine globale Gemeinschaft friedlich einfügen, hat die Geschichte bislang nicht bestätigen können. Zusätzlich kann diese Alternative notgedrungen auch keine Antwort auf die Bewältigung 21 22 23
Vgl. O. Höfle, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 238 ff. Vgl. O. Höfle, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 267. Vgl. O. Höfle, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 268 ff.
Schlußbetrachtungen
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internationalen Handlungsbedarfes geben, der über diejenigen der ersten beiden Alternativen hinausgehen. Aus einer Reihe konstruktiver Gegeneinwände ergibt sich schließlich als Konsequenz für die Natur des Weltstaates, daß er kein Einheitsstaat sein kann, sondern eine Föderation sein muß, daß er nicht in einem Handstreich - einem großen historischen Vertragsschluß -, sondern erst nach und nach realisiert werden darf und schließlich dem Subsidiaritäts-Gedanken stark verhaftet sein muß, so wie man es auch bei der Europäischen Gemeinschaft beobachten kann und konnte. Der Weltstaat wird also nur dort tätig, wo die Einzelstaaten ein Problem alleine nicht lösen können. Im Rahmen der inhaltlichen Argumente gegen einen Weltstaat, die sich nicht in der Behauptung seiner mangelnden Notwendigkeit erschöpfen, ist vor allem dem Einwand zu entgegnen, daß ein Weltstaat nur auf einen homogenen Weltstaat hinauslaufen könne, der die Novellierungstendenzen der heutigen Globalisierung nur noch unerträglich verstärken werde24 . Hier wird jedoch die Bedeutung des Staates zu hoch eingeschätzt. Ein homogener Weltstaat ist nun weder auf demokratischem Wege zu erreichen, noch wird er in der Vision von Höffe angestrebt. Vor allem ist zu betonen, daß der Mensch bereits in der heutigen Gesellschaft vielfältigen, zum Teil mindestens überregionalen, wenn nicht sogar globalen Gemeinschaften angehört (z. B. Religionsgemeinschaften, Sportgemeinschaften u. ä.), die keinen nationalstaatlichen Bezug haben. Zuzugeben ist diesem Argument jedoch, daß derjenige, der einen homogenen Weltstaat unter Aufhebung der Nationalstaatlichkeit verfolgt, legitimations-theoretisch tatsächlich zu weit geht; denn Zwang ist nur zur Überwindung von Willkür legitim, im Rahmen eines Einzelstaates ist diese Willkür jedoch nicht gegeben 25 . Auf mögliche pragmatische Einwände muß grundsätzlich damit reagiert werden, daß Zwischenstufen zwischen den Einzelstaaten und dem Weltstaat zu fordern sind (z. B. Kontinentalverbände). Die eigentliche theoretische Legitimation des Weltstaates erfolgt schließlich über einen (notwendig) zweifachen Weltgesellschaftsvertrag 26 : zum einen zwischen den Einzelstaaten und zum anderen zwischen den (Welt-) Bürgern, woraus als Grundstruktur eine föderalistische Zweiteilung des Gesetzgebers in Staatenkammer und Bürgerkammer folgt. Die Qualität einer solchen Vision wie der von Höffe liegt sicher in der Ausarbeitung im Detail. Nicht zuletzt haben sich bereits in den nationalen Demokratien so schwierige Probleme im Rahmen der Machtkontrolle in der demokratischen Politik gezeigt, daß hier an wirklich neuen und besonderen Ideen gearbeitet werden muß, wenn man nicht riskieren will, übergroße Machtanballungen zu schaffen, die sich über kurz oder lang zum Nachteil der einzelnen Individuen und ihrer Freiheit verselbständigen müssen. Diese Befürchtung hat sich - zu Recht - durch die Arbeiten von v. Hayek zur freiheitlichen Verfassung des menschlichen Zusammenlebens ge24
25 26
Vgl. O. HöjJe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 294 f., 298 ff. Vgl. O. HöjJe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 303 ff. Vgl. O. HöjJe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 308 ff.
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Schlußbetrachtungen
zogen. Aber dies sind Fragen, die weit jenseits des hier gesteckten Rahmens liegen und auch nicht mehr notwendig für die Skizzierung eines Ausblicks benötigt werden; es soll lediglich der Hinweis gegeben werden, daß Höffe nicht beim Grundsätzlichen stehen geblieben ist, sondern sich den Detailfragen durchaus ausführlich gewidmet hat. Zuletzt soll daher nur noch interessieren, wo Höffe das Strafrecht und den Wettbewerb und das Kartellrecht in seiner Vision verortet. In dem Minimal-Weltstaat Höffes ist ein Weltstrafrecht als notwendig vorgesehen 27 • Allerdings bleibt die mehrdimensionale Gerechtigkeits-Bestimmung von Strafe und Strafrecht hinter der hier vorgenommen Bestimmung zurück. Das Weltstrafrecht wird in dreierlei Hinsicht verwirklicht: in internationaler Kooperation bei der Verbrechensbekämpfung, einem Weltstrafgerichtshof für besondere Verbrechen und als Berufungsinstanz und zur Sicherstellung der Beachtung bestimmter strafrechtlicher Minimalbedingungen durch die Einzelstaaten. Dabei macht Höffe "bemerkenswert viele Gemeinsamkeiten" im Hinblick auf die Vielfalt der Strafrechte aus (vor allem: Schutz von Leib, Leben, Eigentum und Ehre) und konstatiert - zu Recht -, daß das Strafrecht es letztlich in der Weltrechtsordnung mit dieser Bestimmung im Prinzip leicht hat (anzumerken wäre sicherlich, daß zunächst "nur noch" die internationale Anerkennung der Menschenrechte erfolgen muß - aber es geht hier ja um eine Vision der mittel- bis langfristigen Zukunft). Inhaltlich soll sich ein interkulturell gültiges Strafrecht nämlich auf den Schutz der Menschenrechte beschränken. In jedem Fall bleibt die Strafbefugnis - aus hiesiger Perspektive zumindest größtenteils - beim Einzelstaat. Für den Wettbewerb schließlich sieht Höffe im Weltstaat in einer normativ bestimmten Fassung die Position als einer wesentlichen Grundlage (der hier verfochtenen Auffassung insoweit sehr ähnlich); dieser grundlegende Wettbewerb soll über ein Weltkartellrecht, einer Weltkartellbehörde und einer gerichtlichen Instanz verwirklicht und gesichert werden 28 . Trotz aller Schwierigkeiten scheint es doch einfacher, ein internationales Kollektiv- als Individualstrafrecht zu realisieren, vor allem im Hinblick auf ein Kartellstrafrecht, über das auch in seinen Grundzügen eher ein Konsens erzielbar sein dürfte. Die Entwicklung auf der europäischen Ebene wird eine solche Prognose wohl auch stützen. Die Wettbewerbs- und Kartellrechtsmaterie drängt jedenfalls ebenso wie ein Kollektivstrafrecht nach einer internationalen Lösung, was seinen Grund in dem Umstand haben dürfte, daß Wirkzusammenhänge stark internationalisiert und damit auch die dort aktiven Akteure international orientiert sind; Konsequenz ist das Wirksarnkeitsdefizit von Regeln gegenüber Handlungen dieser Akteure, wie es aus dem Naturzustand vor Einführung von Recht und Staat bekannt ist. Sowohl im Bereich eines Kartellrechts als auch eines Kollektivstrafrechts erscheinen zumindest die Realisierungsbedingungen für die internationale Lösung erkennbar und Autoren wie Höffe haben nun auch einen Gesamtrahmen vor27 28
Vgl. O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 367 ff. Vgl. O. Höjfe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 400 ff.
Schlußbetrachtungen
385
gestellt, der eine gedankliche Weiterentwicklung nachhaltig fördern kann. Die Frage nach einer rein internationalen Lösung für ein Kartellkollektivstrafrecht muß jedoch negativ beantwortet werden, da beide Bestandteile mit einer jeweiligen regionalen Gesellschaft und ihrem Recht bis auf weiteres - auch in Höffes Weltstaat - verwoben sind. Es bleibt zu hoffen, daß sich eine ambitionierte dogmatische (und insofern eigentlich: typisch deutsche) Lösung zu Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe in Zukunft befruchtend in die eher pragmatisch ausgerichtete internationale Diskussion einbringen können wird.
25 Kohlhoff
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Determinismus 78 ff. Doppelbestrafungsverbot 192,)29 f. Ehrfahigkeit des Kollektivs/Verbandes 213, 234f. Einziehung 206 Empirische Strafe s. Sekundärsanktion Empfehlungen, wettbewerbliehe 32, 168 Entflechtungsregelungen 34, 38, 177 f., 334 f. Europäisches Kartellrecht - Sanktionssystem 222 ff. - Konzernhaftung 223, 225 Exzeßtat 211,224,261,316 Fehlerhafte Organisation 195 ff., 202 f., 214,216 f., 310 ff. Fiktionstheorie 208, 240 f., 220 Freiheit - Begriff 76 ff., 83 ff., 99 f., 139 ff., 156, 163 - wirtschaftliche 138 ff. Freiheitliche Natur des Menschen s. Vernunftbegabung Freiheitliches Recht 75 f., 83 ff., 87 ff., 112 ff., 160 f., 179, 205, 267 ff., 289 f., 297 ff., 304, 308, 373 f. Freiheitssichernde Funktion des Wettbewerbs 130, 135 ff., 146 Freiheitsstrafe im Kollektivstrafrecht 332 Funktionalismus 150, 317 f. Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs 153 f. Fusionskontrolle 34, 178, 182, 186 Geldbuße 47,52 ff., 191,206 Geldstrafe 191,332 Generalprävention 61 f., 117, 264 ff., 276, 279,282 Genossenschaftstheorie 208, 240 f.
402
Sachwortregister
Gerechtigkeitsprinzip und Schuldprinzip 263, 266, 275, 278 f., 282 Geschäftsherrenhaftung 362 Gewaltenteilung 151 Gewaltmonopol91,93 Gleichheitsprinzip 126 f., 140 Grundrechte 67 f., 85, 87 f., 103, 123, 139 f., 162 f., 234 f., 334 ff. Grundrechtsfähigkeit des Kollektivs / der juristischen Person 232 GWB - Systematik 29 - Gesetzestechnik 40 f., 186 Handlungsbegriff, normativer 256 ff., 314 ff. Handlungsfähigkeit - allg. 191,212,218,221,314 ff. - naturalistische 226, 229 f. Handlungsfreiheit - allg. 76, 80, 137 - wirtschaftliche 117, 119, 127, 131 f., 139 ff., 155, 165, 168 Handlungsobjekt 155, 180 f. Handlungsspielräume 137, 156 ff., 164 f., 168 ff., 180 Horizontale Absprachen 30 f., 167 ff., 171 Identifizierung 301, 309, 320 ff. Identität - allg. 250 f., 298, 300 ff. - logischer Begriff 300 f. - sozial-psychologischer Identitätsbegriff (Ich-Identität) 300 f. Indeterminismus s. Determinismus Individualstrafrecht - Grenzen 200 ff., 215, 219 - Lückenschließung durch das Individualstrafecht selbst 203 ff. Individuum - allg. 296, 298 ff. - Auflösung des Individualsubjekts 305 f., 307,310 ff. Inhaltsbindungen 31 f., 169 ff. Institution, soziolog. Begriff 96 f.
Juristische Person - Begriff 181, 188 ff., 221, 233, 236 f., 239 ff., 321 - als Täter im Ordnungswidrigkeitenrecht 52 ff., 203 f. - im Verfassungsrecht 232 ff. Kartellbehörden 48, 175, 182, 194, 344 ff. Kartellde1ikte als Kollektivstraftaten 198 ff. Kartellgesetze - allg. 26 f. - Technik 38 ff. Kartellstrafrecht - Nebenwirkungen 352 f. - Regelungsalternativen 354 ff. - Strafbedürftigkeit 117 f., 186 f., 332 ff. - Strafbedürftigkeit: Effektivität 351 ff. - Strafbedürftigkeit: Praktikabilität 342 ff. - Straftatbestandsstruktur 160,174,179 ff., 343 - Strafwürdigkeit 63, 115 ff., 160 ff. Kartellverbotsausnahmen 30 f. Kategorienverwechslung, Argument 306 f. Kausalbeziehungen, Vervielfältigung in Unrechtssystemen / Kollektiven 261, 295, 311 ff. Kollektiv - Begriff 20 f., 190 f., 201, 234, 244 ff., 296 ff., 302 ff. - sozial-psychologische Erkenntnisse 304 ff. Kollektive Neutralisierung 197 Kollektives Gut 97 f., 147 Kollektivität, Begriff 94 ff., 100,294,373 Kollektivnachfolge 323 Kollektivrechtsgut 69, 86, 146 ff., 152 ff., 171,179 ff., 193, 197 f. Kollektivschuld - allg. 212 f., 291 ff., 310 ff. - Zurechnungsmodelle 292 ff. - Paralle1wertungsmodelle 292 ff., 318 Kollektivschuldthese 21, 322, 326 Kollektivstrafe - allg. 188, 189 ff., 205, 307 f. - konkrete Ausgestaltung 332 ff. - und Konzerne 324 - Kreis der Rechtskonstituenten 320 ff. - Regelungsalternativen 354 ff., 372 f. - gegen Staaten 321
Sachwortregister Kollekti vstrafrecht - als zweite strafrechtliche Spur 227, 291, 293,318 f., 326 - als Nebenstrafrecht 222, 228 f. - Gesetzesinitiativen 209, 221 ff. - Historie 206 ff. - internationaler Überblick 209, 221 ff. - Modell-Paragraph 374 ff. - systematische Konzeptionsmöglichkeiten 244 ff., 289 ff. Kollektivsubjekt s. Kollektiv Kollektivwürde 335, 348 Konkretes Gefährdungsdelikt s. Rechtsgutsgefährdung Konstitution der Rechtsordnung 263 f., 281, 290 f., 293, 297 ff., 335, 373 Konzentrationsstrategien 28 Konzernhaftung s. Europäisches Kartellrecht Kooperationsstrategien s. Verhandlungsstrategien Korruptionsbekämpfungsgesetz 59 Kriminalstraftat - Begriff 72, 84 f., 88 f., 111, 113, 160, 281 f., 294, 297, 333 - des Kollektivs 198 ff., 295 f., 309 ff., 314 ff., 319 f., 372 Kriminelle Verbandskultur (krimineller Verbandsgeist) 195 ff., 203, 205, 211, 220, 295, 303, 306, 310 Kriminogene Faktoren 192, 194 ff. Kriminologische Erkenntnisse zur Unternehmenskriminalität 192 ff. Kronzeugenregelung s. Amnestie im Strafverfahrensrecht Kumulativität der Verantwortung 213, 227 f. Leistungsbezogenheit des Wettbewerbsverhaltens 156 f., 162 Macht - allg. 21,44,77,89 ff., 99 ff., 138, 142 ff., 254, 258 f., 294 f., 313, 373 f. - wirtschaftliche 137 f., 156, 159, 168, 231, 243,373 Machtverhältnisse 44,91,257 f., 294 f. Mantelgründung 239 f. Marktabgrenzung 176 f. 26*
403
Marktergebnis 36, 153 f., 181 Markt-Preis-Theorie 165 ff., 168, 172 Marktstrukturen 28 f., 36, 143, 153 f., 157 f., 175 ff., 178 Marktverhalten 36, 153 f., 157 f. Marktmacht - Begriff 32 ff., 41,138,177 - Missbrauch 32 f., 170, 175 ff., 334 Maßregeln des StGB 191 Menschenwürde 75, 87 f., 148, 223, 263, 265 f., 285 f., 348 Mens-rea-Delikte 339 Mißbrauchsaufsicht 31 f., 39 f., 169 ff., 176, 179,186 Mittäterschaft 196, 204 f., 253 f., 260 ff., 295,372 Mittelbare Täterschaft 204 f., 253 ff., 372 Musteraussagen 154, 165 Nonnadressat 53 f., 63, 154, 157 f., 187 f. 201,212,218,223,248 f., 257 f., 307 ff., 328 Normreflexion - allg. 250 f., 294, 298 ff. - und Kollektiv 303 ff. Normrehabilitierung 88, 264, 267, 269 Notstandskonzeption eines Unternehmens- / Kollektivstrafrechts 210 ff. Objektive Bedingung des Strafbarkeit 62 Öffentlichkeitsarbeit der Kartellbehörden 52, 194 Opportunitätsprinzip 48, 34 f., 353 Ordnungswidrigkeitenrecht - allg. 105 ff. - Dogmatik 50 ff. - Tatbestände 48 ff. - Verfahren in Kartellsachen 48 Organ 212,216,226,242,314 ff., 326 Organisierte Kriminalität 201 f. Pattern-predictions s. Musteraussagen Per-se-Verbote 39 f., 49, 186 Person, Begriff 206 ff., 302 ff. Personale Rechtsgutslehre 73, 148 f. Prävention, allg. 62,117,151,194,205,211, 213,264 ff., 286, 332, 351 f., 372
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Sachwortregister
Präventionslücken s. Individualstrafrecht, Grenzen Präventionsnotstand s. Notstandskonzeption eines Unternehmens- / Kollektivstrafrechts Praktikabilität einer Strafbewährung 110, 43 Primärrechtsordnung 84, 160, 248 Primärsanktion 88 Privatautonomie 37, 119, 139 Prozessuale Probleme eines Kartellkollektivstrafrechts 320, 345 ff. Prozessuale Schutzrechte von Kollektiven 348 ff. Publizität von Sanktionen 337, 357 f. Rechtsfähigkeit (Rechtsträgerschaft) 207 f., 240 ff., 251, 321, 323 Rechtsfertigungsgründe 166, 168, 184 f. Rechtsgut, Begriff 67 ff., 148 Rechtsgüterschutz, Lehre vom Strafrecht als 66 ff., 85, 88, 105 ff., 200, 264 Rechtsgutsgefährdung 150, 153 Rechtsgutsverletzung 150 ff., 152 f., 179, 185,267 Rechtsnachfolge s. Kollektivnachfolge Rechtsperson s. Person Rechtsträgerschaft s. Rechtsfähigkeit Reflexionsfahigkeit s. Normreflexion Resozialisierung 265, 273, 275, 282, 333, 335, 337 f., 372 Restitution der Norm s. Normrehabilitierung Risikomanagement 216 f., 375 Risikopotenzierung 195, 199 Rule-of-reason 39 f., 120, 343 f., 353 Sanktion, soziolog. Begriff 42 ff. Sanktionen im Kartellrecht de lege lata 44 ff. Sanktionsfähigkeit 44, 91, 178 Sanktionsnorm 49 f., 160, 163,248 f., 307 Schadenersatzanspruch s. Sanktionen im Kartellrecht Schadensberechnung bei Verletzung des Wettbewerbs 354 Schuld und Kollektiv s. Kollektivschuld Schuldbegriff - allg. strafrechtlicher 191 f., 229 f., 270 ff., 309 ff. - funktionalistischer 276, 292 - normativer 219,271 f., 283 f.
- und Notwendigkeit des Vergangenheitsbezuges für die Strafe 284 Schuldfähigkeit 191 f., 208, 213, 309 ff. Schuldformen 270 - Schuldidee 270, 280 ff. - Strafbegründungsschuld 271 ff., 282 ff. - Strafzumessungsschuld 271, 284 ff. Schuldprinzip - allg. 88, 263 ff., 271 ff. - Einwand der Unzeitgemäßheit 273 f. - Verzicht in einem Kollektivstrafrecht 211 Schuldspruch 88,281 f., 309, 333, 337, 342 Schuldtheorien s. Schuldbegriff Seinsgeltung von Normen 187 ff. Sekundärrechtsordnung 67, 84, 88, 160, 248,308 Sekundärsanktion 88, 333, 342 Selbstbestimmung 70 f., 77, 79 ff., 83 ff., 139,160,263,279,282,299 Sentencing Guidelines (U. S.) 332, 339 ff., 346 Sozialadäquanz 183 f. Soziale Marktwirtschaft 121 ff., 147,331 Sozialethische Missbilligung s. Sozialschädlichkeit Sozialschädlichkeit 70, 108 f., 111, 117, 163 f. Sozialstaatsprinzip 122, 125 f., 131, 145 Spezialprävention 264 f., 276, 279, 282 Strafantrag 182 Strafbedürftigkeit, allg. 102 ff., 110, 187 ff., 331 f. Strafe - Begriff 263 ff., 289 ff., 331, 333 - und Internationalisierung / Globalisierung 379 ff., 384 Straffähigkeit 191 f., 208, 213, 230 Strafgerechtigkeit s. Strafwürdigkeit Strafrecht als Interaktionsstrafrecht 253 f., 260 f., 360 f. Straftat, dogmatischer Aufbau 16, 180 ff., 283,315,343 f. Straftatbestände, kartellrechtlich relevante 57 f., 173 Straftaten aus dem Unternehmensbereich, Systematik 202 f. Strafwürdigkeit, allg. 66 f., 70, 102 ff., 110, 180
Sachwortregister Strafzweckmäßigkeit s. Strafbedürftigkeit Strict-liability-Delikte 339 Subjekt s. Individuum und Kollektiv Subjekt, Abgrenzung und Identifikation s. Identität Subjektives Recht 141, 143, 168 Submissionsabsprachen (Submissionsbetrug) 58 ff., 152, 180 Subsidiarität eines Kollektivstrafrechts s. Alternativität der Verantwortung Subsidiaritätsprinzip 110, 151, 188, 200 Symbolische Normgeltung 187 f. Systemschädigungen 151 ff. Systemunrecht 219 f., 254, 260 ff., 294 f., 313 Tatbestandsbestimmtheit s. Bestimmtheitsgebot Tatbestandshandlung 181 f. Tatbestandshandlungsherrschaft s. Handlungsbegriff, normativer Tatbestandsmerkmale, normative 181 Tatbeteiligung s. Mittäterschaft und mittelbare Täterschaft Tatherrschaft 253 ff., 315 Tatherrschaft kraft sozialer Macht 257 ff., 294 f., 315 f. Tatmittel 173 Tauglicher Täter 223, 248 ff. Ultra-vires-Doktrin 234, 241 f. Umwelt als Rechtsgut 150 f., 155 Ungerechtigkeit der Verbandsstrafe, Argument 192,211,325 ff. Universalrechtsgut s. Kollektivrechtsgut Unrecht der Straftat (tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung) 184 f., 283 Unrechtssystem 219 f. Unschuldigenbestrafung durch Kollektivstrafe s. Ungerechtigkeit der Verbandsstrafe Unterlassen s. Begehen und Unterlassen Unterlassungsanspruch s. Sanktionen im Kartellrecht - Zivildelikte Unternehmen - allg. 188 ff., 218, 223, 304, 321 - gesellschaftliche Bedeutung 230 f.
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Unternehmensinterne Kontrolle 198, 236 ff., 242 f. Unternehmenskultur s. Kriminelle Verbandskultur Unternehmenskuratel 337 f. Unternehmensstrafrecht, Begriff 193, 217 ff., 250,308 Unternehmensträger 189 ff., 212, 221 Untersagungsverfügung 56 Unverantwortlichkeit, organisierte 202 f., 215,295,311 f. Unverantwortlichkeit, strukturelle 194, 202 f., 215 f., 305 f., 312 Verband 189 ff., 236 ff., 310, 321 Verbandsauflösung (als "Todesstrafe") 335 f. Verbandskultur s. Kriminelle Verbandskultur Verbandssuizid 322 f. Verbandsunrecht s. Systemunrecht Verbandszweck 237, 239 f., 315, 321 Verbandstrafe s. Kollektivstrafe Verbotsnorm 49 f., 160, 163, 218, 248 f., 308,328 Verdrängungsabsicht 173 Verfahrenseinstellungen 182 Verfassung 67 f., 87 ff., 137 f., 145, 200, 205,285 ff. Verfügung, kartellbehördliche 175, 177 f., 186 Vergeltungsgedanke 205, 266 ff., 279, 342, 372 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 103, 110, 117, I 87f., 274, 284 Verhaltensnorm s. Verbotsnorm Verhandlungsstrategien 27 f., 30 ff., 199, 224 Verletzung von Rechtsgütern s. Rechtsgutsverletzungen Vernunftbegabung 75, 78 ff., 83 ff., 101, 267,272 f., 297 ff. Verschuldensprozeß 268, 282, 309 ff. Vertikale Absprachen 31 f., 169 ff., 182 Verwaltungsakzessorietät 49, 63 f., 150 ff., 155,177,181,186 Vorsatz bei Kartellstraftaten 168, 182
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Sachwortregister
Weltstaat, Perspektive 381 ff. Wettbewerb - Begriff 27, 129 ff., 135, 141 - als Entdeckungsverfahren 135 ff., 145, 154,156,161 f., 181,355 - als Institution 119, 120 f., 141, 152, 180 f. - als Katalaxie 36, 128, 136 f., 147, 161, 356 - als Rechtsgut 59, 63, 119, 135, 146 ff., 152 ff., 161 ff., 164 ff., 185 - und Internationalisierung I Globalisierung 376 ff., 384 Wettbewerbsbeschränkung - allg. 28, 63, 120, 155 ff. - und Kollektivstrafrecht 371 ff. - Phänomenologie 189 ff. Wettbewerbsförderungspolitik 140, 158, 161 f., 345 Wettbewerbsfreiheit 37, 76, 119, 131, 139 ff., 154 ff., 164 ff.
Wettbewerbsfunktionen 36 f., 119 f., 127, 129 ff., 135, 167 f. Wettbewerbsnachteile durch Kollektivstrafrecht 216,219,353 Wettbewerbsneigung 154 Wettbewerbspolitik 26,35 ff., 129 ff., 138 Wettbewerbsregeln 31 Wettbewerbstestverfahren 153 ff. White-collar-crime 192 f. Willensfreiheit s. Determinismus Wirksamkeit von Normen s. Seingeltung Wirtschaftsverfassung 121 ff., 138, 145, 162f. Zurechnung, von Fremdverschulden (objektive) 225 ff., 291 Zurechnungsauflösung s. Unverantwortlichkeit, strukturelle Zusammenschlusskontrolle s. Fusionskontrolle Zwang 34,91, 139, 144 f., 156, 171, 173 f.