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German Pages 374 [399] Year 2020
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 164 herausgegeben von
Rolf Stürner
Alexander Eggers
Gerichtliche Kontrolle von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz Eine Untersuchung zum US-amerikanischen, niederländischen und deutschen Recht
Mohr Siebeck
Alexander Eggers, geb. 1983; Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz; Rechtsreferendariat im Bezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe; wissenschaftlicher Mitarbei ter an der Universität Konstanz; 2018 Promotion.
ISBN 978-3-16-157544-0 / eISBN 978-3-16-157545-7 DOI 10.1628/978-3-16-157545-7 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Times New Roman gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die überarbeitete und ergänzte Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen des DFG‑Projekts „Adäquate Interessenvertretung Geschädigter bei Gruppen- und Verbandsklagen und die Rolle des Gerichts“ entstanden ist. Im Wintersemester 2017/2018 wurde sie vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz angenommen. Die Disputation fand am 11. Juni 2018 statt. Zunächst möchte ich Frau Prof. Dr. Astrid Stadler danken. Sie hat diese Arbeit angeregt, begleitet und begutachtet, wobei ich während des Großteils der nicht eben kurzen Entstehungszeit von einer Stelle an ihrem Lehrstuhl profitiert habe. Ich danke zudem Herrn Prof. Dr. Michael Stürner für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Rüdiger Wilhelmi, dem dritten Mitglied der Prüfungskommission. Die Untersuchung ist zum Teil während Forschungsaufenthalten in Luxembourg und San Francisco entstanden. Dem Max Planck Institute Luxembourg for International, European and Regulatory Procedural Law schulde ich Dank für die vielfältigen Anregungen und die großzügige Förderung im Rahmen des dortigen Gastprogramms. Auch meine Zeit als visiting scholar am UC Hastings College of the Law hat der Arbeit viele Impulse gegeben. Sie wurde vom DAAD mit einem Kurzstipendium bezuschusst. Herrn Prof. Dr. Rolf Stürner danke ich schließlich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe der Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand von Februar 2019, soweit es mir möglich war sie dementsprechend zu aktualisieren. Mit Blick auf die Quellen aus den USA und den Niederlanden konnte dies leider nicht mehr durchgehend erfolgen. Januar 2020
Alexander Eggers
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
§ 1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1
Erster Teil: Hintergründe und Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 § 2: Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 § 3: Die untersuchten Verfahrensformen und ihre Struktur . . . . . . . . . . . . . .15
Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . .51 § 4: Gerichtliche Kontrolle im Kontext des Repräsentationsgedankens . . . .53 § 5: Die Risiken der Repräsentation: Interessenkonflikte und Fehlanreize .93
Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 § 6: Die Kriterienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 § 7: Die Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263 § 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341
Vierter Teil: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .351 § 9: Nutzen und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen . . . .353 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .371
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
§ 1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 I.
Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz und ihre Kontrolle durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 II. Gegenstand der Untersuchung und methodischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . .3 III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6
Erster Teil: Hintergründe und Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 § 2: Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 I. II.
Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 Ursachen und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11
§ 3: Die untersuchten Verfahrensformen und ihre Struktur . . . . . . . . . . . . . .15 I. II.
Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 USA: die class action gemäß Rule 23 FRCP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 1. Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 2. Ausgestaltung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 a) Die certification einer class . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 aa) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 bb) Settlement class actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 b) Die Genehmigung des Vergleichs und ihr verfahrensmäßiger Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 aa) Das preliminary approval und die Benachrichtigung der Gruppenmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 bb) Das final approval . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .24 c) Die Entscheidung des Gerichts über die Höhe der Anwaltsvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25 d) Die Verteilungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 III. Die Niederlande: das WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
X
Inhaltsverzeichnis
1. Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27 a) Gesetzliche Regelungen und Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . .27 b) Das WCAM im Kontext anderer Verfahrensformen: lediglich komplementäre Regelung oder eigenständiges Verfahren? . . . . . . . .28 2. Ausgestaltung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 IV. Deutschland: das KapMuG und die Musterfestellungsklage . . . . . . . . . . . .31 1. Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 a) Vergleiche im Rahmen des KapMuG und der Musterfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .31 b) Die Sonderstellung von § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 2. Ausgestaltung der beiden Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .37 a) Konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .37 b) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 c) Verfahrensschritte auf dem Weg zu einem Vergleich . . . . . . . . . . . . .42 d) Gegenstand eines Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 aa) Isolierter Vergleich des Musterverfahrens möglich? . . . . . . . . . .45 bb) Sonstige Teil- und Zwischenvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .46 e) Die Verteilungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 V. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47
Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . .51 § 4: Gerichtliche Kontrolle im Kontext des Repräsentationsgedankens . . . .53 I.
Der Zweck des Genehmigungserfordernisses für Vergleiche . . . . . . . . . . .53 1. Schranke der Gestaltungsbefugnis des Repräsentanten . . . . . . . . . . . . .53 2. Zusammenspiel mit der Austrittsoption der repräsentierten Gruppenmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56 3. Grenzen des Anwendungsbereichs des Genehmigungserfordernisses . .58 a) Kein Schutzinstrument zugunsten der Gegenseite . . . . . . . . . . . . . . .58 b) Keine Berücksichtigung der Interessen Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . .63 c) Andere Formen einer unstreitigen Verfahrensbeendigung . . . . . . . . .64 d) Ausscheiden einzelner Gruppenmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 II. Grundzüge der Pflichten im Repräsentationsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . .69 1. Die treuhänderische Verantwortung des class counsel . . . . . . . . . . . . . .69 2. Das Repräsentativitätserfordernis beim WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . .72 3. Kollektiver Rechtsschutz mit individualistischer Konzeption im KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .72 4. Wahrnehmung der Interessen der Anmelder bei der Musterfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .77 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .78 III. Die Aufgabe des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79
Inhaltsverzeichnis
XI
1. Treuhänderische Verantwortung des Gerichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 a) Die Situation bei der class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 b) Interessenwahrung durch das Gericht zugunsten der Geschädigten im WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .81 c) Richterliche Fürsorgepflicht im deutschen Recht? . . . . . . . . . . . . . . .81 2. Keine Streichung, Ergänzung oder sonstige Gestaltung von Vergleichsinhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .82 3. Die Form der Genehmigungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85 a) Die class action: Der genehmigte Vergleich als consent decree . . . . .85 b) Das WCAM: Die Übereinkunft als Feststellungsvertrag . . . . . . . . . .86 c) Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage: Entscheidungen in Beschlussform, materiellrechtliche Bindungswirkung . . . . . . . . .86 IV. „Exit“, „voice“ und weitere Schutzmechanismen – die Genehmigungsentscheidung im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87 V. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .91
§ 5: Die Risiken der Repräsentation: Interessenkonflikte und Fehlanreize .93 I. II.
Der kollektive Rechtsschutz als Nährboden für Interessenkonflikte . . . . . .93 1. Sweetheart settlements und blackmail settlements . . . . . . . . . . . . . . . . .93 2. Anmerkung zum weiteren Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .94 Handlungsspielräume der Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96 1. Die unterschiedlichen Zentralfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96 a) Unternehmerisch handelnde Anwälte bei der class action . . . . . . . . .96 b) Interessenorganisationen und ihre teils undurchsichtigen Hintergründe beim WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 c) Der Musterkläger und seine Prozessvertreter beim KapMuG . . . . . .100 d) Die „qualifizierte Einrichtung“ bei der Musterfeststellungsklage . . .101 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 2. Auswahl und Rolle des Repräsentanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 a) Die Situation bei der class action einschließlich der Besonderheiten der securities class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 b) Der Musterkläger beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .105 c) Interessenorganisationen beim WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .106 d) Die „qualifizierte Einrichtung“ bei der Musterfeststellungsklage . . .107 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .108 3. Die Stellung der repräsentierten Gruppenmitglieder . . . . . . . . . . . . . . .109 a) Passivität der Gruppenmitglieder bei der class action . . . . . . . . . . . .109 b) Geringe Einbindung der Gruppenmitglieder beim WCAM . . . . . . . .111 c) Ausgeprägte Mitwirkungsrechte mit geringer praktischer Bedeutung beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111 d) Keine Beteiligungsrechte für Anmelder bei der Musterfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113
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Inhaltsverzeichnis
III. Anreize und Interessen der Repräsentanten und Prozessvertreter . . . . . . . .113 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113 2. Interessenkonflikte infolge eines wirtschaftlichen Eigeninteresses . . . .114 a) Ausgangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .114 b) Konkurrenzverhältnis hinsichtlich der Vergleichssumme? . . . . . . . .116 aa) Die Ansätze zur Kostenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .117 (1) American Rule oder fee shifting bei der class action . . . . . .117 (2) Kostentragung durch die Antragssteller beim WCAM . . . . .118 (3) Individuelle Kostenentscheidungen in den Ausgangsverfahren beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 (4) Kostenentscheidung bei der Musterfeststellungsklage . . . . .119 bb) Ursachen potentieller Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . .120 (1) Common fund doctrine und richterliche Entscheidungshoheit über die Anwaltsvergütung bei der class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .120 (2) Umlegung von Kosten auf die Geschädigten beim WCAM? 123 (3) Nur eingeschränktes Potential für Interessenkonflikte beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 (4) Beteiligung der Anmelder an den Kosten bei der Musterfeststellungsklage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .126 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127 c) Weitere Anreizwirkungen infolge der Ausgestaltung der Kostenerstattungsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 aa) Die Berechnungsmethoden für die Anwaltsvergütung bei der class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 bb) Finanzierungsmodelle beim WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130 cc) Anwaltsvergütung beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .132 dd) Finanzierung einer Musterfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . .136 ee) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .138 d) Spannungen zwischen Risikoaversion und optimaler Interessenvertretung bei repeat players . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .138 aa) Anwälte als Investoren in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .138 bb) Unternehmerisches Handeln von Interessenorganisationen in den Niederlanden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 cc) Die Maßgeblichkeit des Musterklägers im KapMuG . . . . . . . . .140 dd) Erfolgsprämie für die qualifizierte Einrichtung bei der Musterfeststellungsklage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 3. Reverse auctions und ähnliche Problematiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .142 a) Reverse auctions bei der class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .142 aa) Folgen des Fehlens einer Rechtshängigkeitssperre . . . . . . . . . . .142 bb) Erhöhtes Risiko bei settlement class actions . . . . . . . . . . . . . . . .145 b) Kein Risiko von reverse auctions in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . .145
Inhaltsverzeichnis
XIII
c) Möglichkeit des Schädigers zur Auswahl der Repräsentanten beim WCAM? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146 4. Gruppeninterne Interessengegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 a) Auswirkungen durch Akteure vermittelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 b) Mögliche Voreingenommenheit des class counsel . . . . . . . . . . . . . . .147 c) Konflikte zwischen „Active“ und „Non-Active Claimants“ beim WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .149 d) Interne Konflikte beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .150 e) Interne Konflikte bei der Musterfeststellungsklage . . . . . . . . . . . . . .150 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151 IV. Typologie möglicher negativer Auswirkungen von Interessenkonflikten . . 151 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151 2. Erste Konstellation: nicht interessengerechte Lösung . . . . . . . . . . . . . .152 a) Der notorische Bank of Boston-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152 b) Missverhältnis zwischen Anwaltsvergütung und Vorteilen für die Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .154 c) Coupon settlements und andere Formen nicht-monetären Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .154 d) Verpflichtung zu einer unangemessenen Gegenleistung . . . . . . . . . .156 e) Weitere Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 3. Zweite Konstellation: Schlechterstellung eines Teils der Gruppenmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 a) Die Verteilung von Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 b) Die Art der Abhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .157 4. Dritte Konstellation: Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 V. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .159
Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 § 6: Die Kriterienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 I. Angemessenheit als unbestimmter Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 II. Präzisierung durch Kriterienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .165 III. Überblick über die vorhandenen Kriterienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167 1. Die class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167 a) Die Datenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167 aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167 bb) Sekundärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .168 cc) Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .169 b) Die abschließende Genehmigung (final approval) des Vergleichs . . .171 aa) Kriterienkataloge in der Praxis der Rechtsprechung . . . . . . . . . .171 (1) Die Vorgaben der verschiedenen U. S. Courts of Appeals und ihre Umsetzung durch die District Courts . . . . . . . . . . .171 (a) Die Grinnell-Faktoren des Second Circuit . . . . . . . . . . .171
XIV
Inhaltsverzeichnis
(b) Die Girsh-Faktoren des Third Circuit und ihre Ergänzung durch die Prudential-Faktoren . . . . . . . . . . . .175 (c) Die Hanlon- oder Churchill-Faktoren des Ninth Circuit . 176 (d) Die Kataloge in den anderen Circuits . . . . . . . . . . . . . . .181 (e) Die Häufigkeit einzelner Faktoren in den verschiedenen Katalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .182 (2) Die ergänzende Einbeziehung einer Bewertung des Ablaufs der Vergleichsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 (3) Die Kataloge in der Entscheidungspraxis der District Courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .185 (4) Charakteristika einiger ablehnender Entscheidungen . . . . . .186 (5) Kritik an der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .188 (6) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .190 bb) Die Kriterien der Principles of Aggregate Litigation . . . . . . . . .191 cc) Die Neufassung von Rule 23 FRCP seit Dezember 2018 . . . . . .192 dd) Das Manual for Complex Litigation: „red flags“ und abstrakte Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193 ee) Die Anforderungen des CAFA und ihre Einbeziehung in die Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .195 ff) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .196 c) Die vorläufige Genehmigung (preliminary approval) des Vergleichs 197 aa) Die Bedeutung von Kriterienkatalogen für die vorläufige Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 bb) Gründe für die Ablehnung der Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . .201 cc) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .205 d) Zusammenhänge zwischen vorläufiger und endgültiger Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .207 2. Das WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .208 a) Die Genehmigungspraxis des gerechtshof Amsterdam und der gesetzliche Kriterienkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .208 b) Angemessenheit der Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210 aa) Die Bedeutung der Reaktionen der Geschädigten und interessierter Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .211 bb) Die Entscheidungen in den Sachen Dexia, Shell, Vedior, Converium und Fortis: die Bedeutung der Erfolgsaussichten . . .211 cc) Die DSB‑Bank-Entscheidungen: keine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213 dd) Die Fortis-Entscheidungen: der Schnittbereich zur Finanzierungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .214 c) Kontrolle von Regelungen zu den Verfahrenskosten . . . . . . . . . . . . .216 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .216 3. Ansätze für die Auswahl von Kriterien im deutschen Recht . . . . . . . . .216 IV. Die Aussagekraft der einzelnen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .220 1. Die Kriterien der ersten Kategorie: inhaltsbezogene Wertungen . . . . . .220
Inhaltsverzeichnis
XV
a) Chancen und Risiken einer streitigen Durchsetzung der Ansprüche . 221 aa) Die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . .222 (1) Die Einschätzung des Prozessrisikos bei der class action . . .222 (2) Die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .225 (3) Ansätze im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .225 bb) Die praktische Durchsetzbarkeit eines hypothetischen Anspruchs auf höhere Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226 cc) Der Aufwand der Prozessführung (Komplexität, Kosten und Dauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .226 b) Faktischer Wert und Praktikabilität der Verteilung der Ersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .229 c) Wertungen ohne Prognoseelement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231 aa) Zulässige Reichweite eines als Gegenleistung vereinbarten Anspruchsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231 bb) Rückfallbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .233 cc) Das Erfordernis gegenseitigen Nachgebens im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .235 dd) Nachweisanforderungen für die Inanspruchnahme von Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .236 ee) Regelungen zu Kosten und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .236 d) Sonstige unzulässige Inhalte eines Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . .238 e) Das Prognoseelement als inhaltsbezogene Wertung . . . . . . . . . . . . .239 aa) Aussagekraft des Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .239 bb) Praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung . . . . . . . . . . . . .240 f) Differenzierungen zwischen Untergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .242 g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244 2. Die Kriterien der zweiten Kategorie: Reaktionen auf den Vergleich . . .244 a) Die Reaktion der Gruppenmitglieder als quantifizierbares Element .244 aa) Die Anzahl der Einwendungen gegen einen Vergleich . . . . . . . .245 (1) Daten zum Vorkommen von Einwendungen in der Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245 (2) Die Aussagekraft als Indiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 bb) Die Anzahl der Austritte aus dem Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . .248 (1) Die class action: Alternativverhältnis von Einwendungen und Austritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .248 (2) Das WCAM: Austritt erst nach Genehmigung des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .249 (3) Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage: Austritt erst nach der Genehmigung, feste Schwelle abhängig von der Zahl der Austritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 cc) Die Anzahl der auf Grundlage eines Vergleichs angemeldeten Ansprüche und sonstige Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .252 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .253
XVI
V.
Inhaltsverzeichnis
b) Die Berücksichtigung der Einschätzung des Vergleichs durch Dritte, insbesondere durch die Anwälte der Gruppe . . . . . . . . . . . . .254 3. Die Kriterien der dritten Kategorie: verfahrensbezogene Aspekte . . . . .255 a) Der Stand des Verfahrens und die Kenntnisse der Beteiligten beim Vergleichsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .255 aa) Allgemeine Bedeutung des Stands des Verfahrens . . . . . . . . . . .255 bb) Stand und Umfang der discovery bei der class action . . . . . . . .256 cc) Schwierigkeiten bei der Abschätzung des Kenntnisstands der Antragsteller beziehungsweise Musterparteien in den Niederlanden und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .258 b) Der Ablauf der Vergleichsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .258 aa) Die class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .258 bb) Das WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .260 cc) Das deutsche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .261 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .261
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263 I.
II.
Entscheidungsfindung auf eingeschränkter Tatsachengrundlage . . . . . . . . .263 1. Der Vergleich als Substitut für eine Sachentscheidung des Gerichts . . .263 2. Kein Parteiengegensatz nach dem Abschluss eines Vergleichs . . . . . . .263 3. Das Bedürfnis nach Erkenntnisquellen/Gang der Darstellung . . . . . . . .265 Der Ablauf des Verfahrens und die Beibringung von Tatsachen . . . . . . . . .266 1. Die class action gemäß Rule 23 FRCP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267 a) Verfahrensablauf beim preliminary approval . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267 b) Verfahrensablauf beim final approval . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .269 c) Inhaltliche Anforderungen an die Begründung eines Vergleichs . . . .270 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .273 2. Das WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .274 3. Ansatzpunkte für eine Lösung im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . .276 a) Der bisherige Sach- und Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .277 aa) Parallelen zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .277 bb) Die Beschränkung auf die Inhalte des Musterverfahrens beim KapMuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .278 cc) Der bisherige Verfahrensstoff als Grundlage für eine Einschätzung der Erfolgsaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .280 b) Abgrenzung von den Ansätzen der class action und des WCAM . . .282 c) Erkenntnisquellen jenseits des bisherigen Sach- und Streitstands? . . 283 d) Konstruktive Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .287 aa) Geltung des Beibringungs- oder des Untersuchungsgrundsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .287 bb) Die Berechtigung des Gerichts, die Begründung der Parteien zu hinterfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .289 (1) Anpassungen an die Sondersituation der Vergleichsgenehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .289
Inhaltsverzeichnis
XVII
(2) Ansätze zu einer Modifikation des Beibringungs- und des Untersuchungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .292 cc) Anforderungen an eine aussagekräftige Begründung in Abwesenheit eines Parteiengegensatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .295 dd) Die Umsetzung des vorgeschlagenen Lösungsansatzes . . . . . . .297 e) Verifizierung der Begründung durch Erhebung von Beweisen . . . . .298 f) Offenlegung von Nebenvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .299 g) Zulässigkeit einer mündlichen Verhandlung über die Genehmigungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .299 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .300 III. Einwendungen der Mitglieder der repräsentierten Gruppe . . . . . . . . . . . . .302 1. Begriff und normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .302 2. Funktion und praktische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .303 3. Berechtigter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .308 4. Möglichkeiten zur Gewährleistung eines effizienten Verfahrens . . . . . .310 a) Die Ausgestaltung des Verfahrensablaufs durch das Gericht . . . . . . .311 b) Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .311 c) Formanforderungen an schriftliche Einwendungen und die Bedeutung anwaltlicher Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313 d) Einschränkung der mündlichen Äußerungsmöglichkeiten . . . . . . . .315 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .316 5. Erkenntnisquellen zur Untermauerung von Einwendungen . . . . . . . . . .317 a) Strukturelle Unterschiede zwischen den untersuchten Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .317 b) Einzelheiten zur discovery für objectors bei der class action . . . . . .318 c) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .319 6. Anreize und Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .320 7. Missbrauchsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .321 8. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .325 a) Das Potential von Einwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .325 b) Dogmatische Kategorisierung von Einwendungen im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .326 IV. Einbeziehung von Stellungnahmen unbeteiligter Dritter . . . . . . . . . . . . . . .328 1. Beteiligungsmöglichkeiten für amici curiae und Behörden bei der class action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .328 2. Stellungnahmen von unbeteiligten Interessenorganisationen im WCAM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .329 3. Die prozessuale Stellung Dritter im deutschen Zivilverfahrensrecht . . .329 V. Handlungsoptionen des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .330 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .330 a) Die Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .330 b) Kategorisierung der Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .331 2. Handlungsoptionen eines Gerichts bei der class action . . . . . . . . . . . . .332 a) Die im Kontext des amerikanischen Zivilprozessrechts ungewöhnlich aktive Rolle des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .332
XVIII
Inhaltsverzeichnis
b) Der Einsatz von Hilfspersonen des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .334 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .335 3. Die Möglichkeiten des gerechtshof im Rahmen des WCAM . . . . . . . . .335 4. Handlungsoptionen eines deutschen Zivilgerichts bei der Kontrolle von Vergleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .337 a) Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .337 b) Kompetenzen zur Beweiserhebung aus eigener Initiative . . . . . . . . .338 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .338 VI. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .339
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341 I. II.
Maßstäbe für komplexe Wertungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .341 Vermutungsregelungen im amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .342 1. Generelle Präferenz für eine vergleichsweise Lösung? . . . . . . . . . . . . .342 2. Vermutung zugunsten der Fairness bei ordnungsgemäßen Vergleichsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 3. Vermutung zugunsten der Fairness infolge des preliminary approval . .344 4. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .345 III. Vermutungsregelungen im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .346 IV. Variable Prüfungsintensität als Lösungsansatz für das deutsche Recht . . . .348
Vierter Teil: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .351 § 9: Nutzen und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen . . . .353 I. II. III. IV.
Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353 Die Kriterienkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .355 Die Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .356 Schlussstein der Schutzmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .358
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .371
Abkürzungsverzeichnis 1st Cir. United States Court of Appeals for the First Circuit 2d Cir. United States Court of Appeals for the Second Circuit 3d Cir. United States Court of Appeals for the Third Circuit 4th Cir. United States Court of Appeals for the Fourth Circuit 5th Cir. United States Court of Appeals for the Fifth Circuit 6th Cir. United States Court of Appeals for the Sixth Circuit 7th Cir. United States Court of Appeals for the Seventh Circuit 8th Cir. United States Court of Appeals for the Eighth Circuit 9th Cir. United States Court of Appeals for the Ninth Circuit 10th Cir. United States Court of Appeals for the Tenth Circuit 11th Cir. United States Court of Appeals for the Eleventh Circuit a. A. andere/r Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort Abs. Absatz Abschn. Abschnitt a. F. alte Fassung AG Die Aktiengesellschaft/Amtsgericht AktG Aktiengesetz ALI American Law Institute allg. allgemein AnwBl. Anwaltsblatt (Zeitschrift) Ariz. L. Rev. Arizona Law Review Ark. Arkansas Art. Artikel Aufl. Auflage Az. Aktenzeichen BB Betriebs-Berater (Zeitschrift) BeckOK Beck’scher Online-Kommentar Berkeley J. Int’l L. Berkeley Journal of International Law BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BKR Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht BR Bundesrat BR‑Drucks. Bundesratsdrucksache BReg Bundesregierung Bsp. Beispiel(e) bspw. beispielsweise BT Bundestag
XX
Abkürzungsverzeichnis
BT‑Drucks. Bundestagsdrucksache B. U. L. Rev. Boston University Law Review C. D. Cal. United States District Court for the Central District of California C. J. Q. Civil Justice Quarterly (Zeitschrift) Col. L. Rev. Columbia Law Review Comp. L. Rev. Competition Law Review Conference Rep. Conference Report dass. dasselbe D. Haw. United States District Court for the District of Hawaii D. Mass. United States District Court for the District of Massachusetts D. Me. United States District Court for the District of Maine D. N. J. United States District Court for the District of New Jersey DB Der Betrieb (Zeitschrift) DePaul L. Rev. DePaul Law Review ders. derselbe dies. dieselbe/n Diss. Dissertation DJT Deutscher Juristentag Duke J. Comp. Duke Journal of Comparative and International Law & Int’l L. EBLR European Business Law Review E. D. La. United States District Court for the Eastern District of Louisiana E. D. Pa. United States District Court for the Eastern District of Pennsylvania E. D. Cal. United States District Court for the Eastern District of California E. D. Tex. United States District Court for the Eastern District of Texas E. D. N. Y. United States District Court for the Eastern District of New York EL Ergänzungslieferung Emory L. J. Emory Law Journal EUR Euro f./ff. und die folgende/n F. 2d Federal Reporter, Second Series F. 3d Federal Reporter, Third Series FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Fla. App. 3 Dist. Florida Third District Court of Appeals Fla. L. Rev. Florida Law Review Fla. St. U. L. Rev. Florida State University Law Review Fn. Fußnote Fordham L. Rev. Fordham Law Review F. R. D. Federal Rules Decisions F. Supp. Federal Supplement F. Supp. 2d Federal Supplement, Second Series F. Supp. 3d Federal Supplement, Third Series Geo. L. J. Georgetown Law Journal
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Ggs. Gegensatz GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWR Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) h. M. herrschende/r Meinung Harv. L. Rev. Harvard Law Review Hdb. Handbuch i. E. im Einzelnen i. R. e. im Rahmen einer i. Ü. im Übrigen IL Illinois inkl. inklusive InsO Insolvenzordnung J. Judge/Justice J. Empir. Legal. Stud. Journal of Empirical Legal Studies J. Leg. Stud. Journal of Legal Studies J. Legal Anal. Journal of Legal Analysis J. L. Econ. & Pol’y Journal of Law, Economics & Policy JZ Juristenzeitung KapMuG Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten KK‑KapMuG Kölner Kommentar zum Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz KK‑Kartellrecht Kölner Kommentar zum Kartellrecht KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechts wissenschaft LAG Landesarbeitsgericht Law & Hist. Rev. Law and History Review Law and Contemp. Law and Contemporary Problems (Zeitschrift) Probs. m. w. N. mit weiteren Nachweisen MA Massachusetts Md. L. Rev. Maryland Law Review MDL Multidistrict litigation Miss. C. L. Rev. Mississippi College Law Review MMR Multimedia und Recht MN Minnesota MüKoWettbR Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht n. a. nicht angegeben N. D. Cal. United States District Court for the Northern District of California N. D. Ill. United States District Court for the Northern District of Illinois N. Y. U. L. Rev. New York University Law Review Nachw. Nachweise NJ Neue Justiz – Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Recht sprechung / New Jersey NJW Neue Juristische Wochenschrift Notre Dame L.Rev. Notre Dame Law Review NZG Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht
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o. g. oben genannte/n OLG Oberlandesgericht Pac. McGeorge Global Global Business & Development Law Journal Bus. & Dev. L. J. PHi Haftpflicht International – Recht & Versicherung (Zeitschrift) PSLRA Private Securities Litigation Reform Act RefE Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz RegE Gesetzentwurf der Bundesregierung Rn. Randnummer RVG Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte S. Satz/Seite S. D. Cal. United States District Court for the Southern District of California S. D. Fla. United States District Court for the Southern District of Florida S. D. N. Y. United States District Court for the Southern District of New York Senate Rep. Senate Report So. 2d Southern Reporters, Second Series sog. sogenannte/r, sogenannten St. John’s L. Rev. St. John’s Law Review Stan. L. Rev. Stanford Law Review Sw. L. J. Southwestern Lay Journal Tex. L. Rev. Texas Law Review Tweede Kamer Tweede Kamer der Staten-Generaal u. a. und andere U. C. Davis L. Rev. University of California, Davis, Law Review U. Chi. L. Rev. University of Chicago Law Review U. Chi. Legal F. University of Chicago Legal Forum U. Cin. L. Rev. University of Cincinnati Law Review U. Pa. L. Rev. University of Pennsylvania Law Review U. S. United States/United States Reports U. S. C. Code of Laws of the United States of America USD US‑Dollar UCLA L. Rev. University of California, Los Angeles, Law Review Unif. L. Rev. Uniform Law Review UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Vand. L. Rev. Vanderbilt Law Review Verf. Verfasser vgl. vergleiche VglO Vergleichsordnung VuR Verbraucher und Recht (Zeitschrift) WCAM Wet collectieve afwikkeling massaschade W. D. Ky. United States District Court for the Western District of Kentucky W. D. Mo. United States District Court for the Western District of Missouri W. D. Tex. United States District Court for the Western District of Texas
W. D. N. Y.
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United States District Court for the Western District of New York WM Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht w. N. weitere Nachweise Yale L. J. Yale Law Journal z. B. zum Beispiel ZBB/JBB Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft/Journal of Bank ing Law and Banking ZGR Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht ZHR Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZPO Zivilprozessordnung ZZP Zeitschrift für Zivilprozess
§ 1: Einführung I. Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz und ihre Kontrolle durch das Gericht Kollektive Klageverfahren erleichtern den Umgang mit Schadensereignissen, die eine Vielzahl von Geschädigten in gleichartiger Weise betreffen. Sie legen die Aufgabe der Rechtsdurchsetzung in die Hände weniger Repräsentanten und machen so individuelle Rechtsstreite entbehrlich. Wenn die Repräsentan‑ ten das Verfahren im Wege eines kollektiv verbindlichen Vergleichs beenden können, erlaubt dies effiziente Lösungen.1 Es steigert jedoch auch noch ein‑ mal ihre Verantwortung. Sie können in diesem Fall unmittelbar auf die Rechts‑ position der Betroffenen einwirken. Dadurch entsteht jedoch die Gefahr, dass sich Interessenkonflikte mit den Repräsentanten zulasten der Gruppenmitglie‑ der auswirken – im schlimmsten Fall missbrauchen jene ihre Stellung bewusst. Dieses Spannungsverhältnis zwischen effizienzsteigernder Repräsentation und dem Gedanken der Autonomie der Rechtsinhaber ist ein Grundproblem des kollektiven Rechtsschutzes. Im Falle eines Vergleichs tritt es verstärkt zutage. Sicherungen gegen Missbrauch und niederschwelligere Fehlsteuerungen ver‑ langsamen und verteuern ein Verfahren aber unweigerlich.2 Es bedarf eines An‑ satzes, der einerseits pragmatische Lösungen erlaubt, die den Anforderungen an ein effizientes Verfahren gerecht werden, und andererseits alle Beteiligten davor schützt, möglichen negativen Auswirkungen der Dynamik dieses Verfah‑ rens ausgeliefert zu ein. Die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen ist als einer der Mechanismen, die in diesem Zusammenhang interessenwidrige Ergebnisse verhindern sol‑ len, internationaler Standard.3 Vor allem in den USA ist sie im Rahmen der Verfahrensform der class action seit langem etabliert. Die Genehmigung eines hochdotierten Vergleichs wie im VW‑Dieselskandal4 hat dabei erhebliche wirt‑ schaftliche Auswirkungen und schlägt mitunter Wellen bis nach Europa. Die 1 Vgl. Stadler, ZHR 182 (2018), 623, 2 Hodges, 37 J. C. P. (2014) 67, 83. 3
628.
Vgl. etwa Stadler, GPR 2013, 281, 288 m. w. N. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*12] (N. D. Cal. 2016); bestätigt durch In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597 (9th Cir. 2018). 4
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§ 1: Einführung
vorliegende Untersuchung analysiert anhand des amerikanischen, niederlän‑ dischen und deutschen Rechts, inwiefern die gerichtliche Kontrolle von Ver‑ gleichen geeignet ist, das Risiko von Missbräuchen und sonstigen Fehlentwick‑ lungen im kollektiven Rechtsschutz einzudämmen und zugleich eine effiziente Verfahrensbeendigung zu gewährleisten. Mit der gerichtlichen Kontrollfunk‑ tion sind zwei grundlegende Probleme verbunden, die sich gegenseitig bedin‑ gen: Zum einen setzt sie einen abstrakten Maßstab dafür voraus, wann ein Ver‑ gleich angemessen und damit genehmigungsfähig ist. Es gilt, einen Mittelweg zwischen den detaillierten Vorgaben des materiellen Rechts und dem Gedanken einer intuitiv feststellbaren Evidenz zu finden. Nur außerordentlich schlechten Vergleichen sieht man ihre Fehler auf den ersten Blick an.5 Zum anderen ver‑ fügt ein Gericht für seine Genehmigungsentscheidung notgedrungen meist nur über eine ungewohnt karge Entscheidungsgrundlage. Eine gut austarierte Rege‑ lung kollektiver Vergleiche ist aber nicht zuletzt erforderlich, um zu vermeiden, dass die Akteure andere Wege zu einer umfassenden Lösung finden, die wo‑ möglich ein geringeres Schutzniveau aufweist.6 In der deutschsprachigen Literatur wird die Thematik kollektiver Vergleiche vor dem Hintergrund der Regelungen im KapMuG und zur Musterfeststellungs‑ klage inzwischen vermehrt aufgegriffen, nachdem sie zunächst nur selten und in kleinerem Maßstab behandelt worden war.7 Die vorliegende Untersuchung will daher vor einem rechtsvergleichenden Hintergrund erörtern, inwiefern das deutsche Zivilprozessrecht de lege lata und de lege ferenda Raum für systema‑ tisch konsistente Ansätze bietet, mit der ungewöhnlichen Sondersituation der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs umzugehen. Ihre Aufgabe liegt dabei zunächst zu einem nicht geringen Teil darin, die vorhandenen Kenntnisse dar‑ zustellen, zu ordnen und mögliche Probleme zu identifizieren. Diese Unter‑ suchung erhebt keinesfalls den Anspruch letztverbindliche Lösungen zu bieten. Sie versucht vielmehr lediglich eine Struktur zu entwickeln, auf deren Grund‑ 5
Hazard, 75 B. U. L. Rev. 1257, 1266 (1995). dazu allg. den Bericht der Europäischen Kommission zur Umsetzung ihrer Emp‑ fehlung v. 11. 06. 2013 (2013/396/EU), COM(2018) 40 final, S. 23. 7 Vgl. etwa zum KapMuG von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 401 ff.; Reuschle, in: KK‑KapMuG, §§ 17, 18, 23; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, §§ 17, 18, 23; Stad‑ ler, [2013] EBLR 731, 746 ff.; Wigand, AG 2012, 845, 849 ff.; zur Musterfeststellungskla‑ ge Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 38 ff; Röthemeyer, Mus‑ terfeststellungsklage, § 611 Rn. 32 ff.; Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 163 ff.; zur class action Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action, S. 202 ff.; Frische, Verfahrens‑ wirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 82 ff.; vgl. zudem Geiger, Kollekti‑ ver Rechtsschutz im Zivilprozess, S. 224 ff.; Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1813 ff.; aus schweizerischer Perspektive rechtsvergleichend zur us-amerikanischen class action, dem nie‑ derländischen WCAM und dem KapMuG Peter, Zivilprozessuale Gruppenvergleichsverfah‑ ren, S. 43 ff., 79 ff., 124 ff., 194 ff.; aus niederländischer Perspektive rechtsvergleichend zum deutschen, englischen und niederländischen Recht Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation (im Erscheinen). 6 Vgl.
§ 1: Einführung
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lage im Idealfall eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Thematik der ge‑ richtlichen Kontrolle von Vergleichen möglich ist. Dabei soll insbesondere die Frage im Vordergrund stehen, wie die Interessen der repräsentierten Geschä‑ digten gewahrt werden können. Die rechtspolitische Diskussion in Deutschland kreist dagegen bislang in erster Linie um die Frage eines Missbrauchsrisikos zulasten der Beklagten.
II. Gegenstand der Untersuchung und methodischer Ansatz Der Gedanke, einen Vergleich in einem Verfahren des kollektiven Rechts‑ schutzes von der Genehmigung eines Gerichts abhängig zu machen, stammt wie vieles in diesem Bereich aus dem amerikanischen Recht. Dieses bietet mit Blick auf die class action eine jahrzehntelange Tradition und reichhaltiges An‑ schauungsmaterial aus der Rechtsprechung, wenngleich die lebhafte akademi‑ sche Diskussion das Thema der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen meist nur am Rande streift. Für eine rechtsvergleichende Arbeit stellt die Situation in den USA ein unverzichtbares Studienobjekt dar, zumal die tiefgreifenden strukturellen Unterschiede zu den kontinentaleuropäischen Zivilprozessrech‑ ten eine lohnenswerte Auseinandersetzung erwarten lassen. Die class action ist deutlich komplexer und differenzierter als es das häufig bemühte Zerrbild der „amerikanischen Verhältnisse“ glauben machen will. Unter den europäischen Regelungen im kollektiven Rechtsschutz hat vor allem das niederländische WCAM – auch aus einer internationalen Perspektive – einige praktische Be‑ deutung erlangt. Es ist eines der am stärksten ausdifferenzierten Verfahren zur Genehmigung von Vergleichen auf dem Kontinent, wobei bemerkenswert ist, dass es keine eigenständige Möglichkeit zur streitigen Rechtsdurchsetzung vor‑ sieht.8 Schließlich sollen das deutsche KapMuG und die Musterfeststellungs‑ klage in die Untersuchung einbezogen werden. Ihre – inhaltlich weitgehend übereinstimmenden – Regelungen zur richterlichen Genehmigung von Verglei‑ chen sind noch jung und haben bislang noch keine praktische Bedeutung er‑ langt. Die Regelungsvorschläge der Europäischen Kommission sehen ebenfalls die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen vor.9 Gleichwohl fristet dieses The‑ menfeld in den zugehörigen Materialien eher ein Schattendasein.10 Auch in der vorliegenden Untersuchung wird die europarechtliche Ebene im Hintergrund 8 Eine streitige Entscheidung ermöglicht nunmehr das „Wet afwikkeling massaschade in collectieve actie“, das im April 2019 im Staatsblad 2019, 130 verkündet wurde. Systematisch ist es jedoch kein Teil des WCAM, sondern vielmehr der allgemeinen Verbandsklage. 9 Vgl. Empfehlung der Kommission v. 11. 06. 2013 (2013/396/EU), Nr. 28; Art. 8 Abs. 4 Richtlinienvorschlag über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbrau‑ cher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, COM(2018) 184 final. 10 So enthält etwa der Bericht der Europäischen Kommission zur Umsetzung ihrer Emp‑ fehlung v. 11. 06. 2013 (2013/396/EU), COM(2018) 40 final, S. 18 nur ganz allgemeine Aus‑
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bleiben müssen, da sie keine zusätzlichen Erkenntnisse zur Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens und dem Maßstäben der Genehmigungsentscheidung verspricht. Die untersuchten Verfahrensformen weisen auf den ersten Blick erhebliche strukturelle Unterschiede auf. So werden bei der class action und dem Kap‑ MuG einzelne Geschädigte als Repräsentanten für eine größere Gruppe von Anspruchstellern tätig, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Beim WCAM und der Musterfeststellungsklage treten dagegen Interessenorganisa‑ tionen auf, die nicht selbst von dem maßgeblichen Schadensereignis betroffen sind. Die ausgewählten Verfahrensformen vereint indes, dass es sich allesamt um Gruppenverfahren handelt. Ein Gruppenverfahren kennzeichnet sich da‑ durch, dass bestehende individuelle Rechte der Gruppenmitglieder durch einen Repräsentanten in einem einheitlichen Verfahren verfolgt werden. In diesem werden „losgelöst vom Anspruch des einzelnen und in einem selbständigen Prozess Tatsachen- und Rechtsfragen mit Wirkung für ein Kollektiv von An‑ spruchsinhabern entschieden.“11 Das gilt für die class action und das KapMuG ebenso wie für das WCAM und die Musterfeststellungsklage. Damit unter‑ scheiden sie sich von Popular- oder Verbandsklagen, bei denen der Kläger über eine „originäre Interventionskompetenz“ verfügt,12 also unabhängig von den Ansprüchen individuellen Ansprüchen möglicher Geschädigter tätig wird. Die untersuchten Verfahrensformen sind dabei jeweils darauf ausgerichtet, in ihrem Anwendungsbereich sowohl Streu- als auch Massenschäden zu bewältigen. Einem Vergleich der unterschiedlichen Verfahrensformen aus den USA, den Niederlanden und Deutschland steht ein gewichtiges Hindernis methodischer Natur entgegen. Die Prozessrechtsvergleichung sieht sich allgemein dem Pro‑ blem gegenüber, dass sie nur schwer einen vertieften Einblick in die auslän‑ dische Prozesswirklichkeit erlangen kann.13 Im Bereich des kollektiven Rechts‑ schutzes tritt dies besonders deutlich hervor. Die Verfahren sind dort nahezu zwangsläufig hochgradig komplex – und daran ändert sich nichts, wenn sie im Wege eines Vergleichs beendet werden. Die genauen Hintergründe und Aus‑ gangsbedingungen auch für nur einen einzelnen konkreten Vergleich lassen sich kaum erfassen. Mit einer class action oder einem ähnlichen Verfahren sind nicht selten ganze Heerscharen von Anwälten jahrelang beschäftigt; sie analysieren und produzieren dabei kaum zu überschauende Mengen an Material. Einem Außenstehenden bleibt zudem ein Einblick in die Vergleichsverhandlungen – sagen zur gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen. Er betont jedoch ihre Bedeutung für den „Schutz der Rechte der beteiligten Parteien“. 11 So die Definition von Bergmeister, KapMuG, S. 294. Ähnlich BeckOK ZPO/Lutz, § 606 Rn. 3.1 zum Begriff des „kollektiven Rechtsschutzes im engeren Sinne“. Zur Einordnung des KapMuG als Gruppenverfahren vgl. Lange, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 8 Rn. 2; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 4. 12 So die Begriffsbildung von Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, S. 5. 13 Stürner/Stadler, Eigenarten der Prozeßrechtsvergleichung, S. 281.
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die regelmäßig hinter verschlossen Türen stattfinden – und deren Hintergründe verwehrt. Diese Untersuchung kann daher lediglich versuchen, aus der Außen‑ perspektive einen Überblick zu gewinnen. Sie kann keinesfalls bewerten, ob das, was die Richter in den analysierten Rechtsordnungen tun, zu richtigen Er‑ gebnissen führt oder ob sie die Sachverhalte mit den von ihnen angewendeten Methoden korrekt erfassen. Ihr Thema sind vielmehr die rechtlichen Ausgangs‑ bedingungen für die richterliche Aufgabe der Genehmigung eines Vergleichs. An dieser Stelle tut sich indes ein weiteres methodisches Problem auf, das sich nicht mehr so elegant umschiffen lässt: Auch der Einblick in die Arbeit des Richters fällt schwer. Die Begründungen, die Richter für ihre Entscheidungen nennen, bilden nicht zwingend den Denkprozess ab, der diesen zugrundeliegt – zumal wenn es wie hier um ein Gebiet geht, in dem einem einzelnen Gericht ein erheblicher Entscheidungsspielraum zukommt. Die Feststellungen der vorliegenden Untersuchung gelten dementsprechend immer nur unter Vorbehalt. Sie wählt vor diesem Hintergrund einen zurück‑ haltenden Ansatz für einen Rechtsvergleich. Sie will das Rechtsinstitut der ge‑ richtlichen Kontrolle von Vergleichen lediglich mit groben Strichen skizzie‑ ren, um die wesentlichen Problempunkte und Stellschrauben herauszuarbeiten. Mehr kann sie nicht leisten, zumal die Diskussion in Deutschland noch ganz am Anfang steht. Sie baut auf der Überlegung auf, dass Gruppenverfahren in unter‑ schiedlichen Rechtsordnungen auf einer abstrakten Ebene vor demselben Rege‑ lungsproblem stehen: Sie müssen effizient den Schutz der repräsentierten Grup‑ penmitglieder gewährleisten, wenn ein Vergleich über deren Ansprüche verfügt. Bei den einzelnen Fragekomplexen nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgangspunkt grundsätzlich beim amerikanischen Recht, da dieses über die international bedeutsamste Rechtspraxis im Bereich von Vergleichen im kollek‑ tiven Rechtsschutz verfügt und infolgedessen meist gutes Anschauungsmaterial bietet, um die jeweiligen Fragestellungen plastisch darzustellen. Dementspre‑ chend haben sich in den USA bereits zahlreiche Probleme aufgetan, die mög‑ licherweise auch aus einem europäischen oder deutschen Blickwinkel von In‑ teresse sind. Diese Untersuchung versucht zu ermitteln, welche Schlüsse man aus den Erfahrungen aus den USA und – in geringerem Maße – auch aus den Niederlanden vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen für das deutsche Recht ziehen kann, um geeignete Lö‑ sungsansätze zu übernehmen und vermeidbare Fehler nicht zu wiederholen. In diesem Zusammenhang muss jeweils herausgearbeitet werden, ob möglicher‑ weise grundlegende Prämissen des amerikanischen oder des niederländischen Ansatzes dem deutschen Recht fremd sind.
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§ 1: Einführung
III. Gang der Darstellung Diese Untersuchung muss sich mit drei Grundfragen auseinandersetzen: Warum braucht man die richterliche Kontrolle von Vergleichen? Was sind ihre Maß‑ stäbe? Auf welcher Grundlage trifft ein Gericht seine Genehmigungsentschei‑ dung? Demensprechend beleuchtet sie in ihrem ersten Teil zunächst allgemein die Hintergründe von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz (§ 2) und stellt sodann die Verfahrensformen vor, die den Gegenstand der Untersuchung bilden (§ 3). Der zweite Teil setzt sich mit der Frage auseinander, warum eine gericht‑ liche Kontrolle von Vergleichen erforderlich ist. Dazu geht sie auf die Bedin‑ gungen der richterlichen Tätigkeit in diesem Zusammenhang ein (§ 4), um so‑ dann die Handlungsmöglichkeiten und Interessen der Akteure in den Blick zu nehmen (§ 5). Der dritte Teil befasst sich mit der Rolle des Gerichts als Kon‑ trollinstanz. Er stellt die Kriterienkataloge vor, die die Maßstäbe für die Kon‑ trollentscheidung bereitstellen (§ 6), geht sodann auf die Entscheidungsgrund‑ lage ein (§ 7), um schließlich zu untersuchen, mit welcher Intensität die Prüfung auf Grundlage der Kriterienkataloge durchzuführen ist (§ 8).
Erster Teil
Hintergründe und Regelungen
§ 2: Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz I. Zahlen Volkswirtschaftlich betrachtet sind class actions in den USA eine erhebliche Größe. Die rechtspraktische Bedeutung von Vergleichen ist in diesem Rahmen enorm.1 Fitzpatrick schätzt, dass Vergleiche von class actions vor den Fede‑ ral Courts trotz der relativ geringen Fallzahlen2 in finanzieller Hinsicht mit 16 Milliarden Dollar jährlich 10 % der Summe ausmachen, die in den USA im Zu‑ sammenhang mit Gerichtsverfahren transferiert wird, in denen deliktische An‑ sprüche auf Schadensersatz geltend gemacht werden.3 Zu einer Verfahrensbeen‑ digung durch streitiges Urteil kommt es dagegen nur in den seltensten Fällen. Als Richtwert werden insofern 3–6 % genannt.4 Allerdings werden bei Weitem nicht alle Fälle, in denen kein Urteil ergeht, mit einem Vergleich abgeschlossen. Vielmehr greifen die Richter vielfach auf andere Entscheidungsformen zurück, etwa die Stattgabe einer motion to dismiss sowie auf preliminary injunctions oder summary judgments.5 Eine Studie des FJC zur Rechtsprechung der Fede‑ ral Courts vor dem Erlass des Class Action Fairness Act (CAFA) von 2005 stellt beispielsweise fest, dass 38 % der untersuchten Verfahren durch Klagerücknah‑ me (voluntary dismissal) beendet wurden, 20 % durch Verweisung an ein ein‑ zelstaatliches Gericht, 21 % durch Stattgabe einer motion to dismiss oder ein summary jugdment, 3 % durch ein administrative closing und lediglich 9 % im Wege eines Vergleichs.6 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt eine RAND‑Stu‑ die von 2007 zu class actions im Versicherungsbereich, die allerdings auch ein‑ zelstaatliche Fälle berücksichtigt: 27 % der Verfahren endeten mit einem volun‑ tary dismissal, 37 %, indem das Gericht zu Gunsten der Beklagtenseite einer pre-trial motion – wie etwa einer motion to dismiss – stattgab, und 20 % durch 1 Vgl. Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1650 (2008); Willging/Lee, Impact of the Class Action Fairness Act on the Federal Courts, S. 6. 2 Fitzpatrick geht von jährlich ca. 350 federal class action settlements aus. Die Gesamtzahl der jährlich eingereichten class actions ist demgegenüber unbekannt, vgl. Hensler, 63 DePaul L. Rev. 499, 510 (2014). 3 Fitzpatrick, 7 JELS 811, 829 f. (2010) für die Jahre 2006 und 2007. 4 Willging u.a, Empirical Analysis, S. 68 = 71 N. Y. U. L. Rev. 74, 92, 151 (1996). 5 Resnik, 30 U. C. Davis L. Rev. 835, 839 (1997). 6 Willging/Lee, Impact of the Class Action Fairness Act on the Federal Courts, S. 6; vgl. auch Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 4.03[5][a].
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
einen individuellen Vergleich mit den class representatives, ohne Einbeziehung der class; ein kollektiver Vergleich wurde in 12 % der Fälle geschlossen. Von den lediglich 14 % der Verfahren, in denen es zu einer certification kam, wurden dann aber 90 % durch einen solchen Vergleich beendet. Schon mit dem Antrag auf certification steigt die Quote für einen kollektiven Vergleich auf 34 %.7 Eine Studie zu class actions in Kalifornien ermittelt eine Vergleichsquote von 31,9 % aller Erledigungen. Ein trial verdict gab es dagegen lediglich in 0,7 % der Fäl‑ le.8 Eine weitere Untersuchung wirft ein Schlaglicht auf den Aspekt der Ver‑ fahrensdauer: Von den 148 im Jahre 2009 vor Bundesgerichten angestrengten Verfahren, die Gegenstand einer Studie von Mayer Brown LLP sind, war nach vier Jahren kein einziges in der trial-Phase angelangt oder durch streitiges Ur‑ teil zugunsten der Kläger entschieden worden. Vielmehr waren 14 % der Ver‑ fahren noch anhängig, 27 % wurden als unschlüssig abgewiesen (dismissal on the merits), in 30 % der Fälle kam es zu einer Klagerücknahme (voluntary dis‑ missal) oder zu Vergleichen auf individueller Basis, 1 % wurden in ein arbitra‑ tion-Verfahren übergeleitet und 33 % auf kollektiver Ebene verglichen.9 Legt man diese Daten zugrunde, betrifft das Thema der vorliegenden Untersuchung je nach Studie zwar nur zwischen einem Zehntel und einem Drittel aller anhän‑ gig gewordenen class actions – sobald sich eine solche nicht schon in einem frü‑ hen Verfahrensstadium erledigt, gewinnt es aber an Relevanz. So werden class actions, die die Hürde der certification nehmen,10 nahezu immer verglichen,11 wobei die certification freilich oftmals erst im Zuge der Genehmigung eines Vergleichs stattfindet (settlement class action). Im Kontrast mit den USA spielt sich die Praxis des kollektiven Rechtsschut‑ zes in den anderen hier analysierten Rechtsordnungen schon rein zahlenmäßig in einem deutlich kleineren Maßstab ab. Das niederländische WCAM, das die streitige Beendigung des Verfahrens von vorneherein nicht vorsieht, ist bislang in acht Fällen zur Anwendung gekommen. Abgesehen von dem DES‑Fall,12 einem Produkthaftungsfall aus dem Pharmabereich, der den Anlass für die Ver‑ 7 Pace/Carroll/Vogelsang/Zakaras, Insurance Class Actions in the United States, S. 40, 45 ff. Beschränkt man sich auf Verfahren vor den Federal Courts, weichen die maßgeblichen Werte nicht significant ab: 17 % (voluntary dismissal), 43 % (pretrial motion), 24 % (individual settlement), 15 % (class-wide settlement), 16 % (certification), 94 % (class-wide settlement nach certification), 32 % (class-wide settlement nach Antrag auf certification); allerdings wer‑ den von der Studie insofern deutlich höhere Fehlertoleranzen angenommen. 8 Study of California Class Action Litigation, 2000–2006, First Interim Report March 2009, S. 11. 9 Mayer Brown LLP, Do Class Actions Benefit Class Members?, S. 4. 10 Siehe dazu unten S. 18. 11 Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1650 (2008); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 1:17; vgl. auch Pace/Carroll/Vogelsang/Zakaras, Insurance Class Actions in the United States, S. 47. 12 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 1. 06. 2006, ECLI:NL:GHAMS:2006:AX6440 (DES).
§ 2: Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz
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abschiedung des Gesetzes darstellte,13 handelt es sich dabei überwiegend um Fälle aus dem Kapitalmarktrecht.14 Daneben gibt es einen Fall, der im Zusam‑ menhang mit der Insolvenz einer Bank steht.15 Die Besonderheit in den Nie‑ derlanden ist, dass eine streitige Entscheidung dieser Verfahren auf kollektiver Ebene bislang nicht möglich war, sondern eine Übereinkunft auf der Grund‑ lage des WCAM die einzige verbindliche Lösung jenseits einer Vielzahl an In‑ dividualprozessen darstellte. Die Verfahrensdauer variiert dabei erheblich und hängt auch davon ab, ob man gegebenenfalls die Individualverfahren mit ein‑ bezieht, die im Vorfeld des Verfahrens nach dem WCAM stattgefunden haben.16 In Deutschland sind Vergleiche im kollektiven Rechtschutz eine sehr junge Entwicklung, die erst mit der Reform des KapMuG im Jahre 2013 angestoßen wurde. Im Rahmen des KapMuG haben sie noch keine nennenswerte praktische Bedeutung gewonnen. Bislang sind auf dieser Grundlage – soweit ersichtlich – allenfalls zwei Vergleiche zustande gekommen.17 Für die Musterfeststellungs‑ klage fehlt es noch gänzlich an Entscheidungspraxis.
II. Ursachen und Hintergründe Dass ein streitiges Urteil nach einem vollständig durchexerzierten Prozess eine eher seltene Form richterlicher Entscheidung ist, stellt in den USA keine Be‑ sonderheit von class actions dar, sondern gilt auch für Individualverfahren.18 Die Präferenz für Vergleiche hat im amerikanischen Zivilprozess in den letzten Jahrzehnten allgemein überhandgenommen.19 Bei der class action spielt dabei 13
Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 322 ff. Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS:2007:AZ7033 (Dexia); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 04. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009: BI2717 (Vie d’Or); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS: 2009:BI5744 (Shell); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 15. 07. 2009, ECLI:NL:GHAMS: 2009:BJ2691 (Vedior); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL: GHAMS:2012:BV1026 (Converium); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis). 15 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank). 16 Tzankova/Scheurleer, Annals 622 (2009), 149, 152. 17 Zum einen OLG München, Beschl. v. 18. 09. 2014, 5 Kap 2/09 – Constantin Medien AG, vormals EM.TV Vermögensverwaltungs AG. Medienberichten zufolge soll Ende 2016 in dem Musterverfahren zur Frage einer verspäteten Ad-hoc-Mitteilung über den Rücktritt des einstigen Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Chrysler, Schrempp, ein weiterer Vergleich geschlossen worden sein, der aber nicht öffentlich bekanntgemacht wurde, vgl. Schneider, BB 2018, 1986, 1995; Stuttgarter Zeitung v. 16. 12. 2016, https://www.stuttgarter-zeitung. de/inhalt.schrempp-ruecktritt-daimler-schliesst-vergleich-mit-klaegern.fd40cf1f-f091-4ebc969b-a7afdb174094.html (zuletzt aufgerufen am 29. 04. 2019). 18 Resnik, 30 U. C. Davis L. Rev. 835, 839 (1997). 19 Vgl. allgemein Galanter, 1 J. Empir. Legal. Stud. 459 (2004); Langbein, 122 Yale L. J. 522, 569 (2012). 14
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
das nicht zuletzt angesichts der hohen Streitwerte beträchtliche Prozessrisiko ebenso eine Rolle wie die erheblichen Kosten, die regelmäßig im Rahmen der für das amerikanische Zivilprozessrecht charakteristischen pretrial-Phase an‑ fallen.20 Mit Blick auf die Kostenersparnis und die Effizienzgewinne werden Vergleiche im Kontext von class actions daher allgemein begrüßt, nicht zuletzt von den Gerichten.21 Prozessökonomischen Überlegungen kommt bei der class action ein erheblicher Stellenwert zu.22 Daneben kann auch der Gedanke eine Rolle spielen, dass die Kläger und ihre Anwälte als private attorneys general Ziele durchsetzen, die über das reine Kompensationsinteresse der Summe der Gruppenmitglieder hinausreichen, indem ihr Vorgehen abschreckende Wirkung entfaltet – gegenüber dem konkreten Schädiger und auch darüber hinaus.23 Die Praxis der class action ist allerdings vor allem das Ergebnis und zugleich das Substrat eines dynamischen Prozesses ständiger Umformung und Fortentwick‑ lung, der seit mehreren Jahrzehnten anhält, ohne dass die Aussicht bestände, dass er irgendwann einen statischen Zielzustand erreicht.24 Seine Hauptakteu‑ re sind unternehmerisch tätige Klägeranwälte, die in einem mitunter stark po‑ litisierten Umfeld25 in Konkurrenz miteinander und in Wechselwirkung mit ihren Prozessgegnern ständig neue Innovationen einführen und auf ebensol‑ che der Gegenseite reagieren.26 Vergleiche im Rahmen von class actions sind dabei nicht zuletzt ein – bisweilen äußerst lukratives Geschäftsmodell – für spezialisierte Klägerkanzleien. Andererseits können sie auch für die beklagten Unternehmen reizvoll sein, da sie aufgrund des opt out-Systems eine schnel‑ le und umfassende Lösung für Haftungsfälle bieten können. Sie haben sich zu 20
Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.
21 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:44. 22 Vgl. ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 1.03,
Comment b. Rubenstein, Newberg on Class Action § 1:8. Der Ausdruck „private attorney gen‑ eral“ wurde in den USA erstmals in einem Urteil aus dem Jahre 1943 verwendet, also in der Zeit des New Deal, vgl. Assoc. Indus. of New York v. Ickes, 134 F. 2d 694, 704 (2d Cir. 1943), hat aber deutlich frühere Ursprünge, insbesondere im Zusammenhang mit der Strafverfolgung. Zum Ganzen eingehend Rubenstein, 57 Vand. L. Rev. 2129, 2136 (2004). 24 Vgl. zum Ganzen Bone, 70 B. U. L. Rev. 213 (1990); D. Marcus, 90 Wash. U. L. Rev. 587 (2013); ders., 86 Fordham L. Rev. 1785 (2018); Yeazell, From Medieval Group Litigation to the Modern Class Action. 25 Die class action ist hat den letzten Jahrzehnten mehrfach gesetzgeberische Initiativen hervorgerufen, die darauf abzielten, ihr Missbrauchspotential einzudämmen, so der PSLRA von 1995 und der CAFA von 2005. Das Gesetzgebungsvorhaben eines „Fairness in Class Ac‑ tion Litigation and Furthering Asbestos Claim Transparency Act of 2017“ (115th Congress 2017–2018, H. R. 985), der den Anwendungsbereich der class action stark beschnitten hätte, vgl. https://www.congress.gov/bill/115th-congress/house-bill/985 (zuletzt aufgerufen am 30. 04. 2019), scheint angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im US‑Repräsentantenhaus gescheitert zu sein, vgl. https://www.reuters.com/article/legal-us-otc-classaction/class-actionreform-isnt-dead-its-just-not-coming-from-congress-idUSKCN1OR1G1 (zuletzt aufgerufen am 30. 04. 2019). 26 Vgl. zum Ganzen Coffee, Entrepreneurial Litigation. 23 Vgl.
§ 2: Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz
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einem charakteristischen Element des us-amerikanischen Zivilprozessrechts entwickelt. Der direkt auf einen Vergleich ausgerichteten Lösung des WCAM wird re‑ gelmäßig attestiert, Ausdruck einer charakteristischen Eigenart der niederlän‑ dischen Rechtskultur zu sein. Es ist die Rede vom einvernehmliche Lösungen bevorzugenden „Poldermodell“27, aber auch von der in der Entstehungszeit des WCAM verbreiteten Besorgnis, die Herausbildung einer „claimcultuur“ (Kla‑ gekultur) nicht weiter befördern zu wollen.28 Jedoch wurde in den Niederlan‑ den kürzlich eine neue Regelung zum kollektiven Rechtsschutz eingeführt, die eine streitige Entscheidung über Schadensersatzforderungen ermöglicht.29 Die Einführung des WCAM war damals hingegen auch eine Reaktion auf die Er‑ kenntnis, dass es dem niederländischen Prozessrecht an einem Instrument man‑ gelte, effektiv mit bestimmten Situationen umzugehen, in denen Massenschä‑ den auftreten.30 Auch haben die hohen Prozesskosten in den Niederlanden für potentielle Kläger vielfach eine prohibitive Wirkung, zumal auch im Falle des Obsiegens für die Anwaltskosten nur standardisierte Sätze erstattet werden, nicht aber die tatsächlich angefallenen Kosten, die höher sein können.31 In Deutschland fehlt es noch an Erfahrungen mit Vergleichen im kollek‑ tiven Rechtsschutz. Eine „Vergleichskultur“ hat sich in diesem Bereich noch nicht entwickelt.32 Es ist offen, ob dies in Zukunft geschehen wird. Der Ver‑ gleichdruck für die Beklagten scheint jedenfalls nicht übermäßig stark zu sein, nicht zuletzt weil das KapMuG und die Musterfeststellungsklage eine Verurteilung auf Leistung auf der Ebene des Gruppenverfahrens nicht vor‑ sehen.33 Dass die Furcht vor Reputationsschäden Unternehmen in die Enge treibt,34 ist angesichts der Erfahrungen mit VW im Abgasskandal zumindest keine zwingende Schlussfolgerung.35 Ob insbesondere kleine und mittlere Un‑ ternehmen unter Vergleichsdruck stehen,36 ist ungeklärt. Andererseits kann es möglicherweise einen Vergleich begünstigen, wenn die beklagten Unterneh‑ 27 Vgl. dazu van Rossum, Dutch Legal Culture, in: Chorus/Hondius/Voermans, Introduc‑ tion to Dutch Law, S. 13, 21 ff. 28 Vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 311, 341 m. w. N. 29 Vgl. Staatsblad 2019, 130. 30 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 328. 31 Vgl. Snijders, Civil Procedure, in: Chorus/Hondius/Voermans, Introduction to Dutch Law, S. 245, 261 ff., insb. 276. 32 Vgl. Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, Rn. 163. 33 Vgl. die Aussage von Meller-Hannich, in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 19/15, S. 18. 34 So aber Geissler, GWR 2018, 189, 191; Keller/Kolling, BKR 2005, 399, 400; vgl. auch Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 370. 35 Vgl. die Aussage von Augenhofer, in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 19/15, S. 14; vgl. auch Stadler, VuR 2018, 83, 87 unter Ver‑ weis auf das kurze Gedächtnis von Kunden und Kapitalmärkten. 36 So Wernicke, in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 19/15, S. 21.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
men ein Interesse daran haben die Kundenbeziehung zu den Klägern zu erhalten.37 Ob es zu Vergleichen kommt, hängt allerdings auch maßgeblich davon ab, wie die Parteien die Prozessrisiken einschätzen und welche Strategien Klä‑ ger und Beklagte verfolgen.38
37 38
Stadler, VuR 2018, 83, 88. Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 3.
§ 3: Die untersuchten Verfahrensformen und ihre Struktur I. Vorüberlegungen Diese Untersuchung setzt sich mit der Problematik der Genehmigung von Ver‑ gleichen im kollektiven Rechtsschutz anhand der amerikanischen class ac‑ tion, des niederländischen WCAM, des deutschen KapMuG sowie der Mus‑ terfeststellungsklage gemäß §§ 606 ff. ZPO auseinander. Im Folgenden sollen die maßgeblichen Regelungen vorgestellt und miteinander kontrastiert werden. Dazu wird zunächst jeweils ein Überblick über die normativen Grundlagen ein‑ schließlich ihrer historischen Entwicklung gegeben, um dann jeweils den Ab‑ lauf des Verfahrens zu beschreiben. Dabei geraten insbesondere folgende Fra‑ gen ins Blickfeld: Ist das Gericht in den Verhandlungsprozess im Vorfeld des Vergleichs eingebunden? Zu welchen Zeitpunkten im Verfahren muss sich das Gericht mit der Fairness des Vergleichs auseinandersetzen? Welches Gericht ist für eine Genehmigungsentscheidung zuständig? Trifft das Gericht eine ein‑ heitliche Genehmigungsentscheidung oder geht es schrittweise vor? Haben die Gruppenmitglieder eine Möglichkeit, gegenüber dem Gericht Stellung zu dem Vergleich zu nehmen? Können sie aus dem Vergleich austreten?
II. USA: die class action gemäß Rule 23 FRCP 1. Normative Grundlagen In der amerikanischen Gesetzgebung zu class actions auf Bundesebene fin‑ den sich lediglich an drei Stellen spezifische Regelungen, die im Zusammen‑ hang mit einem Verfahrensabschluss im Wege eines Vergleichs stehen: in Rule 23 (e) FRCP, in 28 U.S.C. §§ 1712 ff. und in 15 U.S.C. § 78u–4 (5) sowie (7). Die erstgenannte Norm regelt dabei die Grundlagen der richterlichen Kon‑ trolle eines Vergleichs; um deren Effektivität zu erhöhen, wurde sie zunächst im Jahre 20031 und jüngst noch ein weiteres Mal ab Dezember 2018 tiefgrei‑ fend neu gefasst. Ihr zufolge kann das Verfahren nur noch mit Zustimmung des Gerichts beendet werden, sobald eine class zertifiziert wurde. Dies gilt für 1 Vgl. dazu Herr, Annotated Manual on Complex Litigation, Fourth, § 21, Author’s Com‑ ments, Overview of New Manual; Wright/Kane, Law of Federal Courts, S. 524.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
den Fall eines Vergleichsschlusses (settlement, compromise) ebenso wie für eine Klagerücknahme (voluntary dismissal). Als Beurteilungsmaßstab dafür, wann diese Zustimmung zu erteilen ist, hatte Rule 23 (e) (2) FRCP den Ge‑ richten bis Dezember 2018 lediglich die knappe Vorgabe gemacht, dass der Vergleich „fair, reasonable, and adequate“ sein muss. Nunmehr konkretisiert die Norm diesen Maßstab durch eine Aufzählung mehrerer Kriterien. Die neue Fassung von Rule 23 (e) (1) FRCP regelt jetzt zudem die Voraussetzungen, unter denen ein Gericht die class members über einen Vergleich benachrich‑ tigt; es stellt sie im Rahmen des vorgelagerten Genehmigungsprozesses des sogenannten preliminary approval fest. Im Übrigen befasst sich Rule 23 (e) FRCP in den Absätzen (3) und (4) mit Verfahrensfragen und gewährt im Ab‑ satz (5) allen Gruppenmitgliedern (class members) das Recht, im Zuge der richterlichen Überprüfung Einwände gegen den Vergleichsvorschlag anzubrin‑ gen.2 Mit dem CAFA sind 2005 einige Detailregelungen hinzugekommen: 28 U.S.C. § 1712 befasst sich mit den Voraussetzungen, unter denen sogenann‑ te coupon settlements, also Vergleiche, bei denen die Geschädigten mit Sach‑ leistungen abgefunden werden, genehmigungsfähig sind. 28 U.S.C. §§ 1713 und 1714 treffen Bestimmungen über die Verteilung der Vergleichssumme im Verhältnis zwischen den class members und ihren Anwälten beziehungswei‑ se den class members untereinander. Schließlich regelt 28 U.S.C. § 1715, dass bestimmte Behörden über den Vergleichsvorschlag unterrichtet werden müs‑ sen. Für securities class actions – also bei kapitalmarktrechtlichen Streitigkei‑ ten – existieren im Rahmen des PSLRA einige Sonderregelungen: 15 U.S.C. § 78u–4 (5) schränkt die Möglichkeit ein, Vergleiche und hiermit verbundene Vorgänge geheim (under seal) zu halten; 15 U.S.C. § 78u–4 (7) spezifiziert ei‑ nige Gesichtspunkte, über die die Gruppenmitglieder im Zusammenhang mit einem Vergleich informiert werden müssen. Der Ausgangspunkt der gesetzli‑ chen Regelungen ist demnach in erster Linie die Situation, mit der ein Gericht konfrontiert ist, sobald ein Vergleichsvorschlag ausgehandelt worden ist. Der Verhandlungsprozess selbst fällt dagegen zunächst in den Raum privatauto‑ nomer Gestaltungsfreiheit. Indem es Vergleiche nur akzeptiert, wenn das Gericht sie zuvor als angemes‑ sen bewertet hat, macht das amerikanische Zivilprozessrecht bei der class ac‑ tion bis zu einem gewissen Grad eine Ausnahme von seinem Grundsatz, den Parteien jederzeit freie Hand zu lassen, einen Rechtsstreit einvernehmlich bei‑ zulegen.3 Ein Vergleich ist damit nicht mehr allein eine Angelegenheit der Parteien – vielmehr hat das Gericht das letzte Wort. Auch wenn dieses Ge‑ nehmigungserfordernis eine Ausnahme darstellt, ist es dem amerikanischen Zi‑ vilprozessrecht auch außerhalb des Bereichs der class action und der ähnlichen 2 Vgl. 3 Vgl.
Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.4. Rubenstein, Newberg on Class Action, § 13:44.
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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derivative action gemäß Rule 23.1 FRCP nicht völlig fremd. Die Beendigung eines Rechtsstreits mittels eines Vergleichs bedarf dem common law zufolge in zahlreichen Konstellationen der Zustimmung des Gerichts, vor allem wenn die‑ ser die Rechte Dritter berührt oder wenn eine Partei in der Funktion eines Ver‑ treters – etwa eines Minderjährigen oder Geschäftsunfähigen – auftritt.4 Wei‑ terhin bestehen Genehmigungserfordernisse für consent decrees in kartell-5, kapitalmarkt-6 und insolvenzrechtlichen7 Fällen auch dann, wenn es sich nicht um eine class action handelt. Dass Vergleiche in class action-Verfahren vom Gericht überprüft werden müssen, ist im amerikanischen Recht seit langem verankert. Schon Rule 23 (c) FRCP von 1937 bestimmte: A class action shall not be dismissed or compromised without the approval of the court.8
Mit der Reform von 1966 wurde aus Absatz (c) dann Absatz (e). 2003 wurde der Wortlaut schließlich neu gefasst und erheblich erweitert. In Absatz (e) (2) wurde mit dem Passus, dass der Vergleich „fair, reasonable, and adequate“ sein müsse, erstmals ein ausdrücklicher Maßstab für die Kontrolle von Vergleichen normiert. Im Einklang mit der Zielsetzung, bestehende „best practices“ zu kodi‑ fizieren, anstatt inhaltlich neues Recht zu schaffen,9 wurde diese Formulierung dem vorhandenen case law entnommen.10 Weiterhin wurden damals detaillierte Verfahrensvorschriften ergänzt, wobei die von Absatz (e) (4) eingeräumte Mög‑ lichkeit hervorzuheben ist, angesichts des Vergleichs aus dem Verfahren heraus‑ 4 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.14 m. w. N.; vgl. auch Frische, Verfah‑ renswirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 85 mit zahlr. Bsp.; Weisburst, 28 J. Leg. Stud. 55, 73 ff. (1999). 5 Nach dem sog. Tunney Act, i. E. 15 U.S.C. § 16 (e) und (f ), gilt dies für Vergleiche, die das DOJ mit einem Beschuldigten schließt; vgl. dazu Weisburst, 28 J. Leg. Stud. 55, 92 ff. (1999). 6 Genehmigt warden müssen Vergleiche der SEC mit einem Beschuldigten, vgl. S. E. C. v. Bank Of America Corp., 653 F. Supp. 2d 507 (S.D.N.Y. 2009); zur Verschärfung des Prüfungs‑ maßstabs durch die genannte Entscheidung vgl. Radvany, 15 Cardozo J. Conflict Resol. 665 (2014). 7 Nach den Federal Rules of Bankruptcy Procedure, Rule 9019 (a); vgl. dazu Weisburst, 28 J. Leg. Stud. 55, 76 ff. (1999). 8 Dieser Wortlaut der Regelung von 1937 ist bei Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23 App.01 abgedruckt. Die Formulierung findet sich im Rahmen des Entstehungsprozesses der FRCP offenbar erstmals in den „Proceedings of the Meeting of the Advisory Committe on Rules for Civil Procedure, November 1, 1937“ (http://www. uscourts.gov/uscourts/RulesAndPolicies/rules/Minutes/CV11-1937-min.pdf, zuletzt aufgeru‑ fen am 11. 06. 2019), S. 25. Ein frühes Beispiel für eine gerichtliche Genehmigung eines Ver‑ gleichs im Rahmen einer class action bietet etwa Martin v. United Standard Oilfund of Ameri‑ ca, Inc., et al., 30 F. Supp. 864 (S.D.N.Y. 1939). 9 Vgl. Minutes of Advisory Committe on Civil Rules (Oct. 2000), S. 6 (http://www. uscourts.gov/uscourts/ RulesAndPolicies/rules/Minutes/CV10–2000-min.pdf, zuletzt aufgeru‑ fen am 16. 04. 2015). 10 Vgl. Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 376 (2005).
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
zuoptieren (second opt out). In einer Hinsicht wurde die Prüfungspflicht des Gerichtes allerdings eingeschränkt: Bezog sie sich in der alten Formulierung noch auf die „class action“ als Ganzes, erfasst sie nunmehr nur noch „[t]he claims, issues, or defenses of a certified class“. Indem diese Neuformulierung ausdrücklich hervorhebt, dass die Vorschrift nur für zertifizierte classes gilt, wurde der Streit beigelegt, ob ein Vergleich ebenfalls genehmigungspflichtig ist, wenn zum Zeitpunkt seines Abschlusses zwar möglicherweise eine class ac‑ tion in Frage kommt, aber bislang keine certification erfolgt ist.11 Sie hat aber noch eine weitere Auswirkung: Ein isolierter Vergleich mit dem Repräsentativ‑ kläger erscheint nunmehr möglich, ohne dass das Gericht hierüber zu entschei‑ den hat. Der Gegenseite verschafft das die taktische Option eines sogenannten „pick off“, also die Möglichkeit, die Prozessführung der Gruppe zu behindern, indem sie den Repräsentativkläger mit einem attraktiven individuellen Ver‑ gleichsangebot aus dem Verfahren herauslöst.12 Neben den gesetzlichen Vorschriften soll an dieser Stelle bereits auf weitere Quellen hingewiesen werden. Eine Sonderstellung nimmt das vom Federal Ju‑ dicial Center13 herausgegebene Manual for Complex Litigation ein. Es handelt sich um ein Handbuch für Richter, das diesen unter umfassender Darstellung der Rechtsprechung Anleitungen zum Umgang mit Fällen auf dem Gebiet des kollektiven Rechtsschutzes gibt.14 Herr bezeichnet es in seinen Anmerkungen voller Hochachtung als „the culmination of decades of experience of scores of prominent and capable judges.“15 Dementsprechend messen ihm zahlreiche Richter faktisch eigenständige Autorität bei – obwohl eine solche von seinen Herausgebern ausdrücklich abgelehnt wird.16 Das Manual will primär Lösungs‑ ansätze vorschlagen, die in eine sich beständig fortentwickelnde Rechtspraxis einfließen sollen, ohne eine bestimmte Vorgehensweise autoritativ vorzuschrei‑ ben. Eine rigide Übernahme seiner Inhalte birgt demgegenüber die Gefahr, die Fortentwicklung der Rechtspraxis zu behindern.17 Aber auch sofern ihm nur 11 Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.160. 12 Advisory Committee on Civil Rules, Agenda Book 2016/04, S. 109. Vgl.
zur Proble‑ matik eines „pick off“ auch Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 4.03[8]; Rubenstein, Newberg on Class Actions, §§ 2:10 ff. 13 Vgl. den Eintrag zum „Federal Judicial Center“ in Garner, Black’s Law Dictionary: „An agency in the judicial branch of the federal government responsible for researching judi‑ cial administration and for training judges and employees of the federal judiciary. Its director is appointed by a seven-member board presided over by the Chief Justice of the United States. 28 USCA § 620.“ 14 Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, Introduction: Auch wenn das Manual primär auf Richter an Bundesgerichten zugeschnitten ist, soll es ausdrücklich auch für ihre Kollegen an den einzelstaatlichen Gerichten und für Rechtsanwälte von Nutzen sein. 15 Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, Introduction, Author’s Com‑ ments. 16 Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, Introduction. 17 Vgl. Willging, 148 U. Pa. L. Rev. 2225, 2233 ff. (2000) (unter Bezugnahme auf das Ma‑ nual for Complex Litigation, Third).
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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empfehlender Charakter attestiert wird, beeinflusst es in vielen Fällen richter‑ liche Entscheidungen und zwar regelmäßig, ohne dass dies durch Zitate kennt‑ lich gemacht würde.18 Es fungiert somit als Primärquelle aus eigenem Recht und ist angesichts der breiten Bezugnahme auf die Rechtsprechung zugleich als Sekundärquelle von Bedeutung. Eine weitere bedeutsame Quelle stellen die Principles of Aggregate Litiga‑ tion des American Law Institute dar.19 Diese Einrichtung hat es sich zur Auf‑ gabe gemacht, einzelne Bereiche des common jeweils in sogenannten „restate‑ ments“ zusammenzufassen und dabei ihre Grundprinzipien herauszuarbeiten.20 Diese Werke, die kommentierte Regelungsvorschläge enthalten, sind zwar for‑ mal gesehen nicht bindend; sie bieten jedoch Aufschluss über die Grundlinien der Rechtslage und die maßgeblichen Diskussionspunkte.
2. Ausgestaltung des Verfahrens Das Kernproblem der class action ist es zu gewährleisten, dass die Mitglieder der class angemessen repräsentiert werden. Denn nur so lässt sich rechtfertigen, sie an das Ergebnis eines Verfahrens zu binden, an dem sie nicht aktiv betei‑ ligt sind. Dem mit der Sache befassten Gericht obliegt es festzustellen, ob ver‑ schiedene Voraussetzungen erfüllt sind, die dem Verfahren diese Legitimation verschaffen. Das Gericht ist dabei ein District Court, was bedeutet, dass ein einzelner Richter die Genehmigungsentscheidung trifft und nicht ein Richter‑ kollegium. Eine Jury ist nicht an ihr beteiligt. In einzelnen Fällen kann die erst‑ instanzliche Entscheidung aber in der Rechtsmittelinstanz vor einem Court of Appeals überprüft werden. Das Verfahren der class action gliedert sich in drei Abschnitte: eine Zulas‑ sungsphase, eine Entscheidungs- beziehungsweise Vergleichsphase und eine Verteilungsphase,21 wobei die ersten beiden Schritte im Rahmen einer so‑ genannten settlement class action zeitlich zusammenfallen können. In der Zu‑ lassungsphase erfolgt die certification der class. Diese soll zunächst sicherstel‑ len, dass es überhaupt gerechtfertigt ist, die in der Klage bezeichnete Gruppe22 im Rahmen eines Rechtsstreits zusammenzufassen, und sodann, dass gegebe‑ nenfalls geeignete Repräsentanten und Anwälte für sie ausgewählt wurden. Ei‑ nigen sich diese Vertreter in der Folge mit der Gegenseite auf einen Vergleich, 18 Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, Introduction, Author’s Com‑ ments. 19 ALI, Principles of Aggregate Litigation. 20 White, 15 Law & Hist. Rev. 1, 2 f. (1997); Zekoll, Das American Law Institute – Ein Vorbild für Europa?, S. 103. 21 So Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 35. 22 Diese wird regelmäßig die Klägerseite darstellen; sie kann aber im Falle der sogenann‑ ten defendant class action auch auf Beklagtenseite stehen. Allerdings sind defendant class ac‑ tions „as rare as unicorns“, so Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 388 (2000).
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
kommt dem Gericht zum Abschluss dieser Vergleichsphase mit dem Genehmi‑ gungserfordernis eine weitere Aufgabe zu. Beurteilt es im Rahmen der certifi‑ cation, ob die Voraussetzungen der class action als spezieller Verfahrensform vorliegen, muss es nun das Ergebnis dieses Verfahrens direkt in den Blick neh‑ men und darüber befinden, ob der Vergleich fair ist. Im Anschluss entscheidet das Gericht noch über die Höhe der Vergütung der Anwälte der class. Gegebe‑ nenfalls wird sodann in der abschließenden Verteilungsphase die Urteils- oder Vergleichssumme gemäß eines zuvor festgelegten Verfahrens an die Mitglieder der class verteilt.
a) Die certification einer class aa) Voraussetzungen Die certification stellt gleichsam das Eingangstor in das Verfahren der class action dar und ist als sein zentrales Element von immenser praktischer Be‑ deutung.23 Gemäß Rule 23 (a) FRCP müssen zunächst vier Kriterien erfüllt sein, damit ein Rechtsstreit als class action durchgeführt werden kann: Ers‑ tens muss die class gemäß Rule 23 (a) (1) FRCP über derart zahlreiche Mitglie‑ der verfügen, dass eine subjektive Klagehäufung (joinder) nicht praktikabel ist (numerosity). Tatsächlich geht es dabei weniger um die bloße Zahl der mög‑ lichen Gruppenmitglieder, als vielmehr um die Frage, ob man deren Ansprü‑ che praktikabel auch anders als im Wege einer class action zusammenfassen könnte.24 Wenn eine Klagehäufung möglich, aber nicht praktikabel ist, schadet dies demnach nicht.25 Zweitens ist gemäß Rule 23 (a) (2) FRCP erforderlich, dass die class durch gemeinsame Rechtsfragen oder Tatsachen gekennzeichnet ist (commonality), wobei es ausreicht, wenn eine derartige Übereinstimmung bezüglich eines einzelnen Gesichtspunkts besteht.26 Drittens müssen gemäß Rule 23 (a) (3) FRCP die Ansprüche27 der Repräsentativkläger (class represen‑ tatives28) typisch für die class sein – nicht aber notwendigerweise identisch mit 23 Vgl.
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 7:18. Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 2.03.; vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:12 zu den im „Graubereich“ von 20 bis 40 Gruppenmitgliedern maßgeb‑ lichen Kriterien. 25 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:14. 26 Wal-Mart Stores Inc. v. Dukes, 131 S. Ct. 2541, 2556 (2011); vgl. auch Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 2.04; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:20. 27 Oder im – seltenen – Fall einer defendant class action: ihre Einwendungen, Einreden und sonstigen Gegenrechte. 28 Zur Terminologie vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 9:2, dort Fn. 21: Der Kreis der class representatives kann (muss aber nicht) enger sein als derjenige der named plaintiffs. Er umfasst nur diejenigen named plaintiffs, die auf Vorschlag des class counsel vom Gericht zu Repräsentanten ernannt wurden. Named plaintiffs sind dagegen alle Mitglieder der class, die in der Klageschrift namentlich bezeichnet werden. 24
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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den Ansprüchen der anderen Gruppenmitglieder29 (typicality). Viertens muss gemäß Rule 23 (a) (4) FRCP gesichert sein, dass die Repräsentativkläger die In‑ teressen der class angemessen vertreten werden (adequacy of representation). Die ersten beiden Voraussetzungen betreffen also die Gruppe in ihrer Gesamt‑ heit, wobei die zweite Voraussetzung zugleich den Kreis der Personen umreißt, aus dem ihre Repräsentanten ausgewählt werden. Die letzten beiden Vorausset‑ zungen formulieren dagegen individuelle Anforderungen an diese Repräsen‑ tanten.30 Je nachdem, um welche Art von class action im Sinne von Rule 23 (b) FRCP es sich handelt, kommen noch unterschiedliche weitere Voraussetzungen hinzu. Von hervorgehobener praktischer Bedeutung sind insofern vor allem die von Rule 23 (b) (3) FRCP für die opt out class action aufgestellten Erfordernisse, dass die der Gruppe gemeinsamen Sach- und Rechtsfragen gegenüber den nur für einzelne Individuen relevanten Gesichtspunkten überwiegen (predominan‑ ce), und dass eine class action in der konkreten Situation anderen Verfahrens‑ formen überlegen sein muss (superiority). Daneben gibt es unter den dort ge‑ nannten Voraussetzungen class actions, aus denen die Gruppenmitglieder nicht herausoptieren können (mandatory class actions). Gemäß Rule 23 (b) (1) FRCP kann dabei auch Schadensersatz geltend gemacht werden. Rule 23 (b) (2) FRCP betrifft dagegen Verfahren, die nur auf die Verurteilung zu einer bestimmten Handlung oder Unterlassung gerichtet sind. Die Rechtsprechung hat die in Rule 23 (a) und (b) FRCP enthaltenen Krite‑ rien in einer Vielzahl von Entscheidungen detailliert ausgeformt. Insbesondere gibt es ausführliche obergerichtliche Anweisungen, seitdem der Gesetzgeber 1998 mit Rule 23 (f ) FRCP den Weg eröffnete, Rechtsmittel unmittelbar (inter‑ locutory review) gegen eine – stattgebende oder ablehnende – Zertifizierungs‑ entscheidung einzulegen.31 Die certification einer class steht nicht zur Disposi‑ tion der Parteien, sondern das Gericht kann auch einen Antrag ablehnen, dem die andere Seite nicht entgegentritt.32 Sie stellt keinen einmaligen Akt dar; das Gericht ist auch nach einer positiven Entscheidung angehalten, fortwährend zu prüfen, ob ihre Voraussetzungen weiterhin vorliegen und kann sie notfalls nach‑ träglich wieder aufheben (decertification).33
29 Str., vgl. Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 2.05; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1764 (dort bei Fn. 3). 30 Vgl. Beuchler, Class Actions und Securities Class Actions, S. 81. 31 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 7:18; zuvor konnte die Zertifizierungsent‑ scheidung überwiegend nur zusammen mit einem Endurteil angegriffen werden, da Rechts‑ mittel grundsätzlich nur gegen endgültige Entscheidungen bestehen, vgl. 28 U.S.C. § 1291. 32 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 7:3. 33 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 7:38.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
bb) Settlement class actions Ein Vergleich kann unabhängig davon abgeschlossen werden, ob bereits eine class zertifiziert wurde oder nicht. Der Begriff der settlement class action be‑ deutet dabei nicht immer, dass die Parteien von vornherein mit einem Vergleich an das Gericht herantreten, ohne dass bislang ein Rechtsstreit zwischen ihnen anhängig war; dies ist zwar möglich, aber nicht zwingend. Eine settlement class action kann auch dann vorliegen, wenn das Verfahren bereits betrieben wurde – und etwa pre-certification discovery stattgefunden hat.34 Entscheidend ist, dass die Parteien beantragen, dass das Gericht zugleich über die certification und die Genehmigung ihres Vergleichs gemäß Rule 23 (e) FRCP entscheidet. Die beiden Verfahrensschritte fallen dann in einem Zeitpunkt zusammen. Solche settlement class actions sind in der Praxis weit verbreitet und machen sogar den überwie‑ genden Teil der Fälle aus.35 In der Literatur sind sie angesichts ihrer erhöhten Risiken allerdings nicht unumstritten.36 Der Prüfungsmaßstab für die certifica‑ tion ist grundsätzlich unabhängig vom Zeitpunkt des Vergleichsschlusses; im Rahmen einer settlement class action entfällt lediglich das manageability-Kri‑ terium, das bei einer opt out class action gemäß Rule 23 (b) (3) FRCP sonst in die Beurteilung einfließt, ob das Verfahren der class action überlegen ist (supe‑ riority).37 Soweit eine class gemäß Rule 23 (b) (3) FRCP zertifiziert wird, haben die Gruppenmitglieder die Gelegenheit, aus dem Verfahren herauszuoptieren.
b) Die Genehmigung des Vergleichs und ihr verfahrensmäßiger Ablauf Es hat sich weitgehend ein zweischrittiger38 Ansatz durchgesetzt, der erfordert, dass sich das zuständige Gericht an zwei Punkten im Verfahren mit der Fairness eines Vergleichs auseinandersetzt: erstens im Hinblick auf die vorläufige (pre‑ liminary approval) und zweitens im Hinblick auf die endgültige Genehmigung des Vergleichs (final approval).
aa) Das preliminary approval und die Benachrichtigung der Gruppenmitglieder Der Prüfungspunkt einer vorläufigen Genehmigung lässt sich erst aus dem Ge‑ setz ableiten, seitdem Rule 23 (e) (1) (B) FRCP im Jahr 2018 neu gefasst wurde; 34 Vgl. zur pre-certification discovery: Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.14; Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 4.05[3], § 4.06. 35 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 1:18 (dort Fn. 14) m. w. N. 36 Kritisch etwa Redish, Wholesale Justice, S. 177. 37 Amchem Products, Inc. v. Windsor, 521 U. S. 591, 620 (1997); vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 4:77. 38 Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.63, Author’s Comments, Procedure. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10 spricht dagegen von einem dreistu‑ figen Vorgehen und nennt die Benachrichtigung der class (notice) als Zwischenschritt. Inhalt‑ lich ergeben sich hieraus aber keine Unterschiede.
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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zuvor basierte er völlig auf dem einschlägigen Fallrecht.39 Er bedeutet, dass ein Gericht, nachdem ihm die Parteien einen Vergleichsvorschlag vorgelegt und dessen vorläufige Genehmigung beantragt haben (motion for preliminary appro‑ val), zunächst darüber befinden muss, ob der Vergleichsvorschlag hinreichende Anhaltspunkte für seine Fairness bietet, um es zu rechtfertigen, die Mitglieder der class förmlich über ihn zu informieren (notice) und eine abschließende An‑ hörung (fairness hearing) anzuberaumen.40 Angesichts dieser Funktion halten einige Gerichte die Bezeichnung als „Genehmigung“ (approval) für verfehlt; sie impliziere, dass sich das Gericht – verfrüht – zu Gunsten des Vergleichs fest‑ lege, bevor die Betroffenen ihre Einwände vorbringen könnten.41 Auch das Ma‑ nual for Complex Litigation spricht in diesem Sinne von „preliminary fairness review“ oder einer „preliminary fairness evaluation“.42 Die Principles of Ag‑ gregate Litigation positionieren sich in § 3.03 (a) noch deutlicher: The purpose of the preliminary review is to determine whether any defects in the pro‑ posed notice or other formal or substantive or irregularities exist that warrant withholding notice. The preliminary review is not, however, a substitute for a thorough and careful re‑ view of the settlement at the time of the actual fairness hearing […].43
Die überwiegende Mehrheit der Gerichte bedient sich demgegenüber weiterhin der hergebrachten Terminologie.44 Manche von ihnen deuten die vorläufige Ge‑ nehmigung dabei in einer Weise, die der oben geschilderten Ansicht des Manual for Complex Litigation und des ALI diametral zuwiderläuft: Sie messen dem Umstand, dass die vorläufige Genehmigung erteilt wurde, Vermutungswirkung zugunsten der Fairness des Vergleichs im Rahmen von dessen endgültiger Beur‑ teilung bei.45 Die vorliegende Untersuchung wird später noch näher auf diese Problematik eingehen.46 Auch unabhängig von diesem Streit kann man feststellen, dass die Gerichte beim preliminary approval zwei gegensätzliche Bestrebungen miteinander in Einklang bringen müssen: Einerseits ist Zurückhaltung geboten. Sie müssen bei der vorläufigen Genehmigung eine weniger intensive Prüfung vornehmen, um 39 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10; nach Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.5 m. w. N. kann auf diesen Prüfungspunkt im Einzel‑ fall auch verzichtet werden. 40 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.14; vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10 unter anderem unter Verweis auf Puglisi v. TD Bank, N. A., 2015 WL 574280 (E. D. N. Y. 2015). 41 Vgl. etwa Nilsen v. York County, 228 F.R.D. 60, 62 (D. Me. 2005); hierzu Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:11. Dieselbe Befürchtung bringt das ALI, Principles of Aggre‑ gate Litigation § 3.03, Comment a. zum Ausdruck. 42 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. 43 ALI, Principles of Aggregate Litigation § 3.03 (a). 44 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:11; ALI, Principles of Aggregate Li‑ tigation, § 3.03, Comment a. 45 Vgl. dazu Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:45. 46 Siehe unten S. 344 f.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
die endgültige Beurteilung der Fairness des Vergleichs nicht inhaltlich vorweg‑ zunehmen. Andererseits sollen unnötiger Aufwand und Kosten sowie die Be‑ lastungen für die Mitglieder der class vermieden werden, die entständen, wenn man sie über einen Vergleich informierte, dessen mangelnde Genehmigungs‑ fähigkeit von vornherein feststeht.47 Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird anhand einer Auswahl von Entscheidungen analysiert werden, wie sich diese Anforderungen auf den Prüfungsmaßstab der vorläufigen Genehmigung auswirken.48 Falls die certification bis zum Vergleichsschluss noch nicht stattgefunden hat (settlement class action), werden die Parteien sie zusammen mit der Genehmi‑ gung des Vergleichs beantragen.49 Parallel zur Differenzierung zwischen dem preliminary und dem final approval findet in diesem Fall zunächst die vorläu‑ fige (conditional) certification und später erst die eigentliche certification statt.50 Sobald das Gericht den Vergleich vorläufig genehmigt und gegebenen‑ falls die class im Hinblick auf ihn vorläufig zertifiziert hat, muss es gemäß Rule 23 (e) (1) FRCP deren Mitglieder über seinen Inhalt informieren. Im Rah‑ men dieser Benachrichtigung werden diese auch auf das vom Gericht anzube‑ raumende fairness hearing gemäß Rule 23 (e) (2) FRCP hingewiesen.51 Falls es sich um eine bereits zuvor zertifizierte opt out-class im Sinne von Rule 23 (b) (3) FRCP handelt, bestimmt Rule 23 (e) (4) FRCP,52 dass die class members zusätz‑ lich darüber benachrichtigt werden sollen, dass sie angesichts des Vergleichs eine weitere Gelegenheit erhalten, freiwillig aus dem Verfahren auszuscheiden (second opt out) und so eine Bindung an jenen vermeiden können.
bb) Das final approval Im Anschluss an das fairness hearing befindet das Gericht schließlich auf Antrag der Parteien darüber, ob es den Vergleich endgültig genehmigt (final approval) und damit seine Bindungswirkung für alle Mitglieder der class begründet, die nicht rechtzeitig aus dem Verfahren herausoptiert haben. Um die Genehmigung erteilen zu können, muss es gemäß Rule 23 (e) (2) FRCP zu dem Schluss kom‑ men, dass der ihm vorgelegte Vergleich „fair, reasonable, and adequate“ ist.
47
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10. Siehe unten S. 197 ff. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:16. Siehe oben S. 22. 50 Kritisch zu dieser Begriffsbildung Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:17. 51 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. 52 Die Regelung wurde im Rahmen der Reform von Rule 23 FRCP im Jahr 2003 ein‑ gefügt. 48 49
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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c) Die Entscheidung des Gerichts über die Höhe der Anwaltsvergütung Dem Gericht obliegt es gemäß Rule 23 (h) FRCP auch, die Höhe der Gebühren, die der class counsel für seine Tätigkeit erhält, auf dessen Antrag hin festzuset‑ zen.53 Diese Kompetenz stellt ein praktisch enorm bedeutsames Regulativ dar, da die Höhe des Anwaltshonorars den zentralen und geradezu vorprogrammier‑ ten Konfliktpunkt zwischen der class und ihren Rechtsbeiständen darstellt: Ein hohes Honorar für die Anwälte kann bedeuten, dass die class members dement‑ sprechend weniger erhalten. Die Ratio, das Gericht auch in diesem Zusammen‑ hang mit einer Wächterrolle zu betrauen, entspricht derjenigen von Rule 23 (e) FRCP: Da die absent class members definitionsgemäß nicht aktiv am Verfah‑ ren teilnehmen, blieben ihre Interessen auch im Hinblick auf die Höhe des An‑ waltshonorars ohne die Entscheidungskompetenz des Gerichts womöglich völ‑ lig unrepräsentiert.54 Die amerikanischen Bundesgerichte sprechen diese Frage in ihren Entscheidungen regelmäßig in einem eigenständigen Abschnitt an, nach‑ dem sie zuvor die Fairness des Vergleichs beurteilt haben. Es handelt sich dann um einen selbständigen Prüfungspunkt.55 Die Kostenentscheidung wird in man‑ chen Verfahren sogar erst in einer separaten Entscheidung gefällt, die ergeht, nachdem der Vergleich bereits vor einiger Zeit genehmigt wurde.56 Denkbar wäre es auch, dass das Gericht zwar dem Antrag auf Genehmigung des Ver‑ gleichs stattgibt, die Entscheidung über die Anwaltsvergütung jedoch aufschiebt, bis ihm die dazu nötigen Informationen vorgelegt wurden. Andererseits werden die beiden Gesichtspunkte in manchen Entscheidungen aufbaumäßig nicht von‑ einander getrennt.57 Auch das Manual for Complex Litigation führt die Gebüh‑ renproblematik inmitten einer Aufzählung von Faktoren an, die dazu dienen sollen, die Fairness eines Vergleichs zu beurteilen.58 Der Unterschied zwischen den beiden Kontrollbefugnissen liegt jedoch darin, dass das Gericht auch eine geringere Anwaltsvergütung festsetzen kann, als beantragt wurde – die Geneh‑ migung des Vergleichs kann es dagegen nur entweder erteilen oder ablehnen.59 Diese Untersuchung wird nicht näher auf die inhaltlichen Anforderungen an ein angemessenes Anwaltshonorar eingehen. Dazu wäre es erforderlich die kos‑ tenrechtliche Struktur der class action umfassend aufzurollen, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. 53 54
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:10. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14. 55 Vgl. etwa In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 183 (S.D.N.Y. 2014); Romero v. La Revise Associates, L.L.C., 58 F. Supp. 3d 411, 422 (S.D.N.Y. 2014). 56 Vgl. etwa In re Fasteners Antitrust Litigation, 2014 WL 296954 (E. D. Pa. 2014). 57 Vgl. etwa Stewart v. USA Tank Sales and Errection Co., Inc., 2014 WL 836212 (W. D. Mo.), wo das Gericht verschiedene Kritikpunkte an dem ihm vorliegenden Vergleich aufführt, die teilweise dessen inhaltliche Fairness und teilweise das Anwaltshonorar betreffen. 58 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.62. 59 Siehe dazu im Einzelnen unten S. 82 ff.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
d) Die Verteilungsphase Nachdem ein Vergleich genehmigt wurde, muss die in ihm enthaltene Rege‑ lung umgesetzt werden. Die Verteilung der Ersatzleistungen richtet sich dabei prinzipiell nach den Bestimmungen, die in der Vergleichsvereinbarung getrof‑ fen wurden. Das Gericht hat aber eine Organisations- und Kontrollfunktion. Es entscheidet auch über eventuell auftretende Streitfragen.60 Wird ein Fonds ein‑ gerichtet, aus dem Leistungen an die Gruppenmitglieder gezahlt werden sol‑ len, betraut das Gericht in der Regel eine externe Stelle mit dessen Verwal‑ tung. Es gibt spezialisierte Unternehmen, die diese Aufgabe gegen eine aus der Vergleichssumme zu zahlende Gebühr übernehmen. Mit Ermächtigung des Ge‑ richts prüfen sie etwa die Berechtigung einzelner Ansprüche und entscheiden in der Folge über Auszahlungen.61 Die Gruppenmitglieder müssen ihre Ansprüche typischerweise gemäß einer im Vergleich festgelegten Frist und Form geltend machen und oftmals auch entsprechende Belege einreichen.62
3. Zusammenfassung Auch wenn eine class action gemäß Rule 23 FRCP durch einen Vergleich ab‑ geschlossen werden soll, wird zwischen der Zulassungsentscheidung (certifi‑ cation) und der das Verfahren abschließenden Entscheidung differenziert. In diesem Sinne tritt die Genehmigung des Vergleichs an die Stelle eines strei‑ tigen Urteils, während der Maßstab der certification weitgehend unabhängig von der Entscheidungsform bleibt. Wenn allerdings eine settlement class von vornherein nur unter der Bedingung dieser endgültigen Genehmigung des Ver‑ gleichs zertifiziert wird, fallen die beiden Schritte in zeitlicher Hinsicht zusam‑ men. Die Fairness eines Vergleichs wird im Laufe des Verfahrens zweimal be‑ urteilt: zunächst vorläufig, um zu entscheiden, ob eine Anhörung terminiert und die Gruppenmitglieder über diese und den Vergleichsschluss benachrichtigt werden sollen, und sodann endgültig, um das Verfahren abzuschließen. Eine Möglichkeit, aus dem Verfahren herauszuoptieren, haben die Gruppenmitglie‑ der im Falle der Rule 23 (b) (3) FRCP zunächst nach der certification der class. Gemäß Rule 23 (e) (4) FRCP kommt in dieser Fallgruppe nach dem Ermessen des Gerichts eine weitere Austrittsmöglichkeit hinzu, sobald sie über den vor‑ läufig genehmigten Vergleich benachrichtigt wurden. Nachdem die abschlie‑ ßende Genehmigung erteilt wurde, können sie sich der Bindungswirkung da‑ gegen nicht mehr entziehen.
60 61
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 12:25. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 12:20. 62 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 12:21.
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§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
III. Die Niederlande: das WCAM 1. Normative Grundlagen a) Gesetzliche Regelungen und Charakterisierung Mit dem WCAM verfügt das niederländische Recht über ein Verfahren des kol‑ lektiven Rechtsschutzes, das zwingend auf einen Vergleich hinausläuft; eine streitige Entscheidung ist nicht vorgesehen. Das WCAM wurde als Teil zweier Gesetze kodifiziert. Die entsprechenden Regelungen finden sich in Artt. 7:907– 7:910 BW, also im materiellen Zivilrecht, und in Artt. 1013–1018a Rv, also im Zivilprozessrecht. Im Übrigen kommen die Vorschriften über das Antrags‑ verfahren (verzoekschriftprocedure) gemäß Artt. 261 ff. Rv zur Anwendung,63 das in etwa den Bereich abdeckt, der in Deutschland der freiwilligen Gerichts‑ barkeit zugeordnet wird.64 Daneben enthalten auch untergesetzliche Normen in Gestalt der sogenannten procesreglemente – eine Regelungsform im Rah‑ men der Selbstorganisation der Gerichtsbarkeit65 – zusätzliche Detailregelun‑ gen.66 Um den auf Grundlage der allgemeinen Verbandsklage des niederlän‑ dischen Zivilrechts (Artt. 3:305a ff. BW) bis vor kurzem67 nicht vorgesehenen Ersatz von Massenschäden in Geld zu ermöglichen, knüpft das WCAM an zwei Eigenheiten des niederländischen Rechts an: zum einen an seine Grund‑ entscheidung, im kollektiven Rechtsschutz nur bestimmten Organisationen, die besonderen gesetzlichen Anforderungen genügen, die Klagebefugnis zu‑ zusprechen und nicht grundsätzlich jeder Einzelperson, wie es bei der amerika‑ nischen class action der Fall ist;68 zum anderen an seine Neigung, die einver‑ nehmliche Beilegung eines Rechtsstreits zu bevorzugen.69 Dementsprechend rollt es die Problematik des Vergleichs eines Massenverfahrens von hinten auf. Das WCAM setzt voraus, dass eine oder mehrere verenigingen met volledi‑ ge rechtsbevoegdheid70 (Verbände mit voller Rechtsfähigkeit gemäß Art. 2:26 63 Vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 344 64 Mincke, Einführung in das niederländische Recht, Rn. 369.
m. w. N.
65 Allg. zu procesreglementen Stein/Rueb, Burgerlijk procesrecht, Abschn. 1.10.3. 66 Vgl. Procesreglement verzoekschriftprocedures handels- en insolventiezaken gerechts‑
hoven v. 14. 12. 2018, Staatscourant Nr. 70270. 67 Im April 2019 wurde das neue „Wet afwikkeling massaschade in collectieve actie“ im Staatsblad 2019, 130 verkündet. 68 Vgl. zum niederländischen Lösungsansatz der Verbandsklagen allgemein Mom, Kollek‑ tiver Rechtsschutz in den Niederlanden. 69 Vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 330 f.; vgl. allgemein zum konsensorientierten sog. „Poldermodell“ auch van Rossum, Dutch Legal Culture, in: Chorus/ Hondius/Voermans, Introduction to Dutch Law, S. 13, 21 ff. Die Präferenz für Vergleiche spie‑ gelt sich auch im anwaltlichen Berufsrecht wider, vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigati‑ on, Abschn. 6.2 (im Erscheinen). 70 Im Folgenden abgekürzt: verenigingen.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
BW) oder stichtingen (Stiftungen gemäß Art. 2:285 Abs. 1 BW)71 auf der einen Seite und die Partei, die für den Schaden oder einen Teil desselben einstehen will,72 auf der anderen Seite einen Vergleich ausgehandelt haben, den sie dem Gericht vorlegen. Dessen Genehmigung verleiht ihm sodann Bindungswirkung für die Geschädigten. Den entsprechenden Antrag müssen die Parteien gemein‑ sam stellen (vgl. Art. 7:907 Abs. 1 BW). Es handelt sich rein formal also nicht um ein kontradiktorisches Verfahren, was auch begrifflich seinen Widerhall findet, wenn das Gesetz beide Parteien einheitlich als Antragsteller (verzoe‑ kers) bezeichnet (vgl. Art. 1013 Abs. 1 lit. a Rv). Grundsätzlich setzt ein Ver‑ fahren nach dem WCAM voraus, dass die Parteien bereits im Ausgangspunkt zu einem Konsens gefunden haben; gemäß Art. 1018a Rv kann der gerechtshof aber einen Anhörungstermin ansetzen, um mit ihnen im Vorfeld die Aussichten für eine Übereinkunft zu erörtern.73
b) Das WCAM im Kontext anderer Verfahrensformen: lediglich komplementäre Regelung oder eigenständiges Verfahren? Die Ursprünge des WCAM liegen in einem Produkthaftungsfall aus dem Phar‑ mabereich, dem DES‑Fall, in dem es um die gesundheitlichen Schäden ging, die Mütter und deren Kinder infolge der Einnahme DES74-haltiger Medika‑ mente während der Schwangerschaft erlitten hatten.75 Das „DES Centrum“, eine seit den späten siebziger Jahren bestehende Stiftung, war in Verhandlun‑ gen mit den Herstellern dieser Medikamente übereingekommen, einen Fonds zur Entschädigung der Opfer zu gründen und diesen mit hinreichendem Kapital auszustatten. Das WCAM verdankt sich dem Bestreben, den beteiligten Phar‑ maunternehmen im Zusammenhang mit dieser Vereinbarung76 Rechtssicher‑ heit zu geben. Der Fonds sollte eine kollektive Abwicklung ermöglichen und individuelle Klagen möglichst weitgehend ausschließen. Die zu diesem Zeit‑ punkt vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten boten jedoch keine Handhabe hierfür.77 Unter Beteiligung des Fonds und des Centrums schuf der niederlän‑ 71 Eingehend zu diesen Rechtsformen Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Ver‑ bandskläger, S. 236 ff. Im Folgenden wird der Ausdruck „Interessenorganisationen“ als Ober‑ begriff für diese verenigingen und stichtingen im Sinne des WCAM verwendet. 72 Art. 7:907 Abs. 1 S. 1 BW legt sich bewusst nicht darauf fest, dass diese Partei auch die Verantwortung für den Schaden eingestehen muss, vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 336. 73 Vgl. Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 289 (2014). Zur Rechts‑ lage vor der Einführung von Art. 1018a Rv vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Nieder‑ landen, S. 340 f., 343. 74 Diethylstilbestrol. 75 Zu den Hintergründen dieses Falls vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Nieder‑ landen, S. 322 ff. 76 Sie kam zustande, bevor das WCAM geschaffen wurde, vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 166. 77 Näher Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 325 ff.
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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dische Gesetzgeber schließlich das WCAM, das er aber keinesfalls als bloße Antwort auf die spezifischen Fragestellungen des DES‑Falls verstanden wissen wollte; vielmehr handelt es sich um eine allgemeine gesetzliche Regelung.78 Auch wenn das WCAM ursprünglich vor allem auf Personenschäden abzielte, hat es in der Folge seinen primären Anwendungsbereich in Verfahren mit Bezug zum Finanzsektor gefunden.79 Der DES‑Fonds war das Ergebnis eines langwierigen Verhandlungspro‑ zesses, der nicht zuletzt durch gerichtliche Auseinandersetzungen beeinflusst wurde. Sechs Klägerinnen hatten die DES‑Problematik schon zwischen 1986 und 1992 in einem Individualverfahren bis vor den Hoge Raad getrieben und dort schlussendlich obsiegt. Diese Verfahren drehten sich vor allem um die Frage, wie damit umgegangen werden sollte, dass nicht mehr feststellbar war, von welchem Hersteller das jeweilige Präparat in einem individuellen Fall stammte. Der Hoge Raad entschied sich zugunsten der Klägerinnen für eine ge‑ samtschuldnerische Haftung der Hersteller. Dieses Urteil bereitete den Boden für die spätere Übereinkunft.80 Auch in den beiden nächsten Fällen (Dexia und Vie d’Or) – sie betrafen ebenfalls nicht-kapitalmarktrechtliche Sachverhalte, die ausschließlich auf die Niederlande bezogen waren – gingen der Anwen‑ dung des WCAM jeweils individuelle Rechtsstreite beziehungsweise Verbands‑ klagen voraus.81 Die beiden kapitalmarktrechtlichen Verfahren Shell und Con‑ verium folgten dagegen jeweils auf entsprechende securities class actions in den USA. Der niederländische Vergleich gilt insofern nur für solche Geschä‑ digten, die ihre Aktien nicht in den USA erworben hatten und daher von den amerikanischen Verfahren ausgenommen waren.82 Tzankova und van Lith be‑ tonen vor diesem Hintergrund die komplementäre Funktion des WCAM; sie sehen aber auch eine Perspektive, dass dieses in Zukunft eine Eigendynamik entfalten könne.83 Allgemein heben sie die Bedeutung externer Faktoren für das WCAM hervor.84 Angesichts von dessen Zusammenspiel mit der nieder‑ 78 79
Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 327 f. Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 285 (2014); Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 330; vgl. auch Krans, a. a. O. 295 f.: Die ausschließliche Zuständigkeit des Amsterdamer Gerichtshofs für das WCAM sei gerade wegen der Expertise seiner „Ondernemingskamer“ zu begrüßen. Diese Kammer befasst sich mit unternehmens‑ bezogenen Streitigkeiten, was sie vor allem im Umgang mit kapitalmarktrechtlichen Proble‑ men besonders qualifiziere. 80 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 323 ff. 81 Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Netherlands, Rn. 4.76; vgl. zu den Vorfeldaktivitäten bei Dexia auch Tillema, Entrepreneurial Mass Litiga‑ tion, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 82 Vgl. Allemeersch, Transnational class settlements, S. 368 f.; Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Netherlands, Rn. 4.37 ff. 83 Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Netherlands, Rn. 4.48. 84 Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Netherlands, Rn. 4.76.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
ländischen Verbandsklage in den Fällen Dexia und Vie d’Or sei es zudem ver‑ fehlt, das WCAM als einen Ansatz zu charakterisieren, der ausschließlich auf eine einvernehmliche Lösung setze.85 Es wird daher zu untersuchen sein, ob sich diese vorgelagerten Rechtsstreite in der richterlichen Prüfung im Rahmen der Genehmigungsentscheidung widerspiegeln. Im Nachgang des Dexia-Falls hat der niederländische Gesetzgeber im Übrigen Art. 1015 Rv eingefügt, nach dem individuelle Rechtsstreite, die den Gegenstand eines Verfahrens nach dem WCAM berühren, während dessen Lauf ausgesetzt werden.86
2. Ausgestaltung des Verfahrens Anders als das Verfahren der class action ist dasjenige des WCAM von vorn‑ herein einstufig ausgestaltet; eine Parallele zu der für die class action charakte‑ ristischen Trennung zwischen der Zulassungsentscheidung der certification und der Genehmigung des Vergleichs gibt es schon im Ansatz nicht. Der – gemäß Art. 1013 Abs. 3 Rv ausschließlich zuständige – gerechtshof Amsterdam trifft immer nur eine einheitliche Entscheidung darüber, ob er den ihm vorgeleg‑ ten Vergleich genehmigt oder nicht. Im Zuge dessen beurteilt er auch, ob die stichtingen oder verenigingen, die den Vergleich ausgehandelt haben,87 qualifi‑ ziert sind, die Parteistellung im WCAM‑Verfahren einzunehmen. Die Voraus‑ setzungen hierfür richten sich – mutatis mutandis – nach Art. 3:305a BW, der entsprechenden Regelung für das allgemeine Verbandsklageverfahren des nie‑ derländischen Zivilrechts.88 Die Frage, ob die Interessenorganisationen auch angemessene Repräsentanten für die Geschädigten darstellen, ist demgegen‑ über einer der ausdrücklich genannten Prüfungspunkte, anhand derer das Ge‑ richt beurteilt, ob es dem Vergleich Bindungswirkung zuspricht (Art. 7:907 Abs. 1 lit. f BW). Das Gericht hat den Gruppenmitgliedern im Wege einer Anhörung Gelegen‑ heit zur Stellungnahme zu geben, bevor es über die Bindungswirkung des ihm vorliegenden Vergleichs entscheidet.89 Dazu müssen die Antragsteller gemäß Art. 1013 Abs. 5 S. 1 Rv Mitteilungen über diese Anhörung an die bekannten Gruppenmitglieder verschicken – wobei abhängig von dem Staat, in dem diese ihren Wohnsitz haben, unterschiedliche Anforderungen bestehen können.90 Da‑ rüber hinaus müssen sie die nötigen Informationen über die Anhörung auch 85 Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Netherlands, Rn. 4.30. 86 Das hatte seinen Hintergrund allerdings in dem Bestreben die Austrittsquote zu verrin‑ gern, vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 87 Zur Befugnis der Consumentenautoriteit, einer Verbraucherschutzbehörde, einen Ver‑ gleich zu schließen vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 337. 88 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 335. 89 Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 292 (2014). 90 Krans, C. J. Q. 2012, 31(2), 141, 148; vgl auch Art. 1013 Abs. 5 S. 8 Rv.
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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in verschiedenen Zeitungen bekannt machen (Art. 1013 Abs. 5 S. 2 Rv). Dies beinhaltet jeweils, dass die Gruppenmitglieder in knapper Form über den In‑ halt des Vergleichs informiert werden (Art. 1013 Abs. 5 S. 3 Rv); in den Schrift‑ satzwechsel während des Verfahrens sind sie hingegen nicht eingebunden (Art. 1013 Abs. 4 Rv). Anders als bei der class action findet im Vorfeld der Be‑ nachrichtigung keine – vorläufige – gerichtliche Prüfung der Genehmigungs‑ fähigkeit des Vergleichs statt. Nachdem das Gericht den Vergleich genehmigt hat, wird den Geschädig‑ ten die Entscheidung zugesendet und sie werden über ihr Recht informiert, aus dem Vergleich auszutreten (Art. 1017 Abs. 3 S. 1 und 3 Rv). Wiederum erfolgt eine entsprechende Bekanntmachung in verschiedenen Zeitungen (Art. 1017 Abs. 3 S. 2 Rv). Anders als bei der class action besteht die Austrittsoption also erst, nachdem der Vergleich (endgültig) genehmigt wurde (vgl. Art. 7:908 Abs. 2 S. 1 BW, Art. 1017 Abs. 3 Rv).
3. Zusammenfassung Das WCAM differenziert nicht zwischen einer Zulassungsentscheidung und der Genehmigung des Vergleichs, sondern sieht eine einheitliche gerichtliche Entscheidung vor. Das Gericht informiert die Gruppenmitglieder über den Ver‑ gleich und gibt ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme, allerdings ohne zuvor eine vorläufige Einschätzung zu dessen Genehmigungsfähigkeit vorgenommen zu haben. Dabei sind bislang noch die meisten Entscheidungen nach der alten Rechtslage ergangen, nach der das Gericht überhaupt erst ins Spiel kommen konnte, sobald ihm ein vollständig ausgehandelter Vergleich vorgelegt wurde. Es ist insofern also nur punktuell tätig geworden, ohne zuvor etwa dadurch, dass es den Verhandlungsprozess begleitet hätte, zumindest informell mit dem Verfahren und seinem Gegenstand vertraut geworden zu sein. Eine opt out-Op‑ tion haben die Gruppenmitglieder erst nach der Genehmigung und Bekannt‑ machung des Vergleichs.
IV. Deutschland: das KapMuG und die Musterfestellungsklage 1. Normative Grundlagen a) Vergleiche im Rahmen des KapMuG und der Musterfeststellungsklage Als das KapMuG 2012 überarbeitet wurde, fand ein Novum Eingang in das deutsche Zivilprozessrecht. §§ 17–19, 23 KapMuG ermöglichen seitdem einen für alle Beteiligten eines Musterverfahrens verbindlichen Vergleich, ohne deren einhellige Zustimmung zu verlangen. Konkret bedeutet das, dass die Beige‑ ladenen nicht ausdrücklich ihr Einverständnis erklären müssen; stattdessen
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
wird ihnen lediglich eine gesetzliche opt out-Option (§ 19 Abs. 2 KapMuG) ein‑ geräumt. Freilich gilt dies nur im Rahmen des sachlich eng begrenzten Anwen‑ dungsbereichs des KapMuG. Der Regierungsentwurf zur Reform weist darauf hin, dass sich die Neuregelung „am erfolgreichen niederländischen Modell“ orientiere.91 § 17 Abs. 1 S. 3 KapMuG legt dementsprechend fest, dass ein ge‑ richtlicher Vergleich, der im Rahmen eines Musterverfahrens nach dem Kap‑ MuG geschlossen wurde, der richterlichen Genehmigung bedarf.92 Damit hat der Gesetzgeber denjenigen Vorschlägen eine Absage erteilt, die die Wirksam‑ keit eines Vergleichs allein davon abhängig machen wollten, dass ihm ein be‑ stimmter Anteil der Beigeladenen zustimmt93 und stattdessen die international verbreitetste Gestaltung übernommen.94 Die Vorgängerregelung (§ 14 Abs. 3 S. 2 KapMuG 2005) von § 18 Abs. 1 KapMuG hatte sich noch gegen den Ansatz eines vom Gericht zu genehmigenden opt out-Vergleichs entschieden und statt‑ dessen die ausdrückliche Zustimmung sämtlicher Beigeladenen verlangt.95 Der Gesetzgeber der Musterfeststellungsklage von 2018 hat demgegenüber in § 611 ZPO die Grundkonzeption eines genehmigungspflichtigen Vergleichs aus dem reformierten KapMuG übernommen und dieses Regelungsmodell damit auf das weite Gebiet verbraucherbezogener Streitigkeiten ausgedehnt. Beide Gesetze halten sich damit zurück, Vorgaben zu machen, unter wel‑ chen Bedingungen die Genehmigung erteilt werden muss. Sie verlangen je‑ weils, dass das Gericht den Vergleich als „angemessene gütliche Beilegung er‑ achte[n]“ müsse: und zwar „der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten“ im Fall von § 18 Abs. 1 KapMuG oder – mit Blick auf den abweichenden Ausgangspunkt der Musterfeststellungsklage – „des Streits oder der Ungewissheit über die an‑ 91
RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 15. Damit schließt er sich dem Vorschlag von Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 107 an. 92 Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 107 (Kombination von richterlicher Geneh‑ migung und Austrittsoption); vgl. allgemein zur Einschränkung des Dispositionsgrundsatzes in Musterverfahren bereits Hess/Michailidou, WM 2003, 2318, 2321; Hess/Michailidou, ZIP 2004, 1381, 1383, dort Fn. 42. 93 So ursprünglich BR‑Ausschussempfehlungen zum KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/1/05, S. 16 f. (Orientierung an § 76 Abs. 2 InsO, aber mit Erfordernis einer 2/3-Mehrheit der Stim‑ men); vgl. auch Jahn, ZIP 2008, 1314, 1317 (Anlehnung an die für den Insolvenzplan gelten‑ de Regelung gem. §§ 235 ff. InsO); ähnlich Keller/Kolling, BKR 2005, 399, 403; Stackmann, NJW 2010, 3185, 3190 (Mehrheitsbeschluss). Dieser abstimmungsbasierte Ansatz unterschei‑ det sich insofern von einem Zustimmungsquorum im Rahmen einer opt in- oder opt out-Ge‑ staltung, als auch diejenigen gebunden werden, die Vergleich ablehnen, sobald ein hinreichen‑ der Anteil der Gruppenmitglieder diesem zugestimmt hat. 94 Siehe oben S. 1. 95 In der Literatur wurde diese Regelung teilweise begrüßt, vgl. Hess, ZIP 2005, 1713, 1718; Rau, S. 216 f.; kritisch aber Schneider, BB 2005, 2249, 2255. Sie wurde erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Anregung des Bundesrats eingefügt, vgl. Stellungnahme BR, BR‑Drucks. 2/05(B), S. 16; Beschlussempfehlung BT‑Rechtsausschuss, BT‑Drucks. 15/5695, S. 11, 25; ursprünglich hatte § 14 Abs. 3 S. 2 im RegE KapMuG 2005, BT‑Drucks. 15/5091, S. 8, 29 noch gelautet: „Ein vergleichsweiser Abschluss des Rechtsstreits ist ausgeschlossen.“
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gemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse“ bei § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO. § 17 Abs. 2 KapMuG und § 611 Abs. 2 ZPO nennen zudem einige Regelungsinhalte, auf die ein Vergleich zurückkommen soll. Bemerkenswert ist, dass das Kap‑ MuG und die Musterfeststellungsklage zwei Genehmigungsschritte vorsehen, damit der Vergleich wirksam werden kann: Sie differenzieren jeweils zwischen der Genehmigung des Vergleichs (§ 18 Abs. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO ZPO) und der nachfolgenden Feststellung seiner Wirksamkeit (§ 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 5 S. 2 ZPO). Inhaltlich fügt diese lediglich ein Element hinzu: Sie setzt voraus, dass gemäß § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO ZPO nicht mehr als 30 % der Beigeladenen beziehungsweise der Anmelder96 ihren Austritt aus dem ge‑ nehmigten Vergleich erklärt haben.
b) Die Sonderstellung von § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO im deutschen Recht Die Diskussion, ob Vergleiche in Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes einer richterlichen Genehmigung bedürfen, ist auch in Deutschland älter als das KapMuG.97 Vereinzelt wurde dies schon für § 13 Abs. 1 AGBG gefordert.98 Umgesetzt wurde dieser Gedanke aber nicht. Im Zusammenhang mit den Un‑ terlassungsklagen durch Verbände und qualifizierte Einrichtungen, die §§ 1–2a UKlaG, § 8 UWG und § 33 GWB vorsehen, wie auch bei der Gewinn- bezie‑ hungsweise Vorteilsabschöpfung gemäß § 10 UWG und § 34a GWB sind Ver‑ gleiche zwar nicht ausgeschlossen. Sie betreffen jedoch grundsätzlich nur die Parteien des jeweiligen Rechtsstreits und unterliegen keinem Genehmigungs‑ erfordernis. Für Dritte gelten die allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätze. Ein solcher Vergleich kann ihnen allenfalls als Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) Ansprüche einräumen. Er kann ihnen gemäß dem Verbot eines Vertrags zulasten Dritter aber weder Verpflichtungen auferlegen noch einen Anspruchs‑ verzicht regeln. Das deutsche Recht sieht zwar auch jenseits des KapMuG und der Muster‑ feststellungsklage in einigen wenigen Situationen ausdrücklich vor, dass ein Vergleich oder eine ähnliche Gestaltung von einem Gericht inhaltlich überprüft 96
Mit dem Begriff „Anmelder“ werden im Folgenden die Verbraucher bezeichnet, die im Rahmen einer Musterfeststellungsklage gemäß § 608 ZPO mindestens einen Anspruch oder ein Rechtsverhältnis angemeldet haben. Falls dagegen die Anmelder i. S. v. § 10 Abs. 2 Kap‑ MuG gemeint sind, wird dies gesondert hervorgehoben. 97 Vgl. allgemein zur Diskussion über eine Genehmigungspflicht für Vergleiche bei Ver‑ bandsklagen Micklitz/Stadler, Das Verbandsklagerecht in der Informations- und Dienstleis‑ tungsgesellschaft, S. 1220 ff. 98 So Göbel, Prozesszweck, S. 142 (das Gericht müsse überprüfen, ob der Kompromiss der Parteien den Anforderungen der §§ 9–11 AGBG genüge); dagegen die seinerzeit h. M., vgl. Ulmer/Brandner/Hensen (3. Aufl. 1978), § 15 Rn. 34; differenzierend Reinel, Verbandsklage, S. 138; demgegenüber ablehnend Meller-Hannich, Verbraucherschutz, S. 309.
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und genehmigt werden muss, um Rechtswirkungen zu entfalten.99 Im Hinblick auf ihre Ausgangsbedingungen und ihre Struktur unterscheiden sich diese Re‑ gelungen aber teils erheblich von den Genehmigungserfordernissen gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO. Am nächsten kommt diesen noch der gerichtlich gebilligte Vergleich gemäß § 156 Abs. 2 FamFG.100 Hiernach ist in bestimmten familienrechtliche Verfahren101 eine Einigung der Beteiligten über das Umgangsrecht oder die Herausgabe eines Kindes nur dann im Sinne von § 36 Abs. 2 i. V. m. § 160 Abs. 3 Nr. 1 ZPO als Vergleich aufzunehmen, wenn das Gericht feststellt, dass sie nicht dem Kindeswohl widerspricht.102 Die Norm ermöglicht einen Vergleich über das Umgangsrecht, das sonst nicht zur Dis‑ position der Beteiligten steht.103 Eine Parallele zu § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO liegt zunächst darin, dass es sich um eine verfahrensinter‑ ne Genehmigungspflicht handelt; in beiden Fällen ist dasjenige Gericht für die Genehmigung des Vergleichs zuständig, vor dem das Verfahren anhängig ist, das dieser beenden will. Dabei muss man freilich beachten, dass ein Vergleich beim KapMuG und der Musterfeststellungsklage über die Feststellungziele, die deren Verfahrensgegenstand bilden, hinausgeht und auch die Ausgangsrechts‑ streite beziehungsweise die angemeldeten Ansprüche betrifft. § 160 Abs. 3 Nr. 1 ZPO sieht sodann ebenso wie § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO einen Prüfungsmaßstab vor, dessen offene Begriffswahl dem Gericht eine Wertungs‑ entscheidung abverlangt („Kindeswohl“). Einem Vergleich im Sinne von § 156 Abs. 2 FamFG muss allerdings unter anderem auch das betroffene Kind – wenn es verfahrensfähig ist – ausdrücklich zustimmen, damit das erforderliche „Ein‑ vernehmen“ der Beteiligten vorliegt.104 Das ist beim KapMuG und der Muster‑ klage anders: Das Einverständnis eines Beigeladenen beziehungsweise eines angemeldeten Verbrauchers mit dem Vergleich wird fingiert, wenn er nicht seine Austrittsoption wahrnimmt. Dem Insolvenzrecht ist eine Gestaltung, die der Genehmigungspflicht eines Vergleich ähnelt, schon lange bekannt. Bereits nach dem Bestätigungsverfah‑ ren gemäß § 78 VglO von 1935 bedurfte ein von den Gläubigern angenom‑ mener Zwangsvergleich der Bestätigung des Gerichts, um die Gläubigermin‑ derheit vor der Mehrheit zu schützen.105 Die heutige Regelung zur Bestätigung des Insolvenzplans durch das Insolvenzgericht (§ 248 Abs. 1 InsO) ist hiermit 99 Vgl. dazu Wigand, AG 2012, 845, 850. 100 Vgl. zu dieser Parallele auch Wigand, AG
2012, 845, 850. zwar in Umgangsverfahren gemäß § 151 Nr. 2 FamFG und Verfahren betreffend die Herausgabe eines Kindes gemäß § 151 Nr. 3 FamFG, vgl. Hammer, in: Prütting/Helms, § 156 Rn. 46. 102 Schlünder, in: BeckOK FamFG, § 156 Rn. 10. 103 RegE FGG‑Reformgesetz, BT‑Drucks. 16/6308, S. 237. 104 RegE FGG‑Reformgesetz, BT‑Drucks. 16/6308, S. 237; Lorenz, in: Zöller, FamFG, § 156 Rn. 4. 105 Bley, VglO, § 78 Anm. 1. 101 Und
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verwandt.106 Von § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO unterscheidet sich § 248 Abs. 1 InsO zunächst dadurch, dass die Norm keinen Rechtsstreit betrifft, sondern das Insolvenzverfahren. Zudem wird ein Insolvenzplan nicht von einem Repräsentanten der Gläubiger mit dem Schuldner vereinbart. Über ihn wird vielmehr gemäß § 244 InsO im Wege einer Mehrheitsentscheidung abgestimmt. Seine Bestätigung durch das Gericht bezweckt zwar, ein Mindest‑ schutzniveau für die Beteiligten des Planverfahrens zu gewährleisten.107 Ins‑ besondere sieht § 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO vor, dass sie zu versagen ist, wenn ein Gläubiger durch den Plan voraussichtlich schlechter gestellt wird, als er ohne einen Plan stünde. Das Gericht beschäftigt sich aber nicht von sich aus mit die‑ ser Frage, sondern nur auf Antrag eines konkreten Gläubigers. Seine Prüfungs‑ kompetenz ist zudem nicht übergreifend, sondern bezieht sich allein auf den oder die konkreten Antragsteller und ihre jeweilige Situation. Es geht hier also eher um eine Möglichkeit für die Gläubiger individuelle Einwendungen vorzu‑ bringen, als um eine originäre richterliche Kontrolle. Auch §§ 1821, 1822 BGB können im Einzelfall die richterliche Genehmi‑ gung eines Prozessvergleichs im Sinne von § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vorschrei‑ ben. Dies betrifft nicht nur den Fall des § 1822 Nr. 12 BGB,108 sondern etwa auch die Situation, dass ein Vergleich eine Verfügung über ein Grundstück im Sinne von § 1821 Abs. 1 Nr. 1 BGB enthält.109 Es bestehen jedoch zwei gravie‑ rende Unterschiede zu § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO: Zum einen ist das Familiengericht gemäß § 23b Abs. 1 GVG, das nicht notwendi‑ gerweise mit dem Prozessgericht identisch ist, für die Genehmigung zuständig. Zum anderen betreffen §§ 1821, 1822 BGB allein die materiellrechtliche Ver‑ tretungsmacht des Vormunds; die prozessualen Wirkungen eines Prozessver‑ gleichs und die Frage nach der Dispositionsbefugnis über den Rechtsstreit be‑ rühren sie dagegen nicht.110 § 796a Abs. 3 ZPO sieht eine richterliche Prüfungskompetenz im Hinblick auf die Vollstreckbarerklärung eines Anwaltsvergleichs vor. Allerdings handelt sich dabei um einen außergerichtlichen Vergleich. Die Kontrolle erfolgt dem‑ entsprechend erst auf der Vollstreckungsebene und nicht schon beim Zustande‑ kommen der Vereinbarung. Für § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO ist dagegen umstritten, ob beziehungsweise unter welchen Umständen das Gericht davon absehen muss, das Zustandekommen eines Vergleichs festzustellen.111 In diesem Zusammen‑ hang hat der BGH entschieden, dass ein Gericht einen gerichtlich protokollier‑ 106 107
Thole, in: Brünkmans/Thole, Hdb. Insolvenzplan, § 1 Rn. 5. Pleister, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 248 Rn. 2 m. w. N. 108 Schulte-Bunert, in: Erman, § 1822 Rn. 32; Veit, in: Staudinger (2014), BGB, § 1822 Rn. 203. 109 RGZ 133, 259; Veit, in: Staudinger (2014), BGB, § 1821 Rn. 9. 110 Veit, in: Staudinger (2014), BGB, Vorbemerkungen zu §§ 1821, 1822 Rn. 30 m. w. N. 111 Für Prüfung anhand von §§ 134, 138 BGB LAG Sachsen-Anhalt Beschl. v. 15. 12. 2004, Az.: 11 Ta 184/04, BeckRS 2005, 40134; Greger, in: Zöller, ZPO, § 278 Rn. 34; Thole, in:
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ten oder festgestellten Vergleich, der (gegebenenfalls analog) § 127a BGB die notarielle Beurkundung ersetzt und sich auf den Streitgegenstand des Verfahrens beschränkt, lediglich daraufhin überprüfen muss, ob er „nicht gegen die guten Sitten, gesetzliche Verbote oder die öffentliche Ordnung verstößt.“112 Diese Si‑ tuationen unterscheiden sich also erheblich von § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 ZPO. Sie bieten allenfalls einen Ansatzpunkt für eine – stark eingeschränk‑ te – Rechtmäßigkeitsprüfung anhand von §§ 134, 138 BGB, nicht aber für eine weitergehende Beurteilung der Angemessenheit eines Vergleichs. Ein weiterer Maßstab113 fände zwar Anwendung, falls ein Gericht analog §§ 17, 18 BeurkG die Parteien über die rechtliche Tragweite des Geschäfts belehren – und diese dementsprechend zuvor prüfen – müsste, soweit es im Rahmen von § 127a BGB Vereinbarungen protokolliert, die über den Streitgegenstand des maßgeblichen Verfahrens hinausgehen.114 Soweit es nicht zu einem Verstoß gegen §§ 134, 138 BGB kommt, bedeutet dies aber nicht, dass das Gericht die Protokollierung bei Mängeln des Vergleichs verweigern müsste. In den Entscheidungen zu § 127a BGB geht es vielmehr um die Frage einer Beratungs- und Warnfunktion des Ge‑ richts mit Blick auf die Anforderungen an die notarielle Beurkundung, an deren Stelle die Protokollierung oder Feststellung eines Vergleichs durch das Gericht tritt. Im Übrigen geht es hier ebensowenig wie bei § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO oder § 796a Abs. 3 ZPO darum, die Bindungswirkung eines Vergleichs auf Personen auszuweiten, denen keine Parteistellung zukommt. Stattdessen beziehen sich die angesprochenen Prüfungspflichten allesamt auf die Normalsituation eines Zweiparteienprozesses. Letzteres gilt im Übrigen unabhängig von der Überzeu‑ gungskraft dieses Ansatzes auch, soweit Schramm aus einer Analogie zu Vor‑ schriften aus dem BeurkG eine allgemeine richterliche Prüfungspflicht für Pro‑ zessvergleiche herleiten will.115 § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO heben sich demnach von den vorgestellten ähnlichen Regelungen dadurch ab, dass sie drei Gesichtspunkte miteinander kombinieren: erstens eine interne Kontrolle durch dasjenige Ge‑ richt, vor dem das verglichene Musterverfahren anhängig ist; zweitens den of‑ fenen Maßstab einer Angemessenheitsprüfung; und drittens die Gewährleistung der Bindungswirkung eines Vergleichs für Dritte, die nicht an seinem Entste‑ hungsprozess beteiligt waren. Stein/Jonas, ZPO, § 278 Rn. 90; vgl. zum Streitstand Schramm, Richterliche Pflichten und Haf‑ tung beim Prozessvergleich der ZPO, S. 52 ff. 112 BGH, Beschl. v. 1. 02. 2017, Az.: XII ZB 71/16, NJW 2017, 1946, Rn. 39. 113 Zur Tragweite der Belehrungspflicht gem. § 17 BeurkG vgl. Litzenburger, in: BeckOK ZPO, BeurkG, § 17 Rn. 3 ff. 114 In diese Richtung BGH, Beschl. v. 3. 08. 2011, Az.: XII ZB 153/10, NJW 2011, 3451 Rn. 19 f.; vgl. dazu Zimmer, NJW 2011, 3453; kritisch Rakete-Dombek, NJW 2012, 1689, 1690; offen gelassen von BGH, Beschl. v. 1. 02. 2017, Az.: XII ZB 71/16, NJW 2017, 1946, Rn. 39. 115 Vgl. Schramm, Richterliche Pflichten und Haftung beim Prozessvergleich der ZPO, S. 94 ff.
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2. Ausgestaltung der beiden Verfahren a) Konzeptionelle Grundlagen Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage haben gemeinsam, dass sie je‑ weils ein Verfahren vorsehen, in dem nicht unmittelbar über das Bestehen eines Anspruchs entschieden wird. Sie zielen lediglich darauf ab, bestimmte Tatsa‑ chen und Rechtsfragen (vgl. § 2 Abs. 1 KapMuG beziehungsweise § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO), die mehrere individuelle Kläger beziehungsweise Anmelder glei‑ chermaßen betreffen, durch einen Musterentscheid (§ 16 Abs. 1 S. 1 KapMuG) beziehungsweise ein Musterfeststellungsurteil (§ 613 Abs. 1 S. 1 ZPO) des OLG116 einheitlich festzustellen. Auf dessen Grundlage werden sodann beim KapMuG die Ausgangsrechtsstreite wieder getrennt voneinander entschieden. Bei der Musterfeststellungsklage sind die einzelnen Anmelder ebenfalls an das Ergebnis des Musterfeststellungsverfahrens gebunden, falls sie anschließend einen individuellen Rechtsstreit mit dem Beklagten führen. Auch wenn sich die Musterfeststellungsklage eng an das KapMuG anlehnt, gibt es zwei wesentliche konzeptionelle Unterschiede: Erstens baut das Kap‑ MuG als Vorlageverfahren zwangsläufig auf einer Häufung von Individual‑ rechtsstreiten auf, die während seines Laufs ausgesetzt werden. Auch ver‑ glichen mit der class action oder dem WCAM verfügt es damit über einen dezidiert eigenständigen Charakter.117 Eine Musterfeststellungsklage findet dagegen unabhängig davon statt, ob die einzelnen Anmelder bereits Klage er‑ hoben haben oder nicht.118 Es handelt sich bei ihr nicht um ein Vorlageverfah‑ ren, sondern um eine originäre Klage. Die Verbraucher erhalten die Gelegen‑ heit ihre Ansprüche anzumelden erst, nachdem die Klage anhängig geworden ist und das Gericht ihre Bekanntmachung im Klageregister veranlasst hat. So‑ weit ein betroffener Verbraucher schon davor eine Klage gegen den Beklag‑ ten erhoben hat, „die die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft“, und erst dann seinen Anspruch anmeldet, wird sein individueller Rechtsstreit gemäß § 613 Abs. 2 ZPO aber ebenfalls ausgesetzt, bis das Musterfeststellungsverfahren beeendet ist. Zweitens kann 116
Die Zuständigkeit des OLG folgt aus § 6 Abs. 1 S. 1 KapMuG bzw. § 119 Abs. 3 S. 1 GVG. Da § 11 Abs. 1 S. 2 KapMuG bzw. § 610 Abs. 5 S. 2 ZPO die Anwendung von § 348 ZPO ausschließen, entscheidet jeweils der Senat. Für die Musterfeststellungsklage sollte ursprüng‑ lich das LG zuständig sein, vgl. RegE Musterfeststellungsklage, BR‑Drucks. 176/18, S. 7, 18. Dies wurde jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens geändert, vgl. Stellungnahme BR, BR‑Drucks. 176/18(B), S. 1 f.; Gegenäußerung BReg, BT‑Drucks. 19/2701, S. 8; Beschluss‑ empfehlung Rechtsausschuss, BT‑Drucks. 19/2741, S. 6, 24. 117 Vgl. Bergmeister, KapMuG, S. 232. 118 Daher verwenden §§ 606 ff. ZPO mit Bedacht nicht den Begriff „Ausgangsverfahren“, um die individuellen Rechtsstreite der Anmelder zu bezeichnen, vgl. Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 45, 46.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
eine Musterfeststellungsklage nur von einer qualifizierten Einrichtung erhoben werden, die im Gegensatz zum Musterkläger des KapMuG ihre Stellung als Repräsentantin nicht darauf zurückführt, dass sie einen eigenen Anspruch gel‑ tend macht, sondern auf den in ihrer Satzung festgeschriebenen Zweck und weitere qualifizierende Momente. Einen Antrag auf Durchführung eines Mus‑ terverfahrens nach dem KapMuG können dagegen jeder individuelle Kläger sowie auch der Beklagte stellen (§ 2 Abs. 1 S. 2 KapMuG). Soll im Rahmen des Musterverfahrens ein Vergleich geschlossen werden, der auch die Beigeladenen beziehungsweise die angemeldeten Verbraucher bindet, nehmen beide Gesetze Abstand von ihrer Grundkonzeption als Ver‑ fahren, die nur Teilfragen klären, und nähern sich damit der class action und dem WCAM an. § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO ver‑ langen zwingend, dass ein Vergleichsvorschlag nicht nur isoliert das Muster‑ verfahren einer einvernehmlichen Lösung zuführt, sondern beim KapMuG auch die Ausgangsrechtsstreite des Musterklägers und sämtlicher Beigelade‑ nen beziehungsweise bei der Musterfeststellungsklage den „Streit[…] oder [die] Ungewissheit über die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnis‑ se“.119 Indem § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG das Muster- und die Ausgangsverfah‑ ren in einem Vergleich wieder zusammenführt, ermöglicht er eine umfassende Lösung für Sachverhalte, die eine große Anzahl an Anlegern betreffen – je‑ denfalls soweit dies angesichts der Grundkonzeption des KapMuG überhaupt möglich ist; dieses bezieht schließlich von vornherein nur solche Geschädigten ein, die während eines bestimmten Zeitraums Klage erhoben haben. Ein Ver‑ gleich erfasst dementsprechend nach § 23 Abs. 1 S. 3 KapMuG nur die Beige‑ ladenen, nicht aber die Anmelder gemäß § 10 Abs. 2 S. 1 KapMuG, die keine Verfahrensbeteiligten im Sinne von § 9 Abs. 1 KapMuG sind. Bei der Muster‑ feststellungsklage, die diese Differenzierung nicht kennt, bezieht § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse ebenfalls in ihrer Gesamtheit in den Vergleich ein – und nicht etwa beschränkt auf die Feststellungsziele. Der Gesetzgeber zahlt aber einen Preis hierfür. Er setzt die Verfahren einer systematischen Spannung aus: Je nachdem, ob das Musterver‑ fahren mit einem Musterentscheid beziehungsweise Musterfeststellungsurteil oder mit einem Vergleich endet, richtet sich das Ergebnis auf unterschiedliche Streitgegenstände. Wenn sie einen Vergleich aushandeln, müssen die Muster‑ parteien daher Aspekte berücksichtigen, die niemals Gegenstand des Muster‑ verfahrens geworden wären,120 was sie vor Herausforderungen stellen kann – ebenso wie das Gericht, dem die Entscheidung über die Genehmigung des Vergleichs obliegt.
119 Vgl.
120 Vgl.
Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 1, 6. Schneider, BB 2018, 1986, 1995.
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b) Zulässigkeitsvoraussetzungen Sowohl das KapMuG als auch die Musterfeststellungsklage differenzieren klar zwischen der Prüfung der Zulässigkeit des kollektiven Verfahrens und der Ge‑ nehmigung eines Vergleichs. Anders als bei der class action oder dem WCAM ist die Option, dass die Parteien bereits mit einem fertigen Vergleich an das Ge‑ richt treten und unmittelbar seine Genehmigung beantragen, nicht vorgesehen und allenfalls ein praktisch irrelevantes Gedankenspiel.121 Die konzeptionellen Unterschiede zwischen dem KapMuG als Vorlagever‑ fahren, in dem ein betroffener Anleger die anderen repräsentiert, und der ei‑ genständigen Musterfeststellungsklage einer qualifizierten Einrichtung spie‑ geln sich in ihren einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen wider. Ein Verfahren nach dem KapMuG setzt einen Individualrechtsstreit voraus, der einen der in § 1 Abs. 1 KapMuG enumerativ aufgezählten kapitalmarktrechtlichen Ansprü‑ che betrifft. Dessen Kläger oder Beklagter müssen einen Musterverfahrens‑ antrag gemäß § 2 Abs. 1 KapMuG stellen. Ist dieser zulässig (§ 3 Abs. 1 Kap‑ MuG), macht ihn das vorlegende Gericht grundsätzlich im Klageregister des Bundesanzeigers bekannt (§ 3 Abs. 2–4 KapMuG); das Ausgangsverfahren wird dadurch unterbrochen (§ 5 KapMuG, § 249 ZPO). Wenn innerhalb von sechs Monaten nach der Bekanntmachung dieses Antrags mindestens neun weitere gleichgerichtete Musterverfahrensanträge – von demselben oder ande‑ ren Gerichten – bekannt gemacht wurden, formuliert dasjenige Prozessgericht, das den ersten entsprechenden Antrag122 bekanntgemacht hat (§ 6 Abs. 2 Kap‑ MuG), die Feststellungsziele und ersucht das für seinen Bezirk zuständige OLG im Wege eines Vorlagebeschlusses, über diese zu entscheiden (§ 6 Abs. 1, 3 KapMuG). Sobald dieser Beschluss im Klageregister bekanntgemacht wurde, werden alle weiteren anhängigen123 oder später anhängig werdenden Verfahren ausgesetzt, deren Entscheidung von den Feststellungszielen abhängt (§ 8 Abs. 1 KapMuG). Anders als die class action und das WCAM bezieht das KapMuG also nur solche Geschädigten ein, die sich bewusst dafür entschieden haben, ihre Ansprüche gerichtlich geltend zu machen.124 Wenngleich es damit einer 121 Bei der Musterfeststellungsklage hätte in einem solchen Fall niemand Gelegenheit, dem Vergleich beizutreten; dieser würde also von vornherein seine Wirkung verfehlen mög‑ lichst viele Verbaucher zu binden. Ein Beklagter könnte stattdessen schlicht ein Vergleichs‑ angebot direkt an die Verbraucher richten. 122 Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Antragstellung, vgl. Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 6 Rn. 40. Zur Problematik, mit welcher Genauigkeit der Eingangszeitpunkt festgestellt wird vgl. Söhner, ZIP 2013, 7, 9. 123 Die bloße Rechtshängigkeit der Klage wird dabei regelmäßig nicht ausreichen; viel‑ mehr müssen sich die sachlichen und rechtlichen Streitpunkte anhand des (beiderseitigen) Par‑ teivortrags soweit erschließen lassen, dass der Bezug zu den Fragestellungen des Musterver‑ fahrens hergestellt werden kann, vgl. Kruis, in: KK‑KapMuG, § 8 Rn. 21. 124 Dies gilt unabhängig davon, ob man mit dem RegE KapMuG 2005, BT‑Drucks. 15/5091, S. 20 davon ausgeht, dass § 1 Abs. 1 KapMuG lediglich Leistungsklagen erfasst oder
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opt in-Gestaltung ähnelt, passt es tatsächlich nicht in diese Kategorie.125 Nur die ersten zehn Kläger, die gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 KapMuG einen Musterver‑ fahrensantrag stellen, entscheiden sich spezifisch dafür, an einem Verfahren zur kollektiven Rechtsverfolgung zu teilzunehmen; alle anderen werden ohne eine solche Willensäußerung einbezogen, obwohl sie lediglich individuell Klage erhoben haben. Wenn sie hinreichend gut informiert sind, werden sie zwar oftmals voraussehen können, dass ihre Klage von dem Ergebnis eines Mus‑ terverfahrens abhängen wird – zumal wenn dieses zum Zeitpunkt ihrer Kla‑ geerhebung schon rechtshängig ist. Das KapMuG ist insofern aber weitaus restriktiver als etwa die amerikanische class action:126 Die Feststellungszie‑ le werden zwingend für alle Betroffenen gemeinsam entschieden; die Beige‑ ladenen können sich dem Musterverfahren und gegebenenfalls der Wirkungen von dessen streitiger Entscheidung nicht – wie jedenfalls regelmäßig bei der class action127 – dadurch entziehen, dass sie frühzeitig ihren Austritt aus dem Verfahren erklären.128 Das OLG bestimmt nach § 9 Abs. 2 KapMuG in eigener Verantwortung einen der Kläger, deren Verfahren gemäß § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt wurden, zum Musterkläger, der auf Klägerseite für die Führung des Musterverfahrens zuständig ist.129 Die anderen Kläger aus den übrigen Aus‑ gangsverfahren werden beigeladen (§ 9 Abs. 3 KapMuG). Auf Beklagtenseite ist eine Konzentration der Verfahrensführung ausgeschlossen; nach § 9 Abs. 5 KapMuG kommt allen Beklagten der Ausgangsverfahren jeweils die Rolle eines eigenständigen Musterbeklagten zu. ob man mit der Gegenmeinung auch positive Feststellungsklagen von geschädigten Anlegern einbeziehen will (so Kruis, in: KK‑KapMuG, § 1 Rn. 11; Vorwerk, in: Vorwerk/Wolf, Kap‑ MuG, § 1 Rn. 14), denn in beiden Fällen erhebt der jeweilige Geschädigte eine Klage und nimmt so gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch. Entscheidend ist, dass ein vermeintlicher Schädiger nicht dadurch die Grundlage für ein Musterverfahren schaffen kann, dass er eine negative Feststellungsklage erhebt. Dies schließt der eindeutige Wortlaut von § 1 Abs. 1 Kap‑ MuG nach ganz h. M. aus (vgl. Vorwerk, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 1 Rn. 17; kritisch zur Formulierung des Gesetzes Kruis, in: KK‑KapMuG, § 1 Rn. 13). 125 Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 33. 126 Sehr kritisch Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2710 f., die ausführen, dass hier es‑ sentielle Verfahrensrechte dem Ziel der Entlastung der Justiz geopfert würden. Unverständlich sei zudem, dass die zwingende Teilnahme am Musterverfahren nur solche Klagen betreffe, die bereits anhängig waren als der Vorlagebeschluss bekanntgemacht wurde. Geschädigten, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht geklagt haben, würde hingegen durch die Möglichkeit, ihren An‑ spruch gemäß § 11 Abs. 2 S. 1 KapMuG anzumelden, faktisch eine Austrittsoption gewährt; freilich muss man einschränkend anmerken, dass sie in diesem Fall bis zum Abschluss des Musterverfahrens warten müssen, wenn sie ihre Rechte individuell einklagen wollen, und dass dieses häufig eine gewisse faktische Bindungswirkung entfalten wird. 127 Eine opt out-Option besteht gemäß Rule 23 (c) (2) (B) (v) FRCP nur bei einer class ac‑ tion gemäß Rule 23 (b) (3) FRCP. Diese stellt allerdings den praktisch häufigsten Fall dar. 128 Kritisch auch Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 3 („faktische[r] Zwangscha‑ rakter“), vgl. auch a. a. O. S. 56. 129 Dabei muss es aber eine eventuelle Einigung mehrerer Kläger auf einen Repräsentan‑ ten berücksichtigen, vgl. § 9 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG.
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Eine Musterfeststellungsklage setzt dagegen weder voraus, dass Ausgangs‑ verfahren anhängig sind, noch trifft das Gericht bei ihr eine Auswahlentschei‑ dung zwischen mehreren möglichen Repräsentativklägern. Eine qualifizierte Einrichtung muss zunächst in der Klageschrift substantiiert darlegen, dass sie die in § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO genannten Voraussetzungen erfüllt und die Ansprü‑ che oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern von den Fest‑ stellungszielen abhängen (§ 606 Abs. 2 S. 1 ZPO). Gelingt ihr das, veranlasst das OLG innerhalb von 14 Tagen, dass die Musterfeststellungsklage im Klage‑ register öffentlich bekanntgemacht wird (§ 607 Abs. 2 ZPO). Die Bandbreite der möglichen Feststellungsziele ist dabei groß. Infrage kommen alle „tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von An‑ sprüchen130 oder Rechtsverhältnissen“, soweit sie sich auf das Verhältnis zwi‑ schen Verbrauchern (vgl. § 29c Abs. 2 ZPO) und einem Unternehmer beziehen (§ 606 Abs. 1 S. 1 ZPO). Zulässig ist die Klage, wenn drei Voraussetzungen er‑ füllt sind: Ersten muss die Klägerin nachweisen, dass sie den Anforderungen an eine qualifizierte Einrichtung genügt (§ 606 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), was ihr gege‑ benenfalls durch die Vermutung gemäß § 606 Abs. 1 S. 4 ZPO erleichtert wird. Zweitens muss sie glaubhaft machen, dass die Feststellungsziele für mindestens zehn Verbraucher relevant sind (§ 606 Abs. 3 Nr. 2 ZPO). Drittens müssen zwei Monate nach der öffentlichen Bekanntmachung der Klage mindestens 50 Ver‑ braucher ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse wirksam zur Eintragung in das Klageregister angemeldet haben (§ 606 Abs. 3 Nr. 3 ZPO). Werden mehrere Kla‑ gen mit identischem Streitgegenstand erhoben, gilt anders als beim KapMuG nur das Prioritätsprinzip des § 610 Abs. 1 ZPO.131 Dies betrifft jedoch nicht den Fall, dass mehrere gleichartige Klagen an einem Tag eingehen; diese können aber gemäß §§ 610 Abs. 2, 147 ZPO verbunden werden. Auf Beklagtenseite ist auch bei der Musterfeststellungsklage keine Repräsentation möglich. Erhebliche Unterschiede bestehen im Hinblick auf die Beteiligungsmög‑ lichkeiten der Gruppenmitglieder. Die angemeldeten Verbraucher verfügen im Rahmen der Musterfeststellungsklage anders als die Beigeladenen in einem Verfahren nach dem KapMuG nicht über eine formale Position als Verfah‑ rensbeteiligte und haben keine Mitwirkungsrechte. Anders als die Beigelade‑ nen (vgl. § 14 KapMuG) können sie keine Prozesshandlungen vornehmen.132 130 Auch gesetzliche, insb. deliktische Ansprüche sind erfasst, vgl. RegE Musterfeststel‑ lungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 21; krit. zur sprachlichen Fassung der Norm Lutz, in: BeckOK ZPO, § 606 Rn. 12. 131 Dass dies ein „Windhundrennen“ zwischen verschiedenen Verbänden provoziere, wurde bereits von mehreren Sachverständigen kritisiert, die im Zuge des Entstehungsprozes‑ ses des Gesetzes angehört wurden, vgl. Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucher‑ schutz, Protokoll-Nr. 19/15, S. 16 f., 20 f. Einschränkend Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 367. 132 RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 17; Weinland, Musterfeststel‑ lungsklage, Rn. 124.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
Gemäß § 610 Abs. 6 Nr. 1 ZPO ist es ihnen auch versagt als Nebenintervenient beizutreten.133 Mit dem Status als Beigeladener gehen also deutlich weiter‑ gehende Beteiligungsmöglichkeiten einher als sie Anmeldern bei der Muster‑ feststellungsklage, absent class members in den USA134 oder den Geschädigten beim niederländischen WCAM zukommen.
c) Verfahrensschritte auf dem Weg zu einem Vergleich Ein gerichtlicher Vergleich kann gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG entweder von den Parteien oder vom Gericht initiiert werden. Zum einen können der Mus‑ terkläger und die Musterbeklagten dem OLG gemeinsam einen schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreiten. Zum anderen können sie auch einen solchen annehmen, den das Gericht ausgearbeitet hat. Bei der Musterfestellungsklage kann gemäß §§ 610 Abs. 5 S. 1, 278 Abs. 1 ZPO ein Vergleich in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll genommen werden, ohne dass dem Gericht zuvor ein schriftlicher Vergleichsvorschlag übermittelt wird.135 Die Frage, ob diese Op‑ tion angesichts des Genehmigungserfordernisses praktikabel ist, wird die vor‑ liegende Untersuchung später bei § 8 ansprechen. Ein Vergleich kann zudem auch außerhalb eines Termins nach Maßgabe von §§ 610 Abs. 5 S. 1, 278 Abs. 6 S. 1 ZPO schriftlich geschlossen werden.136 In beiden Fällen kann die Initiative gemäß §§ 610 Abs. 5 S. 1, 278 Abs. 1 ZPO sowohl von den Musterparteien als auch vom Gericht ausgehen.137 Wie die Musterparteien zu einer Einigung kom‑ men, regeln die Gesetze hingegen nicht. Ein gerichtlicher Vergleich im Sinne von § 611 Abs. 1 ZPO kann gemäß § 611 Abs. 6 ZPO frühestens im ersten Ter‑ min geschlossen werden. Damit will der Gesetzgeber sicherstellen, dass der Vergleich möglichst viele der Verbraucher erfasst, für die eine Anmeldung in Frage kommt.138 Den Hintergrund dafür bildet § 608 Abs. 1 ZPO, der bestimmt, dass die Verbraucher ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins anmelden können. Da Verbraucher, die ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse nicht rechtzeitig angemeldet haben, einem bereits geschlossenen Vergleich nicht nachträglich beitreten können,139 133 Daher thematisieren die Reaktionen auf das Gesetz teilweise die Gefahr einer Verlet‑ zung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), so etwa Merkt/Zimmer‑ mann, VuR 2018, 363, 366. 134 Jedenfalls für einfache class members; daneben besteht unter Umständen aber noch die Möglichkeit, sich im Wege einer intervention intensiver zu beteiligen, vgl. hierzu Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.26; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:28. 135 Vgl. Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 24. 136 Vgl. Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 24; dabei verdrängt § 611 Abs. 3 S. 3 ZPO freilich als lex specialis § 610 Abs. 5 S. 1, 278 Abs. 6 S. 2 ZPO. 137 Vgl. Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 70 ff. 138 Vgl. RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 28. 139 Kritisch dazu Schmidt-Kessel, Stellungnahme zum RegE Musterfeststellungsklage, S. 20.
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steht beim Vergleichsschluss also fest, wer eine Anmeldung eingereicht hat und daher – vorbehaltlich seiner Austrittoption und dem Quorum gemäß § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO – an den Vergleich gebunden sein wird. Das KapMuG normiert eine solche Einschränkung nicht, so dass ein Vergleich jederzeit zulässig ist, zumal gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Musterverfahrens neue Beigeladene hinzukommen können. Problematisch ist dabei angesichts von § 23 Abs. 2 KapMuG, ob auch Kläger, deren Ausgangsver‑ fahren erst nach der Genehmigung des Vergleichs ausgesetzt werden, noch in den Vergleich einbezogen werden.140 Da das Gericht gemäß §§ 610 Abs. 5 S. 1 und 2, 278 Abs. 1 ZPO in jeder Lage des Verfahrens auf eine einvernehmliche Lösung hinwirken muss, ist ein Vergleich auch noch während eines Revisisons‑ verfahrens vor dem BGH (§§ 614 S. 1, 542 ff. ZPO) möglich.141 Im Hinblick auf die Rechtsbeschwerde gemäß § 20 KapMuG dürfte dies ebenso gelten, da es nicht darauf ankommt, ob einzelne Beigeladene diesem Verfahren beigetre‑ ten sind oder nicht. Ein Vergleich kann bei der Musterfeststellungsklage jedoch nur solange geschlossen werden, wie das Musterfeststellungsurteil noch nicht rechtskräftig ist. Der Vorschlag mehrerer Ausschüsse des Bundesrats, den Par‑ teien des Musterfeststellungsverfahrens zu ermöglichen, zunächst das Muster‑ festellungsurteil abzuwarten, um dann auf dessen Grundlage einen Vergleich über die angemeldeten Ansprüche zu schließen,142 wurde im Laufe des Gesetz‑ gebungsverfahrens nicht weiterverfolgt.143 Für das KapMuG gilt schon in An‑ betracht des Wortlauts von § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG („Vergleichsvorschlag zur Beendigung des Musterverfahrens“) nichts anderes. Die Unterschiede bei den Beteiligungsmöglichkeiten für die Beigeladenen beim KapMuG und die Anmelder bei der Musterfeststellungsklage zeigen sich auch im Hinblick auf einen Vergleich. Den Anmeldern muss vor der Genehmi‑ gungsentscheidung des Gerichts im Hinblick auf den Vergleichsvorschlag kein rechtliches Gehör gewährt werden – den Beigeladenen dagegen schon (§ 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG). In die vorangehenden Vergleichsverhandlungen sind sie aber – jedenfalls von Gesetzes wegen – ebensowenig eingebunden wie die An‑ melder. Das impliziert wohl, dass sie über den Inhalt des Vergleichsvorschlags informiert werden müssen, um ihnen die Möglichkeit zu geben zielgerichtet Ein‑ wendungen vorzubringen. Das KapMuG trifft jedoch keine Regelung, ob und wie dies zu geschehen hat, wobei das elektronische Informationssystem gemäß § 12 Abs. 2 S. 1 KapMuG zu diesem Zweck nicht zwingend geeignet erscheint, da es an den Beigeladenen liegt, ob sie auf es zurückgreifen oder nicht.144 140 141
Zurecht kritisch von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 141 f. Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 167. 142 Vgl. Empfehlungen der Ausschüsse, BR‑Drucks. 176/1/18, S. 15. 143 Dies kritisieren Meller-Hannich, Stellungnahme RegE KapMuG 2012, S. 9; Stadler, VuR 2018, 83, 87. 144 Vgl. auch RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 22: Das elektronische Infor‑
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Auch die Literatur scheint dieser Frage keine Bedeutung zuzumessen. Reuschle hält eine Verletzung des rechtlichen Gehörs mit Verweis auf die spätere Aus‑ trittsoption gar für unerheblich.145 Festzuhalten bleibt, dass die Beigeladenen beim KapMuG im Gegensatz zu den Anmeldern bei der Musterfeststellungskla‑ ge über das Recht verfügen Einwendungen gegen den Vergleich vorzubringen. Auf diesem Wege können sie zumindest versuchen auf die Genehmigungsent‑ scheidung des Gerichts einzuwirken. Im weiteren Verfahrensgang laufen das KapMuG und die Musterfest‑ stellungsklage wieder parallel. Nachdem das Gericht den Vergleich per Be‑ schluss genehmigt hat (§ 18 Abs. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 3 S. 3 ZPO), wird dieser den Beigeladenen beziehungsweise den angemeldeten Ver‑ brauchern zugestellt (§ 19 Abs. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 4 S. 1 ZPO). Diese haben sodann einen Monat lang Zeit, ihren Austritt zu erklären (§ 19 Abs. 2 S. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 4 S. 2 ZPO). Wie beim WCAM, aber anders als bei der class action besteht die Austrittsoption also erst nach der richterlichen Genehmigungsentscheidung. Schließlich überprüft das OLG, ob das Quorum gemäß § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO erfüllt ist und stellt gegebenenfalls im Wege eines weite‑ ren Beschlusses fest, dass der Vergleich wirksam geworden ist (§ 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 5 S. 2 ZPO). Das KapMuG und die Mus‑ terfeststellungsklage sehen demnach beide einen zweistufigen Genehmigungs‑ prozess vor. Funktional handelt es sich um eine einheitliche Genehmigung, die in zwei Elemente aufgespalten wird. Dies soll einerseits ermöglichen, dass die Beigeladenen beziehungsweise die angemeldeten Verbraucher ihre Entschei‑ dung, ob sie ihre Austrittsoption wahrnehmen oder nicht, treffen können, nach‑ dem der Vergleich bereits genehmigt wurde, sie also wissen worauf sie ver‑ zichten. Andererseits soll das Gericht die Anzahl der Austritte berücksichtigen können, bevor es dem Vergleich letztendlich Bindungswirkung verleiht. Beim KapMuG enden mit der Feststellung, dass der Vergleich wirksam geworden ist, automatisch auch die Ausgangsverfahren, sofern der jeweilige Beigelade‑ ne nicht zuvor aus dem Vergleich ausgetreten ist (§ 23 Abs. 3 S. 1 KapMuG). Die Musterfeststellungsklage verfügt im Hinblick auf mögliche Individualver‑ fahren, die nach der Anmeldung der maßgeblichen Ansprüche oder Rechtsver‑ hältnisse gemäß § 613 Abs. 2 ZPO ausgesetzt wurden, dagegen nicht über eine parallele Regelung.146 Diese Verfahren müssen daher durch eine Erledigungs‑ erklärung oder Klagerücknahme beendet werden. mationssystem ersetzt nicht die Zustellung von Zwischenentscheidungen. Die Frage ist dem‑ entsprechend, wie hoch man die Bedeutung des rechtlichen Gehörs im Hinblick auf einen Ver‑ gleich in Anbetracht der Austrittsoption ansetzt. 145 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 23. 146 Vgl. auch Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 79: keine Analogie zu § 23 Abs. 3 KapMuG, da anderer prozessualer Status der Beigeladenen.
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Weder das KapMuG noch die Musterfeststellungsklage schließen prinzipiell aus, dass die Musterparteien den Vergleich unter einen Widerrufsvorbehalt stel‑ len. § 18 Abs. 2 KapMuG verhindert allerdings, dass dieser nach Genehmigung des Vergleichs ausgeübt werden kann, um der Gefahr einer „Verschleppung des Musterverfahrens“ zu begegnen.147 Die Musterfeststellungsklage verzichtet zwar auf eine solche Einschränkung, aber es steht zu erwarten, dass ein Gericht den Vergleich erst genehmigen wird, nachdem die vereinbarte Widerrufsfrist abgelaufen ist.148
d) Gegenstand eines Vergleichs aa) Isolierter Vergleich des Musterverfahrens möglich? Dass ein Vergleich beim KapMuG und der Musterfeststellungsklage die Ebenen des Musterverfahrens und der individuellen Ansprüche miteinander verbindet, schafft ein besonderes Problemfeld. Für beide Verfahren stellt sich die Frage, ob die Parteien sich in einem Vergleich darauf beschränken können Antworten auf einzelne oder sämtliche Feststellungsziele zu formulieren, die sodann den Ausgangs- beziehungsweise Folgeverfahren zugrunde gelegt werden müssen. Für das KapMuG hatte die äußerst restriktive Vorgängerregelung (§ 14 Abs. 3 S. 2 KapMuG 2005) nach herrschender Meinung einen solchen isolierten Vergleich des Musterverfahrens geregelt.149 Ihr praktischer Nutzen war jedoch gering, da sie verlangte, dass neben den Musterparteien auch sämtliche Beige‑ ladenen ausdrücklich ihre Zustimmung zu einem Vergleich erklärten. Deswe‑ gen wurde die damalige Regelung von der Literatur zunehmend als unbefriedi‑ gend empfunden.150 Die Reform des KapMuG von 2012 setzt nach dem Willen des Gesetzgebers das Gegenmodell um, nach dem das Musterverfahren nicht isoliert von den Ausgangsrechtsstreiten verglichen werden kann.151 Die Vor‑ gabe, dass ein gerichtlicher Vergleich auch die Ausgangsrechtsstreite beenden muss, hat ihren Niederschlag im Wortlaut von § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG („Ver‑ gleichsvorschlag zur Beendigung des Musterverfahrens und der Ausgangsver‑ fahren“) sowie von § 18 Abs. 1 KapMuG („angemessene gütliche Beilegung 147
RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 25. Weinland, Musterfestellungsklage, Rn. 168. 149 Vgl. Vollkommer, in: KK‑KapMuG (1. Aufl. 2008), § 14 Rn. 47; Wolf, in: Vorwerk/ Wolf, KapMuG, § 14 Rn. 21. 150 Vgl. nur Halfmeier, ZIP 2011, 1900, 1903; Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 382; zuvor bereits Schneider, BB 2005, 2249, 2255. Außerdem hatten schon die BR‑Ausschussempfeh‑ lungen zum KapMuG 2005 (BR‑Drucks. 2/1/05, S. 16) davor gewarnt, dass die Regelung „Missbräuchen durch Abkaufen der Lästigkeit Vorschub leisten könnte“; ebenso Schneider, BB 2005, 2249, 2255. 151 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24; so auch Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 1, 6 (a. a. O. Rn. 8 ff. aber scheinbar im Widerspruch hierzu); Winter, in: Wieczorek/ Schütze, KapMuG, § 17 Rn. 4, 21. 148
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten“) gefunden. Zusätzlich bekräftigen dies die Soll-Inhalte gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1–3 KapMuG, die voraussetzen, dass die einzelnen Beigeladenen infolge des Vergleichs Leistungen erhalten. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Feststellungsziele immer auch einen konkreten Subsumtionsschluss enthalten, der nicht zur Disposition der Parteien steht.152 Die Musterparteien können daher nicht eine bestimmte Rechtsansicht vorgeben, die für spätere Verfahren gelten soll.153 Für eine Einigung über die der Subsumtion im Musterverfahren zugrundeliegenden Tatsachen verweist der Gesetzgeber auf die Möglichkeit eines gerichtlichen Geständnisses gemäß § 288 ZPO.154 Diese soll offenbar das Bedürfnis nach einem Vergleich besei‑ tigen. Auch wenn man einen Vergleich zulassen wollte, in dem die Musterpar‑ teien lediglich hinsichtlich bestimmter tatsächlicher Feststellungen miteinander übereinkommen,155 könnte dieser jedoch das Musterverfahren nicht unmittel‑ bar beenden, sondern – als Zwischenvergleich – allenfalls einen Sachverhalt unstreitig stellen, der sodann die Grundlage für die Entscheidung des Gerichts über den Erlass eines Musterfeststellungsbescheids bilden würde. Diese Argumentation lässt sich unmittelbar auf die Musterfeststellungsklage übertragen, auch wenn die Gesetzesmaterialien sich nicht hierzu äußern. Diese richtet sich ebenfalls auf bestimmte Feststellungsziele. § 611 Abs. 2 ZPO156 und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO lehnen sich zudem eng an die einschlägigen Parallelvor‑ schriften des KapMuG an. In der Literatur wird allerdings auch die Gegenmei‑ nung vertreten.157 Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung braucht der Streit nicht entschieden werden. Falls man einen isolierten Vergleich des Mus‑ terverfahrens zuließe, müssten die Gerichte jedoch im Einzelfall sorgfältig prü‑ fen, ob dieser den Anmeldern einen angemessenen Nutzen bringt.
bb) Sonstige Teil- und Zwischenvergleiche Auch wenn davon ausgeht, dass das Musterverfahren nicht losgelöst von den Ausgangsverfahren verglichen werden kann, stellt sich die Frage, ob Teilver‑ gleiche in Bezug auf einzelne Ansprüche oder Untergruppen von Beteiligten beziehungsweise Anmeldern zulässig sind. Die Möglichkeit von Teilverglei‑ chen wird für das KapMuG überwiegend abgelehnt, da diese nicht auch sämtli‑ 152 Zur mangelnden Ausschaltbefugnis der Parteien vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 77 Rn. 10; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, Einl. Rn. 84, jeweils m. w. N. 153 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 10; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 17 Rn. 26. 154 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. 155 So Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 8 f.; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 17 Rn. 23 ff. 156 Vgl. dazu Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 370. 157 Mekat, in: Nordholtz/Mekat, § 7 Rn. 9; Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 20.
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che Ausgangsverfahren beenden.158 Mit Blick auf die Musterfeststellungsklage wollen manche sie dagegen zulassen, wenn bestimmte Ansprüche oder Rechts‑ verhältnisse abgrenzbar sind.159 Auch ein Zwischenvergleich soll möglich sein und § 611 ZPO unterfallen, wenn die Klärung der Zwischenfrage „auf die Ver‑ braucherinteressen durchschlägt“.160
e) Die Verteilungsphase Das KapMuG und die ZPO geben nicht im Detail vor, wie eine eventuelle Ver‑ teilungsphase ausgestaltet werden soll. § 17 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG und § 611 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gehen aber davon aus, dass die Parteien Nachweisanforderun‑ gen vereinbaren werden, denen die Gruppenmitglieder nachkommen müssen, um Leistungen aus dem Vergleich abzurufen.161 Es kann also erforderlich sein geeignete Mechanismen zu konzipieren, um die Anspruchsberechtigung der einzelnen Gruppenmitglieder zu prüfen. Weder das KapMuG noch die Muster‑ feststellungsklage sehen vor, dass Ansprüche aus dem Vergleich unmittelbar vollstreckt werden können.162
V. Schlussfolgerungen Dass ein Vergleich mit richterlicher Zustimmung für Personen verbindlich sein kann, die in dem zugrundeliegenden Rechtsstreit nicht die Stellung einer voll‑ wertigen Prozesspartei einnehmen, ist in allen untersuchten Rechtsordnungen eine Ausnahme, die diese jeweils nur im Rahmen besonderer Verfahrensformen zulassen. Diese unterscheiden sich dabei von ihrer Grundkonzeption her erheb‑ lich. Unter den hier untersuchten ist die amerikanische class action am offens‑ ten und vielfältigsten. Sie erlaubt zwar konzeptionell eine streitige Entschei‑ dung; in der Praxis dominiert aber seit jeher die Verfahrensbeendigung durch einen Vergleich. Das geht soweit, dass es im Rahmen einer settlement class ac‑ tion möglich ist, dass die Parteien von vornherein mit einem fertig ausgehandel‑ ten Vergleich an das Gericht herantreten. Genau das ist auch die Ausgangssitua‑ tion eines Verfahrens nach dem niederländischen WCAM, in dessen Rahmen jedoch eine streitige Entscheidung nicht vorgesehen ist. Es ist allerdings im Einzelfall denkbar, dass es eine komplementäre Funktion neben individuellen 158 Vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 6, § 18 Rn. 8; von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 349; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 17 Rn. 4. 159 Vgl. Mekat, in: Nordholtz/Mekat, § 7 Rn. 31 f.; Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 22. 160 So Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 21. 161 Vgl. Mekat, in: Nordholtz/Mekat, § 7 Rn. 19. 162 Vgl. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 16; Mekat, in: Nordholtz/Mekat, § 7 Rn. 87.
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Erster Teil: Hintergründe und Regelungen
Rechtsstreiten oder einer andersgearteten Verbandsklage erfüllt, die im Vorfeld stattgefunden haben. Das deutsche KapMuG ist dagegen als Vorlageverfahren konzeptionell nur ein Zwischenschritt; es dient dazu, mehrere gleichartige In‑ dividualprozesse vorübergehend zusammenzuführen, um Fragen zu klären, die ihnen gemeinsam sind. Die Musterfeststellungsklage beschränkt sich in einem streitigen Verfahren ebenfalls darauf Teilfragen zu klären. Zudem unterscheiden sich die verschiedenen Verfahren im Hinblick darauf, ob sie eine gesonderte Zulassungsentscheidung vorsehen oder ob diese mit der Genehmigung des Ver‑ gleichs zusammenfällt. Im Hinblick auf die Grundstrukturen der Genehmigung eines Vergleichs äh‑ neln sich die Verfahrensformen dennoch stark. Zunächst verabschieden sich das KapMuG und die Musterfeststellungsklage im Zusammenhang mit einem Ver‑ gleich von ihrem Charakter als Verfahren, die nur einzelne Feststellungszie‑ le betreffen, und erlauben genauso wie die class action und das WCAM eine einheitliche und abschließende Lösung für alle Gruppenmitglieder zustande zu bringen. Das Verfahren für die Genehmigung des Vergleichs weist sodann in allen drei Rechtsordnungen im Ausgangspunkt dieselben Strukturelemente auf: Die Parteien müssen die Verbindlicherklärung eines Vergleichs beantragen, die Gruppenmitglieder werden über diesen informiert und erhalten – abgesehen von der Musterfeststellungsklage – die Gelegenheit, Einwendungen vorzubrin‑ gen oder aus ihm auszutreten und das Gericht trifft schließlich eine verbindliche Genehmigungsentscheidung. Sie unterscheiden sich aber in der Reihenfolge dieser Elemente und einigen anderen Details. Am Anfang steht freilich immer der Antrag auf Genehmigung; die Einwendungen müssen vorgebracht werden, bevor das Gericht seine Entscheidung trifft. Hingegen besteht die Austrittsmög‑ lichkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten: Beim WCAM, dem KapMuG und der Musterfeststellungsklage ist sie erst eröffnet, nachdem das Gericht den Ver‑ gleich genehmigt hat. Bei der class action muss sie hingegen während eines bestimmten Zeitraums vor der Genehmigungsentscheidung wahrgenommen werden. Im Ergebnis bedeutet das, dass die Gruppenmitglieder in den Nieder‑ landen und beim deutschen KapMuG zunächst ihre Einwendungen vorbringen können; falls diese nicht durchschlagen, können sie sich später dazu entschlie‑ ßen, aus dem Vergleich auszutreten. In den USA müssen sie sich hingegen von vornherein entscheiden, ob sie entweder Einwendungen erheben oder ihre Aus‑ trittsoption wahrnehmen wollen. Die vorliegende Untersuchung wird in ihrem weiteren Verlauf noch auf die Frage eingehen, ob sich hieraus Unterschiede er‑ geben.163 Daneben weist der amerikanische Ansatz noch die Besonderheit auf, dass der Richter in Gestalt des preliminary approval zunächst eine vorläufige Einschätzung der Fairness des Vergleichs vornimmt, um zu entscheiden, ob er die Gruppenmitglieder über den Vergleich sowie ihr Austrittsrecht benachrichti‑ 163
Siehe unten S. 248 ff.
§ 3: Untersuchte Verfahrensformen
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gen und einen Anhörungstermin ansetzen soll. Das WCAM (Art. 1018a Rv) und das KapMuG (§ 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG) sehen jeweils eine Möglichkeit vor, wie das Gericht an der Genese eines Vergleichs mitwirken kann; für die Mus‑ terfeststellungsklage gelten gemäß § 610 Abs. 5 S. 1 ZPO die allgemeinen Re‑ gelungen der ZPO. Bei der class action findet sich hingegen keine spezifische Regelung dieser Frage.
Zweiter Teil
Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
§ 4: Gerichtliche Kontrolle im Kontext des Repräsentationsgedankens I. Der Zweck des Genehmigungserfordernisses für Vergleiche 1. Schranke der Gestaltungsbefugnis des Repräsentanten Der kollektive Rechtsschutz beruht auf dem Gedanken, eine Vielzahl gleich‑ artiger Sachverhalte so in einem Verfahren zusammenzufassen, dass die Zahl der Akteure auf ein handhabbares Maß reduziert werden kann. Wenn man von reinen Gewinnabschöpfungsverfahren wie § 10 UWG oder § 34a GWB ab‑ sieht, die zumindest konzeptionell lediglich ergänzend neben die individuelle Anspruchsverfolgung treten,1 soll das Verfahrensergebnis aber gleichwohl die Sache umfassend abschließen und für alle Betroffenen bindend sein. Bei einer Gruppenklage wird aber immer nur ein Mitglied oder zumindest eine begrenz‑ te Zahl von Mitgliedern der Gruppe an Stelle der gesamten Gruppe tätig. Es ist auch möglich, dass – wie beim WCAM und der Musterfeststellungsklage – eine besonders qualifizierte externe Instanz diese Rolle einnimmt, die selbst kein Gruppenmitglied ist. Dieses Repräsentationselement unterscheidet sie von einem Individualverfahren oder auch einer „einfachen“ Verbindung mehrerer Verfahren,2 wie sie etwa im deutschen Zivilprozessrecht im Wege der Streitge‑ nossenschaft (§§ 59 ff. ZPO) oder im amerikanischen Bundesrecht als joinder (Rules 18 ff. FRCP) möglich ist. Anders als in diesen Fällen gibt es in Gruppen‑ klagen als Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes nicht lediglich mehrere gleichberechtigte Kläger; diese Position nimmt vielmehr nur ein Repräsentant – oder allenfalls eine überschaubare Anzahl an Repräsentanten – ein, während die sonstigen Betroffenen grundsätzlich passiv bleiben. Wenn ein Urteil oder eine andere richterliche Sachentscheidung einen Rechtsstreit beenden soll, gilt für alle hier untersuchten Verfahrensformen, dass 1 Vgl. § 10 Abs. 2 UWG, § 34a Abs. 2 GWB. Der Gewinnabschöpfungsanspruch in § 10 UWG verdankt seine Existenz allerdings gerade dem Umstand, dass bei Streuschäden eine Rechtsdurchsetzung im Rahmen von auf Zahlung von Schadensersatz gerichteten Individual‑ verfahren kaum stattfindet, vgl. Köhler/Bornkamm, UWG, § 10 Rn. 3. In der Rechtspraxis hat er dennoch keine nennenswerte Bedeutung gewinnen können, vgl. Harte-Bavendamm/Hen‑ ning-Bodewig/Goldmann, UWG, § 10 Rn. 5; Ohly/Sosnitza, UWG, § 10 Rn. 3. 2 Mullenix, 57 Vand. L. Rev. 1687, 1694 f. (2004) (zur amerikanischen class action).
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der Repräsentant nicht unmittelbar die Rechtsfolgen für die Gruppe gestalten kann, sondern darauf beschränkt ist, seine Anträge zu stellen, den Sachverhalt zu schildern, Beweise anzubieten und im Zuge dessen auf das Gericht – also auf eine unabhängige Entscheidungsinstanz – einzuwirken. Insofern bestehen in einem Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes abgesehen von der Tatsa‑ che der Repräsentation keine grundsätzlichen Unterschiede zu einem Indivi‑ dualverfahren. Bei einem Verfahrensabschluss durch einen Vergleich ist dies im Ausgangspunkt anders. Eine Partei in einem Individualverfahren kann mit der Gegenseite aus eigener Machtvollkommenheit eine bindende Regelung zu ver‑ einbaren, die den Rechtsstreit beendet. Einen Repräsentanten hindert dagegen das Erfordernis einer richterlichen Genehmigung eines Vergleichs daran, dies ebenfalls zu tun. Owen Fiss hat diese Zusammenhänge in seinem grundlegen‑ den Aufsatz aus dem Jahr 1984 für das amerikanische Recht auf den Punkt ge‑ bracht: There is a conceptual and normative distance between what the representatives do and say and what the court eventually decides, because the judge tests those statements and actions against independent procedural and substantive standards. The authority of judg‑ ment arises from the law, not from the statements or actions of the putative representa‑ tives, and thus we allow judgment to bind persons not directly involved in the litigation even when we are reluctant to have settlement do so.3
Indem die in dieser Untersuchung analysierten Verfahrensformen einen grup‑ penweiten Vergleich nur unter der Bedingung seiner richterlichen Genehmi‑ gung zulassen, definieren sie eine Grenze für die Kompetenzen des Repräsen‑ tanten. Dieser ist befugt eine verfahrensinterne Funktion auszufüllen; über das Verfahren als solches darf er hingegen nicht selbständig durch einen Vergleichs‑ schluss disponieren, zumindest soweit dies mit Auswirkungen auf die mate‑ rielle Rechtsstellung der Gruppenmitglieder verbunden ist. Könnten die Reprä‑ sentanten ein Gruppenverfahren ohne richterliche Aufsicht vergleichen, würden ihre Kompetenzen immens über diejenigen in der Situation eines Verfahrens‑ abschlusses durch eine streitige Entscheidung in der Hauptsache hinausgehen. Sie wären dann befugt unmittelbar auf die Rechtsstellung der Repräsentierten einzuwirken, könnten diese also verpflichten und auch über ihre Rechte ver‑ fügen, etwa indem sie auf weitergehende Ansprüche verzichten. Im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage wäre der Unterschied zu einer streitigen Entscheidung besonders auffällig: Ein Musterentscheid oder ein Musterfest‑ stellungsurteil beschränken sich nach § 2 Abs. 1 S. 1 KapMuG beziehungswei‑ se § 606 Abs. 1 ZPO auf die Feststellung, ob einzelne rechtliche oder tatsäch‑ liche Voraussetzungen des maßgeblichen Anspruchs oder Rechtsverhältnisses vorliegen oder nicht. Ein gerichtlicher Vergleich muss hingegen gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG auch eine abschließende Regelung für die Ausgangsver‑ 3
Fiss, 93 Yale L. J. 1073, 1080 f. (1984).
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fahren der einzelnen Beteiligten treffen.4 § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO ist weniger di‑ rekt formuliert, deutet aber ebenfalls auf ein umfassendes Regelungsprogramm hin. Er verlangt, dass ein gerichtlicher Vergleich den Streit oder die Ungewiss‑ heit „über die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse“ beilegt. § 17 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG und § 611 Abs. 2 Nr. 2 ZPO untermauern dies, indem sie vorgeben, dass ein gerichtlicher Vergleich den Gruppenmitgliedern Leistungs‑ ansprüche einräumen soll. Dieser wird demnach zumindest im typischen Fall über den möglichen Gegenstand einer streitigen Entscheidung hinausgehen. In einem Individualverfahren ist es zwar ohne weiteres denkbar, dass eine Partei ihrem Prozessvertreter weitgehende Vollmachten erteilt, die diesen dazu ermächtigen, einen Prozessvergleich selbständig auszuhandeln und in ihrem Namen abzuschließen, oder dass ein Prozessstandschafter über ähnliche Kom‑ petenzen verfügt.5 Rechtsgeschäftliche Vollmachten oder Ermächtigungen kön‑ nen in den untersuchten Rechtsordnungen im Kontext des kollektiven Rechts‑ schutzes jedoch gerade nicht vorausgesetzt werden, zumal die Repräsentanten jenseits ihrer Rolle im Prozess nicht zwangsläufig in einer besonderen recht‑ lichen Beziehung zu den sonstigen Betroffenen stehen. Das gilt vor allem für opt out-Verfahren wie die class action oder das WCAM. Auch in einem opt inVerfahren kann man einem Gruppenmitglied nicht ohne weiteres unterstellen, mit seiner Beitrittserklärung den Repräsentanten zu mehr als zur reinen Pro‑ zessführung ermächtigen zu wollen. Gerade bei der Musterfeststellungsklage wirkt dieser Vorbehalt plausibel, da sich ein Vergleich nicht auf Regelungen zu den Feststellungszielen beschränkt und damit über den Gegenstand eines Musterfeststellungsurteils hinausgeht. Das KapMuG, bei dem sich das Verhält‑ nis von Musterkläger und Beigeladenen am Leitbild der einfachen Nebeninter‑ vention orientiert,6 gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass jene diesen ermächtigt haben, einen Vergleich zu schließen, der sie bindet, schon gar nicht jenseits des Bereichs der Feststellungsziele. Die Stellung eines Repräsentanten bei einem Vergleichsschluss unterscheidet sich daher in opt in- wie in opt out-Verfahren dadurch von derjenigen eines umfassend bevollmächtigten Stellvertreters oder Verfügungsberechtigten, dass er die Repräsentierten ohne Mitwirkung des Ge‑ richts weder verpflichten noch über ihre Rechte verfügen kann, wobei jedenfalls im deutschen Recht eine genaue dogmatische Verortung noch aussteht. Das Genehmigungserfordernis nähert die Rolle, die ein Repräsentant bei einem Vergleichsschluss einnimmt, derjenigen an, die er in Bezug auf eine streitige Entscheidung ausfüllt. In beiden Fällen verfügt er über Gestaltungs‑ möglichkeiten: Einerseits wählt er eine Prozessstrategie und verhält sich dem‑ 4
Vgl. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. Vgl. BGH, Urt. v. 14. 09. 2018, Az.: V ZR 267/17, NJW 2019, 310 Rn. 17 zu § 265 Abs. 2 S. 1 ZPO. Meller-Hannich, DJT‑Gutachten 2018, S. 81 ff. sieht für die von ihr vorgeschlagene Gruppenklage die Repräsentation als eine Form der Prozessstandschaft. 6 Vgl. RegE KapMuG 2005, BT‑Drucks. 15/5091, S. 19. 5
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entsprechend, andererseits kann er mit der Gegenseite einen Vergleich aushan‑ deln. Rechtliche Wirkung erlangt sein Verhalten aber jeweils nur durch einen richterlichen Akt, der das Repräsentationsverhältnis verwirklicht. Macey und Miller heben für das amerikanische Recht hervor, dass die Frage danach, wie die richterliche Kontrolle eines Vergleichs ausgestaltet sei, die Kompetenzver‑ teilung zwischen dem class counsel und dem Gericht betreffe.7 Wenn man die zusätzliche Komplexitätsebene, die insbesondere bei der class action durch die Beteiligung von Rechtsanwälten entsteht, zunächst ausblendet, lässt sich diese Aussage verallgemeinern und auf die anderen hier analysierten Verfahrensfor‑ men übertragen: Der Prüfungsgegenstand und der Prüfungsmaßstab des Ge‑ richts definieren, wo die Schranken der Autonomie des Repräsentanten beim Vergleichsschluss liegen. Sie bestimmen – im einzelnen Fall freilich erst in der Rückschau – darüber, welche realisierbaren Optionen für die Parteien auf dem Verhandlungstisch liegen.8
2. Zusammenspiel mit der Austrittsoption der repräsentierten Gruppenmitglieder Es erscheint nicht zwingend, dass der Bereich, der außerhalb der Gestaltungs‑ befugnisse des Repräsentanten liegt, mit einer Entscheidungskompetenz des Ge‑ richts ausgefüllt werden soll. Wenn man die Stellung als Repräsentant als eine beschränkte Befugnis auffasst, im Interesse der Gruppe tätig zu werden, liegt es vielmehr nahe, dass die Gruppenmitglieder dort, wo diese Befugnis nicht gilt, jeweils eigenverantwortliche Entscheidungen treffen. Dementsprechend hatte die alte Regelung im KapMuG (§ 14 Abs. 3 S. 2 KapMuG 2005) vorgesehen, dass die Beigeladenen einem Vergleich allesamt zustimmen mussten, damit er für die Gruppe verbindlich wird.9 Der Nachteil dieses Lösungsansatzes ist je‑ doch seine mangelnde Praktikabilität. Die hier untersuchten Verfahrensformen sehen demgegenüber allesamt vor, dass ein vom Gericht genehmigter Vergleich die Gruppenmitglieder bindet, wenn sie nicht eine ihnen in diesem Zusammen‑ hang eingeräumte Austrittsoption wahrnehmen. Dahinter steht letztlich die Überlegung, man könne davon ausgehen, dass sie einen für sie günstigen Ver‑ gleich üblicherweise annehmen würden, wenn sie Zeit und Gelegenheit hätten, eine informierte Entscheidung hierüber zu treffen. Im Sinne des verhaltensöko‑ nomischen „nudge“-Gedankens handelt es sich um eine Entscheidungsarchitek‑ 7 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 178 (2009). 8 So Bronsteen/Fiss, 78 Notre Dame L. Rev. 1419,
1448 f. (2003), die einen Vergleich bei einer class action aber entgegen der aktuellen Rechtslage nur für solche Gruppenmitglieder verbindlich sein lassen wollen, die ihm ausdrücklich zugestimmt haben. 9 Vereinzelt wird dies de lege ferenda sogar in den USA gefordert, vgl. Bronsteen/Fiss, 78 Notre Dame L. Rev. 1419, 1448 f. (2003).
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tur, die eine positive Bewertung des Vergleichs quasi auf Widerruf vorgibt.10 Diese Vermutung zugunsten des Vergleichs kann aber nur gerechtfertigt wer‑ den, wenn sichergestellt ist, dass dieser einem gewissen Standard gerecht wird. Genau dies gewährleistet seine richterliche Genehmigung, für die die hier un‑ tersuchten Verfahrensformen jeweils einen Prüfungsmaßstab vorsehen, der auf einem Begriff der Angemessenheit des Vergleichs für die Gruppenmitglieder beruht. Die gerichtliche Kontrolle und die Austrittsoption sind so gesehen nicht zwei voneinander unabhängige Instrumente, sondern greifen ineinander. Die Austrittsoption rechtfertigt die Bindung der Repräsentierten an einen Vergleich nur, weil sie selbst durch dessen gerichtliche Genehmigung legitimiert wird. Umgekehrt gleicht sie im Rahmen der Genehmigungsentscheidung mögliche Einschränkungen bei der Gewährung rechtlichen Gehörs aus. Im Kontext des deutschen Zivilprozessrechts hat diese Sichtweise, die die richterliche Kon‑ trolle eines Vergleichs funktionell mit der Austrittsoption der Gruppenmitglie‑ der verknüpft, vieles für sich. So kann sie die – verglichen mit einem Urteil in der Hauptsache – eingeschränkte Prüfungstiefe der Genehmigungsentschei‑ dung plausibel machen. Dagegen muss eingeräumt werden, dass ein solcher Erklärungsansatz im amerikanischen Kontext zumindest ahistorisch wäre, da das Genehmigungserfordernis für einen Vergleich lange vor der zweiten Aus‑ trittsoption eingeführt wurde, zumal diese jedenfalls nach dem Gesetzeswort‑ laut nicht zwingend vorausgesetzt wird. Allerdings ist die gerichtliche Kon‑ trolle erst recht geboten, wenn die Gruppenmitglieder aus einem Vergleich noch nicht einmal austreten können, wie etwa bei einer mandatory class action gemäß Rule 23 (b) (1) und (2) FRCP. Auch wenn die Möglichkeit eines Austritts aus dem Vergleich potentiell die Vergleichsbereitschaft senkt, da die Parteien zum Zeitpunkt des Vergleichs‑ schlusses nicht mit Sicherheit voraussehen können, für wie viele Repräsentierte der Vergleich letztlich Bindungswirkung entfalten wird,11 ist sie im deutschen Zivilprozessrecht geboten, zumal dieses Problem – sofern es überhaupt prak‑ tische Relevanz hat – durch die Quoren gemäß § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG und § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO entschärft wird. Es lässt sich hierzulande kaum rechtferti‑ gen die Bindungswirkung eines Vergleichs allein auf eine gerichtliche Entschei‑ dung zu stützen, die auf einem letztlich nur kursorischen Verfahren beruht. Das gilt zumal dann, wenn die Repräsentierten – wie bei der Musterfeststellungskla‑ ge – nicht über Mitwirkungsrechte verfügen. Wenn man diese Mängel beheben wollte, würde ein Vergleich im Ergebnis keinerlei Effizienzvorteile gegenüber einer streitigen Entscheidung bieten. Ein reiner opt in-Vergleich erscheint da‑ gegen unpraktikabel. Die Parteien haben wenig Anreiz unter erheblichem Auf‑ 10 Vgl.
Delatre, (2011) 8 Comp. L. Rev. 29, 45. kritisch Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 182; vgl. zum KapMuG auch Bussian/Schmidt, PHi 2012, 42, 47 (Austritt verhindere einheitliche Klärung der gemeinsamen Streitfragen). 11 Daher
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wand eine angemessene Lösung auszuhandeln, wenn diese letztlich nur ein un‑ verbindliches Angebot an die Gruppenmitglieder darstellt und es mit Blick auf deren rationale Apathie ungewiß ist, wie viele von ihnen es annehmen werden. Die opt out-Gestaltung auf der Ebene eines Vergleichs bringt damit nicht zuletzt das Interesse des Gesetzgebers an einvernehmlichen Lösungen zum Ausdruck.
3. Grenzen des Anwendungsbereichs des Genehmigungserfordernisses a) Kein Schutzinstrument zugunsten der Gegenseite In den USA wird in der Regel stillschweigend vorausgesetzt, dass das Genehmi‑ gungserfordernis nur im Interesse der Gruppenmitglieder besteht. Es soll auszu‑ gleichen, dass diese nicht an den Vergleichsverhandlungen beteiligt waren. In einer der wenigen Entscheidungen, die diese Frage im Zusammenhang mit der class action überhaupt thematisieren, heißt es, dass ein Beklagter, der an der Ge‑ nese des Vergleichs mitgewirkt hat, nicht schutzbedürftig sei. Ihm stünden ande‑ re Rechtsbehelfe gegen einen materiellrechtlich zu beanstandenden Vergleichs‑ vertrag zu, so könne er diesen etwa anfechten („seek rescission“).12 Auch in den Niederlanden legt der Wortlaut der Auffangbestimmung des Art. 907 Abs. 3 lit. e BW („belangen van de personen ten behoeve van wie de overeenkomst is gesloten anderszins onvoldoende gewaarborgd“) nahe, dass der gerechtshof Amsterdam den Vergleich überprüft, um die Interessen der Gruppenmitglieder zu wahren. Jedenfalls hat sich die bisherige einschlägige Entscheidungspraxis so weit ersichtlich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Genehmigung eines Vergleichs auch allein aufgrund der Belange der Gegenseite abgelehnt werden könnte. In Deutschland ist dagegen für das KapMuG und die Muster‑ feststellungsklage die Ansicht verbreitet, dass das Genehmigungserfordernis gewährleisten solle, dass ein Vergleich mit Blick auf die Belange beider Partei‑ en fair ist; es schütze demnach auch die Beklagten. So führt der Regierungsent‑ wurf zur Reform des KapMuG von 2012 aus, dass die Angemessenheitsprüfung die Musterbeklagten davor bewahren solle zu überzogenen Zugeständnissen gedrängt zu werden.13 Stimmen aus der Literatur betonen, es müsse verhindert werden, dass ein Beklagter infolge des Abschlusses eines Vergleichs in die Ge‑ fahr der Insolvenz gerate.14 Im Rahmen des KapMuG müsse zudem im Inte‑ 12 In re Corrugated Container Antitrust Litigation, 643 F. 2d 195, 225 (5th Cir. 1981); vgl. auch In re Cendant Corp. Litigation, 264 F. 3d 286, 296 (3d Cir. 2001); DeHoyos v. Allstate Corp., 240 F.R.D. 269, 286 (W. D. Tex. 2007). 13 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 25; so auch Winter, in: Wieczorek/Schüt‑ ze, KapMuG, § 18 Rn. 5; a. A. für die Musterfeststellungsklage Röthemeyer, Musterfeststel‑ lungsklage, § 611 Rn. 33; Schmidt, in: BLAH, § 611 Rn. 6; krit. ggü. Schutz des Beklagten auch Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91. 14 So von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 422 f.; Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Mus‑ terfeststellungsklage, § 7 Rn. 44.
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resse der Musterbeklagten sichergestellt werden, dass der Vergleich so gefasst ist, dass Beigeladene, deren Ausgangsrechtsstreite gar nicht von dem Muster‑ verfahren abhängen – womöglich, weil ihre individuellen Klagen bereits un‑ schlüssig sind –, keine Leistungen erhielten.15 Der Vorschlag der Europäischen Kommission vom 11. April 2018 für eine „Richtline über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“16 sieht in Art. 8 Abs. 4 S. 2 vor, dass bei der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs „die Rechte und Interes‑ sen aller Parteien […] berücksichtigt werden.“ Zuvor hatte bereits ihre Empfeh‑ lung vom 11. Juni 2013 die „Berücksichtigung des Schutzes der Interessen und Rechte aller Beteiligten“ verlangt.17 Hinter der Ansicht, dass ein Gericht die Genehmigung eines Vergleichs ver‑ sagen soll, wenn dieser die Interessen eines Beklagten unangemessen beein‑ trächtigt, steht offenbar die Befürchtung, dass die Zusammenfassung einer Viel‑ zahl von Forderungen den Vergleichsdruck für einen Beklagten in einem Maße steigern könne, dem er nichts mehr entgegenzusetzen habe – so dass er selbst dann einem für ihn ungünstigen Vergleich zustimmen werde, wenn die gegen ihn erhobenen Ansprüche nicht oder zumindest nicht in entsprechendem Um‑ fang bestehen können. Diese Sichtweise greift einen verbreiteten Topos der Kri‑ tik an der class action auf, der sich jedoch richtigerweise allenfalls mit Ein‑ schränkungen auf die Situation in Deutschland übertragen lässt.18 Man muss dabei berücksichtigen, was den vermeintlichen Vergleichsdruck ausmacht. Un‑ bestritten dürfte sein, dass sich ein Eingriff des Gerichts von vornherein nicht rechtfertigen lässt, wenn der Vergleichsdruck darauf zurückzuführen ist, dass die Kläger einfach über besonders starke Ansprüche verfügen und daher mit einer Entscheidung zu ihren Gunsten zu rechnen ist.19 Dass dies für einen Be‑ klagten bedrohlich erscheinen mag, ist im kollektiven Rechtsschutz ebensowe‑ nig zu berücksichtigen wie in einem gewöhnlichen Zweiparteienprozess, un‑ abhängig davon, ob der Beklagte sich dort einem einzigen besonders großen Anspruch gegenübersieht oder aber – in einer Vielzahl von parallelen Rechts‑ streiten – zahlreichen kleineren Ansprüchen. Problematisch ist daher allenfalls die Situation, dass die Klägerseite über weit bessere Ressourcen als der Beklag‑ te verfügt oder von der Verfahrensordnung durch eine unausgewogene Aus‑ gestaltung der Parteirollen strukturell bevorzugt wird, so dass sie in der Lage ist selbst dann erheblichen Druck auf den Beklagten auszuüben, wenn ihre Forde‑ rungen aus der Luft gegriffen oder tatsächlich wesentlich geringer als behauptet 15 So Winter, in: Wieczorek/Schütze, 16 COM(2018) 184 final. 17
KapMuG, § 18 Rn. 12.
Europäische Kommission, Empfehlung: Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unter‑ lassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Uni‑ onsrecht garantierten Rechten (2013/396/EU), Rn. 28. 18 Siehe oben S. 13 zum in Relation zur amerikanischen Situation geringeren Ver‑ gleichsdruck in Deutschland. 19 Vgl. Stadler, ZHR 182 (2018), 623, 635 f.
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sind. In Deutschland gibt es allerdings nicht den gefürchteten „toxic cocktail“ des amerikanischen Zivilprozessrechts – aus der Kostenregelung der American rule, contingency fees, den weitreichenden Möglichkeiten der discovery, pu‑ nitive damages und dem Risiko unberechenbarer Entscheidungen einer jury –, der es aus Sicht der Kritiker unternehmerisch agierenden Klägeranwälten er‑ leichtert, Beklagte mit ungerechtfertigten Forderungen unter Druck zu setzen.20 Zudem stellt eine streitige Endentscheidung beim KapMuG und der Muster‑ feststellungsklage lediglich einzelne Anspruchsvoraussetzungen fest. Eine Ver‑ urteilung auf Leistung droht also jedenfalls nicht unmittelbar. Im Übrigen sollte man Macht und Ressourcen der Großunternehmen, die in Verfahren des kol‑ lektiven Rechtsschutzes typischerweise auf der Gegenseite stehen, keinesfalls unterschätzen.21 Kleinere, weniger zahlungskräftige Unternehmen bieten kom‑ merziell ausgerichteten Klägervertretern dagegen in viel geringerem Maße ein lohnendes Ziel. Vor diesem Hintergrund ist bei KapMuG und Musterfestsstel‑ lungsklage kein Vergleichsdruck zu erwarten, der den viel gescholtenen „ame‑ rikanischen Verhältnissen“ auch nur nahekommt. Auch beim WCAM soll es bislang keine Anzeichen für „frivolous litigation“ geben,22 was im Einklang mit dem steht, was von einem Verfahren zu erwarten ist, das seiner Konzepti‑ on nach keine Möglichkeit einer streitigen Entscheidung vorsieht. Im Übrigen wäre einem Beklagten, der sich vergleicht, um den womöglich ruinösen laufen‑ den Kosten des Verfahrens oder dem Risiko eines Prozessverlustes zu entgehen, wenig geholfen, wenn man ihn durch die Ablehnung der Genehmigung eines Vergleichs gerade dazu zwänge das kostenträchtige Verfahren fortzuführen und das Risiko einzugehen, in diesem zu unterliegen. Dass ein Prüfungsmaßstab, der zu solchen Ergebnissen führt, auf lange Sicht möglicherweise geeignet wäre die Kläger davon abzuschrecken, in den Vergleichsverhandlungen überzogene Forderungen zu stellen, hilft einem konkret betroffenen Beklagten wenig. Um‑ gekehrt hat ein Klägervertreter oder Repräsentant in der Regel keinen Anreiz den Beklagten in die Insolvenz oder auch nur in deren Nähe zu treiben. Das gilt gerade dann, wenn er unternehmerisch tätig ist und sich aus einem Anteil der Vergleichssumme finanziert. Denkbar ist sogar eine Insolvenzanfechtung des Vergleichs, die auch die Vergütung des Repräsentanten oder Prozessvertreters gefährden würde. Jedenfalls könnte diese nur im Zuge eines Insolvenzverfah‑ rens ausgezahlt werden, also gegebenenfalls verzögert und gekürzt. Die vorlie‑ gende Untersuchung kann mögliche Zusammenhänge mit dem Insolvenzrecht allerdings nicht vertieft berücksichtigen. Die soeben dargestellte Auffassung kann freilich nicht ausschließen, dass im Einzelfall doch eine starke Drucksituation für einen Beklagten vorliegt. Un‑ abhängig hiervon bestehen im deutschen Recht jedoch schwerwiegende sys‑ 20
Siehe dazu noch unten S. 94. So auch Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 22 So Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 21
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tematische Bedenken dagegen, einem Vergleich mit dem Argument die Ge‑ nehmigung zu versagen, dass er mit Blick auf die Interessen des Beklagten unangemessen sei. Wie in den beiden vorangehenden Abschnitten dargestellt wurde, rechtfertigt sich die Kontrollfunktion des Gerichts und die mit ihr ver‑ bundene Einschränkung der Dispositionsbefugnis aus der mangelnden Betei‑ ligung der Gruppenmitglieder an der Verfahrensführung, insbesondere an der Genese des Vergleichs. Diese Problematik besteht auf der Beklagtenseite aber gerade nicht, soweit es dort kein Repräsentationsverhältnis gibt.23 In Deutsch‑ land unterscheidet sich die Stellung des Beklagten im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage nicht von derjenigen in einem gewöhnlichen Rechts‑ streit nach der ZPO.24 Das Maß des Vergleichsdrucks, dem sich ein Beklagter ausgesetzt sieht, kann daran nichts ändern. Selbst wenn im Einzelfall wirklich ein unausgewogenes Kräfteverhältnis bestehen sollte, ist dies kein spezifisches Problem des kollektiven Rechtsschutzes. Es stellt aus der Perspektive eines Be‑ klagten keinen Unterschied dar, ob er sich den zusammengefassten Forderun‑ gen einer Vielzahl von Anspruchstellern gegenübersieht oder einem einzelnen Kläger, der auf überlegene Ressourcen zurückgreifen kann. Das deutsche Zi‑ vilprozessrecht begegnet einem solchen Ungleichgewicht zwischen den Par‑ teien allenfalls auf der Ebene der gerichtlichen Hinweispflicht, wobei es keine grundlegende Differenzierung zwischen der sozial stärkeren und schwächeren Partei kennt, sondern sich immer an der konkreten Prozesssituation ausrich‑ tet.25 Der Gedanke, die Dispositionsbefugnis einer Partei einzuschränken, um diese „vor sich selbst zu schützen“, ist ihm dagegen fremd.26 Gerade anwalt‑ lich vertretenen Unternehmen kann man zumuten, selbst zu beurteilen, ob sie sich gegen eine Klage verteidigen wollen oder nicht. Das allgemeine Zivilrecht schützt die Entschließungsfreiheit einer Vertragspartei mit Bedacht nur unter bestimmten Voraussetzungen, etwa gemäß §§ 119, 123 BGB. Auch eine all‑ gemeine Angemessenheitskontrolle für Verträge gibt es jenseits von § 138 BGB und §§ 305 ff. BGB gerade nicht. Dass ein Vergleich in einer Prozesssituation zustande kommt, rechtfertigt es nicht von diesem Ansatz abzuweichen. Weiterhin ist die Parallele zur Anspruchsbündelung im Rahmen von Ab‑ tretungsmodellen aufschlussreich. Wirtschaftlich kann diese einen Beklagten ähnlich belasten wie eine opt in-Gruppenklage, wenngleich ihm formal nur ein einzelner Kläger gegenübersteht. Ein Genehmigungserfordernis für Vergleiche wird in diesem Zusammenhang dennoch nicht einmal diskutiert, schon gar nicht mit Blick auf die Interessen der Beklagten. Es fehlt auch ein systematischer An‑ 23
Diese Möglichkeit sieht von den hier untersuchten Verfahrensformen nur das US-ame‑ rikanische Recht bei der sog. defendant class action vor, vgl. dazu Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 4:46. 24 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 33. 25 Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, § 139 Rn. 3. 26 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 33.
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satzpunkt dafür. Stattdessen hat sich die Rechtsprechung in den ZementkartellFällen mit der Rechtmäßigkeit der Abtretungen an die Prozessvehikel der CDC auseinandergesetzt.27 Die systematische Parallele dazu läge bei einem Grup‑ penklageverfahren in der Frage nach dessen Zulässigkeit – also systematisch vor der Frage nach der Angemessenheit eines Vergleichs. Auch in den USA werden verschiedene Voraussetzungen für die Durchführung einer class action umfassend geprüft, bevor die certification erteilt wird. In der Vergangenheit ist diskutiert worden, ob im Zuge dessen auch die Erfolgsaussichten der geltend gemachten Ansprüche berücksicht werden sollten. Eine entsprechende Rege‑ lung wurde aber nie eingeführt.28 Soweit die Interessen der Gruppenmitglieder nicht beeinträchtigt sind, kann im deutschen Recht im Zuge der Genehmigungsentscheidung allenfalls eine allgemeine Legalitätkontrolle am Maßstab von §§ 134, 138 BGB stattfinden. Diese leitet sich dann aber aus der Überlegung ab, dass ein Gericht einem offen‑ sichtlich rechtswidrigen Vergleich nicht durch seine Genehmigung Legitimati‑ on verschaffen darf. Auch wenn dies nicht darauf abzielt einen Beklagten vor selbstschädigendem Verhalten zu schützen, kann es freilich dazu führen, dass ein Vergleich, der für einen Beklagten ungünstig ist, nicht genehmigt wird. Ins‑ besondere eine weitere Erforschung des Sachverhalts lässt sich in diesem Zu‑ sammenhang aber nicht begründen. Im Hinblick auf den Prüfungsmaßstab und die Funktion besteht vielmehr eine Parallele zu § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO.29 Eine solche Kontrolle wird nur sehr klare Fälle betreffen, wobei ein deutsches Zivil‑ gericht allerdings ohnehin auf die fehlende Schlüssigkeit einer Klage hinweisen muss, falls der Beklagte diesen Mangel nicht erkannt hat.30 Um die Beklagten vor missbräuchlich erzwungenen Vergleichen zu schützen, erscheint es sinn‑ voller sich auf die Auswahl der Repräsentanten31 und deren prozessuale Hand‑ lungsoptionen zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang können auch ihre Finanzierungsmodelle berücksichtigt werden. Der deutsche Ansatz ist hier be‑ reits äußerst restriktiv. Eine weitere Stellschraube, um bei der Musterfeststel‑ lungsklage das Schutzniveau für die Beklagten zu steigern, wäre eine Prüfung der Schlüssigkeit von geltend gemachten Ansprüchen im Rahmen des Anmel‑ deprozesses,32 wenngleich an dieser Stelle auch die Auswirkungen auf die Ef‑ 27
Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 18. 02. 2015, Az.: VI‑U (Kart) 3/14, NZKart 2015,
28
Stadler, ZHR 182 (2018), 623, 640 f.
201.
29 Siehe oben S. 35 f. 30 Vgl. Kern, in: Stein/Jonas,
ZPO, § 139 Rn. 29. Dazu eingehend Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger. Es ist str., ob nach der aktuellen Rechtslage die Schlüssigkeit der angemeldeten Ansprü‑ che zu prüfen ist. Dafür: Boese/Bleckwenn, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 4 Rn. 37 (Teil der Frage, ob überhaupt Verbraucheransprüche von den Feststellungszielen ab‑ hängen; bei evidenter Abweisungsreife fehle die Vorgreiflichkeit); a. A. Röthemeyer, Muster‑ feststellungsklage, § 606 Rn. 68. 31 32
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fizienz des Verfahrens im Blick behalten werden müssen. Die Bundesregierung hat angekündigt frühestens in fünf Jahren zu evaluieren, ob die jetzige Regelung bei der Musterfeststellungsklage zu missbräuchlichen Anmeldungen führt.33 Im Übrigen werden die Interessen der Beklagten abhängig vom Zuschnitt des Prü‑ fungsmaßstabs auch dann berücksichtigt, wenn das Genehmigungserfordernis nur die Gruppenmitglieder schützen soll, etwa indem bei ungewissen Erfolgs‑ aussichten einer Klage ein größerer Spielraum besteht, der auch eher gerin‑ ge Ersatzleistungen rechtfertigen kann. Ein Vergleich ist ein Austauschvertrag: Was für eine Seite angemessen ist, kann man daher nur beurteilen, wenn man die Interessen der anderen berücksichtigt. Fragwürdig erscheint es dagegen, die Dispositionsbefugnis der Parteien zu beschneiden, um eine Partei zu schützen, die ihre Interessen im Verfahren und während der Vergleichsverhandlungen un‑ eingeschränkt selbst wahrnehmen kann.34 Das Genehmigungserfordernis kann nur den mangelnden Einfluss der repräsentierten Gruppenmitglieder auf das Verfahren ausgleichen, nicht aber ein Machtungleichgewicht zwischen den Par‑ teien. Darüberhinaus muss und darf ein Gericht nur dann von der Genehmi‑ gung eines Vergleichs absehen, wenn es andernfalls instrumentalisiert würde, um einer offensichtlich gesetz- oder sittenwidrigen Vertragsgestaltung Legiti‑ mation zu verleihen.
b) Keine Berücksichtigung der Interessen Dritter Bei opt in-Verfahren wie der deutschen Musterfeststellungsklage kann ein Be‑ klagter im Einzelfall ein berechtigtes Interesse an einer möglichst umfassen‑ den Lösung haben, die auch solche Verbraucher einbezieht, die ihre Ansprüche nicht rechtzeitig angemeldet haben. Im Rahmen des KapMuG ist eine ähnliche Situation denkbar, wenn der Musterbeklagte erreichen will, dass auch mög‑ lichst viele der Anmelder im Sinne von § 10 Abs. 2 KapMuG in den Vergleich einbezogen werden.35 Dementsprechend können Bestimmungen zugunsten weiterer Geschädigter in den Vergleich aufgenommen werden. Da sich das Re‑ präsentationsverhältnis nicht auf diese erstreckt, ein Vertrag zulasten Dritter un‑ zulässig ist und ein Beklagter im Gegenzug für eine Leistung aus dem Vergleich regelmäßig erwarten wird, dass die Begünstigten erklären, dass sie darauf ver‑ zichten weitergehende Ansprüche geltend zu machen, wird ein Vergleich in diesem Zusammenhang mit Blick auf die einzubeziehenden Dritten typischer‑ 33 RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 21; Unterrichtung BReg, BT‑Drucks. 19/2701, S. 8 (zu Nr. 5); Stellungnahme BR, BR‑Drucks. 176/18(B), S. 5 (Nr. 5); vgl. auch Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, Einf. Rn. 118. 34 Vgl. auch Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91, die darauf hinweisen, dass die Orga‑ ne deutscher Kapitalgesellschaften wegen der hohen Sorgfaltsanforderungen, denen sie unter‑ liegen, kaum einen für das Unternehmen nachteiligen Vergleich schließen werden. 35 So zum KapMuG Halfmeier, DB 2012, 2145, 2150; vgl. auch von Bernuth/Kremer, NZG 2012, 890, 892.
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
weise ein Angebot zu einem Vertragsschluss beinhalten, dass diese annehmen können aber nicht müssen.36 Röthemeyer ist für die Musterfeststellungsklage der Ansicht, dass bei der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs gegebenen‑ falls auch die Interessen solcher Dritter berücksichtigt werden müssten. Zwar seien diese weniger schutzwürdig als die Gruppenmitglieder. Wegen der „hö‑ here[n] Angemessenheitsgewähr“, die der genehmigte Vergleich für sich in An‑ spruch nehme, sollten jedoch „zumindest greifbare Ungerechtigkeiten in Form etwa von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung“ herausgefiltert werden.37 Dies lässt sich jedoch nur eingeschränkt mit dem Zweck des Genehmigungs‑ erfordernisses vereinbaren. Es ist zu differenzieren: Geht das Ungleichgewicht oder ein anderer Mangel zu Lasten der Gruppenmitglieder, greift die gericht‑ liche Kontrollfunktion uneingeschränkt ein. Sind dagegen allein die Interessen der Dritten beeinträchtigt, muss das Gericht – genauso wie im Zusammenhang mit den Interessen der Beklagten – seine Prüfung auf Verstöße gegen §§ 134, 138 BGB beschränken, da das Repräsentationselement nicht berührt ist. Auch hier gilt die Überlegung, dass ein offensichtlich rechts- oder sittenwidriger Ver‑ gleich nicht den Anschein der Legitimation erhalten darf. Die Genehmigung eines Vergleichs, der die Dritten schlechter stellt als die Gruppenmitglieder, ist demnach nur dann zu versagen, wenn ein auffälliges Missverhältnis im Sinne von § 138 BGB gegeben ist. Unterhalb dieser Schwelle handelt es sich lediglich um ein schlechtes Angebot an die Dritten, dass diese nicht annehmen müssen. Aus Gründen der Transparenz sollten die Vergleichsparteien aber verpflichtet sein unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass die Genehmigung des Ver‑ gleichs kein Gütesiegel für das enthaltene Angebot an die Dritten darstellt.
c) Andere Formen einer unstreitigen Verfahrensbeendigung Bei der class action bestimmt Rule 23 (e) FRCP, dass das Genehmigungserfor‑ dernis nicht nur im Hinblick auf einen Vergleich, sondern auch für eine Kla‑ gerücknahme38 (voluntary dismissal) gemäß Rule 41 (a) FRCP gilt. Nennens‑ werte praktische Relevanz scheint diese Regelung nicht zu haben. Im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage stellt die gerichtliche Kontrolle dagegen eine auf Vergleiche beschränkte Ausnahme dar. § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO erfassen schon nach ihrem Wortlaut nicht auch andere Formen einer unstreitigen Verfahrensbeendigung. Stattdessen räumen beide Verfahren den Parteien in diesen Fällen keine Dispositionsbefugnis ein, soweit diese eine Bindung der Beigeladenen beziehungsweise der Anmelder nach sich ziehen würde. 36 Ähnlich Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, 37 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 35.
§ 7 Rn. 29.
38 Zum Begriff vgl. Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, Rn. 105.
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Ein Verzicht (§ 306 ZPO) ist sowohl im KapMuG (§ 11 Abs. 1 S. 2 KapMuG) als auch bei der Musterfeststellungsklage (§ 610 Abs. 5 S. 2 ZPO) ausgeschlos‑ sen. Nach Auffassung von Vollkommer spricht jedoch in einem Verfahren nach dem KapMuG mit Blick auf den Rechtsgedanken von § 13 Abs. 5 S. 1 KapMuG nichts dagegen, einen Verzicht des Musterklägers mit Zustimmung aller Bei‑ geladenen zuzulassen, soweit der Musterbeklagte dadurch keine Nachteile er‑ leidet.39 Dies ist konsequent, wenn man davon ausgeht, dass das Gesetz einen Verzicht deswegen ausschließt, weil ein Repräsentant nicht über die Rechte der Gruppenmitglieder verfügen kann. Der Schutz des Musterbeklagten muss sich dabei aber auf den allgemeinen Maßstab des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) beschränken. Ein Verzicht aller Beigeladenen wird in der Praxis des KapMuG jedoch bestenfalls eine theoretische Möglichkeit bleiben. Bei der Musterfest‑ stellungsklage, die auf Gruppen von mindestens 50 Anmeldern ausgelegt ist (§ 606 Abs. 3 Nr. 3 ZPO), wird eine entsprechende Situation wohl erst recht nicht auftreten. Ein Verfahren nach dem KapMuG können die Musterparteien, wie sich aus § 13 Abs. 5 S. 1 KapMuG ergibt, nur dann im Wege einer übereinstimmenden Erledigungserklärung beenden, wenn auch alle Beigeladenen zustimmen.40 Eine einseitige Erledigungserklärung ist unzulässig, weil § 263 ZPO im Muster‑ verfahren keine Anwendung findet.41 Teilweise wird dies damit begründet, dass § 15 KapMuG insofern als lex specialis anzusehen sei.42 Das steht im Einklang mit der Argumentation, mit der der BGH eine Antragsänderung – die im maß‑ geblichen Fall gleichbedeutend mit einer teilweisen Antragsrücknahme war – für unzulässig gehalten hat: Aufgrund des Charakters des KapMuG als Vorlage‑ verfahren können einzelne Beteiligte – einschließlich des Musterklägers – nicht über die Feststellungsziele verfügen, die mit dem Vorlagebeschluss des LG oder einem Erweiterungsbeschluss des OLG festgeschrieben wurden.43 Dass es nicht möglich ist, das Musterverfahren durch die Rücknahme des Muster‑ verfahrensantrags zu beenden, bestimmt auch § 13 Abs. 4 KapMuG. Demnach kann der Musterkläger nicht über das Musterverfahren disponieren. Regelun‑ gen zu einem Anerkenntnis des Musterbeklagten trifft das Gesetz nicht. Nach
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Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 11. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 22; so auch Kruis, in: Wieczorek/Schüt‑ ze, KapMuG, § 11 Rn. 60; Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 99; vgl. bereits RegE Kap‑ MuG 2005, BT‑Drucks. 15/5091, S. 29 zu § 14 Abs. 3 KapMuG 2005. Nach Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 41 soll das OLG aber offenbar in jedem Fall feststellen können, dass tatsächlich ein erledigendes Ereignis eingetreten ist. 41 Kruis, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 11 Rn. 60; Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 99. 42 So Kruis, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 11 Rn. 49. 43 BGH, Beschl. v. 19. 09. 2017, Az.: XI ZB 17/15, NJW 2017, 3777, Rn. 69 (unter Verweis auf Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 99). 40
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
einer Literaturansicht soll es im Hinblick auf Feststellungsziele ausgeschlossen sein, die der Musterbeklagte in das Musterverfahren eingeführt hat.44 Für die Musterfeststellungsklage gelten gemäß § 610 Abs. 5 S. 1 ZPO im Ausgangspunkt die allgemeinen Regelungen der ZPO. Teilen der Literatur zu‑ folge bestehen jedoch ab dem Ende der Anmeldemöglichkeit Einschränkun‑ gen, also nach Ablauf des Tages, an dem die mündliche Verhandlung begon‑ nen hat (§ 608 Abs. 3 ZPO). Eine Klagerücknahme sei nach diesem Zeitpunkt unzulässig, eine übereinstimmende Erledigungserklärung nur noch möglich, wenn tatsächlich ein erledigendes Ereignis vorliegt.45 Davor ist ein „pick off“46 zwar möglich, praktisch aber eher unwahrscheinlich, da eine qualifizierte Ein‑ richtung gerade nicht dadurch motiviert wird, dass sie einen eigenen Anspruch durchsetzen wollte, den man ihr abkaufen könnte. Eine einseitige Erledigungs‑ erklärung ist dagegen nach Maßgabe von §§ 610 Abs. 5 S. 1, 263, 264 ZPO jederzeit zulässig. Die Überlegung, dass eine Änderung oder Ergänzung von Feststellungszielen, die nicht spätestens im ersten Termin erfolge, regelmäßig nicht sachdienlich im Sinne von §§ 610 Abs. 5 S. 1, 263 ZPO sei, da die Ver‑ braucher sie zum Zeitpunkt ihrer Anmeldung noch nicht kennen konnten und ihnen daher eine Möglichkeit zum Austritt verbleiben müsse,47 greift bei einer Erledigungserklärung nicht, wenn sich das Musterverfahren tatsächlich erledigt hat, also dass die Feststellungsziele nicht mehr relevant sind. Da die Muster‑ parteien eine Erledigung nicht selbst herbeiführen können, indem sie sich au‑ ßergerichtlich einigen, besteht nicht die Gefahr eines Interessenkonflikts. Aus diesem Grund ist es auch sinnvoll mit der oben zitierten Ansicht eine überein‑ stimmende Erledigungserklärung nach dem Ende des Anmeldeverfahrens eben‑ falls nur dann zuzulassen, wenn tatsächlich ein erledigendes Ereignis eingetre‑ ten ist. Die beklagten Unternehmen können jedenfalls den Gegenstand eines Feststellungsziels, das auf einen Antrag der qualifizierten Einrichtung zurück‑ geht, nach §§ 610 Abs. 5 S. 1, 307 ZPO anerkennen.48 Ein außergerichtlicher Vergleich, den die qualifizierte Einrichtung mit einem Beklagten schließt, kann keine Wirkung für die Anmelder entfalten und bedarf auch nicht der gericht‑ lichen Genehmigung.49 Er beendet das Verfahren erst – ohne dass ein neuer Re‑ präsentant nachrückt –, wenn die Klage auf seiner Grundlage zurückgenommen 44 So
Kruis, in: Wieczorck/Schütze, KapMuG, § 11 Rn. 25. Lutz, in: BeckOK ZPO, § 610 Rn. 18, soweit es um eine Klagerücknahme geht unter Berufung auf BGH, Beschl. v. 19. 09. 2017, Az.: XI ZB 17/15, NJW 2017, 3777, Rn. 69 (zum KapMuG). 46 Siehe dazu oben S. 18. 47 So de Lind van Wijngaarden, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 6 Rn. 59; Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 10 Rn. 62. 48 Vgl. Lutz, in: BeckOK ZPO, § 610 Rn. 24; einschränkend de Lind van Wijngaarden, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 6 Rn. 107 ff.: Anerkenntnis der qualifizier‑ ten Einrichtung bzgl. im Wege einer Widerklage von der Beklagtenseite eingeführter Feststel‑ lungsziele unzulässig. 49 Weinland, Musterfestellungsklage, Rn. 166. 45
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oder wirksam für erledigt erklärt wird.50 Nach einer Ansicht soll ein gericht‑ licher Vergleich, der seinem Inhalt nach keine Belange der Anmelder berührt, unter teleologischer Reduktion von § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO wie eine Klagerück‑ nahme behandelt werden.51 Diese Norm erfasst allerdings richtigerweise von vornherein nur Vergleiche, die eine Wirkung für die Verbraucher haben sollen, wie sich aus dem systematischen Zusammenhang mit § 611 Abs. 1 ZPO ergibt, so dass es darauf ankommt, ob eine wirksame Klagerücknahme oder Erledi‑ gungserklärung vorliegt; andernfalls entfaltet ein solcher Vergleich von vorn‑ herein keine Wirkungen auf das Musterfeststellungsverfahren.
d) Ausscheiden einzelner Gruppenmitglieder Das Genehmigungserfordernis erfasst nicht den Fall, dass einzelne Gruppen‑ mitglieder direkt mit dem Beklagten zu einer individuellen Übereinkunft hin‑ sichtlich ihrer Ansprüche oder Rechtsverhältnisse kommen. In den USA und den Niederlanden setzt dies allerdings voraus, dass die jeweiligen Gruppen‑ mitglieder zuvor unter Beachtung der maßgeblichen Fristen aus dem Verfahren ausgetreten sind. Nach dem deutschen KapMuG bleibt es dem Musterkläger und den Beige‑ ladenen jederzeit unbenommen die Klage in ihrem jeweiligen Ausgangsverfah‑ ren nach Maßgabe von § 269 ZPO oder gegebenenfalls § 8 Abs. 2 KapMuG zu‑ rückzunehmen. In diesem Fall scheiden sie gemäß § 13 Abs. 1 beziehungsweise 3 KapMuG aus dem Musterverfahren aus. Da es nicht darauf ankommen kann, aus welchem Grund das Ausgangsverfahren endet, muss dies entsprechend gel‑ ten, wenn sie ihre Ausgangsverfahren individuell durch einen Vergleich been‑ den oder wirksam für erledigt erklären.52 Dass ihre Verfahren ausgesetzt sind, schadet dabei nicht, denn die Aussetzung gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 KapMuG wegen Vorgreiflichkeit des Musterverfahrens dient nicht dazu, eine einvernehmliche Streitbeilegung auf individueller Ebene zu verhindern.53 Ebensowenig wird das Genehmigungserfordernis gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG umgangen:54 Es soll die mangelnde Beteiligungsmöglichkeit der Beigeladenen bei einem kollektiv ver‑ bindlichen Vergleichsschluss austarieren,55 nicht aber deren Dispositionsbefug‑ nis über ihre eigenen Ausgangsverfahren noch weiter einschränken; mit diesen 50
Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 90; Waclawik, NJW 2018, 2921, 2924; Weinland, Musterfestellungsklage, Rn. 190. 51 So Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 11 Rn. 34. 52 Vgl. Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 13 Rn. 11, 18; zu § 13 Abs. 1 KapMuG auch Kruis, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 13 Rn. 7; ebenso zu § 11 Abs. 2 S. 1 KapMuG 2005 Ful‑ lenkamp, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 11 Rn. 6; a. A. von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 301 ff. 53 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 12; zum KapMuG 2005 Wolf, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 14 Rn. 22; vgl. auch Kruis, in: KK‑KapMuG, § 8 Rn. 80. 54 So aber von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 301 ff. 55 Siehe dazu i. E. oben S. 53 ff.
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endet vielmehr ihre Beteiligung. Soweit der Musterkläger nur für sich selbst in Bezug auf sein Ausgangsverfahren tätig wird, behandelt ihn das KapMuG nicht anders als die Beigeladenen. Kommt er dem Musterverfahren infolge der Beendigung seines Ausgangsverfahrens abhanden, muss das OLG einen neuen Musterkläger ernennen.56 Diese Lösung hat zwar den Nachteil, dass sie einem Musterbeklagten eine Möglichkeit an die Hand gibt, das Musterverfahren auf die gleiche Weise wie bei der amerikanischen „pick off“-Problematik57 zu be‑ hindern, indem er dem Musterkläger ein reizvolles individuelles Angebot zur Beilegung seines Ausgangsrechtsstreits unterbreitet, um ihn sozusagen aus dem Musterverfahren herauszukaufen.58 Dies ist aber eine Konsequenz der Kon‑ zeption des KapMuG, das gerade kein selbständiges Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes ist, sondern nicht von der Stellung der einzelnen Beteiligten in ihren Ausgangsverfahren abstrahiert. Bei der Musterfeststellungsklage können die Verbraucher ihre Anmeldung dagegen gemäß § 608 Abs. 3, 4 ZPO nur bis zum Ablauf des Tages zurück‑ nehmen, an dem die mündliche Verhandlung in der ersten Instanz beginnt – unabhängig davon, ob sie dies tun, weil sie einen individuellen außergericht‑ lichen Vergleich geschlossen haben, weil sie eine individuelle Klage erheben wollen oder aus einem anderen Grund. Das soll verhindern, dass sie bei un‑ günstigen Erfolgsaussichten aus dem Musterverfahren ausscheiden, um dessen Bindungswirkung zu entgehen.59 Daher ist es konsequent, wenn sie nach die‑ sem Zeitpunkt auch nicht mehr über einen individuellen Rechtsstreit disponie‑ ren können, der infolge der Musterfeststellungsklage gemäß § 613 Abs. 2 ZPO ausgesetzt wurde, soweit dieser Akt der Disposition die Bindung an ein even‑ tuelles Musterfeststellungsurteil zumindest faktisch unterläuft damit und einer Rücknahme der Anmeldung gleichkommt. Hierin liegt mit Blick auf soeben dargestellte Auslegung des KapMuG nicht etwa ein Wertungswiderspruch: An‑ ders als das Vorlageverfahren des KapMuG ist die Musterfeststellungsklage als selbständige Gruppenklage nicht akzessorisch zu eventuellen individuellen Rechtsstreiten der Gruppenmitglieder. Das KapMuG enthält weder eine Paral‑ lelvorschrift zu § 608 Abs. 3 ZPO, nach der es den Beigeladen untersagt wäre, ab einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Musterverfahren auszuscheiden, noch eine Regelung wie Rule 23 (c) (2) (B) (vi) FRCP,60 die das Gericht bei einer class action gemäß Rule 23 (b) (3) FRCP dazu verpflichtet sicherzustellen, dass den Gruppenmitgliedern ab Erhalt der Benachrichtigung über die certification 56 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 13 Rn. 11, 18, § 12 Rn. 55; vgl. auch OLG München, Beschl. v. 25. 03. 2010, Az.: KAP 1/07. 57 Siehe dazu oben S. 16. 58 Vgl. Stadler, in: Festschrift Rechberger, S. 677; von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 302. 59 Vgl. Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 608 Rn. 39. 60 „The notice must clearly and concisely state in plain, easily understood language: […] the time and manner for requesting exclusion“.
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eine angemessene Frist eingeräumt wird, um zu entscheiden, ob sie aus dem Verfahren ausscheiden wollen.61 Bei der Musterfeststellungsklage treffen die Verbraucher diese Entscheidung dagegen bereits im Zuge der Anmeldung, so dass es keiner Austrittsoption bedarf, bevor ein Vergleich zustande kommt.
4. Zusammenfassung Das Genehmigungserfordernis lässt sich auf das für eine Gruppenklage charak‑ teristische Repräsentationselement zurückführen. Es dient primär dazu einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die repräsentierten Gruppenmitglieder weder formal noch praktisch in einer Position stehen, die es ihnen erlauben würde Ein‑ fluss auf den Inhalt des Vergleichs zu nehmen, an den sie gebunden sein sollen. Die gerichtliche Kontrolle rechtfertigt es, dass sie quasi auf Widerruf – also unter Vorbehalt einer Austrittsoption – an den Vergleich gebunden werden. Vor diesem Hintergrund kann das Genehmigungserfordernis die Gegenseite und Dritte nur eingeschränkt schützen, nämlich soweit Mindeststandards nicht ein‑ gehalten wurden, die ein Gericht schlechthin nicht unbeachtet lassen kann.
II. Grundzüge der Pflichten im Repräsentationsverhältnis Wenn die richterliche Kontrolle von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz auf einer allgemeinen Ebene eine Grenze für die Kompetenzen des Repräsen‑ tanten im Hinblick darauf zieht, was er in einem Vergleich vereinbaren kann, fragt sich umgekehrt, ob die hier untersuchten Rechtsordnungen korrespondie‑ rend positive Anforderungen an die Tätigkeit eines Repräsentanten formulieren. Unter der Prämisse, dass die untersuchten Verfahrensformen jeweils von einem einheitlichen Rollenmodell für den Repräsentanten ausgehen, lassen sich auf diese Weise möglicherweise Erkenntnisse über die Zielsetzung der richterlichen Kontrolle von Vergleichen gewinnen. Vor allem bei der class action muss man im Zuge dessen allerdings primär die Rechtsanwälte in den Blick nehmen, die als Prozessvertreter für die Gruppe auftreten. Sie stellen dort die eigentlichen Akteure dar.62
1. Die treuhänderische Verantwortung des class counsel Der Wortlaut von Rule 23 FRCP hat lange Zeit keine Aussage über das Verhält‑ nis zwischen den absent class members und den Anwälten der class getroffen.63 61 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 9:45. 62 Siehe dazu im Einzelnen noch unten S. 96 ff.
63 Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 381 (2005); vgl. auch die Aussage von Stevens, J. in seinem concurring vote in Deposit Guaranty Nat. Bank, Jackson, Miss. v. Roper, 445 U. S. 326,
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Die Frage, ob die class angemessen anwaltlich vertreten wird, war zwar schon immer ein Element der certification der class im Rahmen von Rule 23 (a) (4) FRCP.64 Ausdrückliche Regelungen zur Rolle und Auswahl des class counsel gibt es dagegen erst seit der umfassenden Überarbeitung von Rule 23 FRCP im Jahre 2003. Rule 23 (g) (4) FRCP bestimmt nunmehr in denkbar allgemeiner Weise: Class counsel must fairly and adequately represent the interests of the class.
Die Regelung anerkennt damit die herausgehobene Stellung des class coun‑ sel und seine Verpflichtung gegenüber der gesamten class.65 Dass das Adviso‑ ry Committee davon abgesehen hat, ihm ausdrücklich eine Treuhänderstellung (fiduciary duties) gegenüber der class zu attestieren, ist darauf zurückzuführen, dass es Probleme vermeiden wollte, die aus der Anwendung des insoweit um‑ fangreichen Rechtsbestands – diesen hätte man damit in Bezug genommen – auf den class counsel resultieren könnten.66 Auch die Principles of the Law of Aggregate Litigation des American Law Institute formulieren in § 1.04 (a) die allgemeinen Anforderungen an die Prozessvertreter auf eine Weise, die nahe‑ legt, dass der class counsel unmittelbar den Interessen der class verpflichtet ist: A lawyer representing multiple claimants or respondents in an aggregate proceeding should seek to advance the common objectives of those claimants or respondents.
In den Reporter’s Notes zu § 1.04 spricht das ALI dann allerdings von „multi‑ ple layers of fiduciary duties“: Den class representative treffe eine Treuepflicht gegenüber der class; ihm selbst sei wiederum der class counsel verpflichtet.67 Wie eine Treuepflicht des class counsel gegenüber der class im Einzelnen kon‑ struktiv begründet wird, ist demnach offenbar nicht völlig geklärt.68 343 = 100 S. Ct. 1166 (1980): „The status of unnamed members of an uncertified class has al‑ ways been difficult to define accurately.“ 64 Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 381 (2005). 65 Vgl. die Ausführungen zum Zweck der Einfügung von Rule 23 (g) in den Committee Notes on Rules – 2003 Amendment: „This subdivision recognizes the importance of class counsel, states the obligation to represent the interests of the class, and provides a framework for selection of class counsel.“ 66 Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 382 (2005) (vgl. dort Fn. 242: ausschlaggebend war of‑ fenbar, dass das Advisory Committee nicht in den Bereich des einzelstaatlichen Berufsrechts für Rechtsanwälte eingreifen wollte). 67 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 1.04, Reporter’s Note zu Comment a. Ebenso: Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 2.11. Vgl. auch Piché, Fairness in Class Action Sett‑ lements, S. 103 („class counsel have a direct relationship with the class representative [and] an indirect one with the class“). Zur Treuepflicht des class representative gegenüber den absent class members vgl. Eubank v. Pella Corp., 753 F. 3d 718, 723 (7th Cir. 2014); Redman v. Ra‑ dioShack Corp., 768 F. 3d 622, 638 (7th Cir. 2014); Blanchard v. EdgeMark Financial Corp., 175 F.R.D. 293, 298 f. (N. D. Ill. 1997). 68 Vgl. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 106 („In the United States, the es‑ sence and nature of the relationship between class counsel and the absent members has not yet been defined, especially before certification.“). Vgl. auch a. a. O. S. 106 zur Rechtslage im ka‑
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Der class counsel und die Repräsentativkläger sollen im Interesse der Gruppe zusammenwirken. Sie dürfen aber jeweils keinen Druck aufeinander ausüben, um zu erreichen, dass ein Vergleichsvorschlag dem Gericht vorgelegt wird.69 Oftmals wird der Anwalt, der später zum class counsel bestellt wird, ursprüng‑ lich nur die benannten Kläger auf einer individualvertraglichen Grundlage ver‑ treten haben, so dass sich seine Treuepflichten mit der Zertifizierung der class ausweiten.70 Wie man Rule 23 (g) (2) FRCP entnehmen kann, wird der class counsel nicht mehr wie vor der Reform von 2003 auf Antrag der benannten Klä‑ ger bestellt, sondern der jeweilige Anwalt selbst muss sich um diese Stellung bewerben, wobei er sich freilich regelmäßig zuvor mit seinen Mandanten ab‑ stimmen wird.71 Dies unterstreicht, dass der class counsel eine gewisse Distanz zu den representative plaintiffs wahren muss und vielmehr der class in ihrer Ge‑ samtheit verpflichtet ist. Anders als in einem normalen Mandatsverhältnis kön‑ nen die representative plaintiffs den class counsel nicht entlassen, wenn seine Verfahrensführung nicht ihren Vorstellungen entspricht.72 Es wird von ihm viel‑ mehr geradezu erwartet, dass er sich unter Umständen im Interesse der absent class members gegen die Repräsentativkläger positioniert.73 Der class counsel soll die class als Ganzes repräsentieren und nicht lediglich die named parties.74 Problematisch ist, ob man auch im Hinblick auf die Vergleichsverhandlungen bei einer settlement class action Treuepflichten annehmen kann – vor der certi‑ fication ist schließlich noch niemand class representative oder class counsel. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass jemand, der als Vertreter einer potentiellen class auftritt, auch deren Interessen wahren muss.75 Ein traditionelles Mandats‑ verhältnis besteht zu den absent plaintiffs aber weder vor noch nach der certi‑ fication.76 Dennoch soll es diesen grundsätzlich unbenommen sein, Haftungs‑ ansprüche gegen den class counsel geltend zu machen. Die Aussicht, damit in der Praxis Erfolg zu haben, ist aber äußerst gering.77
nadischen Quebec, wo der Gedanke, dass der class counsel der class nur indirekt verpflichtet ist, offenbar am konsequentesten durchgehalten wird. 69 Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.120 [2][c][iii]. 70 Vgl. Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.120 [2][c]. 71 Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.120 [2][c][i]). 72 Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.120 [2][c][iv]. 73 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.641; ALI, Principles of Aggregate Liti‑ gation, § 1.05, Comment f; Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 2.11; Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 109; Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.120 [2][c][ii]. 74 Laskey v. UAW, 638 F. 2d 954, 956 (6th Cir. 1981). 75 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21:12; Third Circuit Task Force Report, 208 F.R.D. 340, 347 f. (2002); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 19:2 m. w. N. 76 Third Circuit Task Force Report, 208 F.R.D. 340, 347 f. (2002); Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 106 f. 77 Vgl. zum Ganzen Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 19:34.
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Ob diese Treuepflichten eine unmittelbare Bedeutung für die richterliche Kontrolle eines Vergleichs haben, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Nur teilweise stellen die Gerichte eine solche Verbindung her: Because class actions are rife with potential conflicts of interest between class counsel and class members, district judges presiding over such actions are expected to give care‑ ful scrutiny to the terms of proposed settlements in order to make sure that class counsel are behaving as honest fiduciaries for the class as a whole.78
Auf ähnliche Weise hat auch der United States District Court for the Northern District of Illinois mit der Treuepflicht des class representative gegenüber der class die inzwischen wegen einer Änderungs des Gesetzeswortlauts überholte Rechtsansicht79 begründet, dass ein individueller Vergleich, den der class re‑ presentative über seine persönlichen Ansprüche schließt, der richterlichen Ge‑ nehmigung gemäß Rule 23 (e) FRCP bedürfe.80 Sowohl das Manual for Com‑ plex Litigation als auch die Principles of Aggregate Litigation beziehen sich ausdrücklich auf diese Entscheidung.81 Es würde aber zu weit gehen, hieraus allgemeine Schlüsse über die Zusammenhänge zwischen den genannten Treue‑ pflichten und der richterlichen Kontrolle von Vergleichen ziehen zu wollen. Fest‑ halten kann man aber, dass sowohl für die Repräsentativkläger als auch für den class counsel die Vorgabe besteht, im Interesse der gesamten class zu handeln.
2. Das Repräsentativitätserfordernis beim WCAM Beim WCAM macht vor allem das Repräsentativitätserfordernis in Art. 7:907 Abs. 1 und Abs. 3 lit. f BW deutlich, welche Erwartungshaltung gegenüber den Interessenorganisationen besteht. Sie werden spezifisch zu dem Zweck aus‑ gewählt, eine für die Geschädigten bindende Übereinkunft zustande zu bringen. Wenn auf Seiten der Betroffenen mehrere Organisationen beteiligt sind, muss aber nicht jede einzelne von ihnen ihren jeweiligen Statuten zufolge die Interes‑ sen aller Geschädigten vertreten.82
3. Kollektiver Rechtsschutz mit individualistischer Konzeption im KapMuG Für das KapMuG wird überwiegend vertreten, dass weder den Musterkläger noch seinen Anwalt Fürsorge- oder Treuepflichten gegenüber den Beigeladenen treffen.83 Der Musterkläger führe das Musterverfahren lediglich im eigenen In‑ 78
Mirfasihi v. Fleet Mortg. Corp., 356 F. 3d 781, 785 (7th Cir. 2004). Siehe oben S. 18. Blanchard v. EdgeMark Financial Corp., 175 F.R.D. 293, 298 f. (N. D. Ill. 1997). 81 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21 (dort Fn. 738); ALI, Principles of Aggrega‑ te Litigation, § 1.04, Reporter’s Notes zu Comment a. 82 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 360. 83 So Kruis, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 9 Rn. 34; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 79 80
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teresse;84 er sei kein Vertreter der Beigeladenen.85 Obsiege er, profitierten diese nur im Wege eines Rechtsreflexes.86 Ihr Interessengleichlauf verbinde die Be‑ teiligten auf Klägerseite lediglich im Sinne einer „Zufallsgemeinschaft“.87 So‑ fern § 9 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG vom Musterkläger erwarte, dass er die Interes‑ sen der Beigeladenen berücksichtige, sei dies – wohl im Sinne einer Prognose seines voraussichtlichen Verhaltens – ein „rein faktisches Auswahlkriterium“; rechtlich gebunden werde er dadurch nicht.88 Der Musterkläger müsse dem‑ nach auch nur auf diejenigen Streitpunkte eingehen, die spezifisch sein eige‑ nes Ausgangsverfahren betreffen. Zwar gleiche seine rechtliche Situation nicht zwangsläufig derjenigen aller Beigeladenen. Soweit es im Hinblick auf ihre ei‑ genen Ansprüche sinnvoll oder sogar erforderlich erscheine, weitere Gesichts‑ punkte in das Musterverfahren einzubringen, obliege es einem Beigeladenen jedoch, selbst tätig zu werden und sich seiner Rechte gemäß § 14 KapMuG zu bedienen.89 Die als Belege für die Gegenansicht angeführten90 Quellen beschränken sich darauf, einzelne mehr oder weniger diffuse Formulierungen in den Raum zu stellen – etwa, dass der Musterkläger als „Sachwalter“91 fungiere, er „eine hohe Verantwortung für alle Kläger“92 trage oder von ihm „erwartet“ werde, dass er „auch die Interessen der anderen Kläger angemessen wahrnehmen wird“93. Was sie hiermit eigentlich meinen und wie sie zu ihrer Ansicht kommen, füh‑ ren sie hingegen nicht näher aus. Es handelt sich durchgehend um Aufsätze und Buchpassagen, die offenkundig nur einen knappen Überblick über das Kap‑ MuG bieten wollen und kaum den Ehrgeiz zu haben scheinen, eine umfassen‑ Rn. 70; Gundermann/Härle, VuR 2006, 457, 460; Halfmeier, ZIP 2016, 1705, 1710; MeierReimer/Wilsing, ZGR 2006, 79, 108. 84 Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 75. 85 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 70 verweist für die angebliche Gegenansicht auf Plaßmeier, NZG 2005, 609, 612; das ist zweifelhaft, denn dieser setzt das Wort „vertritt“ in Anführungszeichen und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er damit letztlich mehr sagen will, als dass bestimmte Prozesshandlungen des Musterklägers die Beigeladenen binden kön‑ nen – was für sich genommen aber völlig unbestritten ist. 86 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 70 m. w. N.; Halfmeier, ZIP 2016, 1705, 1710. 87 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 70; Kilian, Ausgewählte Probleme des Musterver‑ fahrens, S. 103. 88 Halfmeier, ZIP 2016, 1705, 1710. 89 Vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 70; Kilian, S. 103; etwas zurückhaltender Mei‑ er-Reimer/Wilsing, ZGR 2006, 79, 108 (dort Fn. 77): es könne vom Musterkläger „wohl nicht verlangt werden, auch fremde Standpunkte […] zu vertreten“. 90 Vgl. Kilian, Ausgewählte Probleme des Musterverfahrens, S. 101 f.; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 70. 91 Keller/Kolling, BKR 2005, 399, 402. 92 Gansel/Gängel, NJ 2006, 13, 16 (dort Fn. 22), die dabei auf ein nicht näher spezifizier‑ tes Haftungsrisiko hinweisen. 93 Ek, Haftungsrisiken, S. 166, den man aber auch dahingehend verstehen kann, dass diese Interessenwahrnehmung einen Reflex des finanziellen Eigeninteresses des Musterklägers dar‑ stellt.
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de alternative Konzeption der Rolle des Musterklägers zu entwickeln. Auch die Festsstellung von Stadler, dass durch die Auswahl des Musterklägers ge‑ währleistet werden müsse, dass dieser die Interessen der Beigeladenen „best‑ möglich“ vertrete,94 sagt nichts über eine Treuepflicht aus, sondern präzisiert lediglich das von § 9 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG bezweckte Ergebnis der Auswahl‑ entscheidung. Hess weist pointiert auf die innere Spannung hin, die das KapMuG durch‑ zieht: Obwohl es konzeptionell auf der Unabhängigkeit des Musterklägers von den Beigeladenen beruht, baut es faktisch auf der Erwartung auf, dass der Mus‑ terkläger das Musterverfahren im Gruppeninteresse führt.95 Diese Erwartung bringt nicht zuletzt § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 KapMuG zum Ausdruck, der „die Eig‑ nung des Klägers, das Musterverfahren unter Berücksichtigung der Interessen der Beigeladenen angemessen zu führen“ als Kriterium für die Auswahl des Musterklägers nennt. Eine besondere Facette dieses Konflikts zeigt sich, wenn § 17 Abs. 1 KapMuG sowohl das Musterverfahren als auch die Ausgangsrechts‑ streite durch einen umfassenden Vergleich beenden will. Der Musterkläger, der diesen Vergleich aushandelt, gestaltet dabei unter dem Vorbehalt der richter‑ lichen Genehmigung direkt die Rechtsstellung der Beigeladenen – unabhän‑ gig davon, ob deren Situation vollständig mit seiner eigenen übereinstimmt, wobei insbesondere auf der Ebene der Ausgangsverfahren Diskrepanzen mög‑ lich sind. Wenn man den Gedanken ernst nimmt, dass dem Musterkläger keine Treuepflichten gegenüber den Beigeladenen obliegen, wäre es – wenn man § 18 Abs. 1 KapMuG zunächst einmal außer Acht lässt – legitim, dass er einen Ver‑ gleich schließt, der Sachverhaltselemente und rechtliche Gesichtspunkte, die ihn selbst nicht betreffen, unberücksichtigt lässt. Die Beigeladenen – also dieje‑ nigen, die ein Interesse an gerade diesen Gesichtspunkten haben – werden aus Gründen der Praktikabilität aber regelmäßig nicht aktiv an den Vergleichsver‑ handlungen teilnehmen können, um dies zu verhindern. Über ein Mitwirkungs‑ recht analog zu demjenigen gemäß § 14 KapMuG verfügen sie in diesem Zu‑ sammenhang nicht. Zu ihren Gunsten sieht das Gesetz jedoch zwei Sicherungsmechanismen vor: die richterliche Kontrolle des Vergleichs gemäß §§ 17 Abs. 1 S. 3, 18 Abs. 1 KapMuG und die Austrittsoption gemäß § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG, die den Bei‑ geladenen eine autonome Entscheidungsmöglichkeit gibt und sich damit kon‑ zeptionell gut in das KapMuG einpasst. Beide zwingen den Musterkläger mit‑ telbar, die Interessen der Beigeladenen zu berücksichtigen, wenn er das Risiko vermeiden will, dass sein Vergleich entweder nicht genehmigt wird oder aber die Beigeladenen in der Folge scharenweise aus ihm austreten.96 Dass eine hohe 94 95
Stadler, in: Festschrift Rechberger, S. 669. Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 77. 96 Eine Massenflucht aus dem Vergleich hat der Gesetzgeber gerade als zu vermeidendes
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Akzeptanz eine Motivation für ihn darstellt, ist aber anzunehmen: Schließlich könnte der Musterkläger sonst bereits versuchen, sein Ausgangsverfahren in‑ dividuell zu vergleichen, um aus dem Musterverfahren auszuscheiden. Setzt er dennoch auf einen kollektiven Vergleich – sei es, um die Hebelwirkung der Forderungen der Beigeladenen zu nutzen, sei es aus altruistischen Beweggrün‑ den –, ist er aber gezwungen, die Interessen der Beigeladenen zumindest zu berücksichtigen; das gilt jedenfalls dann, wenn man unterstellt, dass die rich‑ terliche Kontrollbefugnis und die Austrittsoption der Beigeladenen nicht völlig funktionsunfähig sind. Das deckt sich mit der Zielrichtung des Gesetzes: Durch das Genehmi‑ gungserfordernis soll gewährleistet werden, dass der Vergleich „ein für alle Seiten ausgewogenes und faires Ergebnis“ darstellt, also nicht zuletzt für die Beigeladenen.97 Auch der Gesetzeswortlaut fordert eine „angemessene gütli‑ che Beilegung der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten“ – im Plural (§ 18 Abs. 1 KapMuG). Es erscheint vor diesem Hintergrund nicht unbedingt folgerichtig, darauf zu beharren, dass der Musterkläger allein im Eigeninteresse handele und Übereinstimmungen mit den Beigeladenen jenseits des – wohlgemerkt typi‑ scherweise in weitem Maße gegebenen – Interessengleichlaufs98 lediglich dem Zufall geschuldet seien. Vielmehr rechtfertigt sich die Bindungswirkung des Vergleichs für die Beigeladen gerade daraus, dass er unter Berücksichtigung ihrer Interessen zustande gekommen ist. Der Grund dafür, dass der Begriff einer Fürsorge- oder Treuepflicht auf Ab‑ lehnung stößt, sind seine haftungsrechtlichen Implikationen. Das scheint zu‑ mindest bei manchen Vertretern der herrschenden Ansicht andeutungsweise durch.99 Wenn man den Begriff im Sinne einer Pflicht gemäß § 241 Abs. 1 oder 2 BGB versteht, könnten der Musterkläger oder sein Prozessvertreter gegenüber den Beigeladenen für Defizite eines diese bindenden Vergleichs auf Schadens‑ ersatz haften. Es ist allerdings schon fragwürdig, ob überhaupt ein Haftungs‑ risiko bestände. Die Beigeladenen sind zum einen selbst dafür verantwortlich, gegebenenfalls ihre Austrittsoption wahrzunehmen. Zum anderen stellt das Ge‑ richt, wenn es den Vergleich genehmigt, damit implizit fest, dass der Musterklä‑ ger den Anforderungen von § 18 Abs. 1 KapMuG gerecht geworden ist; even‑ tuelle Haftungsansprüche ließen sich schon mit Blick auf diese Genehmigung ablehnen, wenn man sinnvollerweise einen Gleichlauf zwischen dem Maßstab Problem gesehen und deswegen die Quorumsregelung des § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG eingefügt, vgl. BR‑Drucks. 851/11(B), S. 9 f. (Stellungnahme gem. Art. 76 II 2 GG). 97 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 15. 98 Zum Interessengleichlauf als Grundlage der Konzeption des KapMuG vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 14 Rn. 15 („die materiellrechtlichen Interessen [verlaufen] völlig parallel und der klagende Beigeladene [befindet] sich gerade in keinem auch nur möglichen Gegengensatz zur Musterpartei“). Ein völliger Gleichlauf ist aber zumindest dann nicht mehr zwingend, so‑ bald die individuellen Ausgangsverfahren ins Spiel kommen. 99 Vgl. Halfmeier, ZIP 2016, 1705, 1710.
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
des § 18 Abs. 1 KapMuG und den Anforderungen einer hypothetischen Treue‑ pflicht annimmt.100 Wenn das Gericht die Genehmigung verweigert, sind die Beigeladenen hingegen nicht an den unangemessenen Vergleich gebunden und erleiden daher keinen Nachteil. Problematisch ist nur der Fall, dass dem Gericht ein Fehler unterläuft und es einen Vergleich zu Unrecht genehmigt. Da gegen die Genehmigungsentscheidung keine Rechtsmittel offen stehen, könnte diese Situation möglicherweise auf einer Sekundärebene im Zuge eines Schadens‑ ersatzprozesses gegen den Musterkläger und seinen Prozessvertreter vor einem anderen Gericht wieder aufgerollt werden. Hier erscheint eine Haftung im‑ merhin nicht ausgeschlossen, ohne dass dieser Frage im Rahmen dieser Unter‑ suchung im Einzelnen nachgegangen werden kann. Die Nichtwahrnehmung der Austrittsoption wird jedenfalls nicht immer ein überwiegendes Mitverschulden im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB begründen; möglicherweise wissen die Beige‑ ladenen nicht genug über den Entstehungsprozess des Vergleichs, um seine An‑ gemessenheit zuverlässig beurteilen zu können. Auch die unterschiedlichen Er‑ kenntnismöglichkeiten der Gerichte, die einserseits mit der Genehmigung eines Vergleichs und andererseits später mit eventuellen Schadensersatzansprüchen befasst sind, könnten eine Rolle spielen. Die gravierendsten Bedenken gegen eine Treuepflicht bestehen letztendlich nicht im Zusammenhang mit einem Ver‑ gleich, sondern im Hinblick auf eine gerichtliche Überprüfung der Verfahrens‑ führung des Musterklägers, wenn das Musterverfahren durch einen Musterent‑ scheid abgeschlossen wird. Man mag indessen zweifeln, ob er systematisch konsistent wäre eine Treuepflicht nur im Rahmen der Vergleichsverhandlungen anzunehmen, auf die die Beigeladenen keinen direkten Einfluss haben, eine sol‑ che im Hinblick auf das streitige Verfahren aber mit Hinweis auf § 14 KapMuG abzulehnen. Auch diese Norm bietet nur eingeschränkte Mitwirkungsmöglich‑ keiten und setzt stillschweigend voraus, dass der Musterkläger den Rechtsstreit auch im Interesse der Beigeladenen führt.101 Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung muss nicht abschließend ent‑ schieden werden, ob eine Fürsorge- oder Treuepflicht besteht oder nicht. Wichtig ist vielmehr die Erkenntnis, dass dieser Begriff in erster Linie für die haftungs‑ rechtliche Sekundärebene von Bedeutung ist. Im vorliegenden Zusammenhang genügt die Feststellung, dass § 18 Abs. 1 KapMuG dazu dient, die Beigeladenen vor einem Vergleich zu schützen, der ihre Interessen nicht angemessen berück‑ sichtigt. Dadurch zwingt er den Musterkläger und seinen Prozessvertreter rein faktisch, diese Interessen zu berücksichtigen, wenn sie vermeiden wollen, dass ihr Vergleich an der Hürde der richterlichen Genehmigung scheitert. Dogma‑ tisch gesehen kann man demnach jedenfalls von einer Treueobliegenheit spre‑ 100 Ein entsprechender Gedanke fließt jedenfalls in die amerikanische Praxis ein, vgl. Koehler v. Brody, 483 F. 3d 590, 598 (8th Cir. 2007), Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 19:34. 101 Vgl. Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 77.
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chen. Auf den Begriff einer Pflicht verzichtet die vorliegende Untersuchung, da sie die Frage einer eventuellen Schadensersatzhaftung nicht klären will. So las‑ sen sich mit Blick darauf, dass das deutsche Recht traditionell großen Wert auf eine klare Begriffswahl legt, Missverständnisse vermeiden.
4. Wahrnehmung der Interessen der Anmelder bei der Musterfeststellungsklage Nach dem Zweck der Musterfeststellungsklage muss die qualifizierte Ein‑ richtung die Interessen der Verbraucher wahren, die ihre jeweiligen Ansprü‑ che oder Rechtsverhältnisse angemeldet haben. Auf einer konzeptionellen Ebene basiert das Gesetz auf der Überlegung, dass die qualifizierte Einrich‑ tung als uneigennützig handelnder Repräsentant Gewähr für eine adäquate In‑ teressenvertretung bietet. Umstritten ist jedoch, wie das Repräsentationsver‑ hältnis zwischen der Einrichtung und den Verbrauchern rechtlich ausgestaltet ist, sofern diese es nicht im Einzelfall ausdrücklich vertraglich geregelt haben. Das betrifft vor allem die Frage nach einer vertraglichen oder vertragsähn‑ lichen Haftung des Verbands, zu der das Gesetz keine Regelungen trifft.102 Sie wurde erstmals in zwei Stellungnahmen während des Gesetzgebungsverfah‑ rens aufgeworfen: Meller-Hannich nimmt dabei „zumindest“ Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) an,103 Schmidt-Kessel attes‑ tiert dem Repräsentationsverhältnis „Geschäftsbesorgungscharakter“ und legt nahe, dass es sich um einen Auftrag handele, um es dann zumindest als nicht näher definiertes „besonderes Prozeßrechtsverhältnis“ einzuordnen, das Rech‑ ten und Pflichten begründe.104 Röthemeyer hält dagegen, dass eine für die Ge‑ schäftsbesorgung charakteristische Weisungsbefugnis der Anmelder ebenso mit der Konzeption der Musterfeststellungsklage unvereinbar sei wie ein Auf‑ wendungsersatzanspruch der qualifizierten Einrichtung.105 Gegen die Annah‑ me einer Geschäftsführung ohne Auftrag spreche, dass die Tätigkeit der Ein‑ richtung den Rechtskreis eines Verbrauchers erst dann betreffe, wenn dieser eine Anmeldung eingereicht habe – dann läge jedoch ein Auftrag vor, wenn‑ gleich dieser kein Auftragsverhältnis begründe.106 Weinland beruft sich darauf, 102 Vgl. Rohls, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 3 Rn. 96. Der Gesetz‑ geber hat nicht den Regelungsvorschlag des nicht verwirklichten Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT‑Drucks. 18/13426, S. 8 übernommen, der in § 619 Abs. 2 ZPO‑E bestimmte, dass „[d]ie Stellung als Gruppenkläger […] kein Schuldverhältnis gegenüber den Teilnehmern des Gruppenverfahrens“ begründe. 103 Meller-Hannich, Stellungnahme RegE Musterfeststellungsklage, S. 5. 104 Schmidt-Kessel, Stellungnahme RegE Musterfeststellungsklage, S. 14 f.; zustimmend Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 371; kritisch ggü. prozessrechtlicher Einordnung da‑ gegen Rohls, in: Nordholtz/Mekat, § 3 Rn. 99. 105 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 608 Rn. 29. 106 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 608 Rn. 33 f. Gegen die Annahme einer Ge‑ schäftsführung ohne Auftrag auch Rohls, in: Nordholtz/Mekat, § 3 Rn. 100.
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dass das Gesetz die Begründung eines privaten Rechtsverhältnisses nicht vor‑ sehe. Er argumentiert, dass weder die qualifizierte Einrichtung noch die Ver‑ braucher ein Interesse an einer vertraglichen Verbindung hätten, wobei er auch auf die Gesichtspunkte des Weisungsrechts und des Aufwendungsersatzes ver‑ weist. Selbst ein pflichtenbegründendes besonderes Prozessrechtsverhältnis scheide aus. Zudem hebt er hervor, dass zwischen beiden Seiten nur eine mit‑ telbare Verbindung bestehe, da die Bekanntmachung der Musterfeststellungs‑ klage von Amts wegen durch das Gericht veranlasst und vom Bundesamt für Justiz vorgenommen wird, gegenüber dem auch eine Anmeldung erfolgt.107 Rohls hält es dagegen für denkbar, das Verhältnis als Auftrag einzuordnen, da die qualifizierte Einrichtung fremdnützig und unentgeltlich tätig werde.108 Die Frage, ob eine qualifizierte Einrichtung den Verbrauchern für Fehler bei der Prozessführung haftet, ist dementsprechend ungeklärt.109 Dasselbe gilt in der Folge mit Blick auf eine Haftung wegen eines nachteiligen Vergleichs. An die‑ ser Stelle kann jedoch auf die Ausführungen zum KapMuG verwiesen werden: Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann die Haftungsfrage offen ge‑ lassen werden.
5. Zusammenfassung Die Frage nach einer Fürsorge- oder Treuepflicht des Repräsentanten und sei‑ nes Prozessvertreters beziehungsweise der Anwälte der Gruppe gegenüber den Gruppenmitgliedern hat verschiedene Ebenen. Eventuelle Haftungsfragen auf einer Sekundärebene sollen im Rahmen dieser Untersuchung ausgeklammert werden. Insofern sei lediglich angemerkt, dass es in den USA grundsätzlich möglich ist, dass der class counsel sich Schadensersatzansprüchen seitens der absent class members ausgesetzt sieht; diese sind jedoch in der Praxis nur äu‑ ßerst schwer durchzusetzen. Die herrschende Meinung zum KapMuG wendet sich von vornherein dagegen, solche Ansprüche zuzulassen. Die Fairness eines Vergleichs wird in Deutschland beim KapMuG somit allein durch die richterli‑ che Genehmigung abgesichert. Ergänzende Haftungsansprüche oder zumindest deklaratorische Treuepflichten sollen nicht existieren. Diese Lösung steigert die Bedeutung des Genehmigungserfordernisses eher noch. Ein angemessenes Er‑ gebnis wird daneben allenfalls mittelbar durch Auswahl des Musterklägers ge‑ währleistet. Für die Musterfeststellungsklage ist noch ungeklärt, ob das Geneh‑ migungserfordernis durch Haftungsansprüche ergänzt wird. Im Zusammenhang mit dem WCAM wird diese Frage soweit ersichtlich nicht diskutiert. Entschei‑
107 108
Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 216 ff. Rohls, in: Nordholtz/Mekat, § 3 Rn. 97. 109 Vgl. Balke/Liebscher/Steinbrück, ZIP 2018, 1321, 1326.
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dend ist im Rahmen dieser Untersuchung aber lediglich, dass ein Vergleich die Interessen der Gruppenmitglieder wahren muss, um genehmigt werden zu kön‑ nen. Da es auf die Prüfungsleistung des Gerichts ankommt und nicht darauf, ob sie von anderen Mechanismen flankiert wird, unterscheidet sich ein Ansatz, der – in den Kategorien des deutschen Rechts – von einer Treuepflicht spricht, grundsätzlich nicht von einem Ansatz, der nur eine Obliegenheit annimmt. Ent‑ scheidend ist, dass der Vergleich nur unter bestimmten Bedingungen genehmigt wird. In der Praxis werden die Unterschiede allerdings voraussichtlich auch auf der Sekundärebene gering ausfallen, da eine Haftung des class counsel gegen‑ über den class members auch in den USA keine Rolle spielt.
III. Die Aufgabe des Gerichts Das Genehmigungserfordernis ist in erster Linie eine Aufgabenzuweisung an das Gericht. Die Frage, ob es dazu dient, Handlungspflichten der Repräsen‑ tanten durchzusetzen oder eine rein objektive Ergebniskontrolle darstellt, ist zweitrangig. Im Folgenden sollen daher die maßgeblichen Grundannahmen im Zusammenhang mit der richterlichen Kontrollfunktion bei Vergleichen im kol‑ lektiven Rechtsschutz herausgearbeitet werden.
1. Treuhänderische Verantwortung des Gerichts? a) Die Situation bei der class action In Entscheidungen zur class action heißt es oftmals, dass das Gericht bei der Kontrolle des Vergleichs als Treuhänder (fiduciary) zugunsten der absent class members fungiere.110 Judge Posner formuliert dies so: We and other courts have gone so far as to term the district judge in the settlement phase of a class action suit a fiduciary of the class, who is subject therefore to the high duty of care that the law requires of fiduciaries.111 110 Vgl. etwa Grant v. Bethlehem Steel Corp., 823 F. 2d 20, 23 (2d Cir. 1987); Grunin v. In‑ ternational House of Pancakes, 513 F. 2d 114, 123 (8th Cir. 1975); In re Cendant Corp. Litiga‑ tion, 264 F. 3d 286, 296 (3d Cir. 2001); In re Nat. Football League Players Concussion Injury Litigation, 775 F. 3d 570, 581 (3d Cir. 2014); Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 279 f. (7th Cir. 2002); Dick v. Sprint Communications Co. L. P., 297 F.R.D. 283, 294 (W. D. Ky. 2014); DeHoyos v. Allstate Corp., 240 F.R.D. 269, 286 (W. D. Tex. 2007); Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 125; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40 m. w. N. Das Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.231 bezeichnet das Gericht dagegen nur im Zu‑ sammenhang mit der richterlichen Kontrolle der Anwaltsvergütung ausdrücklich als „fiducia‑ ry“. Die Principles of the Law of Aggregate Litigation des ALI verzichten sogar ganz auf eine Formulierung, die das Gericht explizit als Treuhänder bezeichnet. 111 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 279 f. (7th Cir. 2002).
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Das Gericht solle sicherstellen, dass die Anwälte der class in deren Interesse gehandelt haben. Ein Vergleich, mit dem sie ihre Stellung zulasten der Gruppe missbrauchen, dürfe keine Bindungswirkung erlangen.112 Aus amerikanischer Sicht ist die Aussage, dass ein Richter eine besonde‑ re Verantwortung dafür trage, dass die Interessen der Gruppenmitglieder ge‑ wahrt werden, etwas sehr Ungewöhnliches. Das dortige Prozessverständnis be‑ tont sonst mit Nachdruck, dass ein Richter eine neutrale Instanz ist, die über den Streit zweier Parteien entscheidet, ohne der einen oder anderen gegenüber be‑ sonders verpflichtet zu sein.113 Die ihm zugedachte Rolle ist traditionell deut‑ lich passiver und distanzierter als diejenige eines deutschen Richters.114 Wie die gerichtliche Kontrolle eines Vergleichs von diesem Leitbild abweicht, zeigt sich vor allem im Zusammenhang mit der Genese der Erkenntnisgrundlage des Ge‑ richts. Allerdings sind diese Abweichungen nur graduell. So mahnt das Manual for Complex Litigation ausdrücklich an, dass ein Richter seine Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit bewahren müsse: The judge must guard against the temptation to become an advocate – either in favor of the settlement because of a desire to conclude the litigation, or against the settlement be‑ cause of the responsibility to protect the rights of those not party to it.115
Bei der class action signalisiert die Sprachregelung von einer Treuepflicht des Gerichts gegenüber den absent class members auch, dass die richterliche Kon‑ trolle eines Vergleichs allein im Interesse der repräsentierten Gruppenmitglie‑ der steht; die Gegenseite – also in aller Regel der Beklagte – soll dagegen nicht geschützt werden. Insgesamt umschreibt der Begriff einer Treuepflicht des Gerichts demnach mehr dessen besondere Rolle im kollektiven Rechtsschutz, als dass sich konkre‑ te Rechtsfolgen aus ihm ableiten ließen. Dabei betont er die zentrale Bedeutung, die dem Schutz der Gruppenmitglieder zukommt.116 Die Treuhänderstellung des Gerichts verwirklicht sich vor allem in der Anwendung der Vorschriften zur certification und zur Genehmigung des Vergleichs, wie der Third Circuit aus‑ führt:
112 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 279 (7th Cir. 2002); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40 m. w. N. 113 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40. Vgl. aber zur ungewöhnlich aktiven Rolle eines Richter im Rahmen von class actions Stürner, Role of Judges and Lawyers, S. 73 f. 114 Vgl. aus amerikanischer Sicht Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823, 830 (1985). 115 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13:14. 116 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40. Vgl. zum Zweck der richterli‑ chen Genehmigung auch Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797 („The purpose of subdivision (e) is to protect the nonparty class members from unjust or unfair settlements affecting their rights […].“).
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The intent of these procedures is to provide transparency for class members and author‑ ity to the district court to act as a fiduciary for putative class members by „guarding the claims and rights of absent class members.“117
Es erscheint daher angemessen den Begriff einer Treuepflicht als Chiffre dafür zu verstehen, dass die Kontrolle des Vergleichs dem Schutz der Gruppenmit‑ glieder dient und es sich insofern Abweichungen gegenüber einem normalen Erkenntnisverfahren ergeben. Die Einordnung der richterlichen Kontrolle als Schutzmechanismus zugunsten der repräsentierten Gruppenmitglieder muss im Übrigen nicht zwingend an eine Treuepflicht der Repräsentanten rückgebunden werden. Die Sprachregelungen der Treuepflichten der Repräsentanten und des Gerichts heben lediglich die Zielrichtung der jeweiligen Schutzmechanismen hervor; es handelt sich nicht um Begrifflichkeiten, deren Verwendung zwangs‑ läufig eine rechtlich konstitutive Bedeutung zukommt.
b) Interessenwahrung durch das Gericht zugunsten der Geschädigten im WCAM Für das WCAM stellt Mom fest, dass der Umstand, dass das Gericht die Inte‑ ressen der Geschädigten wahren muss, vor allem die Frage nach der Bindung des Gerichts an das Parteivorbringen betreffe.118 Auch hier umschreibt die Rede von einer Schutzfunktion des Gerichts also die spezifischen Anforderungen an dessen Tätigkeit im Rahmen der Verbindlicherklärung einer Übereinkunft.
c) Richterliche Fürsorgepflicht im deutschen Recht? Die Regierungsentwürfe zur KapMuG‑Reform wie zur Musterfeststellungskla‑ ge verzichten in ihren Erläuterungen zur Vergleichsgenehmigung auf die Rhe‑ torik von einer Treuepflicht des Gerichts.119 § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO machen aber schon in ihrem jeweiligen Wortlaut deutlich, dass die richterliche Überprüfung darauf abzielt, Vergleiche zu verhindern, die die Bei‑ geladenen beziehungsweise die angemeldeten Verbraucher unangemessen be‑ nachteiligen. Man kann aber an den soeben zur class action geäußerten Gedan‑ ken anknüpfen, dass sich die Schutzfunktion des Gerichts in den zusätzlichen Aufgabenzuweisungen verwirklicht, die es im kollektiven Rechtsschutz erhält. Diese richterlichen Eingriffs- und Kontrollbefugnisse, etwa im Zusammenhang 117 In re Nat. Football League Players Concussion Injury Litigation, 775 F. 3d 570, 581 (3d Cir. 2014); vgl. auch In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liabi‑ lity Litigation, 55 F. 3d 768, 805 (3d Cir. 1995) („Some courts have described their duty under Rule 23(e) as the ‚fiduciary responsibility‘ of ensuring that the settlement is fair and not a pro‑ duct of collusion.“); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40. 118 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 356. 119 Vgl. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24 f.; RegE Musterfeststellungs‑ klage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 27 f.
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mit der Auswahl des Musterklägers beim KapMuG, aber eben auch die Ge‑ nehmigung eines Vergleichs sind unverzichtbar, um das Gruppeninteresse zu wahren.120 Auf den Begriff der Fürsorgepflicht kommt es insofern nicht an; er umschreibt allenfalls die Ausweitung der richterlichen Aufgaben und Befug‑ nisse im kollektiven Rechtsschutz. Ein Gericht geht bei der Überprüfung eines Vergleichs nicht anders vor als in jedem anderen Verfahren: Es wendet eine Norm auf die entscheidungserheblichen Tatsachen an. Entscheidend ist viel‑ mehr der Inhalt der maßgeblichen Norm: Ein Gericht ist gesetzlich zur Über‑ prüfung eines Vergleichs verpflichtet und muss auf diesem Wege die Interessen der Gruppenmitglieder gewährleisten.
2. Keine Streichung, Ergänzung oder sonstige Gestaltung von Vergleichsinhalten Die Funktion des Gerichts bei der Genehmigung eines Vergleichs erschöpft sich in allen hier untersuchten Rechtsordnungen zumindest in formaler Hinsicht in einer reinen Kontrollaufgabe; über eine Gestaltungsbefugnis verfügt das Ge‑ richt nicht. Das bedeutet, dass es einen Vergleich nur entweder genehmigen oder seine Genehmigung ablehnen kann. Zwischenlösungen gibt es nicht: Das Gericht kann einen Vergleich nicht zum Teil genehmigen und zum Teil seine Genehmigung ablehnen. In diesem Fall würde es seine eigene gestaltende Ent‑ scheidung an die Stelle derjenigen der Parteien setzen, was keine der hier unter‑ suchten Verfahrensformen zulässt. Erst recht ist es dem Gericht nicht möglich, aus eigener Machtvollkommenheit ergänzende Bestimmungen in den Vergleich einzufügen oder ihn gar komplett neu zu fassen.121 In den Kategorien des deutschen Rechts bedeutet dies eine strikte Antrags‑ bindung. Ein Gericht kann nur genau denjenigen Vergleich genehmigen oder verwerfen, den ihm die Parteien vorgelegt haben. Dasselbe gilt im Ergebnis in den USA und den Niederlanden. Auch der Umstand, dass bei der class action von einer Treuepflicht des Gerichts gegenüber den repräsentierten Gruppenmit‑ gliedern die Rede ist, ändert daran nichts:
120 Vgl.
Micklitz/Stadler, Verbandsklagerecht, S. 1215. Zur class action: Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998); ALI, Principles of Aggregate Litigation § 3.05 (d) und dazu Comment d.; Manual for Complex Liti‑ gation, Fourth, § 21.61; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:46; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.5 (dort Fn. 9) m. w. N.; zum WCAM: Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 353 m. w. N.; zum KapMuG: RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799 S. 25; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 26; Winter, in: Wieczo‑ rek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 14; zur Musterfeststellungsklage Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 40; zur Parallele im Insolvenzplanverfahren vgl. Pleister, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 248 Rn. 10 („Der Bestätigungsbeschluss kann weder eine Modi‑ fizierung noch eine Auflage bezüglich des Insolvenzplans vorsehen.“). 121
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Even when the district court acts as a fiduciary for the absent class members in approving settlements of certified class actions, it is not the court’s prerogative to pick and choose the terms of the settlement, redact portions of the agreement, or substitute terms more to the court’s liking; rather, the court’s duty is to evaluate the settlement as a whole to de‑ termine if it is fair, reasonable, and adequate.122
Das Genehmigungserfordernis schränkt die Dispositionsbefugnis der Reprä‑ sentanten bildlich betrachtet demnach nur insoweit ein, als es eine Grenze zieht, jenseits derer ein Vergleich als Gesamtregelung inakzeptabel ist. Das bedeutet, dass die Dispositionsbefugnis über das Verfahren in zweierlei Hinsicht unange‑ tastet bleibt: Die Repräsentanten entscheiden autonom darüber, ob sie einen Vergleich schließen wollen und zu welchen Bedingungen sie dies gegebenen‑ falls tun. Sie haben also einerseits das Recht, Neuverhandlungen vorzunehmen, wenn ihr Vergleichsvorschlag nicht die Billigung des Gerichts findet, oder aber darauf zu verzichten und das Scheitern des Vergleichs in Kauf zu nehmen. An‑ dererseits verfügen sie über volle Gestaltungsfreiheit, solange sie die Grenze nicht überschreiten, die ihnen der Prüfungsmaßstab des Genehmigungserfor‑ dernisses setzt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es in der Praxis fließende Übergänge zwischen dem Verbot einer Intervention hinsichtlich des Vergleichsinhalts und der richterlichen Aufgabe der Verfahrensleitung gibt. Eine klare Trennlinie sieht keine der hier untersuchten Verfahrensformen vor. Das Gericht ist aber jeden‑ falls daran gehindert, die Gestaltungsentscheidung der Parteien unmittelbar durch seine eigene zu ersetzen. So ist es dem Gericht bei der class action unbenommen, den Parteien mit der Ablehnung der Genehmigung zu drohen, falls eine solche Bewertung des Ver‑ gleichs von den rechtlichen Vorgaben für die richterliche Prüfungskompetenz gedeckt ist.123 Entscheidend ist also die Rechtsbindung des Richters; eigene Zweckmäßigkeitserwägungen darf er nur insoweit anstellen, als dies der recht‑ liche Bewertungsmaßstab erlaubt. Dementsprechend darf ein Gericht bei der class action in diesem Rahmen aber Änderungsvorschläge machen.124 Viele amerikanische Gerichte weisen die Parteien ausdrücklich auf Probleme hin und geben ihnen Gelegenheit, Abhilfe zu schaffen.125 Auch das vorgeschaltete pre‑ liminary approval ermöglicht den Gerichten, Einfluss auf die Gestaltung eines 122 Sorrentino v. ASN Roosevelt Center LLC, 584 F. Supp. 2d 529, 534 (E. D. N. Y. 2008); ähnlich auch McBean v. City of New York, 233 F.R.D. 377, 382 (S.D.N.Y. 2006). Dieses Zitat bekräftigt im Übrigen die oben unter 1. entwickelte Ansicht, dass es sich bei der Treuepflicht des Richters, die die amerikanischen Gerichte statuieren, in erster Linie um eine Sprachrege‑ lung handelt, die die Zielrichtung bestimmter Regulierungsmechanismen umschreibt. 123 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:46; ähnlich ALI, Principles of Aggre‑ gate Litigation § 3.05, Comment d.; Hensler, Class Action Dilemmas, S. 487. 124 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.14 m. w. N. 125 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12 m. w. N.
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
Vergleichs zu nehmen; sie lehnen die vorläufige Genehmigung vergleichswei‑ se häufig ab und erzwingen auf diesem Wege Änderungen. Selbst nachdem die Gruppenmitglieder bereits über den Vergleich benachrichtigt wurden, sind noch Nachverhandlungen infolge eines richterlichen Hinweises während des fairness hearing denkbar.126 Manche Gerichte gehen insbesondere beim preliminary ap‑ proval so weit, die Genehmigung unter dem Vorbehalt zu erteilen, dass die Par‑ teien noch bestimmte Inhalte des Vergleichs nach den Wünschen des Gerichts abändern.127 Die Gesetzesbegründung zum KapMuG gibt dem Gericht sogar explizit auf, den Musterparteien Hinweise zu geben, nach welchen Veränderungen es bereit wäre, einen Vergleich, dessen Genehmigung es zunächst abgelehnt hat, den‑ noch zu akzeptieren.128 Hinzu kommen die ausgeprägten richterlichen Befug‑ nisse, die § 139 Abs. 1 ZPO dem Richter im Rahmen der Verfahrensleitung gibt. In den Niederlanden kann das Gericht gemäß Art. 7:907 Abs. 4 BW die Übereinkunft mit Zustimmung der Parteien ergänzen oder ändern oder den Par‑ teien Gelegenheit geben, dies selbst zu tun. Aus eigener Machtvollkommenheit kann es dagegen keine Änderungen vornehmen, da es sonst die Vertragsfreiheit der Antragssteller beschneiden würde.129 Die Einwirkungsmöglichkeit gemäß Art. 7:907 Abs. 4 BW besteht aber nur insofern, als die Genehmigung ansonsten wegen Verstoßes gegen die Voraussetzungen von Art. 7:907 Abs. 3 BW versagt werden müsste.130 Die richterliche Einflussnahme beschränkt sich also auch hier darauf, die rechtlichen Anforderungen an die Genehmigungsfähigkeit der Übereinkunft zu verwirklichen. Wenn der Vergleich nicht den gesetzlichen An‑ forderungen entspricht, kann das Gericht in diesem Rahmen indirekt Änderun‑ gen durchsetzen, indem es die Antragsteller mit der Drohung unter Druck setzt, andernfalls die Genehmigung zu verweigern.131 In seinen die Genehmigung verweigernden Entscheidungen in den Sachen DSB‑Bank und Fortis hat der gerechtshof Amsterdam den Antragstellern mehr oder weniger konkrete Än‑ derungsvorschläge gemacht.132 Insbesondere eine Beratschlagung zwischen dem Richter und den Antragstellern in einer sogenannten „regiezitting“ gemäß 126 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61 m. w. N.; falls es infolgedessen zu substantiellen Änderungen kommt, die sich zulasten einzelner Gruppenmitglieder auswirken, kann eine erneute Benachrichtigung (notice) und Anhörung der class erforderlich sein. 127 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12 m. w. N. Vereinzelt wird auch das final approval unter einer Bedingung erteilt, vgl. In re Auction Houses Antitrust Litig., 2001 WL 170792 [*18] (S.D.N.Y. 2001). 128 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799 S. 25. 129 Vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 353 m. w. N. 130 Gerechtshof Amsterdam, Urt. v. 1. 06. 2006 [ECLI:NL:GHAMS:2006:AX6440], Nr. 5.7 (Foundation Centre DES); vgl. auch Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 295 (2014). 131 Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Nether‑ lands, Rn. 4.22. 132 Vgl. gerechtshofAmsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690
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Art. 1013 Abs. 8 Rv hat nicht selten eine Anpassung der Antragsschrift zur Fol‑ ge.133 Art. 7:907 Abs. 4 BW ermächtigt das Gericht hingegen nicht dazu, von den Antragstellern zu verlangen, den Kreis der Anspruchsinhaber weiter zu zie‑ hen.134
3. Die Form der Genehmigungsentscheidung a) Die class action: Der genehmigte Vergleich als consent decree Die richterliche Genehmigung eines Vergleichs im Rahmen einer class action stellt nach amerikanischer Auffassung ein sogenanntes consent decree oder agreed judgment dar,135 wobei der Sprachgebrauch variiert.136 Black’s Law Dictionary definiert den Begriff consent decree nur sehr allgemein als „[a] court decree that all parties agree to.“137 Den Begriff eines agreed judgment erläutert es demgegenüber eingehend: A settlement that becomes a court judgment when the judge sanctions it. In effect, an agreed judgment is merely a contract acknowledged in open court and ordered to be re‑ corded, but it binds the parties as fully as other judgments.138
Die Entscheidungsform des consent decrees verdankt sich dem Umstand, dass das amerikanische Recht einen vollstreckbaren Prozessvergleich, wie ihn in Deutschland § 794 Nr. 1 ZPO normiert, nicht kennt. Stattdessen können die Par‑ teien gemeinsam in Gestalt eines agreed judgment beziehungsweise consent decree ein Urteil beantragen, das den Inhalt des Vergleichs in sich aufnimmt.139 (DSB‑Bank I ), Rn. 7. 5. 20; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL: GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 9.3/11.1. 133 Van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 10. 134 Dies hat der Gerichtshof Amsterdam im DES‑Verfahren entschieden, gerechtshof Amsterdam, beschikking. v. 1. 06. 2006, ECLI:NL:GHAMS:2006:AX6440, Rn. 5.7 (Founda‑ tion Centre DES); vgl. auch Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 353. 135 Vgl. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.1 (Verwei‑ se auf zahlreiche Entscheidungen, die sich dieser Terminologie bedienen, in den Fußnoten); Frische, Verfahrenswirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 82. Vgl. auch W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 [*3] (S.D.N.Y. 2016). 136 Weitere alternative Bezeichnungen laut Black’s Law Dictionary, Stichwort „judgment“, Untereintrag „agreed judgment“: consent judgment, stipulated judgment, judgment by con‑ sent. Frische, Verfahrenswirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 79 f. spricht daneben noch von einer „consent order“ oder einem „judgment on agreed terms“. 137 Black’s Law Dictionary, Stichwort „decree“, Untereintrag „consent decree“. Ein „agreed decree“ wird im entsprechenden Untereintrag als „[a] final judgment, the terms of which are agreed to by the parties“ definiert. Zu den teilweise abweichenden Definitionen in älteren Aufl. vgl. Frische, Verfahrenswirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 80, Fn. 531. 138 Black’s Law Dictionary, Stichwort „judgment“, Untereintrag „agreed judgment“. 139 Frische, Verfahrenswirkungen und Rechtskraft gerichtlicher Vergleiche, S. 79; Hess, JZ 2000, 373, 376.
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
In Stephenson v. Dow Chemical Co. wechselt der Second Circuit dementspre‑ chend nonchalant zwischen den Termini settlement und judgment während er von einem genehmigten Vergleich spricht.140 In anderen Entscheidungen fin‑ den sich Formulierungen wie „settlement […] incorporated into a judgment“141 oder „settlement judgment“.142
b) Das WCAM: Die Übereinkunft als Feststellungsvertrag Beim niederländischen WCAM hat ein für verbindlich erklärter Vergleich zwi‑ schen den Antragstellern und den Geschädigten die Wirkung eines Feststel‑ lungsvertrags, mit dem sich alle Beteiligten gegenseitig an eine Feststellung über ein Rechtsverhältnis binden (vgl. Art. 7:900 Abs. 1 BW). Diese ist mit der Rechtskraftwirkung eines Urteils vergleichbar (vgl. Art. 236 Rv).143 Im Gesetz‑ gebungsverfahren hatte die Nederlandse Vereniging voor Rechtspraak zwar den Einwand erhoben, es stelle eine „politische Aufgabe“ dar, die Angemessenheit einer Vereinbarung im Rahmen dieses Gesetzes zu beurteilen.144 Legt man die obige Definition richterlicher Tätigkeit zugrunde, ist diese Kritik aber nicht gerechtfertigt: Es handelt sich um eine typische Aufgabe für einen Richter.145 Dass die Vergleiche auf Grundlage des WCAM sehr komplexe und weitreichen‑ de Sachverhalte betreffen können, disqualifiziert sie nicht als Gegenstand recht‑ sprechender Tätigkeit.
c) Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage: Entscheidungen in Beschlussform, materiellrechtliche Bindungswirkung Im KapMuG genehmigt das OLG einen Vergleich zunächst gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG und erklärt ihn sodann gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG für wirksam. Beide Entscheidungen ergehen durch unanfechtbaren Beschluss. Die Bindungs‑ wirkung eines Vergleichs soll dagegen rein materiellrechtlicher Natur sein und an die jeweiligen Leistungsverhältnisse zwischen den einzelnen Beigeladenen und dem Musterbeklagten anknüpfen.146 Auf der prozessualen Ebene soll die Wirksamkeit eines Vergleichs aber zur Folge haben, dass Beigeladene, die aus einem wirksam gewordenen Vergleich ausgetreten sind, kein neues Musterver‑ fahren mit denselben Vorlagefragen anstrengen können.147 Von entscheiden‑ der Bedeutung wird sein, dass ein wirksamer Vergleich nicht ohne weiteres in einem Folgeprozess inzident als unwirksam bewertet werden darf. Wenn man 140 141
Stephenson v. Dow Chemical Co., 273 F. 3d 249, 259 (2d Cir. 2001). Frank v. United Airlines, 216 F. 3d 845, 852 (9th Cir. 2000). 142 Matsushita Electric Industrial Co. v. Epstein, 516 U. S. 367, 368 et passim (1996). 143 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 331. 144 Vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 355 m. w. N. 145 So Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 355 f. 146 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 23 Rn. 10. 147 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 15.
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hier schon nicht auf den Gedanken der Rechtskraft zurückgreifen will, wird man im materiellen Recht entsprechende Mechanismen bereitstellen müssen. Für die Musterfeststellungsklage gelten diese Ausführungen mit Blick auf die Regelungen in § 611 Abs. 3 und 5 ZPO entsprechend.
IV. „Exit“, „voice“ und weitere Schutzmechanismen – die Genehmigungsentscheidung im Kontext Wenn die richterliche Genehmigung des Vergleichs ein Instrument ist, das dazu beitragen soll, dass in einem Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes die In‑ teressen der repräsentierten Gruppenmitglieder gewahrt werden, muss sie im Kontext weiterer Sicherungsmechanismen gesehen werden. John C. Coffee und Samuel Issacharoff haben zwei zentrale Ansatzpunkte für den Schutz der Repräsentierten in Anlehnung an Albert O. Hirschmans klassische Studie grif‑ fig den Kategorien „exit“ und „voice“148 zugeordnet.149 „Exit“ bedeutet in die‑ sem Sinne, dass den Repräsentierten die Möglichkeit gegeben wird, aus eige‑ nem Antrieb aus dem Verfahren auszuscheiden. Sie können dann nach ihrem Belieben ihre Ansprüche entweder individuell verfolgen oder auch darauf ver‑ zichten, sie geltend zu machen. Alle drei hier analysierten Verfahrensformen erlauben den Gruppenmitgliedern dementsprechend, sich der Bindungswir‑ kung eines Vergleichs zu entziehen, indem sie eine Austrittsoption wahrneh‑ men, die ihnen nach einer entsprechenden Benachrichtigung während eines be‑ grenzten Zeitraums offen steht. Die Kategorie „voice“ bezeichnet dagegen die Mitwirkungsrechte der Repräsentierten. Im Hinblick auf einen Vergleich sind diese in allen Verfahrensformen, die diese Untersuchung in den Blick nimmt, gleichermaßen beschränkt. Die Repräsentierten haben in aller Regel keine Möglichkeit, in die Vergleichsverhandlungen einzugreifen und ihrem indivi‑ duellen Standpunkt Geltung zu verschaffen. Stattdessen verfügen sie lediglich über das Recht, nachträglich Einwendungen gegen einen Vergleich zu erhe‑ ben. Seine Funktionsweise gleicht derjenigen der Einwirkungsmöglichkeiten, die den Gruppenmitgliedern während des streitigen Verfahrens offen stehen.150 In beiden Fällen versuchen die Gruppenmitglieder, das Gericht bei seiner Ent‑ scheidungsfindung zu beeinflussen; der einzige Unterschied ist insofern die
148 Vgl.
Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 376 (2000); Issacharoff, 1999 Sup. Ct. Rev. 337, 366; Is‑ sacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1701 (2008). Coffee übernimmt diese Termino‑ logie dabei ausdrücklich nur zu illustrativen Zwecken; konkrete Schlussfolgerungen aus dem Werk Hirschmans will er nicht ziehen, vgl. Coffee a. a. O. Fn. 17. 150 Hervorzuheben sind in dieser Hinsicht die intervention des amerikanischen Rechts und die deutsche Regelung von § 14 KapMuG. 149
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
Art der bevorstehenden Entscheidung.151 Nach „exit“ und „voice“ reiht Coffee an dritter Stelle die Mechanismen ein, die eine angemessene und interessen‑ gerechte Repräsentation der Gruppenmitglieder gewährleisten sollen, indem sie Treuepflichten für die Repräsentanten statuieren.152 Diese Pflichten kön‑ nen immer vermittelt über eine Entscheidungskompetenz des Gerichts ver‑ wirklicht werden und zwar vor allem über diejenige hinsichtlich der Auswahl der Repräsentanten der Gruppe. Issacharoff argumentiert in diesem Sinne stär‑ ker institutionell und rückt die Rolle des Gerichts als Kontrollinstanz in den Vordergrund. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die richterliche Beur‑ teilung der Fairness des Vergleichs, wobei er den Nutzen dieses Ansatzes je‑ doch äußerst kritisch beurteilt.153 In einem anderen Aufsatz stellt er eine Ver‑ bindung zwischen der Genehmigung des Vergleichs und der Gewährleistung angemessener Repräsentation her; er stützt sich dafür auf eine Aussage des Eighth Circuit, nach der die Angemessenheit der Repräsentation letztlich immer anhand des Vergleichs beurteilt werden müsse.154 Ob man dieser Einordnung der richterlichen Genehmigung des Vergleichs in das Schema von „exit“, „voice“ und der Kontrollfunktion des Gerichts folgen will oder nicht, ist letzt‑ lich unerheblich. Fragwürdig erscheint es allerdings schon deswegen, weil mit der Einwendungsmöglichkeit für die Gruppenmitglieder auch „voice“-Elemen‑ te in die richterliche Genehmigungsentscheidung einfließen können.155 Das spricht dafür, die richterliche Genehmigung in erster Linie als eine im Aus‑ gangspunkt inhaltlich neutrale Entscheidungsform zu sehen, in der sich – eben‑ so wie etwa in einem Urteil oder einem Beschluss, mit dem das Verfahren auf streitigem Wege beendet wird – sowohl die Mitwirkungsbefugnisse der Betrof‑ fenen als auch eine etwaige Schutzfunktion des Gerichts verwirklichen. Zu be‑ achten ist vor allem die Charakteristik der richterlichen Genehmigung des Ver‑ gleichs als Ergebniskontrolle, die diese von den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens unterscheidet – auch dann, wenn beide Mechanismen wie bei der settlement class action oder dem WCAM zeitlich zusammenfallen. Anders 151 Vgl. Issacharoff, 81 Fordham L. Rev. 3165, 3174 (2013), der betont, dass sich die Mitwirkung der Gruppenmitglieder letztlich immer auf das Gericht als Entscheidungsinstanz richtet. 152 Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 376, 378 (2000). Coffee und Issacharoff bezeichnen diese Mechanismen mit dem Begriff „loyalty“. Diese Terminologie passt aber nicht zu der Studie von Hirschman, die mit „loyalty“ vielmehr das Phänomen beschreibt, dass unter bestimmten Bedingungen ein „exit“ herausgezögert und stattdessen „voice“-Mechanismen aktiviert wer‑ den, vgl. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty, S. 77 f. In späteren Aufsätzen greift jedenfalls Coffee dann auch nur noch auf das Begriffspaar „exit“ und „voice“ zurück, vgl. Coffee, 110 Col. L. Rev. 288 (2010). 153 Issacharoff, 1999 Sup. Ct. Rev. 337, 375 f. 154 Issacharoff, 81 Fordham L. Rev. 3165, 3174 (2013), unter Verweis auf White v. Nat’l Football League, 41 F. 3d 402, 408 (8th Cir. 1994). 155 Die Musterfeststellungsklage sieht allerdings im Gegensatz zu den anderen von der vorliegenden Untersuchung analysierten Verfahren keine Einwendungsmöglichkeit vor.
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als die Auswahlentscheidung über die Person des Repräsentanten bezieht sich die richterliche Genehmigung allenfalls indirekt auf die Frage der angemesse‑ nen Repräsentation der Gruppenmitglieder. Auf Rechtsfolgenebene stellt eine ablehnende Entscheidung anders als dort nicht die Qualifikation des Reprä‑ sentanten in Frage. Dieser behält vielmehr seine Stellung und kann jederzeit einen neuen Vergleich einreichen. Das Gericht bewertet bei der Genehmigung eines Vergleichs nicht direkt die Tätigkeit des Repräsentanten, sondern es ver‑ fügt über eine eigenständige Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Frage, ob ein bestimmtes Verhandlungsergebnis bindende Wirkung für die Repräsen‑ tierten entfaltet. An dieser Stelle kann an den Gedanken angeknüpft werden, der oben unter I. entwickelt wurde: Die Auswahlentscheidung hinsichtlich der Person des Repräsentanten soll indirekt die Voraussetzungen dafür gewährleis‑ ten, dass die Interessen der Gruppenmitglieder angemessen durchgesetzt wer‑ den;156 die richterliche Kontrollbefugnis hinsichtlich des Vergleichs zieht der Kompetenz der Repräsentanten hingegen direkt eine äußere Grenze, indem sie das Ergebnis seiner Tätigkeit entweder akzeptiert oder verwirft. Auch nachdem das Gericht einen Vergleich genehmigt hat, bieten sich noch Ansatzpunkte für weitere Kontrollmechanismen. Sie lassen sich als Elemente der Kategorie „voice“ begreifen, die den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit geben, im Nachgang der Genehmigungsentscheidung persönlich zu intervenie‑ ren und ihre Sichtweise gegenüber einem Richter vorzubringen. Sie werden überwiegend lediglich in den USA verwirklicht, wobei auch dort erhebliche Einschränkungen bestehen. Die erste Option ist es, den repräsentierten Grup‑ penmitgliedern zu erlauben, individuell Rechtsmittel gegen eine stattgebende Genehmigungsentscheidung einzulegen. Seit Devlin v. Scardelletti157 ist dies bei der class action unter erleichterten Bedingungen möglich.158 Das WCAM und das KapMuG schließen solche Rechtsmittel hingegen ganz aus159 und ver‑ weisen die Repräsentierten damit auf ihre Austrittsoption, die anders als bei der class action erst nach der Genehmigung besteht. Die Verfügbarkeit eines Rechtsmittels ergänzt das Genehmigungsverfahren letztlich nur um eine wei‑ tere institutionelle Ebene; ansonsten ändern sich dabei allenfalls der Prüfungs‑ maßstab und die Erkenntnisgrundlage. 156 Vgl. Issacharoff, 1999 Sup. Ct. Rev. 337, 376 ff. Eingehend zur Auswahl des Repräsen‑
tanten bei Verbands- und Gruppenklagen im deutschen, französischen und niederländischen Recht Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger. 157 Devlin v. Scardelletti, 536 U. S. 1 (2002). Siehe dazu noch unten S. 323. 158 Gegen das preliminary approval eines Vergleichs sind dagegen keine Rechtsmittel er‑ öffnet, vgl. In re National Football League Players Concussion Injury Litigation, 775 F. 3d 570 (3d Cir. 2014). 159 Im WCAM steht gem. Art. 1018 Abs. 1 Rv können die Antragsteller nur im Falle der Ablehnung der Genehmigung gemeinsam ein Rechtsmittel einlegen, vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 376; für das KapMuG vgl. § 18 Abs. 1 KapMuG und § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG (jeweils unanfechtbare Beschlüsse).
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Die zweite Option besteht darin, zugunsten von Gruppenmitgliedern, die im Zusammenhang mit dem Vergleich nicht angemessen repräsentiert wurden, eine Rechtskraftdurchbrechung anzuordnen, die es ihnen ermöglicht, ihre An‑ sprüche nochmals in einem anderen Forum geltend zu machen. In den USA gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit solcher collateral attacks, die auch durch ihre Implikationen für das Verhältnis zwi‑ schen state und federal courts gekennzeichnet ist.160 Fraglich ist dabei ins‑ besondere, inwiefern eine collateral attack dadurch ausgeschlossen wird, dass bereits bei der certification festgestellt wurde, dass die Gruppenmitglieder an‑ gemessen repräsentiert werden.161 Die Problematik hinreichend differen‑ ziert darzustellen, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Die dritte Option verlagert die Problematik des Schutzes der Gruppenmit‑ glieder auf die Sekundärebene, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, wegen eines ungünstigen Vergleichs Schadensersatzansprüche gegen die Anwälte der Gruppe geltend zu machen. Bei der class action ist dies zwar grundsätzlich möglich, aber es verspricht in der Praxis wenig Aussicht auf Erfolg. Im deut‑ schen KapMuG steht einer Haftung des Musterklägers oder seines Prozessver‑ treter bereits entgegen, dass sie nach herrschender Meinung keine Pflichten gegenüber den Beigeladenen treffen. Für das WCAM fehlt es an Quellen.162 Mit Blick auf die Musterfeststellungsklage steht die Klärung der Frage noch aus.163 Aus Sicht der repräsentierten Gruppenmitglieder sind sekundäre Haf‑ tungsansprüche nur eine bedingt geeignete Alternative zur präventiven Kon‑ trolle von Vergleichen durch ein Gericht: Die Gruppenmitglieder müssten das Insolvenzrisiko ihrer Repräsentanten und gegebenenfalls auch ihrer Anwälte tragen, wenn sie solche Ansprüche durchzusetzen versuchten. Dabei entstän‑ de ihnen zudem zusätzlicher Aufwand und sie trügen möglicherweise auch das Kostenrisiko eines weiteren Rechtsstreits. Im Ergebnis ist damit zu rechnen, dass solche Ansprüche nur selten durchgesetzt würden, gerade bei Streuschä‑ den. Aus Sicht des Repräsentanten könnte dennoch ein Haftungsrisiko wahr‑ genommen werden, das möglicherweise sein Handeln beeinflussen wird.164 160 Vgl. zu den Minimalanforderungen der Bindungswirkung eines Vergleichs für die ab‑ sent class members Phillips Petroleum Co. v. Shutts, 472 U. S. 797, 812 (1985). Der Grund‑ satz, dass ein Urteil, das eine class action abschließt, nur dann Bindungswirkung zu Lasten der absent class members entfalten kann, wenn deren adäquate Repräsentation gewährleistet ist, geht auf Hansberry v. Lee, 311 U. S. 32, 43 (1940) zurück, vgl. auch Solovy/Marmer/Chorvat/ Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.181 [2]. 161 So etwa Epstein v. MCA, Inc., 179 F. 3d 641, 648 (9th Cir. 1999). 162 Siehe oben S. 72 f. 163 Siehe oben S. 77 f. Vgl. auch auch Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 608 Rn. 37 f.; Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 225 zur Frage einer unmittelbaren Haftung des Anwalts der qualifizierten Einrichtung ggü. den angemeldeten Verbrauchern. 164 Vgl. zur Musterfeststellungsklage Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 3.
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Die richterliche Kontrolle eines Vergleichs stellt damit lediglich ein Ele‑ ment im Gefüge eines komplexen Regulierungsmechanismus’ dar. Der Schutz der Repräsentierten wird im kollektiven Rechtsschutz durch verschiedene mit‑ einander verzahnte Elemente gewährleistet. Charakteristisch für die richterliche Genehmigung des Vergleichs ist, dass sie unmittelbar das Verfahrensergebnis in den Blick nimmt.
V. Schlussfolgerungen Wenn von einer Treuepflicht der Repräsentativkläger oder der Rechtsanwäl‑ te die Rede ist, geht es weniger darum, konkrete Pflichten zu definieren und Rechtsfolgen aus ihnen abzuleiten. Vielmehr handelt es sich meist um eine Sprachregelung, mit der betont wird, dass die Repräsentativkläger und Rechts‑ anwälte im Interesse der Gruppenmitglieder tätig werden und das jeweilige Ver‑ fahren konzeptionell auf ein Ergebnis abzielt, dass der Gruppe dient und nicht lediglich den Partikularinteressen des Repräsentativklägers. Im kollektiven Rechtsschutz erfährt die Rolle des Gerichts einige Modifikationen, allerdings ohne dass es zu grundlegenden Abweichungen von der Situation bei einem ty‑ pischen Individualverfahren käme. Die Unterschiede sind vielmehr graduell. Entscheidend ist nicht eine abstrakte Kategorisierung der Rolle des Gerichts; stattdessen müssen die konkreten Anforderungen, die es im Einzelfall erfüllen muss, definiert werden. Dazu ist es erforderlich, dass das Fehlerpotential ermit‑ telt wird, dem die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen entgegentreten soll. Dies ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
§ 5: Die Risiken der Repräsentation: Interessenkonflikte und Fehlanreize I. Der kollektive Rechtsschutz als Nährboden für Interessenkonflikte 1. Sweetheart settlements und blackmail settlements Die allgemeine öffentliche wie die akademische Wahrnehmung von Verglei‑ chen im kollektiven Rechtsschutz kreist um zwei Kernprobleme, die Hay und Rosenberg plastisch mit den Begriffen „sweetheart settlement“ und „blackmail settlement“ umschreiben.1 Das erste und für diese Arbeit zentrale Problem setzt bei den Repräsentanten der Geschädigten an. Es geht um die Gefahr, dass sie auf einen Vergleich hinarbeiten, der in erster Linie ihnen selbst nützt und nicht den Repräsentierten. In der Praxis gewinnt das Vertretungsverhältnis dabei eine weitere Komplexitätsebene hinzu, indem auf Klägerseite anstelle der Reprä‑ sentativkläger selbst vor allem Rechtsanwälte agieren.2 Insbesondere bei Ver‑ fahrensformen wie der amerikanischen class action, die diesen Anwälten eine zentrale Stellung einräumen, begründet das die Befürchtung, dass diese ihre ei‑ genen Interessen verfolgen könnten – welche nicht notwendigerweise mit denen der von ihnen repräsentierten Gruppenmitglieder übereinstimmen müssen. Bei Verbandsklageverfahren wie dem niederländischen WCAM und der deutschen Musterfeststellungsklage liegen die Schwierigkeiten dementsprechend in der Frage nach eventuellen Eigeninteressen der externen Instanz, die für die Grup‑ pe agiert. Eine verbreitete Befürchtung ist, dass diese Instanz oder die Anwälte bei der class action während der Vergleichsverhandlungen eng mit der Gegen‑ seite kooperieren.3 Für diese springe dabei ein „sweetheart settlement“ heraus – ein Vergleich, dessen für sie selbst wenig schmerzhafte Bedingungen sie mit Großzügigkeit bei der Frage der Vergütung der Anwälte oder der Repräsentan‑ 1 Hay/Rosenberg, 75 Notre Dame L. Rev. 1377 (2000). Der Begriff „sweetheart sett‑ lement“ findet sich schon bei Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 714 (1986) sowie 54 Chi. L. Rev. 877, 883 (1987) und wird weithin verwendet, um diese Art von Vergleichen zu charakterisie‑ ren, vgl. nur Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 67, 73. 2 Die Anzahl der beteiligten Kanzleien kann dabei im Rahmen einer class action eine er‑ hebliche Höhe erreichen, vgl. Coffee, 42 Md. L. Rev. 215, 223 (dort Fn. 17) (1983). 3 Vgl. Bone, Economics of Civil Procedure, S. 272 ff.
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ten erkauft.4 Es bestehe also die Gefahr, dass solches kollusives Verhalten von Anwälten oder Repräsentanten auf der einen und den Beklagten auf der ande‑ ren Seite Vergleiche hervorbringe, die auf Kosten der Repräsentierten den In‑ teressen dieser beiden Gruppen dienen.5 Auch unterhalb der Schwelle eines be‑ wussten Missbrauchs ist denkbar, dass die Interessen der Repräsentanten und Anwälte die Art und Weise, wie das Verfahren geführt wird, zulasten der Grup‑ pe beeinflussen. Insbesondere verfrühte Vergleiche können für die Gruppen‑ mitglieder nachteilig sein, wobei ein früher Vergleich jedoch auch effizient sein kann und nicht notwendigerweise unerwünscht ist.6 Im Kern des Problems steht also ein typischer principal-agent-Konflikt. Auch mögliche Interessengegensät‑ ze innerhalb der Gruppe lassen sich mit dieser Kategorie beschreiben, denn sie können sich nur dadurch verwirklichen, dass der Repräsentant die eine oder andere Untergruppe bevorzugt oder auf andere Weise unausgewogene Ergeb‑ nisse verursacht. Vorgebliche unlautere Machenschaften von Anwälten stehen auch im Fokus des zweiten Problems – anders als beim ersten jedoch solche zum Nachteil der Beklagten: Die Überlegungen zu „blackmail settlements“ setzen bei der schieren Höhe der – gegebenenfalls bloß vermeintlichen – Schäden an, die die Kläger infolge der Zusammenfassung vieler Einzelansprüche geltend machen können. Die typische Befürchtung lautet, dass das Risiko einer seine wirtschaft‑ liche Existenz vernichtenden Haftung einen Beklagten selbst dann in einen kos‑ tenträchtigen Vergleich drängen könne, wenn die erhobenen Ansprüche mate‑ riellrechtlich betrachtet überhaupt nicht existieren oder zumindest hochgradig zweifelhaft sind.7 Wie bereits festgestellt wurde,8 dient die richterliche Kontrol‑ le des Vergleichs aber gerade nicht dem Schutz der Beklagten im Zusammen‑ hang mit dieser Erpressungsproblematik. Diese berührt damit nicht den Gegen‑ stand dieser Untersuchung und wird in ihrem weiteren Verlauf nicht mehr zur Sprache kommen.
2. Anmerkung zum weiteren Vorgehen In diesem Kapitel wird versucht, das erstgenannte Problem der „sweetheart settlements“ sowie allgemein die Gefahr von Interessenkonflikten und Fehl‑ steuerungen im kollektiven Rechtsschutz, die den Gruppenmitgliedern schaden können, rechtsvergleichend zu skizzieren. Dabei sollen vor allem die jeweils 4 Über deren Höhe bestimmt zwar das Gericht; dass die andere Partei die Vorstellungen der Klägeranwälte unterstützt, kann jedoch hilfreich sein. 5 Hensler, Class Action Dilemmas, S. 79. 6 Vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 3.5.5.2 (im Erscheinen). 7 Vgl. In the Matter of Rhone-Poulenc Rorer Inc., 51 F. 3d 1293, 1298 (7th Cir. 1995); Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 77; Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action, S. 24 ff. 8 Siehe oben S. 58 ff.
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maßgeblichen Ausgangsbedingungen und Funktionselemente der untersuchten Verfahrensformen dargestellt werden. Im Hintergrund steht immer die Situati‑ on der Vergleichsverhandlungen, wenngleich berücksichtigt werden muss, dass sich die meisten Quellen nicht spezifisch mit dieser auseinandersetzen, sondern allgemein die Rollen der verschiedenen Beteiligten beschreiben. Im vorhergehenden Kapitel wurden die Schutzmechanismen zugunsten der repräsentierten Gruppenmitglieder drei Kategorien zugeordnet:9 erstens die Austrittsrechte dieser Gruppenmitglieder („exit“), zweitens ihre Mitwirkungs‑ möglichkeiten („voice“) und drittens die direkte Überwachung und Einwirkung durch das Gericht einschließlich der Rechtsschutzmöglichkeiten auf einer Se‑ kundärebene. Soweit es darum geht, die soeben beschriebenen principal-agentKonflikte in Schach zu halten, können sich „exit“-Rechte indes nur mittelbar auswirken. Wer sie ausübt, beendet im Hinblick auf sich selbst zwar einen even‑ tuellen Interessenkonflikt mit seinem Repräsentanten – allerdings um den Preis, dass er aus dem Verfahren ausscheidet und nicht mehr von dessen Ergebnis pro‑ fitieren kann. Im vorliegenden Kontext zählt eher die implizite Drohung, die in der bloßen Existenz von „exit“-Rechten liegt; äußert ein Gruppenmitglied diese ausdrücklich, ist man hingegen schon bei der Kategorie „voice“. Die Mitwir‑ kungsrechte müssen dabei im Kontext des gesamten Verfahrens gesehen wer‑ den. Die repräsentierten Gruppenmitglieder sind neben den Repräsentanten – die gegebenenfalls durch oder zusammen mit Rechtsanwälten agieren – und den Beklagten nur einer von mehreren Akteuren, die miteinander und mit dem Gericht interagieren. Das wirft die zentrale Frage nach den Handlungsmög‑ lichkeiten dieser Akteure und nach den – regelmäßig finanziellen – Anreizen auf, denen sie unterliegen. Die Dynamik des Verfahrens – die die Hintergründe eines Vergleichs prägt – hängt von der Ausgestaltung der Anreizstruktur und deren Zusammenspiel mit der direkten Kontrolle durch das Gericht ab. Hier lie‑ gen die beiden Ansatzpunkte, um principal-agent-Konflikten beizukommen.10 Die Kontrollfunktion des Gerichts kann sich dabei sowohl auf die Zulassungs‑ voraussetzungen des Verfahrens beziehen als auch unmittelbar auf dessen Er‑ gebnis. In die erste Kategorie fällt insbesondere die Auswahl der Repräsentan‑ ten, in die zweite die Genehmigung eines Vergleichs. Richterliche Einwirkungen und die Eigendynamik des Verfahrens sind eng miteinander verwoben. Das zeigt sich gerade bei der Auswahl der Akteure auf Seiten der Gruppe, also der Repräsentanten und Anwälte beziehungsweise der qualifizierten Einrichtung bei der Musterfeststellungsklage oder der Interessen‑ organisationen beim WCAM. Diese entfaltet einerseits direkten Einfluss auf die innere Dynamik des Verfahrens – bei der securities class action etwa inso‑ fern, als ein kompetenter lead plaintiff mit hohem Eigeninteresse am Ausgang 9
Siehe oben S. 87 ff. Tzankova, 8 J. L. Econ. & Pol’y 549, 554 (2012).
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des Verfahrens den class counsel tendenziell intensiver überwachen wird als jemand, der nicht über diese Eigenschaften verfügt. Andererseits verdankt der lead plaintiff seine Stellung aber auch einer richterlichen Auswahlentscheidung. Zwar befasst sich die vorliegende Untersuchung nur mit einem Teilbereich des Kontrollmechanismus’ der richterlichen Überwachung und Einwirkung. Die anderen Ansätze sind für sie aber insofern von Bedeutung, als sie die Ausgangsbedingungen für die richterliche Kontrolle des Vergleichs beein flussen. Diese steht am Ende eines Verfahrens, für dessen innere Dynamik vor allem zwei Gesichtspunkte ausschlaggebend sind: erstens die Handlungs möglichkeiten der Beteiligten in ihrem Verhältnis zueinander und zum Ge‑ richt – also insbesondere die Frage, wer wen auf welche Weise kontrollieren kann – (dazu unten II.) und zweitens ihre Handlungsanreize und Interessen (dazu unten III.).
II. Handlungsspielräume der Akteure 1. Die unterschiedlichen Zentralfiguren a) Unternehmerisch handelnde Anwälte bei der class action Die herausgehobene Rolle der Klägeranwälte ist das prägende Element der amerikanischen class action. Auf Seiten der Gruppe liegt die aktive Verfah‑ rensführung in der Regel nahezu ausschließlich in den Händen der Anwäl‑ te.11 Diese bereiten das Verfahren vor und verhandeln mit dem Beklagten über einen Vergleich.12 Typischerweise tragen sie das finanzielle Risiko und ver‑ fügen damit über ein gesteigertes Eigeninteresse am Verfahrensausgang.13 Mit der Neufassung von Rule 23 FRCP im Jahre 1966 begann auf dem Gebiet des kollektiven Rechtsschutzes der Aufstieg einer bestimmten Spielart von Anwalt, nämlich derjenigen eines Unternehmers, der in auf Schadensersatz gerichte‑ ten Verfahren gemäß Rule 23 (b) (3) FRCP den von ihm im Namen der class geführten Prozess vorfinanziert, um dafür gegebenenfalls einen erklecklichen Anteil des erstrittenen beziehungsweise – im Falle der Verfahrensbeendigung durch Vergleich – ausgehandelten Gewinns einzustreichen.14 Dies ermöglicht ihm das amerikanische Rechtsanwaltsvergütungsrecht: Einerseits erlaubt es, ein Erfolgshonorar (contingency fee) zu vereinbaren, das typischerweise zwi‑ 11 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:72; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1769.1 (dort bei Fn. 37). 12 Vgl. Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 72 f. 13 Vgl. G. Miller, 16 J. Legal Stud. 189 (1987). 14 Vgl. dazu etwa Coffee, Entrepreneurial Litigation, S. 64 ff. (am Beispiel der Kanzlei Milberg, Weiss; zu den Ereignissen im Zusammenhang mit dieser Kanzlei vgl. auch Dillon/ Cannon, Circle of Greed).
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schen 20 und 30 % der vom Beklagten gezahlten Schadensersatzsumme aus‑ macht;15 damit wird das wirtschaftliche Risiko des Rechtsstreits voll auf den Anwalt verlagert. Anderseits stellt es auch die Instrumente zur Verfügung, um im Erfolgsfall die Beteiligung des Anwalts an den Vergleichserlösen effektiv abzusichern. Die sogenannte common fund doctrine gibt ihm den Zugriff auf seinen Anteil an den Erlösen, bevor diese auf die Mitglieder der Gruppe ver‑ teilt werden.16 Ein Element richterlicher Kontrolle liegt demgegenüber darin, dass das Ge‑ richt im Rahmen der certification der class gegebenenfalls auch eine Auswahl‑ entscheidung unter mehreren Anwälten beziehungsweise Kanzleien trifft, die für die Position des class counsel infrage kommen. Zu diesem Zeitpunkt hat aber regelmäßig bereits eine informelle Auslese unter den konkurrierenden Kanzleien stattgefunden. Diese interagieren im Hinblick auf das Verfahren mit Berufskollegen und schaffen so beispielsweise Kooperationsstrukturen.17 Nicht selten entsteht ein komplexes Gefüge, das zahlreiche Kanzleien und Interes‑ sengruppen einbezieht. Ihre gesetzliche Grundlage findet die Auswahlentschei‑ dung traditionell im Erfordernis adäquater Repräsentation gemäß Rule 23 (a) (4) FRCP18 und seit der Reform von 2003 auch in der umfangreichen und detail‑ lierten Regelung von Rule 23 (g) FRCP. Die Rechtsprechung greift teilweise immer noch auf Absatz (a) (4) zurück,19 obwohl das Advisory Committee aus‑ drücklich Absatz (g) für die Frage nach der Eignung der Anwälte vorgesehen hat.20 Die Bedeutung der Streitfrage wird dadurch abgeschwächt, dass die in‑ haltlichen Anforderungen in beiden Fällen weitgehend identisch sind,21 zumal 15 Nach Eisenberg/Miller, 1 J. Empir. Legal Stud. 27, 50 (2004) entsprechen Anwalts‑ gebühren i. H. v. 20 bis 25 % der Vergleichssumme eher der Realität als der häufig genannte Wert von einem Drittel; Willging u. a., Empirical Study, S. 69 nennen einen Median von 27 bis 30 %; das Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.121 bezeichnet 25 % als Richtwert; die Altauflage von Rubenstein, Newberg on Class Actions (4th ed.), § 14:6 nennt 20 bis 33 % als typische Werte für Kapitalmarkt- und Kartellrechtssachen. Bei sehr großen Vergleichssummen („mega-fund cases“) sprechen manche Gerichte aber einen erheblich geringeren prozentualen Anteil zu, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:81; Coffee, 54 U. Chi. L. Rev. 877, 889 (1987). 16 Vgl. die Definition in Garner, Black’s Law Dictionary, Eintrag „common fund doc‑ trine“: „The principle that a litigant who creates, discovers, increases, or preserves a fund to which others also have a claim is entitled to recover litigation costs and attorney’s fees from that fund.“ Siehe zur common fund doctrine i. E. noch S. 120 ff. 17 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:53. 18 Inwiefern auch der class counsel unter den Begriff der representative parties fällt, wurde von der Rspr in der Vergangenheit unterschiedlich beurteilt. Manche Entscheidungen legten den Akzent auf die Eignung der representative plaintiffs, andere rückten dagegen den class counsel in den Vordergrund, vgl. James/Hazard/Leubsdorf, § 10.23 (S. 658) m. w. N. 19 Die Praxis der Gerichte zur Abgrenzung von (a) (4) und (g) ist uneinheitlich und weist zahlreiche Varianten auf, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:56 sowie § 3:80 m. w. N. 20 Committee Notes on Rules – 2003 Amendment, Abschnitt zu Rule 23 (g). 21 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:80; für eine Gegenüberstellung der Kriterien
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Absatz (g) den Committee Notes zufolge an die Praxis zu Absatz (a) (4) an‑ knüpfen soll.22 Dabei verpflichtet Rule 23 (g) (1) (A) FRCP die Gerichte nun‑ mehr, bestimmte Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die früher zwar von Fall zu Fall, aber nicht notwendigerweise angesprochen wurden.23 Bei der securities class action erfolgt die Auswahl des class counsel hingegen mittelbar über die Auswahl des lead plaintiff.
b) Interessenorganisationen und ihre teils undurchsichtigen Hintergründe beim WCAM Konzeptionell sind beim WCAM die stichtingen oder verenigingen, die den Vergleich mit dem mutmaßlichen Schädiger aushandeln, die zentralen Akteure. Diese Regelung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass in den Niederlanden im Zusammenhang mit der Entstehung des WCAM ein ausgeprägtes Bedürf‑ nis bestand, sich von der amerikanischen class action abzugrenzen.24 Anderer‑ seits heben die Gesetzgebungsmaterialien auch die Ähnlichkeiten mit der class action hervor.25 Mom weist darauf hin, dass der für das WCAM charakteristi‑ sche Rückgriff auf Interessenorganisationen als ein Schutzmechanismus gegen die mit der anwaltszentrierten class action assoziierten Missbrauchsrisiken ver‑ standen werden kann.26 Eine stichting gemäß Art. 2:285 Abs. 1 BW ist ebenso wie eine vereniging (met volledige rechtsbevoegdheid) gemäß Art. 2:26 BW eine juristische Person des niederländischen Rechts.27 In diesen Rechtsformen können sich verschiedene Arten von Organisationen an einem Verfahren nach dem WCAM beteiligen; einerseits etwa etablierte Einrichtungen aus dem Be‑ reich des Verbraucher- oder Anlegerschutzes wie vor allem die Vereniging van Effectenbezitters (VEB), andererseits aber auch kommerziell ausgerichtete Or‑ ganisationen, solange diese nicht darauf abzielen, eventuelle Gewinne an ihre Gründer oder Vorstandsmitglieder auszukehren.28 Für die Interessenorganisationen wird meist die Rechtsform einer stichting gewählt, da diese im Gegensatz zu einer vereniging keine Mitglieder hat, die ihre Tätigkeit beaufsichtigen könnten, was die Handlungsspielräume der Orga‑ beider Normen vgl. a. a. O. § 3:81. Vgl. auch Mullenix, 64 Emory L. J. 399, 429 f. (2014): Der Effekt der Gesetzesänderung sei vernachlässigbar. 22 Committee Notes on Rules – 2003 Amendment, Abschnitt zu Rule 23 (g). 23 Herr, Annotated Manual on Complex Litigation, Fourth, § 21, Author’s Comments, Overview of New Manual. 24 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 311. 25 Memorie van toelichting, Tweede Kamer 2003–2004, 29 414, Nr. 3, S. 5; vgl. auch Mom, Kollektiver Rechtsschutz, S. 332. 26 Mom, Kollektiver Rechtsschutz, S. 335. 27 Eingehend dazu Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 236 ff. 28 Insofern allg. zu niederländischen Verbandsklagen Tillema, Entrepreneurial Mass Liti‑ gation, Abschn. 6.4.4.2 (im Erscheinen).
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nisatoren vergrößert.29 Stichtingen können auf Dauer angelegte Organisationen sein oder auch ad hoc vor dem Hintergrund eines bestimmten Schadensfalls eingerichtet werden.30 Die letztgenannten, als claimstichtingen bekannten Kon‑ strukte werden in der Literatur oft kritisch bewertet.31 Der teilweise behauptete Wildwuchs („wildgroei aan claimstichtingen“)32 soll jedoch zumindest im Kon‑ text des WCAM nicht nachweisbar sein.33 An einem einzelnen WCAM‑Verfah‑ ren sind typischerweise mehrere Interessenorganisationen auf Seiten der Grup‑ pe beteiligt.34 Dabei handelte es sich in der Vergangenheit zwar überwiegend um ad hoc eingerichtete stichtingen; an jedem einzelnen Verfahren waren indes auch auf Dauer angelegte Einrichtungen beteiligt.35 Als problematisch werden auch sogenannte advocatenstichtingen ange‑ sehen, die von Kanzleien kontrolliert werden.36 Solche Gestaltungen werden durch die eingeschränkten internen Kontrollmechanismen bei der Rechtsform der stichting begünstigt.37 Dabei besteht die Gefahr, dass die beteiligten Kanz‑ leien bei einem Interessenkonflikt mit den Gruppenmitgliedern ihre eigenen In‑ teressen durchsetzen.38 Sowohl advocatenstichtingen als auch kommerziell ori‑ entierte stichtingen finden im Zusammenhang mit dem WCAM – im Gegensatz zur allgemeinen Verbandsklage – bislang kaum Erwähnung. Das liegt mögli‑ cherweise auch an der Diskretion der beteiligten Kanzleien.39 Es ist aber be‑ kannt, dass etwa in der Sache Converium die Vorarbeiten für den Vergleich hauptsächlich von drei amerikanischen Kanzleien geleistet wurden.40 Auch am Shell-Verfahren beteiligten sich Kanzleien, die mit einer parallelen class action in den USA verbunden waren.41 Zumindest ist aber die Frage nach den Hin‑ 29 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 168, 238; Tillema, En‑ trepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.2 (im Erscheinen). 30 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 166 f. 31 Vgl. dazu Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 166 f. 32 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 166 f. 33 So Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 169. 34 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 168; Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 291 (2014). 35 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 168, Fn. 662 für die Zeit vor dem Fall Fortis, an dem wiederum u. a. die VEB beteiligt war. 36 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 171. 37 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 238. Vgl. auch den Bericht der Europäischen Kommission über die Umsetzung der Empfehlung der Kommis‑ sion v. 11. 06. 2013 (2013/396/EU), COM(2018), 40 final, S. 11: In der niederländichen Praxis werde „völlig ungeregelt“ auf private Drittmittelfinanzierung zurückgegriffen. 38 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 171. 39 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 173. 40 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS:2012:BV1026 (Converium), Rn. 6.5.3; vgl. auch Hermans/de Bie Leuveling Tjeenk, in: ICLG Guide, S. 5, 9; Tillema, Entrepreneurial motives, S. 241. 41 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 173, der als Bsp. überdies auf eine Organisation verweist, die die Interessen von durch den VW‑Dieselskan‑
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termännern einer claimstichting nicht immer offensichtlich. Ungeachtet dessen kann man in jedem Fall davon ausgehen, dass die stichtingen oder verenigin‑ gen typischerweise mit den Anwälten als Einheit zusammenwirken; sie ver‑ bindet also ein Interessengleichlauf.42 Konkrete Missbrauchsfälle wurden bis‑ lang allerdings noch nicht nachgewiesen.43 Zudem gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass ad hoc gegründete Interessenorganisationen zwangsläufig ein höhe‑ res Missbrauchsrisiko aufweisen als auf Dauer angelegte Einrichtungen.44
c) Der Musterkläger und seine Prozessvertreter beim KapMuG Wie das WCAM ist auch das KapMuG vor dem Hintergrund einer erheblichen Skepsis gegenüber dem amerikanischen Modell konzipiert worden.45 So steht dem Musterkläger sein Prozessvertreter auf Grundlage eines gewöhnlichen Mandatsverhältnisses zur Seite. Dieser muss demgemäß lediglich Sorge tra‑ gen, dass er die Interessen seines Mandanten wahrt. Über die verselbständigte Stellung eines class counsel verfügt er nicht. Dem KapMuG ist dementspre‑ chend auch der Gedanke fremd, den Musterkläger danach auszuwählen, wel‑ cher Anwalt ihn vertritt. Es ist aber prinzipiell denkbar, dass ein Musterkläger seinen Prozessvertreter – wie in jedem anderen Mandatsverhältnis auch – nicht vollständig kontrollieren kann, etwa wenn eine leistungsfähige auf Ka‑ pitalmarktsachen spezialisierte Kanzlei46 die eigentliche treibende Kraft im Verfahren ist; zumal es möglich erscheint, dass solche Kanzleien im Einzel‑ fall neben dem Musterkläger auch mehrere Beigeladene vertreten und daher vor allem in den Vergleichsverhandlungen die Interessen mehrerer Mandanten miteinander in Einklang bringen müssen. Das KapMuG sieht hierin freilich konsequenterweise zunächst ein Problem des individuellen Mandatsverhältnis‑ ses und der Einhaltung der berufrechtlichen Vorgaben zur Vermeidung von In‑ teressenkonflikten und verlagert damit die Kontrolle auf eine andere Ebene. Wenn die richterliche Kontrolle des Vergleichs aber ein objektiv interessenge‑ dal geschädigten Anlegern vertritt, vgl. dazu https://www.volkswageninvestorsettlement.com/ governance (zuletzt aufgerufen am 10. 06. 2019). 42 Vgl. Tzankova, Tilburg Law School Research Paper No. 4/2016, S. 1 (Einrichtung nie‑ derländischer Stiftungen durch amerikanische Kanzleien nach dem Abschluss eines class ac‑ tion settlements). 43 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 170. 44 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 312. 45 Vgl. etwa den RegE zum KapMuG, BT‑Drucks. 15/5091, S. 17. Dieser distanziert sich insb. insofern von der class action, als er es ausdrücklich ablehnt, einer Entscheidung auch für solche Gruppenmitglieder Bindungswirkung zuzusprechen, die dem Gericht nicht namentlich bekannt sind. 46 Die Kläger werden im Kapitalmarktrecht überwiegend von solchen Kanzleien ver‑ treten, vgl. Gesetzesentwurf, BT‑Drucks. 15/5091, S. 25; Halfmeier/Rott/Feess, Abschluss‑ bericht, S. 58 heben das hohe fachliche Niveau spezialisierter Anlegerschutzkanzleien hervor, vgl. auch Halfmeier, in: Hensler/Hodges/Tzankova, Class Actions in Context, S. 279, 294 f.
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rechtes Ergebnis zum Ziel hat,47 muss sie auch derartige Zusammenhänge in den Blick nehmen.
d) Die „qualifizierte Einrichtung“ bei der Musterfeststellungsklage Bei der Musterfeststellungsklage tritt auf Klägerseite allein eine sogenannte qualifizierte Einrichtung auf, die gemäß § 606 Abs. 1 ZPO nicht kommerziell ausgerichtet sein darf, sondern ihrer Satzung zufolge im Verbraucherinteresse tätig werden muss. Die Anwälte, die sie für das Verfahren mandatiert, stehen mit ihr in einem gewöhnlichen Mandatsverhältnis. Besondere Regelungen zum Verhältnis zwischen der qualifizierten Einrichtung und den von ihr mandatier‑ ten Kanzleien gibt es nicht.48
e) Zusammenfassung Die untersuchten Verfahrensformen unterscheiden sich insbesondere im Hin‑ blick auf die Rolle der Anwälte grundlegend. Bei der class action haben diese von vornherein eine gegenüber den Gruppenmitgliedern stark verselbständigte Stellung. Es ist daher entscheidend, über welche Anreize sie verfügen, ihre brei‑ ten Handlungsspielräume auf eine Art und Weise zu nutzen, die womöglich zu Missbräuchen und Fehlern bei der Vertretung der class führt. Das KapMuG geht dagegen von einem gewöhnlichen Mandatsverhältnis zwischen dem Muster‑ kläger und seinem Anwalt aus. Die Frage nach dem Risiko von Interessenkon‑ flikten stellt sich daher jedenfalls konzeptionell nur im Verhältnis des Muster‑ klägers zu den Beigeladenen. Gleichwohl ist es denkbar, dass ein Musterkläger seinem Prozessvertreter weitgehend freie Hand lässt und diesem so faktisch unkontrollierte Handlungsspielräume eröffnet. Bei der Musterfeststellungskla‑ ge, bei der zwischen der qualifizierten Einrichtung und ihren Prozessvertretern ebenfalls ein gewöhnliches Mandatsverhältnis besteht, ist dies dagegen weniger wahrscheinlich. Beim WCAM ist das Verhältnis der Anwälte zu den Interessen‑ organisationen gelinde gesagt komplex. Im Ausgangspunkt sind jene zwar le‑ diglich Prozessvertreter. In der Praxis gibt es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass die beteiligten Kanzleien mit einzelnen stichtingen eng verbunden sind.
2. Auswahl und Rolle des Repräsentanten49 Die analysierten Verfahrensformen haben die Position des Repräsentanten, der das Verfahren mit Wirkung für die Gruppenmitglieder führt, unterschiedlich ausgestaltet. Die class action und das KapMuG sehen jeweils einen einen Re‑ 47 Siehe oben S. 72 ff., 79 ff. 48 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation
als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 298 f. zu anderen Formen von Verbandsklagen in Deutschland. 49 Eingehend zur Auswahl des Repräsentanten in den Verbands- und Gruppenklagen des
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präsentativkläger vor, der ein Mitglied der Gruppe ist. Das WCAM und die Musterfeststellungsklage setzen dagegen auf gruppenexterne Instanzen.
a) Die Situation bei der class action einschließlich der Besonderheiten der securities class action Der Repräsentativkläger ist in der amerikanischen Praxis weitgehend margina‑ lisiert und greift im Regelfall nicht aktiv in das Verfahren ein.50 Nicht selten – wenn auch nicht notwendigerweise – ist er ein bloßer Strohmann der Anwälte, die den Rechtsstreit initiiert haben, und wird von diesen unter den Gruppenmit‑ gliedern ausgewählt und dem Gericht präsentiert, anstatt aus eigener Initiative zu seiner Position zu kommen. Die Anwälte werden aber typischerweise nicht unbedingt gezielt einen Repräsentativkläger vorschlagen, der besonders gut ge‑ eignet ist, ihre Tätigkeit zu überwachen.51 Völlig freie Hand haben die Anwälte indessen nicht. Das Gericht beurteilt die Eignung eines Repräsentativklägers im Rahmen der certification gemäß Rule 23 (a) FRCP anhand der Prüfungspunkte der typicality und der adequacy of representation. Wenn der von ihm geltend gemachte Anspruch52 typisch für die Gruppe ist, kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Repräsentant auch deren Interessen fördert, indem er seinen eigenen Anspruch durchsetzt.53 Das zweite Kriterium der adequacy of representation ermöglicht sodann eine differenziertere Beurteilung. Es dient ebenfalls primär54 dazu, Interessenkon‑ flikte mit den Repräsentierten auszuschließen.55 Daneben soll – zumindest in der Theorie – gewährleistet werden, dass ein Repräsentant gewissen Mindestanfor‑ derungen gewachsen ist. So muss er zumindest über ein Grundverständnis des Verfahrensgegenstands und seiner Rolle als Repräsentant verfügen.56 Er darf deutschen, französischen und niederländischen Rechts Dürr-Auster, Qualifikation als Grup‑ pen- oder Verbandskläger. 50 Vgl. nur Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 72 f.; Issacharoff, 1999 Sup. Ct. Rev. 337, 354; Macey/Miller, 58 U. Chi. L. Rev. 1, 71 (1991); G. Miller, in: New Palgrave Dictionary, Eintrag „class actions“, S. 257, 258; Piché, Fairness in Class Action Sett‑ lements, S. 115; Rhode, 34 Stan. L. Rev. 1183, 1204 (1982); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:52; Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1443 (2006); vgl. auch Beuchler, Class Actions, S. 98. 51 Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1443 (2006). 52 Oder im – seltenen – Fall einer defendant class action: seine Verteidigungsrechte. 53 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:28; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1764 (dort bei Fn. 8). 54 So Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:66 („the lion’s share of the adequacy of the class representative determination is devoted to potential conflicts of interests“). 55 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.26; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:58 ff.; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, §§ 1768, 1769; jeweils m. w. N. 56 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.26; Rubenstein, Newberg on Class Ac‑ tions, § 3:67; vgl. auch Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1766 (dort bei Fn. 15).
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zudem nicht in einem zu engen – etwa verwandtschaftlichen, freundschaftlichen oder geschäftlichen – Verhältnis zum class counsel stehen.57 Auch persönliche Qualitäten wie seine Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit oder seine Glaubwür‑ digkeit im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand können im Einzelfall zu be‑ rücksichtigen sein.58 Seine finanziellen Ressourcen sind dagegen irrelevant, da in der Regel ohnehin die Anwälte das finanzielle Risiko tragen – das gilt gerade für Fälle, in denen es um Streuschäden geht.59 Trotz dieser Auswahlentscheidung kann man sich nur in begrenztem Maße darauf verlassen, dass der Repräsentativkläger ein effektives Gegengewicht zu den Anwälten darstellt – zumal den Gerichten vorgeworfen wird, die Vorausset‑ zungen nur oberflächlich zu prüfen.60 Dem class representative werden regel‑ mäßig die Ressourcen, die Kenntnisse und das Interesse fehlen, den class coun‑ sel effektiv zu kontrollieren.61 Mangels hinreichender rechtlicher Fachkenntnis wird er auch bei den regelmäßig hochkomplexen Fällen von Großschäden selten eigenständig agieren; bei Streuschäden wird ihm schon ein hinreichendes Eigen‑ interesse fehlen.62 Man kann zudem mit Recht daran zweifeln, dass er überhaupt bereit wäre, die Anwälte über die gesamte Dauer eines hochkomplexen Rechts‑ streits hinweg zu überwachen – denn dieser kann sich durchaus über Jahre hin‑ ziehen.63 Auch wenn innerhalb der Gruppe Interessenkonflikte bestehen, hat der Repräsentativkläger keine Anreize, diese zu identifizieren und auf einen Aus‑ gleich zwischen den Interessen aller Gruppenmitglieder hinzuwirken. Vielmehr steht zu befürchten, dass er sich bestenfalls vergewissern wird, dass die Anwälte eine für ihn selbst – und damit freilich auch für ähnlich gestellte Gruppenmit‑ glieder – günstige Strategie verfolgen.64 Diese Überlegungen sollten indes nicht so verstanden werden, dass der Repräsentativkläger zwangsläufig die Interessen der Gruppe vernachlässigen wird. Entscheidend ist aber, dass dies vielfach nicht ausgeschlossen werden kann. Man sollte demnach nicht zu sehr darauf setzen, dass der Repräsentativkläger zuverlässig eine Situation abfedern wird, in der die Anwälte entgegen den Interessen der Gruppenmitglieder handeln. Auf dem Gebiet kapitalmarktrechtlicher Streitigkeiten (securities class ac‑ tions) hat der amerikanische Gesetzgeber demgegenüber 1995 mit dem Private 57 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:70. 58 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:68,
der aber betont, dass derartigen Erwägungen nur selten eigenständige Bedeutung zukomme: Typischerweise werde ein Re‑ präsentant in diesem Zusammenhang nur dann abgelehnt, wenn er einschlägig (v. a. wegen Betrugs) vorbestraft sei oder in der Sache bereits widersprüchliche Aussagen getätigt habe. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1766 (dort bei Fn. 12 f.) führen noch andere Einzelfälle an. 59 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:69. 60 So Mullenix, 57 Vand. L. Rev. 1687, 1699 (2004). 61 Vgl. Third Circuit Task Force Report, 208 F.R.D. 340, 347 (2002). 62 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:52. 63 ALI, Principles of Aggregate Litigation § 1.05, Comment h. 64 Rhode, 34 Stan. L. Rev. 1183, 1203 (1982).
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Securities Litigation Reform Act (PSLRA) versucht, die Stellung des – in die‑ sem Sachzusammenhang als lead plaintiff bezeichneten65 – Repräsentativklä‑ gers zu stärken. Das Gericht soll gemäß 15 U.S.C. § 78u–4 (a) (3) (B) (i) dasje‑ nige Gruppenmitglied für diese Position auswählen, das es für das geeignetste hält. 15 U.S.C. § 78u–4 (a) (3) (B) (iii) (bb) statuiert insofern eine widerlegbare Vermutung zugunsten desjenigen Gruppenmitglieds, das über das höchste fi‑ nanzielle Interesse am Ausgang des Verfahrens verfügt.66 Es sollen damit vor allem institutionelle Investoren für die Rolle des lead plaintiffs gewonnen wer‑ den. Erwünscht sind „active, able representatives who are informed and can demonstrate they are directing the litigation“.67 Dahinter steht die Erwartung, dass sie die Anwälte kontrollieren und zudem dafür sorgen werden, dass auch die langfristigen Interessen des beklagten Unternehmens berücksichtigt wer‑ den.68 Die Neuregelung soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass letztlich der lead plaintiff – mit Genehmigung des Gerichts – den Klägeranwalt aus‑ wählt und nicht andersherum, wie es sonst für die class action typisch ist.69 Ihren Hintergrund findet sie in der früheren Praxis, einfach den ersten Anwalt, der eine Klage einreichte, zum lead counsel zu ernennen. Deren Folge war ein „race to the courthouse“,70 das regelmäßig solche Anwälte für sich entschieden, die feste (Geschäfts-)Beziehungen zu wiederholt agierenden Klägern aufgebaut hatten.71 Meist handelte es sich dabei um sogenannte „professional plaintiffs“, die jeweils geringe Anteile an einer Vielzahl von Unternehmen hielten, nur um den Kanzleien auf Abruf in einem möglichst breiten Spektrum an Fällen als Repräsentativkläger zur Verfügung zu stehen.72 Die Gesetzgebungsmaterialien gehen davon aus, dass hierdurch missbräuchliche Klagen ermöglicht wurden, 65
Vgl. 15 U.S.C. § 78u–4 (a) (3). Gesetz gibt dabei keine bestimmte Methode vor, nach der man bestimmen könn‑ te, für wen das meiste auf dem Spiel steht, sondern überlässt diese Entscheidung den Gerich‑ ten, vgl. Herr, Annotated Manual for Complex Litigation, Fourth, § 31, Author’s Comments, mit umfangreichen Nachw. zur Rspr. Allgemein fehlen umfassende Vorgaben, vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 31.31. Als lead plaintiff kommt allerdings nur in Frage, wer entweder selbst den Rechtsstreit angestrengt hat oder nach der vorgeschriebenen Benach‑ richtigung über diesen beantragt hat, als lead plaintiff eingesetzt zu werden, vgl. 15 U.S.C. § 78u–4 (a) (3) (B) (iii) (aa). Daneben muss er auch die üblichen Voraussetzungen gem. Rule 23 FRCP erfüllen, vgl. 15 U.S.C. § 78u–4 (a) (3) (B) (iii) (cc). 67 Berger v. Compaq Computer Corp., 257 F. 3d 475, 483 (5th Cir. 2001). 68 Vgl. House Conference Rep. No. 104–98 (1995), S. 11. 69 Vgl. House Conference Rep. No. 104–369 (1995), S. 35; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1806 (dort bei Fn. 68). 70 Cox/Thomas, 106 Col. L. Rev. 1587, 1598 (2006); House Conference Rep. No. 104–369 (1995), S. 33. 71 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 10:13. 72 Vgl. House Conference Rep. No. 104–369 (1995), S. 32 f.; Bone, Economics of Civil Procedure, S. 273. Hinzu kommt die Problematik, dass diese professional plaintiffs teilweise durch Zahlungen seitens der Kanzleien motiviert wurden oder auch durch Gewinnbeteiligun‑ gen, die weit über den Anteil eine normalen Gruppenmitglieds hinausgingen, vgl. House Con‑ ference Rep. No. 104–369 (1995), S. 33. 66 Das
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die den Anwälten dazu dienten, finanzkräftigen Unternehmen lukrative Verglei‑ che abzupressen.73 Der PSLRA war also nicht durch das Bestreben motiviert, die Qualität der Repräsentation im Interesse der Gruppenmitglieder zu steigern, sondern vielmehr dadurch, zum Schutz der Beklagten einem bestimmten Ge‑ schäftsmodell der Klägeranwälte Einhalt zu gebieten.74 Bone diagnostiziert der Vorschrift lediglich einen durchwachsenen Erfolg: Die Richter würden im Inte‑ resse des Zustandekommens von Vergleichen Umgehungsversuche tolerieren.75 Zudem ist nur schwer zu beurteilen, wie sich die neue Rechtslage auf den Inhalt der Vergleiche auswirkt.76
b) Der Musterkläger beim KapMuG In Anlehnung an die amerikanische securities class action sieht auch das Kap‑ MuG vor, dass das Gericht bestimmt, wer die Position des Musterklägers ein‑ nehmen soll, um so ein „race to the courtroom“ zu verhindern.77 Insbesondere § 9 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG orientiert sich ausdrücklich am PSLRA und begründet „die widerlegbare Vermutung, dass die Person mit dem größten Anteilsbesitz an einer Gesellschaft der geeignetste Musterkläger ist“.78 Es ist aber auch möglich, einen Kläger mit einer geringeren Forderung auszuwählen, insbesondere wenn sich die anderen Kläger auf ihn einigen (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG). Mit der Re‑ form des KapMuG wurde 2012 der Kreis der möglichen Musterkläger im Üb‑ rigen auf alle Kläger erweitert, deren Individualverfahren ausgesetzt wurden, um so zu verhindern, dass das Gericht in Einzelfällen keine wirkliche Wahl hat, wer die Position einnehmen soll.79 Das übergreifende und letztlich ent‑ scheidende Kriterium normiert § 9 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG in Anlehnung an den Gedanken der adequacy of representation, der sich durch das Recht der class action zieht:80 Der Musterkläger müsse die Gewähr bieten, „das Musterver‑ fahren unter Berücksichtigung der Interessen der Beigeladenen angemessen zu führen“. Die Folgen dieser Regelung sind nicht ganz eindeutig: Den Aussagen von Klägeranwälten zufolge, auf die sich die Studie von Halfmeier, Rott und 73 74
Vgl. House Conference Rep. No. 104–369 (1995), S. 33. Vgl. House Conference Rep. No. 104–369 (1995), S. 31 f. 75 Bone, Economics of Civil Procedure, S. 294, Fn. 105. 76 Cox/Thomas/Kiku, 106 Col. L. Rev. 1587, 1636 (2006) stellen aufgrund einer empiri‑ schen Untersuchung fest, dass die Gruppe eine höhere Vergleichssumme erhält, wenn der lead plaintiff eine Institution und kein Individuum ist; allerdings ist dieser statistische Effekt mini‑ mal. 77 Vgl. RegE KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/05, S. 55; BT‑Drucks. 15/1591, S. 25. 78 RegE KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/05, S. 56; BT‑Drucks. 15/1591, S. 25 (dort und im KapMuG 2005 war es noch als erstes Kriterium angeführt). 79 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 21. 80 So Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 53. § 9 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG wurde erst mit der Reform 2012 eingefügt; der Passus, dass eine angemessene Interessenvertretung gewährleistet werden müsse, findet sich aber schon im ursprünglichen Diskussionsentwurf zum KapMuG 2005, vgl. Bergmeister, KapMuG, S. 211.
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
Feess beruft, habe das KapMuG zwar die Bereitschaft institutioneller Investo‑ ren gesteigert, sich an kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzprozessen zu be‑ teiligen. Aus Gründen der Diskretion vermieden diese es aber als Musterkläger aufzutreten und nähmen regelmäßig nur als Beigeladene teil.81 Grundsätzlich stehen dem Musterkläger gegenüber seinem Prozessvertre‑ ter die üblichen Möglichkeiten eines Mandanten offen, im Rahmen eines ge‑ wöhnlichen Mandatsverhältnisses Anweisungen zu geben und Informationen zu verlangen. In welchem Maße sich der Musterkläger persönlich an eventuel‑ len Vergleichsverhandlungen beteiligen, beziehungsweise inwiefern er detail‑ lierte Kenntnis von deren Inhalten erlangen und Einfluss auf seinen Prozessver‑ treter nehmen kann, hängt vom Einzelfall ab. Es ist zumindest denkbar, dass ein Anwalt in diesem Zusammenhang über einen weiten Spielraum verfügt, eigen‑ ständige Entscheidungen zu treffen, und keiner effektiven Kontrolle durch den Musterkläger unterliegt.
c) Interessenorganisationen beim WCAM Das WCAM zeichnet sich dadurch aus, dass eine stichting oder eine vereni‑ ging – oder regelmäßig auch mehrere solcher Organisationen82 – als Reprä‑ sentanten der Gruppe fungieren. Diese sind demnach anders als bei der class action und dem KapMuG nicht selbst Mitglieder der Gruppe. Wenn man davon ausgeht, dass die Anwälte keine anderen Interessen verfolgen als die jeweiligen Interessenorganisationen, die sich von ihnen vertreten lassen, läuft der von der class action bekannte Ansatz, die Repräsentanten der Gruppe mit der Über‑ wachung der Anwälte zu betrauen, ins Leere. Es besteht nicht die Gefahr von Interessenkonflikten der Anwälte, die durch einen Repräsentanten ausgeglichen werden könnte, dessen Interessen quasi natürlich mit denen der Gruppe gleich‑ laufen. Stattdessen gibt es beim WCAM nur einen einheitlichen Repräsentan‑ ten, der im Einzelfall möglicherweise nicht im Interesse der Gruppe handeln wird. Das bedeutet freilich nicht, dass dieser Repräsentant zwangsläufig un‑ zuverlässiger wäre als derjenige bei der class action oder dem KapMuG; seine Auswahl kann nur nicht mit einem natürlichen Interessengleichlauf begründet werden, sondern muss an andere qualifizierende Momente anknüpfen. Das niederländische Recht stellt bislang nur geringe Anforderungen an In‑ teressenorganisationen, die einen Vergleich nach dem WCAM aushandeln wol‑ len. Grundsätzlich kommt jede stichting oder vereniging in Betracht. Ein ver‑ fahrensübergreifendes Zulassungsverfahren – etwa durch Eintragung in ein Register wie in Deutschland gemäß § 4 UKlaG, § 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG, § 33 Abs. 4 Nr. 2 GWB oder § 606 Abs. 1 Nr. 2 ZPO – existiert nicht. Die Eignung 81 Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 58. 82 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder
Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 291 (2014).
Verbandskläger, S. 168; Krans, 27
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einer Interessenorganisation wird lediglich für den Einzelfall im Zuge der Ge‑ nehmigung eines konkreten Vergleichs überprüft.83 Das WCAM verlangt dabei gemäß Art. 7:907 Abs. 3 lit. f BW lediglich, dass diese repräsentativ für die In‑ teressen der Gruppenmitglieder ist.84 Der gerechtshof hat bei diesem Erforder‑ nis in bisherigen Verfahren abhängig davon, ob es um etablierte oder ad hoc ge‑ bildete Interessenorganisation ging, unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt.85 Er hat aufgrund des Repräsentativitätserfordernisses aber noch keinen Antrag‑ steller als ungeeignet abgelehnt.86 Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob das Repräsentativitätserfordernis in seiner heutigen Form zuverlässig sicherstellen kann, dass eine stichting die In‑ teressen der Gruppenmitglieder wahrt. Gerade mit Blick auf die Rolle von kom‑ merziell ausgerichteten Akteuren, wie etwa bestimmten Rechtsanwaltskanzlei‑ en und möglicherweise auch Prozessfinanzierern, sind Zweifel angebracht. Es besteht daher ein nicht unerhebliches Potential, dass Interessenkonflikte ent‑ stehen, die sich im Rahmen des Vergleichsschlusses zulasten der Gruppenmit‑ glieder auswirken können.87
d) Die „qualifizierte Einrichtung“ bei der Musterfeststellungsklage Der Mechanismus der Repräsentation bei der Musterfeststellungsklage ähnelt dem Modell des WCAM. Auch hier wird ein Verband, dessen eigene Rechte nicht von den Feststellungszielen berührt werden, im Interesse der Gruppe der Anmelder tätig. Interessenorganisationen sind jedoch deutlich intensiver regu‑ liert als im niederländischen Recht. Sie sind nur unter den restriktiven Voraus‑ setzungen des § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO als qualifizierte Einrichtung klagebefugt. Diese Regelung soll den Zugang zur Musterfeststellungsklage auf Verbände be‑ schränken, die ohne Gewinnerzielungsinteresse handeln und nach ihrer Satzung aufklärend oder beratend im Interesse der Verbraucher tätig sind.88 Sie setzt dabei auf allgemeine Anforderungen an die Verbände, ohne – wie das Reprä‑ sentativitätserfordernis beim WCAM – die besonderen Umstände des einzelnen Verfahrens zu berücksichtigen.89 Die Verbraucherzentralen und ähnliche über‑ wiegend aus öffentlichen Mitteln finanzierte Verbraucherverbände bevorzugt das Gesetz dabei besonders (§ 606 Abs. 1 S. 4 ZPO). Auch wenn es theoretisch 83 84
Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 346. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 341. 85 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 346 m. w. N. 86 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 170 für die Ver‑ fahren bis einschließlich DSB‑Bank. Auch nach dem Fall Fortis hat sich daran nichts geändert. 87 Kritisch auch Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 304: Der „Sinn und Zweck institutioneller Repräsentanten an sich“ stehe in Frage, wenn diese von der Anwaltschaft kontrolliert werden. 88 Vgl. RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2438, S. 23. 89 Vgl. Balke/Liebscher/Steinbrück, ZIP 2018, 1321, 1327.
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möglich wäre, dass eine Kanzlei oder ein Prozessfinanzierer faktisch hinter einer qualifizierten Einrichtung steht, fehlt angesichts des Ausschlusses der Ge‑ winnerzielung ein Anreiz zu einer derartigen Gestaltung, zumal es wegen des Erfordernisses einer seit vier Jahren bestehenden Eintragung (§ 606 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ZPO) nicht möglich ist eine solche Einrichtung ad hoc für einen einzelnen Fall zu bilden. Problematisch ist jedoch, dass das Gericht keine Auswahl zwi‑ schen verschiedenen Klägern treffen kann, sondern das Prioritätsprinzip gilt. Es besteht die Gefahr eines „race to the courthouse“, das nicht zwangsläufig der am besten geeignete Verband für sich entscheiden wird.90 Die Musterfeststel‑ lungsklage wurde mit dem klaren Ziel konzeptioniert, kommerziell motivierte Akteure auszuschließen. Um einen Interessengleichlauf zwischen den Verbrau‑ chern und der qualifizierten Einrichtung zu gewährleisten, setzt sie vor allem auf deren Satzungszweck.
e) Zusammenfassung Die class action kann das Risiko, dass die Anwälte im Einzelfall entgegen den Interessen der Gruppe handeln, nicht dadurch neutralisieren, dass die Repräsen‑ tanten sie überwachen. Man kann ihre Handlungsspielräume im Einzelfall auf diese Weise nicht auf Null reduzieren. Zwar verfügt der lead plaintiff bei der securities class action zumindest konzeptionell über eine vergleichsweise starke Stellung, die es ihm grundsätzlich erlaubt Einfluss auf die Anwälte zu nehmen. Eine richterliche Überprüfung des Verfahrensergebnisses hat aber auch hier aus mindestens zwei Gründen ihre Berechtigung als zusätzlicher Kontrollmecha‑ nismus: Zum einen ist nicht in jedem Fall sichergestellt, dass der Repräsenta‑ tivkläger tatsächlich in der Lage ist, die Interessen der Gruppe effektiv zu ver‑ treten; dass man seine Befähigung für den Regelfall unterstellen kann, spricht nicht gegen diese Annahme, zielt die abschließende richterliche Kontrolle des Vergleichs doch gerade auf die pathologischen Ausnahmefälle ab. Zum ande‑ ren verbleibt immer ein Restrisiko, dass auch ein sorgfältig ausgewählter Re‑ präsentant Eigeninteressen verfolgt, die denjenigen der Gruppe oder eines Teils von ihr zuwiderlaufen. Diese Gefahr besteht auch im Rahmen des KapMuG und der Musterfeststellungsklage, unabhängig davon, ob man dort unterstellen kann, dass der Repräsentant seinen Prozessvertreter effektiv kontrollieren kann. Die Musterfeststellungsklage und das WCAM unterscheiden sich von der class action und dem KapMuG dadurch, dass sie jeweils externe Instanzen als Re‑ präsentanten vorsehen. Mit Blick auf die Anforderungen an Interessenorganisa‑ tionen bestehen bislang aber erhebliche Unterschiede zwischen dem deutschen 90 Vgl. dazu die Stellungnahmen mehrerer Sachverständiger in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 19/15, S. 16 f., 20. Kritisch zu einer Auswahlbefugnis des Gerichts Schmidt-Kessel, Stellungnahme zum RegE Musterfeststel‑ lungsklage, S. 10.
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und dem niederländischen Recht.91 Bei der Musterfeststellungsklage bestehen insofern sehr restriktive Anforderungen. Beim WCAM kommt dagegen ange‑ sichts der schwachen regulatorischen Vorgaben als weiteres Risiko insbesonde‑ re die oftmals enge Verbindung der Interessenorganisationen mit Kanzleien und potentiell auch anderen kommerziell ausgerichteten Akteuren hinzu.
3. Die Stellung der repräsentierten Gruppenmitglieder a) Passivität der Gruppenmitglieder bei der class action Die lediglich repräsentierten absent plaintiffs werden sich entsprechend der Konzeption der class action als reines Repräsentativverfahren mit noch größe‑ rer Wahrscheinlichkeit völlig passiv verhalten als die Repräsentativkläger.92 Sie haben von allen Verfahrensbeteiligten den geringsten Einfluss auf den Gang des Verfahrens und das Ob und Wie eines Vergleichs. Zwar können ihre Interessen in Verfahren mit großer Öffentlichkeitswirkung vermittelt über die öffentliche Meinung eine gewisse Hebelwirkung entfalten.93 Ein Beispiel ist der Fall In re Holocaust Victim Assets Litigation,94 in dem die Politik und Interessenorganisa‑ tionen erheblichen Druck ausgeübt hatten, was das Zustandekommen eines Ver‑ gleichs beförderte.95 Typischerweise sieht die Situation hingegen anders aus. Oftmals werden die einfachen Gruppenmitglieder das sie betreffende Verfahren kaum wahrnehmen, zumal wenn es um kleine Forderungen geht und sie sich gar nicht bewusst sind, einen Schaden erlitten zu haben.96 Eine Benachrichti‑ gung über ein laufendes Verfahren oder das Zustandekommen eines Vergleichs wird häufig nicht mit Verständnis erfasst werden.97 Auch von ihrer Möglichkeit, 91 Vgl. auch Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 300 f. bzgl. anderer Verbandsklagen des deutschen Rechts. 92 Vgl. Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 677 f. (1986); G. Miller, in: New Palgrave Dictiona‑ ry, Eintrag „class actions“, S. 257, 258; Senate, Rep. No. 109–14 (Report v. 28. 02. 2005 zum CAFA 2005), S. 4. Der U. S. Supreme Court bringt dies in Phillips Petroleum Co. v. Shutts, 472 U. S. 797, 808 (1985) auf den Punkt, wenngleich aus einer die Situation idealisierenden Per‑ spektive: „[…] an absent class-action plaintiff is not required to do anything. He may sit back and allow the litigation to run its course, content in knowing that there are safeguards provided for his protection.“ Ob er tatsächlich auf diese Sicherungen vertrauen kann, ist jedoch gerade eine der zentralen Fragen der class action, mit der sich auch die vorliegende Untersuchung be‑ schäftigt. 93 Andererseits können aber auch die class counsel etwa auf die Presse zurückgreifen, um ihren Fall öffentlichkeitswirksam zu fördern, vgl. Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 4.02[2]. 94 In re Holocaust Victim Assets Litigation, 105 F. Supp. 2d 139 (E. D. N. Y. 2000). 95 Weiss, A Litigator’s Postscript, S. 105; vgl. auch Eizenstat, Unfinished Business, S. 297; Ratner, 20 Berkeley J. Int’l L. 212, 213 (2002). 96 Bone, Economics of Civil Procedure, S. 272; Macey/Miller, 58 U. Chi. L. Rev. 1, 20 (1991). 97 Vgl. Senate Rep. No. 109–14 (Report v. 28. 02. 2005 zum CAFA 2005), S. 4.
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Einwände (objections) vorzubringen, machen die repräsentierten Gruppenmit‑ glieder in der Praxis nur selten Gebrauch.98 Was im vorigen Abschnitt mit Blick auf die Repräsentativkläger festgestellt wurde, trifft erst recht auf die einfachen Gruppenmitglieder zu: Ihnen mangelt es an der Fähigkeit, die Anwälte zu über‑ wachen, zumal wenn ihnen die Höhe ihrer Ansprüche keinen rationalen Anreiz bietet, sich intensiv mit dem Verfahren auseinanderzusetzen und auch finanziell in dessen Kontrolle zu investieren.99 Bei einer Verfahrensbeendigung durch einen Vergleich kommt erschwerend hinzu, dass sie regelmäßig nicht an den Vergleichsverhandlungen beteiligt sein werden. Davon abgesehen besteht eine Trittbrettfahrerproblematik: Selbst wenn der potentielle Nutzen für die class insgesamt erheblich wäre, hat ein einzelnes Gruppenmitglied wenig Anreize, die – nicht zuletzt auch finanziellen – Investitionen zu tätigen, die erforderlich sind, um die Anwälte effektiv zu überwachen. Diese zusätzlichen Kosten und der zeitliche Aufwand ständen üblicherweise in keinem sinnvollen Verhältnis zu seinem Anteil am Ergebnis des Verfahrens.100 Unter umgekehrten Vorzeichen ist auch der Umstand problematisch, dass institutionelle Investoren, für die es typischerweise um große Summen geht, vermehrt aus securities class actions herausoptieren und sich stattdessen indi‑ viduell mit dem Beklagten einigen. Damit werden der Gruppe gerade diejeni‑ gen Mitglieder entzogen, die befähigt sind, die Anwälte zu kontrollieren. In der Praxis sind die unmittelbaren Auswirkungen auf einen Vergleich aber wohl be‑ grenzt, denn sie machen in diesen Fällen typischerweise erst von ihrer zwei‑ ten opt out-Option Gebrauch; sie scheiden also aus, nachdem bereits ein Ver‑ gleich geschlossen wurde.101 Mittelbare Auswirkungen zulasten der Gruppe sind indes denkbar.102 Im Übrigen scheint die klassische Sicht der absent class members als völlig passive Verfahrensbeteiligte zumindest mit Blick auf einzel‑ ne Fälle vermehrt in Frage gestellt zu werden. So argumentieren Cabraser und Issacharoff, dass der Fortschritt im Bereich der Informationstechnologie und die inzwischen enorme Bedeutung von MDL‑Verfahren den einfachen Grup‑ penmitgliedern neue Einflussmöglichkeiten eröffnen würden.103
98 99
Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1566 (2004). Siehe dazu i. E. unten S. 304 f. Bone, in: Procedural Law and Economics, S. 72 f.; Coffee, 54 U. Chi. L. Rev. 877, 884 (1987); Macey/Miller, 58 U. Chi. L. Rev. 1, 19 (1991); vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 9:1. Vgl. auch Mars Steel Corp. v. Continental Illinois Nat. Bank and Trust Co. of Chicago, 834 F. 2d 677, 681 (7th Cir. 1987) („unnamed class members have individually too little at stake to spend time monitoring the lawyer“). 100 Macey/Miller, 58 U. Chi. L. Rev. 1, 20 (1991). 101 Vgl. Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 315 (2010). 102 Siehe dazu noch unten S. 147 ff. 103 Cabraser/Issacharoff, 92 N. Y. U. L. Rev. 846, 849 ff. (2017).
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b) Geringe Einbindung der Gruppenmitglieder beim WCAM In einem Verfahren nach dem WCAM beschränken sich die Beteiligungsrechte der einzelnen Betroffenen auf die Möglichkeit, Einwendungen vorzubringen, nachdem dem Gericht ein Vergleich vorgelegt wurde. Sie haben kein Recht und wohl auch faktisch keine Möglichkeit, zuvor direkt auf die Vergleichsverhand‑ lungen einzuwirken. Infolge der sehr liberalen Anforderungen an ihre Benach‑ richtigung besteht zumindest die Gefahr, dass sie nicht hinreichend über das Verfahren und seine Inhalte informiert sein werden. Eine effektive Kontrolle der Interessenorganisationen durch die Geschädigten ist daher im Einzelfall möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet.
c) Ausgeprägte Mitwirkungsrechte mit geringer praktischer Bedeutung beim KapMuG Der deutsche Gesetzgeber hat sich beim KapMuG für einen Ansatz entschie‑ den, der die einzelnen Beigeladenen in einem für den kollektiven Rechtsschutz ungewöhnlich intensiven Maße in das Verfahren einbindet. Ein wesentlicher Unterschied zu class action und WCAM liegt zunächst darin, dass die Beige‑ ladenen jeweils individuell Klage erhoben haben müssen, um in das Musterver‑ fahren einbezogen werden zu können. Infolgedessen ist sichergestellt, dass sie sich ihrer möglichen Ansprüche bewusst sind und sich dafür entschieden haben, diese gerichtlich geltend zu machen – auch wenn ihnen dabei nicht zwangsläu‑ fig klar gewesen sein muss, dass ihre Klage in ein Musterverfahren integriert würde. Die Beigeladenen sind mithin in einer besseren Position als die absent class members oder die Geschädigten im Rahmen des WCAM, wenn es darum geht, einen Vergleich einzuschätzen.104 Zudem können sie exakt identifiziert werden. Sie haben auch von vornherein die Möglichkeit, gemäß § 14 KapMuG aktiv in das Verfahren einzugreifen; ihre Stellung ähnelt derjenigen eines Ne‑ benintervenienten. Die breiten Beteiligungsrechte der Beigeladenen tragen frei‑ lich zu dem Risiko bei, das Musterverfahren schwer handhabbar zu machen.105 Im Hinblick auf Großverfahren wie den Telekom-Prozess wird indessen berich‑ tet, dass sich die Beigeladenen überwiegend passiv verhalten.106 Diese Sicht‑ weise hat sich auch der Regierungsentwurf zur Reform des KapMuG von 2012 zu eigen gemacht.107 Weiterhin ist nicht damit zu rechnen, dass die breite Masse der Beigeladenen sinnvoll an den Vergleichsverhandlungen beteiligt werden kann. § 14 KapMuG bietet in dieser Hinsicht keine Handhabe, da er auf ein Auftreten vor Gericht bezogen ist. Insofern bleibt ihnen also lediglich die Aus‑ trittsoption. 104 105
Stadler, [2013] EBLR 731, 746. Bergmeister, KapMuG, S. 253. 106 Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 56. 107 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 28.
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In Kapitalmarktsachen werden die Anleger regelmäßig durch wenige große Kanzleien vertreten.108 Wenn der Anwalt des Musterklägers infolgedessen zu‑ gleich für eine Vielzahl von Geschädigten tätig wird, relativiert dies deren ei‑ genständige Stellung als Beigeladene. Etwaige Interessenkonflikte zwischen dem Musterkläger und einzelnen Beigeladenen werden dann regelmäßig nicht mehr im Musterverfahren ausgefochten, sondern auf die Ebene des jeweiligen internen Mandatsverhältnisses verlagert und müssen auf Grundlage der entspre‑ chenden berufsrechtlichen Regelungen durch die Annahmepraxis der einzel‑ nen Anwälte oder Kanzleien vermieden werden. Soweit die Beigeladenen aber faktisch nicht in der Lage sind, ihrem Anwalt Vorgaben zu machen, fehlt es an Kontrollmöglichkeiten, wenn man von eventuellen Haftungsansprüchen im Nachgang absieht. Schlimmstenfalls können sich Defizite in der Vertretung zu‑ mindest einzelner Beigeladener in dieser Situation etwa in einem Vergleich ma‑ nifestieren, der den Rechtsstreit beendet.
d) Keine Beteiligungsrechte für Anmelder bei der Musterfeststellungsklage Die Verbraucher, die ihre Ansprüche im Rahmen einer Musterfeststellungskla‑ ge anmelden, verfügen über keinerlei formale Mitwirkungs- oder Informati‑ onsrechte, wenn man von der eher nebensächlichen Regelung des § 609 Abs. 4 ZPO absieht, die einem Verbraucher einen Auskunftsanspruch über die zu ihm im Klageregister erfassten Daten gibt. Gemäß § 610 Abs. 6 ZPO können Ver‑ braucher auch nicht im Wege einer Nebenintervention Einfluss auf das Verfah‑ ren nehmen.
e) Zusammenfassung Die repräsentierten Gruppenmitglieder tragen in aller Regel nicht effektiv dazu bei, die Handlungsspielräume der Repräsentanten und Anwälte zu überwachen. Typischerweise verhalten sie sich völlig passiv – selbst wenn sie wie beim Kap‑ MuG über umfassende Beteiligungsrechte verfügen. Am Rande sei angemerkt, dass die opt in-/opt out-Dichotomie insofern ohne Bedeutung ist: Es kommt nicht darauf an, auf welcher Grundlage die Gruppenmitglieder in das Verfahren einbezogen werden, sondern darauf, welche Handlungsmöglichkeiten in die‑ sem Verfahren haben. Allenfalls wird man überlegen können, ob ihre Motiva‑ tion, aktiv in das Verfahren einzugreifen, möglicherweise höher ist, wenn sie sich notwendigerweise durch einen willentlichen Akt für eine Beteiligung ent‑ schieden haben.
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Gesetzesentwurf KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/05, S. 56; BT‑Drucks. 15/5091, S. 25.
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4. Zusammenfassung Die Anwälte und Repräsentanten verfügen demnach in allen analysierten Ver‑ fahrensformen über Handlungsspielräume, von denen sie zumindest potentiell in einer Weise Gebrauch machen können, die nicht im Einklang mit den Inte‑ ressen der Gruppenmitglieder steht. Das gilt in besonderem Maße im Rahmen der Vergleichsverhandlungen, wo Beteiligungsrechte, die auf den gerichtlichen Entscheidungsprozess bezogen sind, ins Leere laufen. Schon die bloße Mög‑ lichkeit von nicht interessengerechten Ergebnissen gibt aber der richterlichen Überprüfung des Vergleichs – als einem zusätzlichen Kontrollmechanismus auf der Ebene des Verfahrensergebnisses – ihre Berechtigung. Im Folgenden soll versucht werden näher zu umreißen, welche Risiken sich im Rahmen der Hand‑ lungsspielräume der Anwälte und Repräsentanten verwirklichen können. Dazu sollen zunächst die Anreize in den Blick genommen werden, denen diese un‑ terliegen.
III. Anreize und Interessen der Repräsentanten und Prozessvertreter 1. Vorbemerkung Die innere Dynamik eines Verfahrens hängt im kollektiven Rechtsschutz – wie auch überall sonst – von den konkreten Handlungen der Akteure ab, die es aktiv gestalten. Die soeben skizzierten Handlungsspielräume der Anwälte – bezie‑ hungsweise auch der Interessenorganisationen beim WCAM, des Musterklä‑ gers beim KapMuG sowie der qualifizierten Einrichtung bei der Musterfest‑ stellungsklage – stellen im Kontext des Gegenstands dieser Untersuchung erst dann ein Problem dar, wenn sie in einen Vergleich münden, der die Gruppen‑ mitglieder unangemessen benachteiligt. Bei der amerikanischen class action gibt es je nach dem ideologischen Aus‑ gangspunkt der Autoren gegensätzliche Auffassungen darüber, wie die Rolle der Klägeranwälte in der Rechtspraxis zu bewerten ist. Linda S. Mullenix skiz‑ ziert sie plastisch, wenn auch überspitzt: Die Befürworter der class action sähen die Klägeranwälte als edle Ritter, die schutzlosen Opfern gieriger Konzerne zu ihrem Recht verhälfen. Dabei seien sie durch idealistische Vorstellungen moti‑ viert und sicherten als private attorneys general dem Recht dort Geltung, wo seine staatliche Durchsetzung versage.109 Die Stimmen, die der class action ablehnend gegenüberständen, klängen dagegen ganz anders: Die Anwälte wür‑ den auf zweifelhafter Grundlage Rechtsstreite fabrizieren und seien – wie ein 109 Mullenix, 64 Emory L. J. 399, 410 f. (2014). Vgl. auch Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 371 f. (2000).
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Kopfgeldjäger110 – in erster Linie an ihrer Vergütung interessiert. Sie nutzen die Gruppenmitglieder lediglich für ihre eigenen Zwecke aus.111 Freilich werden diese Karikaturen der Sachlage nicht wirklich gerecht und erheben auch keinen Anspruch darauf. Die Klägeranwälte sind weder ohne Fehl und Tadel noch kann man ihnen durch die Bank ethische Defizite bescheinigen. Dasselbe gilt für die Interessenorganisationen beim WCAM und der Musterfeststellungsklage sowie für den Musterkläger und seinen Prozessvertreter beim KapMuG, wobei das Ri‑ siko von Interessenkonflikten in diesen Verfahrensformen tendenziell geringer ausfallen wird als bei der class action. Die vorliegende Untersuchung kann es nicht leisten, umfassend die rechts‑ tatsächlichen Gegebenheiten, die den Hintergrund für den Abschluss von Ver‑ gleichen im kollektiven Rechtsschutz bilden, zu ermitteln und zu beschreiben. Wenn man bedenkt, dass Dritte kaum Einblick in die komplexen Verhandlungs‑ prozesse haben, die für Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz charakteristisch sind, sind ohnedies Zweifel angebracht, ob dies praktisch überhaupt möglich wäre. Sie begnügt sich daher bewusst damit, die allgemeinen Mechanismen zu skizzieren, die bislang in der Literatur beschrieben werden. Ihre Fragestellung ist, welchen Anreizen die Beteiligten in einer verallgemeinernden Perspektive unterliegen und aus welchen Ansatzpunkten sich im Einzelfall eine ungünstige Dynamik entwickeln könnte. Da sich die überwiegende Mehrzahl der Quel‑ len mit der class action auseinandersetzt, wird diese im Mittelpunkt der Aus‑ führungen stehen. Auf dieser Grundlage wird versucht werden, skizzenhaft die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den anderen analysierten Verfahrens‑ formen herauszuarbeiten. Dabei wird vieles im Vagen bleiben müssen, ins‑ besondere weil Quellen fehlen, die die geschäftlichen Überlegungen der Akteu‑ re im Rahmen des WCAM und des KapMuG offenlegen.
2. Interessenkonflikte infolge eines wirtschaftlichen Eigeninteresses a) Ausgangsbedingungen Am anfälligsten für Interessenkonflikte ist von den hier untersuchten Verfah‑ rensformen die amerikanische class action. Im Mittelpunkt steht dabei das Ver‑ hältnis der Anwälte zu der Gruppe, deren Interessen sie vertreten. Die starke und kaum durch die absent plaintiffs oder den representative plaintiff kontrol‑ lierbare Stellung der Anwälte gewinnt vor allem deswegen an Brisanz, weil deren finanzielles Eigeninteresse an Inhalt und Zeitpunkt des Vergleichs beson‑ ders stark ausgeprägt ist. Der für die Anwälte wirtschaftlich beste Vergleich ist 110 Zum Bild des Klägeranwalts als „bounty hunter“ vgl. etwa Coffee, 42 Md. L. Rev. 215 (1983); ders., 86 Col. L. Rev. 669, 679 (1986); Redish, Wholesale Justice, S. 14 (auf den Mul‑ lenix verweist). 111 Mullenix, 64 Emory L. J. 399, 416 f. (2014).
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aber nicht immer auch die ideale Lösung für die Gruppenmitglieder. Da der In‑ teressengleichlauf von Gruppe (= principal) und Anwalt (= agent) nicht schon konzeptionell gewährleistet ist, können Interessenkonflikte im Sinne eines principal-agent-Konflikts zutage treten.112 Der Angelpunkt ist dabei das Pro‑ zesskostenrecht. Es schafft Risiken für die Gruppe, die das amerikanische Sys‑ tem indes zunächst einmal in Kauf nimmt, da mit ihnen auf der anderen Seite erwünschte Effekte einhergehen: Die American Rule der Kostenverteilung und die allgemeine Zulässigkeit von Erfolgshonoraren erlauben es unterneh‑ merisch ausgerichteten Anwälten den class representative, in dessen Namen sie eine Klage erheben, vom Prozessrisiko freizustellen. Sie können im Wege einer class action sogar sogenannte negative value claims wirtschaftlich ein‑ klagen,113 also eigentlich werthaltige Ansprüche, deren individuelle Geltend‑ machung sich nicht lohnt, da die Kosten ihrer Durchsetzung in diesem Fall ihren jeweiligen Wert übersteigen.114 Die erfolgsabhängige Vergütung des An‑ walts stellt zudem eine geeignete Stellschraube dar, um diesen dazu zu moti‑ vieren, die class möglichst gut zu vertreten.115 Wenn sich eine durch Eigeninte‑ ressen befeuerte gesteigerte Investitions- und Einsatzbereitschaft der Anwälte in höheren Vergleichs- und Schadensersatzsummen niederschlägt, profitieren grundsätzlich zunächst einmal auch die Geschädigten. Das Problem hierbei ist jedoch, dass auch Ausgestaltungen von Vergleichen denkbar sind, die den An‑ wälten Vorteile verschaffen, ohne der class – zumindest im gleichen Maße – zu nutzen. Mögliche Risiken eines derart auf die Anwälte ausgerichteten Systems müssen daher anerkanntermaßen wieder ausgeglichen oder wenigstens vermin‑ dert werden.116 Das gilt nicht nur für den Fall, dass die Klägeranwälte sich auf Kosten der class zu bereichern versuchen. Auch von den Anwälten nicht beabsichtigte negative Auswirkungen ihrer Handlungen müssen berücksichtigt werden. Beim WCAM, dem KapMuG und der Musterfeststellungsklage ist die Ge‑ fahr von Interessenkonflikten allem Anschein nach geringer, aber dennoch vor‑ handen. Auch in diesen Verfahrensformen verfügen die Repräsentanten und die Anwälte über Spielräume, die sie – gewollt oder ungewollt – zulasten der Gruppe oder von Teilen von ihr ausfüllen können.117 Insbesondere beim Kap‑ MuG ist jedoch die Vergütung des Anwalts des Musterklägers in einer Weise reguliert, die das Potential für eine durch unternehmerisches Handeln befeuer‑ te Dynamik zielgerichtet begrenzt. Selbst wenn daher im Regelfall keine Inte‑ 112
Wright/Kane, Law of Federal Courts, § 72 (S. 511) m. w. N. Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 292 (2010). Der Ausdruck „negative value suit“ wurde offenbar vom Fifth Circuit eingeführt, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 4:87 (dort Fn. 3) m. w. N. 115 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 306 (2010). 116 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 306 (2010). 117 Siehe oben S. 96 ff. 113 114
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ressenkonflikte zu befürchten sein sollten, muss das Gericht aber die pathologi‑ schen Sonderfälle im Auge behalten. Im Folgenden wird unter b) zunächst erörtert, ob eine Vergütung für die Repräsentanten und ihre Anwälte oder auch der Ersatz ihrer Aufwendungen zwangsläufig den Betrag der Ersatzleistungen verringert, den die Gruppenmit‑ glieder aufgrund eines konkreten Vergleichs erhalten. Unter c) wird sodann die Frage aufgeworfen, ob die verschiedenen Verfahren Fehlanreize setzen, indem sie möglicherweise den Gewinn für Anwälte und gegebenenfalls auch die Re‑ präsentanten unter Bedingungen maximieren, die mit einer suboptimalen Lö‑ sung für die Gruppenmitglieder einhergehen. Unter d) wird schließlich themati‑ siert, ob sich das Bestreben von wiederholt in entsprechenden Verfahren tätigen Anwälten und Repräsentanten (repeat players) ihre eigenen Risiken zu mini‑ mieren, gegebenenfalls zulasten der Gruppenmitglieder auswirken kann.
b) Konkurrenzverhältnis hinsichtlich der Vergleichssumme? Für die class action wurde die These aufgestellt, dass zwischen den Anwälten und den Mitgliedern der Gruppe schon deswegen ein struktureller Interessen‑ konflikt bestehe, weil sie in Gestalt der Anwaltsvergütung und der Auszahlun‑ gen an die Gruppe im Sinne eines Nullsummenspiels um ihre Anteile an einem feststehenden Wert konkurrierten, den die andere Vergleichspartei maximal zu leisten bereit ist.118 Der gerechtshof Amsterdam führt die gleiche Überlegung für das WCAM mit Blick auf das Verhältnis zwischen den Interessenorgani‑ sationen und den von diesen repräsentierten Geschädigten an.119 Folgt man dem, haben die Gruppenmitglieder ein Interesse daran, dass das Honorar für ihre Anwälte beziehungsweise die Zahlungen an die Interessenorganisationen möglichst gering ausfallen. Ein Anwendungsfall für die gerichtliche Kontrolle des Vergleichs wird dieser Interessenkonflikt vor allem dann, wenn die Anwäl‑ te beziehungsweise die Interessenorganisationen im Zusammenhang mit einem Vergleich Einfluss auf die Höhe ihrer Vergütung haben. Eine ähnliche Proble‑ matik ist denkbar, wenn bei der class action einem representative plaintiff im Vergleich zusätzliche Ansprüche gewährt werden, etwa als Belohnung für seine Tätigkeit (incentive payments) oder um konkrete Aufwendungen zu ersetzen. Im Folgenden wird unter aa) zunächst anhand von zwei Fallgruppen skizziert, welche Möglichkeiten der Kostenverteilung die untersuchten Verfahrensformen vorsehen, einschließlich der Situation in Deutschland. Sodann wird unter bb) und cc) aufgezeigt, welche Relevanz der beschriebene Interessenkonflikt in die‑ sem Kontext besitzt. 118 Vgl. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803.1; Erichson, 92 Notre Dame L. Rev. 859, 900 (2016); Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 197 f. (2009). 119 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.18.
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aa) Die Ansätze zur Kostenverteilung Im Ausgangspunkt steht die Frage, wer für die Vergütung der Anwälte der Gruppe aufkommen muss, wenn der Rechtsstreit durch einen Vergleich abge‑ schlossen wird. Die erste Möglichkeit ist, dass die Seite, auf der die Gruppe steht, zumindest einen Teil des Honorars und der Auslagen ihrer Anwälte selbst begleichen muss; der häufigste Fall wird dabei derjenige sein, dass beide Seiten jeweils ihre eigenen Kosten tragen. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Gegen‑ seite die gesamten Kosten der Seite der Gruppe übernimmt, diese also von allen Verbindlichkeiten gegenüber ihren Anwälten freistellt.
(1) American Rule oder fee shifting bei der class action Die amerikanische class action gemäß Rule 23 FRCP kennt grundsätzlich beide Möglichkeiten zur Verteilung der Kostenlast: Im Regelfall trägt jede Seite nach der American Rule unabhängig vom Ausgang des Verfahrens ihre eigenen Kos‑ ten. In einer zweiten Kategorie von Fällen findet hingegen das sogenannte fee shifting Anwendung, bei dem der Beklagte im Falle seines Unterliegens eben‑ falls die Kosten seines Gegners übernehmen muss – regelmäßig gilt das aber nicht entsprechend in der umgekehrten Situation.120 Soweit der Kläger obsiegt, ist diese Lösung dem europäischen Ansatz zur Kostenverteilung nach strei‑ tiger Entscheidung vergleichbar. Der Zweck des fee shifting ist eng mit der Rechtsfigur des private attorney general verknüpft: Es soll Prozesse über sehr geringe Summen beziehungsweise über nicht in Geld bezifferbare Ansprüche ermöglichen, die sonst finanziell nicht tragfähig wären.121 In den USA stellt das fee shifting eine begrenzte Ausnahme zur ansonsten geltenden American Rule dar.122 Es wird meist sachgebietsbezogen in einzelnen Gesetzen angeord‑ net123 – man spricht daher in solchen Fällen auch von statutory fee cases.124 Es gibt jedoch unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob das fee shifting 120 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:32: Das fee shifting findet angesichts
seines doppelten Zwecks, die Durchsetzung bestimmter Gesetze zu befördern und ggf. eine zusätzliche Sanktion zulasten von Beklagten darzustellen, die gegen diese Gesetze verstoßen haben, nur ausnahmsweise auch zulasten der Klägerseite Anwendung. 121 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:25. 122 Vgl. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 2675. 123 Eine der bedeutendsten Regelungen dürfte insofern der Civil Rights Attorney’s Fee Awards Act von 1976, 42 U.S.C. § 1988 sein, der bei Bürgerrechtsverletzungen Anwendung findet. Weitere Anwendungsfälle finden sich etwa im Bereich des Kartellrechts, vgl. 15 U.S.C. § 15 (a); insgesamt soll es ca. 150–200 verschiedene bundesgesetzliche und zudem zahllo‑ se einzelstaatliche Regelungen geben, vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.11; § 15:25. Ansonsten kann das fee shifting auch eine richterliche Sanktionsmaßnahme gegen‑ über einer Prozesspartei darstellen, vgl. Chambers v. NASCO, Inc., 501 U. S. 32, 45 f. (1991), oder auf einer vertraglichen Vereinbarung beruhen; vgl. zum Ganzen Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:25. 124 Vgl. etwa Pacold, 68 U. Chi. L. Rev. 1007, 1022 (2001).
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auch dann Anwendung finden kann, wenn der Rechtsstreit durch einen Ver‑ gleich beendet wurde. Einige Entscheidungen des Supreme Court bejahen dies, sofern der Vergleich in die Form eines consent decrees gefasst wurde125 – und genau das ist bei einem richterlich genehmigten Vergleich im Rahmen einer class action der Fall. Das Restatement (Third) of Restitution and Unjust Enrich‑ ment hält es dagegen für unzulässig, im Falle eines Vergleichs auf die Regelun‑ gen zurückzugreifen, die das fee shifting anordnen. Unabhängig davon, ob es sich um einen Fall des fee shiftings handele oder ob die Parteien ihre Kosten selbst tragen, solle in dieser Situation vielmehr immer die common fund doctri‑ ne126 Anwendung finden; die Anwaltskosten der Gruppe seien demnach vorweg der Vergleichssumme zu entnehmen.127
(2) Kostentragung durch die Antragssteller beim WCAM Über diejenigen Kosten, die den Antragstellern im Rahmen eines Verfahrens nach dem WCAM selbst entstanden sind,128 entscheidet nach der allgemeinen Regelung zur verzoekschriftprocedure in Art. 289 Rv das Gericht. Die Antrag‑ steller haben dabei sowohl die Gerichts- als auch die Rechtsanwaltskosten zu tragen; den repräsentierten Betroffenen können dagegen keine Kosten auferlegt werden.129 Das Gesetz trifft jedoch keine Regelung, wie die Kosten zwischen den Antragstellern, also zwischen den Interessenorganisationen und der Gegen‑ seite verteilt werden. Dementsprechend besteht in dieser Hinsicht eine gewisse Variationsbreite, die auch vertragliche Regelungen umfasst, nach denen sich die Gegenseite überproportional an den Verfahrenskosten beteiligt oder diese 125 In diesem Zusammenhang sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen soll auch, wer von einem Vergleich profitiert, die „prevailing party“ im Sinne von 42 U.S.C. § 1988 darstel‑ len, vgl. Maher v. Gagne, 448 U. S. 122, 129 (1980); kritisch hierzu Scalia in seinem concur‑ ring vote in Buckhannon Bd. & Care Home, Inc. v. W. Vir. Dept. of Health & Human Res., 532 U. S. 598, 618 (2001). Der Begriff der „prevailing party“ kommt in den meisten einschlägi‑ gen Regelungen vor, vgl. Hardt v. Reliance Standard Life Ins. Co., 560 U. S. 242, 253 (2010) m. w. N. Am Rande sei angemerkt, dass dieses Kriterium angesichts eines Vergleichs auch im Interesse des Beklagtenschutzes ausgelegt werden kann: Bei sog. nuisance settlements soll es u. U. nicht erfüllt sein, so dass die Beklagten nicht für die Anwaltskosten der Kläger haften, so Texas State Teachers Ass’n v. Garland Independent School Dist., 489 U. S. 782, 792 (1989). Zum anderen soll ein consent decree auch das Erfordernis eines „court-ordered change in the legal relationship between the plaintiff and the defendant“ erfüllen, vgl. Buckhannon Bd. & Care Home, Inc. v. W. Vir. Dept. of Health & Human Res., 532 U. S. 598, 604 (2001). Siehe zum Ganzen auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:31. 126 Siehe dazu i. E. unten S. 120 f. 127 Restatement (Third) of Restitution and Unjust Enrichment § 29, Comment c. 128 Im Gegensatz zu den Kosten, die dem Gericht im Rahmen des Verfahrens entstanden sind; welcher Antragsteller diese Kosten tragen muss, steht gemäß Art. 1016 Abs. 2 Rv im Er‑ messen des Gerichts, vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 374. Zu den Kosten der Verhandlungsphase und der späteren Durchführung des Vergleichsvertrags vgl. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 375. 129 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 375.
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mitunter vollständig übernimmt.130 In seiner Entscheidung in der Sache Con‑ verium hat der Amsterdamer gerechtshof sogar akzeptiert, dass den amerika‑ nischen Kanzleien, die dieses Verfahren federführend begleitet hatten, ein er‑ heblicher Teil der Vergleichssumme zugesprochen wurde.131 Zudem sind etwa im Fall Shell in Nebenvereinbarungen direkte Zahlungen an amerikanische An‑ wälte festgelegt worden.132 Rechtspolitisch scheint die Entwicklung aber in die Richtung strengerer Regulierung zu gehen.133
(3) Individuelle Kostenentscheidungen in den Ausgangsverfahren beim KapMuG Gemäß §§ 23 Abs. 3 S. 1 KapMuG entscheidet auch im Falle eines Vergleichs nicht das OLG über die Kosten des Musterverfahrens, sondern die Prozess‑ gerichte treffen in den Ausgangsverfahren, die durch den Vergleich beendet werden, jeweils gesonderte Kostenentscheidungen. Diese richten sich entspre‑ chend den zu § 91a ZPO entwickelten Grundsätzen nach dem billigen Ermessen des Gerichts. Es soll vor allem darauf ankommen, in welchem Maße der Ver‑ gleichsinhalt das jeweilige Klagebegehren erfüllt.134 Da die Ausgangsgerichte gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG eine im Vergleich enthaltene Vereinbarung über die Kostenverteilung berücksichtigen müssen, ist aber gewährleistet, dass für die verschiedenen Ausgangsverfahren eine im Wesentlichen einheitliche Kostenregelung gilt.135 Es ist daher sowohl möglich, dass die Kosten des Mus‑ terverfahrens und des Vergleichs quotal geteilt werden, als auch, dass die Kos‑ ten gegeneinander aufgehoben werden. Letzteres ordnet § 98 ZPO im Übrigen für den Zweifelsfall an.136 Wenn sich der Musterbeklagte im Vergleich ver‑ pflichtet hat, die Anwaltskosten des Musterklägers zu übernehmen, werden die Ausgangsgerichte ihre Kostenentscheidung an dieser Zusage orientieren.
(4) Kostenentscheidung bei der Musterfeststellungsklage Bei der Musterfeststellungsklage gelten hinsichtlich der Gerichtskosten im Ausgangspunkt die allgemeinen Regelungen der ZPO und des GKG.137 Die Kostenentscheidung im Musterverfahren erfolgt unabhängig von eventuellen 130 Vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 131 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS:2012:BV
1026 (Converium), Rn. 6.5.7. 132 Vgl. zu den Hintergründen Hensler, in: Hensler/Hodges/Tzankova, Class Actions in Context, S. 170 ff. 133 So Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.6 (im Erscheinen). 134 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 23 Rn. 16. 135 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 41. 136 Zur Anwendbarkeit von § 98 S. 2 ZPO im Kontext eines Vergleichs im Rahmen des KapMuG vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 23 Rn. 16. 137 Vgl. Weinland, Musterfeststellungsklage, Rn. 208.
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Rechtsstreiten der Anmelder. Ebenso wie beim KapMuG sollen die Parteien gemäß § 611 Abs. 2 Nr. 4 ZPO im Rahmen des Vergleichs Regelungen zur Kos‑ tenverteilung treffen.
bb) Ursachen potentieller Interessenkonflikte Wenn auf der Seite der Gruppe Kosten anfallen, also insbesondere dann, wenn jede Seite ihre eigenen Kosten trägt, sehen sich die class action und das Kap‑ MuG gleichermaßen mit der Frage konfrontiert, ob sie die Kosten der anwalt‑ lichen Vertretung der Gruppe auf deren einzelne Mitglieder umlegen können.138 Dasselbe gilt auch für das WCAM und die Musterfeststellungsklage. Zu einem Interessenkonflikt kann es indessen auch dann kommen, wenn die Gegensei‑ te die Kosten, die den Repräsentanten der Gruppe entstanden sind, voll über‑ nimmt, da sie üblicherweise mit einer Gesamtsumme kalkulieren wird, die die Verfahrenskosten ebenso umfasst wie die Auszahlungen an die Gruppe.139
(1) Common fund doctrine und richterliche Entscheidungshoheit über die Anwaltsvergütung bei der class action Bei der class action wäre es kontraproduktiv den Repräsentativkläger für die Anwaltskosten der gesamten Gruppe haften zu lassen – und zwar auch dann, wenn er den Betrag lediglich vorstrecken müsste. Angesichts des enormen fi‑ nanziellen Aufwands würde sich im Regelfall kaum jemand finden, der diese Rolle freiwillig übernähme, zumal ein Regress bei den anderen Gruppenmit‑ gliedern angesichts der typischerweise sehr großen und anonymen Gruppen praktisch aussichtslos erschiene – gerade wenn es um geringe Einzelforderun‑ gen geht.140 Die class action bedient sich daher der sogenannten common fund doctrine, um die Anwaltsvergütung und andere Kosten auf die gesamte Gruppe umzulegen.141 Die common fund doctrine beruht auf dem Rechtsgedanken der ungerechtfertigten Bereicherung: Wer von dem Ergebnis eines Rechtsstreits un‑ mittelbar profitiert, soll auch an dessen Kosten beteiligt werden.142 Die Han‑ 138 Vgl.
Reuschle, in: KK‑KapMuG § 17 Rn. 41.
139 Vgl. Macey/Miller, 1 J. Legal. Anal. 167, 201 (2009). 140 Ähnlich Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action,
S. 205; vgl. auch Wright/Mil‑ ler/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803; Coffee, 54 U. Chi. L. Rev. 877, 897 ff. (1987). 141 Die common fund doctrine kommt überwiegend im Zusammenhang mit der class ac‑ tion zur Anwendung, auch wenn sie grundsätzlich nicht auf diese beschränkt ist, vgl. Restate‑ ment (Third) of Restitution and Unjust Enrichment § 29, Comment c; Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.11; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:53 m. w. N.; implizit auch Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803. 142 Vgl. Boeing Co. v. Van Gemert, 444 U. S. 472, 478 (1980); Manual for Complex Liti‑ gation, Fourth, § 14.121. Die common fund doctrine ist seit den 1880er Jahren anerkannt, vgl. Internal Imp. Fund Trustees v. Greenough, 105 U. S. 527 (1882); Central Railroad & Banking Co. v. Pettus, 113 U. S. 116 (1885); siehe auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:53;
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delnden – im Fall der class action die Anwälte – sollen demnach auf die geld‑ werten Vorteile, die sie einer Gruppe bescheren, zurückgreifen können, um sich wegen ihrer Vergütungsansprüche und Auslagen schadlos zu halten. Ein com‑ mon fund liegt vor allem dann vor, wenn die Ersatzleistungen für die einzel‑ nen Gruppenmitglieder aus einer zu diesem Zweck zur Verfügung stehenden begrenzten Summe beglichen werden müssen (lump sum common fund). Das erfasst insbesondere den Fall, dass sich die Parteien in einem Vergleich darauf geeinigt haben, dass die Gruppe der Geschädigten in ihrer Gesamtheit einen be‑ stimmten Betrag erhält, der in einem zweiten Schritt auf die einzelnen Betrof‑ fenen aufgeteilt werden soll.143 Die Anwaltsgebühren können einem solchen common fund dann entnommen werden, wenn dieser der Zuständigkeit des Ge‑ richts unterliegt.144 Da die Ersatzleistungen für die Geschädigten und die Vergütung ihrer An‑ wälte demnach derselben – begrenzten – Geldsumme entnommen werden, kann man mit Recht behaupten, dass das Honorar der Anwälte auf Kosten der Ge‑ schädigten geht.145 Beide konkurrieren miteinander um einen Anteil an den Mit‑ teln des common funds.146 Macey und Miller schreiben, dass es sich „beinahe“ um ein Nullsummenspiel handele.147 Die Einschränkung rührt möglicherweise daher, dass die Anwälte bei einem gleichbleibenden Anteil am common fund auch profitieren, wenn sie ein besseres Ergebnis für die class members aushan‑ deln. Als eine alternative Gestaltung kann zwar im Zusammenhang mit einem Vergleich ein separater Fonds eingerichtet werden, der spezifisch der Vergütung der Anwälte dient.148 Wenn man davon ausgeht, dass ein Beklagter insgesamt nur eine begrenzte Zahlungsbereitschaft hat, ändert dies aber wenig.149 Problempotential gewinnt die common fund doctrine, wenn die Anwälte die Höhe ihrer Vergütung beeinflussen können. Diese wird bei einer zertifizierten class zwar auch im Falle eines Vergleichs gemäß Rule 23 (h) FRCP durch das mit der Sache befasste Gericht festgelegt. Zuvor müssen diese Anwälte aber Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 2675, jeweils m. w. N. zur historischen Entwicklung. Zur Frage, inwieweit die common fund doctrine mit der American Rule vereinbar ist, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:25 (dort Fn. 3) m. w. N. 143 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:56. Ein common fund kann auch vorlie‑ gen, wenn der Beklagte individuelle Leistungen direkt an die einzelnen Geschädigten erbringt, etwa wenn eine Lohnerhöhung geschuldet ist. Dass ggf. nicht in Anspruch genommene Teile einer zur Verfügung gestellten Summe an den Beklagten zurückfallen sollen (reversionary fund), ändert ebenfalls nichts daran, dass ein common fund vorliegt; es betrifft lediglich die Frage nach dessen Umfang. 144 Vgl. Boeing Co. v. Van Gemert, 444 U. S. 472, 478 (1980) („jurisdiction over the fund“); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:57. 145 Vgl. Anderson/Trask, Class Action Playbook § 8.05[2][c]. 146 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.231. 147 Macey/Miller, 1 J. Legal. Anal. 167, 197 (2009) („nearly a zero-sum game“). 148 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.11. 149 Erichson, 92 Notre Dame L. Rev. 859, 900 (2016).
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einen entsprechenden Antrag stellen,150 in dem sie ihre diesbezüglichen Vor‑ stellungen zum Ausdruck bringen und gegebenenfalls mit Belegen untermau‑ ern.151 Das Gericht entscheidet sodann, ob es diesen Vorschlag übernimmt oder von ihm abweicht. Dem Antrag auf Festlegung der Anwaltsgebühren wird zu‑ meist eine Einigung mit der Gegenseite zugrunde liegen; die Höhe der Anwalts‑ vergütung wird also regelmäßig – vorbehaltlich ihrer richterlichen Genehmi‑ gung – im Vergleich oder einer Nebenabrede festgelegt. Solche Vereinbarungen müssen dem Gericht gegenüber offengelegt werden.152 In welchem Maße sich die Gerichte an den Vorschlägen der Anwälte orientieren, ist unbekannt. Empiri‑ sche Belege für ein signifikantes Problem mit überhöhten Anwaltsvergütungen sollen indessen fehlen.153 Zudem kann das Gericht schon im Vorfeld der certi‑ fication die von den Bewerbern um die Position des class counsel veranschlag‑ ten Gebühren in seine Auswahlentscheidung einbeziehen.154 Auch hierzu gibt es aber keine belastbaren Daten. Von der weitergehenden Möglichkeit, die Pa‑ rameter für die Berechnung der Gebühren schon ex ante festzusetzen, machen die Gerichte in der Praxis jedenfalls nur selten Gebrauch.155 Die materiellen Maßstäbe dafür, in welcher Höhe ein Anwaltshonorar an‑ gemessen ist, geben die FRCP nicht vor, wenn man von der allgemeinen Aus‑ sage in Rule 23 (h) FRCP absieht, dass das Gericht „reasonable attorney’s fees“ zusprechen kann. Hierzu hat sich eine komplexe Rechtsprechung herausgebil‑ det.156 Der Gedanke einer gesetzlich vorgegebenen Gebührenordnung ist dem amerikanischen Recht hingegen vollkommen fremd. Mit der Entscheidungs‑ kompetenz über die Höhe der Anwaltsvergütung wird dem Gericht gerade im Anwendungsbereich der common fund doctrine eine wichtige Kontrollfunktion zugewiesen. Es handelt sich um die dritte zentrale richterliche Entscheidung bei einem class action settlement nach der certification der class und der Ge‑ 150 Vgl. Rule 23 (h) (1) FRCP, aus dem sich ergibt, dass auch der class counsel antrags‑ berechtigt ist. 151 Rule 23 (h) (1) FRCP i. V. m. Rule 54 (d) (2) (B) (iii) FRCP; zur Erforderlichkeit von Belegen vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.223; diese werden vor allem bei An‑ wendung der lodestar-Methode nötig sein; allerdings verlangen viele Gerichte auch in percen‑ tage fee-Fällen, dass die Anwälte ihren Arbeitsaufwand und ihre Stundensätze darlegen, um zur Kontrolle einen sogenannten lodestar cross-check vornehmen zu können, vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.724. 152 Rule 54 (d) (2) (B) (iv) FRCP. 153 So Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803.1 („virtual absence of empirical data showing any significant incidence of excessive fees“). 154 Rule 23 (g) (1) (C) FRCP, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 3:86. 155 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:7. 156 Auf diese verweisen auch die Committee Notes on Rules – 2003 Amendment. Sie stellen im Übrigen klar, dass Rule 23 (h) FRCP keine eigenständige Grundlage für die Erstat‑ tung von Anwaltsgebühren und sonstigen Kosten darstellt, sondern entsprechende gesetzliche oder vertragliche Regelungen voraussetzt. Vgl. zum Ganzen auch Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803.1.
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nehmigung des Vergleichs.157 Auf weitere Einzelheiten einzugehen, verbietet sich indes angesichts der thematischen Eingrenzung dieser Untersuchung, die die Problematik der richterlichen Genehmigung der Anwaltsvergütung bewusst ausklammert. Auch wenn die Gegenseite sämtliche Kosten trägt, kann im Hinblick auf die Anwaltsvergütung ein direkter Interessenkonflikt entstehen, da sie üblicherwei‑ se mit einer Gesamtsumme kalkulieren wird, die die Verfahrenskosten ebenso umfasst wie die Auszahlungen an die Gruppe.158 Bei der class action betrifft dies vor allem die Anwendungsfälle des fee shiftings. Allerdings bestimmt der Richter auch hier die Höhe der Anwaltsvergütung, so dass ein wirkungsvoller Kontrollmechanismus vorliegt.159
(2) Umlegung von Kosten auf die Geschädigten beim WCAM? In den Gesetzgebungsmaterialien zum WCAM heißt es, dass die Kosten, die im Zusammenhang mit der Genehmigung des Vergleichs angefallen sind, nicht auf die repräsentierten Geschädigten umgelegt werden dürfen; das gelte sowohl für die Rechtsanwaltskosten als auch für die sonstigen Prozesskosten. Eine Verein‑ barung, nach der diese Kosten aus dem Gesamtbetrag beglichen würden, der infolge des Vergleichs für die Geschädigten bereitgestellt wird, scheide daher aus. Dieser restriktive Ansatz soll die Missbrauchsrisiken vermindern.160 Dem‑ nach wäre eine direkte Konkurrenzsituation zwischen der Interessenorganisati‑ on und den von ihr repräsentierten Geschädigten hinsichtlich des Betrags, der für die Entschädigungszahlungen zur Verfügung gestellt wurde, ausgeschlos‑ sen. In der Praxis scheint diese Vorstellung des Gesetzgebers allerdings nicht immer beachtet zu werden. Das gilt jedenfalls für die Converium-Entschei‑ dung, die akzeptiert hat, dass im Zuge der Übereinkunft auch finanzielle Mittel für die beteiligten Anwälte reserviert wurden. Damit hat der gerechtshof letzt‑ lich eine der amerikanischen common fund doctrine ähnelnde Gestaltung ge‑ billigt.161 Zudem hat die Gegenseite, wie Tillema darlegt, den Interessenorgani‑ sationen in fast allen der bisherigen Verfahren ihre Kosten ganz oder zumindest bis zu einem bestimmten Betrag erstattet.162 Anders als im Converium-Verfah‑ ren wurde dies nur nicht in den Vergleich aufgenommen, sondern in separa‑ ten Vereinbarungen geregelt, was damals noch zur Folge hatte, dass die Zah‑ 157 Siehe oben S. 25. 158 Vgl. Macey/Miller,
1 J. Legal. Anal. 167, 201 (2009).
159 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:38. 160 Nota naar aaleiding van het verslag, Tweede Kamer,
2003–2004, 29 414, Nr. 7 S. 2; vgl. auch Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 375. 161 So Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 7.3.4 (im Erscheinen). 162 Vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2, Übersicht IX (im Er‑ scheinen).
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lungen vom gerechtshof nicht kontrolliert wurden.163 Inzwischen überprüft er aber auch solche separaten Vereinbarungen. Dabei wird oftmals – die schon mit Blick auf die class action dargestellte – Überlegung gelten, dass die Gegenseite mit einer einheitlichen Summe kalkulieren wird und daher Konfliktpotential be‑ steht.164 Allerdings ist dies nicht zwingend. So hat der gerechtshof in der zwei‑ ten Fortis-Entscheidung angenommen, dass die aus dem Vergleich zur Zahlung verpflichtete Partei (Fortis/Ageas) bereit gewesen wäre den Geschädigten höhe‑ re Ersatzleistungen zukommen zu lassen, wenn dies geboten gewesen wäre. Es ginge daher nicht zu deren Lasten, dass die Kosten der Interessenorganisationen übernommen wurden.165
(3) Nur eingeschränktes Potential für Interessenkonflikte beim KapMuG Das KapMuG legt die Kosten des Musterverfahrens im Falle seiner Beendigung durch einen Vergleich in einer Weise auf die Beteiligten um, die das Problem einer Konkurrenzsituation zwischen Anwälten und Beigeladenen hinsichtlich der Leistungsbereitschaft des Musterbeklagten ausschaltet, indem es die Kos‑ tenfrage auf die Ebene der individuellen Ausgangsverfahren verlagert. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 1 KapMuG ist die Kostenentscheidung jeweils ein Teil des Be‑ schlusses, mit dem ein Ausgangsrechtsstreit beendet wird. Das KapMuG ver‑ folgt hier konsequent den Gedanken des verfahrensrechtlichen Primats der Aus‑ gangsrechtsstreite: Obwohl der Vergleich eine umfassende Regelung trifft, die die Ausgangsverfahren ebenso wie das Musterverfahren betrifft, behält das Musterverfahren auf der kostenrechtlichen Ebene seinen Charakter als un‑ selbständiger Zwischenschritt.166 Im Hinblick auf die Anwaltsvergütung ist es gemäß § 16 Nr. 13 RVG in den Ausgangsverfahren enthalten. Die Folge ist, dass jeder Beigeladene ebenso wie der Musterkläger jeweils seinen eigenen Anwalt bezahlen muss. § 17 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG gibt dabei wohlgemerkt nur die Kos‑ tenquote vor; die konkrete Höhe der Vergütung der Anwälte richtet sich nach den allgemeinen Regelungen des RVG. Sie ist damit kein Folgeproblem eines Repräsentationsverhältnisses im kollektiven Rechtsschutz. Auch dann, wenn die Führung des Musterverfahrens und die Vergleichsver‑ handlungen ganz in ihren Händen lagen, können der Musterkläger oder sein Prozessvertreter von den Beigeladenen regelmäßig keine Kostenerstattung ver‑ langen. Die Frage, ob der Musterkläger mit Blick auf die Vergütung seines Pro‑ 163 Vgl. Tzankova/Hensler, in: Hodges/Stadler, Resolving Mass Disputes, S. 91, 101. vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.18 ff. 164 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.18 ff. 165 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.42. 166 Vgl. § 16 Abs. 2 KapMuG; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 23 Rn. 16.
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zessvertreters individuelle Aufwendungsersatzansprüche gegen die Beigelade‑ nen hat, etwa aus Geschäftsführung ohne Auftrag, wird in den meisten Fällen offen bleiben können. Für den Musterkläger entstehen infolge seiner Stellung zumindest dann, wenn sein Prozessvertreter nach RVG abrechnet, bereits keine zusätzlichen Anwaltsgebühren – und ob man die Zahlung einer Vergütung auf Stundenbasis für erforderlich halten könnte, ist eine Frage für sich. Zudem lei‑ tet er seine Kompetenz den Vergleich auszuhandeln daraus ab, dass er vom Gericht ernannt wurde; jedenfalls nach der wohl herrschenden Meinung sind weder der Musterkläger noch sein Anwalt zielgerichtet im Interesse der Bei‑ geladenen tätig.167 Davon abgesehen müssten Einzelansprüche gegen die Bei‑ geladenen individuell durchgesetzt werden, was zumindest dann, wenn diese zahlreich sind, kaum praktikabel erscheint. In einem Vergleich oder im Zu‑ sammenhang mit diesem kann nicht vereinbart werden, dass dem Anwalt des Musterklägers – im Ergebnis analog zur amerikanischen common fund doct‑ rine – eine Vergütung aus der Vergleichssumme gezahlt wird. Falls der Mus‑ terkläger selbst gemäß § 4a RVG mit seinem Prozessvertreter ausnahmsweise ein Erfolgshonorar vereinbaren kann, bezieht sich dieses wegen der Rückbin‑ dung der Kostenfrage an die Ausgangsverfahren konsequenterweise nur auf seinen individuellen Anspruch. Da der Anwalt nicht Partei des Vergleichs ist, kann er in dessen Rahmen nicht rückwirkend ein Mandatsverhältnis mit den Beigeladenen begründen, geschweige denn auf diese Weise gemäß § 3a Abs. 1 RVG eine Vergütung vereinbaren, die von den Vorgaben des RVG abweicht. Dass dem Musterkläger im Vergleich eine zusätzliche Vergütung als Gegen‑ leistung für den erhöhten Aufwand gewährt wird, den das Musterverfahren für ihn eventuell – verglichen mit demjenigen für die Beigeladenen – bedeutet, ist demgegenüber denkbar. Sie sollte jedoch intensiver gerichtlicher Kontrolle im Rahmen der richterlichen Genehmigungsentscheidung unterliegen. Das gilt vor allem dann, wenn sie mittelbar seinem Anwalt zugute kommt, etwa bei Erstat‑ tung von Vertretungskosten, die über den Rahmen des RVG hinausgehen. Dem Anwalt des Musterklägers bleibt es freilich unbenommen, sich im Zusammen‑ hang mit den Ausgangsrechtsstreiten individualvertraglich von den einzelnen – gegebenenfalls späteren – Beigeladenen mandatieren zu lassen, soweit dies vor allem im Hinblick auf mögliche Interessenkonflikte berufsrechtlich zulässig ist. Dabei könnte er auch – in den von den allgemeinen Vorschriften gesetzten Grenzen – Vergütungsvereinbarungen abschließen. Das hat aber nichts mit der Frage nach der Verteilung der Vergleichssumme zwischen ihm und den Grup‑ penmitgliedern zu tun. Ein unmittelbarer Interessenkonflikt hinsichtlich der Verteilung der Ver‑ gleichssumme zwischen dem Prozessvertreter des Musterklägers und den Bei‑ geladenen könnte allenfalls theoretisch angesichts der besonderen Gebühr ent‑ 167
Siehe oben S. 72 f.
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stehen, die das OLG jenem gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 RVG bewilligen kann. Aus § 41a Abs. 3 S. 1 RVG lässt sich schließen, dass diese Gebühr auch bei einer Verfahrensbeendigung durch Vergleich zugesprochen werden darf, denn die maßgebliche Entscheidung kann unabhängig davon erfolgen, ob ein Musterent‑ scheid erlassen wird. Die Gebühr ist zwar gemäß § 41a Abs. 4 S. 1 RVG aus der Landeskasse vorzuschießen und geht daher zunächst nicht zulasten der Beige‑ ladenen. Im Rahmen der Kostenentscheidungen in den Ausgangsverfahren wird sie jedoch als Auslage des Gerichts im Sinne von Nr. 9007 KV‑GKG gemäß Nr. 9018 KV‑GKG zuzüglich Zinsen anteilig auf die einzelnen Ausgangsver‑ fahren umgelegt, deren Parteien sie dann entsprechend der maßgeblichen Kos‑ tenquote tragen müssen.168 Damit bildet sie gegebenenfalls – entsprechend der Kostenquote – einen Abzugsposten von den Ersatzleistungen, die die Beteilig‑ ten auf Klägerseite aufgrund des Vergleichs erhalten. Allerdings reduziert sich das Konfliktpotential in dieser Konstellation aus zwei Gründen praktisch auf Null und ist in keiner Weise mit demjenigen bei der class action vergleichbar: Erstens ist die Höhe der Gebühr eng begrenzt. Maximal ist ein Gebührensatz von 0,3 möglich. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach der Summe der in sämtlichen nach § 8 KapMuG ausgesetzten Verfahren geltend gemachten An‑ sprüche, soweit diese Ansprüche von den Feststellungszielen des Musterverfah‑ rens betroffen sind; bei 30 Millionen Euro greift jedoch eine Kappungsgrenze ein. Demnach kann das OLG dem Prozessvertreter des Musterklägers höchs‑ tenfalls eine zusätzliche Gebühr von 27.448,80 Euro zugestehen.169 Der Anteil jedes einzelnen Beigeladenen an ihr wird immer nur einen kleinen Bruchteil seiner jeweiligen Klageforderung ausmachen. Zweitens liegt die Entscheidung über die Gewährung und die Höhe der Gebühr im Ermessen des OLG. Genau‑ so wie im amerikanischen System haben die Anwälte also keinen direkten Ein‑ fluss auf sie.
(4) Beteiligung der Anmelder an den Kosten bei der Musterfeststellungsklage? Es ist noch ungeklärt, ob die Parteien einer Musterfeststellungslage im Zusam‑ menhang mit einem Vergleich vereinbaren können, dass die Kosten der betei‑ ligten qualifizierten Einrichtung nach dem Vorbild der amerikanischen common fund doctrine von dem Betrag abgezogen werden können, der für die Auszah‑ lungen an die Verbraucher bereitgestellt wird. Die These, dass man diese Option bereits unter Verweis auf den Wortlaut von § 611 Abs. 2 Nr. 4 ZPO ausschließen kann,170 ist jedenfalls zweifelhaft. Die Norm lässt auch eine weniger strikte In‑ terpretation zu, zumal es sich lediglich um eine Soll-Vorschrift handelt. Auch wenn im Gesetzgebungsverfahren Vorschläge, in der Norm auf eine mögliche 168 169
Fölsch, NJW 2013, 507, 510; vgl. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 28. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 29. 170 So aber Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 90.
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Kostenbeteiligung der angemeldeten Verbraucher hinzuweisen, nicht berück‑ sichtigt wurden, steht der Wortlaut einer solchen Gestaltung nicht entgegen, zumal § 611 Abs. 1 ZPO grundsätzlich auch Vergleichsinhalte ermöglicht, die für die Anmelder nachteilig sind.171 In den Gesetzgebungsmaterialien findet sich auch kein Hinweis, dass eine solche Interpretation der Norm unzulässig sein soll. Vor diesem Hintergrund äußern sich erste Stellungnahmen in der Literatur abwartend und verweisen auf die Prüfungskompetenz der Oberlandesgerichte, wobei sie es allerdings zumindest für möglich halten, dass diese skeptisch auf solche Kostenerstattungsklauseln reagieren werden.172 Röthemeyer bezweifelt dabei, dass die Parteien ein Interesse daran haben, die Beteiligung der Anmel‑ der an den Kosten offenzulegen, da dies ihr Renommee schmälern und mögli‑ cherweise die Austrittsquote erhöhen könnte. Es sei eher damit zu rechnen, dass die Kosten implizit mit den Ersatzleistungen verrechnet werden.173 Eine Viel‑ zahl von – möglicherweise denkbaren174 – Aufwendungsersatzansprüchen aus Geschäftsführung ohne Auftrag wäre dagegen wahrscheinlich kaum durchsetz‑ bar. Ein unmittelbarer Zugriff – im Wege der Pfändung – auf die Ansprüche aus dem Vergleich wäre gegen den Willen der Anmelder regelmäßig mangels Titu‑ lierung unmöglich, so dass ein Ergebnis nach dem Muster der amerikanischen common fund doctrine auf diesem Wege nicht erzielt werden kann.
cc) Zusammenfassung Die Repräsentanten und ihre Prozessvertreter können unter zwei Voraussetzun‑ gen in einen Interessenkonflikt mit der Gruppe geraten, der davon geprägt ist, dass sie unmittelbar um die Leistungsbereitschaft der aus dem Vergleich ver‑ pflichteten Partei konkurrieren. Erstens müssen die im Vergleich vereinbarten Ersatzleistungen und die Anwaltsvergütung beziehungsweise die Zahlung an den Repräsentanten aus einer einheitlichen Quelle stammen oder zumindest Gegenstand einer einheitlichen Kalkulation des Zahlungsverpflichteten sein. Zweitens müssen die Repräsentanten oder die Anwälte über einen gewissen Einfluss auf die Höhe der Leistungen verfügen, die sei selbst erhalten. Sie müs‑ sen nicht zwangsläufig daran beteiligt sein diese auszuhandeln. Es genügt be‑ reits, wenn sie wissen oder sich erschließen können, dass sie von der Gegensei‑ te für ein bestimmtes Verhalten „belohnt“ würden. Das Risiko vermindert sich daher deutlich, wenn ihre Vergütung gesetzlich vorgegeben ist, etwa indem sie strikt an die Höhe der Ersatzleistungen gekoppelt wird.
171
Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 18. Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 25; Röthemeyer, Mus‑ terfeststellungsklage, § 611 Rn. 19. 173 Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 19. 174 Siehe oben S. 77. 172
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In den USA scheint die richterliche Entscheidungsbefugnis über den Um‑ fang der Anwaltsvergütung einen effektiven Kontrollmechanismus darzustel‑ len, der Missbrauchsrisiken eindämmt, wenn auch möglicherweise nicht völlig beseitigt. Die vorliegende Untersuchung kann den umfassenden Fragenkom‑ plex der Finanzierung und Vergütung von Klägerkanzleien bei class actions je‑ doch nicht weiter vertiefen. In den Niederlanden ist man der Problematik bis vor kurzem nur oberflächlich betrachtet ausgewichen, indem man die Kos‑ tenfrage meist formal von dem Vergleich entkoppelt hat. Auch Zahlungen an einen Repräsentanten oder seinen Prozessvertreter, die formal außerhalb des Vergleichs vereinbart werden, können jedoch zulasten der Gruppenmitglieder gehen. Inzwischen erkennt der gerechtshof Amsterdam daher an, dass auch sol‑ che Zahlungen an Interessenorganisationen gegebenenfalls offengelegt und in die gerichtliche Überprüfung des Vergleichs einbezogen werden müssen.175 In Deutschland gelingt es dem KapMuG die Problematik stark einzuschränken, indem es die Kostenfrage überwiegend auf die Ebene der individuellen Aus‑ gangsverfahren verlagert. Mit Blick auf Klägerkanzleien ist nicht mit einem nennenswerten Problempotential zu rechnen, solange es bei den strikten Vor‑ gaben des heutigen RVG bleibt. Bei der Musterfeststellungsklage könnten sich in Zukunft ähnliche Fragen wie beim WCAM stellen, abhängig davon, welche Finanzierungsmodalitäten für qualifizierte Einrichtungen zugelassen werden. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
c) Weitere Anreizwirkungen infolge der Ausgestaltung der Kostenerstattungsregelungen Die Kostenerstattung für die Repräsentanten und die Vergütungsstruktur für die Anwälte können zudem auf indirekte Weise die Höhe der den Geschädigten zu‑ kommenden Ersatzleistungen beeinflussen, indem sie Fehlanreize setzen. Diese Problematik ist nach der hergebrachten Sichtweise vor allem bei der class ac‑ tion virulent, wo sie auf die verschiedenen Berechnungsmethoden für die Höhe der Anwaltsvergütung zurückzuführen sei.
aa) Die Berechnungsmethoden für die Anwaltsvergütung bei der class action Für die Berechnung der Anwaltsvergütung sind bei der class action prinzipiell zwei verschiedene Ansätze von praktischer Bedeutung: die percentage fee-Me‑ thode, bei der die Anwälte einen prozentualen Anteil der Vergleichssumme er‑ halten und die lodestar-Methode, bei der ihre Vergütung anhand der berech‑ tigterweise aufgewendeten Arbeitszeit berechnet wird. In common fund-Fällen greift man vorzugsweise auf die erstgenannte Methode zurück. Die lodestar175 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.18.
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Doktrin kommt insoweit selten eigenständig zur Anwendung; sie dient meist nur als Kontrollüberlegung, mit der die Ergebnisse der percentage fee-Methode abgeglichen werden.176 Für Fälle mit fee shifting soll sie dagegen das Mittel der Wahl sein.177 Insgesamt wird die percentage fee-Methode deutlich häufiger angewendet als der lodestar-Ansatz.178 Auf Grundlage einer ökonomischen Analyse werden den beiden Ansätzen unterschiedliche Defizite attestiert. So soll die percentage fee-Methode einen Anreiz zu einem verfrühten Vergleich schaffen – mit der Folge, dass die Ge‑ schädigten weniger erhalten, als dies möglich gewesen wäre, wenn die Anwäl‑ te einen höheren Zeitaufwand investiert hätten.179 Da die Opportunitätskosten des Anwalts der class in Abhängigkeit von der investierten Zeit linear stiegen, die erzielbare Vergleichssumme und damit die Vergütung des Anwalts als deren prozentualer Anteil aber degressiv, werde der Zeitpunkt erreicht, an dem der Anwalt seinen höchstmöglichen Gewinn erzielen könne, bevor der maxima‑ le Erlös für die class oder auch nur das soziale Optimum der Ersatzleistungen gesichert sei. Es bestehe demnach ein struktureller Interessenkonflikt zwischen Anwalt und Gruppe.180 Zudem könne für die Anwälte ein überproportionaler Arbeitsaufwand erforderlich sein, um die Erlöse für die Gruppe zu steigern. Dementsprechend sinke ihre Vergütung in Relation zur investierten Zeit, was sie wiederum dazu motiviere, einen verfrühten Vergleich abzuschließen.181 Am lodestar-Ansatz wird hingegen bemängelt, dass er für die Anwälte einen Anreiz schaffe, übermäßig viel Zeit in den Fall zu investieren und dementspre‑ chend eine Tendenz zu überhöhten Kosten mit sich bringe;182 die Gegenseite habe im Übrigen keine Veranlassung derartiger Zeit- und Geldverschwendung entgegenzuwirken.183 Der Ansatz motiviere die Anwälte dabei mangels Rück‑ bindung ihres Honorars an die Vergleichssumme nicht einmal dazu, das für die Geschädigten bestmögliche Ergebnis anzustreben.184 Wenn sie bereits viel Zeit in den Fall investiert hätten, bestehe für die Klägeranwälte ein erheblicher An‑ 176 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.13 (b); vgl. dort auch (c) (2): In common fund-Fällen soll die lodestar-Doktrin nur in zu begründenden Ausnahmefällen angewendet werden. 177 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 14.13. 178 Eisenberg/Miller, 7 J. Empir. Legal Stud. 248, 267 f. (2010). In der Vergangenheit scheint dies anders gewesen sein: So bezeichnet Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 717 (1986) und 54 U. Chi. L. Rev. 877, 888 (1987) die lodestar-Formel als „now prevailing method of award‑ ing attorney’s fees“. 179 Bone, Economics of Civil Procedure, S. 276 f.; Coffee, 54 U. Chi. L. Rev. 877, 887 (1987). 180 Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 687 ff. (1986). 181 G. Miller, in: New Palgrave Dictionary, Eintrag „class actions“, S. 257, 258. 182 Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803.1 (dort bei Fn. 22); Bone, Economics of Civil Procedure, S. 276; G. Miller, in: New Palgrave Dictionary, Eintrag „class actions“, S. 257, 260. 183 Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 718 (1986). 184 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.13, Comment b.
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reiz, einem für die Gruppe ungünstigen Vergleichsvorschlag zuzustimmen, da sie auf diese Weise das Risiko ausschließen könnten, letztlich gar keine Ver‑ gütung zu erhalten. Gerade dann, wenn der Zeitaufwand, ein für die class mög‑ licherweise günstiges Urteil zu erstreiten, besonders gering sei, lohne sich die‑ ses Risiko für die Anwälte nicht. Es bedürfe also noch nicht einmal bewusster Kollusion mit der Gegenseite; die lodestar-Formel bedinge vielmehr struktu‑ relle Kollusion.185 Schließlich wird der lodestar-Formel noch entgegengehal‑ ten, es sei mit erheblichen Problemen verbunden, die Maßstäbe für ihre An‑ wendung zu formulieren.186 Beide Berechnungsmethoden haben demnach auf unterschiedliche Weise einen verzerrenden Einfluss auf das Verfahrensergebnis. Diese Bewertung der Anreizsituation wird allerdings durch die Ergebnisse einer Studie von Eisenberg und G. Miller konterkariert. Auf Grundlage einer statistischen Auswertung einer Vielzahl von class actions – sowohl auf Bun‑ des- als auch auf einzelstaatlicher Ebene – aus den Jahren 1993 bis 2008, die im Wege eines Vergleich abgeschlossen wurden, seien in der Praxis im Ergeb‑ nis kaum Unterschiede zwischen den beiden Berechnungsmethoden auszuma‑ chen. Dass die Vergütungshöhe zwischen den einzelnen Entscheidungen variie‑ re, lasse sich vielmehr unabhängig von der Berechnungsmethode in erster Linie anhand der Variablen der Höhe der Ersatzleistungen, die die Gruppe jeweils er‑ halte, erklären.187 Daneben wirke sich noch aus, wie hoch das Risiko des jewei‑ ligen Verfahrens war, wobei die Unterschiede zwischen hochgradig riskanten und sonstigen Fällen allerdings nur in großen kapitalmarktrechtlichen Fällen statistisch signifikant waren.188 Gleichwohl stellt dies keine Entwarnung dar. Man kann der Studie lediglich entnehmen, dass die gewählte Berechnungsmethode im statistischen Mittel ir‑ relevant für die Höhe der Anwaltsvergütung ist. Sie schließt nicht aus, dass sich aus der gewählten Methode im Einzelfall dennoch Fehlanreize ergeben können, die sich nachteilig auf die Höhe der Ersatzleistungen für die Gruppe auswirken können.
bb) Finanzierungsmodelle beim WCAM In den Niederlanden ist die Finanzierung von Verbandsklagen, einschließlich Verfahren nach dem WCAM, noch weitgehend unreguliert.189 Die Finanzlage 185
Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 717 f. (1986). ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.13, Comment b; vgl. auch Wright/Miller/ Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1803.1 (dort bei Fn. 22): Eine kritischere Überprüfung des geltend gemachten Zeitaufwands wäre ineffizient, da sie mit erheblichen Be‑ lastungen für die Gerichte verbunden ist. 187 Eisenberg/Miller, 7 J. Empir. Legal Stud. 248, 250 (2010). 188 Eisenberg/Miller, 7 J. Empir. Legal Stud. 248, 265 f. (2010). 189 Vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.2, 6.6 (im Erscheinen), nach der jedoch eine Entwicklung hin zu strengerer Regulierung zu erwarten ist. 186
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einer stichting kann zudem im Verborgenen bleiben.190 Da weder die Interessen‑ organisationen noch die Gegenseite ein Interesse daran haben, dass die finan‑ ziellen Details im Zusammenhang mit der Aushandlung eines Vergleichs nach dem WCAM an die Öffentlichkeit geraten, ist es schwierig Aussagen zu diesem Thema zu treffen. Ein Risiko von Interessenkonflikten besteht vor allem deswe‑ gen, weil auch kommerziell orientierte Interessenorganisationen tätig werden können.191 Im Rahmen des WCAM sind für die Zeit bis zum Vergleichsschluss bislang verschiedene Finanzierungsmodelle zur Anwendung gekommen, teil‑ weise auch kombiniert: Das Spektrum reicht von Spenden und staatlichen Zu‑ schüssen (DES, Vie d’Or192) über einen Rückgriff auf die regulären Mitglieds‑ beiträge von Verbandsmitgliedern und sonstige eigene Mittel (Vedior) sowie die Zahlung einer auf das konkret Verfahren bezogenen Teilnahmegebühr durch Geschädigte (Dexia, Fortis) bis zur Gewährleistung der finanziellen Ausstat‑ tung der Interessenorganisationen durch die Gegenseite (Dexia, Shell, Con‑ verium, DSB‑Bank). In den Verfahren Converium und Shell haben auch ame‑ rikanische Kanzleien, die im Hintergrund beteiligt waren, einen Teilbeitrag zur Finanzierung geleistet.193 Wenn schon während der Phase der Vergleichsver‑ handlungen finanzielle Verbindungen zwischen beiden Seiten bestehen, ist dies aber zumindest ein Grund dafür, dass das Gericht die Einzelheiten der Situation im Auge behalten sollte. Dies scheint in den Niederlanden nicht immer zuver‑ lässig gewährleistet zu sein. In den Verfahren Dexia, Vie d’Or, Vedior, Converium, Shell, DSB‑Bank und Fortis übernahm die Gegenseite letztlich zumindest teilweise die Kosten der am Vergleich beteiligten Interessenorganisationen. Für die VEB ist die Erstat‑ tung ihrer Kosten durch die Gegenseite zuzüglich einer gewissen Gewinnkom‑ ponente zu einer wichtigen Finanzierungsquelle geworden, die ihr geholfen hat über die Jahre eine Kriegskasse zu bilden, auf die sie in späteren Verfahren zu‑ rückgreifen kann.194 Die Zahlungen der Gegenseite an die niederländischen In‑ teressenorganisationen muten indessen eher gering an, wenn man sie mit den deutlich höheren Summen vergleicht, die US‑Kanzleien aufgrund der Verglei‑ che in Sachen Converium und Shell erhalten haben.195 Wie die genaue Höhe der Zahlungen an die niederländischen Organisationen zustande kommt, ist jedoch 190
Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 168.
191 Siehe oben S. 98 f. 192 Im Fall Vie d’Or wurde
die maßgebliche Interessenorganisation durch die Regulie‑ rungsbehörde für Versicherungen eingerichtet und finanziert, vgl. Tzankova, in: Hensler/Hod‑ ges/Tzankova, Class Actions in Context, S. 117, 132. 193 Vgl. Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2, Übersicht IX (im Er‑ scheinen). 194 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018: 2422 (Fortis II ), Rn. 5.41; so auch Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen). 195 Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.5.6.2 (im Erscheinen).
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nicht ersichtlich. Unklar ist auch, welchen Einfluss Kanzleien und eventuell auch Prozessfinanzier auf einzelne Interessenorganisationen ausüben. Verbin‑ dungen zu Kanzleien scheinen teilweise zu bestehen. Prozessfinanzierer (third party litigation funders) sind dagegen offenbar noch wenig aktiv,196 wenn‑ gleich der niederländische Gesetzgeber insofern eine Steigerung zu erwarten scheint.197 Demzufolge lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass Fehlanrei‑ ze entstehen können. Erfolgt die Finanzierung maßgeblich durch Teilnahmegebühren, die un‑ abhängig vom Verfahrensausgang gezahlt werden, kann dieser für einen vor‑ wiegend kommerziell ausgerichteten Akteur an Bedeutung verlieren.198 Daher kann ein Anreiz für einen verfrühten Vergleich entstehen. Weiterhin stellt sich die Frage, wie eine Interessenorganisation damit umgeht, dass sich manche Ge‑ schädigte im Vorfeld des Vergleichs finanziell beteiligt oder mit der Interes‑ senorganisation ein Erfolgshonorar vereinbart haben, andere aber nicht.199 Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Problem des Trittbrettfahrerverhaltens200 wirft dies auch die Frage auf, ob solche Geschädigte im Vergleich für ihren Bei‑ trag mit höheren Auszahlungen belohnt werden können.201 Unabhängig davon ist auch zu beachten, ob es zu einer Bevorzugung bestimmter Geschädigter oder Gruppen von Geschädigten kommt.
cc) Anwaltsvergütung beim KapMuG Allgemeine Aussagen über die Vergütung des Prozessvertreters des Musterklä‑ gers können nur insofern getroffen werden, als diese sich nach den Vorgaben des RVG richtet; eine eventuelle Vergütungsvereinbarung gemäß § 3a RVG muss hier dagegen außen vor bleiben. Die Gefahr von Interessenkonflikten zwi‑ schen dem Anwalt des Musterklägers und den Beigeladenen wird beim Kap‑ MuG allgemein als gering eingestuft. Bergmeister meint, ein Anreiz für einen „Ausverkauf der Interessen der übrigen Beteiligten“ in Gestalt eines verfrühten und ungünstigen Vergleichs fehle auch deswegen, weil die Vergütung der An‑ wälte unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens berechnet wird.202 Diese 196 Vgl. aber gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS: 2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.41: Die Interessenorganisationen FortisEffect und SICAF hatten sich in diesem Fall Prozessfinanzierern bedient. 197 Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.4.3 (im Erscheinen). 198 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 172. 199 Das war ein Kernproblem in der Sache Fortis, vgl. gerechtshof Amsterdam, beschik‑ king v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.45. 200 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 172. 201 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017: 2257 (Fortis I ); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018: 2422 (Fortis II ). 202 Bergmeister, KapMuG, S. 264 (noch zur alten Rechtslage, wobei dieses Argument je‑ doch nicht überholt ist).
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Aussage wird in der Praxis zwar auf die überwiegende Zahl der Fälle zutreffen. Sie berücksichtigt allerdings nicht die Kehrseite der Unabhängigkeit der An‑ waltsvergütung von der Höhe der Ersatzleistungen und dem konkreten Arbeits‑ aufwand des Prozessvertreters:203 Vor dem Hintergrund, dass sich seine Ver‑ gütung gemäß § 23b RVG lediglich am Streitwert des Ausgangsverfahrens des Musterklägers bemisst, kann die schiere Menge der Beigeladenen – anders als bei small claims in den USA – nicht die im Einzelfall möglicherweise gerin‑ ge Höhe des individuellen Anspruchs seines Mandanten kompensieren. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Prozessvertreter des Musterklägers, auf den üblicherweise der Hauptteil der Arbeitslast entfällt,204 in einzelnen Fällen möglicherweise nicht hinreichend viel Aufwand und Zeit in das Musterverfah‑ ren investieren wird.205 Problematisch ist dies vor allem dann, wenn sich der Musterkläger selbst eher passiv verhält und seinem Prozessvertreter freie Hand lässt. Mit Blick auf die Seltenheit und regelmäßige Komplexität von Muster‑ verfahren kann man jedenfalls nicht ohne Weiteres argumentieren, dass der all‑ gemeine Mechanismus206 eingreife, nach dem ein Streitwerthonorar im Wege einer Mischkalkulation angesichts des unterschiedlichen Arbeitsaufwands in verschiedenen Fällen im Durchschnitt eine angemessene Vergütung sichert. Dem Anwalt des Musterklägers kommt zwar entgegen, dass sein Mandant an‑ gesichts von § 9 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG typischerweise über einen relativ hohen Einzelanspruch verfügen wird. In manchen Fällen wird auch die Möglichkeit einer zusätzlichen Gebühr gemäß § 41a Abs. 1 S. 1 RVG helfen. Dass diese zu‑ verlässig für einen hinreichenden Ausgleich sorgt, kann man angesichts ihrer geringen Höhe aber mit Recht bezweifeln.207 Es ist folglich denkbar, dass sich ein Konflikt zwischen den betriebswirtschaftlichen Zwängen, denen ein Anwalt unterliegt, und der Komplexität des Verfahrens in einzelnen Fällen negativ auf die Qualität eines Vergleichs auswirkt. Insbesondere könnte es einen Anreiz für einen verfrühten Vergleich geben. In diesem Fall hilft die Erkenntnis nicht wei‑ ter, dass die gesetzliche Regelung diesen Konflikt in vielen – aber eben nicht in 203 Der Prozessvertreter des Musterklägers erhält im Falle eines Vergleichs eine 1,3-Ver‑ fahrensgebühr (Nr. 3100 VV‑RVG), ein 1,0-Einigungsgebühr (Nr. 1003 VV‑RVG) und ggf. eine 1,2-Terminsgebühr (Nr. 3104 VV‑RVG); dabei besteht kein Spielraum, um einen erhöhten Arbeitsaufwand zu berücksichtigen. 204 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 28; Hofmann, in: BeckOK RVG, § 41a vor Rn. 1; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, § 41a Rn. 1; Fölsch, NJW 2013, 507, 507 f. 205 Vgl. Stadler, in: FS Rechberger, S. 669; Tamm, ZHR 174 (2010), 525, 548 zum erheb‑ lichen Vorbereitungs- und Koordinierungsaufwand. 206 Vgl. dazu Junker, ZZP 128 (2015), 3, 13. 207 So auch Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 77; Fölsch, NJW 2013, 507, 510; Wigand, AG 2012, 845, 854. Die Kritik von Bussian/Schmidt, PHi 2012, 42, 48 erscheint vor diesem Hinter‑ grund überzogen. Soweit sie darin, dass der Prozessvertreter eines Musterbeklagten keine ent‑ sprechende Sondervergütung beanspruchen könne, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung sehen, ist im Übrigen zu bedenken, wie wenig wahrscheinlich es in der Praxis ist, dass dieser nach RVG abrechnen wird. Siehe zur maximalen Höhe der zusätzlichen Gebühr oben S. 126.
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allen – Fällen entschärft. Deshalb ist es auch kein schlagendes Gegenargument, dass ein auf dem Gebiet des Kapitalmarktrechts tätiger Anwalt im Regelfall über ein erhebliches Interesse verfügen wird, seine Stellung am Markt durch aufsehenerregende Erfolge zugunsten aller Geschädigten zu stärken. Damit soll keinesfalls behauptet werden, dass das deutsche System zwangsläufig zu Defi‑ ziten zulasten der Gruppe führe. Die richterliche Kontrolle des Vergleichs zielt jedoch gerade auf die pathologischen Ausnahmefälle ab. Sollten die Verdienstmöglichkeiten auf Basis des RVG wirklich ungenü‑ gend sein, kann man sich fragen, ob für den Anwalt eines individuellen Klägers überhaupt ein nennenswerter Anreiz besteht die Führung des Musterverfahrens freiwillig zu übernehmen.208 In der Praxis würden Kanzleien in diesem Fall wahrscheinlich entsprechende Mandate nicht annehmen, sofern sie nicht einen Mandanten finden, der bereit ist eine höhere Vergütung zu zahlen, oder alterna‑ tive Finanzierungsmodelle bereitstehen, die ihnen ermöglichen wirtschaftlich zu arbeiten. Tatsächlich gibt es in Deutschland aber einen Markt für speziali‑ sierte Klägerkanzleien, die auf hohem Niveau KapMuG‑Verfahren durchfüh‑ ren.209 Die Gefahr, dass jemand wider Willen in die Rolle des Musterklägers gedrängt wird und im Zusammenspiel mit seinem Anwalt versucht sich durch einen schnellen Vergleich seiner Pflichten zu entledigen, erscheint vor diesem Hintergrund und angesichts der Auswahlentscheidung des Gerichts eher gering. Dagegen sollte das Gericht eventuelle alternative Finanzierungsmodelle der Kanzleien im Blick behalten und auf mögliche problematische Auswirkungen hin überprüfen. Für die Anwälte der Beigeladenen gilt im Übrigen – abgesehen davon, dass sie keine zusätzliche Vergütung nach § 41a Abs. 1 S. 1 RVG erhalten können – nichts anderes als für den Anwalt des Musterklägers, wobei ihnen aber oftmals die Möglichkeit fehlen wird, direkt Einfluss auf die Vergleichsverhandlungen zu nehmen. Man kann sich also nicht in jedem Fall darauf verlassen, dass sie mög‑ liche Defizite in der Prozessführung oder der Verhandlungstaktik des Muster‑ klägers zuverlässig ausgleichen werden, zumal die praktische Erfahrung zeigt, dass die Beigeladenen sich nur wenig am Verfahren beteiligen.210 Schließlich wendet sich die herrschende Meinung zum KapMuG dagegen, den Prozessver‑ treter des Musterklägers durch berufsrechtliche Vorgaben und ein Haftungsrisi‑ ko dazu zu motivieren, die Interessen der Beigeladenen im Rahmen eines Ver‑ gleichsschlusses wahrzunehmen.211 Die Situation stellt sich allerdings vor allem dann anders dar, wenn der Pro‑ zessvertreter des Musterklägers zugleich auch eine nennenswerte Zahl der Bei‑ geladenen in ihren Ausgangsverfahren und im Musterverfahren vertritt. Er kann 208 Vgl. 209 Vgl.
Stadler, in: FS Rechberger, S. 669. Halfmeier, in: Hensler/Hodges/Tzankova, Class Actions in Context, S. 279, 294 f. 210 Halfmeier/Rott/Feess, Abschlussbericht, S. 56. 211 Siehe oben S. 72 f.
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dann mit seinen weiteren Auftraggebern jeweils weitere Gebühren abrechnen, ohne dass er durch diese Mandate einen nennenswerten zusätzlichen Aufwand hätte. Er wird sich dabei vielfach nicht einmal auf eine Erhöhung seiner Gebühr gemäß § 7 Abs. 1 RVG i. V. m. Nr. 1008 VV‑RVG beschränken müssen, denn es handelt sich bei den vom Musterkläger und den einzelnen Beigeladenen geltend gemachten Ansprüchen nicht notwendigerweise um denselben Gegenstand im Sinne von §§ 7 Abs. 1, 15 Abs. 2 RVG, Nr. 1008 Abs. 1 VV‑RVG; mehrere Ge‑ genstände können aber jeweils separat abgerechnet werden.212 Der Grund dafür ist, dass das Gesetz ein Musterverfahren nach dem KapMuG kostenrechtlich den einzelnen Ausgangsverfahren zuordnet.213 Wenn ein Anwalt mehrere Ge‑ schädigte vertritt, kann zwar grundsätzlich selbst dann eine einheitliche Ange‑ legenheit vorliegen, wenn es sich formal um mehrere getrennte Aufträge han‑ delt.214 Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass zwischen deren Ansprüchen ein innerer Zusammenhang besteht und sie sowohl inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit gesprochen werden kann.“215
Dies muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls beurteilt wer‑ den.216 Die verschiedenen Ausgangsverfahren überschneiden sich zwar not‑ wendigerweise insofern, als Teilaspekte von ihnen in einem Musterverfahren nach dem KapMuG zusammengefasst wurden. Ansonsten sind aber nicht un‑ erhebliche individuelle Besonderheiten denkbar. Das schließt einen inneren Zu‑ sammenhang zwar nicht zwingend aus.217 Oftmals wird es jedoch schon deswe‑ gen an einem einheitlichen Rahmen fehlen, weil die Ansprüche der einzelnen (späteren) Beigeladenen jenseits des Musterverfahrens aus Zuständigkeitsgrün‑ den nicht in einem Verfahren zusammengefasst werden können.218 Dann kann ein Anwalt die einzelnen Kläger aber gerade nicht gemeinsam in einem Sam‑ melklageverfahren vertreten.219 Selbst wenn dies im Einzelfall nicht zutreffen und daher eine einheitliche Angelegenheit angenommen werden sollte, ginge die Höhe der Gebühren indessen häufig über dasjenige hinaus, was gemäß § 41a 212 Vgl. Hofmann, in: BeckOK 213 Siehe oben S. 119.
RVG, Nr. 1008 VV‑RVG Rn. 5.
214 BGH, Urt. v. 21. 06. 2011, Az.: VI ZR 73/10, NJW 2011, 3167, Rn. 11, 14; vgl. auch BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 16. 215 BGH, Urt. v. 21. 06. 2011, Az.: VI ZR 73/10, NJW 2011, 3167, Rn. 10; BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 14. 216 BGH, Urt. v. 21. 06. 2011, Az.: VI ZR 73/10, NJW 2011, 3167, Rn. 9; BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 14. 217 Vgl. BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 21 zu den in‑ dividuellen Besonderheiten der einzelnen Ansprüche i. R. e. Sammelklage. 218 Zur Bedeutung der Zusammenfassung in einem Verfahren als Kriterium für einen ein‑ heitlichen Rahmen vgl. BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 15; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, § 15 Rn. 12. 219 So aber im Fall von BGH, Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 18.
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Abs. 1 S. 1 RVG zugesprochen werden kann – jedenfalls, sofern der Anwalt eine hinreichende Zahl von Beigeladenen vertritt. In einer solchen Situation einer Sammelklage erhält der Prozessvertreter mehrerer Beigeladener gemäß §§ 7 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 1 RVG i. V. m. § 39 Abs. 1 GKG eine einheitliche Ver‑ gütung aus dem Streitwert der zusammengerechneten Ansprüche.220 Gemäß Nr. 1008 Abs. 1, 3 VV‑RVG kommen ja nach Zahl der Mandanten 0,3 bis maxi‑ mal 2,0 Gebühren hinzu. Überdies ist es nach § 3a RVG zumindest theoretisch zulässig mit den einzelnen Mandanten eine Vergütung zu vereinbaren, die die Regelsätze des RVG übersteigt – in den engen Grenzen, die § 49b Abs. 1 S. 1 BRAO und § 4a RVG setzen, auch in der Form eines Erfolgshonorars. Im Er‑ gebnis erhöht dies den Zeitaufwand, den ein Anwalt, der nach RVG abrechnet, investieren kann, ohne dass das Verfahren für ihn seine Profitabilität verliert.
dd) Finanzierung einer Musterfeststellungsklage Die Prozessvertreter der Parteien einer Musterfeststellungsklage haben auf Grundlage der gesetzlichen Vergütung nur geringe Verdienstmöglichkeiten. Gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 GKG ist der Streitwert einer Musterfeststellungsklage – ebenso wie bei Verfahren nach dem UKlaG221 – auf maximal 250.000 EUR begrenzt. Im Falle eines Vergleichs in der ersten Instanz beträgt die höchst‑ mögliche Anwaltsvergütung nach den Sätzen des RVG daher für jede Seite le‑ diglich 9.407,55 EUR.222 Damit wird das Prozessrisiko für eine qualifizierte Einrichtung auf ein vertretbares Maß gesenkt. In vielen Fällen wird es aber auch bedeuten, dass eine Abrechung auf Basis des RVG für die mandatierten Anwälte nicht rentabel ist. Realistischerweise ist vielmehr davon auszuge‑ hen, dass sie auf Stundenbasis abrechnen werden.223 Da oftmals sehr komple‑ xe Materien Gegenstand einer Musterfeststellungsklage sein werden, wird eine qualifizierte Einrichtung meist nicht auf die kostentreibende Vertretung durch spezialisierte Kanzleien verzichten können.224 Sie kann sich daher einem er‑ heblichen Finanzierungsbedarf gegenübersehen. Teilweise wird in Zweifel ge‑ zogen, dass die bisherigen staatlichen Zuschüsse für die Verbraucherverbände 220 So allgemein zu Sammelkagen AG Wetzlar, Urt. v. 15. 11. 2012, Az.: 32 C 433/12 (32), NJW‑Spezial 2013, 220; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, § 15 Rn. 80. Vgl. auch BGH Urt. v. 8. 05. 2014, Az.: IX ZR 219/13, NJW 2014, 2126, Rn. 13. 221 Vgl. RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 29. 222 Dieser Wert setzt sich zusammen aus einer 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV‑RVG), einer 1,0-Einigungsgebühr (Nr. 1003 VV‑RVG), einer 1,2-Terminsgebühr (Nr. 3104 VV‑RVG) und 20 EUR Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV‑RVG), inkl. Mwst. Bei einem Streitwert von 250.000 EUR beträgt eine Gebühr 2.253 EUR. 223 Vgl. Guggenberger/Guggenberger, MMR 2019, 8, 10; Schneider, BB 2018, 1986, 1997. Kritisch zu den Gestaltungsmöglichkeiten einer qualifizierten Einrichtung im Hinblick auf die Vergütung ihrer Prozessvertreter Schmidt-Kessel, Stellungnahme zum RegE Muster‑ feststellungsklage, S. 13. 224 Vgl. Vgl. Stürner, Role of Judges and Lawyers, S. 84.
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vor diesem Hintergrund ausreichen.225 Zudem wird geltend gemacht, dass es an einem Ausgleich für ein eventuelles Haftungsrisiko gegenüber den Anmel‑ dern mangele.226 Trifft diese Einschätzung zu, könnte dies freilich vor allem zur Folge haben, dass die Musterfeststellungsklage nur zurückhaltend genutzt wird. Klagt ein Verband aber doch und stellt sich im Laufe des Verfahrens he‑ raus, dass ihm die nötigen Mittel fehlen, besteht ein Risiko, dass er unter dem Druck des beklagten Unternehmens227 einem verfrühten oder auf andere Weise für die Anmelder ungünstigen Vergleich zustimmt.228 Um einer solchen Situa‑ tion vorzubeugen, werden qualifizierte Einrichtungen möglicherweise auf ex‑ terne Prozessfinanzierer zurückgreifen wollen, mit deren Unterstützung sie ihre finanzielle Schlagkraft erhöhen könnten.229 Für diese Dienstleister ist eine In‑ vestition in das Verfahren aber nur dann interessant, wenn sie im Erfolgsfall eine Gegenleistung erhalten, sei es unmittelbar vom Beklagten oder von der qualifizierten Einrichtung, falls diese auf Grundlage des Vergleichs ihre Auf‑ wendungen ersetzt bekommt. Beckmann und Waßmuth geben zu bedenken, dass es für einen Prozessfinanzierer unattraktiv sei in eine Musterfeststellungs‑ klage zu investieren, da ein Musterfeststellungsurteil keine Leistung zuspre‑ chen kann, von der er einen Teil erhalten könnte.230 Es trifft zu, dass ein Mo‑ dell der Erfolgsbeteiligung demnach von vornherein auf einen Vergleich setzen müsste. Dass man dies von vornherein als impraktikabel bezeichnen könnte, ist angesichts der Erfahrungen mit dem WCAM allerdings keine ausgemachte Sache. Beteiligen sich Prozessfinanzierer, muss berücksichtigt werden, inwie‑ fern durch ihren Einfluss die Anreizsituation für die qualifizierte Einrichtung verzerrt werden kann.231 Selbst wenn Interessenkonflikte zwischen einer ge‑ meinnützig ausgerichteten Interessenorganisation und der Gruppe oder einzel‑ nen Gruppenmitgliedern entstehen, werden diese tendenziell weniger schwer‑ wiegend sein, als dies bei einem kommerziell ausgerichteten Repräsentanten der Fall wäre, sofern sichergestellt ist, dass die Interessenorganisation über ein hinreichendes Maß an finanzieller Unabhängigkeit verfügt.232 225 So Guggenberger/Guggenberger, MMR 2019, 8, 10; Schneider, BB 2018, 1986, 1997; ähnlich Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 369. 226 Guggenberger/Guggenberger, MMR 2019, 8, 10. 227 Vgl. Stadler, VuR 2018, 83, 87 zum Interesse von Unternehmen Feststellungsurteile zu vermeiden. 228 Vgl. auch Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 302 (Unter‑ finanzierung von Verbänden wird „im schlimmsten Fall qualitative Einbußen verursachen“). 229 So Geissler, GWR 2018, 189, 191. Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 369 erwägen alternativ, ob man de lege ferenda verstärkt Erfolgshonorare für die Anwälte der qualifizierten Einrichtung zulassen sollte. Vgl. auch Stürner, Role of Judges and Lawyers, S. 84: auch nonprofit Organisationen brauchen diversifizierte Finanzierungsquellen. 230 Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 45, 51. 231 Vgl. Balke/Liebscher/Steinbrück, ZIP 2018, 1321, 1327. 232 Vgl. Stürner, Role of Judges and Lawyers, S. 84.
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ee) Zusammenfassung Die Gefahr, dass durch die Rahmenbedingungen für die Berechnung der An‑ waltsgebühren Fehlanreize gesetzt werden, betrifft vor allem die class action. Beim KapMuG sind die Risiken deutlich weniger gravierend. Dennoch sollte die Möglichkeit im Blick behalten werden, dass die Kostenstruktur des Kap‑ MuG in einzelnen Fällen einen Anreiz für verfrühte Vergleiche schaffen könn‑ te, da der Anwalt des Musterklägers nicht von einer höheren Vergleichssumme profitiert. Beim WCAM und möglicherweise auch bei der Musterfeststellungs‑ klage müssen im Einzelfall die Auswirkungen komplexer Finanzierungskon‑ struktionen berücksichtigt werden.
d) Spannungen zwischen Risikoaversion und optimaler Interessenvertretung bei repeat players aa) Anwälte als Investoren in den USA233 Bei der amerikanischen class action sollen die auf Klägerseite tätigen Kanz‑ leien infolge ihrer unternehmerischen Ausrichtung234 dazu neigen, Vergleiche abzuschließen, die hinter dem zurückblieben, was zugunsten der Gruppenmit‑ glieder maximal möglich gewesen wäre. Den Hintergrund dieser Argumenta‑ tionslinie bildet der Umstand, dass die Anwälte aufgrund der verbreiteten Er‑ folgshonorare nur im Falles eines Prozessgewinns oder eines Vergleichs mit einer Vergütung und dem Ersatz ihrer Aufwendungen rechnen können: Für eine Kanzlei sei es daher wirtschaftlich vorteilhaft, über ein vielfältiges Portfolio an Verfahren zu verfügen. Damit setze sie im Sinne einer Mischkalkulation auf ein im Durchschnitt gutes Ergebnis. Indem sie ihre beschränkten Ressourcen auf möglichst viele Fälle verteile, anstatt in wenigen Fällen jeweils ein möglichst perfektes Ergebnis erzielen zu wollen, könne sie ihr eigenes Risiko diversifizie‑ ren und so vermindern. Die Kehrseite sei jedoch die Gefahr suboptimaler Er‑ gebnisse für die einzelnen Gruppenmitglieder in Fällen, die einen gesteigerten Aufwand erfordern. Dasselbe Problem zeige sich zwar auch in Individualver‑ fahren, wenn diese für einen Anwalt ein Massengeschäft darstellten. In diesem Fall könne der Mandant jedoch in weit höherem Maße seinen Einfluss geltend machen als die Gruppenmitglieder bei der class action.235 Dort sei es wegen der charakteristischen Kontrolldefizite möglich, dass der Klägeranwalt nicht den 233 So Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, 234 Siehe dazu oben S. 96. 235
Einf. Rn. 93.
Hensler, Class Action Dilemmas, S. 79 f.; vgl. auch Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1700 (2008) („a lawyer for many claimants may be tempted to gamble on longshot recoveries across a portfolio of cases“); Leslie, 59 Fla. L. Rev. 71, 78 f. (2007) (betont, dass Vergleiche ungünstig sind, die abgeschlossen werden, bevor hinreichende discovery statt‑ gefunden hat). Allgemein zur Diversifizierung der Risiken als strategische Option für als class counsel tätige Anwälte: n. a., 119 Harv. L. Rev. 587, 595 (2005).
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vollen Einsatz zeige, den er bei stärkerer Kontrolle durch den Repräsentativklä‑ ger oder die Gruppe vermutlich erbracht hätte.236 Coffee meint in diesem Zu‑ sammenhang, dass die Anwälte keine adäquate Risikoprämie erhielten, die es für sie rechtfertigen würde, ihre Anfangsinvestition aufs Spiel zu setzen, da ihre Vergütung nicht proportional zur Höhe der Vergleichssumme steige. Das moti‑ viere sie dazu, möglichst rasch einem Vergleich zuzustimmen. Nicht Kollusion, sondern Risikoscheu sei also die Ursache für vorschnelle Vergleiche.237
bb) Unternehmerisches Handeln von Interessenorganisationen in den Niederlanden? Die notwendige Bedingung für die soeben beschriebene Dynamik ist das Risi‑ ko von finanziellen Verlusten im Falle eines Misserfolgs. Beim WCAM sollte sich eine Interessenorganisation zwar rein konzeptionell nicht von unterneh‑ merischen Erwägungen beeinflussen lassen. Tatsächlich scheint dies aber nicht immer so zu sein, wobei auch die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Betei‑ ligung von Kanzleien sowie der Risikoübernahme durch externe Prozessfinan‑ zierer zu berücksichtigen ist. Ihr komplexes Zusammenspiel mit den Interessen‑ organisationen, das die Praxis des WCAM prägt, kann in dieser Untersuchung indessen nicht im Einzelnen analysiert werden. Wie Tillema berichtet, gibt es bei der allgemeinen Verbandsklage, aber auch im Rahmen des WCAM in der Rechtspraxis Erfolgshonorare: Dazu schließt eine Interessenorganisation, die einen Vergleich aushandeln will, Vereinbarungen mit einzelnen Geschädigten, die ihr einen Anteil an den Ersatzleistungen garantieren.238 Dies ist zulässig, solange es um die Interessenorganisation selbst geht; die Restriktionen, die im Hinblick auf Erfolgshonorare für Anwälte gelten, finden insofern keine Anwen‑ dung.239 Dementsprechend könnten sich grundsätzlich ähnliche Probleme er‑ geben wie bei der class action. Allerdings sind Verfahren nach dem WCAM viel seltener als class actions. Gerade ad hoc gegründete Interessenorganisationen, die nur auf ein konkretes Verfahren ausgerichtet sind, haben kein breites Port‑ folio, auf das sie ihre Ressourcen verteilen könnten. Wenn hinter einem solchen Prozessvehikel Kanzleien oder Prozessfinanzierer stehen sollten, die zugleich in Massenverfahren auf Grundlage anderer Verfahrensformen und womöglich auch in anderen Jurisdiktionen investieren, wäre jedoch näher zu prüfen, ob ein ähnliches Risiko besteht wie dasjenige, das Coffee für die class action be‑ 236 Coffee, 54 Chi. L. Rev. 877, 883 (1987); Beuchler, Class Actions und Securities Class Actions, S. 188. 237 Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 390 f. (2000). Die oben auf S. 129 beschriebene Anreizsi‑ tuation bei der percentage fee-Methode tritt zu diesem Element des Risikos hinzu. 238 Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 7.3.4 (im Erscheinen); vgl. auch ge‑ rechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.45. 239 Tillema, Entrepreneurial Mass Litigation, Abschn. 6.4.4.2 (im Erscheinen).
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schreibt. Bei den etablierten Interessenorganisationen ist diese Gefahr dagegen auch aufgrund ihrer Ausrichtung auf nichtkommerzielle Zielsetzungen sowie der besseren internen Kontrollmechanismen wahrscheinlich als geringfügig an‑ zusetzen.
cc) Die Maßgeblichkeit des Musterklägers im KapMuG Beim KapMuG trägt der Prozessvertreter des Musterklägers allenfalls dessen Insolvenzrisiko, wenn man von den seltenen Fällen absieht, in denen ein Er‑ folgshonorar zulässig ist. Eine unternehmerische Investition in das Verfahren tätigt er demnach nicht. Der Musterkläger selbst muss zwar anteilig die Kosten des Musterbeklagten tragen, soweit er aufgrund eines ungünstigen Musterent‑ scheids oder aus anderen Gründen in seinem Ausgangsverfahren unterliegt.240 Er hat damit ein höheres Interesse an einem Vergleich als sein Prozessvertre‑ ter. Sein Kostenrisiko bemisst sich aber nach dem von ihm geltend gemachten individuellen Anspruch, so dass der Umstand, dass es sich um ein Musterver‑ fahren handelt, nicht zusätzlich abschreckend wirkt, zumal dieses wegen § 16 Nr. 13 RVG auch auf der individuellen Ebene keine zusätzlichen Kosten ver‑ ursacht.241 Von etwaigen Vorschusszahlungen an seinen Prozessvertreter abge‑ sehen, finanziert der Musterkläger das Musterverfahren auch nicht vor. Gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 KapMuG ist § 379 ZPO nicht anwendbar; die Erhebung von Zeugen- und Sachverständigenbeweisen (vgl. § 402 ZPO) kann also im Muster‑ verfahren nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Beweisführer einen Auslagenvorschuss zahlt.242 § 13 Abs. 5 JVEG ergänzt diese Regelung im Zu‑ sammenhang mit der besonderen Vergütung für Sachverständige, Übersetzer oder Dolmetscher. § 17 Abs. 4 S. 1 GKG ist die komplementäre Norm für ande‑ re Auslagen als Vorschüsse für Zeugen und Sachverständige. Dass ein Muster‑ kläger diese Rolle zugleich in mehreren verschiedenen Musterverfahren ein‑ nimmt, ist zwar insbesondere bei großen institutionellen Investoren zumindest nicht ausgeschlossen. Als Verfahrensbeteiligter ist seine Interessenlage aber völlig anders als diejenige eines class counsel.243
dd) Erfolgsprämie für die qualifizierte Einrichtung bei der Musterfeststellungsklage? Für die Musterfeststellungsklage ist bislang nicht geklärt, ob im Vergleich eine Erfolgsprämie für die qualifizierte Einrichtung vereinbart werden kann.244 Damit könnte man ihr eine Mischkalkulation ermöglichen, die es ihr auf Dauer 240 241
Siehe oben S. 119 und 124. Siehe oben S. 124. 242 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 15. 243 Siehe oben S. 114 f. 244 Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 369 schlagen jedoch vor, in größerem Maße als sonst Erfolgshonorare für die Anwälte des Verbands zuzulassen.
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erleichtern würde auch riskantere Verfahren zu führen. Es ist allerdings Skepsis angebracht, ob dies in Deutschland gewünscht ist. Gegebenenfalls könnten im Ansatz ähnliche Probleme wie in den USA entstehen, die aber bereits durch die mangelnde kommerzielle Ausrichtung der Verbände erheblich abgeschwächt würden.
e) Zusammenfassung Interessenkonflikte zwischen der Gruppe und ihren Repräsentanten oder An‑ wälten, die mit deren wirtschaftlichen Interessen zusammenhängen, sind grund‑ sätzlich in zwei Ausprägungen möglich, die allerdings miteinander verflochten sein können. Ein direkter Konflikt entsteht dann, wenn die Gruppe und ihre Re‑ präsentanten oder Anwälte um dieselbe Summe konkurrieren, die die Gegen‑ seite im Zusammenhang mit einem Vergleich maximal zu zahlen bereit ist. Es besteht dann die Gefahr eines Fehlanreizes für die Repräsentanten und Anwäl‑ te, der dazu führt, dass sie in einer Weise Einfluss auf den Inhalt des Vergleichs oder von Nebenvereinbarungen nehmen, die mehr ihren eigenen Interessen ent‑ spricht als denen der Gruppenmitglieder. Daneben kommen als Ursache für einen Interessenkonflikt indirekte Fehl‑ anreize in Betracht, die darauf zurückzuführen sind, wie die Kostenerstattung oder die Vergütung der Repräsentanten oder Anwälte berechnet wird und ob möglicherweise Dritte Einfluss auf die Akteure ausüben können. Diese Art von Fehlanreizen ist vor allem ein Problem der class action. Insbesondere die An‑ sätze zur Berechnung der Anwaltsvergütung und der verbreitete Rückgriff auf Erfolgshonorare sind geeignet, Anreize zu setzen, die sich nicht zwangsläufig mit den Interessen der class members decken. Die Art und Weise, wie das Kap‑ MuG ausgestaltet ist, bedingt im Zusammenhang mit einem Vergleichsschluss demgegenüber deutlich geringere Risiken für die Beigeladenen. Zu berücksich‑ tigen ist aber der Umstand, dass die gesetzlichen Verdienstmöglichkeiten des Prozessvertreters des Musterklägers nur unzureichend dem Umstand gerecht werden, dass seine Handlungen Folgen für die Gesamtheit der Gruppenmitglie‑ der haben. Beim WCAM und der Musterfeststellungsklage sind die zulässigen Finanzierungsmodelle für die beteiligten Interessenorganisationen die entschei‑ dende Stellschraube. An dieser Stelle sind die beiden Anliegen, eine adäquate Repräsentation der Gruppenmitglieder zu gewährleisten und missbräuchliche Klagen zu verhindern, miteinander verflochten. Hier bedarf es des richtigen Augenmaßes: Eine allzu restriktive Regelung läuft Gefahr auch berechtig‑ te Klagen im Ansatz zu ersticken. Sofern es in der Folge zu unvermeidlichen Interessenkonflikten zwischen der Gruppe und ihren Repräsentanten kommen kann, kommt die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen als ein möglicher Re‑ gulierungsmechanismus ins Spiel. Ein Gericht verfügt dabei in ihrem Rahmen über zwei Ansatzpunkte: Einerseits kann es versuchen die Anreizsituation zu
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ermitteln, um Schlüsse darüber zu ziehen, ob das Verhandlungsergebnis mög‑ licherweise durch unsachgemäße Anreize verzerrt wurde. Andererseits kann es aber auch darauf verzichten die Anreizsituation ausdrücklich zu thematisieren und aus anderen Indizien auf die – möglicherweise fehlende – Angemessenheit eines Vergleichs zu schließen.
3. Reverse auctions und ähnliche Problematiken a) Reverse auctions bei der class action aa) Folgen des Fehlens einer Rechtshängigkeitssperre Die Problematik, die im Zusammenhang mit der amerikanischen class action unter dem Stichwort „reverse auction“ diskutiert wird, knüpft in der Theorie an die Überlegung an, dass Konkurrenz auf der Anbieterseite zu fallenden Prei‑ sen führt. Die Anbieter sind in diesem Sinne verschiedene Anwaltskanzleien, die unabhängig voneinander class actions anstrengen, das angebotene Gut ist die Rechtssicherheit, die der Abschluss eines solchen Verfahrens den Beklag‑ ten bietet, und der Preis die im Gegenzug zu zahlende Vergleichssumme.245 Eine reverse auction kann stattfinden, wenn Parallelverfahren gleichzeitig an‑ hängig werden. In den USA ist es zumindest im Ausgangspunkt nicht aus‑ geschlossen, dass konkurrierende Anwälte gestützt auf denselben Sachverhalt parallele class actions initiieren. Die frühere Rechtshängigkeit einer Sache mit einem identischen oder zumindest überlappenden Streitgegenstand steht einer erneuten Klageerhebung nicht kategorisch entgegen;246 dazu ist vielmehr eine gesonderte gerichtliche Entscheidung erforderlich, eine sogenannte anti-suit injunction.247 Ein Urteil oder ein gerichtlich genehmigter Vergleich248 kön‑ nen – sobald sie rechtskräftig sind – jedoch weiteren Verfahren entgegengehal‑ ten werden. Für die Klägeranwälte, die diese angestrengt haben, bedeute das, dass sie finanziell leer ausgingen, wenn sie wie in aller Regel im Wege einer Er‑ folgsbeteiligung entlohnt werden. Die verschiedenen Kanzleien befänden sich demnach in einer Wettkampfsituation, die diejenige von ihnen zu ihren Gunsten entscheide, die zuerst einen Vergleich zustande bringt.249 Dies verschiebe das Kräftegleichgewicht zugunsten der Beklagtenseite, die nun die verschiedenen Anbieter gegeneinander ausspielen könne, um letztlich das für sie günstigste Angebot auszuwählen.250 245 G. Miller, in: New Palgrave Dictionary, Eintrag „class actions“, S. 257, 260; Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:57. 246 Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, S. 42. 247 Vgl. zu den insofern maßgeblichen Voraussetzungen Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1798.1. 248 Der als consent decree einem Urteil gleichsteht, siehe oben S. 85. 249 Vgl. Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 392 (2000). 250 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 282 (7th Cir. 2002); Manual for Com‑
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Allerdings verfügt das amerikanische Prozessrecht über Instrumente, die diese Problematik erheblich eindämmen. Die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten für die Position des class counsel durch das Gericht ist dabei ein wichtiger Ansatzpunkt.251 Instruktiv ist auch die Arbeit des Judicial Panel on Multidistrict Litigation, insbesondere im Zusammenspiel mit dem CAFA von 2005.252 Bei diesem Panel handelt es sich gemäß 28 U.S.C. § 1407 um ein aus sieben Bundesrichtern verschiedener Gerichte bestehendes Gremium,253 das auf eigene Initiative oder auf Antrag einer Partei254 vor verschiedenen Bundes‑ gerichten anhängige255 Rechtsstreite für den Verfahrensabschnitt der pretrial proceedings – also vor allem zur Durchführung der discovery – an ein ein‑ ziges Gericht verweisen kann, falls es hinreichende sachliche Überschneidun‑ gen gibt.256 Dabei stehen praktische Erwägungen ganz im Vordergrund; dem Panel geht es um das Management der Verfahren, nicht um eine inhaltliche Ent‑ scheidung.257 Zwar wird die Einrichtung der Multidistrict Litigation (MDL) nur vereinzelt im Zusammenhang mit dem Bestreben genannt, durch eine reverse auction befeuertes forum shopping zu unterbinden.258 Sie ist aber durchaus ge‑ eignet, diesen Effekt zu erzielen, indem sie parallele Rechtsstreite an einem Gericht konsolidiert, das von einer unabhängigen Instanz bestimmt wird. Ab‑ gesehen von einem im vorliegenden Kontext irrelevanten Ausnahmefall,259 be‑ zieht sich die Überweisung zwar lediglich auf die pretrial-Phase der Rechts‑ streite; danach werden diese wieder getrennt verhandelt und entschieden. Da aber Vergleiche regelmäßig in diesem Verfahrensabschnitt geschlossen werden, wird die spätere Trennung der einzelnen Rechtsstreite nur selten stattfinden.260 Der Richter, an den das Verfahren im Rahmen der MDL verwiesen wurde, darf plex Litigation, Fourth, § 21.61; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:57; Coffee, 95 Col. L. Rev. 1343, 1371 f. (1995); Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1667 (2008). 251 Vgl. Allen v. Stewart Title Guar., 246 F.R.D. 218, 219 (E. D. Pa. 2007); Wright/Miller/ Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1802.3 (dort in Fn. 17); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:57 (dort bei Fn. 13). 252 Dazu Gilles/Friedman, 155 U. Pa. L. Rev. 103, 162 (2006); Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1664 (dort Fn. 51) (2008). 253 28 U.S.C. § 1407 (d). Zur historischen und aktuellen Zusammensetzung des Panel vgl. Herr, Multidistrict Litigation Manual, § 2:4. 254 28 U.S.C. § 1407 (c). 255 Vgl. Herr, Multidistrict Litigation Manual, § 3:8. 256 28 U.S.C. § 1407 (a). 257 Herr, Multidistrict Litigation Manual, §§ 1:1, 3:11 und spezifisch zu class actions Ab‑ schnitt „§ 1407 in the Courts“, Nr. 167 ff.; vgl. zu den maßgeblichen Gesichtspunkten auch das Manual for Complex Litigation, Fourth, § 20.131. 258 So aber In re American Spin-Off Accounts Litigation, 2005 WL 5747463 [*5] (C. D. Cal. 2005) („The purpose of MDL litigation is to allow ‚centralization‘ and to prevent the type of forum-shopping that can occur from reverse auctions.“). 259 28 U.S.C. § 1407 (h) zufolge können kartellrechtliche parens patriae-Klagen gem. 15 U.S.C. § 15 (a) (1) sowohl für die pretrial- als auch für die trial-Phase zusammengefasst wer‑ den. 260 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 20.132.
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zwar kein Urteil fällen; er ist jedoch befugt, einen Vergleich in der Form eines consent decrees zu genehmigen.261 Die Problematik von Parallelverfahren bestand vor dem Erlass des CAFA von 2005 im Wesentlichen im Verhältnis zwischen Bundesgerichten und ihren einzelstaatlichen Pendants, so dass das Verfahren der MDL keine Abhilfe bot. Eine verbreitete Strategie war es, mittels eines schnellen Vergleichs vor einem einzelstaatlichen Gericht ein aufwendiges Verfahren vor einem Bundesgericht auszuhebeln.262 Einige einzelstaatliche Gerichte hatten mit der Zeit offenbar den Ruf erworben, eine ideale Anlaufstelle für Anwälte zu sein, die schnell und ohne voraussehbare Hindernisse eine Genehmigung für einen Vergleich einer class action erhalten wollten.263 Diese Gerichte konnten – so zumindest die Sichtweise der Kritiker solcher Verfahren – mit besonders niedrigen Standards für die certification aufwarten264 oder waren heimischen Klägern und Anwälten in Prozessen gegen nicht im jeweiligen Bundesstaat ansässige Unternehmen un‑ gewöhnlich wohlgesonnen.265 Hier setzt die 2005 durch den CAFA eingeführte Zuständigkeitsregelung an. Ihre Begründung stellt den Bezug zur reverse auc‑ tion-Problematik dabei nur andeutungsweise her;266 die Regelung wirkt die‑ ser aber faktisch entgegen: Sie konzentriert die Zuständigkeit für class actions weitgehend bei den Bundesgerichten und verhindert so, dass parallele einzel‑ staatliche Gerichtsstände ausgenutzt werden können. Dazu schafft sie jenen eine neue Zuständigkeit auf der Grundlage der diversity jurisdiction und zwar – vor‑ behaltlich einiger Ausnahmen – anknüpfend an den Umstand, dass zumindest 261
Manual for Complex Litigation, Fourth, § 20.132. Coffee, 95 Col. L. Rev. 1343, 1370 (1995). Berüchtigt waren in dieser Hinsicht vor allem die Gerichte im Madison County und im St. Clair County im Süden von Illinois, vgl. Rep. No. 109–14 (2005), S. 13. Auf das überwie‑ gend ländlich geprägte Madison County ist der Ausspruch gemünzt, der solche Problemgerich‑ te („anomalous courts“) „in any county named after a president that’s by a body of water“ ver‑ ortet, vgl. Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1665 (2008); diese Definition passt auch auf Jefferson County in Texas, das ebenfalls als ein „judicial hellhole“ galt, vgl. Erich‑ son, 156 U. Pa. L. Rev. 1593, 1611, 1626 (2008) m. w. N. Nach dem Inkrafttreten des CAFA (und freilich auch: gleichzeitigen internen Reformen) verzeichnete Madison County einen re‑ gelrechten Einbruch der Zahl von neu anhängig gemachten class actions, vgl. Erichson, 156 U. Pa. L. Rev. 1593, 1610 (2008). 264 Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 14. 265 Vgl. Issacharoff/Nagareda, 156 U. Pa. L. Rev. 1649, 1668 (2008). 266 Vgl. die im Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 14 aufgelisteten Kategorien von Miss‑ bräuchen, insb. Nr. 4 und 5; Nr. 5 scheint am Rande auch auf das Problem einer reverse auction anzuspielen, wenngleich ohne es ausdrücklich zu benennen (vgl. a. a. O. S. 23: „state courts and class counsel may ‚compete‘ to control the cases, often harming all the parties involved“) – allgemein steht hier aber eher die mit der Befassung mehrerer Gerichte einhergehende Res‑ sourcenverschwendung im Mittelpunkt. Eine weitere Facette dieses Problemkreises ist die Möglichkeit, dass sich die Parteien eines von einem Bundesgericht abgelehnten Vergleichs mit einer identischen Vereinbarung noch einmal an ein einzelstaatliches Gericht wenden könnten, vgl. R. Marcus, 156 U. Pa. L. Rev. 1765, 1800 (2008). Auch ihr tritt die neue Zuständigkeits‑ regelung entgegen. 262 263
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ein Mitglied der Gruppe aus einem anderen Bundesstaat als zumindest einer der Beklagten stammt, die Gruppe wenigstens 100 Personen umfasst und der Streit‑ wert insgesamt 5.000.000,00 USD überschreitet.267 Praktisch bedeutet das, dass nahezu alle großen class actions vor den Bundesgerichten erhoben oder an diese verwiesen werden können.268 Im Zusammenspiel mit dem Judicial Panel on Multidistrict Litigation wird das Problem von reverse auctions auf der Ebene des forum shopping damit effektiv eingedämmt. Es wird in seiner klassischen Form als Folge der Zuständigkeitsregelungen wohl nur noch in wenigen Fällen auftreten.
bb) Erhöhtes Risiko bei settlement class actions Dagegen soll bei settlement class actions ein erhöhtes Risiko für eine andere Art von reverse auctions bestehen. Die Beklagtenseite könne hier mit verschie‑ denen Kanzleien zugleich verhandeln – unter Umständen sogar schon, bevor überhaupt eine class action anhängig ist. Sie habe demnach die Wahl, das für sie günstigste Angebot anzunehmen. Dieses werde sodann dem Gericht zusammen mit einem Antrag auf Zertifizierung der class zur Genehmigung vorgelegt.269 Diese Lösung liege im Interesse des Beklagten, weil der genehmigte Vergleich ihm gegebenenfalls bei geringen Kosten Sicherheit vor weiteren Ansprüchen biete, sofern die opt out-Quote niedrig bleibe.270 Es besteht auch ein Anreiz, einen Vergleich so zuzuschneiden, dass er von Versicherungsansprüchen ge‑ deckt wird.271 Zu fragen ist allerdings, inwiefern die Regelungen zur Auswahl des class counsel einen wirksamen Schutz bieten, bei der securities class action auch mittelbar über die Auswahl des lead plaintiff.272 Ein Restrisiko wird man aber nicht ausschließen können.
b) Kein Risiko von reverse auctions in Deutschland In Deutschland stellt sich die Problematik von Parallelverfahren nicht. Nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO sowie Artt. 27 bis 29 EuGVVO können im Hinblick auf einen Streitgegenstand nicht mehrere Rechtsstreite zugleich durchgeführt werden. Derselbe Gedanke greift auch für ein Musterverfahren nach dem Kap‑ MuG:273 Gemäß § 7 S. 1 KapMuG kann für die auszusetzenden Ausgangs‑ 267 28 U.S.C. § 1332 (d); vgl. zu den Beweggründen Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 26 f. 268 Erichson, 156 U. Pa. L. Rev. 1593, 1598 (2008). 269 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 22.923; Coffee, 95 Col. L. Rev. 1343, 1378 (1995) (beides zu mass torts). 270 Yeazell, 39 Ariz. L. Rev. 687, 701 (1997). 271 Vgl. Coffee, 86 Col. L. Rev. 669, 715 (1986). 272 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:57 (dort bei Fn. 13), der meint, dass die Auswahl des class counsel durch das Gericht insofern eine reverse auction ausschließe. 273 Vgl. zu § 5 KapMuG a. F. Fullenkamp, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 5 Rn. 1.
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rechtsstreite nicht noch einmal ein Musterverfahren eingeleitet werden, nach‑ dem bereits ein Vorlagebeschluss erlassen wurde.274 Ein dennoch ergangener weiterer Vorlagebeschluss ist nach § 7 S. 2 KapMuG unwirksam. Demnach gilt das Prioritätsprinzip. Es gibt grundsätzlich immer nur ein Musterverfahren, in dem ein Vergleich in Bezug auf die ausgesetzten Rechtsstreite geschlossen wer‑ den kann. Zwar trifft § 7 KapMuG keine Regelung für den Fall, dass zwei Vor‑ lagebeschlüsse gleichzeitig ergehen. Kruis zufolge kann hier keinem Vorlage‑ beschluss der Vorrang eingeräumt werden. Wenn die Feststellungsziele beider Musterverfahren entscheidungserheblich seien, komme es für die Aussetzung aber darauf an, welche Feststellungsziele umfassender formuliert sind.275 Ein Aussetzungsbeschluss ergeht also immer nur im Hinblick auf ein Musterver‑ fahren. Zwei parallele Musterverfahren können auch dann anhängig werden, wenn ein OLG einen Fehler macht und die Sperrwirkung eines vorrangigen Vorlagebeschlusses übersieht. Auch dann soll aber ein bereits ausgesetztes Aus‑ gangsverfahren nicht noch einmal wegen des weiteren Musterverfahrens aus‑ gesetzt werden.276 Wie sich aus § 9 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 KapMuG ergibt, ist das Musterverfahren nur für diejenigen Ausgangsverfahren relevant, in denen ein entsprechender Aussetzungsbeschluss im Sinne von § 8 Abs. 1 und 3 KapMuG erlassen wurde. Selbst wenn in dem zweiten Musterverfahren ein Vergleich genehmigt werden sollte, kann dieser demnach keine Bindungswir‑ kung für die Beteiligten auf Klägerseite des ersten Musterverfahrens entfalten. Eine reverse auction ist demnach schon strukturell unmöglich. Auch bei der Musterfeststellungsklage gilt gemäß § 610 Abs. 1 S. 1 ZPO das Prioritätsprin‑ zip. Gehen an einem Tag mehreren Klagen ein, besteht nach §§ 610 Abs. 2, 147 ZPO die Möglichkeit einer Prozessverbindung.
c) Möglichkeit des Schädigers zur Auswahl der Repräsentanten beim WCAM? Im Rahmen des niederländischen WCAM lässt sich das Risiko einer reverse auction nicht ausschließen. Die Schädiger verfügen über die Freiheit, mit meh‑ reren Interessenorganisationen zugleich zu verhandeln;277 sie können also unter Umständen wählen, mit wem sie einen Vergleich schließen, der dann dem Ge‑ richt vorgelegt wird. Dieses Problem der Konkurrenz zwischen mehreren „spe‑ cial purpose vehicles“ wird auch nicht durch den sogenannten „Claim Code“ gelöst.278
274
Die Reichweite dieses Ausschlusses ist str., vgl. Kruis, in: KK‑KapMuG, § 7 Rn. 7 ff. Kruis, in: KK‑KapMuG, § 7 Rn. 22. 276 Kruis, in: KK‑KapMuG, § 7 Rn. 28. 277 Vgl. Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 170. 278 Tzankova, in: Hensler/Hodges/Tzankova, Class Actions in Context, S. 117, 131. 275
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4. Gruppeninterne Interessengegensätze a) Auswirkungen durch Akteure vermittelt Im kollektiven Rechtsschutz sind Interessenkonflikte zwischen einzelnen Mit‑ gliedern der Gruppe oftmals unvermeidlich. Zwar gewährleistet schon die Zu‑ lassungsentscheidung, dass eine übereinstimmende Interessenlage die Grup‑ penmitglieder verbindet. Beispiele dafür sind das commonality-Erfordernis von Rule 23 (a) (2) FRCP im Rahmen der certification einer class action und die For‑ mulierung einheitlicher Feststellungsziele gemäß § 6 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG oder § 606 Abs. 1 S. 1 ZPO. Auch wenn die Ausgangssituation der Gruppenmitglie‑ der weitgehend übereinstimmt, kann jedoch nicht immer ein vollständiger Inte‑ ressengleichlauf hergestellt werden.279 Gruppeninterne Konflikte können auch durch einen entsprechenden Zuschnitt der Gruppe oder ihre Aufteilung in selb‑ ständige Untergruppen280 nicht vollständig ausgeschlossen werden.281 Mögliche Gegensätze können sich dabei nur vermittelt über das Handeln derjenigen auswirken, die das Verfahren aktiv führen – bei der class action bei‑ spielsweise in erster Linie die Anwälte. Sie handeln den Vergleich aus und ent‑ scheiden, welchen Regelungen sie zustimmen. Man muss sich also wiederum bewusst machen, über welche Anreize und Interessen diese Akteure verfügen. In den Niederlanden kommt es demgemäß auf die Interessenorganisationen an, der die Übereinkunft geschlossen haben. In Deutschland ist im KapMuG kon‑ zeptionell der Musterkläger der maßgebliche Akteur, in einem Musterfeststel‑ lungsverfahren die qualifizierte Einrichtung.
b) Mögliche Voreingenommenheit des class counsel Sofern man unterstellen kann, dass es dem class counsel vor allem um seinen eigenen finanziellen Gewinn geht, hat er wenig Anreiz, sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, wie die Vergleichssumme auf die einzelnen Gruppen‑ mitglieder verteilt werden soll. Das kann beispielsweise zur Folge haben, dass er instinktiv den Repräsentativkläger bevorzugt,282 wenn dieser in einem Inte‑ ressenkonflikt mit anderen Gruppenmitgliedern steht, denn mit ihm hat er wäh‑ rend des Verfahrens und in dessen Vorfeld möglicherweise eng zusammengear‑ beitet.283 Eine ähnliche Problematik entsteht, wenn der class counsel neben der 279 Vgl. etwa Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 389 (2000): bei Großschäden entweder Interes‑ se an möglichst rascher oder an möglichst großer Kompensation. 280 Vgl. dazu Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1769.1; In re Cendant Corp. Sec. Litig., 404 F. 3d 173, 202 (3d Cir. 2005) (zur Gefahr der „Balkanisie‑ rung“ einer class action durch Einrichtung von subclasses). 281 Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action, S. 162. 282 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 188 (2009). 283 Vgl. In re Corn Derivatives Antitrust Litigation, 748 F. 2d 157, 163 f. (3d Cir. 1984) (Adams, J., concurring) (diese Entscheidung betrifft allerdings nicht die Genehmigung eines
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
class auch andere Mandanten in ähnlich gelagerten Individualverfahren vertritt. Es ist denkbar, dass es ihm gelingt, die class so zu strukturieren, dass seine in‑ dividuellen Mandanten nicht von ihr erfasst werden. In diesem Fall besteht das Risiko, dass der class counsel bereit ist, in einem Vergleich Abstriche zulasten der Gruppenmitglieder zu machen, um im Gegenzug einen besseren Deal für seine anderen Mandanten herauszuschlagen.284 Nach der Ansicht von Coffee kann es sich weiterhin zum Nachteil der restli‑ chen Gruppe auswirken, wenn sich einzelne Gruppenmitglieder, die besonders große Schäden erlitten haben, einen realistischen Vorteil davon versprechen können, dass sie aus dem Verfahren herausoptieren. So ist es großen institu‑ tionellen Investoren – meist handelte es sich um öffentliche Pensionsfonds, die erhebliche Summen in die maßgeblichen Wertpapiere investiert hatten – im Zu‑ sammenhang mit mehreren amerikanischen securities class actions gelungen, individuell Vergleiche auszuhandeln, mit denen sie sich einen deutlich besseren Ausgleich für ihre Schäden sichern konnten, als denjenigen, den sie erhalten hätten, wenn sie in der Gruppe verblieben wären.285 Vor diesem Hintergrund solle dem class counsel daran gelegen sein, dass der Vergleich vor allem sol‑ chen Gruppenmitgliedern attraktiv erscheint – denn deren Austritte erfolgten in den maßgeblichen Fällen erst, nachdem auf Gruppenebene ein Vergleich aus‑ gehandelt worden war;286 demgegenüber könne er sich darauf verlassen, dass kleine Schäden nicht ökonomisch in Individualverfahren durchgesetzt werden können und insofern daher keine relevante Zahl an opt outs zu befürchten sei.287 Diese Überlegung setzt voraus, dass die Höhe der Anwaltsvergütung davon ab‑ hängt, wie viele und welche Gruppenmitglieder aus dem Vergleich herausoptie‑ ren, was im Einzelfall unterschiedlich geregelt sein wird. Coffees These ist aber auch vor dem Hintergrund stichhaltig, dass die Anwälte oftmals als repeat play‑ ers eine langfristige Strategie verfolgen werden. Schieden die großen Geschä‑ digten regelmäßig aus securities class actions aus, verlöre dieses Verfahren an Bedeutung, was sich langfristig wiederum nachteilig auf die Verdienstmöglich‑ keiten der Anwälte auswirken würde. Vergleichs, sondern die Frage, ob eine Kanzlei wegen eines Interessenkonflikts ihres jetzigen Mandanten mit einem früheren Mandanten, den sie zuvor im Rahmen desselben Rechtsstreits vertreten hatte, von der Vertretung ausgeschlossen werden muss. Adams geht es dabei im Kern darum, dass die für Individualverfahren maßgeblichen Grundsätze nicht strikt auf class actions übertragen werden könnten, da Interessenkonflikte für diese geradezu charakteristisch seien; soweit er auf die Entstehung dieser Interessenkonflikte eingeht, formuliert er seine Aussagen aber derart allgemein, dass sie im vorliegenden Kontext in Bezug genommen werden können). 284 Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 67, 74 (dort Fn. 8); Coffee, 95 Col. L. Rev. 1343, 1373 ff. (1995). Die Problematik wird auch mit dem Stichwort der „in‑ ventory claims“ bezeichnet. 285 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 311 ff. (2010) unter Verweis auf die Verfahren in den Sa‑ chen WorldCom, AOL Time Warner und Quest. 286 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 315 (2010). 287 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 326 (2010).
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Eine andere Argumentationslinie nimmt eine umgekehrte Perspektive ein. Sie stellt die These auf, dass es für Gruppenmitglieder, die über besonders starke Ansprüche – also solche mit einer hohen Durchsetzungswahrscheinlich‑ keit – verfügen, mit Nachteilen verbunden sei, wenn sie in der Gruppe ver‑ blieben. Dieser Effekt betreffe dabei primär class actions zum Ausgleich von Großschäden.288 Wenn die Ansprüche der einzelnen Gruppenmitglieder eine erhebliche Variationsbreite hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit aufwiesen, bestehe die Gefahr, dass Inhaber überdurchschnittlich starker Einzelforderungen struk‑ turell benachteiligt würden. Um ihre Vergütung zu maximieren, hätten die An‑ wälte einen starken Anreiz, die Gruppe so zu definieren, dass sie möglichst mitgliederstark ist. Da es regelmäßig nur eine begrenzte Anzahl an starken An‑ sprüchen gebe, werde sich die Gruppe in der Folge überwiegend aus Inhabern eher schwacher oder bestenfalls durchschnittlicher Ansprüche zusammenset‑ zen. Im Rahmen eines Vergleichs werde die Anspruchshöhe aus Gründen der Praktikabilität aber anhand von Durchschnittswerten berechnet. Auch indem man eine begrenzte Anzahl von Schadenskategorien bildet, könne individuel‑ len Besonderheiten allenfalls beschränkt Rechnung getragen werden, zumal es schwerfallen wird, handhabbare Differenzierungskriterien zu finden, wenn es primär um die Durchsetzungschancen der Ansprüche geht und nicht etwa um ein formales Kriterium wie ihren Anspruchsgrund oder Umfang. Dies habe zur Folge, dass ungewöhnlich starke Ansprüche tendenziell mit vergleichs weise geringen Ersatzleistungen abgegolten würden. Im Ergebnis werde der Vergleichserlös zulasten der starken Ansprüche auf die schwachen umver‑ teilt.289
c) Konflikte zwischen „Active“ und „Non-Active Claimants“ beim WCAM In den Niederlanden ist ein besonderes Problem hervorzuheben, das in den Schnittbereich der Finanzierung der Interessenorganisationen und der Fest‑ legung der Ersatzleistungen für die Geschädigten fällt. In der Sache Fortis ging es um Frage, ob Geschädigte einen besonderen Ausgleich erhalten dürfen, weil sie sich im Vorfeld des Verfahrens an dessen Finanzierung beteiligt hatten, ins‑ besondere indem sie einer Interessenorganisation ein Erfolgshonorar zugesagt hatten.290 Im Hintergrund steht dabei die Spannung zwischen dem Umstand, dass das WCAM bewusst als ein opt out-Verfahren ausgestaltet wurde, in dem die Geschädigten gerade nicht aktiv tätig werden müssen, und dem berechtigten 288 Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 75; vgl. auch Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 318 (2010); Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 23 f. (hier liegt der Akzent aller‑ dings auf der Frage nach der Zuständigkeit einzelstaatlicher Gerichte). 289 Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 75 f. 290 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.11 ff.; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS: 2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.44 ff.
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Finanzierungsbedarf der Interessenorganisationen. Problematisch ist, dass diese geneigt sein könnten, die „Active Claimants“ über Gebühr zu bevorzugen, um einen entsprechenden Anreiz für spätere Verfahren zu setzen.
d) Interne Konflikte beim KapMuG Im KapMuG muss der Musterkläger nach der herrschenden Meinung nicht die Interessen der Beigeladenen wahrnehmen, soweit sie von seinen eigenen ab‑ weichen. Auch sein Prozessvertreter ist lediglich seinem Mandanten verpflich‑ tet.291 Vor allem im Hinblick auf die Ebene der Ausgangsverfahren ist aber denkbar, dass es keinen exakten Interessengleichlauf zwischen dem Muster‑ kläger und allen Beigeladenen gibt. Sofern es um Handlungen geht, die vor dem Gericht vorgenommen werden, wird § 14 KapMuG hier einen gewissen Ausgleich schaffen, wenngleich ein Beigeladener mittels dieser Norm keinen Vortrag einbringen kann, mit dem er sich in Widerspruch zum Musterkläger setzt. Das Gericht kann in einem solchen Fall aber zumindest auf Spannun‑ gen aufmerksam machen. In der Situation eines Vergleichs fehlt jedoch eine parallele Norm im Hinblick auf die Mitwirkung an den Vergleichsverhand‑ lungen; sie wäre auch nicht praktikabel. Ein Interessenkonflikt zwischen dem Musterkläger und zumindest einem Beigeladenen kann sich daher im Inhalt eines Vergleichs niederschlagen, ohne dass starke strukturelle Sicherungen ent‑ gegenstehen. Auch der steigende Einfluss institutioneller Investoren in Kap‑ MuG‑Verfahren292 sollte dabei im Auge behalten werden. In der Literatur wird angesichts der individuellen Besonderheiten ihrer Ausgangsverfahren Konflikt‑ potential zwischen verschiedenen Beteiligten auf Klägerseite gesehen.293 So‑ weit aber offenbar ein Problem in der unterschiedlichen Vergleichsbereitschaft verschiedener Untergruppen gesehen wird,294 schafft die Austrittsoption bis zu einem gewissen Grade Abhilfe. Ansonsten handelt es sich jedoch um ein An‑ wendungsfeld für die gerichtliche Kontrolle eines Vergleichs.
e) Interne Konflikte bei der Musterfeststellungsklage Wie beim KapMuG sind auch bei der Musterfeststellungsklage im Zusammen‑ hang mit einem Vergleich Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Un‑ tergruppen der Verbraucher, die ihre Ansprüche angemeldet haben, denkbar. Selbst wenn ihre Ansprüche im Ausgangspunkt von einer einheitlichen Sachoder Rechtsfrage abhängen, können sich die maßgeblichen Sachverhalte an‑ sonsten erheblich unterscheiden. Das Verfahren der Musterfeststellungsklage macht jenseits der Formulierung der Feststellungsziele keine Vorgaben hin‑ 291 Siehe oben S. 72 ff. 292 Vgl. Jung, AnwBl. 2017,
185. von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 314, 339. 294 Vgl. von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 339. 293 Vgl.
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sichtlich der erfassten Ansprüche. Eine Parallele zum commonality-Erforder‑ nis im Rahmen der certification einer class action, gibt es darüberhinaus nicht.
5. Zusammenfassung Die Bedeutung der Anreize zeigt, dass es zu kurz greifen würde, sich für die class action damit zu begnügen, den Klägeranwälten als Ursache für etwaige Abweichungen von einem postulierten idealen Ergebnis unter Hervorhebung des Gedankens der Kollusion zumindest implizit ethische Defizite zu unter‑ stellen und ihnen vorzuwerfen, sie würden sich unter Missachtung ihrer Pflich‑ ten aus dem Mandat zulasten der Gruppe bereichern. Dasselbe gilt für die Re‑ präsentanten bei den Verfahren in den Niederlanden und Deutschland. Das soll freilich nicht heißen, dass solche Fälle nicht vorkämen und die Problematik daher ignoriert werden könnte. Selbst wenn sie eher selten auftreten,295 recht‑ fertigt schon ihre bloße Möglichkeit grundsätzlich Kontrollmechanismen. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass es auch jenseits zielgerichteter Kollusi‑ on zu Problemen kommen kann. Fehlanreize können sich gleichermaßen unbe‑ wusst auswirken. Bei solchen Problemen wird es sich allerdings ebenfalls um Ausnahmen handeln. Die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen dient jedoch gerade dazu, solche seltenen Abweichungen auszusondern. Im Übrigen sei an‑ gemerkt, dass es auch zu einem unangemessenen Vergleich kommen kann, ohne dass dieser auf irgendeinen klar identifizierbaren Anreiz zurückzuführen wäre. Die Beschäftigung mit möglichen Anreizen vermittelt ein Bewusstsein für die Hintergründe von suboptimalen Ergebnissen bei einem Vergleichsschluss und hat im besten Fall heuristischen Wert – für die Prüfungstätigkeit eines Gerichts muss sie aber nicht ausschlaggebend sein. Entscheidend ist vielmehr, dass die Repräsentanten und Prozessvertreter über nicht vollständig kontrollierbare Spielräume verfügen.
IV. Typologie möglicher negativer Auswirkungen von Interessenkonflikten 1. Vorbemerkung Nachdem soeben (II./III.) die grundlegenden Mechanismen dargestellt wurden, soll nun anhand von Fallgruppen erörtert werden, wie sie sich zum Nachteil der Gruppe oder einzelner Gruppenmitglieder auswirken können. Um beurteilen zu können, welche Mängel ein Vergleich aufweisen kann, muss zunächst ermittelt werden, welche internen Ziele Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes ver‑ 295 So
Green, 30 U. C. Davis L. Rev. 791, 797 (1997).
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folgen, also was ihr Zweck aus der Sicht der Beteiligten in Abgrenzung von einer möglicherweise darüber hinausgehenden gesellschaftspolitischen Funk‑ tion ist.296 Im Kontext des amerikanischen Rechts widmen sich die Principles of Aggregate Litigation des ALI dieser Frage. Ihr Ansatz lässt sich aber auch für das deutsche Recht und das niederländische WCAM übernehmen und bie‑ tet einen guten Ausgangspunkt für eine Systematisierung.297 Gemäß § 1.04 (b) bezwecken Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes zunächst, die geltend ge‑ machten Ansprüche in eine möglichst werthaltige Ersatzleistung umzumünzen beziehungsweise eine sonst geeignete Abhilfe zur Verfügung zu stellen. Dabei soll es wohlgemerkt auf den Nettowert nach Abzug aller Kosten, also insbeson‑ dere der Anwaltsvergütung, ankommen.298 Dies liege im Interesse der Grup‑ penmitglieder, die auf einen wirtschaftlichen Gewinn aus seien.299 Dieser As‑ pekt wird im Folgenden unter (2.) als erste Konstellation eines unter Defekten leidenden Vergleichs angesprochen. Gemäß § 1.04 (b) (2) sollen die Ersatzleis‑ tungen angemessen verteilt werden; jeder Anspruchsteller soll jeweils einen an‑ gemessenen Ausgleich erhalten. Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben können, kommen sogleich unter (3.) als zweite Konstellation zur Spra‑ che. Unter (4.) werden als dritte Konstellation schließlich Mängel erörtert, die im Zusammenhang mit der Möglichkeit stehen, die versprochenen Leistungen tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Die drei Konstellationen sollten indessen nicht als starre Kategorien missverstanden werden. Insbesondere zwischen der ersten und der zweiten gibt es Schnittmengen. Bei der ersten liegt der Akzent darauf, dass die Ersatzleistung zu gering ist, bei der zweiten darauf, dass sie ungerecht verteilt wird. Überschneidungen ergeben sich vor allem bei nicht‑ monetären Leistungen, wenn alle Gruppenmitglieder zwar identische Leistun‑ gen erhalten, diese jedoch für verschiedene Untergruppen von unterschiedli‑ chem Wert sind.
2. Erste Konstellation: nicht interessengerechte Lösung a) Der notorische Bank of Boston-Fall Der Extremfall, dass ein Vergleich die geschädigten Gruppenmitglieder nach Saldierung aller Posten belastet, anstatt ihre Schäden wenigstens ansatzweise 296 Vgl. zu dieser Terminologie ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 1.04, Com‑ ment a. 297 Ähnliche Systematisierung bei Lopatka/Smith, 39 Fla. St. U. L. Rev. 865, 875 f. (2012), die aber eine überhöhte Anwaltsvergütung, die zulasten der Gruppe geht, als separate Konstel‑ lation einordnen – und nicht wie hier als Unterfall einer zu geringen Ersatzleistung – sowie an‑ dererseits Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Leistungen nicht gesondert ansprechen. 298 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 1.04 (b) (1); ebenso Rhode, 34 Stan. L. Rev. 1183, 1200 (1982). 299 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 1.04, Reporter’s Notes zu Comment a.
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auszugleichen, wird nur selten vorliegen. Mit einer solchen wohl nicht nur aus dem externen Blickwinkel eines deutschen Juristen reichlich bizarren Über‑ einkunft der Klägeranwälte mit den Beklagten befasst sich die Entscheidung des Seventh Circuit in der Sache Kamilewicz v. Bank of Boston Corp.300 Dex‑ ter Kamilewicz erhielt als Mitglied einer class von seiner Bank auf der Grund‑ lage eines Vergleichs 2,19 USD wegen fehlerhafter Abrechnungen in Bezug auf seine Hypothek. Allerdings wurden im Gegenzug Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von sage und schreibe 91,33 USD von seinem Konto abgebucht – mehr als das vierzigfache seiner Entschädigung.301 Den meisten anderen der unge‑ fähr 715.000 Betroffenen erging es ähnlich.302 Sie erhielten zwischen 0,00 und 8,76 USD. Die Anwälte der class, die diesen Vergleich ausgehandelt hatten, stri‑ chen dagegen insgesamt ein Honorar im Bereich von 8.500.000,00 USD ein,303 das somit den maximal denkbaren Auszahlungsbetrag an die Gesamtheit der Geschädigten deutlich übertraf. Bei Fällen dieser Kategorie handelt sich freilich auch im amerikanischen Recht um seltene Ausnahmen. Der Bericht des Committee on the Judiciary des US‑Senats zum CAFA von 2005 zählt lediglich zwei einschlägige Beispiele auf, nämlich den oben beschriebenen Fall und einen weiteren, in dem die Gruppen‑ mitglieder ihr Grundeigentum veräußern mussten, um im Gegenzug eine Ent‑ schädigung erhalten zu können.304 Gleichwohl zeigen diese Einzelfälle, dass zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass die Klägeranwälte zu‑ sammen mit den Beklagten das System der class action ungehindert zu ihren Gunsten ausnutzen können. In den anderen hier betrachteten Rechtsordnungen sind solche eklatanten Missbräuche zwar noch einmal deutlich unwahrschein‑ licher als in den USA; bislang wurden auch noch keine einschlägigen Fälle berichtet. Aufgrund der weitgehenden Handlungsbefugnisse der Akteure, die mit einer unzureichenden Überwachung einhergehen,305 sind sie aber ebenfalls nicht kategorisch ausgeschlossen. Sie unterstreichen damit das Bedürfnis nach der gerichtlichen Überprüfung des Vergleichs als einem zusätzlichen Kontroll‑ mechanismus.
300 Kamilewicz v. Bank of Boston Corp., 92 F. 2d 506 (7th Cir. 1996), die die Angemessen‑ heit des Vergleichs allerdings lediglich obiter thematisiert. Vgl. zu dieser Entscheidung auch Koniak/Cohen, 82 Vir. L. Rev. 1051, 1057 ff., 1081 (1996). 301 Kamilewicz v. Bank of Boston Corp., 92 F. 2d 506, 508 (7th Cir. 1996). 302 Kamilewicz v. Bank of Boston Corp., 92 F. 2d 506, 509 (7th Cir. 1996). Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 14 f. nennt ein weiteres Beispiel für eine Geschädigte, der für eine Er‑ satzleistung i. H. v. 4 USD im Gegenzug 80 USD abgebucht wurden. 303 Die Beschwerdeführer nannten sogar einen Wert von mehr als 14.000.000,00 USD, die hier zugrunde gelegte geringere Summe beruht auf der konservativeren Schätzung des 7th Cir‑ cuit, vgl. Kamilewicz v. Bank of Boston Corp., 92 F. 2d 506, 508 (7th Cir. 1996). 304 Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 14 f. 305 Siehe bereits oben S. 96 ff.
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b) Missverhältnis zwischen Anwaltsvergütung und Vorteilen für die Gruppe Die Problematik, dass eine zu hohe Anwaltsvergütung direkt zulasten der Grup‑ pe geht, wird in erster Linie durch andere Kontrollmechanismen als die rich‑ terliche Genehmigung des Vergleichs entschärft.306 Bei der class action wird die Höhe der Anwaltsvergütung durch eine separate richterliche Entscheidung bestimmt. Beim WCAM findet eine Kostenerstattung für die Interessenorga‑ nisationen regelmäßig statt und muss bei der Genehmigungsentscheidung be‑ rücksichtigt werden. Im Rahmen des KapMuG unterliegt die Rechtsanwaltsver‑ gütung wiederum strikten Vorgaben, die das Missbrauchsrisiko minimieren. Für die Musterfeststellungsklage ist noch ungeklärt, ob eine qualifizierte Einrich‑ tung im Zusammenhang mit einem Vergleich finanziell beteiligt werden kann.
c) Coupon settlements und andere Formen nicht-monetären Ausgleichs Typischerweise wird eine Benachteiligung der Geschädigten weniger offen‑ sichtlich sein als in den bislang beschriebenen Konstellationen. Der Bericht des Committee on the Judiciary des US‑Senats zum CAFA von 2005 identifiziert Fälle, bei denen die Erlöse aus dem Vergleich im Endeffekt überwiegend oder sogar ausschließlich den Anwälten zu Gute kommen, als ein zentrales Problem der class action und nennt zahlreiche Bespiele, die vor allem sogenannte cou‑ pon settlements betreffen.307 Diese waren zumindest vor dem CAFA von 2005 in den USA offenbar häufig genug, um den Gesetzgeber zum Eingreifen zu be‑ wegen. Eine empirische Studie gibt allerdings zu bedenken, dass das Phänomen tatsächlich nur 9 % der class action settlements betreffe, in denen eine Entschä‑ digung bereitgestellt werde.308 Der Begriff coupon settlement bedeutet, dass die Gruppenmitglieder zum Ausgleich für ihre Schäden – oder zumindest im Hin‑ blick auf einen Teil ihrer Schäden – keine Geldsumme ausgezahlt bekommen, sondern stattdessen einen Gutschein erhalten, den sie gegen Leistungen des Be‑ klagten oder eines Dritten eintauschen können oder mit dem sie diese Leistun‑ gen zu vergünstigten Konditionen beziehen können.309 Das wesentliche Problem mit solchen Gutscheinen ist, dass sie die Möglich‑ keit eröffnen, den Wert der Ersatzleistung übertrieben darzustellen, um gegen‑ über dem Gericht zu verschleiern, dass der Vergleich hinter dem Möglichen zurückbleibt.310 Ein Gutschein kann sich sogar als faktisch wertlos erweisen, 306
Siehe bereits oben S. 122 f. Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 15 ff. Wilging/Wheatman, 81 Notre Dame L. Rev. 591, 652 (2006). 309 In Anlehnung an die Definition von Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.164[9][a]. Ähnlich Hensler, Class Action Dilemmas, S. 488. Nach Gal‑ lagher, 91 Notre Dame L. Rev. 2091, 2094 (2016) beinhaltet der Begriff eines „coupons“ keine trennscharfe Definition und bezeichnet vor allem den Umstand, dass die gewährten Vorteile nicht in Geld bestehen. 310 Miller/Singer, 60 Law and Contemp. Probs. 97, 111 f. (1997). 307 308
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obwohl er nominell den Schaden aufwiegt. Beispielsweise ist seine Geltungs‑ dauer ein neuralgischer Punkt, etwa in Produkthaftungsfällen: Bei Gegenstän‑ den, die man üblicherweise nur in größeren Abständen kauft, wie etwa Kraft‑ fahrzeugen, hat eine Ermäßigung beim Kauf eines neuen Produkts, die nach kurzer Zeit ausläuft, für viele Geschädigte, die das mangelhafte Produkt erst kurz zuvor erworben haben,311 nur einen sehr begrenzten Nutzen. Ist in diesem Fall auch die Übertragung des Gutscheins auf Dritte eingeschränkt, ist er fak‑ tisch wertlos.312 Auch wenn die Geschädigten in einem solchen oder ähnlichen Fall wenig oder sogar nichts von dem Vergleich haben, gibt es zwei Gruppen, für die er re‑ gelmäßig sehr wohl von Nutzen sein soll: die Klägeranwälte und die Beklagten. In der Praxis fallen die hohen Vergütungen ins Auge, die die Klägeranwälte im Rahmen von Vergleichen erhalten, in denen die geschädigten Gruppenmitglie‑ der lediglich mit Coupons abgespeist werden.313 Die Beklagten hingegen kom‑ men bei coupon settlements schon deswegen vergleichsweise günstig davon, da sie keine Auszahlungen leisten müssen, die unmittelbar ihre finanziellen Reser‑ ven belasten. Erst recht kommt es ihnen zugute, wenn die Gutscheine nicht ein‑ gelöst werden.314 Sie können jedoch selbst dann profitieren, wenn diese in An‑ spruch genommen werden. Wenn dabei Geschäfte abgeschlossen werden, die sonst nie zustande gekommen werden, kann es sein, dass sich für die Beklagten ihr schädigendes Verhalten im Endeffekt sogar wirtschaftlich auszahlt.315 Aller‑ dings sind coupon settlements und andere Formen nicht-monetären Ausgleichs keinesfalls immer negativ zu beurteilen. Sie können eine effiziente Lösung zum Schadensausgleich darstellen, nicht zuletzt auch dann, wenn der Schädiger nur in begrenztem Maße über flüssige Mittel verfügt.316 Auch im Rahmen des WCAM und im deutschen Recht sind Gestaltungen denkbar, die einem ame‑ rikanischen coupon settlement ähneln und einen anerkennenswerten Zweck er‑ füllen. Eine weitere Gestaltungsmöglichkeit, die vor allem in den USA vorkommt, wirft ein noch helleres Schlaglicht auf die Problematik, ob die Gruppenmitglie‑ der tatsächlich einen Nutzen aus dem Vergleich ziehen können. Die Ausdrü‑ cke cy pres remedies oder fluid recovery bezeichnen Gestaltungen, bei denen 311 Hier
kommt verschärfend der im Folgenden unter (3.) thematisierte Aspekt der unter‑ schiedlichen Behandlung verschiedener Gruppenmitglieder hinzu. 312 Vgl. In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litiga‑ tion, 55 F. 3d 768, 809 (3d Cir. 1995). 313 Senate Rep. No. 109–14 (2005), S. 14 ff.; Gallagher, 91 Notre Dame L. Rev. 2091 (2016). 314 Hensler, Class Action Dilemmas, S. 488. 315 Vgl. In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litiga‑ tion, 55 F. 3d 768, 808 (3d Cir. 1995): „rather than providing substantial value to the class, the certificate settlement might be little more than a sales promotion for GM“. 316 Miller/Singer, 60 Law and Contemp. Probs. 97, 113 (1997).
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in einem Vergleich auch oder sogar nur Leistungen versprochen werden, die nicht an die Gruppenmitglieder fließen, sondern Dritten zukommen, die nicht am Rechtsstreit beteiligt sind. Die Begünstigten sind beispielsweise wohltätige Einrichtungen oder Stiftungen, die einem bestimmten Zweck dienen, der regel‑ mäßig einen Bezug zum jeweiligen Verfahren aufweist. Cy pres remedies sind vor allem in Fällen mit Streuschäden von Bedeutung, wenn es aufgrund des ge‑ ringen Umfangs der einzelnen Ansprüche wirtschaftlich kaum möglich ist, die Beträge individuell an die Geschädigten auszuzahlen.317
d) Verpflichtung zu einer unangemessenen Gegenleistung Umgekehrt kann auch die in einem Vergleich enthaltene Zusage einer unange‑ messen hohen Gegenleistung dessen Wert für die Begünstigten in einem Maße schmälern, das seine Genehmigung ausschließt. Typischerweise wird eine sol‑ che Gegenleistung in einem Anspruchsverzicht liegen.
e) Weitere Fallgestaltungen Auch jenseits der soeben vorgestellten Konstellationen ist es möglich, dass ein Gericht zu dem Schluss kommt, dass die Ersatzleistungen, die die Geschä‑ digten aufgrund des Vergleichs erhalten sollen, für sich genommen einfach zu gering sind. Dass die Gruppenmitglieder im Rahmen eines Vergleichs regel‑ mäßig nicht ihre Maximalforderungen verwirklichen können, liegt freilich in der Natur der Sache. Ein Vergleich beinhaltet üblicherweise – wenn auch nach amerikanischer Auffassung offenbar nicht notwendigerweise318 – ein beider‑ seitiges Nachgeben.319 Allerdings ist ihnen nicht mit einem Vergleich gedient, in dem sie übertriebene Konzessionen machen. Die Schwierigkeit liegt für die Gerichte demnach darin, Maßstäbe zu finden, mit denen sie beurteilen können, welche Ersatzleistung noch angemessen ist.
3. Zweite Konstellation: Schlechterstellung eines Teils der Gruppenmitglieder a) Die Verteilung von Ersatzleistungen Auch wenn ein Vergleich den Interessen mancher Gruppenmitglieder gerecht wird, kann er dennoch unangemessen sein, wenn andere Gruppenmitglieder nicht oder nicht in gleichem Maße von ihm profitieren, ohne dass es hierfür 317 318
Miller/Singer, 60 Law and Contemp. Probs. 97, 107 (1997). Ein settlement ist laut Garner, Black’s Law Dictionary, Eintrag „settlement“, allgemein „[an] agreement ending a dispute or lawsuit“. Geben beide Parteien nach, spricht man von einem compromise oder compromise and settlement, vgl. Garner, Black’s Law Dictionary, Eintrag „compromise“. 319 Vgl. für die deutsche Rechtslage die Legaldefinition in § 779 Abs. 1 BGB.
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eine sachliche Rechtfertigung gäbe. Gruppenverfahren beruhen im Ansatz auf der Überlegung, dass die Gruppenmitglieder gemeinsame Interessen haben und ihre Ansprüche daher gemeinsam beurteilt werden können. Selbstverständlich kann eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein, etwa wenn im Rahmen des damage scheduling unterschiedliche Schadenskategorien jeweils mit voneinan‑ der abweichenden Ersatzleistungen bedacht werden.320 Es widerspricht aber dem Grundgedanken eines Gruppenverfahrens, die Gruppenmitglieder ohne nachvollziehbare Begründung unterschiedlich zu behandeln, zumal wenn eine vorhergehende Zulassungsentscheidung bereits einen hohen Grad an Homoge‑ nität der Gruppe gewährleistet. Auch der Zeitpunkt der Auszahlung kann Kon‑ fliktpotential bergen: Es ist möglich, dass ein Teil der Gruppe über ein Interes‑ se daran verfügt, dass ein – verhältnismäßig geringer – Gesamtbetrag sofort ausgezahlt wird, während für ein anderen Teil eine auf einen längeren Zeit‑ raum verteilte oder spätere und dabei insgesamt höhere Zahlung vorzugswür‑ dig ist.321 Der Richter, der über die Genehmigung eines Vergleichs entscheidet, muss sich also damit auseinandersetzen, ob es im Einzelfall gerechtfertigt sein kann, verschiedene Gruppenmitglieder unterschiedlich beziehungsweise Grup‑ penmitglieder, die über unterschiedliche Ausgangsbedingungen verfügen, in dieser Hinsicht gleich zu behandeln. Sieht man den Zweck des Genehmigungserfordernisses in erster Linie darin die repräsentierten Gruppenmitglieder zu schützen, muss allerdings berücksich‑ tigt werden, ob ein „Mehr“ für eine Untergruppe automatisch auch ein „Weni‑ ger“ für eine andere Untergruppe bedeutet. Auch wenn man davon ausgeht, dass die aufgrund des Vergleichs zahlungsverpflichtete Partei mit einer einheitlichen Maximalsumme kalkuliert,322 kann man fragen, ob ein Vergleich, der einer Un‑ tergruppe für sich genommen eine angemessene Ersatzleistung gewährt, deswe‑ gen negativ zu beurteilen ist, weil eine andere Untergruppe einen zusätzlichen Bonus erhält.323
b) Die Art der Abhilfe Innerhalb der Gruppe können unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, welche konkreten Abhilfemaßnahmen ergriffen werden sollen. Anschauungs‑ material bieten hier vor allem amerikanische „institutional reform“ class ac‑ tions im Kontext von Bürgerrechten und Diskriminierung. Oftmals wird hier gruppenintern nur eine sehr allgemeine Übereinstimmung bestehen, dass ein bestimmter Zustand unhaltbar sei, die sich jedoch nicht auf die möglichen Ab‑ 320 Vgl.
Eichholtz, Class Action, S. 164. Coffee, 100 Col. L. Rev. 370, 389 (2000); Puckett, 77 Tex. L. Rev. 1271, 1293 (1999). 322 Siehe oben in einem anderen Zusammenhang, S. 121. 323 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.57 f. betrifft letztlich diese Problematik ohne sie beim Namen zu nennen. 321
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Zweiter Teil: Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle
hilfemaßnahmen erstreckt. Historisch konnte etwa in Fällen, die die Deseg‑ regierung von Schulen betrafen, Uneinigkeit darüber bestehen, ob es vorzuzie‑ hen ist, verschiedene Bevölkerungsgruppen – etwa durch Transfer von Schülern mittels eines Bussystems – stärker zu durchmischen oder umgekehrt einer be‑ stimmten Minderheit die Kontrolle über die Schulen in deren angestammtem Stadtviertel zu geben. Auf ähnliche Weise können die individuellen Interessen von Gefängnisinsassen zwischen der Verlegung in eine andere Haftanstalt nach Schließung der jetzigen und der Verbesserung der Haftbedingungen vor Ort va‑ riieren.324 Wenn es hingegen – wie in den meisten Verfahren – von vornherein nur um eine Abfindung in Geld oder geldwerten Leistungen geht, wird die Art der Kompensation seltener problematisch sein. Allerdings gibt es auch in diesem Zusammenhang einen typischen Konflikt, wenn die Ersatzleistung in Form von Gutscheinen erfolgen soll.325 So hing der individuelle Nutzen der in dem bereits genannten Verfahren In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Pro‑ ducts Liability Litigation angebotenen Gutscheine nicht zuletzt aufgrund ihrer beschränkten Geltungsdauer stark von den finanziellen Möglichkeiten der ein‑ zelnen Gruppenmitglieder ab.326 Geschädigte, die während der Geltungsdauer des Gutscheins nicht über hinreichende finanzielle Mittel verfügten – sei es weil sie finanziell dauerhaft schlecht gestellt waren oder weil sie als Großeinkäufer in einem bestimmten Zeitraum nur über ein im Vorhinein festgelegtes Budget verfügten beziehungsweise vergaberechtlichen Beschränkungen unterlagen – wurden schlechter gestellt.327
4. Dritte Konstellation: Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Ersatzleistungen Eine im Vergleich zugesagte hohe Ersatzleistung hilft den Gruppenmitgliedern wenig, wenn sie sie faktisch nicht in Anspruch nehmen können. Auch unange‑ messen strikte Leistungsmodalitäten können daher einen Mangel eines Ver‑ gleichs darstellen.328 Ein Beispiel sind etwa Regelungen, die prohibitive An‑ forderungen an Nachweise zur Geltendmachung von Ansprüchen mit einer Bestimmung kombinieren, dass nicht in Anspruch genommene Mittel auf die‑ jenigen verteilt werden, die ihre Ansprüche geltend machen. Auf diese Weise 324 Rhode, 34 Stan. L. Rev. 1183, 1189 f. (1982); ähnliche Probleme ergäben sich in ar‑ beitsrechtlichen Fällen, etwa wenn es um die Wahl zwischen Nachzahlung von Gehalt und Änderungen für die Zukunft gehe. 325 Vgl. In re Corn Derivatives Antitrust Litigation, 748 F. 2d 157, 163 (3d Cir. 1984); Puckett, 77 Tex. L. Rev. 1271, 1293 (1999). 326 Siehe dazu bereits oben S. 155. 327 In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 808 (3d Cir. 1995). 328 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13.58.
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werden etwa in Kapitalmarktsachen Inhaber kleinerer Ansprüche gegenüber in‑ stitutionellen Investoren diskriminiert.329
V. Schlussfolgerungen Bei allen Formen des repräsentationsbasierten kollektiven Rechtsschutzes be‑ steht die Gefahr von Interessenkonflikten. Die Repräsentanten verfügen immer über Spielräume, die die Repräsentierten entweder nicht effektiv kontrollieren können oder aber zumindest faktisch aus rationaler Apathie nur unzureichend überwachen. Durch eine gewissenhafte Auswahl der Repräsentanten lassen sich die Risiken des Repräsentationsverhältnisses nicht vollends ausräumen, jeden‑ falls nicht ohne die Effektivität des Verfahrens erheblich zu beeinträchtigen. Die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen stellt daher ein zusätzliches aus‑ gleichendes Moment dar, um gewisse wirtschaftliche Anreize für die Akteure zu erlauben.330 Auch wenn konkrete Missbrauchsanreize etwa beim KapMuG weniger stark ausgeprägt sind als bei der class action, bedeutet das nicht auto‑ matisch, dass für die Gruppenmitglieder nachteilige Ergebnisse ausgeschlos‑ sen sind. Die Zielsetzung der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs geht im Übrigen darüber hinaus, bewussten Missbrauch zu verhindern. Das Problem ist, dass es im Einzelfall zu Interessenkonflikten kommen kann, die nicht ein‑ mal bewusst wahrgenommen werden müssen und nicht durch andere Schutz‑ mechanismen abgefedert werden – man sollte jedoch nicht der Fehlvorstellung anhängen, dass die Lösungen, die Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz bie‑ ten, zwangsläufig defizitär wären. So soll etwa bei der class action zumindest im Hinblick auf die Verletzung berufsständischer Pflichten eine abnehmende Tendenz erkennbar sein.331 Tatsächlich geht es darum, die seltenen problema‑ tischen Einzelfälle auszusieben und so allgemein ein hohes Qualitätsniveau bei Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Die untersuchten Rechtsordnungen stehen daher vor dem Regelungspro‑ blem, abstrakte Maßstäbe formulieren zu müssen, anhand derer ein Gericht im Einzelfall mögliche Fehler identifizieren kann. Ihnen stellen sich also folgende Ausgangsfragen: Wie stellt man fest, dass (1) die vereinbarte Lösung nicht in‑ teressengerecht ist, (2) ein Teil der Gruppenmitglieder benachteiligt wird oder (3) unangemessene Hindernisse für die Geltendmachung von Ansprüchen be‑ stehen? Im folgenden Abschnitt wird untersucht werden, inwiefern die Zusam‑ menstellung von Kriterienkatalogen hierbei weiterhilft. 329 Coffee, 110 Col. L. Rev. 288, 330 Vgl. im Kontext des WCAM
326 f. (2010). Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbands‑
kläger, S. 174. 331 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 19.1; auch Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 954 ff. (insb. 959) (2010) hält das Missbrauchspotential für überbewertet (aller‑ dings aus der Perspektive eines Klägeranwalts).
Dritter Teil
Das Gericht als Kontrollinstanz
§ 6: Die Kriterienkataloge I. Angemessenheit als unbestimmter Rechtsbegriff Gemäß Rule 23 (e) (2) FRCP („fair, reasonable, and adequate“) sowie § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO (beide: „angemessene gütliche Bei‑ legung“) beruht der Prüfungsmaßstab, nach dem ein Vergleich in den USA und in Deutschland zu beurteilen ist, auf Überlegungen zu dessen Angemessenheit und Fairness. Das niederländische Recht verzichtet zwar darauf, dem Krite‑ rienkatalog in Art. 7:907 Abs. 3 BW eine solche allgemeine Umschreibung des Prüfungsprogramms vorwegzustellen. Jedoch verweist es mit Blick auf den zentralen Punkt der Höhe der Ersatzleistungen in Art. 7:907 Abs. 3 lit. b BW („redelijk“) ebenfalls auf den Gesichtspunkt der Angemessenheit. Diese Regelungen implizieren, dass das mit der Kontrolle eines Vergleichs befasste Gericht eine Wertungsentscheidung trifft. Im Anschluss an den Regie‑ rungsentwurf zur Reform des KapMuG von 20121 wird für das deutsche Recht dabei verschiedentlich von einem gerichtlichen Ermessen gesprochen.2 Diesen Begriff sollte man jedoch vozugsweise nur im übertragenen Sinne verstehen, nicht aber als rechtsdogmatische Kategorisierung. Der Regierungsentwurf zur Musterfeststellungsklage verzichtet mit Recht darauf ihn zu verwenden.3 Das zuständige Gericht muss einen Vergleich immer dann genehmigen, wenn es ihn für angemessen hält; weitergehende Entscheidungsfreiheit im Sinne eines Er‑ messens mit Blick auf die Rechtsfolge hat es nicht.4 Dies legt schon die sprach‑ liche Fassung der beiden Vorschriften nahe, die jeweils ein Konditionalpro‑ gramm formuliert („Das Gericht genehmigt den Vergleich […], wenn“).5 Das Gericht verfügt vielmehr lediglich über einen Beurteilungsspielraum bei der Subsumtion unter den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit.6 Ge‑ 1 2
RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. So zum KapMuG Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 5; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 4; von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 132; relativierend Halfmeier, DB 2012, 2145, 2150, der die Pflichtbindung des Ermessens hervorhebt; vgl. zur Musterfest‑ stellungsklage Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91. 3 Vgl. RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 27 f. 4 Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 40. 5 Eingehend zu den Anforderungen an die Einräumung von Ermessen im Zivilprozess‑ recht Stickelbrock, Richterliches Ermessen, S. 292 ff. 6 Vgl. Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 39; Wigand, ZBB/
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nauso wie bei anderen unbestimten Rechtsbegriffen wie Treu und Glauben, den guten Sitten oder der Zumutbarkeit ist dieser Spielraum für die Frage des Um‑ fangs der Überprüfung in der Revisionsinstanz von Bedeutung.7 Ein Beschluss, mit dem ein Vergleich genehmigt wird, ist in Deutschland allerdings gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 3 S. 3 ZPO unanfechtbar. Vor diesem Hintergrund kann man nachvollziehen, dass es Halfmeier letztlich für „müßig“ hält sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Gerichte nun eine Ermessenentscheidung treffen oder einen unbestimmten Rechtsbegriff aus‑ füllen.8 Auch inhaltlich steht in Deutschland auf einer abstrakten Ebene nicht fest, was genau unter dem Begriff der Angemessenheit eines Vergleichs zu verstehen ist. Teilweise wird die Angemessenheitsprüfung mit einer Rechtmäßigkeits‑ prüfung kontrastiert, über die sie hinausgehen soll.9 Andere charakterisieren sie dagegen als „grobmaschige Missbrauchskontrolle am Maßstab der §§ 138, 242 BGB“ und scheinen damit eine geringere Kontrollintensität anzunehmen.10 Teilweise wird auch eine Parallele zu den Regelungen der AGB‑Kontrolle gese‑ hen.11 Gleichwohl ist es deutschen Zivilgerichten in anderen Zusammenhängen nicht fremd, sich mit Fragen der Angemessenheit, Billigkeit oder Verhältnis‑ mäßigkeit beschäftigen zu müssen.12 Sie haben auch Erfahrung damit zu beur‑ teilen, wann was für ein Vergleichsvorschlag angemessen ist.13 Die umfassen‑ de Wertungsentscheidung, die die Kontrolle eines Vergleichs dem zuständigen Gericht abverlangt, ist auch im deutschen Recht an den spezifischen Zweck‑ setzungen und Bedingungen des Genehmigungserfordernisses auszurichten. Wie bereits dargelegt wurde, soll die richterliche Kontrolle von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz die Interessen der repräsentierten Gruppenmitglieder wahren.14 Das spricht dafür, dass ihre Prüfungsintensität im deutschen Recht über den Maßstab von §§ 134, 138, 242 BGB hinausgeht. Andernfalls bestände JBB 2012, 194, 203. Eingehend zur Unterscheidung von Ermessen und unbestimmten Rechts‑ begriff Stickelbrock, Richterliches Ermessen, S. 274 ff. 7 Vgl. etwa Heßler, in: Zöller, ZPO, § 546 Rn. 12. 8 Vgl. Halfmeier, in: Prütting/Gehrlein, KapMuG, § 18 Rn. 2. 9 So zur Musterfeststellungsklage Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 90; Waßmuth/ Asmus, ZIP 2018, 657, 664. Vgl. zum KapMuG Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 7, nach dem die „allgemeine Missbrauchskontrolle“ gem. §§ 138, 242 BGB offenbar neben der Angemessenheitsprüfung stehen soll. 10 So zum KapMuG Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 5; Wigand, AG 2012, 845, 850; ähnlich von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 411. 11 So Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91. 12 So Wigand, AG 2012, 845, 850, der dabei auf §§ 315 Abs. 3, 343 BGB, 89b HGB, § 87 Abs. 2 AktG, § 179a AktG, §§ 796a Abs. 3, 1053 Abs. 1 S. 2 ZPO, §§ 248 ff. InsO, § 156 Abs. 2 FamFG und §§ 1643, 1821, 1822, 1908i Abs. 1 S. 1, 1915 Abs. 1 S. 1, 1960 Abs. 2 BGB ver‑ weist. 13 Halfmeier, DB 2012, 2145, 2149 f. 14 Siehe oben S. 53 ff.
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kein Unterschied zur Prüfungstiefe bei § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO,15 obwohl diese Norm nicht eine solche Schutzfunktion erfüllt. Im Folgenden wird das Modell untersucht, den Prüfungsmaßstab für die Genehmigungsentscheidung anhand von Kriterienkatalogen zu umreißen.
II. Präzisierung durch Kriterienkataloge Von den hier untersuchten Verfahrensformen geben das WCAM in Art. 7:907 Abs. 3 BW und seit Dezember 2018 auch die class action in Rule 23 (e) (2) FRCP einen mehr oder weniger detaillierten gesetzlichen Kriterienkatalog vor. Die amerikanische Rechtsprechung hat sich indessen vor dem Hintergrund der alten Fassung der Regelung entwickelt, die lediglich bestimmte, dass ein Ver‑ gleich „fair, reasonable, and adequate“ sein müsse. Im Manual for Complex Litigation findet sich zwar ein Versuch, diese Begriffe zu definieren und von‑ einander abzugrenzen.16 Die Rechtsprechung hat jedoch von Anfang an Krite‑ rienkataloge formuliert und so der richterlichen Überprüfung eines Vergleichs eine Struktur gegeben, die sich aus dem bisherigen Wortlaut der Vorschrift nicht ohne weiteres erschließt.17 Im deutschen Recht machen § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO nur die unbestimmte Vorgabe, dass ein Vergleich eine „angemessene gütliche Beilegung“ der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten oder des Streits über die angemeldeten Ansprüche darstellen müsse. Die Vorgabe von Soll-Inhalten in § 17 Abs. 2 KapMuG und § 611 Abs. 2 ZPO trägt hingegen kaum dazu bei diesen Angemessenheitsmaßstab zu konkretisieren. Die gesetzlichen Kriterienkataloge in den Niederlanden und den USA ent‑ halten ebenso wie die von der amerikanischen Rechtsprechung geschaffenen Kataloge jeweils verschiedene Faktoren, die verschiedene Gesichtspunkte be‑ zeichnen, die ein Richter bei seiner Genehmigungsentscheidung berücksich‑ tigen muss. Bei ihrem Versuch, die Rechtsprechung in den USA und Kanada zu systematisieren, hat Piché drei Kategorien gebildet, denen sich die meisten dieser Faktoren zuordnen lassen.18 Sie passen auch im Kontext des niederlän‑ 15 16
Siehe dazu oben S. 33. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.62 („Fairness calls for a comparative anal‑ ysis of the treatment of class members vis-à-vis each other and vis-à-vis similar individuals with similar claims who are not in the class. Reasonableness depends on an analysis of the class allegations and claims and the responsiveness of the settlement to those claims. Adequa‑ cy of the settlement involves a comparison of the relief granted relative to what class members might have obtained without using the class action process.“). Vgl. auch Lessard v. City of Allen Park, 372 F. Supp. 2d 1007 (E. D.Mich. 2005) für eine der wenigen Entscheidungen, die anhand des Gesetzeswortlauts strukturiert sind. 17 Vgl. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 211. 18 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 187 ff. Ein anderer Ansatz wäre es, die verschiedenen von den Gerichten geprüften Faktoren danach anzuordnen, ob sie sich jeweils auf die Begriffe „fair“, „reasonable“ oder „adequate“ beziehen, vgl. Anderson/Trask, Class Ac‑
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
dischen und des deutschen Rechts. Eine erste Kategorie von Kriterien bezeich‑ net Piché als „Intrinsic Factors of Substantive Fairness“; damit meint sie solche Faktoren, die unmittelbar die Inhalte des Vergleichs in den Blick nehmen und sie in Bezug zum Verfahren setzen.19 Sie umfassen vor allem eine Bewertung der Risiken, die damit verbunden sind, einen Rechtsstreit in der Hauptsache zu führen, sowie eine Abschätzung der voraussichtlichen Kosten, Dauer und Kom‑ plexität des Verfahrens. Die Faktoren der zweiten Kategorie umschreibt Piché als „Extrinsic Factors of Substantive Fairness“; es geht dabei um Gesichtspunk‑ te die mittelbar einen Schluss auf die Fairness des Vergleichs erlauben sollen. Berücksichtigt werden insofern die Reaktionen der Gruppenmitglieder sowie der Anwälte und besonders qualifizierter Dritter.20 Die Faktoren der dritten Ka‑ tegorie haben prozessuale Aspekte zum Gegenstand:21 In diesen Zusammen‑ hang gehören etwa der Ablauf der Vergleichsverhandlungen und der Stand des Verfahrens zum Zeitpunkt der Übereinkunft der Parteien. Die hier aufgezählten Beispiele sind keinesfalls abschließend; in Rechtsprechung und Literatur wer‑ den noch andere Kriterien genannt.22 Im Folgenden soll zunächst dargestellt werden, welchen Inhalt die Kriterien‑ kataloge haben, die in den untersuchten Verfahrensformen Anwendung finden (III.). Mit Blick auf die USA wird zunächst die bisherige Praxis erörtert, da sich die Neuregelung nur vor deren Hintergrund erschließt. Sodann wird zu ermit‑ teln versucht, welche Bedeutung den zentralen Wertungen, die in diesen Krite‑ rienkatalogen enthalten sind, im Hinblick auf die Risiken zukommt, die in § 5 dieser Untersuchung identifiziert wurden (IV.). Dabei wird die soeben beschrie‑ bene Einteilung in drei Kategorien zugrunde gelegt: Zuerst werden die inhalt‑ lichen Kriterien behandelt, dann die an Meinungsäußerungen von Beteiligten oder Dritten anknüpfenden Kriterien und schließlich die auf den Entstehungs‑ prozess des Vergleichs bezogenen Kriterien. Bezugspunkt dieser Kriterien kön‑ nen jeweils alle drei oben in § 5 IV dieser Untersuchung genannten Konstella‑ tionen sein. Die einzelnen Kriterien lassen sich nicht zuverlässig jeweils einer dieser Konstellationen zuordnen. Vielmehr bieten sie unterschiedliche Perspek‑ tiven auf die Hintergründe von denkbaren Mängeln.
tion Playbook, § 8.02[2], die allerdings nur einzelne Gesichtspunkte einbeziehen und auf eine umfassende Analyse der Rechtsprechung verzichten; ähnlich auch Macey/Miller, 1. J. Legal Anal. 167, 177 ff. (2009). 19 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 187. 20 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 191. 21 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 195 spricht von den „Procedural Con‑ cerns about the Proposed Settlement“. 22 Vgl. für die class action nur Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.62; Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:48.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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III. Überblick über die vorhandenen Kriterienkataloge 1. Die class action a) Die Datenlage23 aa) Überblick Die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen ist bei der class action in hohem Maße auf den Einzelfall bezogen. Die Courts of Appeals ermahnen die Richter der Tatsacheninstanz zwar regelmäßig zu einem hohen Maß an Wachsamkeit.24 Sie räumen ihnen dabei aber einen äußerst breiten Entscheidungsspielraum ein und überprüfen ihre Urteile nur anhand eines „abuse of discretion“-Standards.25 Dementsprechend lassen sich von der obergerichtlichen Rechtsprechung keine verbindlichen Leitlinien erwarten, die vorgeben, wie einzelne Situationen im Detail zu entscheiden sind. Gleichwohl haben die meisten Courts of Appeals jeweils einen Kriterienkatalog aufgestellt, anhand dessen beurteilt werden soll, ob ein Vergleich wie von Rule 23 (e) FRCP gefordert „fair, reasonable, and ade‑ quate“ ist. Sie müssen sich von Zeit zu Zeit mit einschlägigen Fällen befassen, da den Gruppenmitgliedern, deren Einwendungen nicht berücksichtigt wurden, Rechtsmittel gegen die richterliche Genehmigung eines Vergleichs offen ste‑ hen, und sind daher in der Lage, solche Kataloge zu formulieren.26 Der U. S. Supreme Court hat dagegen die Materie nie umfassend in einer Entscheidung geklärt. Auch das Advisory Committe hatte noch im Jahre 2003 bei der Reform von Rule 23 FRCP mit Bedacht einen frühen Entwurf aufgegeben, der von Ge‑ setzes wegen eine umfassende Liste von Faktoren vorgeben wollte. Es sah dies als den sichersten Weg an, um zu verhindern, dass die Gerichte eine solche Aufzählung als abschließend betrachten. Auch war es besorgt, dass diese me‑ chanisch angewendet würde und der Entwicklung neuer Faktoren im Wege der fallrechtlichen Rechtsfortbildung abträglich sein könnte.27 Nunmehr präzisiert Rule 23 (e) (2) FRCP indessen seit Dezember 2018 die Kriterien dafür, wann ein Vergleich „fair, reasonable, and adequate“ ist.28 Allerdings beschränkt sich der neue Passus der Norm darauf wenige, allgemein gehaltene Kriterien zu nennen und vermeidet bewusst einen zu großen Detailgrad. Er baut ausdrücklich auf der bisherigen Rechtsprechung auf und soll helfen diese zu konsolidieren und 23 Vgl. zu den Schwierigkeiten eines empirischen Vorgehens im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes auch Falla, The Role of the Court in Collective Redress Litigation, S. 15 ff. 24 Vgl. Reynolds v. Beneficial National Bank, 288 F. 3d 277, 279 (7th Cir. 2002) (betont die Notwendigkeit, die Mitglieder der class vor dem finanziellen Eigeninteresse ihrer Anwälte zu schützen). 25 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:47. 26 Devlin v. Scardelletti, 536 U. S. 1, 10 (2002). 27 Vgl. Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 385 (2005). 28 Vgl. Advisory Committee on Civil Rules, Agenda Book 2016/04, S. 97 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
zu vereinheitlichen. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bil‑ den daher die Kataloge der Courts of Appeals. Es soll versucht werden, zumin‑ dest kursorisch darzustellen, wie sie auf Bundesebene in die untergerichtliche Rechtsprechung einfließen.
bb) Sekundärquellen Die Rechtsprechung zur class action und insbesondere zur richterlichen Geneh‑ migung von Vergleichen wurde bislang nur bruchstückhaft empirisch erfasst. Es gibt keine Studien, die ihren in den letzten Jahrzehnten angehäuften Gesamt‑ bestand auch nur annähernd lückenlos auswerten. Selbst grundlegende Fragen, wie etwa nach der Anzahl und den Themenbereichen von class actions sind weitgehend ungeklärt. Niemand weiß genau, wie viele class actions die Hürde der certification nehmen, wie viele verglichen und wie viele streitig entschieden werden.29 Dem Anspruch, die Sachlage umfassend zu beleuchten, steht dabei neben der schieren Menge an Entscheidungen ein weiteres Hindernis entgegen: Im Kontext von class actions bleibt vieles schon deswegen völlig „unter dem Radar“, weil es zu zahlreichen Verfahren keine veröffentlichten Entscheidun‑ gen gibt.30 Einen weiteren Vorbehalt erzwingt die starke subjektive Prägung der einzelnen Entscheidungen. Den Richterpersönlichkeiten, ihren Vorlieben und ihrem individuellen Stil kommt eine ganz erhebliche Bedeutung zu, was die Bildung von abstrakten Kategorien zumindest erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht.31 Die vorhandenen Studien, die empirische Daten sammeln und auswerten, sind gleichwohl wertvolle Quellen – auch und gerade sofern sie dabei lediglich auf das nicht zwingend repräsentative Reservoir an veröffent‑ lichten Entscheidungen zurückgreifen, denn diese werden auch der Rechtspra‑ xis primär als Quelle zur Verfügung stehen.32 So versucht Fitzpatrick, sämtli‑ che einschlägigen Entscheidungen der amerikanischen Bundesgerichte aus dem Zeitraum von Anfang 2006 bis Ende 2007 in seine Studie einzubeziehen.33 Er nimmt dabei die Höhe der Vergütung der class counsel in den Fokus und be‑ rücksichtigt nach eigener Aussage auch Verfahren, in denen keine Entschei‑ dungen veröffentlicht wurden. Weitere Studien analysieren ebenfalls die An‑ 29 Vgl. Moore, Statement i. R. d. Anhörung bzgl. „The State of Class Actions Ten Years after the Class Action Fairness Act“, S. 12 ff.; allgemein auch Hensler u. a., Class Action Di‑ lemmas, S. 52. Siehe aber oben S. 9 f. zu Studien, die sich ausschnittsweise mit dieser Fra‑ gestellung befassen. 30 So jedenfalls damals Mullenix, 57 Vand. L. Rev. 1687, 1743 (2004), die i. Ü. darauf hin‑ weist, dass empirische Studien über class actions allgemein nur schwer durchführbar und ggf. von beschränkter Aussagekraft sind. Vgl. auch Eisenberg/Miller, 1 J. Empir. Legal Stud. 27, 45 f. (2004). 31 Vgl. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 22 f. 32 Vgl. Eisenberg/Miller, 7 J. Empir. Legal Stud. 248, 253 (2010) (zur Festlegung des An‑ waltshonorars). 33 Fitzpatrick, 7 J. Empir. Legal Stud. 811 (2010).
§ 6: Die Kriterienkataloge
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waltsvergütung, teilweise beschränkt auf securities class actions,34 teilweise umfassender35 – allerdings nur auf Grundlage der in den einschlägigen Daten‑ banken verfügbaren Entscheidungen. Auch wenn sie sich mit Vergleichen von class actions beschäftigen, haben all diese Studien jedoch gemeinsam, dass sie nicht auf die Kriterien eingehen, die angewendet werden, um zu beurteilen, ob ein solcher „fair, reasonable, and adequate“ ist. Dieser Frage widmet hingegen die breit angelegte Untersuchung von Piché ihre Aufmerksamkeit, wobei sie sich vor allem auf Interviews mit Richtern stützt.36 Ihr Datensatz stammt je‑ doch fast ausschließlich aus Kanada, Quellen aus den USA berücksichtigt sie nur am Rande.37 In der Kommentarliteratur zu Rule 23 FRCP bietet vor allem die Darstellung von Rubenstein einen umfassenden Überblick.38 Es handelt dabei aber nicht um eine umfassende rechtstatsächliche Studie zur Entscheidungspraxis der Tat‑ sacheninstanz. Sie greift vielmehr überwiegend auf Urteile der verschiedenen Courts of Appeals zurück, die man angesichts des Umstandes, dass sie häu‑ fig zitiert werden, wohl als die maßgeblichen Leitentscheidungen bezeichnen kann. Die vorliegende Untersuchung übernimmt die von Rubenstein genannten Beispiele, um die Rechtsprechung der Courts of Appeals darzustellen. Das Manual for Complex Litigation geht ebenfalls auf die Maßstäbe der richterlichen Kontrolle von Vergleichen ein.39 Zuletzt finden sich auch in § 3.05 der Principles of Aggregate Litigation Kriterien für die Genehmigungs‑ entscheidung, wobei diese auch einen Vorschlag für eine Fortentwicklung des Rechts darstellen.40
cc) Primärquellen Aus den bereits genannten Gründen sind gewisse Vorbehalte angebracht, wenn man auf einzelne Entscheidungen der District Courts als Primärquellen zurück‑ greift. Im Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich, die aus der zumin‑ dest unklaren Veröffentlichungspraxis resultierenden Probleme methodisch be‑ friedigend zu lösen. Dennoch soll versucht werden, die weiteren Ausführungen auch auf Beispiele aus der Rechtsprechung der Tatsacheninstanz zu stützen. Diese haben freilich wenigstens zu einem gewissen Grade eher illustrativen 34 35
Baker/Perino/Silver, 66 Vand. L. Rev. 1677 (2013). Eisenberg/Miller, 1 J. Empir. Legal Stud. 27 (2004) für den Zeitraum von 1993–2002; Eisenberg/Miller, 7 J. Empir. Legal Stud. 248 (2010), Fortschreibung der soeben genannten Studie bis 2008. 36 Piché, Fairness in Class Action Settlements. 37 Von den 17 von ihr interviewten Richtern sind 16 an kanadischen Gerichten tätig und nur einer an einem US Federal Court, vgl. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 331, Table II. 38 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:48 ff. 39 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61. 40 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Charakter und erheben keinesfalls den Anspruch, die Rechtslage in den USA umfassend zu beschreiben. Es handelt sich vielmehr um eine zwar umfangrei‑ che, aber nicht zwingend repräsentative Stichprobe. Als Ausgangspunkt für die Untersuchung wurden zu diesem Zweck sämtli‑ che einschlägigen Entscheidungen der amerikanischen Federal District Courts aus dem Jahr 2014 ermittelt, die im Wege einer Recherche in Westlaw zugäng‑ lich sind.41 Nach Sichtung des Datensatzes wurden schließlich 116 Entschei‑ dungen42 identifiziert, die die vorläufige und 160, die die endgültige Geneh‑ migung eines Vergleichs im Rahmen einer bundesrechtlichen class action nach Rule 23 FRCP betreffen. Die Gerichte verweigerten dabei 25 Mal – also in 22 % der Fälle – das preliminary approval; das final approval gewährten sie hingegen allenfalls nur ein einziges Mal nicht.43 Diese Untersuchung bedient sich zur Il‑ lustration vielfach dieser Entscheidungen und ergänzt sie mit anderen, soweit dies tunlich erscheint. Auch eine weitere Recherche spricht dafür, dass Ent‑ scheidungen, die das final approval versagen, extrem selten sind.44 41 Im Rahmen dieser Recherche wurden verschiedene Suchbegriffe kombiniert, um die maßgeblichen Entscheidungen möglichst umfassend zu ermitteln. Im Ausgangspunkt stand die Überlegung, dass eine Entscheidung zumindest ihren Gegenstand und den gesetzlichen Prüfungsmaßstab nennen wird, daher der Suchbegriff: „advanced: (‚class action‘ & settlement & ‚fair, reasonable, #and adequate‘) & DA(aft 12–31–2013 & bef 01–01–2015)‘. Es zeigte sich, dass die gesetzlichen Kriterien bisweilen in abweichender Reihenfolge zitiert werden, daher zusätzlich: ‚advanced: (‚class action‘ & settlement & ‚fair, adequate, #and reasonable‘) & DA(aft 12–31–2013 & bef 01–01–2015) % ‚fair, reasonable, #and adequate‘. Teilweise verzichten die Gerichte auch ganz darauf, den Gesetzeswortlaut von Rule 23 (e) (2) FRCP zu zitieren, nennen aber zumindest die Begriffe ‚final approval‘ oder ‚preliminary approval‘, daher: ‚advanced: (‚class action‘ & settlement & ‚final approval‘) & DA(aft 12–31–2013 & bef 01–01–2015) % ‚fair, reasonable, #and adequate‘ % ‚fair, adequate, #and reasonable‘‚ und ‚advanced: (‚class action‘ & settlement & ‚preliminary approval‘) & DA(aft 12–31–2013 & bef 01–01–2015) % ‚fair, reasonable, #and adequate‘ % ‚fair, adequate, #and reasonable‘ % ‚final approval‘“. Entscheidungen, die den Begriff „final approval“ enthalten, wurden im letzt‑ genannten Suchbegriff ausgenommen, da sie schon von dem zuvor genannten Suchbegriff erfasst werden. Die so ermittelten Entscheidungen wurden gesichtet und getrennt danach ka‑ talogisiert, ob sie das final oder das preliminary approval betreffen, nachdem Dokumente aus‑ sortiert wurden, die keine Entscheidung über die vorläufige oder endgültige Genehmigung eines Vergleichs einer class action enthalten. 42 Ohne Berücksichtigung von sog. „Reports & Recommendations“, die nur eine Vorstufe zu der eigentlichen Entscheidung darstellen. 43 Und zwar möglicherweise in Stewart v. USA Tank Sales and Erection Co., Inc., 2014 WL 836212 (W. D. Mo. 2014). Aus dieser Entscheidung geht jedoch nicht klar hervor, ob sie sich auf das preliminary oder das final approval bezieht. Ein Indiz dafür, dass hier lediglich das preliminary approval versagt wurde, bietet der Umstand, dass die Entscheidung nicht erwähnt, dass ein fairness hearing stattgefunden habe. 44 Bei der Recherche in Westlaw besteht das Problem, dass sich die ablehnenden Ent‑ scheidungen nicht zuverlässig und treffsicher durch die Wahl entsprechender Suchbegriffe auf‑ finden lassen. Bei einer kursorischen Recherche ohne eine Beschränkung des Recherchezeit‑ raums förderten verschiedene Suchbegriffe lediglich die folgenden Fälle zutage, in denen ein District Court das final approval wegen mangelnder Fairness eines Vergleichs ablehnte: Sylves‑ ter v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34 (D. Me. 2005); Figueroa v. Sharper Image Corp., 517
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b) Die abschließende Genehmigung (final approval) des Vergleichs aa) Kriterienkataloge in der Praxis der Rechtsprechung (1) Die Vorgaben der verschiedenen U. S. Courts of Appeals und ihre Umsetzung durch die District Courts In den USA haben fast alle Courts of Appeals jeweils einen eigenen Kriterien‑ katalog geschaffen.45 Nur der First Circuit und der D. C. Circuit geben den Dis‑ trict Courts in ihren jeweiligen Bezirken nach eigener Aussage keine derartigen Leitlinien vor.46 Die Kataloge, in denen die Rechtsprechung derartige Kriterien kompiliert, umfassen jeweils zwischen vier47 und neun48 Aufzählungspunkten. Im Folgenden sollen die umfangreichen Kriterienkataloge des zweiten, dritten und neunten Circuits als Beispiele näher dargestellt werden, da die größte Zahl an Genehmigungsentscheidungen aus diesen Bezirken stammt.
(a) Die Grinnell-Faktoren des Second Circuit Die vom Second Circuit schon Anfang der 1970er-Jahre auf Grundlage einer Entscheidung des S.D.N.Y.49 formulierten Grinnell-Faktoren enthalten eine zu‑ mindest von der schieren Anzahl an Faktoren her bemerkenswert umfangreiche Aufstellung. Sie verlangen, dass das Gericht folgendes berücksichtigt: (1) (2) (3) (4) (5) (6)
t he complexity, expense and likely duration of the litigation; the reaction of the class to the settlement; the stage of the proceedings and the amount of discovery completed; the risks of establishing liability; the risks of establishing damages; the risks of maintaining the class action through the trial;
F. Supp. 2d 1292 (S. D. Fla. 2007); Ferrington v. McAfee, Inc., 2012 WL 1156399 (N. D. Cal. 2012); In re Hydroxycut Marketing and Sales Practices Litig., 2013 WL 6086933 (S. D. Cal. 2013); Chavez v. PVH Corporation, 2015 WL 581382 (N. D. Cal. 2015); Allen v. Dairy Farm‑ ers of Am., Inc., 2015 WL 1517400 (D. Vt. 2015); In re American Exp. Anti-Steering Rules An‑ titrust Litig., 2015 WL 4645240 (E. D. N. Y. 2015); Hendricks v. Starkist Co., 2016 WL 692739 (N. D. Cal. 2016); W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 (S.D.N.Y. 2016); Orden v. Scha‑ fer, 2016 WL 6893814 (E. D. Mo. 2017); Marengo v. Miami Research Associates, LLC, 2018 WL 2744606 (S. D. Fla. 2018); für die Ebene der Circuit Courts vgl. In re General Motors Corp. Engine Interchange Litig., 594 F. 2d 1106 (7th Cir. 1979); In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litig., 55 F. 3d 768 (3d Cir. 1995). 45 Vgl. die detaillierten Aufstellungen zu den verschiedenen Katalogen von Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:48 (dort Fn. 3) und Solovy/Marmer/Chorvat/Feinberg, in: Moore’s Federal Practice, § 23.164 [1] (dort Fn. 4). 46 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:48; in den dort aufgeführten Beispie‑ len wendet aber zumindest der D. C. Circuit jedes Mal dieselben Kriterien an, was seine eigene Aussage relativiert. 47 So etwa die „Jones“-Faktoren des 10th Circuit, siehe dazu unten S. 181. 48 So die „Grinnell“-Faktoren des 2d Circuit beziehungsweise die mit ihnen identischen „Girsh“-Faktoren des 3d Circuit, siehe dazu unten S. 175. 49 City of Detroit v. Grinnell Corp., 356 F. Supp. 1380 (S.D.N.Y. 1972).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
(7) t he ability of the defendants to withstand a greater judgment; (8) the range of reasonableness of the settlement fund in light of the best possible reco‑ very; (9) the range of reasonableness of the settlement fund to a possible recovery in light of all the attendant risks of litigation.50
Demzufolge verlässt sich der Second Circuit im Wesentlichen auf Kriterien der ersten Kategorie, also solche, die sich auf den Inhalt des zugrundeliegen‑ den Rechtsstreits beziehen. Dagegen fällt mit Faktor (2) nur ein einziges in die zweite Kategorie. Von den Faktoren der dritten Kategorie, also solchen, die pro‑ zessuale Aspekte betreffen, nennt der Katalog in Gestalt von Faktor (3) ledig‑ lich den Stand des Verfahrens und der discovery. Es geht dabei um die Frage, ob die Parteien des Vergleichs genug über den Fall und seine Hintergründe wuss‑ ten, um eine informierte Entscheidung treffen zu können.51 Jenseits der sozusa‑ gen kanonischen Grinnell-Kriterien berücksichtigen die meisten Entscheidun‑ gen der District Courts – und auch der Second Circuit52 – aber zusätzlich den Ablauf der Vergleichsverhandlungen.53 Die übrigen Kriterien, die im Folgenden beschrieben werden, beziehen sich allesamt auf die materiellen Inhalte des Rechtsstreits. Faktor (1) berücksichtigt die Komplexität, die Kosten und die voraussichtliche Dauer des Verfahrens. Im Mittelpunkt der Genehmigungsentscheidung steht sodann die Frage nach den hypothetischen Erfolgsaussichten des Rechtsstreits, die der Second Circuit zu‑ nächst in den Faktoren (4) bis (6) in verschiedene Gesichtspunkte auffächert. Wie diese im Einzelnen voneinander abgegrenzt werden sollen, bleibt aller‑ dings unklar. In der Praxis fassen die Gerichte die drei Faktoren54 – oder aber zumindest die ersten beiden von ihnen55 – dann auch vielfach in einem einheit‑ lichen Prüfungsschritt zusammen. Schwierig erscheint auch ihre Abgrenzung zu den Faktoren (8) und (9), die von den Gerichten ihrerseits meist als eine Ein‑ heit geprüft werden. Bei beiden Faktorengruppen geht es im Ausgangspunkt um 50 City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 463 (2d Cir. 1974) (im Zitat enthaltene Verweise vom Verf. entfernt). 51 Vgl. City of Providence v. Aeropostale, 2014 WL 1883494 [*6] (S.D.N.Y. 2014); In re Ad‑ vanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 177 (S.D.N.Y. 2014); Guippone v. BH S&B Holding LLC, 2016 WL 5811888 [*6] (S.D.N.Y. 2016); In re Hi-Crush Partners L. P. Securities Litigation, 2014 WL 7323417 [*7] (S.D.N.Y. 2014); Raniere v. Citi‑ group Inc., 310 F.R.D. 211, 218 (S.D.N.Y. 2015); Sinus Buster Products Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*9] (E. D. N. Y. 2014). 52 Wal-Mart Stores, Inc. v. VISA U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 116 f. (2d Cir. 2005). 53 Siehe dazu unten S. 183 f. 54 So etwa Wal-Mart-Stores, Inc. v. VISA USA, Inc., 396 F. 3d 96, 118 (2d Cir. 2005); Dial Corp. v. News Corp., 317 F.R.D. 426, 432 (S.D.N.Y. 2016); In re Sinus Buster Products Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*10] (E. D. N. Y. 2014); U. S. v. New York, 2014 WL 1028982 [*7] (E. D. N. Y. 2014). 55 So etwa In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 177 (S.D.N.Y. 2014); Gay v. Tri-Wire Engineering Solutions, Inc., 2014 WL 28640 [*8] (E. D. N. Y. 2014); Guippone v. BH S&B Holding LLC, 2016 WL 5811888 [*6] (S.D.N.Y. 2016).
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eine Bewertung der Risiken, denen sich die Gruppe gegenübersähe, wenn sie den Rechtsstreit weiterverfolgte. Überwiegend scheinen die District Courts wie folgt zwischen ihnen zu differenzieren: In einem ersten Schritt prüfen sie die Faktoren (4) bis (6), wobei sie die Risiken des Falls benennen und im Hinblick auf ihre Intensität bewerten. Die Formulierungen, die sie in diesem Zusammen‑ hang typischerweise verwenden, sind denkbar allgemeiner Art: Sie stellen etwa fest, dass einem Erfolg der Gruppe „substantial challenges“56 oder „significant legal and factual obstacles“57 entgegenständen. Auch die Gefahr einer „battle of experts“ beschwören sie mitunter, allerdings ohne sich dabei mit den konkreten Streitfragen auseinanderzusetzen.58 Das soll aber nicht heißen, dass die Dar‑ stellung insgesamt vollkommen schematisch wäre; vielmehr gehen die Gerich‑ te durchaus auf die Besonderheiten des jeweils zugrundeliegenden Sachverhalts ein.59 Sie wollen jedoch bewusst nicht über ungeklärte Sach- oder Rechtsfragen entscheiden. Stattdessen heißt es: „the Court need only assess the risks of liti‑ gation against the certainty of recovery under the proposed settlement“.60 Die Grundfrage lautet demnach: Sind die Unsicherheiten für die Gruppe so groß, dass es zumindest grundsätzlich vertretbar erscheint, die sichere Lösung eines Vergleichs der weiteren Rechtsverfolgung vorzuziehen? Das bedeutet im Übri‑ gen nicht, dass an dieser Stelle bereits ein Bezug zu den spezifischen Inhalten des Vergleichs hergestellt würde.61 Das geschieht vielmehr erst in einem zwei‑ ten Schritt im Rahmen der Faktoren (8) und (9). Hier werden dann oft – aber nicht notwendigerweise – auch konkrete Zahlen genannt und zueinander in Re‑ lation gesetzt, nämlich der in Geld ausgedrückte Wert des Vergleichs für die Gruppe und die Schätzung des maximalen Schadens.62 Zentral ist dabei der von den Faktoren (8) und (9) eingeführte Begriff einer range of reasonableness. Ein District Court soll demnach eine Wertungsentscheidung treffen, ob der konkrete Vergleich noch in den Bereich dessen fällt, was man angesichts aller relevanten 56 Dial Corp. v. News Corp., 317 F.R.D. 426, 432 (S.D.N.Y. 2016); vgl. auch Wal-MartStores, Inc. v. VISA USA, Inc., 396 F. 3d 96, 118 (2d Cir. 2005) („no sure thing“); In re HiCrush Partners L. P. Securities Litigation, 2014 WL 7323417 [*6] (S.D.N.Y. 2014) („numer‑ ous hurdles in establishing liability“). 57 In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 177 (S.D.N.Y. 2014). 58 So etwa Sinus Buster Products Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*8] (E. D. N. Y. 2014). 59 Vgl. etwa Dial Corp. v. News Corp., 317 F.R.D. 426, 432 (S.D.N.Y. 2016); In re Ad‑ vanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 178 (S.D.N.Y. 2014). 60 Acevedo v. Workfit Medical LLC, 187 F. Supp. 3d 370, 380 (W. D. N. Y. 2016). 61 Vgl. etwa Guippone v. BH S&B Holdings LLC, 2016 WL 5811888 [*6] (S.D.N.Y. 2016); insofern ist die Formulierung von In re Austrian and German Bank Holocaust Litiga‑ tion, 80 F. Supp. 2d 164, 177 (S.D.N.Y. 2000) und Marisol v. Giuliani, 185 F.R.D. 152, 164 (S.D.N.Y. 1999) möglicherweise missverständlich: „the Court must only weigh the likelihood of success by the plaintiff class against the relief offered by the settlement“ (enthaltene Zitate v. Verf. entfernt). 62 Vgl. etwa Chambery v. Tuxedo Junction Inc., 2014 WL 3725157 [*7] (W. D. N. Y. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Umstände als angemessen oder vernünftig betrachten kann – der Begriff der range of reasonableness umschreibt letztlich diesen Spielraum.63 Abschließend sei der Vollständigkeit halber noch auf Faktor (7) hingewie‑ sen, nach dem die Solvenz des Beklagten eine Rolle für die Genehmigungs‑ fähigkeit des Vergleichs spielen kann. Hinter diesem Kriterium steht letztlich die Überlegung, dass eine eher geringe Ersatzleistung gerechtfertigt sein kann, wenn ein höherer Anspruch ohnehin nicht hätte verwirklicht werden können. Dass die aus dem Vergleich verpflichtete Partei über reichhaltige Finanzmittel verfügt, führt umgekehrt nicht dazu, dass eine im Lichte der anderen Kriterien angemessene Ersatzleistung negativ bewertet werden müsste.64 Es geht damit zwar nicht unmittelbar um den Inhalt des Rechtsstreits, aber doch um die Rea‑ lisierbarkeit seines Ergebnisses, was die Zuordnung zur ersten Kategorie recht‑ fertigt. In manchen Entscheidungen wird überdies deutlich, dass es sich dabei weniger um einen eigenständigen Ansatz zur Bewertung des Vergleichs handelt, sondern in erster Linie um eine Überlegung, die in die Abwägung im Rahmen der Faktoren (8) und (9) einfließen kann.65 Letztendlich hat der Versuch, die Genehmigungsentscheidung präzise in ein‑ zelne Faktoren aufzugliedern, etwas Bemühtes – gerade im Hinblick auf die Faktoren (4) bis (6) sowie (8) und (9). Andererseits kann man dem GrinnellKatalog nicht absprechen, dass er dem Entscheidungsprozess des Gerichts eine Struktur gibt. Der Gedanke, dass er eine Aufreihung klar voneinander trenn‑ barer Prüfungsschritte enthalte, sollte jedoch nicht überstrapaziert werden. Ins‑ gesamt läuft es eher auf eine Gesamtabwägung hinaus; die einzelnen Faktoren beschreiben Elemente, die in diese einfließen. Ihr Grundgedanke lässt sich an‑ hand eines Sprichworts illustrieren: Es geht um die Frage, ob der Spatz, den die Gruppe in Gestalt des Vergleichs in der Hand hat, besser ist als die Taube auf dem Dach, die sie möglicherweise im Wege einer streitigen Entscheidung be‑ kommen könnte.66 Es erscheint daher verständlich, wenn vereinzelte Entschei‑ 63 Frank v. Eastman Kodak Co., 228 F.R.D. 174, 186 (W. D. N. Y. 2005) („The determina‑ tion whether a settlement is reasonable does not involve the use of a mathematical equation yielding a particularized sum.“); Romero v. La Revise Associates, L.L.C., 58 F. Supp. 3d 411, 421 (S.D.N.Y. 2014) („[…] there is no particular number that must be reached for this per‑ centage to be reasonable. Rather, the settlement amount must be located within a range of rea‑ sonableness […]“). Zum abweichenden Ansatz des Seventh Circuit siehe noch unten S. 223. 64 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:49. Für ein Bsp. aus dem Third Circuit vgl. In re Warfarin Sodium Antitrust Litigation, 391 F. 3d 516, 538 (3d Cir. 2004). 65 Vgl. In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litig., 298 F.R.D. 171, 179 (S.D.N.Y. 2014). 66 Im Zusammenhang mit Vergleichen (vor allem von class actions) scheint sich das eng‑ lischsprachige Äquivalent zu diesem Sprichwort bei amerikanischen Gerichten einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen, vgl. Ladd v. Brickley, 158 F. 2d 212, 220 (1st Cir. 1946); Oppenlander v. Standard Oil Co. (Indiana), 64 F.R.D. 597, 624 (D. Colo. 1974); State of W. Va. v. Chas. Pfi‑ zer & Co., 314 F. Supp. 710, 743 (S.D.N.Y. 1970); Coop. v. DIRECTV, Inc., 221 F.R.D. 523, 526 (C. D. Cal. 2004); In re Hi-Crush Partners L. P. Securities Litigation, 2014 WL 7323417 [*6] (S.D.N.Y. 2014).
§ 6: Die Kriterienkataloge
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dungen so weit gehen, die Faktoren (4) bis (6) sowie (8) und (9) von vornherein in einem einzigen Prüfungspunkt zusammenzufassen.67
(b) Die Girsh-Faktoren des Third Circuit und ihre Ergänzung durch die Prudential-Faktoren Der Third Circuit hat die Grinnell-Faktoren unter der Bezeichnung Girsh-Fak‑ toren unverändert übernommen.68 Mit Hinweis auf die Fortentwicklung der class action seit der namensgebenden Entscheidung fügt er seinen Entscheidun‑ gen allerdings – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verfahrenskategorie der mass torts – bisweilen einige weitere Kriterien hinzu, die sogenannten Pru‑ dential-Faktoren, die die folgenden Gesichtspunkte beisteuern: (1) the maturity of the underlying substantive issues, as measured by experience in ad‑ judicating individual actions, the development of scientific knowledge, the extent of discovery on the merits, and other factors that bear on the ability to assess the prob‑ able outcome of a trial on the merits of liability and individual damages; (2) the existence and probable outcome of claims by other classes and subclasses; (3) the comparison between the results achieved by the settlement for individual class or subclass members and the results achieved – or likely to be achieved – for other claimants; (4) whether class or subclass members are accorded the right to opt out of the settle‑ ment; (5) whether any provisions for attorneys’ fees are reasonable; (6) and whether the procedure for processing individual claims under the settlement is fair and reasonable.69
Fünf dieser zusätzlichen Faktoren fallen demnach in die erste Kategorie: Der Faktor (1) unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Frage, in welchem Maße der Sachverhalt bereits aufgeklärt wurde, die Faktoren (2) und (3) dieje‑ nige der Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits. Die Prudential-Faktoren gehen dabei in einer Hinsicht über die Girsh-Faktoren hinaus oder stellen zumindest deren weiten Fokus klar: Die Gerichte sollen nicht lediglich das Verfahren der anhängigen class action isoliert in den Blick nehmen, sondern auch die Ergeb‑ nisse von parallelen Rechtsstreiten berücksichtigen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Die Faktoren (4) und (6) regulieren unmittelbar bestimm‑ te inhaltliche Aspekte des Vergleichs; ersterer hat dabei aber keinen Aussage‑ gehalt, der über den Wortlaut von Rule 23 (e) (4) FRCP hinausgeht. Schließlich nimmt Faktor (5) Bezug auf die Höhe der Anwaltsvergütung – das scheint zu‑ 67 Vgl. W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 [*9 f.] 68 Girsh v. Jepson, 521 F. 2d 153, 157 (3d Cir. 1975).
(S.D.N.Y. 2016).
69 In re Prudential Ins. Co. America Sales Practice Litigation Agent Actions, 148 F. 3d 283, 323 (3d Cir. 1998). Aufzählungspunkte vom Verf. hinzugefügt. Ergänzend verweist das Gericht a. a. O. in Fn. 73 überdies auf die weiteren Faktoren, die Schwarzer, 80 Cornell L. Rev. 837, 843 f. (1995) nennt.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nächts etwas unstimmig, denn diese wird sonst in einem separaten Verfahrens‑ schritt thematisiert. Möglicherweise soll sie hier als Indiz für die Fairness des Vergleichs dienen. Die Prudential-Faktoren sind ausdrücklich als bloßer Denk‑ anstoß gedacht und stellen keine zwingend abzuarbeitende Vorgabe dar: Unlike the Girsh factors, each of which the district court must consider before approving a class settlement, the Prudential considerations are just that, prudential. They are permis‑ sive and non-exhaustive, illustrating the additional inquiries that in many instances will be useful for a thoroughgoing analysis of a settlement’s terms.70
Dementsprechend wird der Katalog auch in den Entscheidungen, die sich aus‑ drücklich auf ihn beziehen, üblicherweise nicht vollständig geprüft. Ihm wer‑ den entweder einzelne für den konkreten Fall relevante Kriterien entnommen71 oder die in Prudential angestellten Überlegungen werden nach Aussage des Ge‑ richts in die Prüfung der Girsh-Faktoren integriert.72
(c) Die Hanlon- oder Churchill-Faktoren des Ninth Circuit Minimal knapper gefasst als der Grinnell- beziehungsweise Girsh-Katalog, aber immer noch umfangreich, ist der Katalog der Hanlon- oder Churchill-Fak‑ toren des Court of Appeals for the Ninth Circuit, der insbesondere für Kalifor‑ nien zuständig ist. Inhaltlich unterscheidet er sich von ihnen aber jenseits der abweichenden Formulierung nur im Detail. Im Einzelnen verlangt er, dass fol‑ gende Punkte berücksichtigt werden: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
the strength of the plaintiffs’ case; the risk, expense, complexity, and likely duration of further litigation; the risk of maintaining class action status throughout the trial; the amount offered in settlement; the extent of discovery completed and the stage of the proceedings; the experience and views of counsel; the presence of a governmental participant; and the reaction of the class members to the proposed settlement.73
Es dominieren auch hier schon rein zahlenmäßig die Faktoren der ersten Ka‑ tegorie: Die Faktoren (1) bis (4) betreffen den Stand des Verfahrens und die 70 In re Baby Products Antitrust Litigation, 708 F. 3d 163, 174 (3d Cir. 2013) (enthaltene Zitate und Verweise vom Verf. entfernt). In Bezug genommen bspw. in In re National Football League Players Concussion Injury Litigation, 821 F. 3d 410, 437 (3d Cir. 2016). Vgl. auch In re AT & T Corp., 455 F. 3d 160, 165 (3d Cir. 2006). 71 Vgl. In re Fasteners Antitrust Litigation, 2014 WL 285076 [*11] (E. D. Pa. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 361 (E. D. Pa. 2014); Moore v. GMAC Mortg., 2014 WL 7690156 [*5] (E. D. Pa. 2014). 72 McDonough v. Horizon Healthcare Services, Inc., 2014 WL 3396097 [*5] (D. N. J. 2014). 73 Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998) (Aufzählung durch d. Verf. ergänzt). Teilweise wird auch unter Bezugnahme auf Churchill Village, L.L.C. v. General Electric, 361 F. 3d 566, 575 (9th Cir. 2004) die Bezeichung „Churchill factors“ verwendet. In‑ haltliche Unterschiede ergeben sich dadurch nicht.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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Erfolgsaussichten des Rechtsstreits. Faktor (1) nimmt zunächst unmittelbar Bezug auf die Erfolgsaussichten. Der Wortlaut von Faktor (2) entspricht so‑ dann weitgehend dem ersten Faktor des Grinnell-Katalogs, fügt diesem aber das Element des Risikos einer Fortsetzung des Rechtsstreits hinzu. Eine ein‑ deutige funktionale Differenzierung zwischen dieser Risikokomponente und dem ersten Hanlon-Faktor lässt sich der Rechtsprechung nicht zuverlässig ent‑ nehmen.74 Unter beiden Prüfungspunkten finden sich in der Regel jeweils Hin‑ weise auf „significant risks“75, „significant obstacles“76 oder auch „significant barriers plaintiffs must overcome“77, wobei oft auch die konkreten Probleme benannt werden. Manche Entscheidungen sprechen insbesondere im Rahmen des ersten Faktors ganz konkret materielle Rechtsfragen an.78 Teilweise heben sie dabei jedoch ausdrücklich hervor, dass insoweit keine endgültigen Schluss‑ folgerungen zur rechtlichen Bewertung des Falls gezogen werden sollen.79 Ins‑ gesamt läuft es also auch hier auf eine Abwägung hinaus: Das Gericht müsse „the relative strength of plaintiff’s case together with risks weighing against it“80 berücksichtigen. Eine deutliche Abgrenzung zwischen den ersten beiden Faktoren scheint indessen die Genehmigungsentscheidung zum Vergleich im Volkswagen-Dieselskandal vorzunehmen. Dort ist das Gericht der Meinung, dass zwar der erste Faktor gegen den Vergleich spreche, da die Gruppenmit‑ glieder über starke Ansprüche mit hoher Durchsetzungswahrscheinlichkeit verfügten; nur die Höhe der Ersatzleistungen sei streitig, nicht ihre grundsätz‑ liche Berechtigung.81 Er werde aber vom zweiten Faktor aufgewogen: Zuguns‑ 74 Vgl. etwa Dyer v. Wells Fargo Bank, N. A., 303 F.R.D. 326, 331 (N. D. Cal. 2014); Hol‑ man v. Experian Information Solutions, Inc., 2014 WL 7186207 [*2] (N. D. Cal. 2014); Onti‑ veros v. Zamora, 303 F.R.D. 356, 369 (E. D. Cal. 2014); Vanwagoner v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 7273642 [*5] (E. D. Cal. 2014). 75 Custom LED, LLC v. eBay, Inc., 2014 WL 2916871 [*4] (N. D. Cal. 2014) (bzgl. Faktor 2); Larsen v. Trader Joe’s Company, 2014 WL 3404531 [*4] (N. D. Cal. 2014) (bzgl. beiden Faktoren). 76 Dyer v. Wells Fargo Bank, N. A., 303 F.R.D. 326, 331 (N. D. Cal. 2014) (bzgl. Faktor 1). 77 Custom LED, LLC v. eBay, Inc., 2014 WL 2916871 [*4] (N. D. Cal. 2014) (bzgl. Fak‑ tor 1). 78 Vgl. etwa In re American Apparel, Inc. Shareholder Litig., 2014 WL 10212865 [*8 f.] (C. D. Cal. 2014); In re Toys „R“ Us – Delaware, Inc. – Facta Litig., 295 F.R.D. 438, 450 f. (C. D. Cal. 2014); Ontiveros v. Zamora, 303 F.R.D. 356, 369 (E. D. Cal. 2014); Vanwagoner v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 7273642 [*5] (E. D. Cal. 2014). 79 Vgl. Ontiveros v. Zamora, 303 F.R.D. 356, 369 (E. D. Cal. 2014); Vanwagoner v. Sie‑ mens Industry, Inc., 2014 WL 7273642 [*5] (E. D. Cal. 2014). 80 Ontiveros v. Zamora, 303 F.R.D. 356, 369 (E. D. Cal. 2014); vgl. auch Larsen v. Tra‑ der Joe’s Company, 2014 WL 3404531 [*4] (N. D. Cal. 2014) („balance the risks of continued litigation, including the strengths and weaknesses of a plaintiff’s case, against the benefits af‑ forded to class members, and the immediacy and certainty of a recovery“); ähnlich Ching v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 2926210 [*3] (N. D. Cal. 2014). Die Zitate beziehen sich je‑ weils auf den ersten Faktor. 81 In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*10 f.] (N. D. Cal. 2016).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
ten des Vergleichs führt das Gericht dabei zunächst Umweltschutzbelange an, denen dadurch gedient werde, dass die betroffenen Fahrzeuge modifiziert oder aus dem Verkehr gezogen werden, wobei aber nicht deutlich wird, warum diese Überlegung im Zusammenhang mit dem Prozessrisiko angebracht wird. Hinzu käme, dass den Kunden Abzüge wegen Nutzungsersatz drohten und VW sich voraussichtlich gegen die Ansprüche verteidigen würde, wozu sich dem Unter‑ nehmen einige Ansatzpunkte böten. Das Risiko eines Prozessverlustes könnten die Geschädigten niemals ganz ausschließen. Insbesondere bei einem indivi‑ duellen Vorgehen hätten sie zudem mit erheblichen Prozesskosten zu rechnen. Auch diese Gesichtspunkte beziehen sich aber überwiegend auf die materiell‑ rechtlichen Erfolgsaussichten und weichen insofern nicht kategorial von dem ab, was das Gericht im Hinblick auf den ersten Faktor anspricht. Allenfalls wird man sagen können, dass die VW‑Entscheidung bei Faktor (1) tenden‑ ziell die materiellrechtliche Komponente betont und bei Faktor (2) diejenige der prozessualen Durchsetzung. In letzterer Hinsicht sei ausschlaggebend, dass der Vergleich viel früher eine angemessene Lösung zur Verfügung stelle als eine streitige Entscheidung in der Sache.82 Diese Differenzierung ist aber wohl nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass kein Zweifel bestand, dass den Ge‑ schädigten grundsätzlich Ansprüche zustehen. Dass sich die ersten beiden Han‑ lon-Faktoren sonst schwer voneinander trennen lassen, legen schließlich auch etliche Entscheidungen des United States District Court for the Southern Dis‑ trict of California nahe: Sie fassen sie in einem Prüfungsschritt zusammen.83 Hanlon-Faktor (3), der das Risiko des Verlustes der Einordnung als class action betrifft, bildet sodann das Äquivalent zu Faktor (6) des Grinnell-Katalogs. Bei Hanlon-Faktor (4) geht es um die Angemessenheit der im Vergleich verspro‑ chenen Ersatzleistung. Strukturell besteht also insofern eine Parallele zu den Grinnell-Faktoren, als dieser Punkt getrennt von der Abwägung der Risiken in den ersten beiden Faktoren dargestellt wird. Genau wie bei diesen kommen auch hier konkrete Zahlen auf den Tisch.84 Viele Entscheidungen geben dabei
82 In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*11 f.] (N. D. Cal. 2016). Man wird freilich berücksichtigen müssen, dass der „Clean Diesel“-Ver‑ gleich sehr ungewöhnlich ist und die meisten class members ihren Schaden vollständig ersetzt bekommen – oder sogar mehr, wie die Entscheidung der Folgeinstanz hervorhebt, vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 610 (9th Cir. 2018). 83 Vgl. etwa Arnold v. Fitflop USA, LLC, 2014 WL 1670133 [*5] (S. D. Cal. 2014); Carr v. Tadin, Inc., 51 F. Supp. 3d 970, 975 (S. D. Cal. 2014); Grant v. Capital Management Services, L. P., 2014 WL 888665 [*3 f.] (S. D. Cal. 2014); Morey v. Louis Vuitton North America, Inc., 2014 WL 109194 [*5 f.] (S. D. Cal. 2014). So vereinzelt auch im Central District of Califor‑ nia, vgl. Eisen v. Porsche Cars North America, Inc., 2014 WL 439006 [*3] (C. D. Cal. 2014). 84 Vgl. etwa In re American Apparel, Inc. Shareholder Litig., 2014 WL 10212865 [*11 f.] (C. D. Cal. 2014); In re Toys „R“ Us – Delaware, Inc. – Facta Litig., 295 F.R.D. 438, 453 f. (C. D. Cal. 2014).
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eingangs zwei miteinander kombinierte Zitate aus einer älteren Entscheidung85 des United States Court of Appeals for the Ninth Circuit wieder: [I]t is well-settled law that a cash settlement amounting to only a fraction of the potential recovery will not per se render the settlement inadequate or unfair. […] [I]t is the very un‑ certainty of outcome in litigation and avoidance of wasteful and expensive litigation that induce consensual settlements. The proposed settlement is not to be judged against a hy‑ pothetical or speculative measure of what might have been achieved by the negotiators.86
Bei small claims soll eine geringere Ersatzquote dabei tendenziell eher gerecht‑ fertigt sein als bei substantiellen Einzelforderungen der Gruppenmitglieder.87 Sogar reine injunctive relief ist möglich.88 Insgesamt kann man demnach im Hinblick auf die Faktoren der ersten Kategorie feststellen, dass die Kataloge des Second beziehungsweise des Third Circuit und des Ninth Circuit weitgehend parallel ausgestaltet sind. Neben diese Faktoren der ersten Kategorie treten solche der zweiten: Das ist zum einen Faktor (8), der auf die Reaktion der Gruppe abstellt und damit dem zweiten Grinnell-Faktor entspricht, aber auch Faktor (6), insofern er die Ein‑ schätzung des class counsel in Bezug nimmt – soweit er dagegen auf dessen Erfahrung abstellt, ist er der dritten Kategorie zuzuordnen. In die dritte Kate‑ gorie fällt auch Faktor (7), wenn man davon ausgeht, dass die behördliche Be‑ teiligung Einfluss auf die Qualität des Vergleichsprozesses haben kann. Dieser Faktor soll aber nur dann relevant sein, wenn tatsächlich eine „government en‑ tity“ am Rechtsstreit beteiligt ist.89 Manche Entscheidungen sprechen an dieser Stelle auch 28 U.S.C. § 1715 an,90 also diejenige Norm im Rahmen des CAFA von 2005, die vorschreibt, dass bestimmte Behörden von dem Vergleich be‑ 85
Officers for Justice v. Civil Service Com’n of City and County of San Francisco, 688 F. 2d 615, 628 (erster Teil des Zitats) und dann 625 (zweiter Teil des Zitats) (9th Cir. 1982). 86 In re American Apparel, Inc. Shareholder Litig., 2014 WL 10212865 [*11] (C. D. Cal. 2014); Four in One Co., Inc. v. S. K. Foods, L. P., 2014 WL 4078232 [*10] (E. D. Cal. 2014); Vanwagoner v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 7273642 [*7] (E. D. Cal. 2014); Dyer v. Wells Fargo Bank, N. A., 303 F.R.D. 326, 331 (N. D. Cal. 2014) (andere Entscheidungen als Quelle angegeben, aber gleicher Wortlaut); ähnlich Morey v. Louis Vuitton North America, Inc., 2014 WL 109194 [*6] (S. D. Cal. 2014). 87 Vgl. Carr v. Tadin, Inc., 51 F. Supp. 3d 970, 976 (S. D. Cal. 2014) („The cost of ad‑ ministering these small claims would be prohibitive.“); Ching v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 2926210 [*5] (N. D. Cal. 2014); Larsen v. Trader Joe’s Company, 2014 WL 3404531 [*4] (N. D. Cal. 2014) (jeweils: „based on the size of the claims, it is unlikely that the individual class members would have prevailed without the class-action mechanism“). 88 Vgl. Grant v. Capital Management Services, L. P., 2014 WL 888665 [*4] (S. D. Cal. 2014). 89 Vgl. etwa In re American Apparel, 2014 WL 10212865 [*14] (C. D. Cal. 2014). 90 Vgl. Holman v. Experian Information Solutions, Inc., 2014 WL 7186207 [*3] (N. D. Cal. 2014); In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*14] (N. D. Cal. 2016) – in diesen Fällen hatten die benachrichtigten Behörden keine Einwendungen erhoben, was für den Vergleich sprechen soll; in der Sache VW hatten sie sich teilweise sogar ausdrück‑ lich für den Vergleich ausgesprochen.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nachrichtigt werden müssen. Als ein weiterer Exponent der dritten Kategorie tritt Hanlon-Faktor (5) auf, der sich inhaltlich mit Grinnell-Faktor (3) deckt; wie dort geht es um die Frage, ob der Vergleich auf der Grundlage einer soliden Kenntnis der Sachlage ausgehandelt wurde.91 Von diesem Randaspekt abge‑ sehen scheint sich auch der Hanlon-Katalog nicht dafür zu interessieren, wie der Vergleich zustande gekommen ist. Allerdings gilt hier das Gleiche wie für den Grinnell-Katalog: In einer signifikanten Anzahl von Entscheidungen set‑ zen sich die Gerichte jenseits der ausdrücklich als Teil des Hanlon-Katalogs genannten Faktoren damit auseinander, wie der Vergleich zustande gekommen ist.92 Auch die namensgebende Entscheidung Hanlon v. Chrysler Corp. geht kurz auf den Ablauf der Vergleichsverhandlungen ein und sieht vor allem deren lange Dauer als ein Indiz für ihre Qualität.93 Mitunter gibt es als Ergänzung zu den einzelnen Faktoren noch eine abschließende Gesamtabwägung in einem se‑ paraten – aber eher knapp gehaltenen – Prüfungspunkt.94 In der Entscheidung In re Bluetooth Headset Products Liability führt der Ninth Circuit aus, dass bei settlement class actions wegen des erhöhten Miss‑ brauchsrisikos besondere Wachsamkeit erforderlich sei und verlangt „an even higher level of scrutiny for evidence of collusion or other conflicts of interest than is ordinarily required“.95 Das Gericht müsse bewusst auch nach subtilen Anzeichen für Kollusion Ausschau halten, die beispielsweise in den folgenden Konstellationen vorlägen: (1) when counsel receive a disproportionate distribution of the settlement, or when the class receives no monetary distribution but class counsel are amply rewarded, (2) when the parties negotiate a „clear sailing“ arrangement providing for the payment of attorneys’ fees separate and apart from class funds, which carries the potential of enabling a defendant to pay class counsel excessive fees and costs in exchange for counsel accepting an unfair settlement on behalf of the class; and (3) when the parties arrange for fees not awarded to revert to defendants rather than be added to the class fund.96
Diese zusätzlichen Faktoren weichen in zweierlei Hinsicht von den bislang dar‑ gestellten Kriterienkatalogen ab. Zum einen verknüpfen sie zum Teil Fragen der Angemessenheit der Anwaltsvergütung mit solchen der Fairness des Ver‑ 91 Vgl. etwa National Rural Telecommunications Cooperative v. DIRECTV, Inc., 221 F.R.D. 523, 527 (C. D.Cal 2004); In re American Apparel, Inc. Shareholder Litig., 2014 WL 10212865 [*12] (C. D. Cal. 2014) („clear view of the strengths and weaknesses of their cases“). 92 Siehe dazu unten S. 183. 93 Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1027 (9th Cir. 1998). 94 So etwa bei In re American Apparel, Inc. Shareholder Litig., 2014 WL 10212865 [*18] (C. D. Cal. 2014); In re Toys „R“ Us – Delaware, Inc. – Facta Litig., 295 F.R.D. 438, 458 f. (C. D. Cal. 2014). 95 In re Bluetooth Headset Products Liability, 654 F. 3d 935, 946 (9th Cir. 2011). 96 In re Bluetooth Headset Products Liability, 654 F. 3d 935, 947 (9th Cir. 2011). Vgl. auch In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*26] (N. D. Cal. 2016) zur Anwendung des Katalogs.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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gleichs; zum anderen formulieren sie nicht lediglich abstrakt die Fragenkom‑ plexe, mit denen sich das den Vergleich überprüfende Gericht auseinander‑ setzen soll, sondern sie benennen konkrete Inhalte des Vergleichs, die dessen Genehmigungsfähigkeit in Frage stellen können. Dabei handelt es sich aller‑ dings nicht um Klauseln, die eine Genehmigung per se ausschließen, sondern dem Gericht verbleibt eine Wertungsmöglichkeit.97 Das erinnert an die Ausfüh‑ rungen, die das Manual for Complex Litigation, Fourth zur Genehmigung eines Vergleichs macht.98
(d) Die Kataloge in den anderen Circuits Die Kataloge der anderen Circuit Courts sind typischerweise weniger umfang‑ reich als die Kataloge von Grinnell, Girsh und Hanlon. Von Unterschieden in den Details und insbesondere der Formulierung abgesehen überwiegen indes die Gemeinsamkeiten.99 Das gilt beispielsweise für die Armstrong-Faktoren des Seventh Circuit, die lediglich zwei Kriterien kennen, um die Bedeutung der Erfolgsaussichten als Maßstab für die Angemessenheit der Vergleichssumme zu erfassen.100 Sie verzichten damit auf die detaillierte Aufgliederung, die vor allem die Grinnell- beziehungsweise Girsh-Faktoren insoweit kennzeichnet. Den deutlichsten Kontrast zu diesen bieten noch die Jones-Faktoren des Tenth Circuit.101 Sie beschränken sich ebenfalls darauf, die erste Kategorie knapp in zwei Kriterien (Faktoren 2 und 3) zu fassen. Im Kern nehmen sie eine Ab‑ wägung vor, ob es angesichts der mit einer Fortführung des Rechtsstreits ver‑ bundenen Unsicherheit gerechtfertigt erscheint, die im Vergleich angebotene Ersatzleistung anzunehmen. Eingerahmt werden diese beiden Kriterien von je‑ weils einem Kriterium, das der dritten (Faktor 1) beziehungsweise der zweiten Kategorie (Faktor 4) zuzuordnen ist, wobei es aber interessanterweise nicht auf die Einschätzung der class, sondern auf diejenige der Parteien selbst ankommen soll.102 97 Vgl.
etwa Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:9 zur Zulässigkeit von sog. „clear sailing“-Klauseln, mit denen sich der Beklagte verpflichtet, sich nicht gegen den Vor‑ schlag des class counsel zu wehren, den dieser zu seiner Vergütung macht, solange er sich in einem festgelegten Rahmen hält. 98 Siehe dazu noch unten S. 193 f. 99 Vgl. die Übersicht zu den verschiedenen Kriterienkatalogen bei Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:48 (dort Fn. 3). 100 E. E. O. C. v. Hiram Walker & Sons, Inc., 768 F. 2d 884, 889 (7th Cir. 1985). 101 Jones v. Nuclear Pharmacy, Inc., 741 F. 2d 322, 324 (10th Cir. 1984). Sie legen dem Gericht auf, sich mit den folgenden Fragen zu befassen: „(1) whether the proposed settlement was fairly and honestly negotiated; (2) whether serious questions of law and fact exist, placing the ultimate outcome of the litigation in doubt; (3) whether the value of an immediate recovery outweighs the mere possibility of future relief after protracted and expensive litigation; and (4) the judgment of the parties that the settlement is fair and reasonable.“ 102 Einen weiteren derart reduzierten Katalog bieten die Grunin-Faktoren des Eighth Cir‑ cuit, die allerdings keine Faktoren der dritten Kategorie enthalten: „(1) the strength of the case
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
(e) Die Häufigkeit einzelner Faktoren in den verschiedenen Katalogen Die soeben dargestellten Kataloge – und auch die entsprechenden anderer Cir‑ cuit Courts – haben trotz der teils erheblichen Unterschiede bei der Formulie‑ rung allesamt zumindest drei Faktoren gemein:103 erstens Komplexität, Kosten und voraussichtliche Dauer des Rechtsstreits (fällt in die erste Kategorie),104 zweitens dessen materielle Erfolgsaussichten (ebenfalls erste Kategorie) und drittens die Reaktion der Gruppe auf den Vergleich (zweite Kategorie)105. Diese Gesichtspunkte werden sodann um weitere, je nach Circuit Court unterschiedli‑ che, ergänzt. Insbesondere verlangen sieben der zehn Circuit Courts, die einen Kriterienkatalog aufgestellt haben, dass der zuständige Richter auch den Stand des Rechtsstreits und den Umfang berücksichtigt, in dem die discovery vor‑ genommen wurde (dritte Kategorie).106 Das Risiko, dass das Gericht die certi‑ fication der class nachträglich wieder aufhebt (erste Kategorie), wird fünf Mal gesondert hervorgehoben;107 allerdings ist es sonst wohl bei der Frage nach den for plaintiffs on the merits, balanced against the amount offered in the settlement […]; (2) the defendant’s overall financial condition and ability to pay; (3) the complexity, length and ex‑ pense of further litigation; (4) and the amount of opposition to the settlement“, vgl. Grunin v. International House of Pancakes, 513 F. 2d 114, 124 (8th Cir. 1975) (Nummerierung vom Verf. hinzugefügt). 103 Vgl. zum Folgenden auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:48, der aller‑ dings sechs immer wiederkehrende Faktoren hervorhebt: (1) the amount of the settlement in light of the potential recovery discounted by the likelihood of plaintiffs prevailing at trial; (2) the extent to which the parties have engaged in sufficient discovery to evaluate the merits of the case; (3) the complexity and potential costs of trial; (4) the number and content of objec‑ tions; (5) the recommendations of experienced counsel that settlement is appropriate; and, in some instances (6) the capacity for the defendant to withstand a larger judgment.“ Das deckt sich weitgehehend mit den hier vorgestellten Ergebnissen. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 179 f. kondensiert die verschiedenen Faktorenkataloge der Rechtsprechung in den USA und Kanada in einen „Seven Factors Fairness Test“: (1) Judicial risk analysis: likeli‑ hood of recovery, or likelihood of success on the merits weighed against amount and form of settlement relief; (2) Future expense, complexity and likely duration of litigation; (3) Class re‑ action: number and nature of objections; (4) Recommendation and experience of counsel and opinion of interested persons; (5) Adequacy of representation: good faith and absence of col‑ lusion; (6) Discovery evidence sufficient for „effective representation;“ and (7) Adequacy of notice of proposed settlement to absent class members. 104 Eine ausdrückliche Formulierung dieses Prüfungspunkts fehlt zwar bei den „Jones“Faktoren des 10th Circuit; inhaltlich wird er aber vom dritten „Jones“-Faktor durch dessen Hinweis auf die möglicherweise „protracted and expensive litigation“ abgedeckt, vgl. Jones v. Nuclear Pharmacy, Inc., 741 F. 2d 322, 324 (10th Cir. 1984). 105 Bzw. die aus ihrer Mitte erhobenen Einwände (objections). 106 Nur die Jiffy Lube-Faktoren des 4th Circuit, vgl. In re Jiffy Lube Securities Litigation, 927 F. 2d 155, 159 (4th Cir. 1991), die Grunin-Faktoren des 8th Circuit und die Jones-Faktoren des 10th Circuit verzichten hierauf. 107 Vgl. City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 463 (2d Cir. 1974); Girsh v. Jep‑ son, 521 F. 2d 153, 157 (3d Cir. 1975); Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998); Jones v. Nuclear Pharmacy, Inc., 741 F. 2d 322, 324 (10th Cir. 1984); Bennett v. Behring Corp., 737 F. 2d 982, 986 (11th Cir. 1984).
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Erfolgsaussichten der Klage bei einer streitigen Entscheidung mit einbezogen. Die Solvenz des Beklagten (erste Kategorie) findet vier Mal als eigener Prü‑ fungspunkt Erwähnung.108 Ebenso oft wird die Einschätzung des class counsel oder teilweise auch zusätzlich diejenige der class representatives berücksich‑ tigt (zweite Kategorie).109 Der Ablauf der Vergleichsverhandlungen (dritte Ka‑ tegorie) kommt nur selten zur Sprache. Lediglich drei Circuit Courts schließen die Frage nach der Gefahr von „fraud or collusion“110 beziehungsweise – po‑ sitiv formuliert – danach, ob der Vergleich „fairly and honestly“ ausgehandelt wurde,111 in ihren Katalog ein. Allerdings werden diese Überlegungen von den anderen Gerichten nicht selten ebenfalls angestellt – nur eben formal getrennt von der Prüfung des jeweiligen Katalogs.112 Vereinzelt kommen in den Katalo‑ gen noch weitere Gesichtspunkte der dritten Kategorie hinzu, etwa die Eignung des class counsel113 oder die Beteiligung eines staatlichen Vertreters.114 Keiner der hier zur Strukturierung genutzten Kategorien zuordnen lässt sich schließ‑ lich die – lediglich im Kriterienkatalog des Sixth Circuit enthaltene – Berück‑ sichtigung des öffentlichen Interesses.115 Bei diesem Kriterium ist zudem frag‑ würdig, inwiefern es zum Schutz der class beitragen soll.116 Ihren Schwerpunkt legen die meisten Kriterienkataloge demnach auf die Kriterien der ersten Ka‑ tegorie.
(2) Die ergänzende Einbeziehung einer Bewertung des Ablaufs der Vergleichsverhandlungen Es wurde schon angemerkt, dass die Kriterienkataloge der Courts of Appeals kaum auf den zum Vergleich führenden Verhandlungsprozess eingehen. Eini‑ ge Gerichte berücksichtigen ihn gleichwohl. So betont der Second Circuit aus‑ drücklich die Bedeutung, die dem Verhandlungsprozess für die Bewertung des Vergleichs zukomme: 108 Vgl. City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 463 (2d Cir. 1974); Girsh v. Jep‑ son, 521 F. 2d 153, 157 (3d Cir. 1975); In re Jiffy Lube Securities Litigation, 927 F. 2d 155, 159 (4th Cir. 1991); Grunin v. International House of Pancakes, 513 F. 2d 114, 124 (8th Cir. 1975). 109 Vgl. Reed v. General Motors, 703 F. 2d 170, 172 (5th Cir. 1983); UAW v. General Mo‑ tors, 497 F. 3d 615, 631 (6th Cir. 2007); E. E. O. C. v. Hiram Walker & Sons, Inc., 768 F. 2d 884, 889 (7th Cir. 1985) – die hier aufgeführten Kriterien werden als „Armstrong“-Faktoren bezeichnet, da sie das Gericht der Entscheidung Armstrong v. Board of Sch. Directors, etc., 616 F. 2d 305 (7th Cir. 1980) entnimmt; Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998). 110 Vgl. Reed v. General Motors, 703 F. 2d 170, 172 (5th Cir. 1983); UAW v. General Mo‑ tors, 497 F. 3d 615, 631 (6th Cir. 2007). 111 Vgl. Jones v. Nuclear Pharmacy, Inc., 741 F. 2d 322, 324 (10th Cir. 1984). 112 Siehe dazu den folgenden Abschnitt (2). 113 Vgl. Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998). 114 Vgl. Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998). 115 Vgl. UAW v. General Motors, 497 F. 3d 615, 631 (6th Cir. 2007). 116 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
A district court examining a proposed class action settlement must examine both the set‑ tlement’s terms and the negotiating process leading to the settlement.117
Viele Gerichte im Second Circuit prüfen dementsprechend ergänzend zu den auf die materiellrechtliche Ebene bezogenen Grinnell-Faktoren, ob der Ver‑ gleich auch in prozessualer Hinsicht als fair betrachtet werden kann. Auch wenn sich ihre Formulierungen im Detail unterscheiden, greifen sie im Wesentlichen auf die gleichen Überlegungen zurück. Eine Entscheidung des N. D. N. Y. führt beispielsweise aus: The proposed settlement is procedurally fair because it was reached through vigorous, arm’s-length negotiations and after experienced counsel had evaluated the merits of Plaintiffs’ claims.118
Diese drei Voraussetzungen werden auch sonst regelmäßig genannt: Erstens müssen die Parteien unter Wahrung hinreichender Distanz zueinander ernst‑ haft verhandelt haben („arm’s-length negotiations“), zweitens müssen die An‑ wälte über einschlägige Kompetenz verfügen („experienced counsel“) und drittens muss ein fundiertes Bild der Sach- und Rechtslage die Grundlage des Vergleichsschlusses bilden („evaluated the merits“). Manche Entscheidungen heben insofern ausdrücklich die Bedeutung der discovery hervor.119 Insgesamt widmeten sich die District Courts im Second Circuit im Jahre 2014 – auf die eine oder andere Weise – in knapp 80 % der Fälle aus der hier zugrunde gelegten Recherche in Westlaw120 auch der prozessualen Fairness des Vergleichs. Auch die District Courts im Ninth Circuit prüften 2014 in 30 % ihrer Fälle, ob der Vergleich ohne Kollusion zustande gekommen ist, oder sprachen den Vergleichsprozess zumindest an.121 Manche Entscheidungen aus dem Fourth und Eleventh Circuit setzen sich ebenfalls mit der Genese des Vergleichs aus‑ einander. Die Umstände, unter denen ein Vergleich zustande gekommen ist, spielen also eine größere Rolle, als es ein isolierter Blick auf die Kriterien‑ kataloge vermuten lässt. Allerdings beschränken sich die entsprechenden Aus‑ führungen in den Entscheidungen quer durch die verschiedenen Circuits in den allermeisten Fällen darauf, pauschal festzustellen, dass die Vergleichsverhand‑ lungen fair gewesen seien. Eine detaillierte Würdigung von deren Ablauf und Inhalt findet hingegen – soweit ersichtlich – nicht statt. Teilweise weisen die Gerichte zudem ausdrücklich darauf hin, dass ein Mediator an den Vergleichs‑ 117
Wal-Mart Stores, Inc. v. Visa U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 116 (2d Cir. 2005). Hanifin v. Accurate Inventory and Calculation Service, Inc., 2014 WL 4352060 [*4] (N. D. N. Y. 2014); ebenso Clem v. Keybank, N. A., 2014 WL 2895918 [*4] (S.D.N.Y. 2014); leicht abgewandelte Formulierung bei Zeltser v. Merryl Lynch & Co., Inc., 2014 WL 4816134 [*4] (S.D.N.Y. 2014). 119 Aboud v. Charles Schwab & Co., Inc., 2014 WL 5794655 [*3] (S.D.N.Y. 2014). 120 Siehe S. 170. 121 Dabei lässt sich diese Praxis jedenfalls auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten nicht klar einzelnen Gerichten oder Richtern zuordnen. 118
§ 6: Die Kriterienkataloge
185
verhandlungen beteiligt war; dieser Umstand soll aber nicht allein ausschlag‑ gebend sein, wenngleich er in die Abwägung einfließt.122
(3) Die Kataloge in der Entscheidungspraxis der District Courts Jedenfalls soweit man der dieser Untersuchung zugrundeliegenden Recher‑ che in Westlaw hinreichende Aussagekraft beimessen kann, wenden die Dis‑ trict Courts die Kriterienkataloge ihrer jeweiligen Courts of Appeals überwie‑ gend an und nehmen sie in ihren einschlägigen Entscheidungen ausdrücklich in Bezug. Im Jahre 2014 griffen die District Courts in 114 von 142 Fällen (81 %) aus der hier zugrunde gelegten Recherche in Westlaw123 erkennbar auf einen Kriterienkatalog zurück. Auf diesen ging das prüfende Gericht in 104 Fällen (74 %) jeweils auch inhaltlich ein, es beschränkte sich also nicht darauf, le‑ diglich zu behaupten, dass die Kriterien erfüllt seien, sondern stellte konkrete Bezüge zu dem ihm vorliegenden Fall her. In 102 – also nahezu allen – dieser Fälle handelte es sich dabei um den von dem jeweiligen Court of Appeals vor‑ gegebenen Katalog. Die drei Circuits, von deren Districts Courts eine nennens‑ werte Anzahl an Entscheidungen vorliegt,124 kommen in dieser Hinsicht sogar auf Werte zwischen 83 % und 97 %. In den Entscheidungen, in denen die Gerichte keinen Kriterienkatalog be‑ nannten, fehlen überwiegend auch auf den konkreten Fall bezogene inhaltliche Ausführungen. Allerdings kann man daraus nicht ohne weiteres schließen, dass das jeweilige Gericht sich nicht mit dem Fall auseinandergesetzt hätte. Ein Ge‑ richt ist nicht gezwungen, seine Entscheidung über die Angemessenheit eines Vergleichs zu begründen; dies stellt vielmehr lediglich eine wünschenswerte Ergänzung zum Protokoll dar, aus dem gegebenenfalls zumindest die die Fair‑ ness des Vergleichs begründenden Tatsachen ersichtlich sein müssen, um eine Aufhebung von dessen Genehmigung durch den jeweiligen Court of Appeals zu vermeiden.125 Der bloße Umstand, dass ein Gericht seine Entscheidung nicht oder nur unvollständig oder wenig sorgfältig begründet hat, erlaubt demnach keinen zuverlässigen Schluss darauf, dass es den Vergleich tatsächlich nur in unzureichendem Maße einer Überprüfung unterzogen habe. Allerdings kann man den Gerichten ebenso wenig unterstellen, in jedem Fall ihre Prüfungskom‑ petenz ausgereizt zu haben. Es lassen sich zumindest auf der Basis der hier zu‑ grunde gelegten Recherche in Westlaw zur Entscheidungspraxis im Jahr 2014 keine seriösen Überlegungen darüber anstellen, was ein Gericht dazu bewogen
122
In re Bluetooth Headset Products Liability, 654 F. 3d 935, 948 (9th Cir. 2011). Siehe oben S. 170. 124 Das sind der Second, Third und Ninth Circuit. 125 Frische, Verfahrenswirkungen, S. 90 unter Verweis auf Protective Comm. v. Anderson, 390 U. S. 414, 437 (1968); Haudek, 23 Sw. L. J. 765, 806 (1969). 123
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
haben könnte, in einem bestimmten Fall seine Überlegungen offen zu legen und in einem anderen aber davon abzusehen. Die Gerichte legen die Gewichtung im Rahmen ihrer Gesamtabwägung ty‑ pischerweise nicht oder zumindest nicht detailliert offen. Stattdessen prüfen sie die Kataloge Schritt für Schritt und fassen am Anfang oder am Ende nur das Ergebnis zusammen. Wenn die Genehmigung erteilt wird, ist es in der über‑ wiegenden Anzahl der Fälle schon deswegen nicht erforderlich diesen Punkt zu vertiefen, da alle Kriterien ausnahmslos für den Vergleich sprechen. Was den Umfang der Begründung anbelangt, sind die Unterschiede erheblich. Manch‑ mal ist diese äußerst umfangreich und tiefgehend,126 manchmal bleibt sie völlig schematisch;127 bisweilen wird nicht einmal ein Kriterienkatalog wiedergege‑ ben.128 Oft lässt sich nur schwer beurteilen, welche Gesichtspunkte letztlich ausschlaggebend waren.129 Manche Entscheidungen diskutieren die für die Ge‑ nehmigung des Vergleichs relevanten Gesichtspunkte nicht im Rahmen der in diesen Fällen mitunter nur schematisch dargestellten Kataloge, sondern spre‑ chen sie gesondert an, wenn sie sich in einem getrennten Abschnitt eingehend mit den gegen den Vergleich erhobenen Einwendungen auseinandersetzen.130
(4) Charakteristika einiger ablehnender Entscheidungen Die Gerichte lehnen nur sehr selten ab, das final approval zu erteilen. Fälle, in denen dies in der Vergangenheit geschehen ist, sind in den einschlägigen Datenbanken nur schwer aufzufinden.131 Im vorliegenden Zusammenhang können für den Zeitraum von 2005 bis 2018 lediglich siebzehn132 Entschei‑ dungen verschiedener District Courts berücksichtigt werden, die im Wege einer Recherche in Westlaw unter Anwendung verschiedener Suchbegriffe er‑ mittelt werden konnten.133 Entscheidungen der Courts of Appeals sind noch 126 Vgl. etwa In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 175 ff. (S.D.N.Y. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 354 ff. (E. D. Pa. 2014). 127 Vgl. etwa Howerton v. Cargill, Inc., 2014 WL 6976041 (D. Haw.). 128 Vgl. etwa In re Colgate-Palmolive Co. Erisa Litigation, 2014 WL 7929831 (S.D.N.Y. 2014); Wong v. Accretive Health, Inc., 2014 WL 7664249 (N. D. Ill. 2014). 129 So Elia, 85 U. Cin. L. Rev. 1135, 1152 (2017). 130 Vgl. etwa Calibuso v. Bank of America Corp., 299 F.R.D. 359, 371 ff. (E. D. N. Y. 2014); In re Celexa and Lexapro Marketing and Sales Practices Litigation, 2014 WL 4446464 [*5 ff.] (D. Mass. 2014). 131 Das liegt auch daran, dass es bspw. in Westlaw nicht möglich ist, die Recherche durch die Wahl entsprechender Suchbegriffe so einzugrenzen, dass zuverlässig nur ablehnende Ent‑ scheidungen ermittelt werden. 132 Siebzehn, falls man Stewart v. USA Tank Sales and Erection Company, Inc., 2014 WL 836212 (W. D. Mo. 2014) hinzurechnet, vgl. oben Fn. 43. 133 Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34 (D. Me. 2005); Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292 (S. D. Fla. 2007); Sobel v. Hertz Corp., 2011 WL 2559565 (D. Nev. 2011); Casey v. Coventry Healthcare of Kansas, Inc., 2011 WL 13177534 (W. D. Mo.
§ 6: Die Kriterienkataloge
187
rarer.134 Diese Untersuchung kann und will dabei nicht den Anspruch erheben, die Entscheidungspraxis vollständig zu erfassen; es geht vielmehr darum, zu il‑ lustrativen Zwecken einige Beispiele bereitzustellen. Die District Courts diagnostizieren den hier verfügbaren Vergleichen, deren Genehmigung sie abgelehnt haben, unterschiedliche Mängel im Sinne der in § 5 IV dieser Untersuchung gebildeten Kategorien. Am häufigsten rügen sie, dass eine für die Gruppe unangemessene Lösung vorliege. Dabei kommen zwei Be‑ gründungsansätze vor. Häufig argumentieren die Gerichte, dass der Anspruchs‑ verzicht, der den Betroffenen auferlegt wurde, zu weit ginge.135 Alternativ – in einzelnen Fällen auch zusätzlich – stellen sie fest, dass die vorgesehene Abhil‑ femaßnahme ungeeignet136 beziehungsweise die Summe der Ersatzleistungen zu gering sei. In letzterem Zusammenhang heben sie oftmals hervor, dass ein Vergleich eine Rückfallbestimmung enthält, die dazu geführt hätte, dass vo‑ raussichtlich nur ein geringer Teil der Ersatzleistungen tatsächlich ausgezahlt würde.137 In anderen Entscheidungen liegt der Mangel darin, dass die Interes‑ sen eines Teils der Gruppenmitglieder unzureichend berücksichtigt wurden.138 Vereinzelt sind auch überzogene Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Ersatzleistungen ein Grund dafür, dass die Genehmigung abgelehnt wird.139 In 2011); Harris v. Vector Marketing Corp., 2011 WL 4831157 (N. D. Cal. 2011); Authors Guild v. Google Inc., 770 F. Supp. 2d 666 (S.D.N.Y. 2011); Ferrington v. McAfee, Inc., 2012 WL 1156399 (N. D. Cal. 2012); In re Hydroxycut Marketing and Sales Practices Litigation, 2013 WL 6086933 (S. D. Cal. 2013); Chavez v. PVH Corporation, 2015 WL 581382 (N. D. Cal. 2015); Allen v. Dairy Farmers of Am., Inc., 2015 WL 1517400 (D. Vt. 2015); In re American Exp. Anti-Steering Rules Antitrust Litigation, 2015 WL 4645240 (E. D. N. Y. 2015); Hendricks v. Starkist Co., 2016 WL 692739 (N. D. Cal. 2016); W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 (S.D.N.Y. 2016); In re Sony PS3 „Other OS“ Litigation, 2017 WL 424716 (N. D. Cal. 2017); Dr. Robert L. Meinders D. C., LTD v. Emery Wilson Corporation, 2017 WL 3096276 (S. D. Ill. 2017); Orden v. Schafer, 2016 WL 6893814 (E. D. Mo. 2017); Marengo v. Miami Research As‑ sociates, LLC, 2018 WL 2744606 (S. D. Fla. 2018). 134 Vgl. etwa In re General Motors Corp. Engine Interchange Litig., 594 F. 2d 1106 (7th Cir. 1979); In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litig., 55 F. 3d 768 (3d Cir. 1995); Molski v. Gleich, 318 F. 3d 937 (9th Cir. 2003); In re Community Bank of Northern Virginia, 418 F. 3d 277 (3d Cir. 2005); Allen v. Bedolla, 787 F. 3d 1218 (9th Cir. 2015); In re Payment Card Interchange Fee and Merchant Discount Antitrust Litig., 827 F. 3d 223 (2d Cir. 2016). 135 Vgl. etwa Authors Guild v. Google Inc., 770 F. Supp. 2d 666, 679 ff. (S.D.N.Y. 2011); Ferrington v. McAfee, Inc., 2012 WL 1156399 [*8 ff.] (N. D. Cal. 2012); Chavez v. PVH Cor‑ poration, 2015 WL 581382 [*4 ff.] (N. D. Cal. 2015); Hendricks v. Starkist Co., 2016 WL 692739 [*3] (N. D. Cal. 2016); W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 [*8] (S.D.N.Y. 2016). 136 Vgl. In re Hydroxycut Marketing and Sales Practices Litigation, 2013 WL 6086933 [*4] (S. D. Cal. 2013); W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 [*8] (S.D.N.Y. 2016). 137 Vgl. Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34, 52 f. (D. Me. 2005); Harris v. Vec‑ tor Marketing Corp., 2011 WL 4831157 [*5] (N. D. Cal. 2011); Dr. Robert L. Meinders D. C., LTD v. Emery Wilson Corporation, 2017 WL 3096276 [*2] (S. D. Ill. 2017). 138 Vgl. In re Hydroxycut Marketing and Sales Practices Litigation, 2013 WL 6086933 [*3] (S. D. Cal. 2013). 139 Vgl. Harris v. Vector Marketing Corp., 2011 WL 4831157 [*6] (N. D. Cal. 2011).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
mehreren Entscheidungen wird sie schließlich zumindest auch unter Verweis auf Defizite bei den Vergleichsverhandlungen versagt.140 Eine eingehende Darstellung einer Abwägung verschiedener Faktoren auf der Grundlage des im jeweiligen Gerichtsbezirk maßgeblichen Kriterienkata‑ logs enthalten die Entscheidungen typischerweise nicht. Bisweilen stellen sie nur fest, dass bestimmte Faktoren andere, die für den Vergleich sprechen, über‑ wiegen.141 Teilweise äußern sich die Gerichte auch jeweils getrennt zu den ein‑ zelnen Faktoren und stellen für jeden einzelnen von ihnen fest, ob er für oder gegen den Vergleich spricht, ohne sie ausdrücklich in ein Verhältnis zueinander zu setzen.142 Es kommt zudem vor, dass sich ein Gericht lediglich auf einen oder wenige Aspekte bezieht, die es für ausschlaggebend hält, um seine ablehnende Entscheidung zu begründen.143 So ziehen bei weitem nicht alle der vorliegenden ablehnenden Entscheidungen das nach den Katalogen der Rechtsprechung zen‑ trale Kriterium der Erfolgsaussichten ausdrücklich als Argument heran.144 Die Aussage, dass die Gerichte keine Abwägung vornähmen, trifft allerdings nicht zu. Anstatt verschiedene Kriterien direkt einander gegenüberzustellen, betrifft die Wertungsentscheidung oft die Frage, ob ein bestimmtes Defizit angesichts der Hintergründe und Ausgangsbedingungen des Vergleichs schwer genug wiegt, um dessen Genehmigung auszuschließen. Schließlich hängen Form und Inhalt der Begründung auch von den Gewohnheiten an den unterschiedlichen District Courts und dem persönlichen Stil des jeweiligen Richters ab.
(5) Kritik an der Rechtsprechung Die Rechtsprechung und ihre Kriterienkataloge ziehen in der Literatur deutliche Kritik auf sich. So meint etwa das American Law Institute in seinen Principles of Aggregate Litigation, im Hinblick auf die Frage, wie die gesetzliche Vorgabe zu konkretisieren ist, dass ein Vergleich „fair, adequate, and reasonable“ sein muss, sei das case law „in disarray“: Courts articulate a wide range of factors to consider, but rarely discuss the significance to be given to each factor, let alone why a particular factor is probative.145 140 Vgl. Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34, 48 f. (D. Me. 2005); Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1321 ff. (S. D. Fla. 2007); Allen v. Dairy Farmers of Am., Inc., 2015 WL 1517400 [*6] (D. Vt. 2015); In re American Exp. Anti-Steering Rules Antitrust Litigation, 2015 WL 4645240 [*13 ff.] (E. D. N. Y. 2015). 141 Vgl. etwa Orden v. Schafer, 2016 WL 6893814 [*4] (E. D. Mo. 2017). 142 Vgl. etwa Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34, 47 ff. (D. Me. 2005); W. v. City of New York, 2016 WL 4367969 [*7 ff.] (S.D.N.Y. 2016). 143 Vgl. etwa In re Hydroxycut Marketing and Sales Practices Litigation, 2013 WL 6086933 (S. D. Cal. 2013); In re Sony PS3 „Other OS“ Litigation, 2017 WL 424716 (N. D. Cal. 2017). 144 Vgl. aber Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34, 49 ff. (D. Me. 2005); Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1323 ff. (S. D. Fla. 2007); Dr. Robert L. Mein‑ ders D. C., LTD v. Emery Wilson Corporation, 2017 WL 3096276 [*2] (S. D. Ill. 2017). 145 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a.
§ 6: Die Kriterienkataloge
189
Macey und Miller schlagen in dieselbe Kerbe: Review of class action settlements takes the form of a list of factors uncertain in scope, ambiguous in meaning, and undefined in weight.146
Und auch an anderer Stelle finden sie klare Worte: The sheer number of factors is a problem. A trial judge could hardly be blamed for feel‑ ing a sense of foreboding when contemplating the nineteen items on the Third Circuit’s checklist. Running through them all seems a dreary task. Courts applying these tests often recite the litany and engage in pro forma analyses, but their hearts are not in it.147
Eine weitere Quelle merkt nicht ohne kritischen Unterton an, die Gerichte prüf‑ ten neben den gesetzlichen Vorgaben „a mishmash of additional factors“.148 Auch die neue Committee Note zur Ergänzung von Rule 23 (e) FRCP von 2018 kritisiert den Umfang und die mechanische Anwendung der Kriterienkataloge: A circuit’s list might include a dozen or more separately articulated factors. Some of those factors – perhaps many – may not be relevant to a particular case or settlement pro‑ posal. Those that are relevant may be more or less important to the particular case. Yet counsel and courts may feel it necessary to address every factor on a given circuit’s list in every case. The sheer number of factors can distract both the court and the parties from the central concerns that bear on review under Rule 23(e)(2).149
Wenn man sich die zuvor beschriebenen Kriterienkataloge noch einmal vor Augen führt, wird man nicht leugnen können, dass diese Kritik nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Klare Vorgaben lassen sich den teils doch sehr un‑ handlichen Katalogen nur in äußerst begrenztem Maße entnehmen. Dem Ame‑ rican Law Institute ist vor allem zuzustimmen, dass die Gewichtung der ein‑ zelnen Faktoren regelmäßig unklar bleibt. In manchen Entscheidungen finden sich zwar Aussagen, die jeweils einem der Faktoren eine herausgehobene Be‑ deutung attestieren. Dabei fehlt es allerdings an einheitlichen Vorgaben, wie an‑ hand der Entscheidungspraxis im Second Circuit deutlich wird. In der grund‑ legenden Grinnell-Entscheidung heißt es zunächst: The most important factor is the strength of the case for plaintiffs on the merits, balanced against the amount offered in settlement.150 146
Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 168 (2009). Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 172 (2009). Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 8.02 [2]. 149 Committee Notes on Rules – 2018 Amendment, Abschnitt zu Rule 23 (e)(2). 150 City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 455 (2d Cir. 1974); ebenso In re Lit‑ erary Works in Electronic Databases Copyright Litigation, 654 F. 3d 242, 262 (2d Cir. 2011); In re MetLife Demutualization Litigation, 689 F. Supp. 2d 297, 334 (E. D. N. Y. 2010); Schnei‑ der v. Citicorp Mortg., Inc., 324 F. Supp. 2d 372, 376 (E. D. N. Y. 2004); ähnlich auch Plummer v. Chemical Bank, 668 F. 2d 654, 660 (2d Cir. 1982); Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1323 (S. D. Fla. 2007). Der Eighth Circuit greift auf eine nahezu identische Formulierung zurück, vgl. Petrovic v. Amoco Oil Co., 200 F. 3d 1140, 1150 (8th Cir. 1999). In 147 148
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Demnach hat dieser „most important factor“ aber eher den Charakter einer Gesamtabwägung und verweist damit auf die Faktoren (4) bis (6) sowie (8) und (9) des Grinnell-Katalogs, was im Übrigen noch einmal die Künstlichkeit einer feinziselierten Unterscheidung zwischen diesen einzelnen Faktoren unter‑ streicht. In anderen Entscheidungen wird dagegen ein anderer Akzent gesetzt, wobei diese Differenz möglicherweise auch die unterschiedliche Praxis ver‑ schiedener District Courts innerhalb des Second Circuit widerspiegelt: [T]he favorable reaction of the overwhelming majority of class members to the Settle‑ ment is perhaps the most significant factor in our Grinnell inquiry.151
Dabei ist allerdings noch nicht einmal sicher, in welchem Maße diese Formulie‑ rungen nicht etwa den Besonderheiten des konkreten Sachverhalts geschuldet sind, denn in vielen anderen Entscheidungen wird weder die eine noch die an‑ dere verwendet. Abgesehen davon, dass es demnach zweifelhaft ist, ob sich die zitierten Aussagen verallgemeinern lassen, ändern sie zudem nichts daran, dass die Bewertung des Vergleichs ihrem Gesamtcharakter nach eine Abwägungs‑ entscheidung darstellt. Selbst wenn einem Kriterium der Primat zukäme, müss‑ te es immer noch in Beziehung zu den anderen gesetzt werden, um im konkre‑ ten Fall zu begründen, warum es diese überwiegt.
(6) Zusammenfassung Für die derzeitige Rechtslage ist demnach charakteristisch, dass den Gerichten ein erheblicher Wertungsspielraum eröffnet ist. Wie sie ihn ausfüllen, ist struk‑ turell bedingt undurchsichtig. Die Kriterienkataloge enthalten keine konkreten Wertungen für konkrete Fallgestaltungen – und erst recht keine mechanisch subsumtionsfähigen Normen –, sondern sie lenken den Blick des jeweiligen Richters lediglich auf die Aspekte, die er im Rahmen einer Gesamtabwägung berücksichtigen muss. Die Stoßrichtung der Kritik der Literatur zielt dabei we‑ niger auf den Gedanken einer Abwägungsentscheidung als vielmehr auf die überbordende Komplexität der Kriterienkataloge. Insofern lassen sich aber zu‑ mindest Schwerpunkte bei der Verbreitung einzelner Kriterien feststellen. Im Rahmen der oben bei I. gebildeten drei Kategorien sind in diesem Sinne vor allem folgende Überlegungen von Bedeutung: im Rahmen der ersten Kategorie Entscheidungen des Ninth Circuit wird auf ähnliche Weise „the amount offered in settlement“ (= Hanlon-Faktor 4) als wichtigster Faktor bezeichnet, vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*12] (N. D. Cal. 2016). Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:49 merkt an, dass „the value of a settlement to the settling plaintiffs“ das zentrale Beurteilungskriterium darstelle. 151 Wal-Mart Stores, Inc. v. VISA U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 119 (2d Cir. 2005); ebenso Guippone v. BH S&B Holdings LLC, 2016 WL 5811888 [*6] (S.D.N.Y. 2016); Pennsylvania Public School Employees’ Retirement System v. Bank of America Corporation, 318 F.R.D. 19, 24 (S.D.N.Y. 2016).
§ 6: Die Kriterienkataloge
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eine Abwägung der Erfolgsaussichten des Rechtsstreits mit der Höhe der Er‑ satzleistungen sowie der Stand des Verfahrens, im Rahmen der zweiten Kate‑ gorie die Reaktion der class und als Kriterium der dritten Kategorie der Stand der discovery. Die Qualität der Vergleichsverhandlungen steht demgegenüber etwas abseits und wird nur in einigen Circuits geprüft, meist außerhalb der ei‑ gentlichen Kriterienkataloge.
bb) Die Kriterien der Principles of Aggregate Litigation Das American Law Institute formuliert in § 3.05 (a) seiner Principles of Aggre‑ gate Litigation als Gegenmodell zur derzeitigen Rechtsprechung einen knappen Kriterienkatalog: […] A court reviewing the fairness of a proposed class-action settlement must address, in on-the-record findings and conclusions, whether: (1) the class representatives and class counsel have been and currently are adequately representing the class; (2) the relief afforded to the class (taking into account any ancillary agreement that may be part of the settlement) is fair and reasonable given the costs, risks, probability of success, and delays of trial and appeal; (3) class members are treated equitably (relative to each other) based on their facts and circumstances and not disadvantaged by the settlement considered as a whole; and (4) the settlement was negotiated at arm’s length and was not the product of collusion.
Die Regelung des American Law Institute weicht demnach inhaltlich nicht grundsätzlich von der bisherigen Rechtsprechung ab, sondern versucht viel‑ mehr, deren Kernpunkte in einer pointierten und einfacher handhabbaren Form anzuordnen. Dabei formuliert sie keine spezifischen Anforderungen an einen Vergleich, sondern steckt einen Rahmen für dessen Bewertung ab. Sie spie‑ gelt die Unterscheidung zwischen zwei der eingangs beschriebenen Katego‑ rien wider: Einerseits stellt sie unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsstreits auf den Inhalt des Vergleichs ab, was einen der ersten Kate‑ gorie zuzuordnenden Gesichtspunkt darstellt (Faktoren 2 und 3). Andererseits berücksichtigt sie die Bedingungen, unter denen er zustande gekommen ist, also einem Aspekt, der von den Faktoren der dritten Kategorie erfasst wird (Fak‑ toren 1 und 4). Die Faktoren (2) und (3) decken so zwei der oben bei § 5 IV. genannten Konstellationen ab, in denen ein Vergleich unfair ist: zulasten der gesamten Gruppe oder eines Teils von ihr. Insbesondere Faktor (2) übernimmt dabei inhaltlich zwei der drei Kriterien, die allen Katalogen der Rechtsprechung gemein sind: Kosten und Dauer des Rechtsstreits sowie dessen Erfolgsaussich‑ ten. Auf die Reaktion der class als drittes dieser Kriterien verzichten die Prin‑ ciples jedoch. Ein scheinbarer Unterschied zu den oben dargestellten Kriterienkatalogen liegt darin, dass Punkt 1 unmittelbaren Rekurs auf die Frage nach der angemes‑
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
senen Repräsentation der Gruppe nimmt. Diese Regelung bedeutet aber keine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Kontrolle eines Vergleichs, son‑ dern ist vielmehr im Zusammenhang mit der Struktur der Principles of Aggre‑ gate Litigation zu sehen. Diese unterscheiden die certification der class und die Genehmigung des Vergleichs nicht immer als zwei Verfahrensschritte von‑ einander.152 Die Kommentierung zu § 3.05 (a) führt dementsprechend aus, dass die Angemessenheit der Repräsentation bei settlement class actions im Rahmen der Genehmigung des Vergleichs beurteilt werden müsse; werde ein Rechts‑ streit erst nach der certification verglichen, sei es ebenfalls geboten, noch ein‑ mal in Augenschein zu nehmen, wie die Anwälte das Verfahren seitdem ge‑ führt haben.153 Rule 23 FRCP trifft im Lichte der Rechtsprechung betrachtet keine andere Regelung: Eine class muss auf jeden Fall zertifiziert werden und falls dies frühzeitig geschieht, muss das Gericht fortwährend im Auge behalten, ob die entsprechenden Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind; die certificati‑ on kann notfalls aufgehoben werden.154 § 3.05 (a) der Principles of Aggregate Litigation betont dies nur noch einmal prononciert, ohne die bisherige Rechts‑ lage in Frage zu stellen. Die Stoßrichtung des ALI zielt vielmehr allgemein da‑ rauf, dass manche von der Rechtsprechung geprüfte Kriterien, wie die Anzahl der Austritte aus dem Vergleich oder dessen Zeitpunkt, keine klaren Leitlinien für die Beurteilung eines Vergleichs enthielten und demnach unergiebig seien. Zudem seien die Kriterien allgemein unbestimmt und schon ihre schiere Anzahl stifte Verwirrung.155 In den Reporter’s Notes klingt zudem eine generelle Kri‑ tik an starr formulierten Kriterien an.156 Der Katalog von § 3.05 (a) soll dem‑ entsprechend nicht abschließend sein; § 3.05 (b) weist ausdrücklich darauf hin, dass im Einzelfall auch andere als die dort genannten Aspekte von Bedeutung sein können.157
cc) Die Neufassung von Rule 23 FRCP seit Dezember 2018 Die seit dem 1. Dezember 2018 geltende Neufassung von Rule 23 (e) FRCP ent‑ hält eine reformierte Regelung zur Genehmigung von Vergleichen bei class ac‑ tions, die den Gerichten einige Kriterien vorgibt. Deren Aufzählung entspricht inhaltlich im Wesentlichen derjenigen der Principles of Aggregate Litigation. Rule 23 (e) (2) FRCP lautet nunmehr wie folgt: 152 153
Vgl. auch §§ 1.05, 2.02, 2.03, 2.07, 3.06 der Principles of Aggregate Litigation. ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment b. 154 Siehe oben S. 21. 155 Vgl. ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a und Reporter’s Notes zu Comment a. 156 Vgl. ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Reporter’s Notes: Effect on cur‑ rent law. 157 Vgl. auch ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment b.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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If the proposal would bind class members, the court may approve it only after a hearing and only on finding that it is fair, reasonable, and adequate after considering whether: (A) the class representatives and class counsel have adequately represented the class; (B) the proposal was negotiated at arm’s length; (C) the relief provided for the class is adequate, taking into account: (i) the costs, risks, and delay of trial and appeal; (ii) the effectiveness of any proposed method of distributing relief to the class, in‑ cluding the method of processing class-member claims; (iii) the terms of any proposed award of attorney’s fees, including timing of pay‑ ment; and (iv) any agreement required to be identified under Rule 23(e)(3); and (D) the proposal treats class members equitably relative to each other.
Die Committee Notes betonen, dass der neue Wortlaut nicht die hergebrach‑ ten Kriterien der Rechtsprechung verdrängen solle. Er bezwecke vielmehr den Blick des Gerichts und der Anwälte auf die Kernprobleme der Vergleichskon‑ trolle zu lenken. Die umfangreichen Kriterienkataloge der Rechtsprechung verschleierten diese oftmals und leisteten einem schematischen Prüfungsstil Vorschub. Die Gerichte fühlten sich verpflichtet, Schritt für Schritt auch im Ein‑ zelfall irrelevante Faktoren abzuhandeln; dabei gerieten die eigentlichen Pro‑ blempunkte nicht selten aus den Augen.158
dd) Das Manual for Complex Litigation: „red flags“ und abstrakte Kriterien Das Manual for Complex Litigation nähert sich der Frage nach den Maßstäben der richterlichen Kontrolle eines Vergleichs scheinbar aus einer anderen Per‑ spektive als die bislang behandelten Kriterienkataloge. Es geht in einem ersten Schritt nicht von abstrakten Kriterien aus, sondern identifiziert exemplarisch einige konkrete Problemkonstellationen.159 Rubenstein, der hierin einen eigen‑ ständigen Ansatz sieht, bezeichnet diese als „red flags“160 – also als Warnsig‑ nale, nach denen ein Richter tunlichst Ausschau halten sollte. Diese „red flags“ stehen nicht in Konkurrenz zu den Kriterienkatalogen der Gerichte, sondern er‑ gänzen diese vielmehr; in Gestalt konkreter Beispiele machen sie die langjäh‑ rige Erfahrung nutzbar, die im Bestand der Rechtsprechung verkörpert ist. Im Einzelnen liegt dem Manual zufolge nahe, dass ein Vergleich unfair ist, wenn zumindest einer der im Folgenden aufgezählten Punkte auf ihn zutrifft: (1) conducting a „reverse auction,“ in which a defendant selects among attorneys for competing classes and negotiates an agreement with the attorneys who are will‑ 158 Committee
Notes on Rules – 2018 Amendment, Abschnitt zu Rule 23 (e) (2) FRCP; vgl. auch Advisory Committee on Civil Rules, Agenda Book 2016/04, S. 103. 159 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61: „a number of recurring potential abuses in class action litigation that judges should be wary of as they review proposed sett‑ lements“. 160 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:56.
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(2) (3)
(4) (5) (6) (7) (8)
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
ing to accept the lowest class recovery (typically in exchange for generous attorney fees); granting class members illusory nonmonetary benefits, such as discount coupons for more of defendants’ product, while granting substantial monetary attorney fee awards; filing or voluntarily dismissing class allegations for strategic purposes (for example, to facilitate shopping for a favorable forum or to obtain a settlement for the named plaintiffs and their attorneys that is disproportionate to the merits of their respective claims); imposing such strict eligibility conditions or cumbersome claims procedures that many members will be unlikely to claim benefits, particularly if the settlement pro‑ vides that the unclaimed portions of the fund will revert to the defendants; treating similarly situated class members differently (for example, by settling objec‑ tors’ claims at significantly higher rates than class members’ claims); releasing claims against parties who did not contribute to the class settlement; releasing claims of parties who received no compensation in the settlement; setting attorney fees based on a very high value ascribed to nonmonetary relief awarded to the class, such as medical monitoring injunctions or coupons, or calcu‑ lating the fee based on the allocated settlement funds, rather than the funds actually claimed by and distributed to class members; and assessing class members for attorney fees in excess of the amount of damages awarded to each individual.161
Diese Beispiele beziehen sich – im Sinne der oben unter I. eingeführten Kate‑ gorien – ganz überwiegend unmittelbar auf die inhaltlichen Aspekte der Fair‑ ness und fallen damit in die erste Kategorie.162 Der Entstehungsprozess des Vergleichs findet dagegen nur zweitrangig Berücksichtigung.163 Zudem soll der Höhe der Anwaltsgebühren ausdrücklich eine Indizwirkung für die Fair‑ ness des Vergleichs zukommen.164 Die Reaktion der Gruppe als Element der zweiten Kategorie kommt in der Aufzählung dagegen nicht vor. Die neun Be‑ spiele spiegeln vielfach unmittelbar die oben bei § 5 IV. gebildeten Kategorien der möglichen Mängel von Vergleichen wider: Entweder erhalten die Gruppen‑ mitglieder insgesamt zu geringe Ersatzleistungen165 – beziehungsweise müs‑ sen in Gestalt des Verzichts auf weitere Ansprüche eine unangemessen hohe Gegenleistung erbringen166 – oder einzelne Gruppenmitglieder werden unge‑ rechtfertigt schlechter gestellt167 oder es bestehen unangemessene Hindernisse für die Inanspruchnahme der Leistungen168. Sie lassen sich dabei nicht präzise 161
Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61 [Ziffern der Aufzählung Erg. d. Verf.]. (4), (5), (6) und (7) sowie auch Nr. (1) und (3), soweit man auf eine negative Abweichung von dem sonst erzielbaren Ergebnis abstellt. 163 Nr. (3) sowie auch Nr. (1), soweit man den Akzent auf die unlautere Beeinflussung des Verhandlungsprozesses legt. 164 Nr. (8) und (9). 165 Nr. (1), (2) und (3). 166 Nr. (6) und (7). 167 Nr. (5). 168 Nr. (4). 162 Nr. (2),
§ 6: Die Kriterienkataloge
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einzelnen abstrakten Faktoren aus der Praxis der Gerichte zuordnen, zumal das Manual seine Beispiele überwiegend mit berufungsgerichtlichen Entscheidun‑ gen belegt, die sich mit Einzelfragen beschäftigen und nicht anhand eines Kri‑ terienkatalogs strukturiert sind.169 Es stellt auch selbst keinen direkten Bezug zu den abstrakten Kriterien her, die es in der Folge exemplarisch aufzählt.170 Sehr allgemein betrachtet lässt sich aber feststellen, dass die meisten Beispiele auf eine Situation hindeuten, in der jeweils ein Ungleichgewicht zwischen dem Vergleich und dem Ergebnis besteht, das die gesamte class oder einzelne ihrer Mitglieder bei einer streitigen Entscheidung der Sache wahrscheinlich erzielt hätten.171 Der Ansatz des Manual for Complex Litigation zeigt, dass es bei der richterlichen Kontrolle von Vergleichen darum geht, klar inakzeptable Verglei‑ che zu stoppen, nicht aber darum, jedes kleine Defizit zu identifizieren. Auch Macey und Miller beschäftigen sich mit den Problemen der richterli‑ chen Kontrolle von Vergleichen, ohne einen geschlossenen Kriterienkatalog zu formulieren oder auch nur diejenigen der Rechtsprechung zu erörtern. Im Hin‑ blick auf das Risiko von Interessengegensätzen und Kollusion beschreiben sie einen ähnlichen Ansatz wie das Manual und heben drei Konstellationen her‑ vor, denen die Gerichte ihrer Ansicht nach besondere Aufmerksamkeit widmen sollen: Neben dem Vorliegen von Verdachtsmomenten für eine reverse auction sind das der Umstand, dass ein Vergleich sehr früh im Laufe des Verfahrens zu‑ stande gekommen ist, sowie Ersatzleistungen, die nicht aus Geldzahlungen be‑ stehen. In der Begriffswahl weichen sie nur unwesentlich vom Manual ab und bezeichnen diese Gestaltungen als „yellow flags“. Dabei betonen sie allerdings mehrfach, dass diese im Einzelfall auch positive Auswirkungen haben können. Dementsprechend sollen sie der richterlichen Kontrolle standhalten können, wenn es den Parteien des Vergleichs gelingt, überzeugende Gründe dafür dar‑ zulegen.172
ee) Die Anforderungen des CAFA und ihre Einbeziehung in die Prüfung Der Class Action Fairness Act (CAFA) von 2005 sieht unabhängig von den Kriterienkatalogen der Gerichte weitere Prüfungsschritte vor, die jedoch zum Teil nur in bestimmten Konstellationen relevant sind. So versucht 28 U.S.C. 169 Dies
trifft vielmehr lediglich auf die Entscheidung In re General Motors Corp. PickUp Truck Fuel Tank Products Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 804 ff. (3d Cir. 1995) zu, die im Zusammenhang mit Nr. (2) genannt wird, sowie auf Molski v. Gleich, 318 F. 3d 937, 953 (9th Cir. 2003) und Bowling v. Pfizer, 143 F.R.D. 141, 151 (S. D. Ohio 1992), die beide die Ka‑ tegorie Nr. (7) illustrieren. 170 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.62. Diese Kriterien entsprechen oder äh‑ neln denjenigen der Rechtsprechung. 171 Vgl. Nr. (1), (2), (3), (5), (6), (7) sowie indirekt auch Nr. (9), da eine solche Gestaltung nur möglich sein wird, wenn die Geschädigten mit unangemessen geringen Beträgen abge‑ speist werden. 172 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 191 (2009).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
§ 1713 inakzeptablen Praktiken, wie sie in der schon oben beschriebenen Bank of Boston-Entscheidung zutage treten, gezielt einen Riegel vorzuschieben, indem die richterliche Kontrolle von Vergleichen verschärft wird, die Zah‑ lungsverpflichtungen oder andere materielle Einbußen zulasten der Geschädig‑ ten beinhalten.173 Das Gericht darf einen solchen Vergleich nur genehmigen, wenn es in schriftlicher Form feststellt, dass diese Nachteile durch nicht geld‑ werte Leistungen mehr als nur aufgewogen werden. Am Rande sei angemerkt, dass der CAFA vor allem die Zuständigkeitsordnung zugunsten der Bundes‑ gerichte abgeändert hat174 – denn die krassen Fehlentscheidungen, die proto‑ typisch für alles stehen sollen, was mit der class action nicht stimmt, stammten vorwiegend von einzelstaatlichen Gerichten.175 28 U.S.C. § 1712 (e) betrifft coupon settlements, ohne der Kontrolle von Vergleichen neue inhaltliche As‑ pekte hinzuzufügen.
ff) Schlussfolgerungen Die überkomplexen Kriterienkataloge, derer sich die undurchsichtige Recht‑ sprechung zur endgültigen Genehmigung eines Vergleichs bei der class action bedient, erlauben einem Betrachter, der mit der amerikanischen Praxis nicht vertraut ist, keine eindeutigen Schlüsse. Mit der gebotenen Vorsicht lässt sich daher allenfalls festhalten, dass der Genehmigungsentscheidung vor allem eine Risikobeurteilung zugrunde liegt, die den Vergleich ins Verhältnis zu dem Wert des geltend gemachten Anspruchs setzt. Dieser hängt wiederum vorrangig von den Aussichten einer hypothetischen Fortführung des Rechtsstreits ab. Daneben treten weitere Kriterien, insbesondere die Reaktion der class. Im Zentrum steht letztlich eine Wertungsentscheidung des Gerichts, die im besten Fall durch die in den Katalogen enthaltenen Kriterien strukturiert wird. Bei diesen Katalogen handelt es sich aber nicht um klar definierte „Tests“, sondern um Aufzählungen von Gesichtspunkten, die ein Gericht bei seiner Entscheidungsfindung berück‑ sichtigt. Diese muss nicht zwangsläufig auf eine Abwägung zwischen verschie‑ denen Kriterien hinauslaufen, die für oder gegen den Vergleich sprechen. Viel‑ mehr betrifft die Abwägungsentscheidung oftmals die Frage, ob ein bestimmter Mangel schwerwiegend genug ist, um die Genehmigung des Vergleichs zu ver‑ hindern. Bedient man sich der Diktion des Manual for Complex Litigation, geht es in so einem Fall also darum, ob eine „red flag“ erkennbar ist. In der Praxis wird ein Vergleich allerdings typischerweise nur dann scheitern, wenn er evi‑ dent unfair ist. Die Neufassung von Rule 23 (e) FRCP verwirft den bisherigen Ansatz der Rechtsprechung nicht. Sie versucht vielmehr, seine tragenden Struk‑ 173 Rep. No. 109–14 (2005), S. 32 verweist zur Begründung dieser Vorschrift ausdrücklich auf den Bank of Boston-Fall. Vgl. zu diesem oben S. 152 f. 174 28 U.S.C. § 1332 (d). 175 Klonoff, 90 Wash. U. L. Rev. 729, 743 (2013).
§ 6: Die Kriterienkataloge
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turen herauszuarbeiten und in wenige, aussagekräftige Kriterien zu fassen. Im Einklang damit zeigt eine kursorische Durchsicht einiger in Westlaw verfüg‑ barer Entscheidungen aus dem Februar 2019, dass sich die Praxis der amerika‑ nischen Bundesgerichte jedenfalls zu diesem Zeitpunkt trotz der Neufassung von Rule 23 (e) FRCP im Dezember 2018 – soweit aus der kleinen Stichprobe ersichtlich – nicht grundlegend geändert hatte und diese für das final approval weiterhin auf die etablierten Kriterienkataloge zurückgriffen.176
c) Die vorläufige Genehmigung (preliminary approval) des Vergleichs aa) Die Bedeutung von Kriterienkatalogen für die vorläufige Genehmigung Die vorläufige Genehmigung des Vergleichs ist funktionell betrachtet nichts an‑ deres als die Entscheidung darüber, ob die class über den Vergleich, der von ihren Repräsentanten geschlossen wurde, benachrichtigt werden soll. Wie man‑ che Gerichte betonen, stellt sie lediglich fest, dass hinreichende Anhaltspunkte (probable cause) dafür bestehen, dass der Vergleich später genehmigt werden wird.177 Die ihr zugrundeliegende rechtliche Prüfung weist demnach in noch deutlicherer Weise einen summarischen Charakter auf als bei der abschließen‑ den Genehmigung. Im Vergleich zu dieser sind die Anforderungen nach Aus‑ sage einiger Gerichte verringert.178 Andererseits scheinen manche Entschei‑ dungen keinen oder zumindest kaum einen Unterschied zwischen den beiden Prüfungsmaßstäben zu sehen.179 Zur Begründung ihrer Entscheidungen greifen die Gerichte bei der vorläufigen Genehmigung insgesamt weniger konsistent auf vorgefertigte Kriterienkataloge zurück als bei der endgültigen Genehmi‑ gung. Vorgaben der höheren Instanzen sind rar,180 möglicherweise auch deswe‑ 176 Vgl. Sharp Farms v. Speaks, 2019 WL 966600 [*17] (4th Cir. 2019); Brown v. Jo‑ nathan Neil and Associates, Inc., 2019 WL 636842 [*4 ff.] (E. D. Cal. 2019); Esomonu v. Om‑ nicare, Inc., 2019 WL 499750 [*3] (N. D. Cal. 2019); McArthur v. Edge Fitness, LLC, 2019 WL 718540 [*2] (D. Conn. 2019); Richardson v. Interstate Hotels & Resorts, Inc., 2019 WL 803746 [*2] (N. D. Cal. 2019). 177 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10 m. w. N. Zum terminologischen Streitpunkt der Bezeichnung als „approval“ oder „evaluation“ siehe oben S. 23. 178 Bellinghausen v. Tractor Supply Company, 303 F.R.D. 611, 619 (N. D. Cal. 2014) („The Court cannot fully assess all of these fairness factors until after the final approval hear‑ ing; thus, a full fairness analysis is unnecessary at this stage. Instead, the settlement need only be potentially fair […].“); In re National Football League Players’ Concussion Injury Litiga‑ tion, 961 F. Supp. 2d 708, 714 (E. D. Pa. 2014) („At the preliminary approval stage, the bar to meet the ‚fair, reasonable and adequate‘ standard is lowered […].“); vgl. auch Valdez v. Neil Jones Food Co., 2014 WL 3940558 [*7] (E. D. Cal. 2014). 179 Vgl. etwa Howell v. JBI, Inc., 298 F.R.D. 649, 656 ff. (D. Nev. 2014), wo nur im Zu‑ sammenhang mit der Beurteilung der Anwaltsgebühren darauf hingewiesen wird, dass eine endgültige Entscheidung insofern einer späteren Verfahrensphase vorbehalten bleibe (vgl. insb. a. a. O. 659). 180 In re High-Tech Employee Antitrust Litigation, 2014 WL 3917126 [*3] (N. D. Cal. 2014) („In contrast to these well-established, non-exhaustive factors for final approval, there
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
gen, weil keine Rechtsmittel gegen die vorläufige Genehmigung zur Verfügung stehen.181 Das Manual for Complex Litigation geht in seiner aktuellen Ausgabe jen‑ seits der allgemeinen Aussage, dass das Gericht eine vorläufige Entscheidung über die Fairness des Vergleichs treffen müsse, nur indirekt auf den Prüfungs‑ maßstab des preliminary approval ein, wenn es die Aufgaben des Richters im Rahmen eines preliminary fairness hearings beschreibt: The judge should raise questions at the preliminary hearing and perhaps seek an inde‑ pendent review if there are reservations about the settlement, such as unduly preferential treatment of class representatives or segments of the class, inadequate compensation or harms to the classes, the need for subclasses, or excessive compensation for attorneys.182
Die Principles of Aggregate Litigation des American Law Institute verweisen auf diesen Maßstab ohne sich selbst näher mit der Problematik auseinander‑ zusetzen.183 Wenn sich in Gerichtsentscheidungen zum preliminary approval ein Kriterienkatalog findet, geht er jedoch häufig auf eine Passage aus einer frü‑ heren Auflage des Manual for Complex Litigation zurück:184 If the proposed settlement appears to be the product of serious, informed, non-collusive negotiations, has no obvious deficiencies, does not improperly grant preferential treat‑ ment to class representatives or segments of the class, and falls within the range of pos‑ sible approval, then the court should direct that the notice be given to the class members of a formal fairness hearing […].185
Ein verbreiteter Kriterienkatalog, der vor allem in Kalifornien häufig ange‑ wendet wird186 – nicht jedoch in den außerhalb dieses Bundesstaats gelege‑ nen Teilen des Ninth Circuit –, übernimmt diesen Prüfungsmaßstab praktisch is relatively scant appellate authority regarding the standard that a district court must apply in reviewing a settlement at the preliminary approval stage.“). 181 Vgl. zum Fehlen von Rechtsmitteln In re National Football League Players Concus‑ sion Injury Litigation, 775 F. 3d 570 (3d Cir. 2014). 182 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. 183 ALI, Principles of Aggregate Litigation § 3.03, Reporter’s Notes zu Comment a. 184 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:10, der den nachfolgend zitierten Wortlaut abdruckt, dabei allerdings auf das Manual for Complex Litigation, Third, § 30:41 (1995) als Quelle verweist. Es handelt sich offenbar um ein Fehlzitat, da sich dessen Prüfungs‑ maßstab von dem folgenden Zitat insofern unterscheidet, als er nicht auf die Vergleichsver‑ handlungen eingeht, aber die Anwaltsgebühren erwähnt und damit näher an der Formulierung des aktuellen Manuals liegt. Auch die einschlägigen Entscheidungen, die die schon mehrfach erwähnte Recherche in Westlaw zutage gefördert hat, entsprechen eher der sogleich zitierten Formulierung aus dem Manual for Complex Litigation, Second von 1985. An anderer Stelle nennt auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, Fn. 3 zu § 13:10 ebenfalls die zweite Auf‑ lage des Manual. 185 Manual for Complex Litigation, Second, § 30.44 (1985). 186 Anwendung findet er v. a. im N. D. Cal. (in der in dieser Untersuchung zugrunde ge‑ legten Stichprobe in 59 % der Entscheidungen; der entsprechende Wert für Kalifornien beträgt demgegenüber 45 %, derjenige für den gesamten Ninth District 40 %).
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wortwörtlich.187 Der Unterschied zu dem Zitat aus dem aktuellen Manual liegt augenfällig darin, dass auch die Vergleichsverhandlungen Berücksichtigung finden sollen; die Anwaltsvergütung wird dagegen nicht gesondert erwähnt. Ansonsten weichen die beiden Ansätze nur terminologisch voneinander ab. Das „range of reasonableness“-Kriterium bezieht sich ebenso wie das Erfordernis, dass ungemessene Leistungen und Nachteile für die class vermieden werden müssen, auf den Inhalt des Vergleichs; zudem betonen beide Prüfungsmaßstäbe ihre Ablehnung ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen innerhalb der class. Im Second und Third Circuit188 kommt daneben teilweise auch ein von dem so‑ eben beschriebenen abweichender Katalog zur Anwendung: In requiring the court to screen for obvious problems, the preliminary approval inquiry asks whether (1) the negotiations occurred at arm’s length; (2) there was sufficient dis‑ covery; (3) the proponents of the settlement are experienced in similar litigation; and (4) only a small fraction of the class objected.189
Dabei verzichten die Gerichte des 2nd Circuit allerdings auf Punkt (4). Die‑ ser Katalog legt das Schwergewicht demnach auf die Aushandlung des Ver‑ gleichs und ihre Akteure. Insgesamt findet man in 37 % aller Entscheidungen aus dem Jahr 2014, die im Wege einer Recherche in Westlaw ermittelt wur‑ den,190 ein den obigen Beispielen ähnliches drei- oder vierschrittiges Prüfungs‑ schema. Dabei bestehen gewisse Variationen zwischen den Circuits oder auch zwischen den einzelnen District Courts innerhalb dieser Bezirke. Auch soweit sich die Rechtsprechung nicht eines derartigen Faktorenkatalogs bedient, liegen ihr regelmäßig ähnliche Überlegungen zugrunde. Die Mehrzahl aller Entschei‑ dungen aus der Recherche (71 %)191 bezieht die prozessualen Aspekte der Fair‑ ness eines Vergleichs ein; meist wird das ebenso wie in den obigen Kriterienka‑ talogen so formuliert, dass „arm’s length negotiations“192 oder die Abwesenheit von Kollusion193 vorausgesetzt werden. Zahlreiche Entscheidungen kombinie‑ ren eine solche prozessuale Komponente mit einer Bewertung des materiellen Vergleichsinhalts, wobei diese häufig anhand desselben „range of reasonable‑ 187 In der vorliegenden Stichprobe allerdings auch nur in 47 % der Entscheidungen der dortigen Federal District Courts. Meist wird dabei auf In re Tableware Antitrust Litigation, 484 F. Supp. 2d 1078, 1079 (N. D. Cal. 2007) verwiesen; diese Entscheidung bezieht sich wiede‑ rum ausdrücklich auf das Manual for Complex Litigation, Second, § 30.44 (1985). 188 24 % bzw. 56 % der dortigen Entscheidungen. 189 Harlan v. Transworld Systems, Inc., 302 F.R.D. 319, 324 (E. D. Pa. 2014) (Nachw. in‑ nerhalb des Zitats v. Verf. entfernt). 190 Siehe oben S. 170. 191 Inkl. derjenigen, die eines der o. g. drei- oder vierschrittigen Schemata anwenden. 192 So bspw. In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 714 (E. D. Pa. 2014); Kelen v. World Financial Network Nat. Bank, 302 F.R.D. 56, 68 (S.D.N.Y. 2014) („arm’s length negotiations between experienced, capable coun‑ sel after meaningful discovery“). 193 So bspw. Chambery v. Tuxedo Junction Inc., 10 F. Supp. 3d 415, 419 (W. D. N. Y. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
ness“- oder „range of approval“-Kriteriums erfolgt, das auch ein Element des oben an zweiter Stelle zitierten Prüfungsmaßstabs ist.194 Das steht im Einklang mit Rubensteins Einschätzung, der feststellt – und umfangreich belegt –, dass die Gerichte in den meisten Circuits im Kern auf eine Variation eines derartigen formell-materiellen Zwei-Komponenten-Standards zurückgreifen.195 Bei der Beurteilung des materiellen Inhalts des Vergleichs weisen vor allem die Entscheidungen aus dem Ninth Circuit eine Besonderheit auf – und zwar unabhängig davon, wie sie ihre Begründung sonst aufbauen. Sie beziehen sich überwiegend (59 % der einschlägigen Entscheidungen auf Basis der Recherche) auf den Kriterienkatalog für die abschließende Genehmigung – also in diesem Circuit die Hanlon- oder Churchill-Faktoren.196 Nicht selten gehen sie diese in der Begründung auf dieselbe Weise Schritt für Schritt durch, wie sie es auch beim final approval tun.197 Teilweise sind sie insofern aber – zumindest was die Darstellung angeht – auch weniger akribisch;198 das Spektrum reicht so weit, dass manche Entscheidungen den Hanlon-Standard zwar als maßgeblich bezeichnen, dann aber nicht näher auf seine einzelnen Elemente eingehen.199 Der bereits genannte Kriterienkatalog aus In re Tableware Antitrust Litigati‑ on200 wird oft mit demjenigen aus Hanlon kombiniert.201 Bei weitem nicht alle Entscheidungen weisen dabei jedoch darauf hin, dass sie Hanlon nur im Zu‑ sammenhang mit dem range of approval-Kriterium in Bezug nehmen, um fest‑ zustellen, ob der Vergleich Anhaltspunkte für hinreichende Aussichten auf seine spätere Genehmigung bietet,202 oder darauf, dass die Intensität der Prüfung im 194 So bspw. Kelen v. World Financial Network Nat. Bank, 302 F.R.D. 56, 68 (S.D.N.Y. 2014); Ogbuehi v. Comcast, 303 F.R.D. 337, 350 (E. D. Cal. 2014). Soweit ein Prü‑ fungsschema wie das o.g gem. In re Tableware Antitrust Litigation, 484 F. Supp. 2d 1078, 1079 (N. D. Cal. 2007) Anwendung findet, können materielle Aspekte daneben freilich auch unter anderen Überschriften behandelt werden, etwa bei der Frage nach „obvious deficiencies“ oder „preferential treatment“. Allgemein gilt, dass die Variationen in Aufbau und Darstellung ebenso facettenreich wie inhaltlich ohne Belang sind. 195 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:13 m. w. N. 196 Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998), siehe hierzu oben S. 176 ff. 197 So bspw. Hester v. Vision Airlines, Inc., 2014 WL 1366550 [4* f.] (D. Nev. 2014); Ro‑ sales v. El Rancho Farms, 2014 WL 6685611 [*10 ff.] (E. D. Cal. 2014); etwas knapper Ritchie v. Van Ru Credit Corp., 2014 WL 956131 [*4] (D. Ariz. 2014). 198 So bspw. Four In One Co., Inc. v. S. K. Foods, L. P., 2014 WL 28808 [*9 f.] (E. D. Cal. 2014); In re Google Referrer Header Privacy Litigation, 2014 WL 1266091 [*5] (N. D. Cal. 2014). 199 vgl. Ross v. Bar None Enterprises, Inc., 2014 WL 4109592 [*9] (E. D. Cal. 2014); Van‑ wagoner v. Siemens Industry, Inc., 2014 WL 1922731 [*7 ff.] (E. D. Cal. 2014). 200 In re Tableware Antitrust Litigation, 484 F. Supp. 2d 1078, 1079 (N. D. Cal. 2007). Siehe dazu auch oben Fn. 187. 201 In 64 % der Fälle aus dem Ninth Circuit aus der Recherche, in denen der Hanlon-Ka‑ talog Anwendung findet; das sind 25 % aller Fälle aus dem Gebiet dieses Circuits insgesamt. 202 So aber etwa Barani v. Wells Fargo Bank, N. A., 2014 WL 1389329 [*4] (S. D. Cal.) („[…] only review the parties’ proposed settlement to determine whether it is within the
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Vergleich zum final approval geringer sei.203 In den anderen Circuits wird der jeweilige Prüfungsmaßstab des final approval dagegen nur vereinzelt übernom‑ men oder auch nur ausdrücklich erwähnt.204
bb) Gründe für die Ablehnung der Genehmigung Unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei nicht zwingend um eine repräsentative Stichprobe handelt,205 wird im Folgenden ein Blick auf die 27 Entscheidungen (23 %)206 aus der bereits mehrfach erwähnten Recherche in Westlaw geworfen, in denen die vorläufige Genehmigung nicht erteilt wurde.207 Dabei wurde diese in 25 Entscheidungen vollständig abgelehnt und in einer,208 die mehrere Ver‑ gleiche mit verschiedenen Beklagten betrifft, teilweise. In einer weiteren Ent‑ permissible range of possible approval […]“); Dalton v. Lee Publications, Inc., 2014 WL 5325698 [*2] (S. D. Cal. 2014); Knutson v. Schwan’s Home Service, Inc., 2014 WL 3519064 [*2] (S. D. Cal. 2014) (diese drei Entscheidungen berufen sich insofern jeweils auf Alberto v. GMRI, Inc., 252 F.R.D. 652, 665 (E. D. Cal. 2008); im Übrigen stammen sie alle aus der Feder desselben Richters, Gonzalo P. Curiel, J.: man sollte nicht außer Acht lassen, dass viele Un‑ terschiede im Detail letztlich vor allem den stilistischen Präferenzen des jeweiligen Richters geschuldet sind); zudem: Nen Thio v. Genji, LLC, 14 F. Supp. 3d 1324, 1335 (N. D. Cal. 2014) („[…] preview the factors that ultimately inform final approval“); ebenso Christensen v. Hill‑ yard, 2014 WL 3381873 [*4] (N. D. Cal. 2014). 203 So aber etwa Four In One Co., Inc. v. S. K. Foods, L. P., 2014 WL 28808 [*9] (E. D. Cal. 2014) („the Court need not review the settlement in detail at this time“). 204 Auch hier werden ggf. die jeweiligen Faktoren oft nicht im Einzelnen dargestellt, vgl. bspw. Allen v. Dairy Farmers of America, Inc., 2014 WL 6682436 [*3 ff.] (D. Vt. 2014); In re Platinium and Palladium Commodities Litigation, 2014 WL 3500655 [S. 12] (S.D.N.Y. 2014) („At preliminary approval, it is not necessary to exhaustively consider the factors applicable to final approval.“). Für eine schulmäßige Prüfung der Grinnell-Faktoren i. R. d. preliminary approval vgl. dagegen Ballinger v. Advance Magazine Publishers, Inc., 2014 WL 7495092 [*2 f.] (S.D.N.Y. 2014); Singleton v. First Student Management LLC, 2014 WL 3865853 [*6 f.] (D. N. J. 2014) („[…] it is important to consider the final approval factors during this stage so as to identify any potential issues that could impede the offer’s completion.“); ähnlich, aber knapper Ortiz v. Chop’t Creative Salad Co., LLC, 2014 WL 1378922 [*12] (S.D.N.Y. 2014). Andererseits werden die Standards für die vorläufige und die abschließende Genehmigung bis‑ weilen sogar ausdrücklich voneinander getrennt, vgl. Gregory v. McCabe, Weisberg & Con‑ way, P. C., 2014 WL 2615534 [dort Fn. 6] (D. N. J. 2014) („In the context of final settlement approval, the Court must instead [Hervorhebung durch d. Verf.] determine whether the sett‑ lement constitutes a ‚fair, reasonable, and adequate‘ resolution […] in accordance with […] the nine (9) factors set forth in Girsh v. Jepson […]“); nicht explizit, aber im Endeffekt ähnlich Lizondro-Garcia v. Kefi LLC, 300 F.R.D. 169, 178 f. (S.D.N.Y. 2014). 205 Siehe oben S. 169. 206 Ca. zwei Drittel dieser Entscheidungen stammen aus dem Zuständigkeitsbereich des Ninth Circuit, der damit überrepräsentiert ist (sonst entfällt unter allen Entscheidungen aus der Recherche nur gut die Hälfte auf diesen Bezirk). Dies legt nahe, dass die Tendenz die Genehmi‑ gung eines Vergleichs abzulehnen dort stärker ausgeprägt ist als in anderen Teilen des Landes. 207 In zehn weiteren Entscheidungen (9 %) äußern die Gerichte Vorbehalte gegenüber dem ihnen jeweils vorliegenden Vergleich, ohne die vorläufige Genehmigung deswegen zu ver‑ weigern. 208 In re Motor Fuel Temperature Sales Practices Litigation, 2014 WL 5431133 (D. Kan. 2014).
202
Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
scheidung heißt es, dass die Genehmigung des Vergleichs aufgeschoben würde, bis gewisse Anpassungen erfolgt seien;209 letztlich kann man das auch als Ab‑ lehnung der Genehmigung werten, wenn man bedenkt, dass in diesem Fall auch sonst Nachbesserungen und eine erneute Einreichung möglich sind. Im Regelfall treten verschiedene Ablehnungsgründe kumuliert auf. Sie be‑ ziehen sich in der vorliegenden Stichprobe am häufigsten auf den Inhalt des Vergleichs oder auf die Benachrichtigung der Gruppenmitglieder (notice).210 Dabei ist der häufigste Grund, aus dem die Gerichte den Vergleichsinhalt für unfair halten, dass die Geschädigten im Gegenzug für die Leistungen aus dem Vergleich einen zu weitgehenden Anspruchsverzicht hinnehmen müs‑ sen.211 Dass ein Vergleich darauf abzielt, die Rechtslage zwischen den Betei‑ ligten abschließend zu regeln, ist dabei im Ausgangspunkt völlig in Ordnung und geradezu sein wesentlicher Zweck. Dementsprechend können die Parteien auch auf Ansprüche verzichten, die nicht Gegenstand der Klage waren. Pro‑ bleme entstehen jedoch, wenn Ansprüche einbezogen werden, die auf einer anderen Tatsachengrundlage aufbauen als der ursprüngliche Antrag.212 Un‑ zulässig ist es auch, wenn im Rahmen des Vergleichs einer opt out class ac‑ tion auf Ansprüche verzichtet wird, die nur im Wege eines arbeitsrechtlichen opt in-Verfahrens nach dem FLSA geltend gemacht werden können.213 Wei‑ terhin kann die Genehmigung eines Vergleichs daran scheitern, dass das Ge‑ richt zu dem Schluss kommt, ein Teil der Geschädigten werde gegenüber an‑ deren unverhältnismäßig benachteiligt. Bestehen in dieser Hinsicht besondere Risiken, kann es unter Umständen auch erforderlich sein, (zusätzliche) sub‑ classes oder subfunds zu bilden.214 Andererseits ist es ebenfalls denkbar, dass 209
Torres v. Toback, Bernstein & Reiss LLP, 2014 WL 1330957 (E. D. N. Y. 2014).
210 78 % bzw. 59 % der vorliegenden 27 Entscheidungen. 211 Hier bei neun von 27 Entscheidungen (33 %). Allerdings
stammen alle diese Entschei‑ dungen aus dem Ninth Circuit; das bedeutet aber nicht, dass ein solcher Einwand auf Ge‑ richte in diesem Bezirk beschränkt wäre, vgl. etwa Karvaly v. Ebay, Inc., 245 F.R.D. 71, 88 ff. (E. D. N. Y. 2007). 212 Hesse v. Sprint Corp., 598 F. 3d 581, 590 (9th Cir. 2010) („A settlement agreement may preclude a party from bringing a related claim in the future even though the claim was not presented and might not have been presentable in the class action, but only where the re‑ leased claim is based on the identical factual predicate as that underlying the claims in the set‑ tled class action.“); vgl. bspw. auch folgende Entscheidungen aus der hier zugrundegelegten Stichprobe (die überwiegend die o. g. Entscheidung zitieren): Christensen v. Hillyard, Inc., 2014 WL 3749523 [*4] (N. D. Cal. 2014); Lovig v. Sears, Roebuck & Co., 2014 WL 8252583 [*2] (C. D. Cal. 2014); Willner v. Manpower, Inc., 2014 WL 4370694 [*7] (N. D. Cal. 2014). 213 Vgl. Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*3] (N. D. Cal. 2014); Stokes v. Interline Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*4] (N. D. Cal. 2014). Eine Klage nach dem FLSA kann mit einer class action gemäß Rule 23 FRCP in einem Verfahren zu‑ sammengefasst werden, wenn diese auf einzelstaatliche arbeitsrechtliche Vorschriften gestützt wird, die ein höheres Schutzniveau bieten als der FLSA, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 23:40. 214 Torres v. Toback, Bernstein & Reiss LLP, 2014 WL 1330957 [*2] (E. D. N. Y. 2014)
§ 6: Die Kriterienkataloge
203
die Vergleichssumme insgesamt zu gering ausgefallen ist.215 Schließlich soll eine Regelung, nach der nicht in Anspruch genommene Mittel an den Schädi‑ ger zurückfallen (reversion of funds216, reversionary clause217, retention pro‑ vision218 oder auch claims-made settlement219), die Fairness eines Vergleichs in Frage stellen können.220 Allerdings kann eine solche Gestaltung im Ein‑ zelfall auch ihre Berechtigung haben; beispielsweise gibt sie dem Beklagten Planungssicherheit, indem sie eine nicht zwingend auszuschöpfende Maxi‑ malsumme festlegt, und kann ihn daher zu einem höheren Vergleichsangebot motivieren. Sie hat somit keinesfalls zwangsläufig die Ablehnung des Ver‑ gleichs zur Folge. Es bedarf lediglich besonderer Rücksichtnahme auf die ihr inhärenten Risiken.221 Soweit es um die notice geht, setzt die gerichtliche Kritik entweder bei ihren inhaltlichen Fehlern und Unvollständigkeiten,222 bei ihrer mangelnden Klar‑ heit und Verständlichkeit223 oder bei dem Verfahren ihrer Bekanntmachung an.224 Einen weiteren Grund es abzulehnen einen Vergleich zu genehmigen, haben die Gerichte, wenn ihnen der Vortrag der Parteien keine angemessene (Aufteilung in subclasses); Johnson v. Metlife Inc., 2014 WL 2881530 [*2] (C. D. Cal. 2014) (zusätzlicher subfund). 215 Hier in fünf von 27 Fällen (19 %), vgl. etwa In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 715 (E. D. Pa. 2014); Cullan and Cullan LLC v. M‑Qube, Inc., 2014 WL 347034 [*9] (D. Neb. 2014). 216 So Stokes v. Interline Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*1] (N. D. Cal. 2014). 217 So Valdez v. Neil Jones Food Co., 2014 WL 3940558 [*11] (E. D. Cal. 2014). 218 So etwa In re National Collegiate Athletic Association Student-Athlete Concussion In‑ jury Litigation, 2014 WL 7237208 [*9] (N. D. Ill. 2014). 219 So Anderson/Trask, Class Action Playbook § 8.03[2]. Der Terminus „claims-made settlement“ bezeichnet laut Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:7 überwiegend einen Vergleich, bei dem es im Gegensatz zu einem common fund-Vergleich keine feststehende Vergleichssumme gibt, sondern bei dem es darauf ankommt, welche der angebotenen Ersatz‑ leistungen die Gruppenmitglieder in Anspruch nehmen. Das hat natürlich ebenfalls zur Folge, dass nicht in Anspruch genommene Leistungen beim Schädiger verbleiben; die Perspektive ist aber eine andere. 220 Hier in vier von 27 Fällen (15 %), vgl. etwa In re National Collegiate Athletic Associa‑ tion Student-Athlete Concussion Injury Litigation, 2014 WL 7237208 [*9] (N. D. Ill. 2014); Small v. Target Corp., 53 F. Supp. 3d 1141, 1143 (D. Minn. 2014). 221 Anderson/Trask, Class Action Playbook § 8.03[2]. 222 Vgl. Chesbro v. Best Buy Stores, L. P., 2014 WL 793362 [*4] (N. D. Cal. 2014); Howell v. JBI, Inc., 298 F.R.D. 649, 661 (D. Nev. 2014); McClean v. Health Systems, Inc., 2014 WL 3907794 [*6] (W. D. Mo. 2014); Taylor v. West Marine Products, Inc., 2014 WL 7388780 [*3] (N. D. Cal. 2014). 223 Vgl. Allen v. Dairy Farmers of America, Inc., 2014 WL 3900324 [*2 f.] (D. Vt. 2014); Ceja-Corona v. CVS Pharmacy, Inc., 2014 WL 4472691 [*9] (E. D. Cal. 2014); Stokes v. Inter‑ line Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*6] (N. D. Cal. 2014). 224 Vgl. Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*4 f.] (N. D. Cal. 2014); Otey v. CrowdFlower, Inc., 2014 WL 1477630 [*5] (N. D. Cal. 2014); Small v. Target Corp., 53 F. Supp. 3d 1141, 1143 f. (D. Minn. 2014); Valdez v. Neil Jones Food Co., 2014 WL 3940558 [*8] (E. D. Cal. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Beurteilungsgrundlage zur Verfügung stellt.225 Auf den Ablauf der Vergleichs‑ verhandlungen beziehen sie sich dagegen nur selten226; gegebenenfalls wird auch in diesem Zusammenhang vor allem der Aspekt einer unzureichenden Er‑ mittlung der Tatsachengrundlage vorgebracht, so dass insoweit dem Verhand‑ lungsprozess selbst keine eigenständige Bedeutung zukommt.227 Dass typi‑ scherweise verschiedene Ablehnungsgründe zusammenkommen, trifft hier in besonderem Maße zu. Auch jenseits der Ergebnisse der hier zugrunde geleg‑ ten Recherche in Westlaw gilt, dass ein Vergleich auf der Ebene des prelimina‑ ry approval üblicherweise nicht allein daran scheitern wird, dass er nach kur‑ zen Verhandlungen und ohne nennenswerte Tatsachenermittlung im Rahmen der discovery zustande gekommen ist, sofern er nicht gerade erwiesenermaßen die Folge von Kollusion ist.228 Auch wenn die Vergleichsverhandlungen den Anforderungen genügen, stellen die Gerichte dies nicht selten ausführlich fest. Insbesondere die Beteiligung eines Mediators soll sich in dieser Hinsicht po‑ sitiv auswirken.229 Zuletzt können auch die Höhe des Honorars, das die Anwälte der Gruppe er‑ halten sollen,230 sowie Sonderzahlungen an die Repräsentativkläger (incentive awards) zur Sprache kommen.231 Nach einer Entscheidung – die die vorläufige Genehmigung aber aus anderen Gründen ablehnt – sollen diese Gesichtspunkte allerdings erst im Zusammenhang mit der endgültigen Genehmigung des Ver‑ gleichs Bedeutung gewinnen. Sie stünden daher seiner vorläufigen Genehmi‑ gung nicht im Wege.232 Es scheint dem Gericht in diesem Fall in erster Linie darum zu gehen, die Parteien auf eventuelle Problempunkte aufmerksam zu machen. Andere Entscheidungen weichen hiervon ab. So soll eine sogenann‑ te „clear-sailing clause“, mit der ein Beklagter sich verpflichtet, nicht den Ein‑ wand zu erheben, dass die Vergütung der Anwälte zu hoch bemessen sei, den Verdacht der Kollusion begründen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn Gründe dargelegt werden, die es rechtfertigten eine derartige Klausel in den Vergleich 225 52 %
der vorliegenden 27 Entscheidungen. Die Bedeutung der Entscheidungsgrund‑ lage des Gerichts wird eingehend unten in § 7 dieser Untersuchung thematisiert. 226 Drei der vorliegenden 27 Entscheidungen, also 11 %. 227 Vgl. Cullan and Cullan LLC v. M‑Qube, Inc., 2014 WL 347034 [*8] (D. Neb. 2014) (keine discovery erfolgt); Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*8] (N. D. Cal. 2014) (unzureichender Rückgriff auf Sachverständige zur Ermittlung der Schadenshöhe); anders‑ herum bringt Howell v. JBI, Inc., 2014 WL 4072054 [*2] (D. Nev. 2014) angesichts inhalt‑ licher Mängel des Vergleichs Zweifel zum Ausdruck, ob die Vergleichsverhandlungen korrekt abgelaufen sind. 228 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14. 229 So etwa Zepeda v. PayPal, Inc., 2014 WL 718509 [*5] (N. D. Cal. 2014); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14 m. w. N. 230 Vgl. etwa Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*9] (N. D. Cal. 2014). 231 Vgl. etwa Wallace v. Countrywide Home Loans, Inc., 2014 WL 5819870 [*5] (C. D. Cal. 2014) (incentive awards verstärken Interessenkonflikt). 232 Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*9] (N. D. Cal. 2014).
§ 6: Die Kriterienkataloge
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aufzunehmen.233 Im Hinblick auf die Höhe von incentive awards hat zumindest der District Court für den Northern District of California Richtwerte entwickelt; werden diese überschritten, spricht das gegen den Vergleich.234 Die Problema‑ tik von incentive awards liegt einerseits in der Ungleichbehandlung von ein‑ fachen Gruppenmitgliedern und Repräsentativklägern, die schließlich auch zur class gehören.235 Andererseits besteht auch die Gefahr, dass die Repräsentativ‑ kläger keinerlei Anreiz haben, sich einem „sweetheart deal“ zu widersetzen, wenn sie selbst nicht unter dessen Nachteilen zu leiden hätten.236 Die soeben referierten Entscheidungen spiegeln im Übrigen weitgehend Ru‑ bensteins Aufstellung der Gründe wieder, an denen die vorläufige Genehmi‑ gung des Vergleichs typischerweise scheitert: Er nennt insofern neben einer un‑ zureichenden absoluten Höhe der Vergleichssumme noch: unangemessen hohe Anwaltsgebühren, die ungerechtfertigte Bevorzugung der Repräsentativklä‑ ger gegenüber der Gruppe, Mängel im Hinblick auf die Benachrichtigung der Gruppe, unnötige Hürden bei der Geltendmachung von Ansprüchen, eine un‑ faire Verteilung der Vergleichssumme und einen zu weitgehenden Anspruchs‑ verzicht. Besonders hebt er dabei die Bedeutung einer einwandfreien Planung für die Benachrichtigung der Gruppe hervor.237 In prozessualer Hinsicht ist ihm vor allem die nicht-kollusive Natur der Vergleichsverhandlungen (arm’s length negotiations) wichtig;238 dieser Gesichtspunkt wird in den der Stichprobe ent‑ nommenen Entscheidungen dagegen nur indirekt deutlich.
cc) Analyse Stilistisch wie auch hinsichtlich ihres Umfangs variieren die 27 Entscheidungen erheblich. Einheitliche Standards lassen sich in nur sehr begrenztem Maße aus‑ machen. Ein Blick auf die Gründe, aus denen die vorläufige Genehmigung in der oben beschriebenen Gruppe von Entscheidungen abgelehnt wurde, fördert einen Gegensatz zu den Kriterienkatalogen für die abschließende Genehmigung zutage.239 Zunächst fällt auf, dass die Gerichte auf einzelne konkrete Aspekte des Vergleichs und seiner Genese abstellen, um die Ablehnung der vorläufigen Genehmigung zu begründen. Diese inhaltlichen Gesichtspunkte werden dabei 233 So
Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*5] (N. D. Cal. 2014). 234 Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*9] (N. D. Cal. 2014); Stokes v. Interline Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*6] (N. D. Cal. 2014); vgl. auch Jacobs v. Cal. State Auto. Ass’n Inter – Ins. Bureau, 2009 WL 3562871 [*5] (N. D. Cal. 2009) m. w. N. 235 Vgl. Valdez v. Neil Jones Food Co., 2014 WL 3940558 [*11] (E. D. Cal. 2014). 236 Taylor v. West Marine Products, Inc., 2014 WL 7388780 [*2] (N. D. Cal. 2014). 237 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:15. 238 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14. 239 Der Ablehnungsgrund einer mangelnden Beurteilungsgrundlage soll dabei allerdings zunächst außer Acht gelassen und erst in § 7 näher beleuchtet werden.
206
Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nur selten als Unterpunkte des range of approval-Kriteriums diskutiert240 – so‑ fern dieses überhaupt geprüft wird. Deutlich häufiger ist die Einordnung als offensichtlicher Mangel (obvious deficiency). Meist konzentriert sich die Be‑ gründung auf einzelne Ablehnungsgründe, die nach Art einer Mängelliste nach‑ einander abgearbeitet werden, ohne sich deutlich an ein vorgegebenes Schema zu halten.241 Damit ist freilich keinesfalls widerlegt, dass hinter der Wertungsentschei‑ dung, ob eine bestimmte Gestaltung noch zulässig ist oder nicht, letztlich nicht doch eine Gesamtabwägung aller dem Gericht bekannten Informationen steht. Auf eine Bewertung der Erfolgsaussichten des Rechtsstreits stellen die Krite‑ rienkataloge zum preliminary approval anders als diejenigen zum final approval jedoch nicht ab, wenn man davon absieht, dass manche Gerichte auch die Kata‑ loge zum final approval in die Entscheidung über das preliminary approval ein‑ beziehen.242 Eine Ausnahme stellt die Entscheidung In re High-Tech Employee Antitrust Litigation dar. Bei ihr bestand aber die Besonderheit, dass das Gericht auf die Ergebnisse eines Parallelverfahrens zurückgreifen konnte.243 Wenn ein Gericht abgelehnt hat, einen Vergleich vorläufig zu genehmigen, ist damit nicht das letzte Wort über diesen gesprochen. Die Parteien können vielmehr jederzeit einen abgeänderten Vorschlag einreichen. Nicht selten sind mehrere Anläufe nötig, bis das Gericht zufriedengestellt ist. Auch angesichts der oft erheblichen Verfahrensdauer kann die hier zugrunde gelegte Recherche in Westlaw zwar nur einen unvollkommenen Einblick bieten. Innerhalb des von ihr erfassten Jahres wurde aber immerhin in sechs der 27 Verfahren, in denen zunächst eine ablehnende Entscheidung erfolgt war, noch ein Vergleich vorläu‑ fig genehmigt;244 für ein weiteres findet sich nur die endgültige Genehmigung, die vorläufige wurde dort offenbar nicht veröffentlicht.245 Bis Ende Januar 2016 wurden noch in fünf weiteren der genannten Verfahren vorläufige Genehmigun‑ gen erteilt;246 in zwei dieser Verfahren und zwei weiteren, in denen die vorläu‑ 240 So aber z. B. Christensen v. Hillyard, Inc., 2014 WL 3381873 [*4] (N. D. Cal. 2014); Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*8] (N. D. Cal. 2014). 241 Vgl. etwa In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 715 f. (E. D. Pa. 2014). 242 Siehe oben S. 200. 243 In re High-Tech Employee Antitrust Litigation, 2014 WL 3917126 [*4] (N. D. Cal. 2014). 244 Allen v. Dairy Farmers of America, Inc., 2014 WL 6682436 (D. Vt. 2014); Chesbro v. Best Buy Stores, L. P., 2014 WL 1871030 (W. D. Wash. 2014); Christensen v. Hillyard, Inc., 2014 WL 4184811 (N. D. Cal. 2014) (betrifft zwei Verfahren); In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 301 F.R.D. 191 (E. D. Pa. 2014); R. H. v. Premera Blue Cross, 2014 WL 3867617 (W. D. Wash. 2014). 245 Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 7247065 (N. D. Cal. 2014); dies ist im Übrigen ein Beleg für die uneinheitliche Veröffentlichungspraxis. 246 Ceja-Corona v. CVS Pharmacy, Inc., 2015 WL 925598 (E. D. Cal. 2015); In re Na‑ tional Collegiate Athletic Association Student-Athlete Concussion Injury Litigation, 2016 WL 3854603 (E. D. Pa. 2016); Taylor v. West Marine Products, Inc., 2015 WL 307236 (N. D. Cal.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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fige Genehmigung anscheinend nicht veröffentlicht wurde, sind bis zu diesem Zeitpunkt auch die endgültigen Genehmigungen ergangen.247 Zudem wurde bislang in zwei weiteren Verfahren die vorläufige Genehmigung nochmals ab‑ gelehnt.248 Dies legt den Schluss nahe, dass die vorläufige Genehmigung nicht nur punktuell als eine bestimmte Schwelle im Verfahren definiert werden soll‑ te. Stattdessen ist sie oftmals das Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses, der nicht zuletzt auch durch die Einflussnahme des Gerichtes geprägt wird. Die Kompetenz, das preliminary approval abzulehnen, bietet dem Gericht also nicht zuletzt eine Möglichkeit, im Rahmen der rechtlichen Vorgaben Einfluss auf die Ausgestaltung eines Vergleichs zu nehmen.
d) Zusammenhänge zwischen vorläufiger und endgültiger Genehmigung Eine Schlussfolgerung drängt sich am Ende dieses Abschnitts auf, wenngleich sie unbefriedigend ist: Es fällt schwer, klare und verallgemeinernde Aussagen über die Wertungsmaßstäbe zu treffen, die amerikanische Gerichte zugrunde legen, wenn sie Vergleiche im Rahmen der class action genehmigen – oder auch nicht genehmigen. Auch wenn man die von ihnen in Bezug genommenen Kriterien leicht verschiedenen Kategorien zuordnen kann, wie es hier versucht wurde, bleibt deren Aussagegehalt letztlich schwer fassbar. Im Kern jedes Falls steht eine individuelle Wertungsentscheidung des jeweiligen Gerichts, die sich nicht immer anhand der Entscheidungsgründe nachvollziehen lässt. Die Kri‑ terien geben der richterlichen Prüfung im besten Fall einen Rahmen und eine Struktur – im schlechtesten werden sie rein mechanisch und lediglich pro forma reproduziert. Die Rechtsprechung zeigt keine Neigung, Präjudizien zu schaf‑ fen, wie bestimmte Sachverhaltskonstellationen zu bewerten sind. Allenfalls in einzelnen Fällen orientiert sie sich an Parallelverfahren.249 Insgesamt bleibt der Gesamteindruck, dass der jeweilige Richter über erhebliche Freiräume verfügt, seine Entscheidungen und ihre Begründungen so auszugestalten, wie er es im Einzelfall für richtig hält. Eine grundlegende Differenzierung gibt die Rechtsprechung allerdings vor: diejenige zwischen dem preliminary approval und dem final approval. Insofern bietet die hier zugrunde gelegte Recherche in Westlaw ein Ergebnis, das nach weiterer Untersuchung verlangt: Obwohl die endgültige Genehmigung so gut 2015); Willner v. Manpower, Inc., 2015 WL 54349 (N. D. Cal. 2015); Zepeda v. PayPal, Inc., 2015 WL 6746913 (N. D. Cal. 2015). 247 In re High-Tech Employee Antitrust Litigation, 2015 WL 5159441 (N. D. Cal. 2015); In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 307 F.R.D. 351 (amended: 2015 WL 12827803) (E. D. Pa. 2015). 248 Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2015 WL 7271805 (N. D. Cal. 2015); Valdez v. Neil Jones Food Co., 2015 WL 1443101 (E. D. Cal. 2015). 249 Etwa in In re High-Tech Employee Antitrust Litigation, 2014 WL 3917126 [*4] (N. D. Cal. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
wie nie abgelehnt wird, ist eine Versagung der vorläufigen Genehmigung um‑ gekehrt relativ häufig. Man sollte sich angesichts dessen aber nicht vorschnell zu dem Urteil hinreißen lassen, dass das final approval unkritisch erteilt würde. Vielmehr spricht einiges dafür, dass man die Genehmigung des Vergleichs als einen vielschichtigen Prozess begreifen sollte, der von einer Kontrollebene zur nächsten fortschreitet.250 Das final approval steht nicht monolithisch da, son‑ dern bildet nur eine dieser Ebenen – und noch nicht einmal die letzte: Abge‑ schlossen wird das Verfahren erst mit der Entscheidung über das Anwaltshono‑ rar. Zumindest in fee shifting-Fällen steht erst dann der Preis vollständig fest, den der Beklagte für den umfassenden Rechtsfrieden zahlt, der ihm durch den Vergleich einer class action gewährt wird.251
2. Das WCAM a) Die Genehmigungspraxis des gerechtshof Amsterdam und der gesetzliche Kriterienkatalog Der gerechtshof Amsterdam erklärte in den ersten Entscheidungen zum WCAM die ihm vorgelegten Vereinbarungen durchgehend für bindend.252 In zwei neue‑ ren Verfahren lehnte er dies hingegen zunächst ab und gab den Antragstellern auf, Änderungen vorzunehmen, bevor sie ihre jeweilige Übereinkunft erneut einreichen.253 In beiden Fällen hat er die Genehmigung aber inzwischen erteilt, nachdem die Antragssteller die Übereinkunft seinen Vorgaben entsprechend an‑ gepasst hatten.254 Auch beim Stil der Entscheidungen ist eine Entwicklung aus‑ zumachen. Nachdem die Begründung für die Genehmigung der Übereinkunft im DES‑Fall zunächst äußerst knapp ausgefallen war, enthalten insbesondere die neueren Entscheidungen teils sehr umfangreiche Ausführungen. 250
Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 64 ff. Rechtsfrieden ist freilich nur eingeschränkt, da ein Beklagter möglicherweise von weiteren Klägern in Anspruch genommen wird. Dann kann er sich aber angesichts der opt out-Struktur des Verfahrens ggf. mit dem Einwand verteidigen, dass es infolge des Vergleichs ausgeschlossen sei weitere Ansprüche geltend zu machen, vgl. Anderson/Trask, Class Action Playbook, § 8.05[3]. 252 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 1. 06. 2006, ECLI:NL:GHAMS:2006: AX6440 (DES); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS: 2007:AZ7033 (Dexia); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 04. 2009, ECLI:NL: GHAMS:2009:BI2717 (Vie d’Or); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI: NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 15. 07. 2009, ECLI: NL:GHAMS:2009:BJ2691 (Vedior); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS:2012:BV1026 (Converium). 253 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014: 1690 (DSB‑Bank I ); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL: GHAMS:2017:2257 (Fortis I ). 254 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 4. 11. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:4560 (DSB‑Bank II ); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 08. 2018, ECLI:NL:GHAMS: 2018:2422 (Fortis II ). 251 Dieser
§ 6: Die Kriterienkataloge
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Die gesetzliche Grundlage für die richterliche Kontrollbefugnis bildet Art. 7:907 Abs. 3 BW, der die Voraussetzungen regelt, die eine Vereinbarung er‑ füllen muss. Dabei fällt zunächst ein formaler Unterschied zu den Kriterienkata‑ logen bei der class action auf: Das WCAM nennt nicht etwa Gesichtspunkte, die berücksichtigt werden müssen, sondern es stellt einen Katalog von Ausschluss‑ gründen zusammen.255 Das Gericht soll dementsprechend die Genehmigung einer Vereinbarung verweigern, wenn: (a) die Vereinbarung nicht zumindest die in Art. 7:907 Abs. 2 BW benannten Gesichts‑ punkte regelt;256 (b) der Umfang der vereinbarten Ersatzleistungen nicht angemessen ist – beispielsweise angesichts der Höhe oder der möglichen Ursachen des Schadens sowie der voraus‑ sichtlichen Dauer und Komplexität der Schadensabwicklung; (c) es nicht hinreichend sicher ist, dass die den Geschädigten in der Vereinbarung zu‑ gestandenen Ansprüche erfüllt werden können; (d) die Vereinbarung keine unabhängige Schlichtung von Streitigkeiten, die sich aus ihr ergeben, durch jemand anderen als den gesetzlichen Richter vorsieht; (e) die Interessen der Geschädigten in anderer Hinsicht nicht angemessen gewahrt wer‑ den; (f) die Stiftungen oder Vereine, die die Vereinbarung ausgehandelt haben, nicht hinrei‑ chend repräsentativ für die Interessen der Geschädigten sind; (g) die Anzahl der Geschädigten nicht groß genug ist, um die Verbindlicherklärung der Vereinbarung zu rechtfertigen; (h) der Vereinbarung zufolge eine juristische Person die Schäden ersetzen soll, die nicht selbst Partei dieser Vereinbarung ist.257
Stellt man diese Kriterien denjenigen bei der amerikanischen class action ge‑ genüber, fällt zunächst ins Auge, dass zwei Prüfungspunkte, nämlich das Re‑ präsentativitätserfordernis (f ) und die Anforderungen an die Gruppengröße (g), Regelungsmaterien betreffen, die im amerikanischen Recht ihre Entsprechun‑ gen im Rahmen der certification der class finden, also einer von der Beurteilung des Vergleichsinhalts getrennten Zulässigkeitsvoraussetzung, die lediglich bei einer settlement class action und auch dort nur zeitlich mit der Genehmigung eines Vergleichs zusammenfällt. Das WCAM sieht hingegen keine gesonderten richterlichen Entscheidungen im Vorfeld der Genehmigung einer Vereinbarung vor und integriert die Überprüfung der Anforderungen an die Zusammenset‑ zung der Gruppe und die Qualifikation ihrer Repräsentanten daher folgerich‑ tig in eine einheitliche Genehmigungsentscheidung. Dennoch sollen diese Ge‑ sichtspunkte im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben, um den Fokus der vorliegenden Untersuchung nicht unnötig auszuweiten. 255 Diesen
Unterschied betont insbesondere Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 186. 256 Die dortige Aufzählung betrifft unter anderem die Definition der von der Vereinbarung erfassten Gruppe und die Frage, unter welchen Bedingungen welche Leistungen beansprucht werden können. 257 Übersetzung des Verf.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Als die bei der class action für das final approval am weitesten verbreite‑ ten Kriterien wurden bereits erstens Komplexität, Kosten und voraussichtliche Dauer des Rechtsstreits, zweitens dessen materielle Erfolgsaussichten und drit‑ tens die Reaktion der class auf den Vergleich identifiziert.258 Von diesen Kri‑ terien nennt Art. 7:907 Abs. 3 lit. (b) BW nur „die voraussichtliche Dauer und Komplexität der Schadensabwicklung“. Unter den Aufzählungspunkten (a), (b), (c), (d) und (h) stellt es daneben zahlreiche – teils sehr spezifische – inhalt‑ liche Anforderungen auf, denen eine Vereinbarung genügen muss. Der Unter‑ punkt (e) enthält eine Auffangregelung für den Fall, dass die Interessen der Ge‑ schädigten in anderer Hinsicht nicht angemessen gewahrt werden. Punkt (c) stellt klar, dass die Geschädigten in der Lage sein müssen, ihre Ansprüche aus der Vereinbarung durchzusetzen. Damit ähnelt er dem siebten Faktor des ame‑ rikanischen Grinnell-Katalogs, der vorsieht, „the ability of the defendants to withstand a greater judgment“ zu berücksichtigen. Anders als dieser dient er aber nicht lediglich als Hilfe bei der Beurteilung der Angemessenheit der Er‑ satzleistungen. Stattdessen legt er den Akzent auf die Frage der praktischen Durchsetzbarkeit der Ansprüche.259
b) Angemessenheit der Ersatzleistungen Das Kernelement des niederländischen Kriterienkatalogs ist in Aufzählungs‑ punkt (b) von Art. 7:907 Abs. 3 BW niedergelegt. Bei der übergreifenden Fra‑ gestellung, ob die vereinbarten Ersatzleistungen angemessen sind, handelt sich dabei nicht um ein Kriterium im Sinne der Kategorienbildung von Piché, von dem aus auf die Fairness einer Übereinkunft geschlossen werden kann, son‑ dern um eine allgemeine Umschreibung des Ziels der richterlichen Genehmi‑ gung, ein für die Geschädigten akzeptables Ergebnis zu gewährleisten.260 Dazu kombiniert der gerechtshof verschiedene Überlegungen, wobei die in der Norm aufgezählten Gesichtspunkte nicht abschließend sind.261 Seine Entscheidungen erläutern die relevanten Inhalte der Übereinkunft und setzen sich dabei mit ein‑ zelnen Problempunkten auseinander.262 Diese Ausführungen können einen be‑ achtlichen Umfang erreichen. Die anderen Kriterien, die Art. 7:907 Abs. 3 BW 258
Siehe oben S. 182. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 220, die die niederländische Re‑ gelung insofern für eine Verbesserung gegenüber der amerikanischen hält. 260 Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 292 (2014); vgl. etwa gerechts‑ hof Amsterdam, beschikking v. 29. 04. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI2717 (Vie d’Or), Rn. 4.11–4.16; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009: BI5744 (Shell), Rn. 6.10–6.20; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL: GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank), Rn. 7. 261 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 354. 262 Allenfalls oberflächlich anders, da auch hier insofern kein feststehender Krite‑ rienkatalog vorausgesetzt wird: gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell), Rn. 6.16–6.18. 259 Vgl.
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aufzählt, werden dagegen deutlich knapper geprüft und oftmals mehr oder we‑ niger pauschal bejaht.263 Im Folgenden sollen einzelne Gesichtspunkte vor‑ gestellt werden, denen ein Aussagegehalt im Hinblick auf die Angemessenheit der Ersatzleistungen zukommen soll.
aa) Die Bedeutung der Reaktionen der Geschädigten und interessierter Dritter Auch wenn das Gesetz in Art. 7:907 Abs. 3 BW die Reaktion der Geschädigten auf die Übereinkunft nicht erwähnt, müssen eventuelle Stellungsnahmen und Einwendungen berücksichtigt werden. Zugunsten der Übereinkunft tut dies der gerechtshof Amsterdam allerdings nur im Shell-Verfahren ausdrücklich. Dort hält er dieser im Hinblick auf die Höhe der vereinbarten Ersatzleistungen zu‑ gute, dass sie breite Unterstützung seitens interessierter Parteien erfahren habe, die mit dem Fall vertraut sind; damit meint er vor allem institutionelle Investo‑ ren und Anlegerschutzorganisationen.264 In anderen Entscheidungen setzt sich der gerechtshof jedoch oftmals mit einzelnen konkreten Einwendungen aus‑ einander. Dann geht es aber um deren Inhalte und nicht um die Tatsache an sich, dass die Übereinkunft von einem Geschädigten kritisiert wurde.265 Die Anzahl der Geschädigten, die aus dem Vergleich ausgetreten sind, kann dagegen – an‑ ders als bei der class action – schon aus strukturellen Gründen nicht berück‑ sichtigt werden: Das WCAM eröffnet die Austrittsoption erst, nachdem der Ver‑ gleich genehmigt wurde.266
bb) Die Entscheidungen in den Sachen Dexia, Shell, Vedior, Converium und Fortis: die Bedeutung der Erfolgsaussichten Die Erfolgsaussichten eines möglichen Rechtsstreits führt das Gesetz in Art. 7:907 Abs. 3 lit. b BW zwar nicht als ein Kriterium für die Beurteilung der Angemessenheit der Ersatzleistungen auf. Schon die Dexia-Entscheidung hebt jedoch hervor, dass sich die vergleichsweise Lösung im Rahmen des WCAM gerade aus der Unsicherheit rechtfertige, wie eine streitige Entscheidung aus‑ 263 Dabei wird in manchen Entscheidungen der Katalog von Art. 7:907 Abs. 3 BW voll‑ ständig geprüft, vgl. etwa gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL: GHAMS:2009:BI5744 (Shell); gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL: GHAMS:2012:BV1026 (Converium); in anderen Entscheidungen kommen dagegen nur Teilaspekte zur Sprache, vgl. etwa gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 04. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI2717 (Vie d’Or). 264 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell), Rn. 6.15; vgl. auch Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 355. 265 Vgl. etwa gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS: 2007:AZ7033 (Dexia), Rn. 5.18, Rn. 6.5 et passim; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 6.2.6/7.9.2; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.11. 266 Siehe oben S. 31.
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fallen würde.267 Auch wenn das auf dem Gedanken des damage scheduling be‑ ruhende niederländische Modell stark von den individuellen Geschädigten abs‑ trahiert, nimmt sie dabei die anhängigen Individualverfahren als Referenz.268 Sie berücksichtigt dabei unter anderem auch ein eventuelles Mitverschulden der Geschädigten.269 In der Sache Vedior gibt der gerechtshof Amsterdam eben‑ falls zu bedenken, dass die Aussichten, vor Gericht höhere Ersatzleistungen zu erstreiten, bestenfalls als unsicher bezeichnet werden könnten.270 Auch in der Shell-Entscheidung führt er – als ein Argument unter mehreren – aus, dass sich die Zweifel an der Angemessenheit der Übereinkunft als unberechtigt erwiesen, wenn man berücksichtige, wie unsicher die Erfolgsaussichten seien, falls die Geschädigten jeweils individuelle Rechtsstreite gegen Shell anstrengen wür‑ den. Dass die Erfolgsaussichten schlecht seien, meint er dabei vor allem daraus schließen zu können, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nach Aussage der Antragsteller außerhalb der USA keine Individualverfahren anhängig waren.271 Einer ähnlichen Argumentation bedient sich der gerechtshof auch im Converi‑ um-Verfahren, das an eine amerikanische securities class action anknüpfte. Er war dort mit dem Einwand konfrontiert, dass die von dem komplementären amerikanischen Vergleich begünstigten Geschädigten im Schnitt ungefähr 50 % höhere Ersatzleistungen erhalten hatten. Er weist diesen aber mit einem Hin‑ weis darauf zurück, dass die von dem WCAM‑Vergleich erfassten Geschädig‑ ten aus der entsprechenden class action ausgeschlossen worden waren.272 Ihnen stände damit in den USA kein effektiver Rechtsschutz zur Verfügung. Außer‑ halb der USA seien aber keine Rechtsstreite in der Sache anhängig gemacht worden. Dem gerechtshof lägen zudem Sachverständigengutachten vor, die in‑ sofern die fehlenden Erfolgsaussichten belegten. Dementsprechend könne man davon ausgehen, dass für die Geschädigten, die von dem amerikanischen Ver‑ fahren erfasst werden, eine grundlegend andere rechtliche Ausgangslage be‑ stehe als für alle anderen. Die in den USA üblichen Vergleichssummen stellten also keinen geeigneten Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit der Übereinkunft im Rahmen des WCAM dar.273 267 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS:2007:AZ7033 (Dexia), Rn. 6.6. 268 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS:2007:AZ7033 (Dexia), Rn. 6.7. 269 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS:2007:AZ7033 (Dexia), Rn. 6.10. 270 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 15. 07. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BJ2691 (Vedior), Rn. 4.15. 271 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell), Rn. 6.17. 272 Zur Problematik der Anwendbarkeit der amerikanischen class action in Fällen mit Aus‑ landsbezug vgl. Morrison v. National Australia Bank Ltd., 561 U. S. 247 (2010). 273 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS:2012:BV1026 (Converium), Rn. 6.4.1/6.4.2.
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In der Gesamtschau fällt auf, dass es dem gerechtshof nur um eine allgemei‑ ne Einschätzung der Erfolgsaussichten eines anderweitigen Vorgehens geht. Konkrete Rechtsfragen, die in einem Rechtsstreit Bedeutung gewinnen würden, diskutiert er typischerweise nicht; wenn er es tut, beschränkt er sich wie bei dem Hinweis auf ein mögliches Mitverschulden in Dexia und der Frage der Zustän‑ digkeit der amerikanischen Gerichte in Converium auf eine kursorische Dar‑ stellung. Meist lässt sich die zentrale Aussage auf die allgemeine Feststellung reduzieren, dass die Übereinkunft gegenüber einem Rechtsstreit den Vorteil biete, schnell und kostengünstig Unsicherheit zu beseitigen sowie den Geschä‑ digten Ersatzleistungen zugänglich zu machen.274 Auch in der zweiten FortisEntscheidung betont der gerechtshof, dass der Vergleich für die Geschädigten angesichts der ungeklärten Rechtslage attraktiv sei.275 In den beiden FortisEntscheidungen führt der gerechtshof zudem aus, dass auch bereits abgeschlos‑ sene Rechtsstreite, die im Zusammenhang mit der Sache stehen, berücksichtigt werden müssen, um zu beurteilen, ob die vereinbarte Höhe der Ersatzleistungen angemessen ist. Sie könnten dazu beitragen, die Prozessrisiken einzuschätzen, die mit einer Durchsetzung der von der Übereinkunft erfassten Ansprüche ver‑ bunden wären.276 Hier zeigt sich, wie das WCAM, das selbst keine streitige An‑ spruchsdurchsetzung erlaubt, mit anderen Verfahren verknüpft ist.277
cc) Die DSB‑Bank-Entscheidungen: keine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten Die DSB‑Bank-Entscheidung wurde erst durch die Erweiterung des Anwen‑ dungsbereichs des WCAM auf insolvenzrechtliche Fragestellungen ermög‑ licht.278 In diesem Fall lag dem gerechtshof Amsterdam eine Übereinkunft vor, auf deren Grundlage Kunden der insolventen DSB‑Bank, die jeweils ver‑ schiedene Gruppen von Finanzprodukten erworben hatten, entschädigt wer‑ den sollten. Er weigerte sich jedoch diese für bindend zu erklären, da er die vereinbarten Ersatzleistungen in mehreren Konstellationen, die vor allem den Erwerb sogenannter „koopsompolissen“ betrafen, für unzureichend hielt. Die Begründung des gerechtshof weicht dabei von dem Argumentationsmuster der zuvor dargestellten Entscheidungen ab. Er erklärt die vereinbarten Ersatz‑ 274 Vgl. etwa gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS: 2012:BV1026 (Converium), Rn. 6.4.4. 275 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.31. 276 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.2; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS: 2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.42. 277 Siehe dazu bereits oben S. 28 ff. 278 Vgl. dazu Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 283 (2014) (dort Fn. 16).
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leistungen allem Anschein nach für unangemessen ohne die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits oder die Reaktion der Geschädigten auf die Vereinbarung als Argumente vorzubringen.279 Im Hinblick auf eine bestimmte Unterkonstel‑ lation stellt er dabei primär darauf ab, dass eine Regelung in der Übereinkunft, die einer bestimmten Untergruppe von Geschädigten zugutekam, im Laufe des Verhandlungsprozesses wieder gestrichen wurde, was er offenbar nicht akzep‑ tieren will.280 An anderer Stelle argumentiert er dagegen unmittelbar mit den Vorgaben des materiellen Zivilrechts: Da die Rügeobliegenheit (klachtplicht) gemäß Artt. 6:89 und 7:23 BW nach der heutigen Rechtsprechung in der vorlie‑ genden Konstellation keine Anwendung finde, sei es nicht zulässig, die Geschä‑ digten abhängig davon unterschiedlich zu behandeln, wann sie ihre Ansprüche erstmals geltend gemacht haben.281 Im Hinblick auf ein anderes Finanzprodukt meint der gerechtshof sodann zwar keine Anhaltspunkte dafür erkennen zu kön‑ nen, dass die Höhe der Ersatzleistungen insofern unangemessen sei. Er ver‑ langt von den Antragstellern dennoch, dass sie weitere Informationen zur Rolle der Versicherungen zur Verfügung stellen, und wertet dies als einen weiteren Grund, die Genehmigung vorerst zu verweigern.282 Zuletzt setzt er den An‑ tragstellern eine Frist, um ihnen Gelegenheit zu geben, die Übereinkunft nach‑ zubessern und zu erläutern.283
dd) Die Fortis-Entscheidungen: der Schnittbereich zur Finanzierungsfrage Mit der ersten Fortis-Entscheidung hat der gerechtshof Amsterdam in einer kapitalmarktrechtlichen Sache die Genehmigung einer Übereinkunft im ers‑ ten Anlauf abgelehnt, da sie im Hinblick auf die Höhe der Ersatzleistungen in unzulässiger Weise zwischen zwei Untergruppen von Geschädigten differen‑ ziere. Die maßgebliche Regelung sah vor, dass sogenannte „Active Claimants“, die die aus dem Vergleich zahlungsverpflichtete Partei (Ageas) selbst verklagt hatten und/oder bis zu einem Stichtag einer Interessenorganisationen beigetre‑ ten waren, die gerichtlich gegen Ageas vorging,284 besser gestellt werden soll‑ ten als die von den Parteien als Trittbrettfahrer („free-riders“) herabqualifizier279 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014: 1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 7.4 und Nr. 7. 5. 19–7. 5. 23. 280 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 7. 5. 19/7. 5. 20. 281 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 7.4. 282 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 6.2.6/7.7.6. 283 Hiervon haben sie in der Folge auch Gebrauch gemacht. Inzwischen wurde in der Sache eine Übereinkunft für bindend erklärt, vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 4. 11. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:4560 (DSB‑Bank). 284 Zur Definition vgl. Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL: GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 7.2.
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ten285 sonstigen Geschädigten. Die „Active Claimants“ sollten einen Ausgleich für ihren Beitrag zum Verfahren erhalten; der Grund dafür lag teilweise darin, dass sie einer Interessenorganisation die Zahlung eines Prozentsatzes ihres An‑ teils an der Vergleichssumme als Erfolgshonorar zugesagt hatten. Der gerechts‑ hof wendete sich jedoch gegen diesen Ansatz, wobei er darauf hinwies, dass das WCAM bewusst als opt out-Verfahren ausgestaltet wurde und von den Ge‑ schädigten gerade nicht verlange, dass sie selbst aktiv würden. Der Vorwurf der Trittbrettfahrerei sei nicht mit dem Gesetzeszweck vereinbar.286 Es handele sich um eine unzulässige Differenzierung zwischen Geschädigten, die nach Art und Umfang identische Schäden erlitten hatten.287 Dabei soll es jedoch nicht an sich ausgeschlossen sein, dass die „Active Claimants“ eine besondere Vergütung er‑ halten. Ein Kern des Problems lag vielmehr jenseits der Sonderzahlung: Der „Settlement Distribution Plan“ teilte die verfügbaren Mittel zwei „Boxen“ zu, was das Risiko barg, dass die Ansprüche der einzelnen „Non-Active Claimants“ gekürzt wurden, sobald eine bestimmte Quote der Inanspruchnahme des Ver‑ gleichs erreicht wurde, während diese Gefahr für die „Active Claimants“ nicht bestand.288 Nachdem die Parteien die Vereinbarung angepasst hatten,289 setzte sich der gerechtshof erneut mir ihr auseinander, wobei er den geänderten Bonus für die „Active Claimants“ klar nach dem Maßstab beurteilte, ob es sich um einen Ausgleich für eine konkrete Beteiligung an den Verfahrenskosten handelte. Dass ein Geschädigter einen Mitgliedsbeitrag an die VEB errichtet habe, neben dem er keine weiteren Rechtsdurchsetzungskosten tragen müsse, könne demnach nicht rechtfertigen, dass er eine Sonderzahlung erhalte.290 Vor dem Hintergrund, dass der gerechtshof eine Vereinbarung nicht lediglich teilweise genehmigen kann, akzeptierte er den Vergleich im Wege einer Gesamtabwägung aber doch, da er ihn nicht an einer einzelnen Detailfrage scheitern lassen wollte.291 Demgemäß lassen sich den beiden Fortis-Entscheidungen mit Blick auf den Prüfungsmaßstab des gerechtshof zwei Dinge entnehmen: Einerseits müssen Differenzierungen zwischen verschiedenen Untergruppen sorgfältig begründet 285 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.15. 286 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.22. 287 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.27. 288 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ), Rn. 8.17; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS: 2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.1.2. 289 Vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018: 2422 (Fortis II ), Rn. 5.3. 290 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.55 f. 291 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.57.
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werden. Andererseits verfügt der gerechtshof in diesem Zusammenhang über einen erheblichen Wertungsspielraum.
c) Kontrolle von Regelungen zu den Verfahrenskosten Das WCAM sieht keine gesonderte Überprüfung vor, ob das Honorar, das die Anwälte der Antragsteller – denn letztlich sind es diese, die die Verhandlungen führen – für ihre Tätigkeit erhalten sollen, angemessen ist. Auch zu Verein‑ barungen, nach denen die Interessenorganisationen im Zuge eines Vergleichs Zahlungen erhalten, äußert sich das Gesetz nicht. Nach der früheren Ansicht kam es darauf an, ob eine entsprechende Vereinbarung ein Teil des Vergleichs war und damit formal dem Genehmigungserfordernis unterfiel. Handelte es sich bei einer Honorar- oder Kostenerstattungsvereinbarung um ein gesondertes Vertragswerk, wurde sie nicht überprüft.292 In der zweiten Fortis-Entscheidung nimmt der gerechtshof inzwischen aber die Position ein, dass Vereinbarungen, die Zahlungen an die Interessenorganisationen festsetzen, auch dann von ihm überprüft werden müssen, wenn sie formal getrennt von dem Vergleich gefasst sind und lediglich in sachlichem Zusammenhang mit diesem stehen.293
d) Zusammenfassung Die Kriterien, die bei einer Genehmigungsentscheidung im Rahmen des WCAM Anwendung finden, unterscheiden sich nicht grundlegend von denen, die das final approval eines Vergleichs bei der amerikanischen class action strukturie‑ ren. In beiden Verfahrensformen steht regelmäßig eine Risikoeinschätzung im Vordergrund, anhand derer bestimmt wird, ob die Höhe der vereinbarten Ersatz‑ leistungen angemessen ist. Ein Vergleich kann aber auch aus Gründen scheitern, für die ein Prognoseelement keine Rolle spielt. In den Niederlanden ist mit dem gerechtshof Amsterdam nur ein einziges Gericht für die Verbindlicherklärung von Vereinbarungen zuständig. Dennoch hat sich bislang noch keine einheitlich strukturierte Rechtsprechung herauskristallisiert. In den beiden Entscheidun‑ gen, in denen der gerechtshof die Genehmigung versagt hat, ist er bemerkens‑ werterweise jeweils auf die Frage eingegangen, inwiefern Untergruppen unter‑ schiedlich behandelt werden dürfen.
3. Ansätze für die Auswahl von Kriterien im deutschen Recht Welche Voraussetzungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, damit man einem Vergleich im Rahmen des KapMuG oder einer Musterfeststellungsklage gemäß 292 Vgl. Tzankova/van Lith, Class Actions and Class Settlements Going Global: the Neth‑ erlands, Rn. 4.24. 293 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.18 ff.
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§ 606 ZPO attestieren kann, er lege die Ausgangsrechtsstreite beziehungsweise den Streit oder die Ungewissheit über die angemeldeten Ansprüche angemessen bei, ist noch weitgehend ungeklärt. Der Gesetzgeber hat sich bewusst bedeckt gehalten und will es offenbar der Rechtsprechung überlassen, die breiten An‑ gemessenheitsformeln in § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 ZPO auszufül‑ len. Dabei soll die Dispositionsfreiheit der Musterparteien gewahrt werden: „[A]n den Kern des Vergleichsinhalts“ werden, so der Regierungsentwurf zum KapMuG, „keine gesetzlichen Anforderungen gestellt“.294 Dieses Bestreben, die Senate nicht in ein starres Korsett zu zwingen, zeigt sich auch darin, dass § 17 Abs. 2 KapMuG im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens abgeschwächt wurde. Die inhaltlichen Gesichtspunkte, die diese Norm aufzählt, hätte ein Ver‑ gleich laut dem Referentenentwurf noch zwingend regeln müssen;295 seit dem Regierungsentwurf handelt es sich dagegen um eine bloße Sollvorschrift, die freilich im Regelfall zu beachten ist.296 Ein Vergleich kann aber typischerweise nicht genehmigt werden, wenn er keine Vorgaben dazu enthält, wie die Ersatz‑ leistungen auf die Geschädigten verteilt werden sollen (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 Kap‑ MuG) und wie diese ihre Berechtigung nachweisen können (§ 17 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG). Eventuelle Differenzierungen zwischen verschiedenen Untergrup‑ pen von Beteiligten – etwa im Wege der Bildung von Schadenskategorien – müssen durchführbar und diskriminierungsfrei sein. Das Verteilungskonzept muss auch so ausgestaltet werden, dass es Folgeprobleme und zusätzlichen ge‑ richtlichen Klärungsbedarf so weit wie möglich vermeidet. Zudem soll ein Ver‑ gleich den Zeitpunkt der Fälligkeit der Leistungen bestimmen (§ 17 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG) und eine Regelung zur Kostenverteilung enthalten (§ 17 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG).297 Der Gesetzentwurf zum mit § 17 Abs. 2 KapMuG nahezu iden‑ tischen § 611 Abs. 2 ZPO vertieft dies nicht weiter. Er sieht den Zweck dieser Vorschrift jedoch auch darin, dass das Gericht aus den erforderlichen Angaben „Anhaltspunkte bezüglich der wesentlichen formalen Inhalte“ des ihm vorlie‑ genden Vergleichs ableiten könne.298 Damit ist wohl gemeint, dass es eine Be‑ urteilungsgrundlage für die Genehmigungsentscheidung erhält. Demnach las‑ sen beide Gesetze den Oberlandesgerichten erhebliche Freiräume. Es obliegt der Rechtspraxis, brauchbare Maßstäbe für den Begriff der Angemessenheit eines Vergleichs zu entwickeln. Mangels eines Rechtsmittels gegen die Geneh‑ 294 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. Auch der Gesetzentwurf zur Muster‑ feststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2507, S. 26, beschränkt sich auf die Aussage, dass das Ge‑ richt „[i]m Rahmen der inhaltlichen Angemessenheitsprüfung […] zu untersuchen [habe], ob die von den Parteien vorgeschlagene Regelung die vorgetragenen typischerweise zu erwarten‑ den Streitigkeiten angemessen beilegt“. 295 RefE KapMuG 2012, S. 11, 34. 296 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 9, 24. 297 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24; vgl. auch Reuschle, in: KK‑Kap‑ MuG, § 18 Rn. 10. 298 RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Drucks. 19/2439, S. 27.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
migungsentscheidung wird der Bundesgerichtshof hierbei keine Hilfestellung leisten und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gewährleisten können. Die Oberlandesgerichte haben sich allerdings noch nicht eingehend mit der Proble‑ matik der Genehmigung eines Vergleichs befasst, wobei es freilich auch an Ge‑ legenheiten dazu mangelte. In der einzigen Entscheidung, die bislang zu § 18 Abs. 1 KapMuG veröffentlicht wurde, beschränkte sich das OLG München da‑ rauf, pauschal festzustellen, dass der ihm vorgelegte Vergleich den gesetzlichen Anforderungen genüge, ohne diese zu konkretisieren.299 Dieser Fall zeichne‑ te sich im Übrigen durch sie Besonderheit aus, dass alle bis auf einen Beige‑ ladenen dem Vergleich bereits im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung zu‑ gestimmt hatten. In der Literatur wird vielfach der erhebliche Spielraum des zuständigen Ge‑ richts betont.300 Von Katte regt in diesem Zusammenhang für das KapMuG einen Kriterienkatalog nach amerikanischem Muster an, der als „eine Art Checkliste“ dienen solle.301 Inhaltlich übernimmt die Literatur zum KapMuG zunächst oft‑ mals die von der Begründung zur Reform des KapMuG von 2012 angeführten Gesichtspunkte; diejenige zur Musterfeststellungsklage greift seltener auf diese zurück.302 Auch bei der Musterfeststellungsklage müssten jedoch sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Untergruppen von Anmeldern verhindert werden.303 Daneben werden noch weitere Aspek‑ te genannt. Wie in der amerikanischen und niederländischen Praxis soll beim KapMuG eine Einschätzung der Chancen und Risiken ein zentrales Element der Genehmigungsentscheidung darstellen.304 Für die Musterfeststellungsklage werden die Erfolgsaussichten ebenfalls als Kriterium angeführt.305 Zudem wird vorgeschlagen die Finanzkraft des Beklagten zu berücksichtigen, allerdings in 299
OLG München, Beschl. v. 18. 09. 2014, 5 Kap 2/09 – Constantin Medien AG, vormals EM.TV Vermögensverwaltungs AG. 300 Vgl. zum KapMuG: Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 3 („liegt im gerichtlichen Er‑ messen“); Wigand, AG 2012, 845, 850 („grobmaschige Missbrauchskontrolle am Maßstab der §§ 138, 242 BGB“); zur Musterfeststellungsklage: Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfest‑ stellungsklage, § 7 Rn. 39 („Beurteilungsspielraum“); Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91 („Ermessensentscheidung des Gerichts“). 301 Von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 413. 302 Vgl. zum KapMuG: Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 10; Winter, in: Wieczorek/ Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 11 f.; zur Musterfeststellungsklage: Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91. 303 So Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 46; Weinland, Mus‑ terfestellungsklage, Rn. 173; Waßmuth/Asmus, ZIP 2018, 657, 664. Ebenso zum KapMuG: von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 414. 304 So Hess, in: KK‑KapMuG, Einl. Rn. 67 (dort Fn. 292); ähnlich auch Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 383 (unter Betonung der spezifischen Risiken der Ausgangsverfahren); Stad‑ ler, [2013] EBLR 731, 747; einschränkend von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 411. 305 Vgl. Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 32 (Umfang der Dispositions‑ befugnis der Parteien hänge vom Grad der Ungewissheit über die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse ab); einschränkend Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungs‑ klage, § 7 Rn. 43, 45.
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fundamental anderer Weise als bei der class action306 oder dem WCAM,307 um diesen vor einem „offensichtlich insolvenzgefährdenden Vergleich“ zu schüt‑ zen.308 Dass dies keine Aufgabe der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs sein kann, wurde bereits ausgeführt.309 Allerdings kann es durchaus auch im Interesse der Gruppenmitglieder liegen, dass ein Vergleich oder seine Durch‑ führung nicht die Insolvenz des Beklagten verursacht.310 Unter Schutzzweck‑ gesichtspunkten ist es ebenfalls fragwürdig, die Genehmigungsentscheidung dafür nutzen zu wollen den Musterbeklagten beim KapMuG vor übermäßigem Vergleichsdruck zu bewahren.311 Bisweilen wird verlangt, dass ein Gericht prü‑ fen solle, ob die ihm von den Musterparteien vorgelegte Vereinbarung ein ge‑ genseitiges Nachgeben im Sinne von § 779 Abs. 1 BGB beinhaltet.312 Winter meint für das KapMuG, dass ein Vergleich nur dann genehmigt werden solle, wenn das vereinbarte Verteilungsverfahren sicherstelle, dass nur solche Bei‑ geladene Leistungen erhalten, deren Ansprüche tatsächlich vom Ergebnis des Musterverfahrens abhängen.313 Dahinter steht offenbar die Befürchtung, dass einzelne Ausgangsrechtsstreite ausgesetzt wurden könnten, bevor andere Grün‑ de für eine Klageabweisung geprüft wurden. Ob dies den Musterbeklagten oder die anderen Beigeladenen – deren Anteil an der Vergleichssumme unter Um‑ ständen reduziert würde – schützen soll, wird nicht deutlich. Da ein Vergleich gerade auch Unsicherheiten auf Ebene der Ausgangsverfahren beilegen soll, stellt sich indessen die Frage, warum die Beteiligten in einer solchen Situati‑ on nicht ein billigenswertes Interesse haben sollten ein überkomplexes Vertei‑ lungsverfahren zu vermeiden, zumal wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die maßgeblichen Individualklagen möglicherweise mit Missbrauchs‑ absicht erhoben wurden. Ein ähnliches Problem wie beim KapMuG wird teil‑ weise auch bei der Musterfeststellungsklage gesehen, insbesondere im Hinblick auf die Zuständigkeit deutscher Gerichte für die Ansprüche ausländischer An‑ melder.314 Weiterhin sollen beim KapMuG ein isolierter Vergleich des Mus‑ terverfahrens, Teilvergleiche und Vergleiche, die lediglich die Antworten auf Rechtsfragen formulieren, nicht genehmigungsfähig sein.315 Konsequenterwei‑ se sollte dies ebenfalls für die Musterfeststellungsklage gelten.316 Schließlich 306 307
Siehe dazu oben S. 174. Vgl. Art. 7:907 Abs. 3 lit. c BW. 308 So Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 44. 309 Siehe oben S. 58 ff. 310 BR‑Ausschussempfehlungen zum KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/1/05, S. 16. 311 So aber von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 414. Siehe dazu oben S. 58 ff. 312 So zur Musterfeststellungsklage Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungskla‑ ge, § 7 Rn. 42; Waßmuth/Asmus, ZIP 2018, 657, 664. 313 So Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 12. 314 So Balke/Liebscher/Steinbrück, ZIP 2018, 1321, 1330 f. 315 So Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 7 ff.; Winter, in: Wieczorek/Schütze, Kap‑ MuG, § 18 Rn. 10, 13. 316 Siehe oben S. 46.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
sollen allgemeinpolitische Erwägungen oder Gesichtspunkte, die nur andere Streitgegenstände betreffen, außer Betracht bleiben.317 Gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG bringt das OLG das Musterverfahren eben‑ so wie die Ausgangsverfahren zu ihrem formalen Abschluss, indem es feststellt, dass ein Vergleich wirksam geworden ist. Voraussetzung dafür ist, dass ent‑ sprechend dem in § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG geregeltem Quorum maximal 30 % der Beigeladenen aus dem Vergleich ausgetreten sind. Diese Schwelle bezieht sich ausdrücklich auf die Anzahl der Beigeladenen, die von ihrem Austritts‑ recht Gebrauch machen, und nicht auf den Anteil ihrer jeweiligen Ansprüche an der Klagesumme.318 § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO trifft eine entsprechende Regelung. Damit geben das KapMuG und die Musterfeststellungsklage ein stark forma‑ lisiertes Kriterium vor, das in die zweite der von Piché gebildeten Kategorien fällt. Obwohl es systematisch von der eigentlichen Genehmigungsentscheidung getrennt ist, stellt es letztlich Teil einer einheitlichen Gesamtentscheidung über die Bindungswirkung des Vergleichs dar.319 Damit sind im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage mit einer Ri‑ sikobewertung und der Berücksichtigung der Reaktion der Gruppenmitglieder die beiden zentralen Elemente zumindest rudimentär angelegt, die sich in un‑ terschiedlicher Ausprägung auch im Rahmen der class action und des WCAM finden.
IV. Die Aussagekraft der einzelnen Kriterien 1. Die Kriterien der ersten Kategorie: inhaltsbezogene Wertungen Die Kriterien der ersten Kategorie, die Piché als „Intrinsic Factors of Sub‑ stantive Fairness“ bezeichnet, versuchen die Angemessenheit eines Vergleichs anhand der materiellen Inhalte zu beurteilen, die Gegenstand des Verfahrens waren, in dessen Rahmen dieser Vergleich zustande gekommen ist.320 Ins‑ besondere eine Einschätzung der Bedingungen und Risiken der Durchsetzung des – möglicherweise vermeintlichen – Anspruchs, der den Hintergrund des zu genehmigenden Vergleichs bildet, ist für die Rechtsprechung in den USA von zentraler Bedeutung und wird auch in den Niederlanden prominent berücksich‑ tigt (a). Daneben kann auch die Frage einbezogen werden, ob die im Vergleich versprochenen Leistungen den Gruppenmitgliedern voraussichtlich tatsächlich zugute kommen werden (b). Schließlich kommen weitere Überlegungen zum Tragen, die unabhängig von der hypothetischen Fortentwicklung oder dem vo‑ 317 So
Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 27. Vgl. auch Beschlussempfehlung Rechtsausschuss zum KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/10160, S. 26. 319 Siehe oben S. 44. 320 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 187. 318
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raussichtlichen Ausgang des streitigen Verfahrens sind (c). Man kann demnach zwischen Kriterien differenzieren, die relativ wirken, also von einer Prognose des Verfahrensfortgangs oder Entwicklungen nach dem Vergleichsschluss ab‑ hängig sind, und solchen, die absolute Wertungen erhalten, also den Inhalt des Vergleichs betrachten, ohne hypothetische Fragen der Rechtsdurchsetzung zu berücksichtigen. Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwiefern diese Kriterien in den verschiedenen Rechtsordnungen geeignet sind, als Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit eines Vergleichs zu dienen.
a) Chancen und Risiken einer streitigen Durchsetzung der Ansprüche Für eine Risikobewertung gibt es zwei Ansatzpunkte, die in fast allen ame‑ rikanischen Kriterienkatalogen ausdrücklich voneinander unterschieden wer‑ den, indem sie als separate Faktoren aufgeführt werden:321 zum einen die Er‑ folgsaussichten eines Rechtsstreits – oder andersherum gedacht: das Risiko eines Prozessverlustes – und zum anderen der voraussichtliche Aufwand sei‑ ner (Fort-)Führung, also Komplexität, Kosten und Dauer. Die beiden Gesichts‑ punkte lassen sich im Hinblick auf ihre Anknüpfungspunkte jedoch nicht immer strikt voneinander trennen; beispielsweise muss man die zu erwartenden Sachund Rechtsfragen gleichermaßen berücksichtigen, um die Komplexität eines Rechtsstreits und seine Erfolgsaussichten zu beurteilen. Nur die Perspektive variiert diesbezüglich: Ist es – etwa weil umfangreiche Beweiserhebungen er‑ forderlich scheinen – mit sehr hohem zeitlichen und finanziellen Aufwand ver‑ bunden, einen Anspruch durchzusetzen, kann das im Einzelfall auch dann eine geringere Ersatzleistung rechtfertigen, wenn die voraussichtlich maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen wahrscheinlich zugunsten der geschädigten Gruppen‑ mitglieder entschieden werden müssten. Umgekehrt sprechen geringe Erfolgs‑ aussichten auch in einer einfach gelagerten Sache für einen nicht allzu üppig dotierten Vergleich. Wichtig ist, dass es nicht darum geht, ein exaktes Anfor‑ derungsprofil für einen idealen Vergleich zu formulieren. Vielmehr soll das Pro‑ zessrisiko bewertet werden, das durch den Vergleich vermieden wird.322 Das Genehmigungserfordernis gewährleistet nur einen Mindeststandard, der den Parteien einen Spielraum lässt, wie sie den Vergleich ausgestalten. Im Folgen‑ den soll der Stellenwert der Chancen und Risiken einer streitigen Durchsetzung der Ansprüche als Argument in amerikanischen und niederländischen Geneh‑ migungsentscheidungen untersucht werden, um daraus Lehren für eine Lösung im deutschen Recht zu ziehen. 321 So
die Kriterienkataloge des 2d, 3d, 4th, 5th, 6th, 7th, 8th und 11th Cir. In manchen Entscheidungen zu den Hanlon-Faktoren des 9th Cir. scheint die Abgrenzung dagegen nicht eindeutig, siehe oben S. 178. 322 Für das amerikanische Recht vgl. etwa City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 462 (2d Cir. 1974) („the issue for the Court is not whether the settlement represents the best possible recovery, but how the settlement relates to the strengths and weaknesses of the case“).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
aa) Die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits Das mit einem hypothetischen Rechtsstreit oder dessen Fortführung verbunde‑ ne Risiko, also der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerseite mit ihren Ansprüchen durchdringt, dient in allen untersuchten Verfahrensformen als ein Maßstab dafür, ob die in einem Vergleich vereinbarte Ersatzleistung angemes‑ sen hoch ist. Ein Gericht kann so zumindest annäherungsweise einen Erwar‑ tungswert bilden und diesen mit der vereinbarten Ersatzleistung abgleichen. Eine Prognose der jeweiligen Erfolgsaussichten verschiedener Untergruppen von Geschädigten kann auch Anhaltspunkte dafür geben, ob Differenzierungen zwischen ihnen sachgerecht sind.
(1) Die Einschätzung des Prozessrisikos bei der class action Der Supreme Court hebt hervor, dass die Gerichte die Genehmigungsentschei‑ dung nicht dazu nutzen sollen, die ihnen vorliegenden Fälle in der Sache zu entscheiden oder bislang ungelöste Rechtsfragen zu klären.323 Ihr Dilemma ist, dass sie es andererseits vermeiden müssen, die Genehmigung unkritisch zu er‑ teilen: The Court must eschew any rubber stamp approval in favor of an independent evaluation, yet, at the same time, it must stop short of the detailed and thorough investigation that it would undertake if it were actually trying the case.324
Die Kernproblematik des Prognoseelements liegt dabei weniger darin, einen abstrakten rechtlichen Maßstab zu formulieren als darin, ihn auf den konkreten Fall anzuwenden – und dafür kommt es vor allem darauf an, was das Gericht über den ihm vorliegenden Fall weiß. Dass ein Unternehmen wie VW im Clean Diesel-Fall den Verstoß einräumt, wird selten sein, wenngleich auch hier höchst streitig war, ob und in welcher Höhe die einzelnen Anspruchsteller einen Scha‑ den davongetragen hatten.325 Die Präzision, mit der ein Gericht die Risiken ein‑ schätzen kann, hängt entscheidend davon ab, auf welche Erkenntnisgrundlage es bei seiner Genehmigungsentscheidung zurückgreifen kann.326 Das Gericht trifft auf dieser Grundlage eine weitgehend selbständige Wertungsentschei‑ dung. Wie bereits ausgeführt wurde, bedienen sich beispielsweise die Grin‑ nell- und die Hanlon-Faktoren einer Prognose über die Risiken eines Rechts‑ streits.327 Die einschlägigen Entscheidungen benennen dabei nicht selten die 323 Carson v. Am. Brands, Inc., 450 U. S. 79, 88 (dort Fn. 14) (1981) („Courts judge the fairness of a proposed compromise by weighing the plaintiff’s likelihood of success on the merits against the amount and form of the relief offered in the settlement. They do not decide the merits of the case or resolve unsettled legal questions.“). 324 City of Detroit v. Grinnell Corp., 495 F. 2d 448, 462 (2d Cir. 1974). 325 In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*10] (N. D. Cal. 2016). 326 Hierzu noch eingehend unten § 7. 327 Siehe oben S. 171, 176.
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vorhandenen Risiken, oftmals jedoch ohne deren konkretes Ausmaß festzustel‑ len. Sie geben lediglich eine grobe Einschätzung, wie gravierend diese Risiken sind. Diese fließt dann in ihre Abschätzung ein, ob die Höhe der vereinbarten Ersatzleistung angemessen ist. Die Maßstäbe variieren dabei.328 Insbesondere der Seventh Circuit gibt dem einzelnen Richter des District Court auf, bei der Genehmigung des Vergleichs rechnerisch den Erwartungswert („net expected value“) für den jeweiligen Rechtsstreits zu ermitteln.329 Judge Posner erwartet demnach von einem Richter [an] effort to translate his intuitions about the strength of the plaintiffs’ case, the range of possible damages, and the likely duration of the litigation if it was not settled now into numbers that would permit a responsible evaluation of the reasonableness of the settle‑ ment.330
Der Grenzen dieses Ansatzes ist er sich dabei jedoch bewusst: A high degree of precision cannot be expected in valuing a litigation, especially regarding the estimation of the probability of particular outcomes.331
Andere Gerichte wählen einen weniger stark formalisierten Ansatz und betonen nachdrücklich, dass es sich um eine Wertungsentscheidung handele, so etwa der Second Circuit.332 Auch der Ninth Circuit meint unter ausdrücklicher Abgren‑ zung von der Rechtsprechung des Seventh Circuit: Ultimately, the district court’s determination is nothing more than an amalgam of delicate balancing, gross approximations and rough justice.333
Auf einer grundsätzlichen Ebene halten sich die Unterschiede zwischen den An‑ sätzen aber in Grenzen.334 Auch wenn man einen Erwartungswert ausrechnet, ändert sich nichts daran, dass die dafür maßgeblichen Variablen unbestimmt sind und es zumindest an dieser Stelle einer Wertung des Richters bedarf. Es mag helfen, die Prognose in Zahlen zu fassen – an ihrem grundsätzlichen Cha‑ rakter als Wertungsentscheidung ändert das aber nichts. 328 329
Vgl. zum Ganzen Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:49. Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 284 f. (7th Cir. 2002). 330 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 285 (7th Cir. 2002). 331 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 285 (7th Cir. 2002). 332 Siehe oben S. 173 f. 333 Officers for Justice v. Civil Service Com’n of City and County of San Francisco, 688 F. 2d 615, 625 (9th Cir. 1982); Rodriguez v. West Publishing Corp., 563 F. 3d 948, 965 (9th Cir. 2009). Auch die Besonderheiten des einzelnen Falls können die Art der Prognose beeinflussen, vgl. Marshall v. National Football League, 787 F. 3d 502, 518 (8th Cir. 2015) („In a case such as this one, where the damages are not easily calculable, are highly speculative, and are heavily dependent on expert opinions, it would be difficult if not impossible to derive the initial high, medium, low, and zero for potential value of the claims in such an accurate way as to allow for a meaningful conclusion.“). 334 Eine empirische Untersuchung der Frage, ob sie zu unterschiedlichen Ergebnissen füh‑ ren, steht freilich noch aus; die vorliegende Arbeit kann diese Aufgabe aber nicht leisten.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Die konkreten Maßstäbe dieser Wertungsentscheidung variieren von Ge‑ richt zu Gericht und von Entscheidung zu Entscheidung. Nur bisweilen kann die Höhe der Vergleichssumme ins Verhältnis zu dem gesetzt werden, was in der Vergangenheit in ähnlichen Fällen gezahlt wurde.335 Letztlich verweisen die Gerichte damit auf den reichhaltigen Erfahrungsschatz einer Rechtsprechung, die sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt hat. Oftmals werden aber passende Präzedenzfälle fehlen.336 So gelangt man schließlich zu dem Gedanken einer „range of reasonableness“, in die ein Vergleich fallen muss, um genehmigt werden zu können, und zwar unabhängig davon, ob man diesen Begriff verwendet oder nicht. Die Entscheidungspraxis sieht allerdings häufig davon ab, diesen Spielraum konkret zu definieren. Dies bestätigen einige Ent‑ scheidungen, in denen das final approval abgelehnt wurde. So beschränkt sich ein Gericht – wohlgemerkt eins aus dem Seventh Circuit – auf die nicht näher begründete Feststellung, dass die Ansprüche der Klägerseite relativ stark sei‑ en.337 Ein anderes verweist auf eine frühere Entscheidung,338 die im Hinblick auf einen von mehreren Beklagten zugunsten der Kläger ergangen war,339 um dann auszuführen, dass ein bestimmtes Argument, mit dem die Beklagten die Schwäche der streitgegenständlichen Ansprüche belegen wollten, nicht zwin‑ gend sei.340 Das nächste Gericht beruft sich allgemein darauf, dass in ähnlich gelagerten Fällen hohe Erfolgsaussichten angenommen worden seien.341 Ein weiteres bezieht auf mehrere Produkttests in einer Zeitschrift sowie auf ein von den Klägern beigebrachtes Sachverständigengutachten, um zu belegen, dass der Klägervortrag stichhaltig erscheine.342 In jedem dieser Fälle steht also eine Wertungsentscheidung des Gerichts im Mittelpunkt, nach der die Stärke der Ansprüche gegen den Vergleich spricht. Was genau die Minimalanforderungen sind, denen ein Vergleich genügen müsste, um gerade noch genehmigt werden zu können, bleibt dagegen offen.
335 Vgl. etwa In re Hi-Crush Partners L. P. Securities Litigation, 2014 WL 7323417 [*10] (S.D.N.Y. 2014); In re High-Tech Employee Antitrust Litigation, 2014 WL 3917126 [*4] (N. D. Cal. 2014). 336 Das gilt angesichts der Seltenheit eines trial erst recht für streitige Entscheidungen, vgl. Cooper Alexander, 43 Stan. L. Rev. 497, 567 (1991). 337 Dr. Robert L. Meinders D. C., LTD v. Emery Wilson Corp., 2017 WL 3096276 [*2] (S. D. Ill. 2017). 338 Es handelte sich um ein partial summary judgment. 339 Sobel v. Hertz Corp., 2011 WL 2559565 [*7] (D. Nev. 2011). 340 Sobel v. Hertz Corp., 2011 WL 2559565 [*8 f.] (D. Nev. 2011) („even considering the parties’ limited and one-sided briefing the court has received regarding Defendants’ damages theory, the court is not convinced it would carry the day“). 341 Ferrington v. McAfee, Inc., 2012 WL 1156399 [*10] (N. D. Cal. 2012). 342 Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1324 ff. (S. D. Fla. 2007).
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(2) Die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in den Niederlanden In den Niederlanden konnte eine übergreifende Gesamtlösung für die ganze Gruppe bislang nicht im Wege eines einheitlichen streitigen Verfahrens erreicht werden. Den Vergleichsmaßstab mussten daher individuelle Rechtsstreite bil‑ den. Auch insofern wird eine Prognose über die Erfolgsaussichten aber eben‑ falls vage bleiben.343 In den bislang wenigen Entscheidungen im Rahmen des WCAM hat sich noch keine einheitliche Methodik herauskristallisiert. Die Converium-Entscheidung weist die Besonderheit auf, dass sie die Erfolgsaus‑ sichten eines Rechtsstreits innerhalb und außerhalb der USA miteinander kon‑ trastiert.344
(3) Ansätze im deutschen Recht Auch im deutschen Recht ist der grundlegende Mechanismus, dass ein Ver‑ gleich an die Stelle eines oder mehrerer – anhängiger oder potentieller – streiti‑ ger Verfahren tritt, derselbe wie in den USA. Konzeptionell bedingt kommt bei den in Deutschland eingeführten Musterverfahren aber die Schwierigkeit hinzu, dass ein Gericht bei der Prognose im Rahmen der Genehmigungsentscheidung möglicherweise Fragestellungen berücksichtigen muss, mit denen es bei einer streitigen Entscheidung niemals konfrontiert worden wäre, da sie nicht von den Feststellungszielen erfasst sind. Überdies bedeutet ein Vergleich zwar, dass die Parteien ausdrücklich darauf verzichten bestimmte Rechtsfragen zu klären.345 Dennoch müssen diese Fragen bei einer Risikoprognose des Gerichts berück‑ sichtigt werden, denn es soll ja gerade beurteilt werden, ob die vereinbarte Re‑ gelung vor dem Hintergrund einer hypothetischen streitigen Entscheidung, an deren Stelle sie tritt, angemessen ist. Eine hypothetische Erweiterung des Mus‑ terverfahrens gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 KapMuG muss dagegen außer Betracht bleiben, da es sich um eine Gestaltung durch einen Beteiligten handelt, die das Musterverfahren grundlegend verändert und nicht im Vorfeld abzusehen ist. Bislang fehlt es im deutschen Recht noch an Maßstäben für die Prognoseent‑ scheidung und an einschlägigen Erfahrungen. In beschränktem Maße kann das Insolvenzplanverfahren eine Vorbildfunktion entfalten. Bei § 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO bedarf es einer Prognose, wie die betroffenen Gläubiger hypothetisch ständen, wenn das Insolvenzverfahren regulär zum Abschluss gebracht wor‑ den wäre. Diese Prognose bleibt aber rein auf der individuellen Ebene; mangels eines Angemessenheitskriteriums kann ein Antragsteller nicht geltend machen, dass er schlechter behandelt würde als andere Gläubiger.346 343 344
Siehe oben S. 211 ff. Siehe oben S. 212. 345 Vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 10. 346 Pleister, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 251 Rn. 15.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
bb) Die praktische Durchsetzbarkeit eines hypothetischen Anspruchs auf höhere Ersatzleistungen Ob die in einem Vergleich vereinbarte Ersatzleistung angemessen ist, kann nicht beurteilt werden, ohne zu berücksichtigen, was die Gruppenmitglieder tatsäch‑ lich von ihren Schuldnern hätten erlangen können, sei es nachdem sie in einem Rechtsstreit obsiegt hätten, sei es aufgrund eines hypothetischen besseren Ver‑ gleichs. In den USA betrifft das vor allem Sachverhalte, in denen der Beklagte finanziell nur beschränkt leistungsfähig ist oder in denen es um die Verwertung von Versicherungsleistungen geht, die nur bis zu einer Höchstgrenze zur Ver‑ fügung stehen. Deutlich zeigt sich das bei der Anwendung des siebten Grin‑ nell-Faktors.347 Es wäre nicht zielführend, die Genehmigung eines Vergleichs allein deshalb zu versagen, weil er den Geschädigten etwas nicht zuspricht, das sie faktisch ohnehin nicht erhalten könnten. Demnach kann die mangeln‑ de Zahlungsfähigkeit des Beklagten eine Reduktion der Ersatzleistung recht‑ fertigen. Das WCAM findet ausdrücklich Anwendung auf insolvenzrechtliche Konstellationen, so dass zu erwarten ist, dass sich dort ähnliche Probleme er‑ geben können. In Deutschland wird man in Fällen, in denen der Beklagte nur über unzureichende Aktiva verfügt, überlegen müssen, in welchem Verhältnis zum Insolvenzrecht Vergleiche gemäß § 17 KapMuG und § 611 ZPO stehen. Im Grenzbereich erscheint es aber auch hier angemessen, dass eingeschränkte Ka‑ pazitäten des Beklagten rechtfertigen können, dass die Ersatzleistungen gerin‑ ger ausfallen, als dies ohne diese Einschränkung zu erwarten wäre. Der Gedan‑ ke, dass der Beklagte nicht in die Insolvenz getrieben werden dürfe,348 kommt hier im Interesse der Gruppenmitglieder zum Zug. Für diese kann es günstiger sein zeitnah etwas zu erhalten, als langwierig einen höheren Anspruch zu er‑ streiten oder auszuhandeln, der sich später womöglich als nicht durchsetzbar und daher wertlos herausstellt.349
cc) Der Aufwand der Prozessführung (Komplexität, Kosten und Dauer) Das Element des Aufwands der Prozessführung ist angesichts der dort oft im‑ mensen Prozesskosten vor allem in den USA von Bedeutung. Gerade der Auf‑ wand an Zeit und Geld, der in komplexen Verfahren mit der discovery verbun‑ den ist, wird als ein Grund angeführt, der für die Genehmigung eines Vergleichs spricht.350 Die class members kommen zwar mit den laufenden Kosten während des Verfahrens nicht in Berührung, da die beteiligten Kanzleien das Verfahren 347
Siehe oben S. 174. Siehe oben S. 58. BR‑Ausschussempfehlungen zum KapMuG 2005, BR‑Drucks. 2/1/05, S. 16. 350 Vgl. In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litig., 298 F.R.D. 171, 175 (S.D.N.Y. 2014); In re Hi-Crush Partners L. P. Securities Litigation, 2014 WL 7323417 [*6] (S.D.N.Y. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litig., 302 F.R.D. 339, 356 (E. D. Pa. 2014). 348 349
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vorfinanzieren. Obsiegt die class oder kommt es zu einem Vergleich, werden diese Kosten aber auf sie umgelegt, indem die Anwälte nach der common fund doctrine einen Teil der erstrittenen Ersatzleistungen oder der Vergleichssumme erhalten. Eine lange Verfahrensdauer kann die class members zusätzlich belas‑ ten. Es ist daher möglich, dass es in ihrem Interesse liegt, dass ein Vergleich schnell und günstig zustande kommt. Ist in einem Fall die discovery hingegen bereits weitgehend abgeschlossen, kann dies umgekehrt dafür sprechen, dass es das Risiko wert ist eine streitige Entscheidung herbeizuführen. Die Rechtspre‑ chung wertet dies als ein Argument, um die Genehmigung eines Vergleichs ab‑ zulehnen.351 Schließlich besteht im Falle eines Prozessverlustes schon wegen der verbreiteten Erfolgshonorare kein Kostenrisiko für die class members. Auch in Fällen des fee shiftings entstehen keine zusätzlichen Risiken, da dieses nur zu‑ lasten der Gegenseite eingreift.352 Das Risiko eines Prozessverlustes ist für sich genommen zwar ein zentraler Faktor für die Genehmigung eines Vergleichs, aber seine Aussagekraft liegt eben nicht auf einer rein kostenbezogenen Ebene. Im deutschen Zivilprozessrecht entfällt die aufwendige discovery; soweit etwa gemäß § 33g GWB oder im Wege materiellrechtlicher Informations‑ ansprüche (§§ 809, 810 BGB) Ansätze in diese Richtung bestehen,353 erreichen sie bei weitem nicht den Umfang und die Intensität ihres amerikanischen Pen‑ dants. Auslagenvorschüsse für die oftmals sehr teuren354 Sachverständigengut‑ achten stellen in Verfahren nach dem KapMuG keinen Kostenfaktor dar, da sie wegen § 17 Abs. 4 S. 1 GKG, der gemäß § 11 Abs. 1 S. 2 KapMuG die norma‑ lerweise vorrangige355 Regelung des §§ 379, 402 ZPO verdrängt, nicht anfal‑ len – und zwar gemäß § 13 Abs. 5 S. 1 JVEG auch nicht im Hinblick auf eine eventuelle besondere Vergütung eines Sachverständigen. Aus Sicht der Beige‑ ladenen liegt ein mögliches Problem vielmehr darin, dass sie diese Kosten im Falle eines Prozessverlustes anteilig tragen. Bei der Musterfeststellungsklage ist dies anders. Das Kostenrisiko trägt auf Klägerseite allein die qualifizierte Einrichtung, die nach den allgemeinen Regelungen gegebenenfalls auch die Auslagenvorschüsse für ihre Beweismittel schuldet. Es kommt daher darauf an, ob sie diese Kosten auf die Anmelder abwälzen kann, wenn sie im Musterver‑ fahren obsiegt oder einen Vergleich schließt.356 Dasselbe gilt mit Blick auf ihre Anwaltskosten. Im KapMuG wird die Vergütung der Anwälte des Musterklä‑ gers und der einzelnen Beigeladenen dagegen auf der Ebene der individuellen Ausgangsverfahren geregelt.357 Rechnet ein Anwalt nach RVG ab, hängt sein 351 Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1328 (S. D. Fla. 2007); Dr. Ro‑ bert L. Meinders D. C., LTD v. Emery Wilson Corp., 2017 WL 3096276 [*2] (S. D. Ill. 2017). 352 Siehe oben S. 117. 353 Vgl. dazu Brand, NJW 2017, 3558, 3561. 354 Vgl. Gesetzesentwurf KapMuG, BT‑Drucks. 15/5091, S. 1. 355 Damrau, in: MüKoZPO, § 379 Rn. 1. 356 Siehe oben S. 126. 357 Siehe oben S. 119.
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Honorar – und damit die Höhe eines Vorschusses nach § 9 RVG – jedoch nicht unmittelbar von Aufwand und Dauer des Verfahrens ab, schon gar nicht im Zu‑ sammenhang mit einem Musterverfahren nach dem KapMuG, für das er keine zusätzliche Vergütung erhält.358 Die Kosten der Prozessvertretung könnten al‑ lenfalls aus der Sicht eines Beigeladenen, der sich intensiv am Musterverfahren beteiligt und seinen Anwalt nach Zeitaufwand vergütet, ein Argument für einen Vergleich darstellen. Beim KapMuG besteht für die Beigeladenen das Risiko, im Falle eines Prozessverlustes in ihren jeweiligen Ausgangsverfahren für ihren Anteil an den Kosten des Musterbeklagten einstehen zu müssen. Dies kann das argumentative Gewicht geringer Erfolgsaussichten zugunsten eines Vergleichs womöglich verstärken. Bei der Musterfeststellungsklage besteht hingegen kein solches Risiko für die Anmelder, da ihnen eine Beteiligtenstellung fehlt. Dem Faktor Zeit kann eine eigenständige Bedeutung zukommen, die sich nicht in seiner kostensteigernden Wirkung erschöpft. Dass die vereinbarten Er‑ satzleistungen zeitnah zur Verfügung stehen und ein langwieriger Rechtsstreit vermieden wird, kann auch dann, wenn die class in einem Rechtsstreit mit hoher Wahrscheinlichkeit obsiegt hätte, für die Genehmigung eines Vergleichs sprechen.359 Die Gruppenmitglieder können ein Interesse daran haben, mög‑ lichst bald eine Ersatzleistung zu erhalten. Dieses Bedürfnis kann dabei abhän‑ gig vom Einzelfall in seiner Intensität variieren. Ein Extrembeispiel sind etwa Fälle, in denen die Geschädigten nur noch eine geringe Lebenserwartung haben und von möglicherweise höheren Ersatzleistungen in einem späteren Vergleich unter Umständen nicht mehr profitieren würden.360 Auch bei Vermögensschä‑ den sollten kurzfristige Liquiditätslücken bei den Gruppenmitgliedern oder der Gesichtspunkt der Verzinsung ebenso Berücksichtigung finden können wie das Insolvenzrisiko des Beklagten.361 Angesichts der ausufernden Verfahrensdauer beim KapMuG362 wird man die Überlegung, dass ein schneller Vergleich bei der Genehmigungsentscheidung positiv zu bewerten ist, im Einzelfall womög‑ lich auf die deutsche Rechtslage übertragen können. Schneider und Heppner mutmaßen demgegenüber, dass ein Vergleich insofern ohnehin keine wesent‑ liche Erleichterung bringen werde, da die Beklagten ohne eine Einschätzung des Gerichts nicht vergleichsbereit sein würden.363 Sie gehen offenbar davon 358
Siehe oben S. 132. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*12] (N. D. Cal. 2016). Die Schnelligkeit, mit der die Lösung gefunden wurde, wiege dabei auch die eher schematische Berücksichtigung der individuellen Schäden auf, vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., Protokoll v. 18. 10. 2016, S. 19, 101. 360 Vgl. In re Holocaust Victim Assets Litigation, 105 F. Supp. 2d 139, 148 (E. D. N. Y. 2000) zu hochbetagten Holocaustüberlebenden. 361 Vgl. zum Insolvenzrisiko des Beklagten Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1315 (S. D. Fla. 2007). 362 Vgl. dazu Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2711 (dort Fn. 111). 363 Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2711. 359 Vgl.
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aus, dass das Gericht erst in einem späten Verfahrensstadium in der Lage sein wird, eine solche Beurteilung abzugeben. Für diese Sichtweise spricht der Um‑ stand, dass die Beklagten in Deutschland mangels discovery und angesichts der geringeren maximalen Schadensersatzsummen weniger als in den USA unter dem Druck stehen, schnell eine Einigung zu erzielen. Andererseits ist nicht aus‑ zuschließen, dass ein Musterbeklagter, motiviert durch externe Faktoren wie etwa die Öffentlichkeitswirkung des Verfahrens, einem frühen Vergleich zu‑ stimmt. Der argumentative Gehalt eines Verweises auf Kosten und Dauer eines Rechtsstreits wird oftmals eng mit dessen Erfolgsaussichten verknüpft sein.364 Zusätzliche Kosten oder Kostenrisiken sprechen ebenso wie weiterer Zeit‑ aufwand vor allem dann für einen Vergleich, wenn es keinen nennenswerten Nutzen verspricht sie zu investieren beziehungsweise einzugehen, da sich das Ergebnis für die Gruppe wahrscheinlich nicht merklich verbessern wird. Die Aspekte des Aufwands und der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs greifen dabei ineinander. In manchen Fällen ist es aber auch möglich, dass ein Spannungsver‑ hältnis zwischen ihnen besteht.
b) Faktischer Wert und Praktikabilität der Verteilung der Ersatzleistungen Ein Vergleich muss die Leistungen, die er den Gruppenmitgliedern verspricht, auch tatsächlich ermöglichen. Beschränkt er sich auf eine festgesetzte Summe, darf das Gericht keine Zweifel haben, ob diese genügen wird, um die im Ver‑ gleich eingeräumten Ansprüche sämtlicher Berechtigter zu befriedigen. Pro‑ blematisch ist dies vor allem dann, wenn der Beklagte einen Geldbetrag zur Verfügung stellt, während die Anspruchsberechtigung der einzelnen Geschä‑ digten noch im Einzelfall festgestellt werden muss und verschiedene Szenarien hinsichtlich des Umfangs der Inanspruchnahme von Leistungen berücksichtigt werden müssen.365 Der Zahlenwert der bereitgestellten Summe ist nicht zwangsläufig gleich‑ bedeutend mit dem praktischen Nutzen des Vergleichs für die Anspruchsinha‑ ber. Das wird insbesondere im Zusammenhang mit der – in den USA äußerst umstrittenen366 – Fallgruppe der sogenannten coupon settlements deutlich. Der Nutzen eines Gutscheins beurteilt sich nicht nur nach seinem nominellen Wert. Es kommt vielmehr auch darauf an, ob die Begünstigten voraussichtlich tat‑ sächlich von ihm profitieren werden. Gibt ein Coupon einen Nachlass beim Kauf eines Produkts, das viele von ihnen während seiner Geltungsdauer wahr‑ 364 Vgl.
In re Advanced Battery Technologies, Inc. Securities Litig., 298 F.R.D. 171, 176 (S.D.N.Y. 2014) („continued prosecution of the action would be complex, expensive, and lengthy, with a more favorable outcome than the Settlement highly uncertain“). 365 Vgl. In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 715 (E. D. Pa. 2014). 366 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 12:8.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
scheinlich nicht erwerben werden, und ist er zudem nicht übertragbar, ist er fak‑ tisch wertlos.367 Die Geschädigten können seinen Wert dann noch nicht einmal realisieren, indem sie ihn weiterveräußern. Dagegen können Coupons vor allem dann ein geeignetes Mittel zum Schadensausgleich darstellen, wenn die Be‑ klagten und die Gruppe weiterhin in einer dauerhaften Geschäftbeziehung zu‑ einander stehen, so dass reichhaltige Möglichkeiten bestehen, einen Gutschein einzulösen.368 Im deutschen Recht sind derartige Gestaltungen ebenfalls denk‑ bar. Die Gerichte, die mit der Genehmigung von Vergleichen befasst sind, soll‑ ten ihnen gegebenenfalls gesteigerte Aufmerksamkeit widmen. Bei Streuschäden kann es schwierig sein die vereinbarten Ersatzleistungen an die einzelnen Geschädigten zu verteilen. Zumindest wird der administra‑ tive Aufwand, der auch dann unvermeidbar ist, wenn lediglich Kleinbeträge ausgezahlt werden sollen, außer Verhältnis zum damit einhergehenden Nutzen stehen. Es ist sogar denkbar, dass der jewelige Anteil an den Kosten den in‑ dividuellen Auszahlungsbetrag übersteigt. Meist wird ein zusätzliches Vertei‑ lungsverfahren notwendig sein, in desssen Rahmen die Gruppenmitglieder ihre Ansprüche geltend machen. Selbst wenn die Gruppenmitglieder – wie im deut‑ schen System – klar identifiziert werden können, werden die Vergleichspartei‑ en in der Regel zumindest nicht über die erforderlichen Zahlungsinformationen verfügen. In den USA kommt in diesem Zusammenhang das Rechtsinstitut der sogenannten cy pres remedies ins Spiel. Dies basiert auf dem Grundgedanken, dass die Ersatzleistungen unter bestimmten Voraussetzungen nicht direkt an die Geschädigten ausgezahlt werden, sondern stattdessen für einen anderen, aber sachnahen Zweck verwendet werden. Auch für das deutsche Recht wird dieser Ansatz diskutiert, wenngleich nicht spezifisch im Hinblick auf Vergleiche. Dürr-Auster schlägt vor, dass die Er‑ satzleistungen bei Streuschäden zumindest auch den klagenden Verbänden zu‑ gute kommen sollten, wenn es nicht praktikabel sei, sie an die Geschädigten zu verteilen. Es müsse jedoch gewährleistet sein, dass diese Lösung dem mut‑ maßlichen Willen der Gruppenmitglieder entspricht, etwa indem die erlangten Mittel zum Zwecke der Schadensprävention eingesetzt werden.369 Der Richt‑ linienvorschlag der Europäischen Kommission vom 11. April 2018 enthält in Art. 6 Abs. 3 lit. b eine ähnliche Regelung.370 Das Themenfeld cy pres kann in der vorliegenden Untersuchung indessen nicht weiter vertieft werden.
367 In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litig., 55 F. 3d 768, 809 (3d Cir. 1995). 368 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 12:8. 369 Dürr-Auster, Qualifikation als Gruppen- oder Verbandskläger, S. 307 f. 370 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Ver‑ bandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, COM(2018) 184 final.
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c) Wertungen ohne Prognoseelement Die Genehmigungsentscheidung kann zudem Überlegungen enthalten, die keine Abwägung der Erfolgsaussichten und des Aufwands der Verfahrensfüh‑ rung erfordern. Sie nehmen die Inhalte des Vergleichs stattdessen direkt in den Blick und setzen ihn ins Verhältnis zu den Umständen des Einzelfalls. Dazu kann in den USA auch die Frage nach der korrekten Formulierung der notice gehören, wobei aber teilweise Zweifel geäußert werden, ob Mängel in dieser Hinsicht die Genehmigung eines Vergleichs verhindern können.371
aa) Zulässige Reichweite eines als Gegenleistung vereinbarten Anspruchsverzichts Ein Vergleich enthält typischerweise eine Bestimmung, nach der die Begüns‑ tigten als Gegenleistung für die vereinbarte Ersatzleistung auf weitergehende Ansprüche verzichten. Für die class action ergab eine im Rahmen der vorlie‑ genden Untersuchung durchgeführte Recherche zur Entscheidungspraxis im Jahr 2014, dass mehrfach das preliminary approval wegen eines zu weit und unbestimmt formulierten Anspruchsverzichts abgelehnt wurde.372 Dass es sich dabei weit überwiegend um arbeitsrechtliche Fälle handelte,373 hängt mögli‑ cherweise damit zusammen, dass in diesem Bereich mehr als in anderen damit zu rechnen ist, dass zwischen den Beteiligten langfristig angelegte Beziehungen bestehen und auch in Zukunft fortgeführt werden. Demnach ist denkbar, dass weitere Ansprüche bestehen, die in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht nicht von der zugrundeliegenden class action erfasst werden. Nach den recherchierten Entscheidungen soll ein Anspruchsverzicht unzulässig sein, wenn er sich auf Ansprüche erstreckt, die nicht Gegenstand des ursprünglichen Rechtsstreits wa‑ ren.374 Leicht abgewandelt heißt es auch, dass die Ansprüche, auf die verzich‑ tet wird, auf dem gleichen Lebenssachverhalt beruhen müssten wie die mit der class action geltend gemachten Ansprüche.375 Eine der Entscheidungen scheint 371 Vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 613 (9th Cir. 2018): „[W]e would be reluctant in the extreme, on the procedural ground raised, to upset a settlement – especially one of such overall benefit to the class – that otherwise evinced no signs of collusion, unfairness, or irregularity.“ 372 Auffällig ist, dass die maßgeblichen neun Entscheidungen sämtlich von District Courts aus Kalifornien (also aus dem Zuständigkeitsbereich des 9th Cir.) stammen, sieben davon vom N. D. Cal. 373 Acht der Entscheidungen betreffen arbeitsrechtliche Sachverhalte. 374 So Lovig v. Sears, Roebuck & Co., 2014 WL 8252583 [*2] (C. D. Cal. 2014); Otey v. CrowdFlower, Inc., 2014 WL 1477630 [*7] (N. D. Cal. 2014); Taylor v. West Marine Pro‑ ducts, Inc., 2014 WL 7388780 [*2] (N. D. Cal. 2014); Valdez v. Neil Jones Food Co., 2014 WL 3940558 [*10] (N. D. Cal. 2014). 375 So Christensen v. Hillyard, Inc., 2014 WL 3749523 [*4] (N. D. Cal. 2014); Lovig v. Sears, Roebuck & Co., 2014 WL 8252583 [*2] (C. D. Cal. 2014); Stokes v. Interline Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*4] (N. D. Cal. 2014); Willner v. Manpower, Inc., 2014 WL 4370694
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zwischen diesen beiden Grenzen einen Graubereich zu sehen: Ansprüche, die zwar urprünglich nicht eingeklagt wurden, aber auf demselben Lebenssachver‑ halt beruhen, dürften nur einbezogen werden, wenn dafür gute Gründe vor‑ gebracht würden.376 Weiterhin steht fest, dass nicht auf Ansprüche aus einem parallelen FLSA‑Verfahren verzichtet werden darf.377 Im Zusammenhang mit dem KapMuG und der Musterklage ist es ebenfalls zumindest denkbar, dass die Musterparteien, die einen Vergleich aushandeln, einen möglichst weitgehenden Anspruchsverzicht einzufügen versuchen. Da ein Vergleich in diesen Verfahrensformen eine Regelung schafft, die über den Inhalt eines Musterfeststellungsbescheids beziehungsweise eines Musterfeststellungs‑ urteils hinausgeht, kann man nicht in Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zu § 265 Abs. 2 S. 1 ZPO378 argumentieren, dass er nur solche Verfügun‑ gen zur Lasten der Repräsentierten enthalten dürfe, die auch Inhalt einer hypo‑ thetischen streitigen Endentscheidung im Musterverfahren sein könnten. Hinter der Frage nach den Grenzen eines Anspruchsverzichts steht jedoch ebenfalls das Problem, auf welchen Streitgegenstand sich die Kompetenz des Musterklä‑ gers beziehungsweise der qualifizierten Einrichtung beim Abschluss eines Ver‑ gleichs bezieht. Für das KapMuG lässt sich das ohne Schwierigkeiten aus der Gesetzessystematik ableiten: Ein Verfahren nach dem KapMuG baut auf klar definierten Rechtsstreitigkeiten auf, die dem Musterverfahren notwendigerwei‑ se vorausgehen. Gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG dient ein Vergleich dazu, diese ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten beizulegen. Ließe man einen Anspruchsver‑ zicht zu, der über deren Streitgegenstände hinausgeht, würde man die sachli‑ che Kompetenz des Musterklägers erweitern, ohne dass die Beigeladenen die Reichweite dieser Befugnis bei der Klageerhebung in ihrem jeweiligen Aus‑ gangsverfahren vorhersehen könnten. Nach der zutreffenden Auslegung von § 8 KapMuG erfasst der Aussetzungsbeschluss die Ausgangsrechtsstreite nur insoweit, wie die Entscheidung über die Feststellungsziele vorgreiflich für sie ist,379 jedenfalls wenn andere Teile abtrennbar sind. Daher umreißen die Streitgegenstände derjenigen Teile der Ausgangsverfahren, die von den Fest‑ stellungszielen abhängen, die Grenze eines Anspruchsverzichts. Wenn man an‑ nimmt, dass ein Teilvergleich im Rahmen des KapMuG unzulässig ist,380 kann sich auch das umgekehrte Problem ergeben, dass ein Anspruchsverzicht nicht [*7] (N. D. Cal. 2014); diese Entscheidungen berufen sich dabei meist auf Hesse v. Sprint Corp., 598 F. 3d 581, 590 (9th Cir. 2010). 376 Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*3] (N. D. Cal. 2014). 377 Vgl. Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*3] (N. D. Cal. 2014); Stokes v. Interline Brands, Inc., 2014 WL 5826335 [*4] (N. D. Cal. 2014). Siehe auch oben S. 202. 378 BGH, Urt. v. 14. 09. 2018, Az.: V ZR 267/17, NJW 2019, 310, Rn. 29. 379 Kruis, in: KK‑KapMuG, § 9 Rn. 48. 380 Vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 7.
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weit genug geht: Ein Vergleich kann dann nicht regeln, dass der Musterkläger und die Beigeladenen lediglich darauf zu verzichten einzelne von denjenigen Ansprüchen geltend zu machen, die Gegenstand der Ausgangsverfahren sind und von den Feststellungszielen abhängen. Für Vergleiche, die auf Grundlage von § 611 ZPO geschlossen werden, gestaltet sich die Situation dagegen kom‑ plexer. Die mögliche Reichweite eines Anspruchsverzichts hängt davon ab, wie man die streitgegenständlichen Ansprüche oder Rechtsverhältnisse konkreti‑ siert.381 In den Rechtsmaterien, auf die das KapMuG und die Musterfeststel‑ lungsklage zugeschnitten sind, wird ein Beklagter jedoch wahrscheinlich nur selten ein starkes Interesse haben, andere Ansprüche mit ähnlichem tatsäch‑ lichen Hintergrund auszuschließen, da es oft an einer dauerhaften Geschäfts‑ beziehung mit den Gruppenmitgliedern mangeln wird, aus der sich wiederkeh‑ rende gleichartige Probleme ergeben. Die inhaltlichen Grenzen der Kompetenz des Repräsentanten müssen auch über die Frage eines Anspruchsverzichts hinaus beachtet werden. So kann die‑ ser beispielsweise keinen Vergleich abschließen, der Verfügungen über sonstige Vermögenswerte der Gruppenmitglieder enthält.
bb) Rückfallbestimmungen Bei der class action finden sich in Vergleichen vielfach Bestimmungen, die an‑ ordnen, dass die zur Befriedigung der Gruppenmitglieder bereitgestellte Summe an den Beklagten zurückfällt, soweit sie von den Gruppenmitgliedern nicht in Anspruch genommen wird. Eine solche reversion provision382 gewinnt dann an Bedeutung, wenn die Gruppenmitglieder ihre Ersatzleistungen nicht unmittel‑ bar erhalten, sondern ihre Ansprüche in einem zusätzlichen Verteilungsverfah‑ ren anmelden müssen. Sie ist einerseits deswegen problematisch, weil sie Inte‑ ressenkonflikte bei der Verteilung der Ersatzleistungen nach sich ziehen kann. Wenn ein Beklagter weiß, dass er davon profitiert, dass der Vergleich nicht in Anspruch genommen wird, hat er einen Anreiz, genau das zu fördern, beispiels‑ weise indem er etwaige Anspruchsteller beim Zugriff auf die Ersatzleistungen behindert.383 Andererseits hebt Erichson hervor, dass die schädlichen Wirkun‑ gen von Rückfallbestimmungen im Zusammenhang mit der Berechnungs‑ methodik für die Anwaltsvergütung ständen. Wenn diese nicht anhand des no‑ minellen, sondern des tatsächlichen Werts der Ersatzleistungen ermittelt würde, 381 Vgl. zu den Anforderungen an die Konkretisierung Boese/Bleckwenn, in: Nordholtz/ Mekat, Musterfeststellungsklage, § 5 Rn. 23. 382 Siehe dazu oben S. 203. 383 Vgl. In re National Collegiate Athletic Association Student-Athlete Concussion Injury Litigation, 2014 WL 7237208 [*9] (N. D. Ill. 2014), wo die Gefahr bestand, dass die Beklagte den Zugang zu medizinischen Untersuchungen erschwerte, die eine Voraussetzung für die In‑ anspruchnahme von Leistungen aus dem Vergleich waren.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
verschwänden die Probleme.384 Damit richtet er das Schlaglicht auf die Fehl‑ anreize, die Rückfallbestimmungen für die Anwälte der class setzen können, wenn deren Vergütung von der Frage entkoppelt wird, ob bei den Gruppen‑ mitgliedern tatsächlich eine angemessene Kompensation ankommt. Wenn eine Rückfallbestimmung demnach sowohl den Beklagten als auch den Anwälten der class nutzen kann, ist ein besonderes Augenmerk auf mögliche Kollusion zu richten.385 Andererseits können Rückfallbestimmungen aber auch anerken‑ nenswerte Zwecke verfolgen. Zudem ist es möglich ihre negativen Wirkungen auszugleichen, etwa wenn zusätzliche Anreize für einen Beklagten gesetzt wer‑ den, möglichst viele Gruppenmitglieder zu entschädigen.386 Weiterhin ist das Risiko dann geringer, wenn es um substantielle Ansprüche geht, die die class members wahrscheinlich geltend machen werden.387 In den USA scheint dabei auch der Überlegung, dass Rückfallbestimmungen öffentliche Interessen beein‑ trächtigen können, eine nicht unerhebliche Bedeutung zuzukommen. Wird die Zahlungverpflichtung des Beklagten nicht möglichst vollständig durchgesetzt, verringert dies die abschreckende Wirkung des Vergleichs und führt dazu, dass rechtswidrig erlangte Vorteile nicht abgeschöpft werden. Unter der Annahme, dass das Genehmigungserfordernis im deutschen Recht dem Schutz der Gruppenmitglieder dient, erscheint die Wahrung öffentlicher Interessen dort eher als Rechtsreflex, der freilich nicht bedeutungslos ist. Selbst wenn man zulässt, dass Prozessfinanzierer eine erfolgsabhängige Vergütung aus der Vergleichssumme erhalten, wird dem Problem von Rückfallbestimmungen in den deutschen Verfahrensformen aber wohl lediglich eine im Vergleich mit der Situation in den USA stark verminderte Bedeutung zukommen. Da sich die Beigeladenen beim KapMuG ebenso wie die Anmelder bei der Musterfeststel‑ lungsklage von vornherein aktiv entscheiden müssen am Verfahren teilzuneh‑ men, steht zu erwarten, dass sie die im Vergleich vereinbarten Ersatzleistungen im Regelfall auch abrufen werden. Bei einer class action – die die Gruppenmit‑ glieder ohne deren ausdrückliche Zustimmung einbezieht, sei nach dem opt outSystem,388 sei es ganz ohne Wahlmöglichkeit389 – wird dagegen die rationale Apathie der Gruppenmitglieder oftmals auch in der Verteilungsphase fortwir‑ ken, zumal wenn es um kleinere Beträge geht. Im derzeitigen deutschen Recht ist wohl nur in Ausnahmefällen damit zu rechnen, dass Rückfallbestimmun‑ gen praktische Relevanz gewinnen, etwa wenn bei einer Musterfeststellungs‑ 384 Vgl. 385 Vgl.
Erichson, 92 Notre Dame L. Rev. 859, 892 (2016). In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 611 (9th Cir.
2018). 386 Etwa durch Strafzahlungen, wenn eine bestimmte Quote nicht erreicht wird, vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 612 (9th Cir. 2018). 387 Vgl. In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 612 (9th Cir. 2018). 388 Rule 23 (b) (3) FRCP. 389 Rule 23 (b) (1) und (2) FRCP.
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klage im Zuge eines komplexen Verteilungsverfahrens zusätzliche Nachweise erbracht werden müssten. Das Gericht wird in solchen Fällen allerdings ein be‑ sonderes Augenmerk auf die Frage der Angemessenheit des Verteilungsverfah‑ rens legen müssen.
cc) Das Erfordernis gegenseitigen Nachgebens im deutschen Recht Im Zusammenhang mit der Genehmigung eines Vergleichs nimmt das Erforder‑ nis gegenseitigen Nachgebens im deutschen Recht eine systematische Sonder‑ stellung ein. Gemäß § 779 Abs. 1 BGB bildet es ein Element der Legaldefiniti‑ on des Begriffs „Vergleich“. Liegt es nicht vor, fehlt daher bereits die zentrale Anwendungsvoraussetzung für das gerichtliche Genehmigungserfordernis, das beim KapMuG und der Musterfeststellungsklage lediglich für Vergleiche gilt. Schließen die Parteien eine Vereinbarung, in der eine Seite nicht nachgibt, liegt vielmehr zumindest die schuldrechtliche Grundlage für ein Teilanerkenntnis oder einen – gemäß § 11 Abs. 1 S. 2 KapMuG beziehungsweise § 610 Abs. 5 S. 2 ZPO unzulässigen – Teilverzicht vor.390 Im Einzelfall können sich Abgren‑ zungsfragen ergeben: Zunächst ist zu berücksichtigen, dass das gegenseitige Nachgeben nicht notwendigerweise auf dem Gebiet des materiellen Rechts lie‑ gen muss, solange es in den Bereich der Verfügungsmacht der Parteien fällt,391 was den Spielraum für die Parteien in Grenzfällen erhöht. Da sich § 779 BGB an die Parteien richtet, die einen Vergleich abschließen, bezieht sich das Erfor‑ dernis des gegenseitigen Nachgebens auf die Gruppe in ihrer Gesamtheit. Es muss nicht jeweils im Hinblick auf die Ansprüche jedes einzelnen Mitglieds gewährleistet sein. Hiervon geht auch der Gesamtverband der Deutschen Ver‑ sicherungswirtschaft e. V. aus, der in einer Stellungnahme zur Musterfeststel‑ lungsklage ausführt, dass es an einem gegenseitigen Nachgeben fehle, wenn die durchschnittliche Leistung des Musterbeklagten an den einzelnen Anmelder den durchschnittlich angemeldeten Betrag übersteigt. Er will damit die Einfüh‑ rung von „Strafschadensersatz durch die Hintertür“ verhindern.392 In derartigen Fällen muss freilich eingehend geprüft werden, ob die qualifizierte Einrichtung dem Unternehmen nicht etwa auf andere Weise Konzessionen macht, zum Bei‑ spiel, weil das Musterfeststellungsurteil, auf das sie mit dem Vergleich verzich‑ tet, unter Umständen eine erhebliche Vorbildwirkung für Verbaucher, die ihre Ansprüche nicht angemeldet haben, oder auch für spätere ähnliche Fälle hätte entfalten können. 390 Vgl.
auch Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 42 (Voraus‑ setzungen von § 779 Abs. 1 BGB bei der Genehmigungsentscheidung „angemessen zu berück‑ sichtigen“). 391 Vgl. Geimer, in: Zöller, ZPO, § 794 Rn. 3; Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 6. 392 Stellungnahme Gesamtverband Versicherungswirtschaft, S. 5; so auch Waßmuth/ Asmus, ZIP 2018, 657, 664.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
dd) Nachweisanforderungen für die Inanspruchnahme von Leistungen Ein Vergleich kann auch dann unangemessen sein, wenn er unbillige Hürden für die Gruppenmitglieder aufstellt, die es ihnen erschweren die vereinbarten Ersatzleistungen in Anspruch zu nehmen. Winter geht dagegen zu weit, wenn er für das KapMuG verlangt, dass ein Vergleich nur genehmigt werden dürfe, wenn er sicherstelle, dass Beigeladene, deren Ansprüche tatsächlich nicht von dem Musterverfahren abhängen, keine Ersatzleistungen erhalten.393 Diese An‑ sicht ist selbst dann kritikwürdig, wenn man davon absieht, dass ein Muster‑ beklagter vorbehaltlich der §§ 134, 138 BGB bereits nicht schutzwürdig ist, wenn er einem Vergleich zustimmt, den er selbst ausgehandelt hat. Ein Ver‑ gleich erfasst beim KapMuG – und ebenfalls bei der Musterfeststellungskla‑ ge – auch die jeweiligen Ausgangsverfahren. Gerade wenn diese in einem sehr frühen Verfahrensstadium ausgesetzt wurden, kann es auch aus Sicht eines Be‑ klagten völlig legitim sein auf die Klärung individueller Fragestellungen zu ver‑ zichten. Eine solche Regelung könnte zwar im Einzelfall unangemessen sein, wenn nur begrenzte Mittel zur Verteilung bereitstehen, weil sie nicht zwischen Gruppenmitgliedern mit besseren und schwächeren Ansprüchen differenziert. Hierzu wäre aber eine Prognose von deren jeweiligen Erfolgsaussichten394 not‑ wendig. Vor diesem Hintergrund müsste nachweisbar sein, dass die Geschä‑ digten mit besseren Ansprüchen absolut betrachtet eine unangemessene Ersatz‑ leistung bekommen, denn dass andere Gruppenmitglieder auch etwas erhalten, schadet ihnen erst einmal nicht. Ein paralleles Problem stellt sich mit Blick auf die Musterfeststellungsklage, da dort im Rahmen des Anmeldeverfahrens nicht geprüft wird, ob die geltend gemachten Ansprüche schlüssig sind.395
ee) Regelungen zu Kosten und Finanzierung Auch wenn die Höhe der Anwaltsvergütung bei der class action vom Gericht festgelegt wird, treffen die Parteien diesbezüglich üblicherweise Vereinbarun‑ gen. Die amerikanische Rechtsprechung berücksichtigt diese teilweise als Indiz, um die Fairness eines Vergleichs zu beurteilen.396 In den USA unterlie‑ gen auch Bestimmungen der richterlichen Kontrolle, nach denen der represen‑ tative plaintiff als Aufwandsentschädigung eine besondere Vergütung enthält. Solche incentive payments sind nachvollziehbar und akzeptabel, solange sie sich in einem angemessenen Rahmen halten, zumal wenn der class representa‑ tive im Einzelfall eine eher aktive Rolle eingenommen hat. Sie können aber in‑ 393
Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 10. Siehe oben S. 221. 395 Vgl. Schneider, BB 2018, 1986, 1995. 396 Vgl. In re Prudential Ins. Co. America Sales Practice Litigation Agent Actions, 148 F. 3d 283, 323 (3d Cir. 1998); siehe dazu oben S. 175. 394
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sofern problematisch sein, als sie die Aussagekraft des Umstands, dass der Re‑ präsentant den Vergleich unterstützt, relativieren können.397 Auf die deutsche Musterfeststellungsklage und das niederländische WCAM lässt sich dies dagegen nicht unmittelbar übertragen, da die Repräsentanten bei ihnen Interessenorganisationen sind, die nicht selbst der Gruppe der Geschä‑ digten angehören. Die beiden niederländischen Entscheidungen in der Sache Fortis setzen sich jedoch mit der Frage auseinander, ob Geschädigte, die einen Beitrag zur Finanzierung des Verfahrens geleistet haben, besser gestellt werden dürfen als solche, die dies nicht getan haben. Nachdem der gerechtshof es zu‑ nächst abgelehnt hatte einen Vergleich zu genehmigen, der eine solche Rege‑ lung enthielt,398 billigte er schließlich eine abgeänderte Gestaltung.399 Im Rah‑ men des deutschen KapMuG wäre es ebenfalls denkbar dem Musterkläger für seinen zusätzlichen Aufwand bei der Aushandlung des Vergleichs zu entschä‑ digen, zumal er konzeptionell eine deutlich aktivere Stellung einnimmt als dies zumindest in der Regel bei einem class representative in den USA der Fall ist. Das Gericht muss mit Blick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungs‑ verbot jedoch sicherstellen, dass lediglich Aufwendungen ersetzt werden, die tatsächlich angefallen sind. Der Musterkläger darf seine Position nicht dazu ausnutzen, um eine Sonderbehandlung zu erhalten. Vor der zweiten Entscheidung über die Genehmigung eines Vergleichs in der Sache Fortis hatte der gerechtshof Amsterdam die Finanzierungsmodelle der Interessenorganisationen lediglich insoweit überprüft, als entsprechende Re‑ gelungen in den Vergleich aufgenommen worden waren. Nunmehr setzt er sich unabhängig davon umfassend mit ihnen auseinander.400 In Deutschland ist bei der Kontrolle eines Vergleichs nur vorgesehen, dass die Regelungen zur Kos‑ tenverteilung überprüft werden, die sich unmittelbar auf den Vergleich bezie‑ hen (§ 17 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 2 Nr. 4 ZPO).401 Die allgemeine Frage, wie sich eine qualifizierte Einrichtung finanziert, wird dagegen schon thematisiert, wenn das Gericht prüft, ob es eine Musterfeststel‑ lungsklage bekannt macht (§ 606 Abs. 1 ZPO). Allerdings ist es möglich beson‑ dere Gestaltungen wie den Einsatz von Prozessfinanzierern und ähnliche Mo‑ delle – falls diese auf der Ebene der Auswahl des Repräsentanten zulässig sein 397
Erichson, 92 Notre Dame L. Rev. 859, 898 f. (2016). Siehe dazu noch unten S. 253. Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis I ). 399 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ). Siehe dazu i. E. bereits oben S. 214 f. 400 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.35 ff. Siehe dazu bereits oben S. 124. 401 Bei der Musterfeststellungsklage ist dabei entgegen Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 90 eine Beteiligung der angemeldeten Verbraucher an den Kosten des Musterverfahrens nicht von vornherein ausgeschlossen, siehe oben S. 126. 398
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
sollten – als ein Indiz berücksichtigen, um zu beurteilen, ob ein erhöhtes Risiko von Interessenkonflikten besteht.
d) Sonstige unzulässige Inhalte eines Vergleichs Fraglich ist, ob über das bisher Gesagte hinaus klare Grenzen bestehen, wel‑ che Regelungen Eingang in einen Vergleich finden können. Im deutschen Recht muss man an die in §§ 134, 138 BGB vertypten Wertungen zu denken, so dass etwa eine Genehmigung ausscheidet, ohne dass es einer weitere Abwägung be‑ darf, wenn ein Vergleich strafbare Inhalte hat. Eventuelle funktionell ähnliche Regelungen in den USA und den Niederlanden können an dieser Stelle nicht un‑ tersucht werden. Das Verbot gesetzes- und sittenwidriger Rechtsgeschäfte ver‑ körpert einen Mindeststandard,402 den ein Gericht schon aufgrund seiner Ge‑ setzesbindung in jedem Fall garantieren muss und zwar unabhängig davon, ob diese Normen im Einzelfall die Gruppenmitglieder schützen oder andere Zwe‑ cke verfolgen. Ein Gericht darf mit seiner Genehmigungsentscheidung unzuläs‑ sigen Regelungsinhalten nicht den Schein der Legitimation verleihen. Es be‑ steht insofern eine Parallele zum Prüfungsmaßstab bei § 278 Abs. 6 S. 2 ZPO.403 Dass eine Regelung Eingang in einen Vergleich findet, deren Inhalt zwangs‑ läufig gegen diese Normen verstößt – etwa indem sie eine per se unzulässige Rechtsfolge anordnet –, ist zwar denkbar; es wird sich dabei jedoch um Extrem‑ fälle handeln, die nicht zuletzt angesichts der Beteiligung von Rechtsanwäl‑ ten bei der Aushandlung des Vergleichs nur äußerst selten vorkommen werden. Weiterhin wird der Sachverhalt oftmals nicht genügend aufgeklärt sein, so dass eine Anwendung der beiden Normen schon daran scheitert, dass bei § 134 BGB der Tatbestand der in Bezug genommenen Verbotsnorm beziehungsweise bei § 138 BGB die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrig‑ keit nicht feststehen. Ein Gericht sollte §§ 134, 138 BGB vor allem nur äußerst zurückhaltend an‑ wenden, um einen vorgeblich überhöhten Vergleichsdruck für den Beklagten auszugleichen. Insbesondere wird es prima facie davon ausgehen können, dass ein beklagtes Unternehmen nachvollziehbare Gründe dafür hatte einem Ver‑ gleich zuzustimmen – selbst wenn die Erfolgsaussichten der Klage nachweis‑ lich eher gering waren. Anders als die repräsentierten Gruppenmitglieder ist der Beklagte aktiv am Verfahren und den Vergleichsverhandlungen beteiligt. Er ist daher nicht besonders schutzbedürftig. Fälle, in denen sich der Beklagte auf einen ungewöhnlich teuren Vergleich eingelassen hat, obwohl man mit hinrei‑ chender Sicherheit sagen kann, dass ein Anspruch mit hoher Wahrscheinlich‑ keit nicht besteht und die Klage daher missbräuchlich war, sind angesichts des 402 Zum Streitstand über die Reichweite von § 138 BGB vgl. Sack/Fischinger, in: Staudin‑ ger (2017), § 138 Rn. 70 ff. m. w. N. 403 Siehe dazu oben S. 35 f.
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strukturell eher gemäßigten Vergleichsdrucks im deutschen Zivilprozess404 je‑ denfalls nicht ohne Weiteres vorstellbar. Wenn es derart offensichtlich ist, dass der Beklagte obsiegt hätte, kann man zudem zweifeln, wie schutzwürdig er ist. Besteht dagegen erhebliche Unsicherheit, wird der Nachweis, dass die Klage missbräuchlich war, schwer zu führen sein. Ein Gericht sollte hier allenfalls in Extremfällen eingreifen. Ein auffälliges Missverhältnis zulasten des Beklagten kann nur unter den gleichen Bedingungen angenommen werden, unter denen dies auch bei einem Vergleich in einem gewöhnlichen Zweiparteienverhältnis der Fall wäre. Damit bestehen deutlich strengere Voraussetzungen als für eine Unangemessenheit zum Nachteil der repräsentierten Gruppenmitglieder. Jenseits von §§ 134, 138 BGB sind auch zwingende prozessuale Vorgaben zu beachten. So ist beim KapMuG und der Musterfeststellungsklage ein iso‑ lierter Vergleich des Musterverfahrens nicht zulässig405 und kann daher nicht genehmigt werden.406 Zudem kann ein Differenzierungskriterium, anhand des‑ sen verschiedene Untergruppen unterschiedlich behandelt werden, im Einzel‑ fall sachwidrig und damit unangemessen sein, ohne dass es einerseits auf die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits oder andererseits auf die Vorgaben von §§ 134, 138 BGB ankommt.
e) Das Prognoseelement als inhaltsbezogene Wertung aa) Aussagekraft des Kriteriums Unabhängig davon, ob sich die Prognose auf die prozessualen Voraussetzun‑ gen – bei der class action etwa die Frage, ob die certification der class Bestand haben wird – oder auf die materiellrechtliche Beurteilung bezieht, beruht ihre Aussagekraft auf dem gleichen Mustern. Einerseits stellt das Kriterium zumindest auf der Grundlage einer idealisier‑ ten Betrachtungsweise einen unmittelbaren Bezug zu der Motivation für den Vergleich her. Wenn man den Parteien rationales Handeln unterstellt, schließen sie diesen, weil sie der Ansicht sind, dass er in der Gesamtbetrachtung eine bes‑ sere und effizientere Lösung darstellt als eine Fortführung des Rechtsstreits. Ein Vergleich ist demnach angemessen, wenn die Repräsentanten ein Ergebnis erzielt haben, dass unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten auch als eine rational nachvollziehbare Entscheidung der Repräsentierten durchgehen würde, also für diese eine wenigstens akzeptable Kosten-Nutzen-Relation aufweist. Umgekehrt kann man von einem pflichtgemäß handelnden Repräsentanten er‑ warten, dass er einem Vergleich dann nicht zustimmt, wenn er auf streitigem Wege voraussichtlich ein besseres Ergebnis erzielt hätte. Da es in diesem Zu‑ sammenhang um eine idealisierte Zielvorstellung geht, kommt es nicht darauf 404 405
Siehe oben S. 13. Siehe oben S. 45. 406 Vgl. Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 10.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
an, ob sich die Parteien bei ihren Vergleichsverhandlungen tatsächlich von ihrer Einschätzung der Prozesschancen haben leiten lassen.407 Andererseits ist die hypothetische Sachentscheidung der einzige wirkliche Maßstab dafür, wie stark ein Anspruch oder auch die Einwendungen gegen die‑ sen sind. Die Prognose beschreibt also – freilich mit einer erheblichen Unschär‑ fe – das Maß der Unsicherheit, auf dem ein Vergleich aufbaut. Sie eignet sich daher besonders, um einen Rahmen für die angemessene Höhe der Ersatzleis‑ tungen abzustecken. Die anderen auf den Vergleichsinhalt bezogenen Kriterien, die auf ein Prognoseelement verzichten, richten sich eher auf Bestimmungen eines Vergleichs, die nicht unmittelbar die Höhe der Ersatzleistungen betreffen, wie etwa die Reichweite eines Anspruchsverzichts, die Zulässigkeit von Rück‑ fallbestimmungen oder die Nachweisanforderungen für die Inanspruchnahme von Leistungen. Manche von ihnen können jedoch auch Indizwirkung für even‑ tuelle Interessenkonflikte entfalten; das gilt etwa für die Frage nach der Aus‑ gestaltung von Rückfallbestimmungen und Kostenerstattungsregelungen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es auch das Prognoselement nicht rechtfertigt, von einem richterlichen Ermessen zu sprechen. Ein Gericht muss seine Prognose immer auf konkrete Anhaltspunkte stützen. Bei einer Prognose füllt es letztlich einen unbestimmten Rechtsbegriff vor dem Hintergrund eines konkreten Einzelfalls aus.408
bb) Praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung Die Herausforderung liegt in den praktischen Schwierigkeiten einer Prognose. Wenn man von den Besonderheiten der einzelnen Rechtsordnungen abstrahiert, geht es in einem Rechtsstreit zunächst darum, einen Sachverhalt im Wege eines im Einzelnen geregelten Verfahrens aufzuklären. Auf dieser Grundlage bewer‑ tet das Gericht ihn anhand der geltenden rechtlichen Maßstäbe. Mit einem Ver‑ gleichsschluss setzen die Parteien ihre gemeinsame autonome Entscheidung an die Stelle dieses strukturierten Vorgehens, jedenfalls soweit es noch nicht durchgeführt wurde. Die Prognose eines Gerichts kann sich dem hypotheti‑ schen Ergebnis eines Rechtsstreits daher charakteristischerweise lediglich mehr oder weniger vage annähern. Auf der Tatsachenebene kann das Genehmigungs‑ verfahren unter Effizienzgesichtspunkten sinnvollerweise nicht versuchen, ein streitiges Verfahren nachzuahmen und auf diese Weise die Unklarheiten zu be‑ seitigen, die die Grundlage eines Vergleichs bilden.409 Das Gericht ist von sei‑ 407 Jedenfalls nach Cooper Alexander, 43 Stan. L. Rev. 497, 567 und 596 (1991) tun sie das bei class action settlements in den USA nicht. 408 Eingehend zur Abgrenzung von Prognose- und Ermessensentscheidungen Stickelb‑ rock, Richterliches Ermessen, S. 287 ff. 409 Vgl. aus amerikanischer Perspektive etwa Marshall v. National Football League, 787 F. 3d 502, 518 (8th Cir. 2015) („in approving a settlement[,] the district court need not under‑ take the type of detailed investigation that trying the case would involve“). Vgl. auch Beck, ZIP
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ner Informationsbasis abhängig und wird häufig nur eingeschränkt abschätzen können, welche Sach- und Rechtsfragen voraussichtlich Bedeutung gewonnen hätten, wie wahrscheinlich es ist, dass es diese auf eine bestimmte Weise ent‑ scheiden hätte, und wie komplex, langwierig und kostenträchtig das Verfah‑ ren voraussichtlich geworden wäre – daraus kann es dann annäherungsweise ableiten, was die geltend gemachten Ansprüche wert sind. Die Praxis in den untersuchten Rechtsordnungen beschränkt sich daher letztlich auf eine Wer‑ tungsentscheidung des Gerichts, die sicherstellt, dass die in einem Vergleich vereinbarten Ersatzleistungen nicht außer Verhältnis zum wahrscheinlichen Verfahrensergebnis stehen. Piché steht dem Prognosegedanken vor diesem Hin‑ tergrund mit Skepsis gegenüber. Das Vorgehen der Rechtsprechung in Nord‑ amerika sei „artificial and outdated“, da sie ein Ergebnis vorherzusagen ver‑ suche, das es dort, wo Zivilprozesse üblicherweise verglichen oder anderweitig beendet werden, bevor es zu einem trial kommt, praktisch nicht mehr gäbe. Sie schlägt vor stattdessen andere Vergleiche, die in der Vergangenheit genehmigt wurden, als Maßstab zu nehmen.410 Tatsächlich beziehen zumindest manche Gerichte in den USA diesen Ansatz bereits in ihre Genehmigungsentscheidun‑ gen ein.411 Das Problem liegt aber darin, dass es ihnen nicht selten schwerfallen wird, ähnlich gelagerte Vergleiche zu finden, die einen geeigneten Vergleichs‑ maßstab darstellen.412 Das gilt erst recht für die Situation in Deutschland, wo es keine jahrzehntelange Rechtsprechung zur Genehmigung von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz gibt, auf die ein Gericht zurückgreifen könnte. Über‑ dies kann es im Einzelfall schwer zu beurteilen sein, wann die Ausgangsbedin‑ gungen eines Vergleichs mit denen eines anderen übereinstimmen – zumal man auch hierbei wieder jeweils die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits berück‑ sichtigen müssen wird, denn diese sind letztlich der entscheidende Hintergrund für einen Vergleichsschluss. Sich lediglich darauf zu beschränken, anhand von Präjudizien einen Referenzrahmen für die Angemessenheit von Vergleichen in bestimmten Rechtsgebieten und Sachverhaltskonstellationen abzustecken, würde es dagegen nur sehr eingeschränkt zulassen, die Besonderheiten des Ein‑ zelfalls zu berücksichtigen, und den Detailgrad des Genehmigungsmaßstabs übermäßig vergröbern. In der amerikanischen Praxis scheinen die absoluten Kriterien oftmals aus‑ schlaggebend zu sein, wenn das preliminary approval413 oder das final appro‑ val414 abgelehnt wird, während die Gerichte in stattgebenden Entscheidungen 2018, 1915, 1918 zu den Schwierigkeiten bei der Tatsachenfeststellung in einem deutschen Musterfeststellungsverfahren. 410 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 270. 411 Siehe oben S. 224. 412 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 182 (2009). 413 Siehe oben S. 201 ff. 414 Siehe oben S. 186 ff.
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gerne abstrakt die Bedeutung des Prognoseelements hervorheben.415 Das hebt noch einmal die Schwierigkeiten hervor, die eine Prognose im Grenzbereich aufwirft. Dass die Einschätzung der Chancen und Risiken eines Rechtsstreits in den meisten Fällen wenig präzise bleiben wird, bedeutet umgekehrt, dass die Partei‑ en bei der Gestaltung des Vergleichs über einen Spielraum verfügen, der keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt. An diesem Punkt zeigt sich deutlich, wie die Frage des Prüfungsmaßstabs bei der richterlichen Kontrolle eines Vergleichs die Kompetenzverteilung zwischen den Parteien und dem Gericht definiert.416 Wenn die Fähigkeit des Gerichts eine Prognose zu treffen primär von seinem Kenntnisstand abhängt, bedeutet dies demzufolge auch, dass der Grad der Un‑ sicherheit über die Kompetenzverteilung entscheidet; die Spielräume der Par‑ teien sind umso größer, je ungewisser der Ausgang eines Rechtsstreits ist. Eine entscheidende Frage ist daher, wie man das Mindestmaß an Kenntnissen de‑ finieren kann, über das ein Gericht verfügen muss, um einen Vergleich geneh‑ migen zu können. Sie wird in der vorliegenden Untersuchung aber erst unten bei § 8 thematisiert werden, da zunächst die Erkenntnismöglichkeiten der Ge‑ richte analysiert werden müssen.
f) Differenzierungen zwischen Untergruppen Verschiedene Untergruppen von Geschädigten werden sich häufig mit Blick auf die Eigenarten und Bedingungen ihrer jeweiligen Ansprüche unterscheiden. In diesem Zusammenhang können ihre jeweiligen Erfolgsaussichten berück‑ sichtigt werden, um zu beurteilen, ob eventuelle Ungleichbehandlungen mög‑ licherweise sachwidrig sind. Es sind zwar auch Fälle denkbar, in denen ein be‑ stimmtes Differenzierungskriterium sachwidrig ist, ohne dass es auf eine solche Prognose ankommt. Die Ansprüche einzelner Geschädigter können sich einer‑ seits anhand eher formaler Kriterien unterscheiden, in Abgasfällen etwa hin‑ sichtlich des Fahrzeugmodells, dessen Aussattung oder der Laufleistung.417 In anderen Fällen können jedoch auch komplexere Fragen eine Rolle spielen, die nicht ohne eine Prognose beantwortet werden können, etwa welche Beweis‑ möglichkeiten den einzelnen Betroffenen voraussichtlich offenstehen werden oder nach welchem Recht sich ihre Ansprüche richten würden.418 Mit Blick auf den Schutzzweck des Genehmigungserfordernisses,419 muss eine Ungleichbehandlung zumindest einem Gruppenmitglied einen Nachteil zufügen. Im Regelfall kann man aber davon ausgehen, dass sich in der Ge‑ 415
Siehe oben S. 190. Siehe dazu bereits oben S. 53 ff. 417 Vgl. Schneider, BB 2018, 1986, 1995. 418 Vgl. zu letzterem Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1814 f. 419 Siehe oben S. 58 ff. 416
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samtsumme des Vergleichs die maximale Leistungsbereitschaft der zur Leis‑ tung verpflichteten Partei widerspiegelt;420 das „Mehr“ eines Gruppenmitglieds geht dann notgedrungen zu Lasten eines anderen. Eine gewisse Pauschalierung im Rahmen des damage scheduling muss jedoch aus Gründen der Praktikabili‑ tät möglich sein.421 Die niederländische Rechtspraxis zeigt hier einen interes‑ santen Grenzfall auf: In der zweiten Fortis-Entscheidung hat der gerechtshof Amsterdam eine Vergleichsvereinbarung gebilligt, obwohl eine Untergruppe (sogenannte „Active Claimants“, die Mitglieder der VEB waren) eine zusätzli‑ che Zahlung erhalten sollte, die ihr aus Wertungsgesichtspunkten im Gegensatz zu anderen Untergruppen nicht zustand.422 Er hob aber hervor, dass es sich um eine Gleichbehandlungsproblematik handelte, da die VEB‑Mitglieder gegen‑ über anderen Geschädigten ohne hinreichende Rechtfertigung besser gestellt wurden. Im Zuge einer Gesamtabwägung erteilte er die Genehmigung den‑ noch.423 Es lässt sich nicht sagen, ob dabei eine Rolle spielte, dass der gerechts‑ hof zuvor in einem anderen Zusammenhang festgestellt hatte, dass die generel‑ le Leistungsbereitschaft der nach dem Vergleich zahlungsverpflichteten Partei, nicht eng auf die vereinbarte Summe begrenzt war.424 Jedenfalls zeigt die Ent‑ scheidung beispielhaft auf, welche Spielräume im Rahmen einer Gesamtabwä‑ gung bestehen. Bei der Musterfeststellungsklage wird man eventuell überlegen müssen, inwiefern ein Gericht bei der Genehmigung eines Vergleichs berücksichtigen muss, dass manche Verbraucher möglicherweise nur über schwache Ansprü‑ che verfügen oder diese sogar missbräuchlich angemeldet haben. Ebenso kann man sich fragen, ob ein Gericht darauf eingehen muss, dass in einem Verfahren nach dem KapMuG vor der Aussetzung der Ausgangsverfahren ausländischer Beigeladener nicht geklärt wurde, ob deren Klagen zulässig sind, insbesondere angesichts allfälliger Zuständigkeitsfragen.425 Mit Blick auf den Schutzzweck des Genehmigungserfordernisses wird es auch hier darauf ankommen, ob die übrigen Gruppenmitglieder einen Nachteil erleiden, wenn ein Vergleich inso‑ fern unzureichend differenziert. Es muss aber im Auge behalten werden, dass erhebliche Unsicherheiten bestehen können, ob ein Anspruch berechtigt oder ein deutsches Gericht zuständig ist. Ein Gericht sollte daher Untergruppen mit scheinbar schwächerer Legitimation nicht vorschnell als Trittbrettfahrer abqua‑ lifizieren. 420 421
Siehe oben S. 116 zu einer parallelen Problematik. Vgl. zur Musterfeststellungsklage Merkt/Zimmermann, VuR 2018, 363, 370. 422 Siehe dazu bereits oben S. 214 f. 423 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.57 f. 424 Vgl. gerechtshofAmsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.42. 425 Vgl. dazu Balke/Liebscher/Steinbrück, ZIP 2018, 1321, 1330 f.
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g) Ergebnis Letztendlich ist die Grundfrage in den untersuchten Rechtsordnungen nicht, ob der Inhalt des Vergleichs angesichts seiner tatsächlichen Hintergründe einem positiv festgesetzten Muster der Fairness entspricht; man muss sie vielmehr dahingehend formulieren, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass er die Grenze dessen überschreitet, was noch als akzeptabel gelten kann. Man könnte auch sagen: Die Gerichte fragen sich in der Praxis weniger, ob der Vergleich fair ist, als umgekehrt, ob er unfair ist. Es wird also lediglich ein Mindeststandard ge‑ währleistet und nicht eine hypothetische Ideallösung – oder wie es in einer ame‑ rikanischen Entscheidung heißt: [W]hether another team of negotiators might have accomplished a better settlement is a matter equally comprised of conjecture and irrelevance.426
Was diesen Mindeststandard ausmacht, wird in der Regel von einer einzelfall‑ bezogenen Wertungsentscheidung des Gerichts abhängen. Jenseits der richterli‑ chen Kontrollkompetenz bleibt den Parteien ein erheblicher Spielraum bei der Gestaltung ihres Vergleichs. Neben einer Abwägung mit den Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits sind dem Inhalt ebenfalls absolute Grenzen gesetzt, die aber gleichermaßen darauf beschränkt sind, klare Überschreitungen des Angemes‑ senheitsmaßstabs auszusondern. Ob die inhaltlichen Kriterien für sich genom‑ men hinreichend präzise Aufschluss über die Angemessenheit eines Vergleichs geben können, hängt stark von der Beurteilungsgrundlage ab, über die das für dessen Genehmigung zuständige Gericht verfügt, insbesondere mit Blick auf die hypothetischen Erfolgsaussichten im Falle einer streitigen Entscheidung. Daher könnten die Kriterien der zweiten und dritten Kategorie, die im Folgen‑ den untersucht werden, im Einzelfall wichtige Indizien bereitstellen, die die Kriterien der ersten Kategorie ergänzen.
2. Die Kriterien der zweiten Kategorie: Reaktionen auf den Vergleich a) Die Reaktion der Gruppenmitglieder als quantifizierbares Element Die Reaktion der Gruppenmitglieder kann für die Beurteilung eines Vergleichs im Ausgangspunkt auf zweierlei Weise Bedeutung erlangen: im Wege der Be‑ rücksichtigung der Inhalte von Einwendungen sowie als rein numerischer Wert – dabei im zweiten Fall entweder negativ als Anzahl der Einwendungen und der Austritte aus dem Vergleich oder positiv als Anzahl der Anmeldun‑ gen von Ansprüchen.427 Für die Frage nach der Bedeutung der Inhalte der Ein‑ wendungen sei dabei auf den nächsten Abschnitt dieser Untersuchung verwie‑ 426 In re 427 Vgl.
Corrugated Container Antitrust Litigation, 643 F. 2d 195, 212 (5th Cir. 1981). In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*16] (N. D. Cal. 2016).
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sen;428 sie stellen kein eigenständiges Kriterium zur Beurteilung des Vergleichs dar, sondern beziehen sich vielmehr auf die tatsächlichen oder rechtlichen Fra‑ gestellungen, mit denen andere Kriterien ausgefüllt werden. Im Folgenden soll daher lediglich erörtert werden, welche Bedeutung einerseits der Anzahl der Einwendungen und der Austritte aus dem Vergleich sowie andererseits der An‑ meldung von Ansprüchen zukommt.
aa) Die Anzahl der Einwendungen gegen einen Vergleich Die Anzahl der Einwendungen kann, abgesehen von der Musterfeststellungs‑ klage, die Einwendungen gegen einen Vergleich nicht vorsieht, in allen hier analysierten Verfahrensformen berücksichtigt werden. Einwendungen müssen jeweils innerhalb einer Frist vor der richterlichen Entscheidung über die Geneh‑ migung eines Vergleichs oder spätestens während einer Anhörung vorgebracht werden.429 Ein Gericht kennt also immer ihre Anzahl und ihren Inhalt, wenn es seine Entscheidung trifft.
(1) Daten zum Vorkommen von Einwendungen in der Rechtspraxis Einwendungen kommt in der Rechtspraxis zahlenmäßig nur eine begrenzte Be‑ deutung zu. Es steht jeweils im Belieben der einzelnen Gruppenmitglieder, ob sie sich äußern wollen oder nicht – und zumindest für die class action liegen em‑ pirische Studien vor, die belegen, dass sie sich weit überwiegend dagegen ent‑ scheiden.430 Den Daten von Eisenberg und Miller zufolge erheben im Durch‑ schnitt nur 1,1 % der class members Einwendungen. Deren Häufigkeit variiert dabei abhängig vom Gegenstand des Verfahrens: Vergleichsweise oft werden sie in Diskriminierungsfällen (civil rights) und in arbeitsrechtlichen Sachen er‑ hoben – wobei allerdings auch hier im Durchschnitt lediglich ungefähr 3–4 % der Betroffenen tätig werden. In kapitalmarkt- und kartellrechtlichen Verfahren sind sie noch deutlich seltener.431 Vergleiche, die Sachleistungen zur Verfügung stellen, werden häufiger angegriffen als solche, die der Gruppe Geldzahlungen gewähren.432 Nach der etwas anders ausgerichteten Studie von Willging, Hoo‑ per und Niemec treten objectors dennoch in einer Vielzahl von Verfahren auf. In ungefähr der Hälfte der von ihnen analysierten Fälle, in denen eine Anhörung stattfand, wurde auch mindestens eine schriftliche Einwendung erhoben.433 428
Siehe unten S. 302 ff. Siehe dazu im Einzelnen unten S. 311 f. Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1533 f. (2004); vgl. auch Willging/Hooper/ Niemec, Empirical Study of Class Actions in Four Federal District Courts, S. 57. 431 0,5 % bzw. 0,1 %, vgl. Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1532 f., 1549 f. (2004). 432 Miller/Singer, 60 Law and Contemp. Probs. 97, 120 (1997). 433 Willging/Hooper/Niemec, Empirical Study of Class Actions in Four Federal District Courts, S. 57 (die Anzahl der Fälle, in denen keine Einwendungen erhoben wurden, variierte je nach Gericht zwischen 42 und 64 %). 429 430
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In den Niederlanden ist die Anzahl an Einwendungen typischerweise ge‑ ring. So hatten im DES‑Verfahren nur zwölf Betroffene von ihrem Recht Ge‑ brauch gemacht eine verweerschrift einzureichen, allerdings ohne Erfolg.434 Nur im Dexia-Verfahren wurden zahlreiche Einwendungen erhoben, vielfach von stichtingen, die weitere natürliche Personen repräsentierten.435 In Deutsch‑ land gibt es bislang offenbar noch keine Fälle, in denen Beigeladene ihr Recht gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG genutzt haben, zu einem Vergleichsvorschlag Stellung zu nehmen.
(2) Die Aussagekraft als Indiz Trotz der generellen Seltenheit von Einwendungen wertet es die amerikanische Rechtsprechung vielfach als ein Indiz für die Fairness eines Vergleichs, wenn gegen diesen keine oder nur eine geringe Anzahl von Einwendungen erhoben werden;436 typischerweise wird diese Argumentation durch einen Hinweis auf die geringe Zahl der Austritte aus dem Vergleich ergänzt.437 Das Schweigen der Gruppe lasse auf ihre stillschweigende Zustimmung schließen.438 In man‑ chen Entscheidungen und vor allem in der Literatur zur class action wird diese Überlegung hingegen angezweifelt. Ein Mangel an ausdrücklichem Widerstand 434 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 1. 06. 2006, ECLI:NL:GHAMS:2006:AX6440 (DES); Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 349. In anderen Verfahren wurde ebenfalls wenige oder sogar gar keine Einwendungen erhoben, wie jeweils aus dem Rubrum ersichtlich ist, vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 04. 2009, ECLI:NL: GHAMS:2009:BI2717 (Vie d’Or): keine; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 29. 05. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BI5744 (Shell): durch eine juristische und zwei natürliche Personen; gerechtshofAmsterdam, beschikking v. 15. 07. 2009, ECLI:NL:GHAMS:2009:BJ2691 (Vedior): keine; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 17. 01. 2012, ECLI:NL:GHAMS:2012:BV1026 (Converium): durch zehn juristische Personen; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank): durch vier natürliche Personen; ge‑ rechtshof Amsterdam, beschikking v. 4. 11. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:4560 (DSB‑Bank): durch vier natürliche Personen; gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL: GHAMS:2017:2257 (Fortis): durch vier natürliche Personen und zwei Gruppen von natürli‑ chen Personen. 435 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 25. 01. 2007, ECLI:NL:GHAMS:2007:AZ7033 (Dexia). 436 Siehe dazu oben S. 182. Vgl. auch Leslie, 59 Fla. L. Rev. 71, 85 f. (2007) („Almost all federal courts consider the reaction of the class to the settlement as one of the factors deter‑ mining the fairness of a proposed class action settlement.“). 437 Vgl. etwa Dick v. Sprint Communications Co. L. P., 297 F.R.D. 283, 297 (W. D. Ky. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 356 (E. D. Pa. 2014); In re Toys R Us-Delaware, Inc. – Fair and Accurate Credit Transactions Act (FACTA) Litigation, 295 F.R.D. 438, 456 (C. D. Cal. 2014); Sakiko Fujiwara v. Sushi Yasu‑ da Ltd., 58 F. Supp. 3d 424, 432 f. (S.D.N.Y. 2014); Wright v. Stern, 553 F. Supp. 2d 337, 345 (S.D.N.Y. 2008) („The fact that the vast majority of class members neither objected nor opted out is a strong indication that the proposed settlement is fair, reasonable, and adequate.“). Siehe auch unten S. 249. 438 Bell Atlantic Corp. v. Bolger, 2 F. 3d 1304, 1313, Fn. 15 (3d Cir. 1993).
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gegen einen Vergleich sei nicht gleichbedeutend mit dessen breiter Unterstüt‑ zung.439 Dass nur wenige Einwendungen vorliegen, könne zwar im Einzelfall bedeuten, dass ein Vergleich fair sei. Es könne aber genauso gut ein Zeichen für die Trägheit der Betroffenen oder das Geschick des class counsel sein, mit vielen von ihnen einen Verzicht auf Einwendungen vereinbart zu haben.440 Den meisten Gruppenmitgliedern fehlten schon die Ressourcen, effektiv Ein‑ wendungen zu erheben – dasselbe gelte im Übrigen auch für die Möglichkeit, nach einem Austritt aus dem Vergleich individuell gegen den Schädiger vor‑ zugehen.441 Auch könne eine mangelhafte Benachrichtigung der Gruppenmit‑ glieder der Grund für ihre Inaktivität sein.442 Zudem müsse der Gedanke eines rationalen Desinteresses berücksichtigt werden. In Fällen, die für das einzelne Gruppenmitglied jeweils geringfügige Streuschäden betreffen, sei die Aussage‑ kraft der Anzahl der Einwendungen daher gering; je größer aber die individuel‑ len Schäden seien, desto mehr steige sie.443 Die Rechtsprechung greife indes‑ sen nur bei größeren Gruppen von objectors auf die letztgenannte Überlegung zurück.444 Die Bedeutung der Zahl der Einwendungen sei auch dann höher als üblich, wenn diese sich einheitlich auf einen bestimmten Problempunkt bezö‑ gen.445 Umgekehrt lasse jedoch eine große Anzahl an objections nicht immer auf die mangelnde Fairness eines Vergleichs schließen. Anstatt die Meinung der Gruppenmitglieder widerzuspiegeln, könne sie auch das Ergebnis einer von An‑ wälten organisierten Kampagne sein.446 Damit wird offenbar auf das Problem der sogenannten professional objectors angespielt, also von Anwälten, die die Genehmigung eines Vergleichs zu blockieren versuchen, um hieraus einen fi‑ nanziellen Gewinn zu ziehen.447 Zudem komme es letztlich auf den Inhalt der objections an; überzeuge dieser nicht, sei auch ihre hohe Zahl nicht von Bedeu‑ tung.448 Neben der bloßen Anzahl kann man im Übrigen noch berücksichtigen, wie lautstark, also mit wie viel Nachdruck, Einwendungen vorgebracht wer‑ den.449 Allerdings geht man hiermit schon in den Bereich der inhaltlichen Wür‑ 439
Allen v. Dairy Farmers of America, Inc., WL 1517400 [*8] (D. Vt. 2015); In re Corru‑ gated Container Antitrust Litig., 643 F. 2d 195, 217 f. (5th Cir. 1981) („a low level of vocife‑ rous objection is not necessarily synonymous with jubilant support“); In re Gen. Motors Corp. Engine Interchange Litig., 594 F. 2d 1106, 1137 (7th Cir. 1979). 440 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61. 441 In re Corrugated Container Antitrust Litig., 643 F. 2d 195, 217 f. (5th Cir. 1981). 442 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:54. 443 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.62. 444 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:54. 445 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:54. 446 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a. 447 Siehe dazu im Einzelnen noch unten S. 322 ff. 448 Bennett v. Behring Corp., 737 F. 2d 982, 988 (11th Cir. 1984). 449 Vgl. Figueroa v. Sharper Image Corp., 517 F. Supp. 2d 1292, 1328 (S. D. Fla. 2007); zumindest andeutungsweise auch In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Pro‑ ducts Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 812 (3d Cir. 1995).
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digung von Einwendungen über. Demzufolge kann der Zahl der Einwendungen zwar grundsätzlich eine Indizfunktion zukommen; sie hängt aber von zahlrei‑ chen Faktoren ab, die im Einzelfall berücksichtigt werden müssen. In den Niederlanden wird die bloße Zahl der Einwendungen offenbar nicht als Indiz für oder gegen die Genehmigungsfähigkeit einer Übereinkunft gewer‑ tet; die Inhalte von verweerschriften werden hingegen umfassend berücksich‑ tigt. In Rahmen des KapMuG ist das rationale Desinteresse der Beigeladenen zwar potentiell geringer, da diese sich zwangsläufig ursprünglich selbst für eine Klage in der Sache entschieden haben. Bei der bloßen Anzahl der Einwendun‑ gen handelt es sich jedoch auch hier um ein Indiz, das nicht auf eine schema‑ tische Weise berücksichtigt werden darf. Um seine Aussagekraft angemessen würdigen zu können, muss sich das Gericht vielmehr der maßgeblichen Hin‑ tergründe bewusst sein. Das Grundproblem einer rein zahlenmäßigen Betrach‑ tung ist, dass der bloße Umstand, dass eine bestimmte Anzahl an Einwendun‑ gen vorliegt, keinen Schluss auf deren Berechtigung erlaubt. Auch wenn sich möglicherweise gut informierte und am Ausgang des Verfahrens interessierte Beigeladene gegen den Vergleich wenden, kann das genauso gut ein Zeichen für dessen Defizite sein wie für ihre überzogenen Erwartungen. Auch die Mani‑ pulation der Beigeladenen durch interessierte Dritte ist denkbar, wobei das Phä‑ nomen der professional objectors aufgrund der Ausgestaltung der Anwaltsver‑ gütung in Deutschland aber ein zu vernachlässigendes Risiko darstellen sollte; die Anwälte der Beigeladenen profitieren typischerweise nicht von einer höhe‑ ren Auszahlung an ihre Mandanten.450 Eine Einflussnahme durch nicht unbe‑ dingt finanziell, sondern ideell interessierte Akteure ist demgegenüber zumin‑ dest nicht ausgeschlossen, wenngleich unwahrscheinlich.
bb) Die Anzahl der Austritte aus dem Vergleich In Bezug auf die Möglichkeit, die Anzahl der Austritte aus dem Vergleich zu berücksichtigen, wählen die hier in den Blick genommenen Rechtsordnungen Lösungen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden. Das maßgebliche Differenzierungskriterium ist dabei der Zeitpunkt im Laufe des Verfahrens, zu dem ein Austritt aus dem Vergleich erklärt werden muss.
(1) Die class action: Alternativverhältnis von Einwendungen und Austritt Das eine Extrem bildet die amerikanische class action gemäß Rule 23 FRCP. Ein Gruppenmitglied kann hier im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung nur alternativ Einwendungen geltend machen oder aus dem Vergleich austreten; beide Rechte können nur während des Laufs einer Frist ausgeübt werden, die das Gericht im Zusammenhang mit der Benachrichtigung der class über den 450
Siehe dazu oben S. 134.
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Vergleich setzt. Im Rahmen des preliminary approval können daher beide Ge‑ sichtspunkte grundsätzlich noch nicht berücksichtigt werden. Beim final appro‑ val stellt die Zahl der Austritte kombiniert mit derjenigen der Einwendungen dagegen ein weit verbreitetes Kriterium dar, anhand dessen die Rechtsprechung die Fairness eines Vergleichs beurteilt.451 Die Probleme, die in diesem Zusam‑ menhang entstehen können, sind vergleichbar, obschon sich die Motivation für einen Austritt häufig nicht ermitteln lässt, da dieser nicht begründet werden muss. Das Kriterium sollte daher ebenfalls nicht schematisch, sondern mit Be‑ dacht angewendet werden.
(2) Das WCAM: Austritt erst nach Genehmigung des Vergleichs Den Gegenpol zu diesem Ansatz bietet das WCAM. Hier kann bei der Bewer‑ tung der Übereinkunft die Zahl der Austritte nicht berücksichtigt werden, da diese Möglichkeit erst eröffnet ist, nachdem die Übereinkunft für verbindlich erklärt wurde (vgl. Art. 1017 Abs. 3 S. 3 Rv).
(3) Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage: Austritt erst nach der Genehmigung, feste Schwelle abhängig von der Zahl der Austritte Das KapMuG verwirklicht schließlich eine eigentümliche Lösung, die auch die Musterfeststellungsklage übernommen hat. Sie lässt – wie das WCAM – einen Austritt aus einem Vergleich gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG beziehungs‑ weise § 611 Abs. 4 S. 2 ZPO erst nach dessen Genehmigung zu, führt dann aber gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG beziehungsweise § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO einen zusätzlichen Verfahrensschritt ein, der dazu dient, anhand einer pauscha‑ len Schwelle der maximalen Anzahl an Austritten die Wirksamkeit des Ver‑ gleichs festzustellen. Wird sie überschritten, ist der Vergleich unwirksam – also anders als bei der class action, ohne dass es einer Wertungsentscheidung des Gerichts bedarf. Nach der Gesetzessystematik stellt diese Schwelle kein Indiz für die Angemessenheit eines Vergleichs dar, sondern ein eigenständiges Er‑ fordernis. Das maßgebliche Quorum nach § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG ist erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingefügt worden. Die Idee, einen Ver‑ gleich von der Zustimmung einer bestimmten Zahl der Beigeladenen abhängig zu machen, war zwar schon lange diskutiert worden, bevor der Gesetzgeber begonnen hatte, die Reform des KapMuG voranzutreiben.452 Der Regierungs‑ entwurf hatte jedoch „aus Praktikabilitätsgründen“ noch ausdrücklich auf eine solche Regelung verzichtet.453 Erst der Rechtsausschuss des Bundestags fügte 451
Siehe oben S. 182. Jahn, ZIP 2008, 1314, 1317 (Anlehnung an die für den Insolvenzplan geltende Regelung der §§ 235 ff. InsO); ähnlich Keller/Kolling, BKR 2005, 399, 403; Stackmann, NJW 2010, 3185, 3190 (Mehrheitsbeschluss). 453 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 9, 24. 452 Vgl.
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auf Anregung des Bundesrats454 und gegen den Protest der Bundesregierung455 den entsprechenden Passus ein.456 Zur Begründung führt er aus, die Regelung trage dazu bei, „die vollständige Beendigung des Musterverfahrens auch mit Wirkung für die nicht vergleichsbereiten Beigeladenen zu rechtfertigen“.457 Damit widmet er seine Aufmerksamkeit solchen Beigeladenen, die den Ver‑ gleichsvorschlag nicht akzeptieren wollen, jedoch ein Interesse daran haben, die komplexen Fragestellungen des Musterverfahrens nicht in einem Indivi‑ dualrechtsstreit klären zu müssen.458 Ihr Schutz reicht aber nur bis zu der ge‑ setzlich festgelegten Schwelle: Sobald das Gericht festgestellt hat, dass mindes‑ tens 70 % der Beigeladenen nicht von ihrem Austrittsrecht Gebrauch machen, treten die Interessen derjenigen, die den Vergleich abgelehnt haben, völlig in den Hintergrund, denn gemäß § 23 Abs. 2 KapMuG endet dann das Muster‑ verfahren insgesamt. Dies soll wohl einen Anreiz bieten, sich mit dem Ver‑ gleichsvorschlag zufriedenzugeben, sobald dieser genehmigt worden ist.459 Der Rechtsausschuss hat mit seiner Ergänzung die Kritik aufgenommen, die zuvor mit Blick auf die vorangehenden Fassungen des Reformentwurfs laut geworden war.460 Stumpf und Müller übertreiben allerdings, wenn sie behaupten, ohne ein Quorum hätte das „groteske Ergebnis“ gedroht, dass ein Musterverfahren selbst dann endgültig eingestellt werden müsse, wenn „im Extremfall 99 % der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht am Vergleich teilnehmen“.461 Eine der‑ art hohe Ablehnungsquote setzt realistischerweise einen vollkommen inakzep‑ tablen Vergleichsvorschlag voraus, der wohl kaum die Billigung des Gerichts finden wird – zumal die Beigeladenen dessen Entscheidung beeinflussen kön‑ nen, indem sie im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung ihre Einwände vor‑ tragen. Wenn man sich am Beispiel der USA und der Niederlande orientiert, wird schon die Austrittsquote von 30 %, ab der das Quorum des § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG verfehlt wird, realistischerweise kaum jemals erreicht werden. Denk‑ bar ist dies allenfalls, wenn ein Anwalt eine Vielzahl von Beigeladenen vertritt; 454
Vgl. Stellungnahme gem. Art. 76 II 2 GG, BR‑Drucks. 851/11(B), S. 9 f. Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats, BT‑Drucks. 17/8799, S. 39. 456 Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 17/10160, S. 13. 457 Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 17/10160, S. 26. Vgl. dazu auch Stadler, [2013] EBLR 731, 745 f. 458 Sie können bspw. vermeiden wollen, eine kostenintensive Beweisaufnahme im Aus‑ gangsverfahren wiederholen zu müssen, vgl. Wolf, Stellungnahme IPA, S. 19. Neben der Kos‑ tenersparnis durch die Aufteilung des finanziellen Risikos des Prozesses auf mehrere Schultern ist auch das Interesse zu nennen, sich durch das Musterverfahren vom zeitlichen und organisa‑ torischen Aufwand der Prozessführung zu entlasten. 459 So Weigel u. a., Stellungnahme BRAK, S. 7. 460 Vgl. Weigel u. a., Stellungnahme BRAK, S. 7; anders Wolf, Stellungnahme IPA, S. 19 (der ausdrücklich kein Quorum fordert, sondern nur vorschlägt, eine Fortführung des Muster‑ verfahrens mit den verbleibenden Beteiligten zuzulassen). 461 Stumpf/Müller, GWR 2011, 464, 466. 455
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in diesem Fall erscheint es aber nicht plausibel, dass jemand, der ein solches Druckmittel besitzt, nicht von vornherein in die Vergleichsverhandlungen ein‑ bezogen würde. Zudem hätte er meist Veranlassung, zunächst Einwendungen zu erheben, um so zu erreichen, dass die Musterparteien den Vergleich noch einmal in seinem Sinne überarbeiten. Ob das Quorum überhaupt praktische Re‑ levanz gewinnen wird, ist daher zumindest fragwürdig. Weitere Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren bescheinigen dem Quorum, die „materielle Richtig‑ keitsgewähr“ sicherzustellen.462 Andererseits heißt es aber auch, die Regelung solle „einen Kuhhandel des Musterklägers mit der Beklagten zulasten der Bei‑ geladenen“ verhindern.463 In der vorangegangenen öffentlichen Diskussion wurde häufig auch im In‑ teresse der Beklagten ein Quorum gefordert. So hatte der Bundesrat in seiner Stellungnahme ausgeführt, es gelte „eine Massenflucht der Beigeladenen“ aus dem Vergleich zu vermeiden.464 Stimmen aus der Literatur bemängelten am Re‑ gierungsentwurf, dass es nicht vorhersehbar sei, für wie viele Beigeladene der Vergleich schließlich gelte. Dies gefährde die Interessen der Beklagten, denen vor allem daran gelegen sei, die gegen sie gerichteten Verfahren einer wirt‑ schaftlich tragbaren Lösung zuzuführen und auf diese Weise auch eventuelle Rufschädigungen zu vermeiden.465 Vor diesem Hintergrund setzt auch die Kri‑ tik an der Regelung des § 17 Abs. 1 S. 4 KapMuG zunächst an dem Umstand an, dass sich das Quorum auf die reine Kopfzahl der Austritte bezieht und den wirtschaftlichen Wert der betroffenen Ansprüche unberücksichtigt lässt. Dies führe dazu, dass der Musterbeklagte das maximale Haftungsrisiko jenseits des Vergleichs nicht zuverlässig kalkulieren könne, was den Vergleichsanreiz für ihn verringere.466 Wenn der Gesetzgeber seine Entscheidung damit begründet, dass das KapMuG „Klagen und nicht Ansprüche bündelt“,467 ist dies übertrie‑ ben formalistisch. Zudem wird dem Musterbeklagten weder an einem Vergleich gelegen sein, der – etwa weil die maßgeblichen institutionellen Investoren aus ihm ausgetreten sind – eine leere Hülle darstellt, noch umgekehrt daran, dass einem Vergleich die Wirksamkeit versagt bleibt, da lediglich eine Vielzahl an wirtschaftlich unbedeutenden Kleinanlegern aus ihm herausoptiert haben. Im 462 Zu Protokoll gegebene Rede von Luczak (CDU/CSU) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des KapMuG am 28. 06. 2012, BT‑Plenarprotokoll 17/187, S. 22602. Ähnlich die Rede von Ahrendt (FDP), a. a. O. S. 22605, 22606. 463 Zu Protokoll gegebene Rede von Egloff (SPD) zur Beratung des Entwurfs eines Ge‑ setzes zur Reform des KapMuG am 28. 06. 2012, BT‑Plenarprotokoll 17/187, S. 22604, 22605. 464 Stellungnahme gem. Art. 76 II 2 GG, BR‑Drucks. 851/11(B), S. 9. Ähnlich die zu Pro‑ tokoll gegebene Rede von Montag (Bündnis 90/Die Grünen) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des KapMuG am 28. 06. 2012, BT‑Plenarprotokoll 17/187, S. 22607. 465 Stumpf/Müller, GWR 2011, 464, 466. 466 Wardenbach, GWR 2013, 35, 38; vgl. auch Steinberger, Die Gruppenklage im Kapital‑ marktrecht, S. 119. 467 Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 17/10160, S. 26.
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letzten Fall muss man allerdings berücksichtigen, dass das Quorum ausweis‑ lich der Gesetzgebungsmaterialien gerade auch dem Schutz solcher Beige‑ ladenen dient.468 Der Gesichtspunkt der Verfahrenseffizienz kann es ebenfalls nachvollziehbar machen, einen – in der Praxis wohl rein hypothetischen – Mas‑ senaustritt von Kleinanlegern bei der Genehmigung des Vergleichs zu berück‑ sichtigen, denn ansonsten müssten deren Ausgangsverfahren entgegen der Ziel‑ setzung des KapMuG auch mit Blick auf die Feststellungsziele individuell verhandelt werden. Der wesentliche Kritikpunkt an der Quorumslösung des KapMuG und der Musterfeststellungsklage ist jedoch ihre mangelnde Flexibilität. Wie bereits mit Blick auf die class action unter Verweis auf die parallele Problematik bei der Berücksichtigung der Anzahl der Einwendungen aufgezeigt wurde,469 verbie‑ tet sich eine schematische Betrachtung. Eine geringe Austrittsquote muss nicht zwingend für einen Vergleich sprechen, zumal wenn es sich bei den Ausgetre‑ tenen um Beigeladene mit überdurchschnittlich großen individuellen Schäden handelt. Es wäre hier sinnvoller gewesen, es den Musterparteien selbst zu über‑ lassen, unter welchen Umständen ihr Vergleich wirksam werden soll.470 Da eine solche Regelung Teil des Vergleichs wäre, unterläge sie der richterlichen Aufsicht. Auf diesem Wege ließe sich gewährleisten, dass sie unter Berück‑ sichtigung der konkreten Zusammensetzung der Gruppe so formuliert ist, dass sie im Einzelfall nicht diejenigen Beigeladen über Gebühr benachteiligt, die schließlich aus dem Vergleich austreten.
cc) Die Anzahl der auf Grundlage eines Vergleichs angemeldeten Ansprüche und sonstige Reaktionen Die Frage, in welchem Umfang aus der Mitte der Gruppe zum Zeitpunkt der richterlichen Überprüfung des Vergleichs bereits Ansprüche angemeldet wur‑ den, erlaubt grundsätzlich eine Einschätzung, ob der Vergleich auf die Zustim‑ mung der Gruppenmitglieder stößt. Die Aussagekraft dieser Zahl wird indessen dadurch gemindert, dass die Möglichkeit, Ansprüche anzumelden, regelmäßig auch nach der Genehmigung des Vergleichs weiterbesteht. Dass die Inanspruch‑ nahme von Leistungen aus dem Vergleich zunächst schleppend anläuft, kann demnach auch bedeuten, dass die Gruppenmitglieder zunächst abwarten, ob der Vergleich die Billigung des Gerichts findet. Eine geringe Quote der Inanspruch‑ nahme der Leistungen spricht daher nach der Rechtsprechung zur class action 468 469
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT‑Drucks. 17/10160, S. 26. Siehe oben S. 248. 470 Stadler, [2013] EBLR 731, 745; zu sog. „blow up provisions“ in den USA vgl. Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:6. Auch in Verfahren nach dem niederländischen WCAM kann ein Quorum vereinbart werden, von dessen Erfüllung die Wirksamkeit des Vergleichs ab‑ hängt, vgl. gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 4.10 (Kündigungsrecht für die zahlungsverpflichtete Partei, wenn die Austritte mehr als 5 % der Vergleichssumme betreffen).
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nicht gegen einen Vergleich, sondern ist neutral zu gewichten.471 Wenn es da‑ gegen in der amerikanischen Literatur heißt, dass es den Wert eines Vergleichs und damit dessen Genehmigungsaussichten reduziere, wenn er tatsächlich nicht in Anspruch genommen werde,472 ist unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Insbesondere im Zusammenhang mit coupon settlements finden sich solche Aussagen.473 Möglicherweise kann man sie dahingehend verstehen, dass sie sich auf eine Prognose beziehen, in welchem Maße der Vergleich voraussicht‑ lich in Anspruch genommen werden wird oder aber – was damit zusammen‑ hängt – auf die Bedingungen, unter denen Leistungen aus ihm verlangt werden können. Für einen Vergleich kann in den USA demgegenüber sprechen, dass eine große Zahl von Betroffenen umgehend ihre zukünftigen Ansprüche anmel‑ det.474 Eine positive Reaktion der überwältigenden Mehrheit der Gruppenmit‑ glieder wird in manchen Entscheiden sogar als wichtigster Faktor bei der Be‑ wertung des Vergleichs bezeichnet.475 Zudem kann es positiv bewertet werden, wenn die Repräsentationskläger dem Gericht ausdrücklich ihre Unterstützung für einen Vergleich mitteilen.476 Sichert ihnen der Vergleich Bonuszahlungen zu, die andere Gruppenmitglieder nicht erhalten, kann dies indes die Aussage‑ kraft ihrer Unterstützung relativieren.477
dd) Zusammenfassung Die bloße Anzahl der Einwendungen und Austritte erlaubt nur in sehr be‑ schränktem Maße, auf die inhaltliche Angemessenheit eines Vergleichs zu schließen. Bei der Genehmigungsentscheidung geht es letztlich um die Inhalte eines Vergleichs; ein rein quantitativer Maßstab kann aber keinen Bezug hierzu herstellen, da der bloße Umstand, dass ein Gruppenmitglied eine Einwendung erhoben oder seinen Austritt erklärt hat, nichts über seine Gründe hierfür aus‑ sagt. Gleichwohl sind hohe Zahlen von Einwendungen und Austritten ein Warn‑ signal für das Gericht, das es dazu motivieren sollte, den Vergleich und sein 471 Vgl. Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 472 Hensler, Class Action Dilemmas, S. 487. 473 474
34, 49 (D. Me. 2005).
Vgl. etwa Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 179 (2009). In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*16] (N. D. Cal. 2016); vgl. auch die Folgeinstanz In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 895 F. 3d 597, 612 et passim (9th Cir. 2018) (hohe Rückmeldequote als Argument zur Rechtfertigung einer reversion provision). 475 Wal-Mart Stores, Inc. v. VISA U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 119 (2d Cir. 2005); Guip‑ pone v. BH S&B Holdings LLC, 2016 WL 5811888 [*6] (S.D.N.Y. 2016); Pennsylvania Pu‑ blic School Employees’ Retirement System v. Bank of America Corporation, 318 F.R.D. 19, 24 (S.D.N.Y. 2016). Vgl. auch Peoples v. Annucci, 180 F. Supp. 3d 294, 308 (S.D.N.Y. 2016). 476 Vgl. In re Teletronics Pacing Systems, Inc., 137 F. Supp. 2d 985, 1018 (S. D.Ohio 2001) („The Court has received numerous letters from Plaintiffs’ Counsel representing class repre‑ sentatives reflecting their clients’ support of the proposed Settlement of this class action.“). 477 Erichson, 92 Notre Dame L. Rev. 859, 898 (2016).
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Zustandekommen intensiver zu überprüfen. Die deutsche Regelung eines Zu‑ stimmungsquorums beruht zwar formal nicht auf dem Gedanken, dass die Aus‑ trittszahlen als Indiz für die Angemessenheit des Vergleichs fungieren. Prak‑ tisch wirkt sie aber genauso, wobei ihr schematischer Maßstab es dem Gericht gerade nicht erlaubt, sie zum Anlass für eine vertiefte Prüfung des Vergleichs zu nehmen. Das stellt ihren praktischen Nutzen für die Beurteilung der Fairness eines Vergleichs in Frage, wobei man freilich zugestehen muss, dass sie nicht im Hinblick auf diesen Zweck konzipiert wurde.
b) Die Berücksichtigung der Einschätzung des Vergleichs durch Dritte, insbesondere durch die Anwälte der Gruppe Manche amerikanischen Kriterienkataloge messen auch der Einschätzung der Anwälte der Gruppe eine Bedeutung im Rahmen der Beurteilung der Fairness eines Vergleichs zu.478 Diese Überlegung mutet zunächst seltsam an, da vor‑ hersehbar scheint, wie sich die Anwälte über einen Vergleich äußern werden, den sie gerade eben selbst ausgehandelt haben. Die Principles of Aggregate Litigation des American Law Institute fordern daher eine differenziertere Be‑ trachtungsweise und rücken die Frage in den Vordergrund, ob der class coun‑ sel über Anreize verfügt, einen für die Gruppenmitglieder nachteiligen Ver‑ gleich zu loben. Wenn die Indizien dagegen für einen Interessengleichlauf mit der Gruppe sprechen, solle auch seine Stellungnahme berücksichtigt werden.479 Macey und Miller verstehen den Faktor dagegen so, dass es bei ihm darum gehe, dass der class counsel seine Einschätzung des Werts des Vergleichs bei‑ steuere.480 Damit fiele er eher in den Bereich der Fragestellung nach den Er‑ kenntnisquellen des Gerichts.481 Hiervon abgesehen verdeutlicht die Existenz dieses Faktors, dass bei einer Verfahrensbeendigung durch einen Vergleich trotz der richterlichen Prüfung notwendigerweise ein gewisses Mindestvertrauen in die Akteure gegeben sein muss, da die Prüfungsintensität unweigerlich gerin‑ ger ist als bei einer streitigen Entscheidung. Das illustriert auch wieder einmal, wie die richterliche Genehmigungsentscheidung andere Kontrollmechanismen voraussetzt, etwa im Hinblick auf die Auswahl des class counsel.482 In den Nie‑ derlanden und Deutschland wird die Einschätzung der beteiligten Prozessver‑ treter nicht gesondert aufgeführt, was angesichts deren deutlich weniger ver‑ selbständigter Stellung konsequent ist. Der gerechtshof Amsterdam hat in der zweiten Fortis-Entscheidung jedoch hervorgehoben, dass mit dem VEB eine 478 Vgl. Reed v. General Motors, 703 F. 2d 170, 172 (5th Cir. 1983); UAW v. General Mo‑ tors, 497 F. 3d 615, 631 (6th Cir. 2007); E. E. O. C. v. Hiram Walker & Sons, Inc., 768 F. 2d 884, 889 (7th Cir. 1985); Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1026 (9th Cir. 1998). 479 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a. 480 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 185 (2009). 481 Siehe dazu noch unten S. 267 ff. 482 Siehe dazu bereits oben S. 102 ff.
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Interessenorganisation den geänderten Vergleich ausdrücklich unterstütze, die fast ausschließlich im Interesse von Mitgliedern einer Untergruppe tätig sei, die von der ursprünglichen Fassung des Vergleichs unangemessen benachtei‑ ligt wurden.483 Freilich gilt hier ebenso, dass neben der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs auch die Eignung des jeweiligen Repräsentanten gewährleistet werden muss.
3. Die Kriterien der dritten Kategorie: verfahrensbezogene Aspekte a) Der Stand des Verfahrens und die Kenntnisse der Beteiligten beim Vergleichsschluss aa) Allgemeine Bedeutung des Stands des Verfahrens Nach den Principles of Aggregate Litigation des American Law Institute soll die Frage, ob der Vergleich zu einem frühen oder späten Zeitpunkt im Verfahren zustande gekommen ist, für sich genommen nicht von Belang sein. Insbesonde‑ re spreche es nicht pauschal gegen die Fairness der Vergleichsverhandlungen, wenn die Parteien schon vor der certification der class zu einer Übereinkunft gefunden hätten.484 Zwar betonen viele Gerichte, dass bei solchen settlement class actions ihre besondere Wachsamkeit gefordert sei.485 Das bedeutet jedoch nur, dass sie in derartigen Fällen erhöhte Risiken sehen; gesteigerte inhaltliche Anforderungen an einen Vergleich statuieren sie damit nicht. Verallgemeinern‑ de Aussagen, etwa dahingehend, dass mit dem Fortschreiten des Verfahrens strengere Maßstäbe an einen Vergleich angelegt werden müssten, verbieten sich ebenfalls. Dass sich der Fokus eines Rechtsstreits mit der Zeit verengt, ist zwar typisch, aber keineswegs zwingend: Unabhängig davon, ob bereits jahre‑ lang prozessiert wurde oder die Parteien sehr früh einen Vergleich ausgehandelt haben, kann dieser gleichermaßen eine sehr spezifische Detailfrage in einem an‑ sonsten unstrittigen Fall betreffen wie eine ausufernde und in tatsächlicher Hin‑ sicht kaum geklärte Vielzahl an Problemen – und sämtliche Gestaltungen, die zwischen diesen Extremen liegen. Hinzu kommt, dass die Komplexität eines Falls ebenso auf seinen rechtlichen wie auf seinen tatsächlichen Elementen be‑ ruhen kann. Das gilt im niederländischen und deutschen Recht trotz der grund‑ legend unterschiedlichen Ausgestaltung des Zivilprozesses genauso wie im amerikanischen Recht. Der Zeitpunkt eines Vergleichs hat für sich genommen keine Aussagekraft im Hinblick auf dessen Angemessenheit. 483 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 07. 2018, ECLI:NL:GHAMS:2018:2422 (Fortis II ), Rn. 5.34. 484 ALI, Principles of Aggregate Litigation § 3.05, Comment a; ähnlich Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14. 485 Vgl. etwa D’Amato v. Deutsche Bank, 236 F. 3d 78, 85 (2d Cir. 2001); In re Blue‑ tooth Headset Products Liability, 654 F. 3d 935, 946 (9th Cir. 2011); ähnlich Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 192 (2009) („yellow flag“ bei frühzeitigen Vergleichen).
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bb) Stand und Umfang der discovery bei der class action Diese Überlegungen spiegeln sich auch in der amerikanischen Rechtsprechung wider. Das dritte Kriterium des Grinnell- oder Girsh-Katalogs („the stage of the proceedings and the amount of discovery completed“) und der ähnlich formu‑ lierte fünfte Hanlon-Faktor werden in der Regel dahingehend ausgelegt, dass es bei der Genehmigungsentscheidung darauf ankommt, in welchem Maße die am Vergleichsschluss beteiligten Parteien mit dem Fall vertraut waren: The third Girsh factor captures the degree of case development that class counsel had ac‑ complished prior to settlement, and allows the court to determine whether counsel had an adequate appreciation of the merits of the case before negotiating.486
Es wird dabei nur der Umstand thematisiert, dass die discovery in hinreichen‑ dem Umfang stattgefunden hat. Ihre Inhalte werden vom Gericht im Zusam‑ menhang mit diesem Prüfungspunkt nicht diskutiert oder ausgewertet. Die Richter wollen sich offenbar nur im Klaren darüber sein, dass die Parteien über eine hinreichende Kenntnis der Sachlage verfügt haben: [T]he question is whether the parties had adequate information about their claims such that their counsel can intelligently evaluate the merits of plaintiff’s claims, the strengths and defenses asserted by the defendants, and the value of plaintiffs’ causes of action for purposes of settlement.487
Die Gerichte werten es demnach als ein Indiz zugunsten eines Vergleichs, wenn die Parteien die discovery dazu genutzt haben, ihre Vergleichsverhand‑ lungen auf eine angemessene Tatsachengrundlage zu stellen. Dabei muss nicht zwingend eine discovery im formalen Sinne stattgefunden haben. Es genügt vielmehr, wenn die Parteien auf informellem Wege die nötigen Informationen ausgetauscht oder ermittelt haben.488 Eine formale discovery ist jedoch unter Umständen auch schon vor der certification einer class möglich.489 Der Fak‑ tor enthält somit einen indirekten Ansatzpunkt für die Beurteilung des Ver‑ gleichs. Er basiert auf der Überlegung, dass die Qualität des Vergleichs steige, wenn die maßgeblichen Akteure in hohem Maße mit dem Fall vertraut sind – 486 Sullivan v. DB Investments, Inc., 667 F. 3d 273, 321 (3d Cir. 2011); vgl. auch In re War‑ farin Sodium Antitrust Litigation, 391 F. 3d 516, 537 (3d Cir. 2004). 487 Raniere v. Citigroup Inc., 310 F.R.D. 211, 218 (S.D.N.Y. 2015); vgl. auch In re Ad‑ vanced Battery Technologies, Inc. Securities Litigation, 298 F.R.D. 171, 177 (S.D.N.Y. 2014); Sinus Buster Products Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*9] (E. D. N. Y. 2014); In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*14] (N. D. Cal. 2016). 488 In re Mego Financial Corp. Securities Litigation, 213 F. 3d 454, 459 (9th Cir. 2000); In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*13] (N. D. Cal. 2016); vgl. auch Decohen v. Abbasi, LLC, 299 F.R.D. 469. 480 (D. Md. 2014); In re Austrian and German Bank Holocaust Litigation, 80 F. Supp. 2d 164, 176 (S.D.N.Y. 2000); In re Crocs, Inc. Securities Litigation, 306 F.R.D. 672, 690 (D. Colo. 2014); In re Fasteners Antitrust Litigation, 2014 WL 285076 [*9] (E. D. Pa. 2014). 489 Siehe oben S. 22.
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wenn sie also wissen, was sie tun. Das lässt darauf schließen, dass die Gerichte den Anwälten der class auf dieser Grundlage ein erhebliches Maß an Vertrau‑ en entgegenbringen. Da die discovery vor dem Vergleichsschluss stattfindet, kann dieses Kriterium sowohl beim final approval als auch beim preliminary approval Anwendung finden. Damit gehen in beiden Fällen allerdings erheb‑ liche Schwierigkeiten einher: Welches Maß an Kenntnis im konkreten Fall er‑ forderlich ist, kann zwangsläufig nur im Wege einer sehr offenen Wertungs‑ entscheidung beurteilt werden.490 Die Folge ist, dass das Kriterium nur einen groben Maßstab für die Angemessenheit eines Vergleichs bietet, der lediglich dazu dient, klare Fälle auszusondern, in denen die Parteien vorschnell einen Vergleich geschlossen haben, ohne mit dem Verfahren hinreichend vertraut ge‑ wesen zu sein. In manchen Entscheidungen finden sich jedoch Formulierungen, die einen anderen Gesichtspunkt hervorheben: With respect to the stage of the proceedings and the amount of discovery that has oc‑ curred, a sufficient factual investigation must have been conducted to afford the Court the opportunity to intelligently make an appraisal of the Settlement.491
Es soll demnach darauf ankommen, dass das Gericht aufgrund der Ergebnis‑ se der discovery in der Lage ist, sich ein hinreichend detailliertes Bild von der Sachlage zu machen. In Anbetracht der Grundstrukturen des amerikanischen Zi‑ vilprozesses bedeutet das, dass die Parteien genügend Informationen gesammelt haben müssen, um ihren Vergleich dem Gericht gegenüber hinreichend begrün‑ den zu können.492 Besonders deutlich wird das in einer älteren Entscheidung, zu der die beiden in der Fußnote zum obigen Zitat genannten Entscheidungen führen: In ihr sah sich das Gericht nicht in der Lage, eine Gesamtabwägung vor‑ zunehmen, da der Sachverhalt dafür nicht hinreichend aufgeklärt war.493 Diese Argumentationslinie betont demnach die Bedeutung der discovery für die Ent‑ scheidungsgrundlage des Gerichts. Es handelt sich insofern nicht um ein eigen‑ ständiges Kriterium zur Beurteilung des Vergleichs, sondern um die Grundlage, auf der andere Kriterien angewendet werden. Die Frage, in welchem Maße die Parteien den Sachverhalt aufgeklärt haben, kann damit für die Genehmigung des Vergleichs auf zweierlei Weise von Bedeutung sein: im Sinne eines Krite‑ riums zur Beurteilung der Angemessenheit eines Vergleichs als Seriositätsindiz für die Verfahrensführung der Parteien und unabhängig davon als Grundlage für ihre Begründung des Vergleichs.
490
Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 199. Acevedo v. Workfit Medical LLC, 187 F. Supp. 3d 370, 380 (W. D. N. Y. 2016); ähnlich In re Austrian and German Bank Holocaust Litigation, 80 F. Supp. 2d 164, 176 (S.D.N.Y. 2000). 492 Siehe dazu noch unten S. 267 ff. 493 Plummer v. Chemical Bank, 668 F. 2d 654, 660 (2d Cir. 1982). 491
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cc) Schwierigkeiten bei der Abschätzung des Kenntnisstands der Antragsteller beziehungsweise Musterparteien in den Niederlanden und Deutschland In Deutschland und den Niederlanden ist es mangels discovery nur schwer ab‑ zuschätzen, wie intensiv die Parteien den Fall vor dem Vergleichsschluss durch‑ drungen haben. Für das KapMuG und die Musterfeststellungsklage gilt das je‑ denfalls insoweit, als die Parteien ihre Kenntnisse nicht bereits in das Verfahren eingebracht haben. Wenn § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO für die Genehmigungsentscheidung des Gerichts den Sach- und Streitstand des Musterverfahrens berücksichtigen wollen,494 ist dies eine Frage der Erkennt‑ nisgrundlage und kein Bestandteil eines Kriterienkatalogs. Das Gericht könnte aber berücksichtigen, ob die Musterparteien während der streitigen Phase des Musterverfahrens den Eindruck erweckt haben, dass sie mit dem Fall vertraut sind, und ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie mit Bedacht die Interessen der Beigeladenen gefördert haben. Jedenfalls dann, wenn insofern eklatante De‑ fizite zu beklagen sind, könnte der bisherigen Verfahrensführung eine gewisse Indizfunktion dafür zukommen, dass ein gesteigertes Risiko für die mangelnde Qualität des Vergleichs besteht. Im WCAM scheidet eine solche Überlegung infolge der Konzeption dieses Verfahrens dagegen naturgemäß aus.
b) Der Ablauf der Vergleichsverhandlungen aa) Die class action Bei der class action kommt es sowohl im Hinblick auf das preliminary appro‑ val als auch im Rahmen des final approval vor, dass die Gerichte den Ablauf der Vergleichsverhandlungen in ihre Entscheidung einbeziehen, wobei dies aber keinesfalls immer der Fall ist.495 Die entsprechenden Passagen enthalten dabei zumeist die Formulierungen, dass die Vergleichsverhandlungen „at arm’s length“ und „noncollusive“ waren.496 Ein Indiz dafür könne etwa ein Vergleichs‑ schluss nach einem langwierigen Verfahren – auch in Bezug auf die Dauer der Vergleichsverhandlungen – mit umfangreicher discovery sein, denn dies bele‑ ge, dass zwischen den Parteien tatsächlich Streit bestand.497 Die Beteiligung 494
Siehe dazu noch unten S. 277 ff. Siehe oben S. 183 und 197 ff. 496 Vgl. zum final approval etwa In re Sinus Buster Product Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*8] (E. D. N. Y. 2014); Romero v. La Revise Associates, L.L.C., 58 F. Supp. 3d 411, 420 (S.D.N.Y. 2014) und zum preliminary approval etwa Kelen v. World Financial Net‑ work Nat. Bank, 302 F.R.D. 56, 68 (S.D.N.Y. 2014); Nen Thio v. Genji, LLC, 14 F. Supp. 3d 1324, 1334 (N. D. Cal. 2014); siehe auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14. 497 Vgl. zum final approval etwa Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1027 (9th Cir. 1998); In re Sinus Buster Product Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*8] (E. D. N. Y. 2014) und zum preliminary approval etwa Nen Thio v. Genji, LLC, 14 F. Supp. 3d 1324, 1334 (N. D. Cal. 2014); siehe auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:14 (zum preliminary approval) und § 13:50 (zum final approval) jeweils m. w. N. 495
§ 6: Die Kriterienkataloge
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eines Mediators spreche gegen das Vorliegen von Kollusion.498 Ebenso soll es ein Qualitätsmerkmal von Vergleichsverhandlungen in einer Kapitalmarkt‑ sache darstellen, dass sie unter der Aufsicht eines lead plaintiff stattgefunden haben, der als institutioneller Investor ein hohes Maß an Professionalität ver‑ bürgt.499 Dass die Gerichte auf solche Indizien zurückgreifen, wirft ein Schlag‑ licht darauf, dass das wesentliche Problem bei der Berücksichtigung des Ab‑ laufs der Vergleichsverhandlungen auf der Ebene der Erkenntnisgrundlage des Gerichts liegt. Klare Fälle, in denen es offenkundige Anhaltspunkte für Unre‑ gelmäßigkeiten gibt, sind selten.500 Meist fehlt dem Gericht dagegen ein un‑ mittelbarer Einblick in das Geschehen.501 Eine umfassende Bewertung der Ent‑ scheidungspraxis fällt aber schwer, da oftmals völlig unklar bleibt, worauf ein Gericht seine Einschätzung stützt. Unabhängig davon erscheint es fragwürdig, ob es überhaupt möglich ist, einen abstrakten Maßstab für die Qualität von Ver‑ gleichsverhandlungen zu formulieren. Geoffrey C. Hazard meint dazu: When it comes to negotiating settlement of legal claims, we have a rich store of profes‑ sional lore on how it should be done but very little evidence about the effects of various procedures under various circumstances.502
Diese Überlegung bekräftigt die These, dass ein Gericht die Qualität der Ver‑ gleichsverhandlungen typischerweise nur bei offensichtlichen Mängeln rügen wird. Die Frage, in welchem Verhältnis jene zu den materiellen Kriterien der ersten Kategorie steht, lässt sich überdies nicht einfach beantworten. Piché un‑ terscheidet diesbezüglich drei Gruppen von Entscheidungen:503 Die erste misst der prozessualen Ebene absolute Bedeutung zu, so dass einem Vergleich un‑ abhängig von seiner materiellen Angemessenheit die Genehmigung versagt werden kann.504 Nach der zweiten begründen faire Vergleichsverhandlungen 498 Vgl. zum final approval etwa City of Providence v. Aeropostale, Inc., 2014 WL 1883494 [*4] (S.D.N.Y. 2014); In re Sinus Buster Product Consumer Litigation, 2014 WL 5819921 [*8] (E. D. N. Y. 2014) und zum preliminary approval etwa Nen Thio v. Genji, LLC, 14 F. Supp. 3d 1324, 1334 (N. D. Cal. 2014); zu den Grenzen der Aussagekraft der Beteiligung eines Media‑ tors (i. R. d. final approval) siehe In re Bluetooth Headset Products Liab. Litig., 654 F. 3d 935, 948 (9th Cir. 2011) („[…] the mere presence of a neutral mediator, though a factor weighing in favor of a finding of non-collusiveness, is not on its own dispositive of whether the end product is a fair, adequate, and reasonable settlement agreement.“). 499 Vgl. etwa City of Providence v. Aeropostale, Inc., 2014 WL 1883494 [*4] (S.D.N.Y. 2014). 500 Für einen solchen vgl. In re American Exp. Anti-Steering Rules Antitrust Litigation, 2015 WL 4645240 [*13 ff.] (E. D. N. Y. 2015). 501 Siehe dazu unten § 7. 502 Hazard, 75 B. U. L. Rev. 1257, 1265 (1995). 503 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 208 f. 504 Vgl. In re American Exp. Anti-Steering Rules Antitrust Litigation, 2015 WL 4645240 [*13 ff.] (E. D. N. Y. 2015) („[T]he improper and disappointing conduct of Co-Lead Class Counsel Gary B. Friedman has fatally tainted the settlement process. The procedural unfair‑ ness and failure of adequate representation […] requires disapproval of the Settlement; the
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
eine widerlegbare Vermutung zugunsten der Genehmigungsfähigkeit eines Ver‑ gleichs.505 Die dritte Gruppe kombiniert schließlich die formellen und die ma‑ teriellen Kriterien unmittelbar miteinander. Der zweiten und der dritten Gruppe von Entscheidungen lässt sich die Wertung entnehmen, dass die Genehmigung eines Vergleichs gewährleisten soll, dass dessen Inhalt angemessen ist und die Gruppenmitglieder nicht benachteiligt. Faire Vergleichsverhandlungen stellen demnach im Rahmen der richterlichen Überprüfung eines Vergleichs keinen Wert an sich dar.506 Sie sind jedoch ein Indiz für dessen eigentlich entschei‑ dende inhaltliche Fairness. Die grundlegende Annahme ist, dass ein Vergleich, der ein Produkt harter Verhandlungen zwischen qualifizierten Anwälten ist, die jeweils versuchen, die für ihre Mandanten bestmögliche Lösung herauszuho‑ len, im Regelfall auch inhaltlich eine angemessene Regelung darstellen wird.507 Mängel der Vergleichsverhandlungen könnten dementsprechend dadurch auf‑ gewogen werden, dass die Inhalte des betroffenen Vergleichs den materiellen Anforderungen entsprechen. Andererseits können sie aber auch als Indiz für die Unfairness eines Vergleichs dienen. Wenn aber etwa die Anhaltspunkte für eine reverse auction für sich genommen zu schwach sind, um die Fairness eines Ver‑ gleichs alleine infrage zu stellen, sollen sie dennoch das Gericht dazu motivie‑ ren, dessen inhaltliche Angemessenheit genauer zu prüfen.508
bb) Das WCAM In den bisherigen Entscheidungen auf Grundlage des WCAM wird die Fair‑ ness der Vergleichsverhandlungen als solche nicht angesprochen. Lediglich die DSB‑Bank-Entscheidung geht überhaupt auf die Vergleichsverhandlungen ein – allerdings nur um zu rügen, dass in deren Verlauf eine inhaltliche Regelung gestrichen wurde, ohne die der Vergleich nicht genehmigungsfähig sei. Es ist überdies fragwürdig, ob die Auffangregelung des Art. 7:907 Abs. 3 lit. e BW im gesetzlichen Kriterienkatalog als Ansatzpunkt dienen kann, um die Qualität der Vergleichsverhandlungen als selbständiges Kriterium zu berücksichtigen. Der court cannot thoughtfully assess its substantive fairness without assurance that the class was properly represented in the negotiations thereof.“). 505 Siehe zu dieser Problematik einer „presumption of fairness“ unten § 8. 506 Vgl. In re Corrugated Container Antitrust Litigation, 643 F. 2d 195, 207 f. (5th Cir. 1981) („even irregular settlement negotiations may form the basis for a judicially acceptable class action settlement“; im Zitat enthaltene Anführungszeichen und Hinweise auf Kürzungen vom Verf. entfernt). 507 Puckett, 77 Tex. L. Rev. 1271, 1278 (1999). Die Entscheidung In re Corrugated Con‑ tainer Antitrust Litigation, 643 F. 2d 195, 212 (5th Cir. 1981) zieht indessen den umgekehrten Schluss: „If the terms themselves are fair, reasonable and adequate, the district court may fairly assume that they were negotiated by competent and adequate counsel“. Das unterstreicht aber ebenfalls den Indizcharakter der Vergleichsverhandlungen – wenn die Fairness des Vergleichs aus anderen Gründen feststeht, müssen die Vergleichsverhandlungen nicht mehr in Zweifel gezogen werden. 508 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:57.
§ 6: Die Kriterienkataloge
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Katalog erweckt den Eindruck, allgemein auf inhaltliche Gesichtspunkte zu‑ geschnitten zu sein. Da er andererseits nicht abschließend ist, ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass die Vergleichsverhandlungen als Indiz für die inhalt‑ liche Fairness des Vergleichs Bedeutung erlangen könnten. Beim WCAM liegt das Problem dann aber genauso wie bei der class action in der Frage, in wel‑ chem Maße die Richter über einen Einblick in den Verhandlungsprozess ver‑ fügen und auf dieser Grundlage brauchbare Maßstäbe bilden können.
cc) Das deutsche Recht Im deutschen Recht fehlt es noch völlig an einer klaren Perspektive. Die norma‑ tive Ausgangssituation weist indessen Parallelen zum WCAM auf: § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO beziehen sich lediglich auf die inhaltliche Fairness eines Vergleichs („angemessene gütliche Beilegung der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten“ beziehungsweise „des Streits oder der Ungewissheit über die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse“). Es erscheint jedoch auch hier denkbar, dass den Vergleichsverhandlungen im Einzelfall eine In‑ dizfunktion zukommt – freilich mit den bekannten Problematiken der insofern fragwürdigen Erkenntnisgrundlage und des unklaren Prüfungsmaßstabs. Mög‑ licherweise bietet sich für den letztgenannten Punkt eine Lösung an, die Macey und Miller für das amerikanische Recht vorschlagen: die Bildung von Fallgrup‑ pen.509 Auf diese Weise ließen sich Anhaltspunkte vertypen, die darauf hindeu‑ ten, dass die Vergleichsverhandlungen Mängel aufweisen. So träten konkrete Beispiele an die Stelle eines abstrakten Maßstabs. Allerdings entgeht man so nicht dem Problem, diese Beispiele zu formulieren, was zumindest in Deutsch‑ land schwerfallen dürfte, da es hier noch keine gefestigte Rechtsprechung zu der Problematik gibt.
V. Schlussfolgerungen In der Gesamtschau zwingt die Analyse der Kriterienkataloge zu einem Schluss, der aus der Sicht einer systematisierenden Betrachtungsweise unbefriedigend ist: Die Genehmigungsentscheidung läuft letztlich auf eine richterliche Abwä‑ gungsentscheidung hinaus, die durch die Kriterienkataloge allenfalls struktu‑ riert, aber nicht determiniert wird. Aufgrund der Art und Weise, wie die Krite‑ rien der Kataloge formuliert sind, haben die Gerichte dabei einen erheblichen Spielraum. Wie sie diesen ausfüllen, lässt sich nicht in formale Regeln fassen, zumal dies auch nicht notwendig ist, da eine Überprüfung im Instanzenzug ent‑ weder wie in den USA stark eingeschränkt oder wie in den Niederlanden und Deutschland gar nicht vorgesehen ist. Die Kriterienkataloge stellen im besten 509
Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 191 (2009).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Fall sicher, dass ein Richter nicht sofort eine intuitive Entscheidung trifft, son‑ dern sich zuvor vergewissert, dass er alle relevanten Gesichtspunkte berück‑ sichtigt hat.510 Im schlechtesten Fall werden sie mechanisch abgehakt, ohne die zugrundeliegenden Gesichtspunkte wirklich zu prüfen. Was ein Kriterien‑ katalog in diesem Zusammenhang leisten kann, verdeutlichen die neueren ame‑ rikanischen Bestrebungen, die in der Musterregelung des American Law Insti‑ tute und in der Neufassung von Rule 23 (e) FRCP zum Ausdruck kommen. Es geht ihnen nicht darum, den Gerichten Schritt für Schritt ihren Prüfungsmaß‑ stab vorzugeben. Stattdessen zeigen sie die Dimensionen auf, die die Wertungs‑ entscheidung eines Gerichts berücksichtigen muss. Dabei kommt es keinesfalls zu einem radikalen Bruch mit den herkömmlichen Ansätzen der Rechtspre‑ chung. Bei allen seinen Mängeln ist ein Ansatz, der auf Kriterienkataloge setzt, in jedem Fall einer freien Wertungsentscheidung eines Gerichts überlegen. Wenn ein Vergleich nicht an offensichtlichen Mängeln scheitert, die ohne großen Aufwand festgestellt werden können, ist das wichtigste, aber auch am schwersten greifbare Kriterium eine Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits, der hypothetisch an die Stelle des zu genehmigenden Vergleichs treten könnte. Die Reaktion der Gruppenmitglieder ist dagegen ein eher wenig verlässlicher Indikator für die Fairness eines Vergleichs, jedenfalls wenn man sich auf eine rein quantitative Betrachtung beschränken will. Die Fallkenntnis der Parteien beim Vergleichsschluss ist ein Kriterium, das sich zu großen Tei‑ len auf die Besonderheiten der amerikanischen discovery stützt und nur ein‑ geschränkt auf die Situation in Deutschland übertragen werden kann. Man wird sich in weiten Strecken mit der Erkenntnis zufrieden geben müssen, dass die richterliche Wertungsentscheidung in ihrem Kern eine „black box“511 darstellt, in die vor allem die Eigenheiten des konkreten Falls einfließen. Es ist daher von zentraler Bedeutung, was das jeweilige Gericht über den Fall weiß, wenn es über die Genehmigungsfähigkeit eines Vergleichs entscheidet. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts dieser Untersuchung (§ 7).
510
Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 241. Hazard, 75 B. U. L. Rev. 1257, 1272 (1995) bedient sich dieses Begriffs, um das Zu‑ standekommen eines Vergleichs zu beschreiben. Er passt aber auch für die Tätigkeit des Ge‑ richts bei dessen Genehmigung. 511
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage I. Entscheidungsfindung auf eingeschränkter Tatsachengrundlage 1. Der Vergleich als Substitut für eine Sachentscheidung des Gerichts Ein Vergleich bezweckt, einen Rechtsstreit zu beenden, ohne dass das Gericht in der Sache entscheidet. Das gilt im kollektiven Rechtsschutz in gleichem Maße wie für ein Individualverfahren. Dementsprechend soll mit ihm auch das nach bestimmten rechtlichen Vorgaben strukturierte Verfahren abbrechen, das zuvor darauf abzielte, dem Gericht eine Grundlage für seine abschließende Entschei‑ dung zu verschaffen – wenn ein solches Verfahren denn zuvor überhaupt in Gang gesetzt wurde. Beim WCAM kommt das Gericht notwendigerweise erst nach dem Vergleichsschluss ins Spiel; auch bei einer settlement class action ist dies möglich, wenngleich nicht zwingend.1 Das Erfordernis einer richterlichen Genehmigung eines Vergleichs ändert zwar nichts daran, dass ein Gericht keine Sachentscheidung trifft, nachdem sich die Parteien verglichen haben. Es weicht jedoch von der Grundüberlegung ab, dass es in diesem Fall allenfalls – so ist es etwa im deutschen Recht – noch über die Kosten entscheidet. Um zu beurteilen, ob es einen Vergleich für genehmigungsfähig hält oder nicht, muss ein Gericht aber primär – entsprechend den oben bei § 6 beschriebenen Kriterien – die Risi‑ ken eines Rechtsstreits beurteilen. Es wird dabei typischerweise genau auf die‑ jenigen Fragen stoßen, die bislang noch nicht hinreichend geklärt wurden. Zwar kann ein Gericht im Einzelfall seine Entscheidung möglicherweise auf den bis‑ herigen Prozessstoff stützen. Soweit dies nicht der Fall ist, stellt sich aber die Frage, welche zusätzlichen Erkenntnisquellen ihm offen stehen.
2. Kein Parteiengegensatz nach dem Abschluss eines Vergleichs Der Abschluss eines Vergleichs beendet bei der class action und dem KapMuG nicht schlagartig das gerichtliche Verfahren – und im WCAM beginnt dieses sogar erst mit dem Antrag auf Verbindlicherklärung einer Übereinkunft. Wenn der Einigung der Parteien eine streitige Phase vorausging, stellt er aber im Hin‑ blick auf den Charakter des Verfahrens eine tiefgreifende Zäsur dar: Mit ihm 1
Siehe oben S. 22.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
entfällt der Parteiengegensatz, der zuvor den Rechtsstreit vorantrieb. Alle Ver‑ fahrensschritte, die im Anschluss die richterliche Genehmigung des Vergleichs vorbereiten, stehen demnach unter gänzlich anderen Vorzeichen als ein typi‑ sches zivilprozessuales Verfahren, das von den widerstreitenden Positionen der Parteien geprägt ist.2 Ungeachtet der erheblichen Unterschiede im Detail kann man für einen streitigen Zivilprozess in allen hier betrachteten Rechtsordnun‑ gen als Gemeinsamkeit festhalten, dass sich der Richter – und im amerikani‑ schen Zivilprozess gegebenenfalls auch die jury – den Sachverhalt regelmäßig allein anhand dessen erschließen muss, was die Parteien vorbringen. Grob skiz‑ ziert schafft ein Gericht sich seine Entscheidungsgrundlage, indem es die un‑ streitigen Behauptungen der Parteien übernimmt und sodann anhand der ihm angebotenen Beweismittel oder hilfsweise unter Anwendung von Beweislast‑ regeln entscheidet, welche streitigen Behauptungen zutreffen; an den so ermit‑ telten Sachverhalt legt es schließlich den einschlägigen rechtlichen Maßstab an und fällt eine für die Parteien bindende Entscheidung. Das ganze Verfahren ist demnach darauf ausgerichtet, diejenigen Punkte herauszuarbeiten, in denen die Parteien nicht übereinstimmen; das gilt auch dann, wenn diese ausnahmsweise lediglich über Rechtsfragen streiten. Bei der Genehmigung eines Vergleichs wird dieser Mechanismus jedoch ab dem Zeitpunkt des Vergleichsschlusses ausgehebelt. Besonders deutlich wird dies in den USA, wo der Parteiengegensatz sonst die eigenständige Aufklärung des Sachverhalts durch die Parteien im Rahmen der pretrial discovery voran‑ treibt;3 diesen geht es dabei darum, der jury im Rahmen eines trial eine stichhal‑ tigere Argumentation und überzeugendere Beweismittel präsentieren zu können als die jeweilige Gegenseite – oder aber darum, eine gute Ausgangsposition für Vergleichsverhandlungen zu schaffen. Dieses kompetitive Element4 geht indes verloren, wenn die Parteien bei einer class action gemeinsam beantragen, dass das Gericht ihren Vergleich genehmigt. Anstelle ihres Wettbewerbs tritt ein In‑ teressengleichlauf: Beide wollen nunmehr gleichermaßen, dass ihre Überein‑ kunft Bindungswirkung für die Gruppe entfaltet.5 Sie werden die Vorzüge des Vergleichs daher oftmals gemeinsam präsentieren, seine Nachteile jedoch tun‑ lichst verschweigen.6 Es fehlt die Dynamik des Parteiengegensatzes, die die 2
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:43 bringt dies aus amerikanischer Perspek‑ tive auf den Punkt: „[J]udicial review of a class action settlement is a peculiar judicial exer‑ cise as it generally does not unfold in an adversarial context“. Ähnlich Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61 („the adversariness of litigation is often lost after the agreement to settle“). 3 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40 m. w. N. 4 Vgl. Duve, Mediation und Vergleich im Prozess, S. 435 m. w. N. („Sporting Theory of Justice“). 5 Zum WCAM: Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 293 (2014). 6 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21:61; ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment a.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Äußerungen der Parteien jeweils unter das wachsame Auge der Gegenseite stellt und so – freilich abhängig von den Fähigkeiten und Ressourcen der Akteu‑ re – schnell Inkonsistenzen und Unvollständigkeiten aufdecken wird. Insbeson‑ dere kritische oder etwa dem internen Unternehmensbereich zuzuordnende In‑ formationen werden die Parteien dem Gericht selten freiwillig zur Verfügung stellen. Es gibt keinen Anreiz Probleme proaktiv zu identifizieren.7 Nirgendwo sonst hat der Richter eine so schlechte Tatsachengrundlage und ist derart von den Parteien abhängig, die zudem ein erhebliches Interesse an einer positiven Entscheidung haben.8 Das Manual for Complex Litigation betont daher nicht umsonst, dass es sich bei der Genehmigung des Vergleichs um eine sehr an‑ spruchsvolle Aufgabe für den Richter handele.9 Das niederländische WCAM kennt seiner Konzeption nach von vornherein keinen Parteiengegensatz.10 Das KapMuG und die Musterfeststellungsklage setzen zwar zwingend voraus, dass es zum Zeitpunkt der Einleitung des Musterverfahrens mindestens eine streitige Sach- oder Rechtsfrage gibt; nachdem sich die Musterparteien auf einen Ver‑ gleichsvorschlag geeinigt haben, um ihm dem Gericht vorzulegen, oder sich entschlossen haben, einen Vergleichsvorschlag des Gerichts anzunehmen, ent‑ fällt aber auch hier ab diesem Zeitpunkt der Parteiengegensatz. In den unter‑ suchten Verfahrensformen kann sich das Gericht also nicht darauf verlassen, dass die Ausgestaltung des Verfahrens von sich aus dazu führt, dass die kriti‑ schen Punkte eines Vergleichs zuverlässig identifiziert werden.
3. Das Bedürfnis nach Erkenntnisquellen/Gang der Darstellung Das strukturelle Problem der richterlichen Genehmigung eines Vergleichs liegt darin, dass für diese Entscheidung nur eine – verglichen mit einer streitigen Entscheidung in der Hauptsache – eingeschränkte Tatsachengrundlage zur Ver‑ fügung steht.11 Das ist jedoch nicht unbeabsichtigt: So ist es im amerikanischen Zivilprozess gerade der Zweck eines Vergleichs, den komplexen Fragestellun‑ gen auszuweichen, die im Rahmen eines trial geklärt werden müssten.12 In Deutschland gilt nichts anderes; auch wenn der Aufbau des Prozesses anders als in den USA ausgestaltet ist, kann insbesondere eine Beweisaufnahme sehr aufwendig sein. In den Niederlanden wären vor der jüngsten Gesetzesänderung sogar zahlreiche Einzelverfahren nötig gewesen, um dasselbe Ergebnis zu errei‑ chen wie eine Übereinkunft nach dem WCAM. 7
Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 79. Issacharoff, 30 U. C. Davis L. Rev. 805, 808 (1997). Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21:61. 10 Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 293 (2014). 11 Vgl. Bone, in: Sanchirico, Procedural Law and Economics, S. 67, 74 und 79; Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 182. 12 Vgl. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1795.5. 8 9
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Im Ausgangspunkt liegt dem Gericht lediglich der Inhalt des Vergleichs vor, der für sich genommen nur in eingeschränktem Maße für die Genehmigungs‑ entscheidung weiterhilft: Er erlaubt lediglich Regelungen zu identifizieren, die per se unzulässig sind.13 Davon abgesehen gewinnt er erst vor dem Hintergrund weiterer Erkenntnisquellen Aussagekraft. Die hier analysierten Verfahrensfor‑ men bedienen sich daher zusätzlicher Mittel und Wege, um dem Gericht eine adäquate Beurteilung des Vergleichs zu ermöglichen, wobei die class action und das WCAM einerseits sowie das KapMuG und die Musterfeststellungsklage andererseits zunächst unterschiedliche Ansatzpunkte wählen. Die Konstante im Hintergrund ist dabei der Umstand, dass mit dem Vergleich auch ein das Ver‑ fahren strukturierender Parteiengegensatz entfällt. In den USA (siehe dazu unten II. 1.) und den Niederlanden (siehe dazu unten II. 2.) treffen die Parteien des Vergleichs umfangreiche Begründungs‑ pflichten; in Deutschland soll dagegen vor allem auf den bisherigen Sach- und Streitstand zurückgegriffen werden (siehe dazu unten II. 3.). Daneben können – abgesehen von der deutschen Musterfeststellungsklage – in allen untersuch‑ ten Verfahrensformen Einwendungen von repräsentierten Gruppenmitgliedern (siehe dazu unten III.) sowie bei der class action und dem WCAM auch von besonders qualifizierten unbeteiligten Dritten (siehe dazu unten IV.) in die Ent‑ scheidungsgrundlage einfließen. In der Folge stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Quellen zueinander stehen und welche Rolle dem Gericht bei der Sachverhaltsfeststellung zukommt (siehe dazu unten V.).
II. Der Ablauf des Verfahrens und die Beibringung von Tatsachen Trotz des insofern fehlenden Parteiengegensatzes greifen sowohl die class ac‑ tion gemäß Rule 23 FRCP als auch das WCAM im Zusammenhang mit der Genehmigungsentscheidung in erheblichem Maße auf Äußerungen zurück, die die Parteien machen, nachdem sie den Vergleich geschlossen haben. Beide Sei‑ ten stehen gemeinsam in der Bringschuld, das Gericht von der Fairness ihres Vergleichs zu überzeugen. Zumindest bei der class action bedeutet dies in der Praxis, dass es auf die Äußerungen der beteiligten Anwälte ankommt – dem Manual for Complex Litigation zufolge stellen diese die wesentliche Informati‑ onsquelle des Richters dar.14 Das amerikanische und das niederländische Recht organisieren beide das Verfahren zur Genehmigung eines Vergleichs um einen oder mehrere Anhörungstermine herum, denen jeweils schriftliche Äußerungs‑ möglichkeiten oder auch -obliegenheiten für die Beteiligten vorgeschaltet sind. In diesem Rahmen bieten sie nicht nur den Vergleichsparteien eine Bühne, die 13 14
Siehe oben S. 231 ff. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.641.
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diese nutzen können, um das Gericht von ihrer Lösung zu überzeugen, sondern ermöglichen es zudem, die repräsentierten Gruppenmitglieder oder auch unbe‑ teiligte Dritte einzubeziehen. Insbesondere bei der class action sind dabei die Gestaltungsmöglichkeiten für den einzelnen Richter sehr breit.15 Für das KapMuG ist der Ablauf des Genehmigungsverfahrens auf der Detail‑ ebene hingegen noch völlig ungeklärt. § 18 Abs. 1 KapMuG befasst sich ledig‑ lich mit der Entscheidungsgrundlage und gibt dem mit dem Musterverfahren befassten OLG auf, dessen bisherigen Sach- und Streitstand sowie eventuelle Einwendungen der Beigeladenen zu berücksichtigen. Abgesehen von dieser Ein‑ wendungsmöglichkeit trifft § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO eine entsprechende Regelung. Damit besteht jedenfalls im Ausgangspunkt ein Unterschied zur class action und dem WCAM: Der Wortlaut des Gesetzes stellt nur auf solche Äußerungen ab, die die Musterparteien gemacht haben, bevor sie einen Vergleichsvorschlag ein‑ reichen oder annehmen – zu der Frage, ob sie dem Gericht danach eine Begrün‑ dung ihres Vergleichs zur Verfügung stellen dürfen, äußert er sich jedoch nicht.
1. Die class action gemäß Rule 23 FRCP a) Verfahrensablauf beim preliminary approval Inhalt und Umfang der Begründungsanforderungen, die die Parteien des Ver‑ gleichs im Hinblick auf dessen vorläufige Genehmigung erfüllen müssen, hän‑ gen stark vom Einzelfall ab. Eine bestimmte Form ist nicht vorgeschrieben. Ab‑ hängig davon, in welchem Maße der Richter mit dem Fall vertraut ist, kann er die Entscheidung unter Umständen sogar allein auf die ihm bereits bekannten Informationen stützen – nach Bedarf müssen die Parteien diese mit Schriftsät‑ zen und einer Präsentation der wesentlichen Inhalte des Vergleichs im Rahmen einer Anhörung ergänzen.16 Um dem Gericht eine Grundlage für seine Ent‑ scheidung zu geben, fügen die Parteien ihrem Antrag auf die vorläufige Geneh‑ migung des Vergleichs üblicherweise dessen Text, eine Erklärung (affidavit) der Anwälte über den Verlauf der Vergleichsverhandlungen und eine Begründung bei, warum das preliminary approval erteilt werden müsse. Diese Begründung muss zumindest grundlegende Informationen zur Fairness des Vergleichs ent‑ halten, beispielsweise die Höhe der zu erwartenden Auszahlungen an die Grup‑ penmitglieder (potential range of recovery) sowie die Einzelheiten zu deren vorgesehener Benachrichtigung und zum Verfahren der Geltendmachung von Ansprüchen.17 Bisweilen reichen die Parteien zusätzlich Sachverständigengut‑ 15 Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action und ihre deutschen Funktionsäquivalen‑ te, S. 154, 166. 16 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632; Anderson/Trask, Class Action Play‑ book § 8.04[4]. 17 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12; Martin v. Cargill, Inc., 295 F.R.D. 380,
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
achten ein.18 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Partei‑ en zum Zeitpunkt des preliminary approval bereits ihre discovery durchgeführt haben. Sie selbst verfügen daher nicht über ein signifikant geringeres Maß an Informationen als beim final approval. Das Verfahren der vorläufigen Genehmigung kann rein schriftlich ab‑ laufen, muss dies aber nicht. Dem Gericht steht es frei, schon hier eine ge‑ sonderte Anhörung (hearing19) zu terminieren – auch wenn sich der Wortlaut von Rule 23 (e) (2) FRCP, demzufolge das Gericht erst über die Genehmigung eines Vergleichs befinden darf, nachdem ein Anhörungstermin stattgefunden hat, streng genommen nur auf die endgültige Genehmigung bezieht.20 Es kann hingegen auch auf sie verzichten, wenn sie ihm nicht notwendig erscheint.21 Bei settlement class actions wird die Entscheidung über die vorläufige Geneh‑ migung oftmals mit der Anhörung über die conditional certification der class verbunden. Das Manual for Complex Litigation kann man aber dahingehend verstehen, dass unabhängig davon im Zusammenhang mit der vorläufigen Ge‑ nehmigung im Regelfall eine Anhörung stattfindet.22 Die Gerichte betonen je‑ doch, dass diese Anhörung, die ja nur einen Zwischenschritt betrifft, nicht zu sehr in die Details gehen dürfe und lediglich als Grundlage für eine allgemeine Einschätzung der Fairness des Vergleichs dienen solle.23 Dennoch ist es mög‑ lich, bereits hier einen gerichtlich bestellten Sachverständigen oder einen spe‑ cial master einzuschalten und in der Anhörung zu Wort kommen zu lassen.24 Vereinzelt wird überdies Gruppenmitgliedern oder Dritten gestattet, ihre Ein‑ wendungen gegen den Vergleich schon in diesem frühen Verfahrensstadium – also bevor überhaupt eine Benachrichtigung stattgefunden hat – im Anhörungs‑ termin vorzubringen.25 Das Manual for Complex Litigation merkt an, dass es 386 (D. Minn. 2013); Walter v. Hughes Communications, Inc., 2011 WL 2650711 [*3] (N. D. Cal. 2011); Custom Led, LLC v. eBay, Inc, 2013 WL 4552789 [*9] (N. D. Cal. 2013). 18 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. 19 Vgl. Garner, Black’s Law Dictionary, Eintrag „hearing“: „A judicial session, usu. open to the public, held for the purpose of deciding issues of fact or of law, sometimes with wit‑ nesses testifying.“ 20 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12. 21 Vgl. Lovig v. Sears, Roebuck & Co., 2014 WL 8252583 [*1] (C. D. Cal. 2014) für eine Ablehnung eines Vergleichs allein auf Grundlage der eingereichten Schriftsätze. 22 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632 („Review of a proposed class ac‑ tion settlement generally involves two hearings.“). 23 Etwa In re Inter-Op Hip Prosthesis Liability Litigation, 204 F.R.D. 330, 350 (N. D. Ohio 2001) („The Court’s duty is to conduct a threshold examination of the overall fairness and ade‑ quacy of the settlement[.]“); vgl. allgemein Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12. 24 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. Siehe dazu auch unten S. 334 f. 25 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12 mit Bsp.: Martin v. Cargill, Inc., 295 F.R.D. 380, 387 (dort Fn. 8) (D. Minn. 2013) (Einwendung seitens der Klägerin aus einem Pa‑ rallelverfahren); In re Vitamins Antitrust Litigation, 1999 WL 1335318 [*1] (D. D. C. 1999) (Ablehnung einer intervention durch Gruppenmitglieder, die ein opt out anstreben, aber den‑ noch Hinzuziehung als amici curiae); vgl. dagegen Davis v. J. P. Morgan Chase & Co., 775
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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in settlement class actions sinnvoll sei, auch die named plaintiffs sowie die An‑ wälte von individuellen Gruppenmitgliedern anzuhören, die nicht an den Ver‑ gleichsverhandlungen beteiligt waren. Es ermutigt die Richter im Übrigen aus‑ drücklich dazu, die Anhörung dazu zu nutzen, Fragen zu stellen und kritische Punkte aufzuklären.26
b) Verfahrensablauf beim final approval Nachdem die class über den Abschluss eines Vergleichs informiert wurde, stel‑ len die Parteien des Vergleichs den Antrag auf dessen endgültige Genehmigung. Auch dieser Antrag wird üblicherweise mit affidavits oder anderen Erklärungen der Anwälte ergänzt, mit denen sie etwa den ordnungsgemäßen Ablauf der Ver‑ gleichsverhandlungen bekräftigen oder über die Inhalte der discovery bezie‑ hungsweise andere relevante Gesichtspunkte berichten. Hinzu kommen Infor‑ mationen über den Ablauf des Benachrichtigungsprozesses und eventuell über den Stand des Verfahrens zur Anmeldung von Ansprüchen. Die Parteien be‑ gründen in Form von Schriftsätzen, aus welchen sachlichen und rechtlichen Er‑ wägungen sie ihren Vergleich für genehmigungsfähig halten. Schließlich ma‑ chen sie einen Formulierungsvorschlag für die final approval order. Kombiniert wird dieser Antrag gegebenenfalls mit den Anträgen auf Zertifizierung der class und auf Festlegung der Anwaltsgebühren. Falls Einwendungen erhoben wer‑ den, haben die Parteien vor dem fairness hearing noch Gelegenheit, auf diese schriftsätzlich zu erwidern.27 Der anschließende Anhörungstermin28 ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Vergleich „fair, reasonable, and adequate“ ist. Der jewei‑ lige Richter hat dabei einen weiten Spielraum, wie er dieses fairness hearing im Einzelfall ausgestaltet. In formaler Hinsicht wird es typischerweise so ablaufen, dass zunächst die Parteien dem Gericht ihren Vergleich Schritt für Schritt er‑ örtern. Falls die class zu diesem Zeitpunkt nicht bereits zertifiziert ist, werden sie auch auf diesen Gesichtspunkt eingehen; weiterhin wird der class counsel die auf seine Vergütung bezogenen Anträge stellen und begründen, sofern diese Frage nicht in einen separaten Verfahrensschritt verlagert wurde. Die Arbeits‑ teilung gestaltet sich in der Regel so, dass der Anwalt der Gruppe für die Prä‑ sentation der genannten Punkte verantwortlich ist; nur gelegentlich wird der Anwalt des Beklagten anschließend den Vergleich aus seiner Sicht verteidigen F. Supp. 2d 601, 605, 608 (W. D. N. Y. 2011) (Ablehnung einer intervention unter Verweisung auf die Anhörung zur endgültigen Genehmigung). Zur Berechtigung von Gruppenmitgliedern und Dritten, Einwendungen vorzubringen, siehe unten S. 302 ff., 328 ff. 26 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. 27 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:41. 28 Gemäß 28 U.S.C. § 1712 (e) ist nur bei coupon settlements ausdrücklich ein Anhörungs‑ termin vorgeschrieben, er findet aber auch sonst meistens statt.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
und wichtige Aspekte noch einmal unterstreichen.29 Den Parteien obliegt es, dem Gericht hinreichende Informationen zur Verfügung zu stellen, damit es ihr Vorbringen angemessen beurteilen kann. Zu diesem Zweck dürfen sie Zeugen, Sachverständige sowie eidesstattliche (affidavits) und sonstige Erklärungen (declarations) einbringen.30 In den allermeisten Fällen werden sie sich jedoch auf Beweismittel beschränken, die sie in Dokumentform ihrem Antrag auf Ge‑ nehmigung des Vergleichs als Anlage beifügen können; dass in der Anhörung Zeugen oder Sachverständige auftreten, kommt nur selten vor.31 In einem zwei‑ ten Schritt können sich die erschienenen Gruppenmitglieder äußern, üblicher‑ weise, um Einwendungen vorzutragen, die sie in der Regel schon zuvor schrift‑ lich geltend gemacht haben.32 Sie können sich dabei eines Anwalts bedienen, müssen dies aber nicht tun.33 Grundsätzlich kann – insbesondere in settlement class actions – eine große Bandbreite an Personen angehört werden.34 Gruppen‑ mitglieder, die ihre Einwendungen bereits schriftlich geäußert haben, müssen nicht noch einmal im Anhörungstermin erscheinen.35 Eine typische Anhörung in der Praxis zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass überhaupt keine Grup‑ penmitglieder auftreten.36 Ist dies ausnahmsweise doch der Fall, haben die Par‑ teien in einem dritten Schritt die Gelegenheit, auf die vorgebrachten Einwän‑ de zu reagieren.37 Abschließend fällt das Gericht seine Entscheidung entweder noch im Termin oder räumt sich eine Überlegungsfrist ein, um seine Entschei‑ dung später in einem gesonderten Termin zu verkünden.38
c) Inhaltliche Anforderungen an die Begründung eines Vergleichs Die Entscheidungsgrundlagen des preliminary und des final approval unter‑ scheiden sich demzufolge nicht grundlegend. Die einzige strukturelle Abwei‑ chung liegt darin, dass ein Gericht erst bei der zweiten Entscheidung die Re‑ aktion der Gruppenmitglieder auf den Vergleich berücksichtigen kann, also deren eventuelle Einwendungen und die Zahl ihrer Austritte aus dem Vergleich. Davon abgesehen sind die Unterschiede lediglich graduell. Allenfalls nehmen 29
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.634; Rubenstein, Newberg on Class Ac‑ tions, § 13:42. 31 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. 32 Siehe dazu unten S. 302 ff. 33 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. 34 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632 („In settlement classes, however, it is often prudent to hear not only from counsel but also from the named plaintiffs, from other parties, and from attorneys who represent individual class members but did not participate in the settlement negotiations.“). 35 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:30 m. w. N. 36 Schonbrun, 20 Regulation 50, 53 (1997). 37 Zu eventuellen Nachfragen seitens des Gerichts siehe unten S. 333. 38 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. 30
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
271
die Gerichte beim final approval – jedenfalls nach eigener Aussage – eine ein‑ gehendere Prüfung als beim preliminary approval vor.39 Wie genau die einzel‑ nen Gerichte im Rahmen der beiden Genehmigungsschritte ihre Möglichkeiten zur Ermittlung der tatsächlichen Hintergründe des Vergleichs nutzen, ist bislang aber noch nicht umfassend erforscht worden. Einen gewissen Eindruck von der möglichen Bandbreite der Ansätze mag die Studie von Piché vermitteln, die sich allerdings in erster Linie auf die – auf ähnlichen strukturellen Vorgaben wie in den USA beruhende – Situation in Kanada bezieht. Sie hebt angesichts des Nacheinanders von preliminary und final approval hervor, dass viele Gerichte die Kontrolle des Vergleichs mit Bedacht als einen mehrschrittigen Prozess ver‑ stehen und ihre Entscheidung nicht lediglich auf einen einmaligen Eindruck stützen wollen.40 Wie und in welchem Maße die Parteien ihren Vergleich begründen müssen, richtet sich zuvorderst nach den Umständen des einzelnen Falls, wie das Ma‑ nual for Complex Litigation betont. Maßgeblich seien insofern etwa die Fragen, um wie viel es für die einzelnen Gruppenmitglieder geht, inwiefern der Ver‑ gleich von der class positiv aufgenommen wurde, ob zugleich auch individuel‑ le Rechtsstreite verglichen werden sowie die Art und Verteilung der Ersatzleis‑ tungen.41 Rothstein und Willging schreiben, dass folgende Informationen „den Schlüssel zur Beurteilung eines Vergleichs“ enthielten: – – – – – – – –
the settlement’s terms; the merits of the class members’ claims; the reasons for settling those claims; the settlement’s benefits to the class; the number of claims actually filed by class members; the amount of the settlement that is likely to be distributed to class members; the reasons for any opposition to the settlement; and the effect of the settlement on other pending litigation.42
Ende 2018 hat auch der N. D. Cal. umfassende Leitlinien des zu class action settlements veröffentlicht, die Vorgaben dazu enthalten, welche Informationen die Parteien dem Gericht im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung mittei‑ len.43 Im Rahmen der Neufassung von Rule 23 (e) (1) FRCP fordert die Com‑ mittee Note ebenfalls, dass die Parteien dem Gericht Informationen über die 39 Vgl. etwa die Aussage eines amerikanischen Richters, die Piché, Fairness in Class Ac‑ tion Settlements, S. 68 zitiert. Siehe im Hinblick auf den Prüfungsmaßstab auch oben S. 197. 40 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 64 ff. Siehe auch oben S. 208. 41 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61. 42 Rothstein/Willging, Managing Class Action Litigation: A Pocket Guide for Judges, S. 13. Vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:12 („courts will not grant pre‑ liminary approval where the parties’ request fails to include basic information about the pro‑ posed class, such as the recovery sought, notice, and administration of claims“). 43 Vgl. https://www.cand.uscourts.gov/ClassActionSettlementGuidance, zuletzt aufgeru‑ fen am 29. 04. 2019.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
möglichen Ergebnisse und Risiken eines Rechtsstreits, den Umfang der dis‑ covery in diesem und in parallelen Verfahren sowie über andere Rechtsstreite, die Ansprüche betreffen, die von dem Vergleich berührt werden, zur Verfügung stellen.44 Zudem können auch Informationen über den Ablauf der Vergleichs‑ verhandlungen von Bedeutung sein.45 Es scheint demnach auf eine umfassende Kenntnis der Sachlage im Einzelfall anzukommen. Eine verallgemeinernde Be‑ urteilung des Werts bestimmter Arten von Informationen ist nicht möglich. Der class counsel ist dementsprechend verpflichtet, gegenüber dem Gericht sämtli‑ che für die Fairness des Vergleichs relevanten Informationen offenzulegen.46 Judge Rakoff zufolge reichen die Anwälte in großen class actions üblicherwei‑ se schon von sich aus umfangreiche Schriftsätze ein.47 Insbesondere bei sett‑ lement class actions kann das Gericht von ihnen die Bereitstellung umfassender Informationen verlangen.48 Inwiefern dabei gegebenenfalls Beweismittel aus‑ gewertet werden können, die im Rahmen der discovery erlangt wurden, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht beurteilt werden.49 Jedenfalls kommt es vor, dass ein Gericht die vorläufige Genehmigung eines Vergleichs ablehnt, wenn die Parteien offenbar über Gutachten zur Frage der Angemessenheit der Ersatzleistungen verfügen, diese aber dem Gericht nicht zur Verfügung stel‑ len.50 Der Wortlaut des Gesetzes gibt insgesamt kaum eine Hilfestellung bei der Gewinnung einer Erkenntnisgrundlage und überlässt diese Frage der Recht‑ sprechung. Rule 23 (e) (3) FRCP ist die einzige Regelung zu diesem Themen‑ bereich. Demnach sind die Parteien verpflichtet, sämtliche Vereinbarungen of‑ fenzulegen, die zwar formal kein Teil des Vergleichs sind, aber dennoch mit diesem im Zusammenhang stehen, insbesondere weil sie Vorteile für die class zunichtemachen und im Gegenzug andere Personen begünstigen. Im Zweifel soll eine Vereinbarung unter diese Norm fallen.51 Auch rein mündliche Über‑ einkünfte werden erfasst.52 Der Gesetzeswortlaut spricht nur davon, dass die Vereinbarungen benannt werden müssen („file a statement identifying any agreement“); damit liegt es im Ermessen des Gerichts, ob das maßgebliche Do‑ 44 Committee Notes on Rules – 2018 Amendment, Subdivision (e) (1); vgl. auch Advisory Committee on Civil Rules, Agenda Book 2017/04, S. 111. 45 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 195 (2009). 46 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.641. 47 Rakoff, 37 Litig. 15, 16 (2011). 48 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.631. 49 Für eine Berücksichtigung des „discovery record“ jedenfalls McLaughlin on Class Ac‑ tions, § 6:22. Zur Problematik der Anwendbarkeit der Federal Rules of Evidence (Zulässigkeit von hearsay) vgl. UAW v. General Motors Corp., 235 F.R.D. 383 (E. D. Mich. 2006). 50 Vgl. In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 716 (E. D. Pa. 2014). 51 Committee Notes on Rules – 2003 Amendment, Abschnitt zu Rule 23 (e) (2) FRCP (a. F.). 52 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.631.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
273
kument selbst einzureichen ist.53 Das Manual for Complex Litigation empfiehlt in diesem Zusammenhang, schrittweise vorzugehen. Die Gerichte sollten sich zunächst mit einer Zusammenfassung der Vereinbarungen begnügen und nur dann die Volltexte anfordern, wenn jene keine geeignete Grundlage für eine Be‑ urteilung biete. Den Hintergrund hierfür bilden Geheimhaltungsinteressen, die ein zentrales Problem im Zusammenhang mit der Regelung von Rule 23 (e) (3) FRCP darstellen. Beispielsweise kann den Parteien daran gelegen sein, dass eine Regelung, nach der ein Vergleich nichtig ist, wenn eine bestimmte Zahl an Betroffenen aus ihm austritt,54 nicht öffentlich bekannt wird. So soll vermieden werden, dass Dritte versuchen Gruppenmitglieder zum Austritt zu motivieren (etwa um ein Erpressungspotential gegenüber den Parteien des Vergleichs auf‑ zubauen). Auch im Hinblick auf Vereinbarungen mit Versicherungen kann ein Geheimhaltungsbedürfnis bestehen. In diesem Fällen ist es unter anderem mög‑ lich, dass der Richter die maßgeblichen Vereinbarungen in camera beurteilt.55 Auch jenseits des Anwendungsbereichs von Rule 23 (e) (3) FRCP stellen sich Geheimhaltungsfragen. So können die Parteien beispielsweise berechtigterwei‑ se zögern, ihre Einschätzung der Erfolgsaussichten beizusteuern, wenn weitere Parallelverfahren laufen oder der Vergleich nur mit einem von mehreren Be‑ klagten oder Klägergruppen erfolgt.56
d) Zwischenergebnis Die Analyse des Erkenntnisprozesses, auf den die amerikanischen Gerich‑ te die Genehmigung eines Vergleichs stützen, beleuchtet das Verhältnis zwi‑ schen preliminary und final approval und bekräftigt, dass es sich um einen ge‑ stuften Entscheidungsprozess handelt. Die geringen strukturellen Unterschiede hinsichtlich der Tatsachengrundlage bieten dabei möglicherweise einen Erklä‑ rungsansatz dafür, dass die Ablehnungsquote beim final approval anders als beim preliminary approval äußerst gering ausfällt. Man könnte daraus folgern, dass die abschließende Genehmigung mehr als eine zusätzliche Sicherung denn als eine gesteigerte Hürde fungiert. Diese These steht jedoch unter dem Vor‑ behalt, dass sich auf einer allgemeinen Ebene keine klaren Aussagen über die Qualität der Informationen machen lassen, die jeweils in die beiden Stufen der Genehmigungsentscheidung einfließen, zumal die Gerichte trotz allem vielfach betonen, dass das der Schwerpunkt ihrer Kontrollfunktion beim final approval liege. Gleichwohl verfügen die Parteien, die die Informationen beisteuern, bei beiden Schritten über eine ähnliche Grundlage, wenn sie sich insofern auf die Ergebnisse ihrer discovery stützen. Es ist auch denkbar, dass hier ein Kommuni‑ kationsprozess zwischen dem Gericht und den Parteien im Hintergrund steht, 53
Rabiej, 24 Miss. C. L. Rev. 323, 377 (2005). Sog. „blow up provisions“, vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:6. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.631; McLaughlin on Class Actions, § 6:22. 56 In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 358 (E. D. Pa. 2014). 54 55
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
das final approval also deswegen derart selten abgelehnt wird, weil die Parteien im Laufe des Verfahrens – nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem prelimina‑ ry approval – reichlich Gelegenheit hatten, sich über die Anforderungen klar zu werden, die das jeweilige Gericht an einen Vergleich stellt. Die amerikanische Regelung verdankt ihr erhebliches Maß an Flexibilität dem Umstand, dass ein Gericht von den Parteien weitere Informationen ver‑ langen kann, bis es von der Fairness des Vergleichs überzeugt ist.57 Die Ge‑ richte lehnen es nicht selten ab, einen Vergleich vorläufig zu genehmigen, wenn sie meinen, nicht über hinreichende Informationen zu verfügen, um diesen an‑ gemessen beurteilen zu können.58 Das Institut der discovery trägt zu diesem Ansatz bei, indem es den Parteien im Idealfall eine tiefgreifende Kenntnis des Sachverhalts und die Möglichkeit verschafft, diese dem Gericht zu vermitteln. Es stellt aber keine notwendige Bedingung für ihn dar; es ist nicht unzulässig, wenn die Parteien die für die Beurteilung des Vergleichs erforderlichen Infor‑ mationen aus anderen Quellen entnehmen. Das Gericht kann seine Entschei‑ dung dabei sowohl auf mündliche Äußerungen in den Anhörungsterminen als auch auf den Inhalt von beigebrachten Dokumenten und bisweilen auch auf sonstige Beweismittel stützen.59 Allerdings stellen die Erkenntnismöglichkeiten, die die discovery den Par‑ teien an die Hand gibt, nicht in jedem Fall sicher, dass diese perfekt über die Details und Hintergründe ihres Falls im Bilde sind. Ihre Begründung stellt aber nur eine unsichere Grundlage für die richterliche Genehmigungsentscheidung dar, wenn sie selbst nur wenig wissen.60 Zudem kann die Begründungspflicht das Defizit des fehlenden Parteiengegensatzes nicht vollständig ausgleichen. Insbesondere haben die Anwälte keinen Anreiz, Informationen darzulegen, die auf Konflikte zwischen ihnen und der class oder innerhalb der class schließen lassen. Die Effektivität des Ansatzes hängt daher in Zweifelsfällen – wenn man von den Einwendungen der class members absieht – vom Spürsinn des Richters und seiner Bereitschaft, sich intensiv mit dem Fall zu befassen, ab.61
2. Das WCAM Das niederländische Recht enthält eine sehr detaillierte Regelung der Begrün‑ dungsanforderungen und normiert in Art. 1013 Abs. 1 Rv sowie in Art. 2.2.2.2., 2.2.2.3 und 2.2.2.4 des maßgeblichen procesreglement62 zahlreiche – überwie‑ 57 58
Siehe dazu im Einzelnen noch unten S. 332 ff. Siehe dazu oben S. 203 f. 59 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 51. 60 Vgl. Duve, Mediation und Vergleich im Prozeß, S. 146 ff. (vor dem Hintergrund des Agent Orange-Falls). 61 Siehe unten S. 332 ff. zu den Handlungsoptionen des Richters bei der class action. 62 Procesreglement verzoekschriftprocedures handels- en insolventiezaken gerechtshoven v. 14. 12. 2018, Staatscourant Nr. 70270.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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gend auf formale Gesichtspunkte bezogene – Vorgaben für den Inhalt des An‑ trags auf Verbindlicherklärung einer Übereinkunft. Nachdem die Antragsteller beim gerechtshof diesen Antrag gestellt und im Zuge dessen ihren Vergleich vorgelegt haben, kennt das WCAM zwei Arten von Anhörungsterminen,63 die sich in ihrer Funktion grundlegend voneinander unterscheiden. Die Geneh‑ migungsfähigkeit des Vergleichs ist nur im Rahmen desjenigen Termins ein Thema, auf den Art. 1013 Abs. 5 Rv Bezug nimmt. Er dient in erster Linie dazu, den repräsentierten Gruppenmitgliedern, die individuell die Möglichkeit haben, neben den Antragstellern an ihm teilzunehmen, rechtliches Gehör zu bieten. Der gerechtshof muss einen solchen Termin verpflichtend durchführen. Falls er es zunächst ablehnt, die Vereinbarung für verbindlich zu erklären, können weitere Anhörungen stattfinden, nachdem die Antragsteller Nachbesserungen vorgenommen haben. Dies ist etwa im DSB‑Bank- und im Fortis-Verfahren ge‑ schehen. Wie bei der class action kann es also zu einer regelrechten Kaskade an Anhörungen kommen, bis der gerechtshof schließlich zufriedengestellt ist oder die Antragsteller ihr Vorhaben aufgeben. Zur Erkenntnisgrundlage einer ableh‑ nenden Entscheidung lassen sich nur wenige Aussagen treffen. Im DSB‑BankVerfahren waren letztlich Dokumente ausschlaggebend, die Änderungen im Laufe der Genese der Vereinbarung betrafen.64 Neben der Anhörung gemäß Art. 1013 Abs. 5 Rv kann jederzeit ein Anhö‑ rungstermin gemäß Art. 1013 Abs. 8 Rv stattfinden, zu dem ausschließlich die Antragsteller geladen werden – und bewusst nicht die Betroffenen. In einer sol‑ chen regiezitting soll gerade nicht auf die Inhalte des Vergleichs eingegangen werden. Sie dient vielmehr dazu, den weiteren Ablauf des Verfahrens zu koor‑ dinieren und insbesondere das Datum des Anhörungstermins gemäß Art. 1013 Abs. 5 Rv, die Dauer von Fristen für die Einreichung von verweerschriften sowie die Modalitäten der Ladung der Gruppenmitglieder zu besprechen.65 Funktio‑ nell besteht damit insofern eine gewisse Parallelität zum preliminary fairness hearing, als beide dazu dienen, die Benachrichtigung der Gruppe zu thematisie‑ ren – freilich mit dem Unterschied, dass diese bei der class action erst über den Vergleich in Kenntnis gesetzt werden darf, nachdem dieser einer inhaltlichen Überprüfung – zur Erteilung des preliminary approval – unterzogen wurde, die das WCAM hingegen gerade nicht vorsieht. Der gerechtshof kann einen Termin gemäß Art. 1013 Abs. 8 Rv nach seinem Ermessen von Amts wegen ansetzen. Daneben kann ein solcher auch auf Antrag der Parteien durchgeführt werden, 63 Im Vorfeld besteht daneben die Möglichkeit eines Anhörungstermins gem. Art. 1018a Rv. Diese Regelung soll die Parteien dabei unterstützen, zu einer Übereinkunft zu finden; dem Richter kommt diesbezüglich lediglich eine begleitende Funktion zu, er verfügt über keine Entscheidungsbefugnis, vgl. van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1018a Rv Nr. 2. 64 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 7. 5. 20. 65 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 10.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
die sich gemäß Art. 2.2.2.6 des maßgeblichen procesreglements66 in jedem Fall dazu äußern müssen, ob sie eine regiezitting für erforderlich halten. Sie ist gera‑ de in komplexen Verfahren von großem Nutzen.67 Dementsprechend hat bislang in allen Verfahren nach dem WCAM jeweils mindestens eine regiezitting statt‑ gefunden.68 Anders als bei der class action betreffen die zwei Arten von Anhö‑ rungen also grundlegend unterschiedliche Fragestellungen. Im Hinblick auf die Erkenntnisgrundlage ähnelt das Verfahren des WCAM von seinem Grundansatz her demjenigen der class action. Ähnlich wie dort ist die Obliegenheit der Antragsteller zentral, dem gerechtshof die Informationen vorzulegen, die er benötigt, um die Genehmigungsfähigkeit der Vereinbarung zu beurteilen. Daneben kommen gegebenenfalls noch die Einwendungen der Geschädigten zum Tragen. Ein anderer Ansatz ist jedoch gar nicht denkbar, da mangels eines vorgeschalteten streitigen Verfahrens keine anderen Erkenntnis‑ quellen zur Verfügung stehen. An das tatsächliche Vorbringen der Antragsteller ist das Gericht bei seiner Entscheidung nur eingeschränkt gebunden. Da es die Geschädigten gerade vor eventuellen Interessenkonflikten oder Fehlern der An‑ tragsteller schützen soll, muss es gegebenenfalls über deren Vorbringen hinaus‑ gehen können.69
3. Ansatzpunkte für eine Lösung im deutschen Recht Die Vorgaben, die das KapMuG und die Regelungen der ZPO zur Musterfest‑ stellungsklage mit Blick auf die Gewinnung einer Beurteilungsgrundlage für die Genehmigungsentscheidung machen, überschneiden sich nur teilweise mit der Praxis bei der class action und dem WCAM. Nach § 18 Abs. 1 KapMuG müs‑ sen der bisherige Sach- und Streitstand sowie das Ergebnis einer Anhörung der Beigeladenen berücksichtigt werden. § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO übernimmt diese Regelung, allerdings mit dem Unterschied, dass er eine Beteiligung der Anmel‑ der nicht vorsieht. Beide Gesetze geben den Musterparteien dabei weder auf, ihren Vergleich schriftlich oder auf andere Weise zu begründen, noch schreiben 66 Procesreglement verzoekschriftprocedures handels- en insolventiezaken gerechtshoven v. 14. 12. 2018, Staatscourant Nr. 70270. 67 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 10. 68 Vgl. für die Verfahren in Sachen DES, Dexia, Vie d’Or, Shell und Vedior: van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 10 m. w. N.; für die weiteren Verfah‑ ren: gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 12. 11. 2010, ECLI:NL:GHAMS:2010:BO3908 (Converium), Rn. 1; gerechtshof Amsterdam, Protokoll der regiezitting v. 14. 06. 2013 (zaak‑ nummer 200.127.525/01 – DSB‑Bank); gerechtshof Amsterdam, Protokoll der regiezitting v. 25. 08. 2016 (zaaknummer 200.191.713/01 – Fortis). 69 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 356. Vgl. auch gerechts‑ hof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 2.3. Ansonsten gilt im niederländischen Zivilprozessrecht gemäß Art. 24 Rv grundsätz‑ lich der Beibringungsgrundsatz, vgl. Snijders, in: Chorus/Hondius/Voermans, Introduction to Dutch Law, S. 245, 254.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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sie vor, dass der Entscheidung über die Genehmigung des Vergleichs ein Anhö‑ rungstermin vorausgehen müsse. Sie schließen allerdings weder das eine noch das andere explizit aus, sondern verzichten schlicht darauf, das gerichtliche Verfahren im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung zu regeln. Wie in der Li‑ teratur zurecht festgestellt wird, werden die Musterparteien ihren Vergleich frei‑ lich schon aus Eigeninteresse begründen, um dem Gericht Anhaltspunkte für die Angemessenheitsprüfung zu geben.70 Die gesetzliche Formulierung („unter Berücksichtigung“) ermöglicht es grundsätzlich, jenseits des Sach- und Streit‑ stands auch andere Erkenntnisquellen einzubeziehen. Die Gesetzesmaterialien sind ebenfalls unergiebig. Die Begründung zum KapMuG hebt lediglich hervor, dass das Gericht eine Ermessensentscheidung fälle, ohne sich mit deren Grund‑ lage auseinanderzusetzen.71 Der Regierungsentwurf zur Musterfeststellungs‑ klage verweist demgegenüber immerhin auf den Erkenntniswert der Mindest‑ inhalte gemäß § 611 Abs. 2 ZPO.72
a) Der bisherige Sach- und Streitstand aa) Parallelen zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO Mit der Formulierung, dass die Genehmigungsentscheidung „unter Berück‑ sichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes des Musterverfahrens“ er‑ gehen müsse, lehnen sich § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO an den Wortlaut von § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO an, wenngleich die Gesetzgebungs‑ materialien diesen Bezug nicht herstellen. Die Parallele zwischen den Regelun‑ gen liegt vor allem darin, dass bei § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO und der Genehmi‑ gung eines Vergleichs gleichermaßen die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits ausschlaggebend sein können.73 In beiden Fällen wird die Sache in aller Regel noch nicht entscheidungsreif sein, so dass der Sach- und Streitstand als Basis für eine Prognoseentscheidung herhalten muss. Das Gericht steht also jeweils vor der Herausforderung, seine Entscheidung nur auf eine begrenzte Tatsachen‑ grundlage stützen zu können. Der Fall, dass im Zeitpunkt der Erledigung bezie‑ hungsweise des Vergleichsschlusses nur noch – freilich außerordentlich kom‑ plexe – Rechtsfragen geklärt werden müssen, ist zwar ebenfalls denkbar, wird aber selten vorkommen. Darüber hinaus sollte man die Parallelen zwischen den beiden Normen nicht überstrapazieren. Es bestehen vielmehr wesentliche Unterschiede: Die Ent‑ scheidung gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG betrifft die Bindungswirkung eines Ver‑ 70 71
Beckmann/Waßmuth, WM 2019, 89, 91. RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. 72 RegE Musterfeststellungsklage, BT‑Ducks. 19/2439, S. 27. 73 Vgl. zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO Flockenhaus, in: Musielak/Voit, ZPO, § 91a Rn. 23; zu‑ rückhaltender Hartmann, in: BLAH, § 91a Rn. 112 („voraussichtliche weitere Entwicklung […] in gewissem Umfang durchaus mitbeachten“).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
gleichs, also die Sachebene des Musterverfahrens und der diesem zugrunde‑ liegenden Ausgangsrechtsstreite. Aufgrund von § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO fällt das Gericht hingegen lediglich eine Entscheidung über die Kosten eines für erledigt erklärten Rechtsstreits. Weiterhin erlässt das Gericht bei § 18 Abs. 1 KapMuG auf Antrag der Musterparteien eine Genehmigungsentscheidung, die notwendi‑ gerweise binär ist; der Antrag wird entweder genehmigt oder abgelehnt, Zwi‑ schenstufen gibt es nicht.74 Ein Beschluss gemäß § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO verteilt demgegenüber von Amts wegen75 die Kostenlast zwischen den Parteien, wobei alle denkbaren Abstufungen möglich sind.
bb) Die Beschränkung auf die Inhalte des Musterverfahrens beim KapMuG Das KapMuG weist eine Besonderheit auf, die mit seinem Charakter als Vor‑ lageverfahren zusammenhängt. Nach dem Wortlaut von § 18 Abs. 1 KapMuG ist nur der Sach- und Streitstand des Musterverfahrens zu berücksichtigen; der‑ jenige der jeweiligen Ausgangsverfahren der einzelnen Beigeladenen ist da‑ gegen nicht relevant. Die Gesetzesbegründung betont dies noch einmal aus‑ drücklich.76 Das verringert den Nutzen dieser Erkenntnisquelle insofern, als ein erhebliches Konfliktpotential hinsichtlich der Angemessenheit eines Vergleichs gerade in möglichen individuellen Besonderheiten verschiedener Beigelade‑ ner oder Gruppen von Beigeladenen liegen kann, die im Musterverfahren aus‑ geblendet werden. Beispielsweise kann man aus der Feststellung, dass eine ob‑ jektiv fehlerhafte öffentliche Kapitalmarktinformation vorliegt, nicht schließen, dass die einzelnen Beigeladenen auch aktivlegitimiert sind. So können die teils hochkomplexen Fragen der Transaktionskausalität und der Schadensberech‑ nung eine unterschiedliche Beurteilung der Einzelansprüche erfordern.77 Dies begründet Zweifel daran, ob das Gericht einen Vergleich allein auf Grundlage des Streitstoffs des Musterverfahrens immer angemessen beurteilen kann.78 Es erscheint zumindest möglich, dass bei der Überprüfung eines Vergleichs nicht berücksichtigt werden kann, dass einzelne Beigeladene über deutlich bessere Ansprüche verfügen als der Durchschnitt.79 Umgekehrt wird die Regelung teil‑ weise von Autoren angegriffen, die sich die Perspektive der Beklagten zu eigen machen: So kritisieren Schneider und Heppner, dass der Umstand, dass es um individuelle Ansprüche gehe, die auf im Detail unterschiedlichen Lebenssach‑ verhalten beruhen könnten, zugunsten einer pauschalisierenden Lösung aus 74 Siehe dazu oben S. 82. 75 Vgl. Muthorst, in: Stein/Jonas,
ZPO, § 91a Rn. 29 (dort in Fn. 126 auch w. N. zur a. A.). RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2705. 78 Vgl. Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 383 (hinreichend verlässliche Prognose nur unter Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Prozessrisiken der einzelnen Ausgangsverfahren möglich). 79 Stadler, [2013] EBLR 731, 748. 76 77
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dem Blick gerate.80 Einzelne unbegründete Ansprüche mit bloßem „Lästigkeits‑ wert“ könnten daher nicht herausgefiltert werden. In der Folge sähen sich die Beklagten regelmäßig überhöhten Forderungen ausgesetzt. Im Ergebnis bleibe nur die Option, einen Mechanismus zur Überprüfung der geltend gemachten Ansprüche in den Vergleich zu integrieren.81 Hierzu ist allerdings anzumerken, dass § 17 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG ein solches gesondertes Verifizierungsverfah‑ ren ausdrücklich vorschreibt. Zudem sind erhebliche Zweifel angebracht, ob eine nur beschränkte richterliche Kontrolle des Vergleichs dem Musterbeklag‑ ten wirklich zum Nachteil gereicht – schließlich hat dieser zuvor die Wahl, ob und mit welchem Inhalt er einen Vergleich abschließt oder nicht, zumal er in Deutschland unter deutlich geringerem Vergleichsdruck steht, als dies in einem amerikanischen Verfahren der Fall wäre. Wie bereits dargelegt wurde, dient die gerichtliche Genehmigung eines Vergleichs nicht dem Schutz der Beklagten.82 Das Problem liegt vielmehr darin, dass Auszahlungen an Beigeladene, die über keine oder nur schwache Ansprüche verfügen, bei einer begrenzten Vergleichs‑ summe zulasten von anderen Beigeladenen gehen.83 Bei der Musterfeststel‑ lungsklage könnten Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Gruppen von Betroffenen möglicherweise größere Bedeutung gewinnen als beim KapMuG. Die Beschränkung auf den Sach- und Streitstand des Musterverfahrens ist eine Konsequenz der Ausgestaltung des KapMuG als Vorlageverfahren. Bei der class action oder dem WCAM, die ein einheitliches durchgehendes Verfahren vorsehen, ist eine solche Differenzierung von vornherein nicht denkbar. Soweit es um die Verwertung des bisherigen Verfahrensstoffs als Erkenntnisgrundlage für die Genehmigungsentscheidung gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG geht, stellt sie jedoch die einzig praktikable Lösung dar und ist zudem konzeptionell stimmig: Das OLG hat keinen Zugriff auf die Akten der Ausgangsverfahren, die vor an‑ deren Gerichten anhängig sind, und ist daher nicht über den Streitstand in die‑ sen Verfahren im Bilde.84 Da das KapMuG lediglich die im Vorlagebeschluss bestimmten Sach- und Rechtsfragen klären soll, werden die Verfahrensakten der Ausgangsverfahren nicht von diesem Vorlagebeschluss erfasst; sie dürfen auch nicht in Bezug genommen werden.85 Der Vorlagebeschluss selbst enthält gemäß § 6 Abs. 3 Nr. 2 KapMuG nur „eine knappe Darstellung des den Muster‑ verfahrensanträgen zugrunde liegenden gleichen Lebenssachverhalts“ – nicht aber der Hintergründe der Ausgangsrechtsstreite.86 Auch die Unterrichtung des OLG gemäß § 8 Abs. 4 KapMuG dient lediglich dazu, die Beigeladenen zu 80
Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2711. Schneider/Heppner, BB 2012, 2703, 2712. Siehe oben S. 58 ff. 83 Stadler, [2013] EBLR 731, 748. 84 Stadler, [2013] EBLR 731, 748. 85 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 6 Rn. 67 f. 86 Kritisch Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 383. 81 82
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
identifizieren,87 und beinhaltet daher keine Informationen, die bei der Geneh‑ migungsentscheidung weiterhelfen könnten. Zwar weist § 18 Abs. 1 KapMuG in der Folge unweigerlich eine innere Un‑ stimmigkeit auf: Das Gericht soll anhand des Stands des Musterverfahrens beurteilen, ob die Ausgangsverfahren angemessen verglichen wurden. Die‑ ser Widerspruch lässt sich auf der Ebene der Berücksichtigung des Sach- und Streitstands jedoch nicht vermeiden, ohne die Konzeption und den Zweck des KapMuG zu unterminieren. Das Gericht wäre kaum in der Lage, sich für die Genehmigung eines Vergleichs in die Akten aller Ausgangsverfahren einzuar‑ beiten. Dies zu verlangen, würde die mit einem Vergleich bezweckte Effizienz‑ steigerung völlig zunichtemachen – ganz ungeachtet der erheblichen Zweifel, ob es dem zuständigen OLG in organisatorischer und kapazitärer Hinsicht über‑ haupt möglich wäre, eine mitunter unüberschaubare Vielzahl von Einzelfällen zu sichten und zu kategorisieren. Eine Überlastung des Gerichts wäre abzuse‑ hen.88 Dementsprechend ist es konsequent, dass die spezifischen Inhalte der in‑ dividuellen Ausgangsverfahren nicht im Wege der Berücksichtigung des Sachund Streitstands einbezogen werden können. Ein Ausweg läge nach einem Vorschlag von Stadler allenfalls darin, dass die Ausgangsgerichte dem OLG Stellungnahmen mit einer Einschätzung der jeweiligen individuellen Aspekte zukommen ließen.89 Allerdings ist unklar, wie gut diese Gerichte die Erfolgs‑ aussichten dieser Verfahren beurteilen können, falls vor der Aussetzung nicht verhandelt wurde. § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO enthält für die Musterfeststellungskla‑ ge zwar keine der Regelung des KapMuG entsprechende Einschränkung. Die praktischen Probleme bei der Berücksichtigung der individuellen Ansprüche oder Rechtsverhältnisse können sich hier aber ebenfalls stellen.
cc) Der bisherige Verfahrensstoff als Grundlage für eine Einschätzung der Erfolgsaussichten Wenn § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO davon spricht, dass der Sach- und Streitstand zu berücksichtigen ist, nimmt er zunächst die Gesamtheit des Sachvortrags und die bereits erhobenen Beweismittel zum Zeitpunkt des Zugangs der letzten Er‑ ledigungserklärung bei Gericht in Bezug.90 Das lässt sich entsprechend auf die Situation im KapMuG übertragen, so dass hier angesichts von § 17 Abs. 1 S. 1 KapMuG der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem dem Gericht ein Vergleichs‑ vorschlag der Parteien zugeht, beziehungsweise diese einen solchen des Ge‑ richts annehmen. Der bisherige Verfahrensstoff ist im deutschen Recht dem 87 Kruis, in: KK‑KapMuG, § 8 Rn. 60. 88 Vgl. Stadler, [2013] EBLR 731, 748. 89
Stadler, [2013] EBLR 731, 749. zum maßgeblichen Zeitpunkt Hartmann, in: BLAH, § 91a Rn. 112; Jaspersen, in: BeckOK ZPO, § 91a Rn. 29; Schulz, in: MüKoZPO, § 91a Rn. 44; Flockenhaus, in: Musielak/ Voit, ZPO, § 91a Rn. 22; Althammer, in: Zöller, ZPO, § 91a Rn. 26. 90 Vgl.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Gericht leicht zugänglich, denn er lässt sich den Akten und dem Protokoll ent‑ nehmen. Er bietet dem Gericht vor allem in einer Hinsicht einen Erkenntnis‑ wert: Es kann aus ihm ableiten, welche Fragen bereits geklärt und welche noch offen waren, als der Vergleich zustande kam – letzteres freilich nur insoweit, als die Probleme des Falls schon vollständig identifizierbar sind. Dazu muss es unter Umständen die bereits erhobenen Beweise würdigen. Wie bei § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO sollten auch präsente Beweismittel berücksichtigt werden können,91 zumal dies das Verfahren nicht verzögert. Dieses Wissen kann ihm dabei helfen, sich eine Meinung über die Komplexität und die voraussichtliche weitere Dauer des Musterverfahrens zu bilden und so Art und Umfang der Risiken des Verfah‑ rens einzuschätzen. Schwierigkeiten können sich hingegen dann auftun, wenn der Grad und die Bedeutung dieser Risiken im Detail bewertet werden müssen. Die Zuverlässigkeit einer solchen Einschätzung auf der Grundlage des bisheri‑ gen Verfahrensstoffs kann stark davon abhängen, wie weit das Verfahren bereits fortgeschritten ist. Im Kapitalmarktrecht sind typischerweise aufwendige Gut‑ achten erforderlich, um einen Sachverhalt differenziert beurteilen zu können.92 Wenn man erst wenige verwertbare Anhaltspunkte gewonnen hat, wird eine Einschätzung besonders schwer fallen. Andererseits löst sich die Problematik mit dem Fortschreiten des Verfahrens nicht zwangsläufig auf: Selbst wenn nur noch wenige Fragen offen sind, können diese noch vollkommen ungeklärt sein, so dass die bisherigen Erkenntnisse kaum weiterhelfen. Und dass die Parteien einen Vergleich geschlossen haben, ist gerade ein Indiz dafür, dass die Lösung für die Probleme, die dessen Hintergrund bilden, nicht auf der Hand liegt, son‑ dern diesbezüglich erhebliche Unsicherheit besteht. Auf der Grundlage des bis‑ herigen Sach- und Streitstands wird es daher oftmals nicht zufriedenstellend möglich sein, die Erfolgsaussichten eines Verfahrens abzuschätzen – benötigte man dazu doch zwangsläufig gerade Informationen über diejenigen Punkte, die bislang nicht hinreichend geklärt werden konnten. Im Ergebnis lässt sich fest‑ halten, dass der Erkenntniswert des bisherigen Verfahrensstoffs stark von den Gegebenheiten des einzelnen Falls abhängt. Tendenziell steigt er mit dem wei‑ teren Fortschreiten des Verfahrens, wenn auch nicht notwendigerweise. Von besonderem Interesse im Hinblick auf die Fairness des Vergleichs kön‑ nen in diesem Zusammenhang Beiträge von Gruppenmitgliedern sein, die diese schon während der streitigen Phase des Verfahrens eingebracht haben. Das KapMuG bietet in dieser Hinsicht zumindest konzeptionell erhebliches Poten‑ tial, indem es die Beigeladenen mit umfangreichen Rechten ausstattet; gemäß § 14 KapMuG ähneln deren Befugnisse denen eines Nebenintervenienten (§ 67 ZPO). Halfmeier zufolge ist die praktische Erfahrung mit den Mitwirkungs‑ 91 Vgl. zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO Muthorst, in: Stein/Jonas, ZPO, § 91a Rn. 31. A. A. offen‑ bar Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 25. 92 Gesetzesentwurf KapMuG, BT‑Drucks. 15/5091, S. 1.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
befugnissen der Beigeladenen jedoch ambivalent: Wichtigen Impulsen, vor allem im Telekom-Verfahren, ständen erhebliche Verzögerungen gegenüber.93
b) Abgrenzung von den Ansätzen der class action und des WCAM Soweit das KapMuG und die Musterfeststellungsklage auf den Sach- und Streit‑ stand des Musterverfahrens und nicht auf eine von den Parteien nach ihrer Eini‑ gung eingereichte Begründung abstellen, weicht ihr Ansatz deutlich von demje‑ nigen der class action und des WCAM ab. Dieser Unterschied hat auch mit den charakteristischen Eigenheiten der untersuchten Verfahrensformen und Rechts‑ ordnungen zu tun. Das WCAM kennt in Ermangelung einer streitigen Phase des Verfahrens schon gar keinen Korpus des bisherigen Streitstoffs, auf den zu‑ rückgegriffen werden könnte. Bei der class action unterscheiden sich die Aus‑ gangsbedingungen ebenfalls erheblich von der Situation in Deutschland. Stark vereinfacht dargestellt arbeiten die Parteien im amerikanischen Zivilprozess‑ recht den Streitstoff in einem ersten Schritt selbständig auf, wobei der Richter nur eine strukturierende Funktion wahrnimmt. Die Inhalte werden ihm und der jury sodann in einem zweiten Schritt im Rahmen des trial präsentiert.94 Die Pra‑ xis gestaltet sich freilich differenzierter: Auch wenn die zentralen Streitfragen nicht immer unmittelbar aus dem Inhalt der pleadings abgeleitet werden kön‑ nen, wird ein Richter sie in aller Regel bereits im Zuge der pretrial conferences, mit denen er die discovery koordiniert, identifizieren können.95 Jenseits hiervon beruht der amerikanische Ansatz zur Kontrolle des Vergleichs aber auf der Prä‑ misse, dass die Parteien nicht zuletzt aufgrund der discovery in der Lage sind, dem Richter die Hintergründe ihres Vergleichs plausibel darzulegen – zumal auch die angewendeten Prüfungsmaßstäbe voraussetzen, dass sich die Parteien im Wege der discovery oder auf andere Weise hinreichend mit dem Fall vertraut gemacht haben.96 Die Fälle, in denen ein Gericht einen Vergleich genehmigt, obwohl zuvor keine discovery stattgefunden hat, weichen letztlich nur schein‑ bar von diesem Gedanken ab, denn hier müssen sich die Parteien auf anderem Wege ein hinreichendes Maß an Informationen beschafft haben.97 Das deutsche Zivilprozessrecht zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass die Parteien schon in den vorbereitenden Schriftsätzen (§ 129 ZPO) einen umfangreichen Sach‑ vortrag einführen und das Gericht von vornherein unmittelbar in die Entwick‑ lung des Verfahrensstoffs eingebunden ist.98 Gerade in einem Musterverfahren 93 94
Halfmeier, ZIP 2016, 1705, 1711. Hazard, 73 Notre Dame L. Rev. 1017, 1020 (1998). 95 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 11.31, § 11.33. 96 Siehe dazu oben S. 256 ff. 97 Vgl. etwa Decohen v. Abbasi, LLC, 299 F.R.D. 469. 480 (D. Md. 2014); In re Crocs, Inc. Securities Litigation, 306 F.R.D. 672, 690 (D. Colo. 2014); In re Fasteners Antitrust Litigation, 2014 WL 285076 [*9] (E. D. Pa. 2014). 98 Vgl. zu diesem Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Zivil‑
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stehen die zentralen Fragen in der Regel von vornherein fest.99 Man kann daher eher als im amerikanischen Recht jederzeit auf einen klar feststellbaren Stand des Verfahrens Bezug nehmen, auf den das Gericht unmittelbar zurückgreifen kann, um einen Vergleich zu beurteilen. Eine holzschnittartige Betrachtungsweise, die die beiden Ansätze als voll‑ kommen gegensätzlich darstellt, verbietet sich jedoch. Wenn die Parteien dem Gericht bei einer class action darlegen, warum sie den vorliegenden Vergleich geschlossen haben,100 werden sie regelmäßig auch die Geschehnisse im Vor‑ feld des Vergleichsschlusses beleuchten. Dazu bringen sie auch Informationen ein, deren funktionelles Äquivalent im deutschen Recht früh vor den Augen des Gerichts eingeführt und damit Teil des bisherigen Sach- und Streitstands wird, etwa den Stand der discovery und deren für die Beurteilung des Vergleichs re‑ levante Inhalte. Ähnlich müssen die Antragssteller im Rahmen des WCAM die Hintergründe ihres Vergleichs beleuchten. Die für das deutsche Recht im Rah‑ men der Bestimmung des maßgeblichen Sach- und Streitstands zentrale Dif‑ ferenzierung, ob eine bestimmte Information dem Gericht schon vor dem Ver‑ gleichsschluss bekannt war, spielt bei der class action und dem WCAM also keine Rolle – und zwar schon aus strukturellen Gründen nicht. Diese beiden Verfahrensformen erlauben es daher im Einzelfall, Informationen zu berück‑ sichtigen, die auf Grundlage des deutschen Zivilprozessrechts nicht Teil des bisherigen Sach- und Streitstands wären.
c) Erkenntnisquellen jenseits des bisherigen Sach- und Streitstands? Die Literatur zum KapMuG und zur Musterfeststellungsklage geht nur verein‑ zelt auf die Frage ein, ob und in welchem Maße für die Genehmigungsentschei‑ dung neuer Verfahrensstoff eingeführt werden kann, also Informationen, die zum Zeitpunkt der Mitteilung des Vergleichs an das Gericht noch nicht Teil des Sach- und Streitstands waren. Dabei werden unterschiedliche Positionen ver‑ treten. Wigand meint zum KapMuG, das Gericht könne abgesehen vom Sachund Streitstand des Musterverfahrens lediglich die im Vorlagebeschluss ent‑ haltene Darstellung des gemeinsamen Lebenssachverhalts und die Höhe der in den Ausgangsverfahren geltend gemachten Ansprüche berücksichtigen.101 Von Katte äußert zu Recht Zweifel, ob der Sachverhalt zum Zeitpunkt eines Ver‑ gleichsschlusses immer hinreichend aufgearbeitet sein wird, um die Genehmi‑ gungsentscheidung allein auf den bisherigen Sach- und Streitstand zu stützen. Er sieht vor allem ein Bedürfnis nach Sachverständigengutachten, um fehlen‑ prozessrecht aus amerikanischer Sicht Hazard, 73 Notre Dame L. Rev. 1017, 1020 (1998); Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823, 830 (1985). 99 Gemäß § 15 KapMuG kann der Gegenstand des Musterverfahrens allerdings in dessen Laufe um zusätzliche Feststellungsziele erweitert werden. 100 Siehe oben S. 271 ff. 101 Wigand, AG 2012, 845, 850.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
de Expertise des Gerichts auszugleichen, und will die Parteien mit Hinweisen gemäß § 139 ZPO dazu anregen, weitere Informationen beizusteuern.102 Für die Zukunft empfiehlt er eine spezielle gesetzliche Regelung.103 Winter wählt einen ähnlichen Ansatz: Die Beklagten sollten den Vergleich begründen, da sie insbesondere Auskünfte zu den einzelnen Ausgangsverfahren beisteuern könn‑ ten.104 Dabei geht es nicht um ein formales Begründungserfordernis, sondern darum, dass ein Gericht die Genehmigung ablehnen kann, wenn es nicht über eine angemessene Tatsachengrundlage verfügt, aus der sich ergibt, dass der ihm vorliegende Vergleich genehmigungsfähig ist. Ein Ansatz, der zumindest auch auf eine Begründung eines Vergleichs durch die Parteien setzt, bietet ein höheres Maß an Flexibilität als man erreichen kann, wenn man die Entscheidungsgrundlage auf den bisherigen Verfahrensstoff ein‑ engt und daneben allenfalls eventuelle Stellungnahmen der Gruppenmitglieder berücksichtigt. Das wesentliche Problem liegt darin, wie das Gericht mit für die Genehmigungsentscheidung relevanten Gesichtspunkten umgehen soll, die noch nicht oder noch nicht in hinreichendem Maße Teil des Sach- und Streit‑ stands geworden sind oder dies aufgrund der Konzeption des Verfahrens gar nicht werden konnten. Von Bedeutung sind dabei vor allem Informationen, die die einzelnen Ausgangsverfahren beim KapMuG105 beziehungsweise indivi‑ duelle Gesichtspunkte bei der Musterfeststellungsklage oder aber auch die Hin‑ tergründe und den Ablauf der Vergleichsverhandlungen betreffen. Es ist gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO jedenfalls nicht ausgeschlos‑ sen, solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie man bereits dem Gesetzes‑ wortlaut entnehmen kann, der die Erkenntnisgrundlage gerade nicht auf den Sach- und Streitstand begrenzt („unter Berücksichtigung“). Für das KapMuG lässt sich das zudem aus dem Regierungsentwurf ableiten.106 Es wäre auch kon‑ zeptionell problematisch, beim KapMuG primär darauf zu setzen, dass die Bei‑ geladenen Einwendungen vorbringen. Die richterliche Aufsicht über den Ver‑ gleichsinhalt trägt zumindest dazu bei zu rechtfertigen, dass die Beigeladenen im Zweifelsfall – also wenn sie nicht bewusst von ihrer Austrittsoption Ge‑ brauch machen – an einen Vergleich gebunden sind.107 Sie muss daher in der Lage sein, auch ohne deren Beteiligung ein hinreichendes Maß an Fairness zu gewährleisten. Wenn die gerichtliche Überprüfung eines Vergleichs bezüglich breiter Fragenkomplexe lediglich ein Vehikel für die Beteiligungsrechte der Beigeladenen wäre, trüge sie die opt out-Gestaltung nicht. Dieselbe Passivität, 102
von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 426 f. von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 429. Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 5. 105 Vgl. Stadler, [2013] EBLR 731, 748. Siehe auch oben S. 278 ff. 106 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24 („Prüfung des Sach- und Streitstands in den einzelnen Ausgangsverfahren nicht erforderlich“ – wohlgemerkt nicht unzulässig). 107 Siehe oben S. 56. 103 104
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die es im Einzelfall unwahrscheinlich macht, dass ein Beigeladener seine Aus‑ trittsoption wahrnimmt, wird ihn typischerweise auch davon abhalten, zu einem Vergleich Stellung zu nehmen. Das soll freilich nicht bedeuten, dass die Ein‑ wendungsmöglichkeit irrelevant wäre. Es ist nur nicht angemessen, für alle Fra‑ gen, die sich nicht anhand des bisherigen Sach- und Streitstands beantworten lassen, pauschal auf sie zu verweisen, ohne weitere Erkenntnismöglichkeiten zu berücksichtigen. Bei der Musterfeststellungsklage, die keine Einwendungs‑ möglichkeit für die angemeldeten Verbraucher vorsieht, bedarf es erst Recht weiterer Erkenntnisquellen. Wenn ein Vergleich mangels hinreichender Entscheidungsgrundlage nicht genehmigungsfähig ist, treten die Unterschiede zwischen einer Begründungs‑ obliegenheit und einem Ansatz, der allein auf den bisherigen Verfahrensstoff abstellt, deutlich zutage. Bei der class action und dem WCAM haben die Par‑ teien dann die Möglichkeit, ihre Begründung zu ergänzen, um das Gericht doch noch von ihrem – möglicherweise inhaltlich unveränderten – Vergleich zu über‑ zeugen. An dieser Stelle kann zunächst noch offen bleiben, ob dies auf Anre‑ gung des Gerichts oder aus eigener Initiative sowie im Rahmen des Genehmi‑ gungsverfahrens oder im Zuge eines Folgeantrags geschieht.108 In Deutschland ist dagegen noch ungeklärt, wie ein Gericht beim KapMuG oder der Musterfest‑ stellungsklage mit dem Fall umgehen soll, dass der bisherige Sach- und Streit‑ stand und gegebenenfalls die Stellungnahmen der Beigeladenen keine hinrei‑ chende Grundlage bieten, um den ihm vorliegenden Vergleich zu beurteilen. Wenn der bisherige Sach- und Streitstand die alleinige Entscheidungsgrund‑ lage darstellte, müsste man von den Musterparteien eigentlich verlangen, dass sie das Musterverfahren streitig weiterführen, bis der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt ist. Im Prinzip steht hinter einer solchen Überlegung der im Um‑ feld des Amtsermittlungsgrundsatzes anzusiedelnde Gedanke der Entschei‑ dungsreife, allerdings dahingehend modifiziert, dass es nicht darauf ankommt, ob noch eine konkrete Beweiserhebung aussteht, sondern ob die Parteien das Verfahren hinreichend weit vorangetrieben haben – man könnte in diesem Zu‑ sammenhang sozusagen von einem Konzept der Vergleichsreife sprechen: Ein Gericht könnte einen Vergleich nur dann genehmigen, wenn das Musterverfah‑ ren weit genug fortgeschritten ist, um eine angemessene Tatsachengrundlage dafür zur Verfügung zu stellen. Das hätte gravierende Implikationen für die Dispositionsfreiheit der Musterparteien: Sie wären nicht nur im Hinblick auf den Inhalt ihres Vergleichs an die Genehmigung des Gerichts gebunden, son‑ dern unterlägen auch hinsichtlich des Vergleichszeitpunkts Einschränkungen. Grundsätzlich wird man dies zwar als Bedingung für einen Vergleich akzep‑ tieren können, der auch die Beigeladenen beziehungsweise die angemeldeten Verbraucher bindet; schließlich könnte der Musterkläger im KapMuG auch im 108
Siehe dazu i. E. unten S. 330 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Wege eines individuellen Vergleichs mit dem Musterbeklagten aus dem Mus‑ terverfahren ausscheiden, so dass seine persönlichen Rechte in formaler Hin‑ sicht nicht unangemessen beschnitten werden. Bei der Musterfeststellungskla‑ ge macht eine qualifizierte Einrichtung dagegen von vornherein keine eigenen Rechte geltend. In Fällen, in denen die Musterparteien plausibel begründen könnten, warum sie den Vergleich geschlossen haben, erscheint es jedoch gekünstelt, von ihnen zu verlangen, das Verfahren praktisch zum Schein weiterzuführen, bevor sie ihren Vergleich einreichen, zumal sie im Vorfeld nur schwer beurteilen kön‑ nen, ob das Gericht später der Meinung sein wird, dass der Sach- und Streit‑ stand bereits eine angemessene Erkenntnisgrundlage bot, als sie den Vergleich einreichten. Überlegungen der Verfahrensökonomie streiten dann ebenso wie der Anspruch auf rechtliches Gehör für die Berücksichtigung einer Begrün‑ dung des Vergleichs in Gestalt weiteren Sachvortrags. Letztlich kann es nicht ausschlaggebend sein, ob sie diesen einbringen, bevor oder nach nachdem sie einen Vergleichsvorschlag eingereicht haben. Das gilt etwa dann, wenn sie über Privatgutachten verfügen, die sie zwar bislang noch nicht in den Rechtsstreit eingebracht haben, die aber ihre Entscheidung für den Vergleichsschluss nach‑ vollziehbar machen. Weiterhin ist es sinnvoll, wenn die Musterparteien Un‑ klarheiten und Missverständnisse klarstellen können. Eine Begründung könnte dabei als zusätzlicher Inhalt des Vergleichsvorschlags gemeinsam mit diesem vorgelegt werden.109 Kurzum: Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensöko‑ nomie erscheint es wünschenswert, dass die Musterparteien – in Anlehnung an die class action und das WCAM – ihren Vergleich gegenüber dem Gericht zu begründen. Von Bedeutung ist das zumindest dann, wenn der bisherige Sachund Streitstand nicht genügend Handhabe gibt, um eine positive Genehmi‑ gungsentscheidung zu erlassen. Eine Begründungspflicht zwingt die Parteien zudem über die Interessen der Gruppenmitglieder zu reflektieren. Sie können nicht einfach einen Vergleich schließen und hoffen, dass das Gericht selbst Anhaltspunkte für seine Fairness findet. Auch wenn man darauf bestehen will, dass die Parteien nicht im Sinne einer Pflicht, aus der sich eine Sekundärhaftung ableiten lässt, die Interessen der Gruppenmitglieder wahren müssen,110 liegt es in ihrer Verantwortung si‑ cherzustellen, dass der Vergleich diese Interessen gewährleistet, wenn er Bin‑ dungswirkung entfalten soll. Das Begründungserfordernis hat vor diesem Hin‑ tergrund auch eine Hinweisfunktion: Es macht den Parteien deutlich, dass sie den Vergleich mit Blick auf die Interessen der Gruppenmitglieder aushandeln müssen.
109 110
Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 384. Siehe zu dieser für das KapMuG vertretenen Ansicht oben S. 72 f.
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d) Konstruktive Herausforderungen Wenn man von den Parteien verlangt, dass sie ihren Vergleich begründen und dabei Verfahrenstoff einbringen, der über die Inhalte des bisherigen Sach- und Streitstands hinausgeht,111 wirft dies dogmatisch-konstruktive Fragen auf, die von der Literatur bislang kaum berücksicht werden. Einerseits muss das Ge‑ richt angesichts des Zwecks des Genehmigungserfordernisses hinterfragen dür‑ fen, ob unstreitiger neuer Vortrag, den die Parteien mit Blick auf die Genehmi‑ gungsentscheidung machen, der Wahrheit entspricht. Andererseits muss es in der Lage sein, Nachbesserungen zu verlangen und schließlich auch die Geneh‑ migung abzulehnen, wenn es die von den Parteien beigebrachte Begründung für unzureichend oder unvollständig erachtet.
aa) Geltung des Beibringungs- oder des Untersuchungsgrundsatzes? Ein Teil der wenigen Quellen aus der Literatur zum KapMuG, die sich aus‑ drücklich mit der Frage befassen, welche Entscheidungsgrundlagen jenseits des bisherigen Sach- und Streitstands für die Genehmigungsentscheidung zur Ver‑ fügung stehen, setzt dennoch als selbstverständlich voraus, dass der Beibrin‑ gungsgrundsatz112 gilt.113 Dieser soll im Rahmen des KapMuG ausweislich der Gesetzesbegründung zu seiner ursprünglichen Fassung im Übrigen durch‑ gehend Anwendung finden.114 Dasselbe wird auch sonst allgemein für den kol‑ lektiven Rechtsschutz angenommen, wobei das Meinungsbild allerdings im Hinblick auf die entsprechende Problematik bei Verbandsklagen – etwa nach dem UKlaG oder seiner Vorgängerregelung im AGBG – nicht völlig einhellig ist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass diese Verfahren öffentlichen In‑ teressen dienen.115 Stadler fordert demgegenüber, dass einem Gericht ein wei‑ ter Spielraum hinsichtlich der Ermittlung des Tatsachenstoffs eingeräumt wird, wenn es über die Genehmigungsfähigkeit eines Vergleichs entscheidet. Dabei müsse auch in Betracht gezogen werden, von der traditionellen Vorstellung der 111 Vgl. von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 426 ff.; Winter, in: Wieczorek/Schütze, KapMuG, § 18 Rn. 5; Wigand, AG 2012, 845, 850. 112 Oder synonym: die Verhandlungsmaxime. 113 Geiger, Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, S. 226; Keller/Wigand, ZBB 2011, 373, 384. 114 Gesetzesentwurf KapMuG, BT‑Drucks. 15/509l, S. 17; Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 42. 115 Vgl. zum Streitstand Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 215 m. w. N.; all‑ gemein auch Micklitz/Stadler, Verbandsklagerecht, S. 1212 ff. (differenzierend); Schilken, Der Zweck des Zivilprozesses und der kollektive Rechtsschutz, S. 51 f. Für Geltung des Verhand‑ lungsgrundsatzes bei Verbandsklagen etwa Lindacher, ZZP 103 (1990), 397, 405 f.; dagegen H. Koch, KritV 1989, 323, 331 f.; vgl. auch Greger, ZZP 113 (2000), 399, 411 (de lege ferenda Verbandsklagen der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuordnen). Zur Geltung der Verhandlungs‑ maxime im Rahmen einer hypothetischen Gruppenklage vgl. Geiger, Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, S. 249 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Parteiautonomie im Zivilprozess abzuweichen und inquisitorische Ansätze ein‑ zubeziehen.116 Zur Musterfeststellungsklage fehlen bislang Stellungnahmen. Der Beibringungsgrundsatz bedeutet, dass grundsätzlich die Beteiligten den Tatsachenstoff und die Beweismittel beschaffen müssen. Dem Gericht ob‑ liegt demgegenüber lediglich deren rechtliche Würdigung.117 Es darf seiner Entscheidung nichts zugrunde legen, was von den Parteien nicht vorgetragen wurde, und zudem keine Beweise über Tatsachen erheben, die zwischen die‑ sen unstreitig sind.118 Den konzeptionellen Gegenpol zur Verhandlungsmaxime stellt der Untersuchungsgrundsatz119 dar, nach dem das Gericht dafür zustän‑ dig ist, den Prozessstoff zu ermitteln, ohne an die Behauptungen und Beweis‑ anträge der Parteien gebunden zu sein.120 Die Realität des Prozessrechts spie‑ gelt freilich nicht immer einen kategorialen Unterschied zwischen den beiden Ansätzen wider – stattdessen werden deren Elemente in gewissem Maße mit‑ einander kombiniert.121 So schränken in der ZPO etwa die Fragerechte und Hinweispflichten des Gerichts (§ 139 ZPO) sowie die Möglichkeit einer Be‑ weiserhebung von Amts wegen (§§ 142, 144 ZPO) den Beibringungsgrundsatz ein. Verfahrensordnungen, in denen der Untersuchungsgrundsatz gilt, sehen dagegen regelmäßig Mitwirkungspflichten der Parteien vor (vgl. etwa § 27 FamFG, § 86 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 VwGO). Um die Frage zu beantworten, welchen konzeptionellen Ausgangspunkt die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen bei der Ermittlung des Streitstoffs neh‑ men soll, müssen zwei Probleme berücksichtigt werden: Erstens muss geklärt werden, ob und inwiefern das Gericht berechtigt sein soll, den übereinstim‑ menden Sachvortrag der Parteien in Zweifel zu ziehen, mit dem diese den Ver‑ gleich begründen (siehe unten bb)). Da die Parteien, nachdem sie sich geeinigt haben, selbst in aller Regel keine Tatsachen mehr streitig stellen werden, bedarf es möglicherweise erweiterter Kompetenzen für das Gericht, um das Fehlen des Korrektivs einer Gegenpartei, das zumindest konzeptionell gewährleistet, dass die Interessen der Gruppenmitglieder vertreten werden,122 auszugleichen und gegebenenfalls eine Beweisaufnahme zu ermöglichen. Zweitens stellt sich die Frage, ob besondere Anforderungen an den Detailgrad des Parteivor‑ trags gestellt werden können, also ob das Gericht diesen möglicherweise als unzureichend oder unvollständig werten kann. Im Rahmen einer Lösung, die den Beibringungsgrundsatz zum Ausgangspunkt nimmt, fällt in diesem Zu‑ 116
Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1816. Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 175. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 77 Rn. 8; Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 182 f. 119 Oder synonym: die Inquisitionsmaxime. 120 Prütting, in: Prütting/Helms, FamFG, § 26 Rn. 11; Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 208. 121 Braun, Zivilprozeßrecht, S. 91 f. spricht von einem gleitenden Übergang. 122 Siehe oben S. 263 f. 117 118
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sammenhang der Begriff der abstrakten Darlegungslast. Vor dem Hintergrund des Untersuchungsgrundsatzes muss man in diesem Zusammenhang die Reich‑ weite etwaiger Mitwirkungspflichten ansprechen (siehe unten cc)). Die folgen‑ den Ausführen versuchen zunächst ein rechtspolitisches Anforderungsprofil zu skizzieren, das auf allgemeinen Erwägungen zur Vergleichskontrolle im kollek‑ tiven Rechtsschutz aufbaut. Ob sich dieses auch de lege lata im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage umsetzen ließe, soll erst anschließend erörtert werden (siehe unten dd)).
bb) Die Berechtigung des Gerichts, die Begründung der Parteien zu hinterfragen (1) Anpassungen an die Sondersituation der Vergleichsgenehmigung In Reinform werden weder der Beibringungsgrundsatz noch die Untersuchungs‑ maxime den sehr spezifischen Anforderungen gerecht, vor die die Kontrolle von Vergleichen das Gericht stellt. Wenn man den Beibringungsgrundsatz in der Form, in der er in der ZPO zum Ausdruck kommt, konsequent anwendete, müsste das Gericht solche Tatsachen, die zwischen den Parteien unstreitig sind, als gegeben hinnehmen. Zudem könnte es seiner Entscheidung keine Informa‑ tionen zugrunde legen, die die Parteien nicht vorgetragen oder sich zumindest zu eigen gemacht haben. Aus anderen Quellen dürfte es nicht einmal Zweifel am Parteivortrag herleiten, soweit man von allgemein- oder gerichtskundigen Tatsachen im Sinne von § 291 ZPO absieht. Eine Beweisaufnahme über ein Ele‑ ment der Begründung wäre praktisch nur unter der Voraussetzung denkbar, dass man die kritische Stellungnahme eines Beigeladenen dahingehend wertete, dass sie insofern dem Bestreiten des Parteivortrags gleichkommt. Dagegen spricht aber im Rahmen des KapMuG schon der Wortlaut von § 18 Abs. 1 KapMuG, in dem von einer „Berücksichtigung […] des Ergebnisses der Anhörung der Beigeladenen“ die Rede ist. Damit versteht das KapMuG die Äußerungen der Beigeladenen zumindest terminologisch nicht im Sinne einer Wechselwirkung des Behauptens und Bestreitens.123 Wenn man die Begründung der Parteien nur im Wege einer solchen Wechselwirkung hinterfragen könnte, würde die rich‑ terliche Kontrollfunktion im Übrigen – zumindest teilweise – zu einem Annex der Äußerungsrechte der Beigeladenen. Das ist bedenklich, da sie die Beige‑ ladenen gerade vor negativen Auswirkungen ihrer eigenen Inaktivität schützen soll, zumal wenn man der Überlegung folgt, dass sie es ist, die die opt out-Ge‑ staltung eines Vergleichs im KapMuG erst rechtfertigt.124 §§ 142 ff. ZPO helfen 123 Die dogmatische Einordnung der Stellungnahmen der Beigeladenen stellt dementspre‑ chend eine Herausforderung für eine Lösung dar, die auf den Beibringungsgrundsatz beruht. An dieser Stelle muss man ihn zwangsläufig durchbrechen, damit mögliche tatsachenbezogene Äußerungen nicht ins Leere laufen. 124 Siehe oben S. 56 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
in dieser Situation hingegen nicht weiter, da sie voraussetzen, dass die zu be‑ weisende Tatsache streitig ist.125 Bei der Musterfeststellungsklage fehlt bereits ein gesetzlich normiertes Beteiligungsrecht der Verbraucher, die ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse angemeldet haben. Daraus kann man schließen, dass für sie die Rolle als Gegenpartei nicht vorgesehen ist. Nachdem sich die Parteien geeinigt haben, fällt mit ihrem Gegensatz die wesentliche Prämisse des Beibringungsgrundsatzes126 weg, dass die Wechsel‑ wirkung der Parteiegoismen zur Aufklärung des Sachverhalts führt. Die Inte‑ ressen der Gruppenmitglieder würden nicht zuverlässig gewahrt, wenn man den Parteien die Bestimmungsmacht über eine formelle Wahrheit zubilligte, die als Ausgangspunkt für die Genehmigungsentscheidung fungiert. Zwar bedeu‑ tet die Anwendung des Beibringungsgrundsatzes nicht zwangsläufig, dass ein fehlerhafter Sachverhalt zugrunde gelegt wird, zumal das Gericht – auch ab‑ hängig von den Substantiierungsanforderungen – weiterhin die Schlüssigkeit und innere Stimmigkeit einer Begründung würdigen kann. Nur selten werden die Parteien überhaupt in der Lage sein, dem Gericht einen Sachverhalt zu prä‑ sentieren, der in entscheidenden Punkten auf Annahmen beruht, die von der Realität abweichen, aber dennoch in sich stimmig ist. Dennoch zielt das Geneh‑ migungserfordernis gerade auf diese pathologischen Fälle ab. An dieser Stelle kann man zudem den Gedanken berücksichtigen, dass der Beibringungsgrund‑ satz letztlich an eine materiellrechtliche Dispositionsbefugnis der Parteien an‑ knüpft.127 Über diese verfügen sie im Hinblick auf einen Vergleich, der infolge seiner bindenden Wirkung die Interessen der Gruppenmitglieder berührt, an‑ gesichts des Genehmigungserfordernisses aber gerade nicht. Zumindest ohne starke Modifikationen bietet das Standardmodell der ZPO daher keine sach‑ gerechte Lösung für die Sondersituation der gerichtlichen Kontrolle eines Ver‑ gleichs. Eine noch größere Bedeutung kommt diesem Problem im Rahmen der Musterfeststellungsklage zu, die bei der Genehmigung eines Vergleichs noch nicht einmal eine nicht-kontradiktorische Beteiligungsmöglichkeit für die An‑ melder vorsieht. Ein Gericht würde dagegen über ein Höchstmaß an Freiheiten bei der Er‑ mittlung des Sachverhalts verfügen, wenn anstatt des Beibringungsgrundsatzes die Untersuchungsmaxime gelten würde. Unter ihrer Herrschaft ist das Gericht nicht an das Vorbringen der Parteien gebunden.128 Allerdings impliziert sie umgekehrt, dass es dafür verantwortlich ist, die Entscheidungsgrundlage voll‑ ständig zu erfassen und dazu sämtliche erheblichen Tatsachen zu ermitteln,129 also „die Gesamtheit aller Tatsachen, die das Gericht als gegeben zugrunde 125 Vgl.
Greger, in: Zöller, ZPO, § 142 Rn. 1. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 77 Rn. 3. 127 Vgl. Rauscher, in: MüKoZPO, Einl. Rn. 329. 128 Sternal, in: Keidel, FamFG, § 26 Rn. 14. 129 Prütting, in: Prütting/Helms, FamFG, § 26 Rn. 22. 126 Vgl.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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legen muss, um seine Entscheidung über den Verfahrensgegenstand zu tref‑ fen.“130 Die erweiterten Kompetenzen des Gerichts gehen demnach mit einer Ausweitung seiner Pflichten einher. Zwar werden diese durch die korrespondie‑ renden Mitwirkungspflichten der Parteien teilweise relativiert. So besteht etwa im FamFG keine gerichtliche Ermittlungspflicht im Hinblick auf Tatsachen, von denen erwartet werden kann, dass der Antragsteller sie vorbringt.131 Wenn die Parteien ihren Mitwirkungspflichten gemäß § 27 FamFG nicht nachkommen, muss das Gericht dies ebenfalls nicht durch eigenständige Sachverhaltsaufklä‑ rung ausgleichen.132 Das Gericht muss auch nicht sämtlichen nur theoretisch denkbaren Ansätzen nachgehen. Insbesondere „Ermittlungen ins Blaue hinein“ sind nicht geboten.133 Dennoch verbleibt ein erhebliches Anforderungsprofil an das Gericht, wenn der Untersuchungsgrundsatz gilt. Grundsätzlich setzt er vo‑ raus, dass nicht die Parteien dafür verantwortlich sind, die Tatsachen beizusteu‑ ern, die ihren Antrag untermauern, sondern das Gericht.134 Wenn man die gerichtliche Kontrolle eines Vergleichs als Schutzinstrument zugunsten der Gruppenmitglieder versteht,135 besteht aber kein Bedürfnis da‑ nach, dass das Gericht von sich aus nach Gründen sucht, die die Genehmigung eines Vergleichs rechtfertigen. Es sollte entsprechend der amerikanischen und niederländischen Lösung vielmehr die Aufgabe der Parteien sein, dem Gericht die erforderlichen Tatsachen vorzutragen, die noch nicht Teil des Sach- und Streitstands geworden sind, um das Gericht von ihrem Vergleich zu überzeugen. Ob das Gericht ohne die Mitwirkung der Parteien überhaupt in der Lage wäre, die für die Genehmigungsentscheidung erforderlichen Informationen zu be‑ schaffen, ist fragwürdig. Gerade die tatsächlichen Hintergründe, die die Partei‑ en dazu bewogen haben, den jeweils vorliegenden Vergleich zu schließen, las‑ sen sich aus einer externen Perspektive vielfach nicht erschließen. Die Parteien könnten hierzu demgegenüber einiges sagen. Es bedürfte daher auch bei Gel‑ tung des Untersuchungsgrundsatzes extensiver Mitwirkungspflichten für die Parteien – konsequenterweise wäre die Begründung des Vergleichs der Inhalt einer solchen Mitwirkungspflicht. Nur jenseits davon wäre das Gericht selbst dafür zuständig, die für die Genehmigungsentscheidung maßgeblichen Tatsa‑ chen zu ermitteln. Aus einer systematischen Perspektive fragt es sich zudem, ob es vertretbar ist, die Rolle des Richters bei der Kontrolle von Vergleichen grundlegend anders auszugestalten als im streitigen Teil des Musterverfahrens. Die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nach dem Muster von § 26 FamFG würde für das KapMuG und die Musterfeststellungsklage, die in § 11 Abs. 1 S. 1 130 131
Prütting, in: Prütting/Helms, FamFG, § 26 Rn. 24. Gomille, in: Haußleiter, FamFG, § 27 Rn. 4. 132 Gomille, in: Haußleiter, FamFG, § 27 Rn. 5. 133 Prütting, in: Prütting/Helms, FamFG, § 26 Rn. 24. 134 Rauscher, in: MüKoZPO, Einl. Rn. 348. 135 Siehe oben S. 53 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
KapMuG beziehungsweise in § 610 Abs. 5 S. 1 ZPO auf die allgemeinen Re‑ gelungen der ZPO verweisen, jedenfalls einen erklärungsbedürftigen System‑ bruch bedeuten. Zusammengefasst bedeutet das aus rechtspolitischer Perspektive: Im Kon‑ text der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen ist der wesentliche Nach‑ teil einer Umsetzung des Beibringungsgrundsatzes in Reinform, dass das Ge‑ richt übereinstimmenden Parteivortrag und damit die Tatsachengrundlage der Begründung eines Vergleichs nicht überprüfen könnte. Gegen eine unein‑ geschränkte Verwirklichung der Untersuchungsmaxime spricht, dass es sinn‑ vollerweise Aufgabe der Parteien und nicht des Gerichts sein sollte, Tatsachen vorzutragen, die für die Genehmigung eines Vergleichs sprechen. Auch wenn die Regelungen und die Praxis der class action und des WCAM nicht frei von kritikwürdigen Aspekten sind, zeigen sie zumindest eine Richtung auf, an der sich eine deutsche Lösung orientieren sollte. Sie sehen jeweils ein Verfahren vor, in dem es einerseits den Parteien obliegt, einen Vergleich zu begründen, das Gericht diese Begründung andererseits aber wenn nötig verifizieren kann. Für das deutsche Recht lässt sich das folgende Anforderungsprofil formulieren: Das Gericht sollte einerseits in der Lage sein, die Genehmigung abzulehnen, wenn ihm die Parteien keine hinreichende Grundlage – wobei noch zu klären ist, wel‑ che Anforderungen an eine solche hinreichende Grundlage zu stellen sind136 – für die Überprüfung des Vergleichs zur Verfügung stellen, ohne verpflichtet zu sein, zuvor aufwendige Ermittlungen von Amts wegen vorzunehmen. Anderer‑ seits sollte es die Begründung der Parteien effektiv hinterfragen können und über Instrumente verfügen, um gegebenenfalls Einzelfragen zu klären.
(2) Ansätze zu einer Modifikation des Beibringungs- und des Untersuchungsgrundsatzes Unabhängig davon, ob man den Beibringungs- oder den Untersuchungsgrund‑ satz zum Ausgangspunkt nimmt, müssen diese an die spezifischen Anforderun‑ gen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen angepasst werden. Im End‑ effekt bedarf es einer Gestaltung, die Elemente beider Grundsätze kombiniert. Wenn man den Beibringungsgrundsatz zum Ausgangspunkt nimmt, bietet § 56 Abs. 1 ZPO möglicherweise einen Orientierungspunkt für einen solchen hy‑ briden Lösungsansatz.137 Nach dieser Norm prüft das Gericht bestimmte Pro‑ zessvoraussetzungen von Amts wegen. Die Literatur betont dabei den Unter‑ schied zu der nach dem Untersuchungsgrundsatz gebotenen Amtsermittlung.138 136 Siehe dazu i. E. noch unten S. 295 ff. 137 Zur hybriden Natur von § 56 Abs. 1
ZPO vgl. Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 192; Engelmann-Pilger, NJW 2005, 716; Oda, ZZP 110 (1997), 111, 115. 138 Vgl. Hartmann, in: BLAH, § 56 Rn. 6 und Grdz § 128 Rn. 39; Gehrlein, in: Prütting/ Gehrlein, § 56 Rn. 2; Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 198; Jacoby, in: Stein/Jonas, ZPO, § 56 Rn. 5; Althammer, in: Zöller, ZPO, § 56 Rn. 4; Engelmann-Pilger, NJW 2005, 716;
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Die Prüfung von Amts wegen baue vielmehr auf dem Beibringungsgrundsatz auf. Das Gericht wird nur dann von sich aus tätig, wenn konkrete Verdachts‑ momente bestehen, die nahelegen, dass eine der erfassten Prozessvoraussetzun‑ gen nicht vorliegt.139 Im Hinblick auf die Frage, inwiefern das Gericht über den Parteivortrag hinausgehen kann, sind Rechtsprechung und Literatur aber nicht eindeutig. Zwar heißt es allgemein, dass die Bedenken des Gerichts nicht auf Parteibehauptungen beruhen müssten.140 Im Hinblick auf die fehlende Prozess‑ fähigkeit einer Partei kommt insofern etwa die persönliche Wahrnehmung des Verhaltens dieser Partei durch den Richter in Betracht. Ob damit lediglich ge‑ meint ist, dass das Gericht eine solche nicht näher spezifizierte andere Wahrneh‑ mung zum Anlass für einen Hinweis gemäß § 139 Abs. 3 ZPO nehmen muss, oder ob es in diesem Fall vielmehr berechtigt sein soll, von sich aus neue Tatsa‑ chen einzuführen, um eine vertiefte Prüfung einzuleiten, die dann im Wege der Beweiserhebung erfolgt, ist indessen umstritten. Kern geht am weitesten und meint, dem Gericht sei es „gestattet, für die Unzulässigkeit sprechende Tatsa‑ chen einzuführen.“141 Die Gegenmeinung stellt lapidar fest, dass der Beibrin‑ gungsgrundsatz gelte und dem Gericht lediglich besondere Hinweispflichten gemäß § 139 Abs. 3 ZPO auferlegt würden.142 Die maßgeblichen tatsächlichen Umstände müsse das Gericht dem Parteivortrag entnehmen, soweit sie nicht nach § 291 ZPO offenkundig sind.143 Bedenken, auf die der Richter gemäß § 139 Abs. 3 ZPO aufmerksam zu machen habe, müssten zwar nicht auf Par‑ teibehauptungen beruhen. Durch einen Hinweis könne das Gericht aber nicht weitere Tatsachen in das Verfahren einführen.144 Für die Zwecke der Kontrolle von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz kann lediglich der Ansatz von Kern Vorbildfunktion haben. Das Gericht muss in der Lage sein, Tatsachen einzuführen, die gegen die Genehmigung eines Ver‑ Oda, ZZP 110 (1997), 111, 114. Bei der Prüfung der Prozessfähigkeit nähert sich die Rspr. hin‑ gegen stark dem Untersuchungsgrundsatz an und verlangt, dass das Gericht im Rahmen einer Beweiserhebung von Amts wegen von sich aus sämtliche erschließbaren Erkenntnisquellen er‑ schöpfen muss, vgl. BGH, Urt. v. 4. 11. 1999, Az.: III ZR 306/98, BGHZ 143, 122, 124; BGH, Beschl. v. 9. 11. 2010, Az.: VI ZR 249/09, NJW‑RR 2011, 284; kritisch dazu Kern, in: Stein/ Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 202. 139 BGH, Urt. v. 4. 11. 1999, Az.: III ZR 306/98, BGHZ 143, 122, 124; BGH, Urt. v. 4. 05. 2004, Az.: XI ZR 40/03, NJW 2004, 2523, 2524; Prütting/Gehrlein/Gehrlein, § 56 Rn. 2; Thomas/Putzo/Hüßtege, § 56 Rn. 1; Jacoby, in: Stein/Jonas, ZPO, § 56 Rn. 5; Assmann, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Vor § 253 Rn. 162; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 44 Rn. 32. 140 Rauscher, in: MüKoZPO, Einl. Rn. 351; Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 198; Assmann, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Vor § 253 Rn. 162. 141 Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 198. 142 Greger, in: Zöller, ZPO, vor §§ 128–252 Rn. 12. Ähnlich Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, S. 150 (allein die Parteien bestimmen über den Umfang des beweiserheblichen Prozessstoffs). 143 Hartmann, in: BLAH, Grdz § 128 Rn. 39; Rauscher, in: MüKoZPO, Einl. Rn. 351; Gre‑ ger, in: Zöller, ZPO, vor §§ 128–252 Rn. 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 77 Rn. 49. 144 Rauscher, in: MüKoZPO, Einl. Rn. 351.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
gleichs sprechen, ohne dabei auf die Kooperation der Parteien angewiesen zu sein. Die Möglichkeit, eine Ergänzung der Begründung zu verlangen, ist zwar für sich genommen in vielen Situationen wertvoll. Sie hilft aber nicht weiter, wenn die Begründung der Parteien im Einzelfall wichtige Gesichtspunkte außer Acht lässt, ohne dass sie deswegen bereits in sich unstimmig oder unschlüssig wäre. Sie liefe insbesondere dann ins Leere, wenn die Parteien diese Gesichts‑ punkte selbst nicht kennen. In der Folge stellt sich indessen die Frage, aus wel‑ chen Quellen das Gericht im Einzelfall überhaupt konkrete Zweifel ableiten kann, wenn nicht aus dem Parteivortrag selbst. Beim KapMuG kommen inso‑ fern die Stellungnahmen der Beigeladenen in Betracht; bei der Musterfeststel‑ lungsklage sind Beiträge der Gruppenmitglieder dagegen nicht vorgesehen, so dass das Gericht allenfalls informelle Äußerungen von ihnen oder von Dritten als Anregung für seine Prüfung verwerten könnte. Dennoch wäre es im Hin‑ blick auf den Schutz der Interessen der Gruppenmitglieder kontraproduktiv, dem Gericht mit Verweis auf das prozessuale Maximendenken die Kompetenz abzusprechen den Parteivortrag zu hinterfragen. Es gilt wiederum die Über‑ legung, dass die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen auf die pathologischen Fälle abzielt – ganz gleich, wie selten diese sein mögen. Setzt man quasi auf der anderen Seite an und versucht vom Untersuchungs‑ grundsatz ausgehend eine Lösung zu finden, kommt man im Ergebnis zu einer ähnlichen Gestaltung. Hier wird man einen Akzent auf die Mitwirkungspflich‑ ten der Parteien legen müssen und die eigenständige Erweiterung des Verfah‑ rensstoffs durch das Gericht demgegenüber auf ein Minimum beschränken müssen. Wie bereits ausgeführt wurde, bieten auch die Regelungen zum Unter‑ suchungsgrundsatz im geltenden Recht, die als Vorbild dienen könnten, erheb‑ liche Flexibilität hinsichtlich der Intensität der Ermittlungen, die dem Gericht abverlangt werden.145 Letztlich lässt sich eine sachgerechte Lösung auf der Ebene der Frage, ob das Gericht eine Begründung der Parteien in tatsächlicher Hinsicht hinterfragen kann, nicht eindeutig auf den einen oder anderen Grundsatz stützen. Wichtiger ist, dass sie den spezifischen Anforderungen der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs in einer Situation gerecht wird, in der man sich weder auf einen Par‑ teiengegensatz noch auf die eigenständige Ermittlungskompetenz des Gerichts verlassen kann. Dies kann am besten durch eine hybride Lösung gewährleistet werden. Die Frage, ob der Beibringungs- oder der Untersuchungsgrundsatz für diese stilbildend ist, kann daher an dieser Stelle offen gelassen werden. Es ist sinnvoller, die konkreten Anforderungen zu formulieren, die ein sachgerechter Ansatz erfüllen muss, anstatt die Geltung eines bestimmten Grundsatzes zu pos‑ tulieren und sodann einen Lösungsansatz in seinen Rahmen zu zwängen. 145
Siehe oben S. 290 f.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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cc) Anforderungen an eine aussagekräftige Begründung in Abwesenheit eines Parteiengegensatzes Unabhängig davon, ob ein Lösungsansatz systematisch an den Beibringungs‑ grundsatz oder an die Inquisitionsmaxime anknüpft, muss er sich mit der Frage beschäftigen, ob bestimmte Anforderungen an die Begründung des Vergleichs durch die Parteien gestellt werden sollen, deren Nichterfüllung ohne weitere Prüfung die Ablehnung der Genehmigung nach sich zieht. Im Rahmen des Bei‑ bringungsgrundsatzes stellt sie sich im Zusammenhang mit dem Begriff der abstrakten Behauptungslast; fraglich ist, in welchem Maße die Parteien ihre Begründung substantiieren müssen. Wenn die Inquisitionsmaxime gilt, existiert hingegen keine Behauptungslast für die Parteien.146 Es muss stattdessen geklärt werden, in welchem Umfang die Parteien Mitwirkungspflichten – entsprechend denjenigen gemäß § 27 FamFG – treffen und welche Folgen es hat, wenn sie ihnen nicht genügen. Der Begriff der Behauptungs- oder Darlegungslast bezeichnet im Zusammen‑ hang mit dem Beibringungsgrundsatz die Last der Parteien eines Rechtsstreits, konkrete Tatsachenbehauptungen aufzustellen, die die abstrakten Voraussetzun‑ gen der jeweils für sie günstigen Rechtssätze ausfüllen.147 Eine abstrakte Be‑ hauptungslast besteht dabei anders als eine konkrete Darlegungslast unabhän‑ gig von den Handlungen des Prozessgegners.148 Sie stellt in der Praxis eines gewöhnlichen Zweiparteienprozesses regelmäßig keine schwer zu nehmende Hürde dar.149 Stürner sieht ihren – einzigen – Zweck darin, im Wege einer Plau‑ sibilitätskontrolle eine missbräuchliche Verfahrenseinleitung zu verhindern.150 Dieser Gedanke kann im Zusammenhang mit der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs indessen nicht fruchtbar gemacht werden. Stattdessen stellt sich hier die Frage, welches Mindestmaß an Informationen das Gericht benötigt, um in die Prüfung des Vergleichs einzutreten und – wenn man dies zulässt – nötigen‑ falls von Amts wegen Beweise zu erheben.151 Umgekehrt könnte das Gericht die Genehmigung ohne weitere Prüfung verweigern, wenn ihm diese Informationen von den Parteien nicht zur Verfügung gestellt werden. Den Ausgangspunkt für die Beurteilung dieses Problems bildet der Umstand, dass die Kriterien, anhand derer ein Gericht die Genehmigungsfähigkeit eines Vergleichs überprüft152 über‑ wiegend sehr abstrakt gefasst sind. Viele von ihnen, insbesondere das zentrale 146 Prütting, in: Prütting/Helms, FamFG, § 26 147 Hdb.‑Beweislast/Laumen, Kap. 9 Rn. 57.
Rn. 13.
148 Hdb.‑Beweislast/Laumen, Kap. 9 Rn. 59. 149 Vgl. Hdb.‑Beweislast/Laumen, Kap. 9 Rn. 64. 150
Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 116 f. Vgl. dazu im Kontext eines normalen – streitigen – Zivilprozesses Brehm, Bindung des Richters an den Parteivortrag, S. 114, der ausführt, dass das „Informationssystem der ZPO“, nach dem „der Sachverhalt durch das Wechselspiel von Behauptungen und Erklärungen kon‑ stituiert werden soll“ einen „Zwang zur nüchternen Tatsachenschilderung“ gebiete. 152 Siehe dazu eingehend oben § 6. 151
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Kriterium der Erfolgsaussichten oder auch die Beurteilung der Fairness der Ver‑ gleichsverhandlungen erfordern komplexe Wertungsentscheidungen, die nicht unmittelbar einem Beweis zugänglich sind. Es wäre in prozessökonomischer Sicht inakzeptabel und widerspräche auch dem Grundgedanken des Beibrin‑ gungsgrundsatzes, wenn man es genügen ließe, dass die Parteien pauschal vor‑ trügen, dass die nötigen Voraussetzungen vorlägen – denn das hieße, vom Ge‑ richt zu verlangen, dass es sich auf der Basis einer allgemeinen Behauptung im Wege einer Beweiserhebung oder sogar einer Kette von Beweiserhebungen an die für eine Wertungsentscheidung maßgeblichen Tatsachen herantastet. Auch deswegen, weil Beweiserhebungen aufwendig und daher nur schlecht mit dem Sinn und Zweck eines Vergleichs vereinbar sind, ist es geboten, dass die Parteien dem Gericht zunächst eine detaillierte Vorstellung von ihrer Sicht der Sachlage verschaffen. Möglicherweise scheitert die Genehmigung schon daran, dass die Parteien bestimmte Aspekte des Vergleichs und seiner Hintergründe nicht plau‑ sibel erklären können. Die Praxis des amerikanischen Rechts bietet Anschau‑ ungsmaterial, welche Informationen in gegenständlicher Hinsicht erforderlich sein können.153 Wenn das Gericht im Interesse der Gruppenmitglieder den Nach‑ teil des fehlenden Parteiengegensatzes ausgleichen soll, muss es über eine Mög‑ lichkeit verfügen, sein strukturelles Informationsdefizit gegenüber den Parteien abzubauen, die den Vergleich geschlossen haben. Insofern wird man aufgrund der Besonderheiten der Genehmigung eines Vergleichs im kollektiven Rechts‑ schutz weit über die üblichen Anforderungen154 der abstrakten Behauptungs‑ last hinausgehen müssen. Die Begründung durch die Parteien soll dem Gericht gerade dann helfen, einen Vergleich zu beurteilen, wenn die Gruppenmitglieder nicht oder nicht in hinreichendem Maße die Rolle eines Korrektivs einnehmen. Geheimhaltungsinteressen könnte in Anlehnung an die Lösung, die bei der class action im Hinblick auf Nebenabreden praktiziert wird,155 etwa dadurch Rech‑ nung getragen werden, dass zunächst nur eine oberflächliche Schilderung ver‑ langt wird, die bei entsprechenden Anhaltspunkten zu vertiefen ist. Auf dieser Grundlage kann das Gericht sodann die weiteren Schritte planen. Dass es nicht allein anhand eines allgemein gefassten und in Abwesenheit von Einwendun‑ gen quasi-unstreitigen Parteivortrags in der Sache entscheiden kann, versteht sich angesichts der Schutzfunktion seiner Kontrollaufgabe dagegen von selbst. Auf Basis des Untersuchungsgrundsatzes kann man zu einer im Ergebnis nahezu identischen Gestaltung kommen, wenn man umfassende Mitwirkungs‑ pflichten statuiert und bei deren Nichterfüllung von einer Pflicht des Gerichts zu weiteren Ermittlungen absieht.156 Auf diese Weise könnte im Falle einer un‑ zureichenden Begründung eine Beweislastentscheidung zulasten der die Ge‑ 153 154
Siehe oben S. 270 ff. Vgl. zu diesen Hdb.‑Beweislast/Laumen, Kap. 9 Rn. 78 ff. m. w. N. 155 Siehe oben S. 273. 156 Vgl. allg. zu dieser Möglichkeit Gomille, in: Haußleiter, FamFG, § 27 Rn. 4, 5.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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nehmigung des Vergleichs begehrenden Parteien ergehen. Allerdings entfernt sich eine solche Lösung erheblich von den Grundgedanken der Inquisitions‑ maxime. Sie läuft praktisch darauf hinaus, dass im Regelfall ein durch eine verschärfte Behauptungslast modifizierter Beibringungsgrundsatz Anwendung findet. Auf der Ebene der Bereitstellung des Streitstoffs stellt die Befugnis des Gerichts, eigeninitiativ tätig zu werden und Zweifeln nachzugehen eher eine Reservekompetenz dar, die ihm ersparen soll, eine objektiv falsche Entschei‑ dung zu fällen, denn als das leitende Prinzip seines Erkenntnisprozesses. Dass das Gericht darüber hinaus von sich aus – wohl im Wege einer Beweisaufnah‑ me – aktiv nach Mängeln sucht, für die es anhand des bisherigen Streitstoffs und der Begründung der Parteien keine Anhaltspunkte gibt, gebietet zwar auch der Untersuchungsgrundsatz in Reinform nicht.157 Wenn man ein stark aus‑ differenziertes Begründungserfordernis annimmt und dieses im Sinne einer Darlegungslast – und nicht einer Darlegungspflicht, deren Verletzung weitere richterliche Ermittlungen nicht ausschließt – deutet, verschiebt sich der Akzent jedoch auf den Beitrag der Parteien. Aus diesem Grund erscheint es vorzugs‑ würdig, den Beibringungsgrundsatz zum Ausgangspunkt für den hier vorfolg‑ ten Lösungsansatz zu nehmen. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass es sich vor allem um eine rhetorische Weichenstellung handelt. Faktisch läuft es auf eine hybride Gestaltung hinaus, die Elemente des Beibringungsgrundsatzes mit solchen der Untersuchungsmaxime vereint.
dd) Die Umsetzung des vorgeschlagenen Lösungsansatzes Der vorgestellte hybride Ansatz entfernt sich erheblich von den Gegebenheiten eines gewöhnlichen Zweiparteienprozesses. Es fragt sich daher, ob er im Wege der Rechtsfortbildung implementiert werden könnte, oder ob es erforderlich ist, dass der Gesetzgeber eingreift.158 Aus §§ 17, 18 KapMuG oder § 611 ZPO lässt sich eine solche Abweichung von den Grundsätzen des Zivilprozessrechts je‑ denfalls nicht unmittelbar ableiten. Andererseits sprechen § 11 Abs. 1 S. 1 Kap‑ MuG und § 610 Abs. 5 S. 1 ZPO nicht zwingend gegen eine Rechtsfortbildung, denn in der ZPO ist die Verhandlungsmaxime nirgendwo unmittelbar normativ vertypt. Da sich der Gesetzgeber ersichtlich nicht mit der Frage befasst hat, wie andere Erkenntnisquellen als der bisherige Sach- und Streitstand des Musterver‑ fahrens in die Entscheidung des Gerichts einbezogen werden können, erscheint es angemessen, eine Regelungslücke anzunehmen. Nach Kern bedarf es aber „ganz besonderer, zwingender Gründe, um auch in gesetzlich nicht ausdrücklich der Untersuchungsmaxime unterstellten Verfahren von der Verhandlungsmaxi‑ me abzuweichen.“159 Solche Gründe liegen hier vor. Ohne einen Parteiengegen‑ 157
Siehe oben S. 287. Reformbedarf sieht etwa von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 429. 159 Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 211. 158
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
satz läuft der Beibringungsgrundsatz ins Leere. Dass eine Tatsache zwischen den Parteien unstreitig ist, hat keinen Aussagegehalt, wenn es um die Frage geht, ob das Verhalten der Parteien möglicherweise die Gruppenmitglieder schädigt, von diesen aber nicht erwartet werden kann, dass sie sich selbst äußern und auf die Mängel des Tatsachenvortrags der Parteien hinweisen. Als systematischen Ansatzpunkt ist zudem eine – freilich sehr weite – Analo‑ gie zu § 56 Abs. 1 ZPO in Betracht zu ziehen. Das Problem hierbei ist, dass diese Norm mit den in ihr enumerativ aufgezählten Prozessvoraussetzungen sehr spe‑ zifische Konstellationen betrifft. Allgemein soll der Amtsermittlungsgrundsatz nur für prozessuale Fragen in Betracht kommen.160 Die Einordnung der Geneh‑ migung eines Vergleichs fällt hier nicht leicht, zumal wenn man dessen Bin‑ dungswirkung materiellrechtlich verstehen will.161 § 56 Abs. 1 ZPO kann man wohl allenfalls als Orientierungspunkt verstehen, nicht aber als eine Vorlage, die für die Kontrolle eines Vergleichs unmittelbar übernommen werden kann. Im Folgenden muss noch untersucht werden, ob im Zusammenhang mit der Genehmigungsentscheidung Beweise erhoben werden können. Zudem gilt es zu klären, wie sich die Möglichkeit Einwendungen zu erheben in den Kontext des vorgestellten hybriden Ansatzes zur Stoffsammlung einpassen lässt162 und welche Optionen einem Gericht zur Verfügung stehen, die Behauptungslast der Parteien effektiv zu nutzen, um sich eine geeignete Erkenntnisgrundlage zu ver‑ schaffen.163 Die Frage nach den Maßstäben der Darlegungslast wird in § 8 die‑ ser Untersuchung aufgegriffen werden.
e) Verifizierung der Begründung durch Erhebung von Beweisen Auch im Hinblick auf die Beweiserhebung sollte der vorgestellte hybride Ansatz weiterverfolgt werden. Wenn man diesen als näher am Beibringungsgrundsatz als an der Untersuchungsmaxime stehend einordnet, erscheint es konsequent, den Parteien grundsätzlich die subjektive Beweisführungslast aufzuerlegen, so‑ weit die Genehmigung nur erteilt werden kann, wenn zuvor bestimmte Tatsa‑ chen aufgeklärt werden. Es ist diskussionswürdig, ob man in diesem Zusam‑ menhang die Glaubhaftmachung genügen lassen sollte. Zweifeln im Hinblick auf die Genehmigungsfähigkeit, für die es konkrete Anhaltspunkte gibt, soll‑ te das Gericht hingegen in Anlehnung an § 56 Abs. 1 ZPO von Amts wegen nachgehen, wenn sie im Zusammenhang mit ergänzenden Tatsachen stehen, auf die sich die Begründung der Parteien nicht bezieht und es nicht sinnvoll er‑ scheint, von diesen zunächst eine Ergänzung ihres Vortrags zu verlangen. Im Hinblick auf die Konstante, dass es im Hinblick auf die Begründung des Ver‑ 160 161
Kern, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 196. Siehe oben S. 86. 162 Siehe dazu i. E. unten S. 326 ff. 163 Siehe dazu i. E. unten S. 337 ff.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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gleichs keinen Parteiengegensatz gibt, muss von den üblichen Gegebenheiten eines Zivilprozesses abgewichen und eine Beweiserhebung zugelassen werden, ohne dass eine Tatsache zwischen den Parteien streitig ist. Darüber hinaus ist in Erwägung zu ziehen, inwiefern dem Gericht ein Ermessen hinsichtlich der Frage eingeräumt werden kann, über welche Tatsachen überhaupt Beweis er‑ hoben wird. Dass die Filterfunktion des Parteiengegensatzes fehlt, sollte nicht zu dem in verfahrensökonomischer Sicht impraktikablen Ergebnis führen, dass über sämtliche Tatsachenfragen, die sich im Zusammenhang mit einem Ver‑ gleich stellen, Beweis erhoben werden muss. Stattdessen erscheint es angemes‑ sen, dass eine Beweiserhebung nur dann stattfindet, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine tatsächliche Annahme oder Behauptung der Parteien nicht der Realität entspricht. In diesem Zusammenhang muss noch geklärt werden, ob in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 56 Abs. 1 ZPO das Freibeweisver‑ fahren zuzulassen ist.
f) Offenlegung von Nebenvereinbarungen Damit sich das Gericht ein umfassendes Bild von den Vereinbarungen zwischen den Parteien machen kann, ist es auch in Deutschland wünschenswert, dass die Parteien eventuelle Nebenabreden offenlegen, die zwar im Zusammenhang mit dem Vergleich stehen, aber in separaten Dokumenten niedergelegt wurden.164 Auch dies ließe sich über die Darlegungslast gewährleisten, wenn man voraus‑ setzt, dass eine Begründung des Vergleichs, die nicht darauf eingeht, ob Neben‑ vereinbarungen existieren und welchen Inhalt sie gegebenenfalls haben, nicht hinreichend substantiiert ist. Vorzugswürdig wäre allerdings eine gesetzliche Regelung, die den Parteien klar aufzeigt, welche Anforderungen insofern an sie gestellt werden. Das gilt vor allem dann, wenn man von den Parteien als forma‑ les Wirksamkeitserfordernis für den Vergleich eine Erklärung verlangen will, ob Nebenabreden bestehen.165
g) Zulässigkeit einer mündlichen Verhandlung über die Genehmigungsentscheidung Für die Beschlüsse gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG und § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG gilt verweist § 11 Abs. 1 S. 1 KapMuG auf § 128 Abs. 4 ZPO, sodass es jeweils im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegt, ob es eine mündliche Verhand‑ lung terminiert.166 Maßgeblich ist insofern nach den allgemeinen Grundsätzen 164 Vgl. auch von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 428. 165 Ein solches Erfordernis schlägt von Katte, Der Vergleich
im KapMuG, S. 424 als ein Kriterium für die Genehmigungsentscheidung vor. 166 Diese durch Beschluss zu treffende Entscheidung des Gerichts für oder gegen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann nicht mit einer Beschwerde angegriffen werden (Fritsche, in: MüKoZPO, § 128 Rn. 18; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, § 128 Rn. 25).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
etwa, ob dieses Vorgehen ausnahmsweise schneller und effizienter als ein rein schriftliches Verfahren zu sein verspricht oder ob das Gericht meint, eines per‑ sönlichen Eindrucks zu bedürfen.167 Das deckt sich mit dem allgemeinen Grund‑ satz, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht für die Gewährung des rechtlichen Gehörs keine bestimmte Verfahrensart oder Form vorgeschrieben ist.168 Für die Feststellung der Wirksamkeit des Vergleichs gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 KapMuG und § 611 Abs. 5 S. 2 ZPO wird dabei in der Regel keine mündliche Verhand‑ lung erforderlich sein, da sich diese Entscheidung lediglich eines formalen Kri‑ teriums bedient. Dagegen ist ein Anhörungstermin im Zusammenhang mit der Genehmigungsentscheidung gemäß § 18 Abs. 1 KapMuG und § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO vor allem dann sinnvoll, wenn im Rahmen der Genehmigungsentschei‑ dung neue Tatsachen und Beweismittel eingeführt werden.169 Insbesondere er‑ möglicht er es, der Berechtigung von Einwendungen nachzugehen. Micklitz und Stadler gehen über § 128 Abs. 4 ZPO hinaus und fordern im Rahmen ihres Vorschlags zu einem Verbandsklagerecht, dass im Zusammen‑ hang mit der richterlichen Genehmigung eines Vergleichs „aus Transparenz‑ gründen“ im Regelfall eine mündliche Verhandlung stattfindet.170 Für das KapMuG wird hingegen vertreten, dass Entscheidungen im Rahmen dieses Ge‑ setzes allgemein nach Aktenlage gefällt werden können.171 Das berücksichtigt jedoch möglicherweise nicht die besonderen Anforderungen bei der Geneh‑ migung eines Vergleichs. Die Frage nach der Erforderlichkeit einer Anhörung wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung im Zusammenhang mit der Mög‑ lichkeit von Einwendungen aufgegriffen werden.172 Mit Blick auf die Muster‑ feststellungsklage hält Röthemeyer es dann für sinnvoll einen Termin zu bestim‑ men, wenn das Gericht
4. Zusammenfassung Die untersuchten Rechtsordnungen unterscheiden sich im Hinblick auf die Aus‑ gestaltung des Zivilprozessrechts erheblich. Einen Rechtsvergleich steht zwar nicht auf tönernen, aber doch auf nicht ganz festen Füßen. Er muss berücksich‑ tigen, dass der Lösungsansatz einer Rechtsordnung möglicherweise auf Gege‑ Da § 18 Abs. 1 KapMuG Rechtsmittel gegen die Genehmigungsentscheidung ausschließt, ist diese endgültig – freilich unbeschadet der nur in Extremfällen aussichtsreichen Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. 167 Vgl. Fritsche, in: MüKoZPO, § 128 Rn. 18; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, § 128 Rn. 25. 168 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 77. EL Juli 2016, Art. 103 Abs. 1 Rn. 84; Waldner, Anspruch auf rechtliches Gehör, Rn. 125 jeweils m. w. N. 169 Ähnlich auch Röthemeyer, Musterfeststellungsklage, § 611 Rn. 28. 170 Micklitz/Stadler, Verbandsklagerecht, Bd. 3 Kap. 2 J, § 6 IV 3 (S. 1225) und Bd. 3 Kap. 2 D (S. 1230). 171 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 52. 172 Siehe unten S. 315 f.
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benheiten aufbaut, die einer anderen fremd sind. Sowohl das amerikanische als auch das niederländische und das deutsche Recht stehen jedoch auf einer abstrakten Ebene gleichermaßen vor dem Problem, gewährleisten zu müssen, dass die für die Genehmigungsentscheidung maßgeblichen Tatsachen effektiv, aber ohne übertriebenen Aufwand ermittelt werden. Dabei können sie anders als sonst in einem Zivilprozess nicht darauf setzen, dass der Gegensatz der Parteien den Erkenntnisprozess vorantreibt. Das amerikanische und das niederländische Recht setzen daher auf eine Begründungsobliegenheit der Parteien. Das deut‑ sche Recht rückt dagegen momentan den bisherigen Sach- und Streitstand in den Mittelpunkt. Tatsächlich wird es aber in vielen Fällen ebenfalls auf eine Be‑ gründung der Parteien angewiesen sein. Diesem Bedürfnis kann man zunächst überwiegend auch ohne Gesetzesänderungen durch verschärfte Anforderungen im Bereich der Darlegungslast begegnen. In Randbereichen ist es aber erforder‑ lich, dem Gericht eine Reservekompetenz zur Amtsermittlung zuzugestehen, damit es Zweifel an der Genehmigungsfähigkeit eines Vergleichs berücksich‑ tigen kann, die sich nicht aus dem Parteivortrag ableiten lassen, aber dem Ge‑ richt anderweitig bekannt werden. Es sollte nicht gezwungen sein, seiner Ent‑ scheidung infolge der Abwesenheit eines Parteiengegensatzes sehenden Auges einen Sachverhalt zugrundelegen zu müssen, von dem es zumindest befürchtet, dass er nicht den objektiven Gegebenheiten entspricht. Man sollte sich dabei von dem Gedanken einer Dichotomie von Beibringungs- und Untersuchungs‑ grundsatz lösen. Praktikable Ergebnisse verspricht vielmehr vor allem ein hybri‑ der Ansatz, der Elemente beider Grundsätze kombiniert. Damit nähert sich die hier vorgeschlagene Lösung im Ergebnis – wenn auch nicht im Hinblick auf die strukturellen Grundannahmen – stark dem amerikanischen Ansatz an. Es wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch zu analysieren sein, wie diese Lösung mit dem Recht Einwendungen einzureichen und den Möglichkeiten des Gerichts zur Steuerung des Verfahrens harmoniert. Die für das deutsche Recht kennzeichnende strikte Trennung zwischen dem ersten Schritt eines detaillierten Tatsachenvortrags und dem zweiten der Beweiserhebung führt dazu, dass ein systematisch stimmiger Ansatz ein erhebliches Komplexitätsniveau errreicht. Das amerikanische Recht entgeht diesen Schwierigkeiten hingegen von vor‑ herein, da es den Vortrag von Tatsachen und die Beweisführung, die beide in den Händen der Parteien liegen, nicht strikt voneinander trennt.173 In der Folge kann ein Gericht sehr flexibel auf die Anforderungen des jeweiligen Falls reagieren, ohne selbst inquisitiv tätig zu werden. Dabei ist vor allem die discovery ein er‑ heblicher Vorteil für das amerikanische Recht. Sie gibt zumindest tendenziell einen Anhaltspunkt, um sicherzustellen, dass die Parteien über eine angemesse‑ ne Fallkenntnis verfügen, wenn sie einen Vergleich schließen.174 Die Folge ist 173 174
Vgl. allg. Stürner, ZZP 123 (2010), 147, 157 f. Siehe dazu auch oben S. 256 f.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
freilich, dass sich ein Gericht in erheblichem Maße auf die Angaben der Anwälte einer class verlassen muss. Es wäre im Übrigen auch nicht in der Lage, durch eigene Ermittlungen eine ähnlich detaillierte Entscheidungsgrundlage zu gewin‑ nen, ohne den Gesichtspunkt der Prozessökonomie völlig zu vernachlässigen.175 Der niederländische Ansatz steht vor einem ähnlichen Problem. In Deutschland wird man im Ausgangspunkt ebenfalls davon ausgehen kön‑ nen, dass die Musterparteien sich nur vergleichen, wenn sie über ausreichendes Hintergrundwissen verfügen. Es ist jedoch schwer greifbar, wann genau sie hin‑ reichend informiert sind. Ihre Fallkenntnis kann weit über den bisherigen Sachund Streitstand hinausgehen. Es kann dem Gericht daher helfen, wenn die Par‑ teien ihren Vergleich begründen. So kann es zumindest im Ansatz erfahren, was diese wissen und ob es dafür spricht, dass sie beim Abschluss des Vergleichs eine hinreichend informierte Entscheidung getroffen haben. Eine pragmatische Lösung muss aber vor allem flexibel sein. Eine umfassende Begründung und erst recht eine aufwändige Beweiserhebung werden keinesfalls immer notwen‑ dig sein, insbesondere nicht bei späten Vergleichen. Entscheidend ist, dass ge‑ setzlichen Vorgaben so gefasst und ausgelegt werden, dass sie es dem Gericht erlauben verschiedene Konstellationen zu bewältigen, auch wenn diese bislang nicht im Einzelnen vorhergesehen werden können. Das Gesetz will den Schutz der Repräsentierten gewährleisten. Es dient weder dazu Vergleiche zu verhin‑ dern noch dazu sie unkritisch durchzuwinken, um die Gerichte zu entlasten.
III. Einwendungen der Mitglieder der repräsentierten Gruppe 1. Begriff und normative Grundlagen Wenn die Parteien ihre Gegensätze mit einem Vergleich beilegen, betrifft dies die Gruppenmitglieder, über deren Rechte dabei disponiert wird, unmittelbar. Da ihre Repräsentanten über keinen Anreiz mehr verfügen, die gefundene Lö‑ sung noch einmal zu hinterfragen, müssen sie selbst tätig werden, wenn sie diese für unangemessen halten. Einerseits können sie dann aus dem Vergleich austreten. Andererseits geben ihnen die class action, das WCAM und das Kap‑ MuG – wohlgemerkt aber nicht die deutsche Musterfeststellungsklage – die Möglichkeit, gegenüber dem Gericht Einwendungen gegen den Vergleich vor‑ zubringen. Sie können so auf Gesichtspunkte hinweisen, die dessen Fairness beeinträchtigen und daher von den Parteien üblicherweise unterschlagen wer‑ den.176 Im Rahmen der amerikanischen class action gewährt Rule 23 (e) (5) 175
Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 182 (2009). Vgl. für die class action: Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643; Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:42; Hensler, Class Action Dilemmas, S. 89; Mullenix, 57 Vand. L. Rev. 1687, 1717 (2004); zahlreiche Beispiele für positiv zu bewertende Einwen‑ dungen finden sich bei Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 439 ff. m. w. N. 176
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FRCP den Gruppenmitgliedern das Recht, objections zu erheben.177 Dieses werden sie in aller Regel nur im Zusammenhang mit dem final approval nutzen, denn die absent class members wissen zum Zeitpunkt des preliminary approval typischerweise noch nichts von dem Vergleich, da sie noch nicht über ihn in‑ formiert wurden. Im deutschen Recht verpflichtet § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG das Gericht, „[d]en Beigeladenen […] Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben“ und § 18 Abs. 1 KapMuG, das Ergebnis dieser Anhörung bei der Entscheidung über die Genehmigung des Vergleichs zu berücksichtigen. In den Niederlanden können die Betroffenen eine sogenannte verweerschrift im Sinne von Art. 282 Abs. 1 Rv einreichen. Damit wird nicht lediglich ein schriftliches Verfahren ein‑ geleitet; die Geschädigten sind auch berechtigt, in der Anhörung, zu der sie gemäß Art. 1013 Abs. 5 S. 1 Rv im Vorfeld der Genehmigungsentscheidung ge‑ laden werden müssen, mündlich Einwendungen zu äußern.178 Begrifflich setzt eine Einwendung dementsprechend eine verbale oder schriftliche Äußerung einer Person oder eines sonstigen Akteurs voraus, die sich auf den Inhalt des Vergleichs oder andere Aspekte des Verfahrens bezieht. Der Begriff der „Stellungnahme“, den das KapMuG wählt, erfasst dabei seman‑ tisch sowohl positive als auch negative Beiträge, wohingegen sich der Begriff „objection“ nur auf die Geltendmachung von Kritik bezieht.179 Auch der Be‑ griff „verweerschrift“ legt nahe, dass es um kritische Äußerungen geht.180 Das bedeutet freilich nicht, dass es ein Gericht in den USA oder den Niederlanden unberücksichtigt lassen müsste, wenn Gruppenmitglieder ihre Unterstützung für den Vergleich mitteilen.181
2. Funktion und praktische Bedeutung Richtet man seinen Blick am rechtspolitischen Interesse an einem funktionalen und effizienten Verfahren aus, spielen Einwendungen im kollektiven Rechts‑ schutz eine zwiespältige Rolle. Einerseits eröffnen sie den direkten Weg, wie‑ der eine Art von Parteiengegensatz in das richterliche Genehmigungsverfahren einzuführen und dieses so dem allgemeinen Mechanismus eines zivilprozes‑ sualen Erkenntnisverfahrens anzunähern. Ein Teil der amerikanischen Lite‑ ratur weist vor diesem Hintergrund auf das Potential von Einwendungen hin, 177 Rule 23 (h) (2) FRCP gewährt den Gruppenmitgliedern darüber hinaus das Recht, Ein‑ wendungen gegen die Höhe der Anwaltsvergütung zu erheben. 178 Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 348; Äußerung des Ministers Donner, Handelingen II, 12. Oktober 2004, S. 10–507. Die daneben mögliche Anhörung gem. Art. 1018a Rv findet dagegen statt, bevor ein Vergleich vorliegt; auch nehmen die Geschädig‑ ten nicht an ihr teil. 179 Vgl. Peoples v. Annucci, 180 F. Supp. 3d 294, 303 ff. (S.D.N.Y. 2016): Dort werden die „letters in support of settlement“ getrennt von den „objections“ aufgeführt. 180 Der Begriff „verweer“ bezeichnet im juristischen Kontext eine Einrede. 181 Vgl. etwa Peoples v. Annucci, 180 F. Supp. 3d 294, 303 ff. (S.D.N.Y. 2016).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
zu einer Intensivierung der richterlichen Kontrolle von Vergleichen beizutra‑ gen.182 Andererseits erhält das Genehmigungsverfahren mit den neuen Akteu‑ ren, die durch die Einwendungsmöglichkeit ins Spiel gebracht werden, eine zusätzliche Komplexitätsebene. Damit wird auch der Boden für eine weitere Variation der Grundproblematik des kollektiven Rechtsschutzes bereitet: Die Eigeninteressen derjenigen, die die Einwendungen vorbringen, müssen nicht immer mit den Gruppeninteressen oder den übergeordneten rechtspolitischen Zielen des Verfahrens deckungsgleich sein; die Folgen reichen von Zweifeln an der Verallgemeinerungsfähigkeit einer konkreten Einwendung183 bis zu der im Kontext der class action regelmäßig beschworenen Gefahr eines zielgerichteten Missbrauchs, insbesondere durch die zusätzlichen unternehmerisch agierenden Anwälte, die dort auf Seiten der objectors ins Spiel kommen.184 In den USA ge‑ nießen objectors vor diesem Hintergrund überwiegend einen schlechten Ruf.185 Davon unabhängig ist es im Ausgangspunkt jedoch durchaus legitim, wenn ein Gruppenmitglied mit seiner Einwendung lediglich sein Partikularinteresse ver‑ folgt. Anders als ein Repräsentant ist es der Gruppe gegenüber nicht zur Inte‑ ressenwahrung verpflichtet. Eine Einwendung ist lediglich ein Versuch, das Ge‑ richt dazu zu bewegen, einen bestimmten Punkt näher zu prüfen. Ein mit der Genehmigung eines Vergleichs befasstes Gericht muss aber in Zweifelsfällen die Grenze zwischen der berechtigten Wahrnehmung von Eigeninteressen und missbräuchlicher Obstruktion ausloten. Aus der Sicht der Gruppenmitglieder hat die Möglichkeit Einwände vorzu‑ bringen eine eigenständige Bedeutung neben dem Recht aus einem Vergleich auszutreten. Ein Interesse an einem kollektiven Vergleich folgt regelmäßig aus den Kosten der individuellen Prozessführung beziehungsweise der geringeren Hebelwirkung in Vergleichsverhandlungen nach einem Austritt.186 Konzep‑ tionell stellt sie dementsprechend eine wichtige Quelle für die Legitimität der Bindungswirkung eines Vergleichs dar.187 Diese Überlegung spiegelt sich je‑ doch nicht in der Rechtspraxis in den USA und den Niederlanden wider, in der 182
Hensler, Class Action Dilemmas, S. 89; Brunet, 2003 U. Chi. Legal. F. 403, 439.
183 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21:61. 184 Siehe i. E. noch unten S. 322 ff. zu dieser Problematik
der sogenannten professional objectors. 185 Vgl. Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 411 (mit Nachw. für Quellen, die objectors als „pond scum“ oder „bottom feeders“ bezeichnen), vgl. auch a. a. O. 403 unter Verweis auf Schonbrun, 20 Regulation 50, 53 (1997) („objectors are as welcome in the courtroom as the guest at a wedding ceremony who responds affirmatively to the minister’s question, ‚Is there anyone here who opposes this marriage?‘“). Sehr kritisch ggü. objectors äußert sich auch Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949 (2010). 186 Vgl. Churchill Village, L.L.C. v. General Electric, 361 F. 3d 566, 572 (9th Cir. 2004) (bei small claims Austrittsrecht im Ggs. zu Einwendungen praktisch wertlos). 187 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:20; kritisch Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1560 (2004).
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Einwendungen verhältnismäßig selten sind.188 Die Gründe, die hierfür ange‑ führt werden, entsprechen zunächst denjenigen, die auch während eines strei‑ tigen Verfahrens eine Beteiligung der Gruppenmitglieder unwahrscheinlich machen. Bei kleinen Einzelforderungen fehlt schon der Anreiz, sich überhaupt eingehend mit dem Vergleich auseinanderzusetzen; aber auch dann, wenn ein solcher Anreiz bei größeren Ansprüchen gegeben ist, werden die Gruppenmit‑ glieder oftmals nicht über die nötige fachliche Kompetenz verfügen, um den Vergleich hinreichend differenziert beurteilen zu können.189 Im Rahmen des KapMuG bleibt abzuwarten, ob die Beigeladenen aufgrund ihrer im Vergleich zu den absent class members stärkeren Stellung eher bereit sein werden, Ein‑ wendungen zu erheben.190 Der Umstand, dass Einwendungen selten sind, impliziert freilich keine Wertung über ihre Berechtigung und ihren Nutzen im Einzelfall. Sie können auf zweierlei Weise in die Beurteilung eines Vergleichs einfließen: erstens in‑ haltlich als Erkenntnisquelle, indem das Gericht die mit ihnen vorgebrachten Informationen und Argumente berücksichtigt und gegebenenfalls zum Aus‑ gangspunkt für weitere Nachforschungen oder -fragen nimmt, sowie zweitens als formales Indiz für den Grad der Akzeptanz des Vergleichs innerhalb der Gruppe, indem das Gericht ihre Anzahl und Verbreitung relativ zur Gesamt‑ zahl der Gruppenmitglieder berechnet. Im vorliegenden Kontext interessiert lediglich die erste Möglichkeit. Die zweite stellt ein Kriterium zur Beurteilung des Vergleichs dar.191 Bei ihr treten keine Probleme bei der Ermittlung der Tat‑ sachengrundlage auf, da das Gericht über die Zahl der Einwendungen, die es erhalten hat, ohne weiteres im Bilde ist. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die Zahl der Austritte aus dem Vergleich, die beim KapMuG sowie der Muster‑ feststellungsklage nur schematisch und beim WCAM gar nicht für die Geneh‑ migungsentscheidung berücksichtigt werden kann.192 Bei der class action können Einwendungen je nach der Struktur des kon‑ kreten Verfahrens unterschiedliche Bezugspunkte haben. Wenn bei einer sett‑ lement class action die certification, die Genehmigung des Vergleichs und die Entscheidung über die Anwaltsvergütung in einem Zeitpunkt zusammen‑ fallen, können sie sich gegen alle drei zugleich richten. Anders ist dies, wenn die class schon früher zertifiziert wurde. Entscheidet das Gericht voneinander getrennt über die Fairness des Vergleichs und die Anwaltsvergütung, müssen die Einwendungen jeweils im entsprechenden Verfahrensschritt erhoben wer‑ 188 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:21 („potential of class action objector’s role more myth than reality“). Siehe dazu auch oben S. 245 f. 189 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40; Eichholtz, Die US-amerikanische Class Action, S. 162. 190 Kritisch zur Fähigkeit der Beigeladenen zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen, von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 426. 191 Siehe oben S. 245 ff. 192 Siehe oben S. 249 f.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
den.193 Der Studie von Willging, Hooper und Niemec zufolge beziehen sich die Einwendungen in der Praxis am häufigsten auf die von den Parteien vor‑ geschlagene Höhe der Anwaltsvergütung – also auf eine Problematik, die au‑ ßerhalb der Beurteilung der Fairness des Vergleichs im engeren Sinne verortet wird.194 An zweiter Stelle folgt die Behauptung, dass der Vergleich die Schä‑ den der Gruppe nicht angemessen ausgleiche, und an dritter diejenige, dass einzelne Segmente der Gruppe benachteiligt würden.195 Daneben werden oft auch Fehler bei der Benachrichtigung der Gruppenmitglieder gerügt.196 Der Erkenntniswert für die Beurteilung des Vergleichs soll vom Bezugs‑ punkt der Einwendung abhängen. Das Manual for Complex Litigation diffe‑ renziert zwischen individuellen und gruppenbezogenen Einwendungen. Erstere sollen dabei nur sehr eingeschränkt Aufschluss über die Fairness des Vergleichs als Ganzes geben, wenn nicht eine große Anzahl an Gruppenmitgliedern je‑ weils die gleichen Kritikpunkte vorbringt.197 In der Praxis zur class action wird eine Einwendung aber typischerweise unabhängig von dieser Unterscheidung als unbegründet zurückgewiesen werden. Willging, Hooper und Niemec zufol‑ ge wurden in den von ihnen analysierten Fällen 90 % der Vergleiche genehmigt, ohne dass die Parteien zuvor Änderungswünschen des Gerichts hätten nach‑ kommen müssen – diese Zahl umfasst offenbar auch diejenigen Fälle, in denen Einwendungen vorlagen. Ob die Änderungen, die das Gericht in manchen der übrigen Fälle verlangt hatte, auf Einwendungen zurückzuführen waren, konn‑ te demgegenüber mit der angewandten Methodik nicht festgestellt werden.198 Auch die in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen in Bezug genommene West‑ law-Recherche199 bekräftigt die Einschätzung der obigen Studie, wenn man die extrem geringe Quote an Fällen, in denen die endgültige Genehmigung des Ver‑ gleichs verweigert wurde, in Relation zu der – weitaus höheren – Zahl der Fälle setzt, in denen ein Gericht den Vergleich ungeachtet des Vorhandenseins von Einwendungen genehmigt hat. Es ist aber statistisch belegt, dass gegen Verglei‑ che, deren Genehmigung abgelehnt wird, zuvor eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Einwendungen erhoben wurde; das mag ein Indiz dafür sein, dass die Gerichte sich an der negativen Reaktion der Gruppe orientieren oder es könn‑ 193
Rubenstein, Newberg on Class Actions, §§ 13:31. Einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Anzahl der Einwendun‑ gen – sowie auch der opt outs – und der Höhe der Anwaltsvergütung konnte eine andere Studie indessen nicht feststellen, vgl. Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1557 (2004). 195 Willging/Hooper/Niemec, Empirical Study of Class Actions in Four Federal District Courts, S. 57; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:31. 196 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:31. 197 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643; vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:31. 198 Willging/Hooper/Niemec, Empirical Study of Class Actions in Four Federal District Courts, S. 58. 199 Siehe oben S. 170. 194
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te auch lediglich bedeuten, dass beide typischerweise zu übereinstimmenden Bewertungen kommen.200 In der amerikanischen Entscheidungspraxis variiert dabei die Sorgfalt, mit der die Zurückweisung von Einwendungen begründet wird. Das Spektrum reicht von einem lapidaren Hinweis, dass es – unbegrün‑ dete – Einwendungen gab,201 bis hin zu einer akribischen Auseinandersetzung mit den einzelnen von den objectors vorgebrachten Argumenten.202 Als Kon‑ trast zum Gros der class actions finden sich allerdings auch spektakuläre Fälle, in denen Einwendungen erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts entfaltet haben. Am bekanntesten dürfte diesbezüglich die Entscheidung des Third Circuit In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation sein. Hier wirkte sich der Einsatz der objectors allerdings erst in der Rechtsmittelinstanz aus. Auf ihre Initiative hin wurde die Genehmi‑ gung des Vergleichs aufgehoben, die der District Court zuvor erteilt hatte.203 Dies ist nicht untypisch; eine ähnliche Konstellation findet sich etwa in Rey‑ nolds v. Beneficial National Bank.204 Im Rahmen des WCAM haben Einwendungen bislang keine entscheidende Wirkung entfaltet. Mit Blick auf das KapMuG liegt bislang erst ein Fall einer Vergleichsgenehmigung vor, in dem Einwendungen der Beigeladenen jedoch keine Rolle spielten; die Problematik kann daher bislang nur auf einer theoreti‑ schen Ebene beleuchtet werden. Eine Stellungnahme eines Beigeladenen gemäß § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG tritt als zusätzliche Erkenntnisquelle neben den bis‑ herigen Sach- und Streitstand. Da weder das Gesetz noch seine Begründung in dieser Hinsicht Einschränkungen vorsehen, können sich solche Einwendungen auch auf Gesichtspunkte beziehen, die nicht den bisherigen Streitstand oder nicht lediglich die Inhalte des Musterverfahrens betreffen.205 Einwendungen bieten demnach nicht zuletzt eine Möglichkeit, den Blick des Gerichts auf die Besonderheiten der einzelnen Ausgangsverfahren zu lenken.
200
Eisenberg/Miller, 57 Vand. L. Rev. 1529, 1558 (2004). Vgl. etwa Bilewicz v. FMR LLC, 2014 WL 8332137 [*4] (D. Mass.); Clem v. Keybank, N. A., 2014 WL 2895918 [*1] (S.D.N.Y.); Holman v. Experian Information Solutions, Inc., 2014 WL 7186207 [*3, 6] (N. D. Cal.); teilweise ist dies aber wohl auch darauf zurückzufüh‑ ren, dass sich eine entsprechende Begründung in einem anderen Dokument findet. 202 Ein mustergültiges Beispiel hierfür bietet In re Volkswagen „Clean Diesel“ Marketing Litig., 2016 WL 6248426 [*16 ff.] (N. D. Cal. 2016); vgl. daneben auch Dick v. Sprint Commu‑ nications Co. L. P., 297 F.R.D. 283, 289 ff. (W. D. Ky. 2014). 203 In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 779 (3d Cir. 1995). 204 Reynolds v. Beneficial Nat. Bank, 288 F. 3d 277, 282 (7th Cir. 2002) (Judge Posner geht hier aber nicht davon aus, dass die Einwendungen berechtigt seien, sondern rügt lediglich, dass das Ausgangsgericht zu oberflächlich geprüft hätte). 205 Beachte insb. das Fehlen entsprechender Ausführungen im RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 24. 201
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3. Berechtigter Personenkreis206 Die class action, das WCAM und das KapMuG stimmen insofern überein, als sie jedenfalls den von der Bindungswirkung des Vergleichs erfassten Gruppen‑ mitgliedern das Recht zugestehen Einwendungen vorzubringen.207 Die Mus‑ terfeststellungsklage sieht dagegen hiervon ab. Für das KapMuG – und abge‑ sehen von den Interessenorganisationen im Sinne von Art. 1014 Rv208 auch für das WCAM – ist der Kreis der Einwendungsberechtigten damit abgesteckt; sie nennen keine weiteren Berechtigten und schließen andere Personen und Insti‑ tutionen damit von einer solchen Beteiligung am Verfahren aus. Die amerika‑ nische Rechtsprechung ist dagegen differenzierter. Sie baut auf dem Begriff des standing209 auf. Daneben fließt teilweise auch die Überlegung mit ein, dass Vergleiche rechtspolitisch wünschenswert seien und daher die Berechtigung zu Einwendungen restriktiv gehandhabt werden müsse.210 Entscheidend ist regel‑ mäßig, dass jemand, der nicht Mitglied der Gruppe ist, typischerweise nicht durch den Vergleich und dessen Inhalt berührt wird. Das bedeutet im Umkehr‑ schluss indes auch, dass unbeteiligte Dritte dann, wenn sie durch den Vergleich unmittelbar einen Rechtsverlust erleiden („plain legal prejudice“), ausnahms‑ weise doch berechtigt sind Einwendungen zu erheben. Der „plain legal preju‑ dice“-Standard ist dabei eng auszulegen. Es genügt etwa nicht, dass ein nicht am Vergleich beteiligter mutmaßlicher Schädiger (nonsettling defendant) durch diesen einen prozesstaktischen Nachteil erleidet. Erfüllt ist er aber beispielswei‑ se, wenn der Vergleich den nicht an ihm beteiligten mutmaßlichen Schädigern eine Rückgriffsmöglichkeit gegen die am Vergleich beteiligten mutmaßlichen
206 Zur Einwendungsberechtigung nicht am Rechtsstreit beteiligter Institutionen und Be‑ hörden siehe unten S. 328 ff. 207 So ausdrücklich Rule 23 (e) (5) FRCP und §§ 17 Abs. 1 S. 2, 18 Abs. 1 KapMuG. Für die verzoekschriftprocedure, der das WCAM zuzuordnen ist, bestimmt allgemein Art. 282 Abs. 1 Rv, dass „belanghebbende“ eine verweerschrift einreichen können (dieser Begriff ist im Kontext der jeweiligen Verfahrensart auszulegen, vgl. van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 282 Rv Nr. 2 b); damit sind jedenfalls die Geschädigten erfasst (van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 1 definiert den Begriff der „be‑ langhebbenden“ im Zusammenhang des WCAM mit „de personen, ten behoeve van wie de overeenkomst strekkende tot collectieve schadeafwikkeling is gesloten“), vgl. auch Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 294 (2014) (Einwendungen müssen von den Ge‑ schädigten erhoben werden). Zur Notwendigkeit, den Beigeladenen im Rahmen des KapMuG rechtliches Gehör zu geben vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 22. 208 Siehe dazu unten S. 329. 209 Vgl. Garner, Black’s Law Dictionary, Stichwort „standing“: „A party’s right to make a legal claim or seek judicial enforcement of a duty or right. To have standing in federal court, a plaintiff must show (1) that the challenged conduct has caused the plaintiff actual injury, and (2) that the interest sought to be protected is within the zone of interests meant to be regulated by the statutory or constitutional guarantee in question.“ 210 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:22.
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Schädiger (settling defendants) nimmt.211 Es wird für den jeweiligen objector in solchen Fällen allerdings regelmäßig eine Herausforderung darstellen zu be‑ weisen, dass er über das nötige standing verfügt; für ein Mitglied der class ge‑ nügt es demgegenüber, sich auf seinen Status zu berufen.212 Gelingt es einem Dritten, sein standing zu begründen, ist umstritten, in welchen sachlichen Gren‑ zen er zu Einwendungen befugt ist: nur in Bezug auf seinen Rechtsverlust oder unbeschränkt.213 Die class action zieht den Kreis der Berechtigten auf andere Weise als das WCAM und das KapMuG, da sie das Verhältnis zwischen Einwendungen und Austritten aus dem Vergleich unterschiedlich ausgestaltet.214 Bei ihr gilt, dass ein Gruppenmitglied nur entweder Einwendungen erheben oder aus dem Ver‑ gleich austreten kann, aber nicht beides zugleich. In Anlehnung an die Termi‑ nologie Hirschmans215 kann man von einem Alternativverhältnis von „exit“ und „voice“ sprechen. Die Folge ist: Wer sich der Bindungswirkung eines Ver‑ gleichs entzieht, ist nicht mehr von diesem betroffen und verliert demnach sein standing.216 Die class action stößt damit auf ein Problem, das in einem ande‑ ren Kontext schon Hirschman beschrieben hat: Diejenigen Gruppenmitglieder, die ihre Austrittsoption wahrnehmen, wären oftmals geradezu prädestiniert ge‑ wesen, stichhaltige Kritik beizusteuern – immerhin scheinen sie über Sonder‑ wissen zu verfügen, dass sie selbst dazu bewogen hat, Abstand von dem Ver‑ gleich zu nehmen. Unter der Prämisse, dass die Ausgetretenen durch Nachteile motiviert wurden, die ebenso den Rest der Gruppe betreffen, wird die „voice“Option also dadurch unterlaufen, dass die „exit“-Option zunächst von solchen Personen wahrgenommen wird, die besonders sensibel auf diese Nachteile des Vergleichs reagieren und daher in herausgehobenem Maße geeignet gewesen wären ihre „voice“ zu erheben.217 Als Folge des Ansatzes der class action kann Kritik, die jemand äußert, der aus dem Vergleich ausgetreten ist (etwa indem er seinen Austritt begründet), in der Regel nicht berücksichtigt werden. Der Haken an dieser Sichtweise ist, dass ein Gericht durchaus Interesse an den Informatio‑ nen haben kann, die die Ausgetretenen beizusteuern vermögen. Ein pragmati‑ scher Lösungsansatz will diesen daher eine einem amicus curiae ähnliche Stel‑ lung einräumen und sie auf dieser Grundlage zu Wort kommen lassen.218 Damit 211 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, §§ 13:24, 13:22 (dort Fn. 5 f.), jeweils m. w. N. 212 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:22. 213 Für unbeschränkte Einwendungsberechtigung Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:24 (m. w. N. zum Ganzen dort in Fn. 11). 214 Siehe dazu bereits oben S. 248 ff. 215 Siehe dazu oben S. 87. 216 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:23. 217 Vgl. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty, S. 45 f. 218 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:23.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
ist freilich nichts dazu gesagt, ob sie nach ihrem Austritt noch ein Interesse zei‑ gen sich zu äußern. Beim WCAM und beim KapMuG stellt sich das Problem hingegen von vor‑ herein nicht, da beide Verfahrensformen einen Austritt erst zulassen, nachdem das Gericht bereits eventuelle Einwendungen geprüft und den Vergleich geneh‑ migt hat. „Exit“ und „voice“ sind hier jeweils selbständige Handlungsoptionen, die unabhängig voneinander in verschiedenen Verfahrensstadien wahrgenom‑ men werden können. Für diesen Versuch die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sich besonders interessierte Gruppenmitglieder in den Genehmigungspro‑ zess einbringen, zahlen das WCAM und das KapMuG aber einen Preis. Die Gruppenmitglieder müssen zweimal benachrichtigt werden: einmal über ihr Recht, Einwendungen vorzubringen und ein weiteres Mal über die Möglich‑ keit, aus dem genehmigten Vergleich auszutreten, wodurch jeweils zusätzliche Kosten entstehen. Für das WCAM folgt dies aus Art. 1013 Abs. 5 Rv sowie Art. 1017 Abs. 3 Rv,219 wobei sich die konkreten Kosten nicht abstrakt beziffern lassen. Das KapMuG trifft für die erste Benachrichtigung zwar keine ausdrück‑ liche Regelung. Wenn die Beigeladenen Gelegenheit zur Stellungnahme erhal‑ ten sollen (§ 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG), müssen sie aber konsequenterweise über die Existenz und den Inhalt des Vergleichs informiert werden. Es ist fraglich, ob dies im Hinblick auf die Bedeutung des Rechts auf rechtliches Gehör im Wege einer förmlichen Zustellung erfolgen muss. Das Gesetz sieht lediglich vor, dass ein Vergleich nach erfolgter Genehmigung gemäß § 19 Abs. 1 KapMuG an die Beigeladenen zugestellt wird, wobei diese gemäß § 19 Abs. 3 KapMuG über ihre Austrittsmöglichkeit zu belehren sind. Gemäß Nr. 9002 KV‑GKG fällt für jede einzelne Zustellung eine Pauschale von 3,50 EUR an. Diese Kosten wer‑ den gemäß Nr. 9018 KV‑GKG auf die einzelnen Ausgangsverfahren umgelegt. Auch im Verhältnis zu geringen Streitsummen dürften sich die Kosten für die zusätzliche Benachrichtigung also selbst dann im Rahmen halten, wenn man für die Benachrichtigung über einen Vergleich ebenfalls eine förmliche Zustellung fordern sollte. Wenn man sich hingegen auf das elektronische Informationssys‑ tem verlässt, entstehen keine zusätzlichen Kosten.
4. Möglichkeiten zur Gewährleistung eines effizienten Verfahrens Die zumindest potentielle Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren droht das Streben des kollektiven Rechtsschutzes nach prozessökonomisch tragfähigen Lösungen zu konterkarieren. Sich mit Einwendungen auseinandersetzen zu müssen, kann den Arbeitsaufwand für ein Gericht erheblich steigern.220 Um zu vermeiden, dass ein Verfahren durch eine große Anzahl von Beiträgen der 219 220
Siehe oben S. 30 f. Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 427.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Gruppenmitglieder behindert wird, besteht ein Bedürfnis, durch formale Anfor‑ derungen und Einschränkungen der Beteiligungsrechte steuernd eingreifen zu können.
a) Die Ausgestaltung des Verfahrensablaufs durch das Gericht Die analysierten Verfahrensformen erlauben den Gerichten jeweils in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße, sich verschiedener Mechanismen zu bedienen, um die Art und Weise, auf die Einwendungen vorgebracht werden, zu struktu‑ rieren und ein geordnetes Verfahren zu gewährleisten. Für die USA gilt dabei, dass der zuständige Richter im Einzelfall über einen erheblichen Gestaltungs‑ spielraum verfügt – wobei sich allerdings bestimmte Konventionen heraus‑ gebildet haben.221 Bei der class action entscheidet das Gericht im Rahmen des preliminary approval darüber, ob es die ihm von den Parteien vorgeschlagenen Modalitäten für angemessen hält. Es ist demnach in der Lage entgegenzusteu‑ ern, wenn diese versuchen, die Geltendmachung von Einwendungen über Ge‑ bühr zu erschweren, indem sie etwa aufwendige Begründungspflichten, beson‑ ders kurze Fristen oder andere verschärfte formale Anforderungen fordern.222 Im deutschen Recht nennt § 17 Abs. 2 KapMuG die Bedingungen, unter denen Einwendungen erhoben werden können, nicht als einen Inhalt des Ver‑ gleichsvorschlags. § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG bestimmt nur ganz abstrakt, dass den Beigeladenen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist, ohne detaillier‑ te Vorgaben zu machen. Da es hier um die Ausgestaltung des Rechts auf recht‑ liches Gehör der Beigeladenen geht, muss konsequenterweise das Gericht über die Modalitäten entscheiden, unter denen Einwendungen vorgebracht werden können.
b) Fristen Der Setzung von Fristen kommt bei der class action eine erhebliche Bedeutung zu. Rule 23 (e) (5) FRCP äußert sich allerdings nicht zu der Frage einer zeitli‑ chen Beschränkung der Einwendungsmöglichkeit und überlässt sie damit den Gerichten. Darüber, wie und bis wann eine schriftliche Einwendung geltend ge‑ macht werden kann, sollen diese dementsprechend in der notice informieren.223 Die Rechtsprechung zu den Fristen ist im Wesentlichen gefestigt,224 so dass ein 221 So stellt etwa das FJC unter https://www.fjc.gov/content/301253/illustrative-formsclass-action-notices-introduction (zuletzt aufgerufen am 10. 06. 2019) Muster typischer class action notices zur Verfügung. 222 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:30. 223 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.633. Vgl. auch Abschnitt Nr. 18 des oben in Fn. 221 genannten „Securities class action certification and settlement: full notice“-Musters des FJC. Zur Notwendigkeit eines gewissen Zeitraums zur Vorbereitung von Einwendungen vgl. Hensler, Class Action Dilemmas, S. 494. 224 So Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 971 (2010).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Versuch der Parteien des Vergleichs, mögliche Einwendungen durch besonders kurze Fristen zu unterbinden, nur geringe Aussicht auf Erfolg haben wird. Von der Absendung der notice an gerechnet, haben die Gruppenmitglieder üblicher‑ weise 60 Tage Zeit, um zu dem Vergleich Stellung zu nehmen.225 Auch in einem WCAM‑Verfahren kann der Gerichtshof, wenn er den Ter‑ min für die Anhörung nach Art. 1013 Abs. 5 Rv bestimmt, gemäß Art. 1013 Abs. 7 Rv fakultativ einen Zeitpunkt festlegen, bis zu dem verweerschriften spätestens eingereicht werden müssen. Damit weicht das Gesetz von der all‑ gemeinen Regelung des Art. 282 Abs. 1 Rv ab, die es sonst erlauben würde, eine verweerschrift bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung in das Verfahren einzuführen.226 Als Leitlinie legt das einschlägige procesreglement fest, dass verweerschriften bis spätestens sechs Wochen vor dem Termin der mündlichen Verhandlung eingereicht werden müssen, wenn das Gericht nicht etwas anderes bestimmt.227 Zum KapMuG gibt es hingegen noch keine aussagekräftige Rechtspraxis und das Gesetz selbst schweigt. Auch hier ist es jedoch unabdingbar, das rechtliche Gehör für die Beigeladenen in einen strukturierten Verfahrensablauf einzubet‑ ten. Unabhängig von der Frage, ob ein mündlicher Anhörungstermin stattfindet, muss ein für die richterliche Entscheidung maßgeblicher Zeitpunkt festgelegt und den Beigeladenen im Vorfeld mitgeteilt werden. Darin unterscheidet sich die Genehmigung eines Vergleichs nicht von anderen gerichtlichen Verfahren. Die allgemeinen Vorschriften geben demnach zumindest einen geeigneten Ori‑ entierungspunkt: Findet ein Anhörungstermin statt, kann man auf die Rechts‑ gedanken der §§ 214, 217, 273 Abs. 1 ZPO zurückgreifen, nach denen das Ge‑ richt die Beteiligten von Amts wegen innerhalb einer bestimmten Frist zu einem Termin laden muss. Ein Blick auf die USA und die Niederlande legt jedoch nahe, dass die in § 217 ZPO aufgeführten Fristen für diesen Zweck deutlich zu kurz ausfallen. Falls kein Anhörungstermin vorgesehen ist, bietet § 276 Abs. 2 S. 2 ZPO ein Beispiel dafür, dass es im Rahmen des deutschen Zivilprozess‑ rechts möglich ist, eine schriftliche Äußerungsmöglichkeit an die Einhaltung einer Frist zu binden. Nach dem Beispiel der class action und des WCAM soll‑ te der Richter demnach eine angemessene Ausschlussfrist festsetzen können, wenn er die Beigeladenen über ihr Recht informiert, Stellung zu dem Vergleich zu nehmen.
225
McLaughlin on Class Actions, § 6:11.
226 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 282 Rv Nr. 6. 227 Art. 2.2.2.8 Procesreglement verzoekschriftprocedures handels- en
insolventiezaken gerechtshoven v. 14. 12. 2018, Staatscourant Nr. 70270; vgl. auch van Mierlo, in: T&C Burger‑ lijke Rechtsvordering, Art. 1013 Rv Nr. 9.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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c) Formanforderungen an schriftliche Einwendungen und die Bedeutung anwaltlicher Vertretung Bei der class action steht es im Belieben eines Gruppenmitglieds, sich bei der Erhebung von Einwendungen durch einen Anwalt vertreten zu lassen oder auch nicht. Das Gericht ist dementsprechend nicht verpflichtet, von sich aus einen Anwalt für einen objector zu bestellen.228 Eine schriftliche Einwendung kann „as informal as a few comments scrawled on a piece of loose-leaf paper“ aus‑ fallen oder aber auch in aller Form eines anwaltlichen Schriftsatzes vorgebracht werden, dem Gutachten und weitere Anlagen beigefügt sind.229 Anders als in den USA gibt es in den Niederlanden kein historisch fest ver‑ wurzeltes Recht sich vor Gericht selbst zu vertreten. Allgemein gilt auch für belanghebbende, die gemäß Art. 282 Abs. 1 Rv eine verweerschrift einreichen, Anwaltszwang („verplichte vertegenwoordiging“).230 Dementsprechend sah etwa die Benachrichtigung der Geschädigten im Fortis-Verfahren vor, dass schriftliche Eingaben nur mittels eines Rechtsanwalts gemacht werden können. Eine Äußerungsmöglichkeit im mündlichen Anhörungstermin besteht dagegen ohne diese Einschränkung.231 Das KapMuG enthält keine Vorgaben zur Form einer Stellungnahme eines Beigeladenen. Bislang ungeklärt ist vor allem die Frage, ob in dieser Hinsicht eine anwaltliche Vertretung zulässig oder sogar erforderlich ist. § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG lässt diesbezüglich keine zwingenden Schlüsse zu, wenngleich die Wahl des Begriffes „Stellungnahme“ auf einen informellen Charakter der Äuße‑ rungsmöglichkeit hindeutet. Praktische Bedeutung kommt dieser Frage im Zu‑ sammenhang mit dem KapMuG allerdings wohl schon deswegen nicht zu, weil die Beigeladenen, die zuvor typischerweise aufgrund von § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO i. V. m. § 71 Abs. 2 Nr. 3 GVG für die Einleitung ihres jeweiliges Ausgangs‑ verfahrens einen Prozessvertreter benötigten,232 diesen während des Muster‑ verfahrens beibehalten werden. Die Musterfeststellungsklage erfasst zwar auch verbraucherschutzrechtliche Streitigkeiten, für die bei geringen Streitwerten 228 229
Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.4. Fitzpatrick, 62 Vand. L. Rev. 1623, 1631 (2009). Welche Vorgehensweise in der Praxis überwiegt, ist unklar: Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 425 führt zunächst aus, dass objec‑ tors üblicherweise anwaltlich vertreten würden, gibt dann aber a. a. O. 436 einschränkend zu bedenken, dass es sich bei vielen statistisch erfassten Einwendungen um Schreiben nicht an‑ waltlich vertretener Gruppenmitglieder an das Gericht handele, die ihr Anliegen darüber hi‑ naus nicht weiter verfolgten. 230 Stein/Rueb, Burgerlijk procesrecht, Abschn. 13.3.7.3; vgl. auch a. a. O. Abschn. 2.9.2 (Anwaltszwang als einer der tragenden Pfeiler des niederländischen Prozessrechts). In jedem Rechtsstreit, der nicht vor dem kantonrechter stattfindet, besteht gem. Art. 79 Abs. 2 Rv An‑ waltszwang (vgl. dazu a. a. O. Abschn. 2.9). 231 Vgl. Oproeping voor de mondelinge behandeling van de Fortis schikking, https://www. forsettlement.com/pdf/Oproepingsbrief-Aangepast-concept-na-regiezitting.pdf?v=1.3.6 (zu‑ letzt aufgerufen am 9. 06. 2019). 232 Vgl. Wittschier, in: Musielak/Voit, GVG, § 71 Rn. 8a zur Zuständigkeit des LG.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nicht zwingend eine landgerichtliche Zuständigkeit gegeben ist. Sie sieht aller‑ dings keine Einwendungsmöglichkeit für die Verbraucher vor, die ihre Ansprü‑ che oder Rechtsverhältnisse angemeldet haben. Vor dem Hintergrund, dass man sich durchaus fragen kann, ob die Musterfeststellungsklage sinnvollerweise de lege ferenda um eine Einwendungsmöglichkeit ergänzt werden sollte, lohnt es dennoch sich grundlegend mit dem Thema Anwaltszwang bei Einwendungen auseinanderzusetzen. Der Ausgangspunkt der Betrachtung ist gesetzliche Regelung des KapMuG, für die einige Besonderheiten gelten. Grundsätzlich spricht zunächst vieles dafür, für einen Beigeladenen, der vor dem OLG in einem KapMuG‑Verfahren gemäß § 14 S. 2 KapMuG aktiv tätig wird, Anwaltszwang gemäß § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO anzuordnen. Auch wenn diese Norm von „Parteien“ spricht und einen Beigeladenen, der im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG lediglich „Beteilig‑ ter“ ist, damit rein begrifflich nicht erfasst, kann eine Parallele zur Einordnung des Nebenintervenienten gezogen werden. Dieser soll – als Nebenpartei233 – nach ganz herrschender Meinung dem Anwaltszwang unterfallen.234 Begrün‑ det wird dies damit, dass sich ein Nebenintervenient gemäß § 67 ZPO nicht in Widerspruch zur Hauptpartei setzen darf; seine Befugnisse überschnitten sich infolgedessen derart mit denjenigen der Hauptpartei, dass eine andersgeartete Behandlung im Hinblick auf die formalen Anforderungen nicht gerechtfertigt sei.235 Die Stellung eines Beigeladenen ist wiederum gemäß § 14 KapMuG in‑ haltlich in Anlehnung an diejenige eines Nebenintervenienten ausgestaltet, was nahelegt, ihn grundsätzlich entsprechend zu behandeln.236 Dass jener anders als dieser ein „Beteiligter am eigenen Prozess“ ist und nicht lediglich in einen fremden Rechtsstreit einbezogen wird,237 ändert daran nichts, da es seine Hand‑ lungsmöglichkeiten im Prozess nicht erweitert. In der Situation des § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG erscheint es dagegen nicht gerechtfertigt auf das Leitbild der Nebenintervention zurückzugreifen. Zwar wird man auf einer begrifflichen Ebene nicht in Zweifel ziehen können, dass eine Stellungnahme im Sinne von § 17 Abs. 1 S. 2 KapMuG eine Prozesshand‑ lung darstellt,238 denn sofern ein Beigeladener in diesem Zusammenhang sach‑ 233 So Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 50 Rn. 2. 234 Bergerfurth, Der Anwaltszwang und seine Ausnahmen,
Rn. 81; Piekenbrock, in: Beck‑ OK‑ZPO, § 78 Rn. 27; Toussaint, in: MüKoZPO, § 78 Rn. 23; Weth, in: Musielak/Voit, ZPO, § 78 Rn. 13. 235 BGH, Beschl. v. 12. 07. 2012, Az.: VII ZB 9/12, BGHZ 194, 68 Rn. 24; vgl. auch Tous‑ saint, in: MüKoZPO, § 78 Rn. 23. 236 Vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 14 Rn. 15; einschränkend Lange, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 12 Rn. 3, der insb. im Hinblick auf internationalzivilprozessuale Anerkennungs‑ fragen vor vorschnellen Generalisierungen warnt. 237 Lange, in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 12 Rn. 4 f. 238 Anwaltszwang besteht für alle Prozesshandlungen, vgl. Piekenbrock, in: BeckOK ZPO, § 78 Rn. 30; Toussaint, in: MüKoZPO, § 78 Rn. 34; Weth, in: Musielak/Voit, ZPO, § 78 Rn. 14; Bork, in: Stein/Jonas, ZPO, § 78 Rn. 23.
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liche Behauptungen aufstellt, trägt er zur Entscheidungsgrundlage des Gerichts bei.239 Auch Ausführungen, die sich ausschließlich auf der Ebene rechtlicher oder sonst wertender Überlegungen bewegen, sind eine „prozessgestaltende Betätigung“, die dem Prozessrecht untersteht.240 Der Beigeladene unterstützt mit seiner Stellungnahme jedoch nicht etwa den Musterkläger, sondern stellt vielmehr die von diesem vorgeschlagene Lösung infrage, um seinen eigenen – womöglich divergierenden – Interessen Vorschub zu leisten. Funktionell agiert er demnach völlig anders als ein Nebenintervenient. Auch Sinn und Zweck von § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO erfordern in der besonderen Konstellation von Einwen‑ dungen gegen einen Vergleich keinen Anwaltszwang. Dieser soll die geordnete Rechtspflege gewährleisten, was beinhaltet, dass der Prozess sachlich und pro‑ fessionell geführt wird.241 Insofern stehe er im Zusammenspiel mit dem Kos‑ tenrecht auch im Interesse der vertretenen Partei.242 Ein Beigeladener, der sich zu einem Vergleich äußert, stellt hingegen keine Anträge und gestaltet nicht aktiv den Ablauf des Verfahrens. Eine Einwendung hat vielmehr die Funktion einer zusätzlichen Anregung oder Erkenntnisquelle für das Gericht, die gerade deswegen besonders wertvoll sein kann, weil sie Beteiligte mobilisiert, die von dem Vergleich betroffen sind, ohne an seiner Aushandlung beteiligt gewesen zu sein. Das spricht dafür, das Recht zur Stellungnahme nicht unnötig durch formale Anforderungen einzuschränken. Anders als im niederländischen Recht stellt der Anwaltszwang in Deutschland eine Ausnahme dar. Dies gilt erst Recht für eine hypothetische Anpassung der Regelung zur Musterfeststellungsklage, da die Parallele zur Nebenintervention hier konzeptionell ausscheidet. Es gibt zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gerichte in den USA von anwaltlich nicht vertretenen absent class members dermaßen mit nutzlosen Einwendungen überschwemmt würden, dass die Rechtspflege behindert würde – das Problem stellen dort vielmehr gerade unternehmerisch tätige Rechtsanwälte dar, die so‑ genannten professional objectors.243
d) Einschränkung der mündlichen Äußerungsmöglichkeiten Auch die Bedingungen, unter denen sich Gruppenmitglieder in der Anhörung mündlich äußern können, kann ein Gericht bei der class action im Vorfeld nach seinem Ermessen regeln. Es kann etwa in der notice vorsehen, dass ein Gruppenmitglied auch dann, wenn es zuvor eine schriftliche Einwendung ein‑ gereicht hat, seine Teilnahme innerhalb einer bestimmten Frist anmelden muss, 239 Vgl. Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, vor § 128 Rn. 223, 225 (Sachvortrag als Erwir‑ kungshandlung). 240 Vgl. BGH, Urt. v. 29. 02. 1968, VII ZR 102/65, BGHZ 49, 384, 386. 241 Toussaint, in: MüKoZPO, § 78 Rn. 2; Bork, in: Stein/Jonas (22. Aufl.), ZPO, § 78 Rn. 16. 242 Bergerfurth, Der Anwaltszwang und seine Ausnahmen, Rn. 36. 243 Siehe dazu eingehend unten S. 322 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
wenn es sich im Anhörungstermin zusätzlich mündlich äußern will.244 Die no‑ tice bestimme regelmäßig sogar, dass einzelne Gruppenmitglieder nur dann in der Anhörung auftreten dürften, wenn sie vor Ablauf der bereits oben unter b) erwähnten 60-tägigen Frist eine schriftliche Einwendung eingelegt hätten.245 Das Gericht kann nach seinem Ermessen aber dennoch Wortmeldungen von Gruppenmitgliedern zulassen, die ihre Einwendungen erstmals mündlich in der Anhörung vorbringen wollen.246 In Fällen, in denen eine große Anzahl an Per‑ sonen angehört zu werden wünscht, kann es seine organisatorische Kompetenz dazu nutzen, dass Verfahren so auszugestalten, dass ständige Wiederholungen vermieden werden. Zeitliche Beschränkungen für die einzelnen Wortmeldun‑ gen sind ebenfalls möglich.247 Auch im Rahmen des KapMuG setzt sich die Literatur mit der Frage aus‑ einander, wie mündliche Äußerungen der Beigeladenen im Interesse der Pro‑ zessökonomie reguliert werden können. Reuschle will dem Gericht de lege ferenda sogar die Option an die Hand geben, den Beigeladenen ein Äußerungs‑ recht in einer mündlichen Verhandlung im Rahmen des Musterverfahrens völ‑ lig zu versagen und sie auf schriftliche Beiträge zu beschränken.248 Dieser Vor‑ schlag bezieht sich allerdings nicht ausdrücklich auf den Verfahrensschritt der Genehmigung des Vergleichs. Dasselbe gilt für Vollkommers Aussage, dass im Musterverfahren immer nach Aktenlage entschieden werde, mündlicher Vor‑ trag aber gegebenenfalls vorrangig sei.249 Es wird zu untersuchen sein, ob eine mündliche Äußerungsmöglichkeit im Zusammenhang mit Einwendung Vortei‑ le hat, die ihren gesteigerten Aufwand aufwiegen. In den USA und den Nieder‑ landen will man offenbar nicht auf sie verzichten. Berechtigt erscheint aber nicht zuletzt das Anliegen, eine Vielzahl an gleichartigen Wortäußerungen zu unterbinden.
e) Zusammenfassung Die untersuchten Verfahrensformen erlauben allesamt differenzierte Lösungen, um mit dem Problem einer großen Anzahl von Einwendungen umzugehen. Das Ausmaß derartiger Probleme hängt indessen in entscheidendem Maße von den Gegebenheiten des individuellen Falls ab. Es handelt sich hier um einen gera‑ dezu idealtypischen Anwendungsfall richterlichen case managements, dessen Einzelheiten im Rahmen dieser Untersuchung nicht aufgeschlüsselt werden 244 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.633; Rubenstein, Newberg on Class Ac‑ tions, § 13:30. 245 McLaughlin on Class Actions, § 6:11. 246 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.633; Rubenstein, Newberg on Class Ac‑ tions, § 13:30. 247 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.634. 248 Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 14 Rn. 36. 249 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 52 f.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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können. Es sprechen allerdings gute Gründe dafür, dem einzelnen Gericht dabei einen erheblichen Spielraum zuzugestehen.
5. Erkenntnisquellen zur Untermauerung von Einwendungen a) Strukturelle Unterschiede zwischen den untersuchten Rechtsordnungen Typischerweise werden Gruppenmitglieder ihre Einwendungen auf ihre eige‑ nen unmittelbaren Wahrnehmungen stützen. Es ist aber zumindest denkbar, dass ein Geschädigter mit dem Vergleich unzufrieden ist, ihm jedoch hinrei‑ chende Kenntnisse des Falls und seiner Hintergründe fehlen, die er benötigt, um eine tragfähige Argumentation zu formulieren, die dem Gericht seine Be‑ denken plausibel machen könnte. Virulent ist dies vor allem dann, wenn er seine Einwendung auf Tatsachen stützen will, die bislang noch nicht in das Verfah‑ ren eingeführt wurden. Die Problematik der Informationsgrundlage für Einwen‑ dungen wird in den hier untersuchten Rechtsordnungen sehr unterschiedlich ge‑ handhabt. In den USA verschmilzt sie aufgrund des Instituts der discovery mit der Frage danach, auf welcher Grundlage das Gericht beurteilen kann, ob die Tatsachen zutreffen, die gegebenenfalls mit einer Einwendung geltend gemacht werden. In Deutschland muss man diese Frage hingegen klar von derjenigen nach den Mitteln und Wegen unterscheiden, die einem Gruppenmitglied offen‑ stehen, um die nötigen Informationen zu gewinnen, mit denen es seine Einwen‑ dung untermauern kann. Die Grundstrukturen des amerikanischen Zivilprozessrechts scheinen Grup‑ penmitgliedern, die Einwendungen vorbringen wollen, im Ausgangspunkt sehr entgegenzukommen. Das Institut der discovery gibt den Beteiligten eines Rechtsstreits ein machtvolles Werkzeug in die Hand, mit dem sie dessen Sach‑ verhalt eigenständig aufklären können. Die Situation in den USA hebt sich in dieser Hinsicht konzeptionell merklich von derjenigen in den Niederlanden und Deutschland ab, wo die Aufgabe der Beweiserhebung in den Händen des Rich‑ ters liegt und zudem Gegenstand stärkerer Einschränkungen ist. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Frage nach den Wegen zur Beschaffung der für die For‑ mulierung einer Einwendung erforderlichen Informationen allein auf die Di‑ chotomie reduzieren ließe, ob die Möglichkeit zur discovery gegeben ist oder nicht. In vielen Fällen werden auch andere Erkenntnisquellen offenstehen: Die Parteien des Vergleichs veröffentlichen oftmals wichtige Dokumente auf eigens dafür eingerichteten Websites. Auf die im Rahmen eines Gerichtsverfahrens vor einem amerikanischen Bundesgericht entstandenen Dokumente kann gegen eine geringe Gebühr über PACER, das Informationssystem der amerikanischen Bundesgerichte, zurückgegriffen werden.250 Das KapMuG bietet den Beige‑ 250
Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:32.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
ladenen in Gestalt des elektronischen Informationssystems gemäß § 12 Abs. 2 KapMuG eine funktional vergleichbare Quelle. In den Niederlanden kann das Gericht gemäß Art. 1013 Abs. 4 S. 3 Rv anordnen, dass die Antragsteller einem Geschädigten die in Art. 1013 Abs. 4 S. 2 Rv genannten Dokumente zugänglich machen müssen.251
b) Einzelheiten zur discovery für objectors bei der class action In den USA sind die Vergleichsparteien gehalten, einem Gruppenmitglied, das Einwendungen erheben will, Zugang zu den Ergebnissen ihrer eigenen dis‑ covery zu gewähren, die sie während der streitigen Phase des Verfahrens vor‑ genommen haben.252 Wenn sie ihrer Offenlegungsverpflichtung nicht nach‑ kommen, ist dies ein Grund, die discovery durch den betroffenen objector zuzulassen.253 Daneben soll insbesondere der Einwand erfolgversprechend sein, dass die offenzulegende discovery der Parteien nicht gründlich genug ge‑ wesen sei oder sich der Parteiengegensatz nicht hinreichend in ihr widerspiege‑ le.254 Der Zugang zu den gewünschten Informationen ist aber auch im Rahmen der discovery keineswegs uneingeschränkt. Nach dem Manual for Complex Li‑ tigation sollen die Gerichte allgemein sicherstellen, dass die discovery nicht über das zur Beurteilung der Fairness des Vergleichs Nötige hinausgeht; den objectors obliege es zudem, die Gründe für ihr Informationsbedürfnis darzule‑ gen.255 Den Hintergrund hierfür bildet die Sorge, dass die discovery das Wirk‑ samwerden eines Vergleichs verzögere, zu Unsicherheit führe und womög‑ lich in erster Linie dazu diene, dem Anwalt des objectors eine Vergütung zu sichern.256 Die Rechtsprechung folgt weitgehend dem Ansatz des Manual: Die objectors müssen ihre Einwendungen angemessen untermauern können, aber es gibt kein absolutes Recht auf discovery; die entscheidende Frage ist, ob das Ge‑ richt auf die zu ermittelnden Informationen angewiesen ist, um die Fairness des Vergleichs zu beurteilen.257 Einige Gerichte legen allerdings einen strengeren Maßstab als das Manual an und verlangen, dass ein „colorable claim“ darge‑
251 252
Siehe auch Art. 1013 Abs. 5 S. 4 Rv. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643. 253 In re Community Bank of Northern Virginia, 418 F. 3d 277, 316 (3d Cir. 2005). 254 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:32 („demonstrate that the previous dis‑ covery was not thorough or adversarial in nature“); vgl. auch In re Community Bank of North‑ ern Virginia, 418 F. 3d 277, 316 (3d Cir. 2005). 255 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643 (bzgl. Darlegunganforderungen: „showing of need“). 256 Zu weiteren, nicht an die discovery anknüpfenden Missbrauchsproblematiken siehe unten S. 321 ff. 257 Hierzu eingehend Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:32 m. w. N.; vgl. auch Girsh v. Jepson, 521 F. 2d 153, 157 (3d Cir. 1975) („[objectors] entitled to at least a reasonable opportunity to discovery“).
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legt wird.258 Unabhängig von diesen Darlegungsanforderungen verfügen die Gerichte im Einzelfall über einen Spielraum im Hinblick darauf, ob sie die discovery zulassen oder nicht.259 Soweit ein objector Informationen über den Ablauf des Vergleichsprozesses benötigt, um dessen Fairness beurteilen zu kön‑ nen, sind die Voraussetzungen für die discovery noch einmal deutlich restrikti‑ ver: Der jeweilige objector muss zunächst Anhaltspunkte für das Vorliegen von Kollusion oder anderen Unregelmäßigkeiten aufzeigen;260 in der Praxis gelingt das nur selten.261 Diese Verschärfung der Anforderungen rechtfertigt sich aus den Geheimhaltungsinteressen, die im Hinblick auf die Inhalte der Vergleichs‑ verhandlungen bestehen. In der Praxis der class action wird einem objector demnach nur unter restriktiven Voraussetzungen discovery gewährt; dies gilt in besonderem Maße, soweit es um die Inhalte der Vergleichsverhandlungen geht. Teilweise wird darüber hinaus sogar festgestellt, dass sich das Bedürfnis nach einer discovery durch objectors vermindert habe, seitdem Nebenabreden gegen‑ über dem Gericht offengelegt werden müssen.262 Das Manual for Complex Li‑ tigation schlägt überdies in die Kerbe, dass eine Möglichkeit aus dem Vergleich auszutreten, das Bedürfnis verringere objectors Hilfestellungen zukommen zu lassen.263 Demgegenüber führt Mullenix aus, dass die Beschränkung der dis‑ covery den Nutzen von Einwendungen erheblich beeinträchtige, indem sie es den objectors deutlich erschwere im Nachhinein zu beurteilen, ob sie angemes‑ sen vertreten wurden.264
c) Schlussfolgerung Die rigiden Voraussetzungen für die discovery in den USA einerseits und die In‑ formationsrechte für die Gruppenmitglieder in den Niederlanden und Deutsch‑ land andererseits haben zur Folge, dass die Unterschiede zwischen den Rechts‑ ordnungen in Bezug auf die Möglichkeiten eine Einwendung zu untermauern 258 Vgl. etwa Int’l Union, United Auto., Aerospace, & Agr. Implement Workers of Am. v. Gen. Motors Corp., 497 F. 3d 615, 635 (6th Cir. 2007) („[…] grant objectors discovery only if they can make a colorable claim that the settlement should not be approved“). Den Begriff „colorable“ definiert Black’s Law Dictionary als „appearing to be true, valid, or right“. Vgl. auch In re Ford Motor Co. Bronco II Products Liability Litigation, 1994 WL 593998 [*4] (E. D. La. 1994) („cogent factual objections to the settlement“); McLaughlin on Class Actions, § 6:11. 259 In re Community Bank of Northern Virginia, 418 F. 3d 277, 316 (3d Cir. 2005); In re Prudential Ins. Co. of Am. Sales Practices Litig., 962 F. Supp. 450, 563 (D. N. J. 1997); Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:32. 260 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643; McLaughlin on Class Actions, § 6:11 m. w. N.; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:32 (m. w. N. für die Rspr. der ein‑ zelnen Circuits dort in Fn. 22); Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.4 m. w. N. 261 Vgl. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:32 m. w. N. 262 Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.4. 263 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643. 264 Mullenix, 57 Vand. L. Rev. 1687, 1717 (2004).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
geringer sind als es auf den ersten Blick scheinen mag, zumal den objectors in der Praxis nur selten die discovery gewährt wird. Ihr Recht, Einsicht in die Er‑ gebnisse der discovery der Parteien zu verlangen, stellt sie unter Umständen al‑ lerdings wieder besser als ihre kontinentaleuropäischen Pendants. In Fällen, in denen ihre eigene discovery zugelassen wird, zeigt sich der Systemunterschied zum richterzentrierten deutschen Zivilprozess erst recht. Die beiden Rechtsord‑ nungen weichen insbesondere insofern voneinander ab, als die objectors bei der class action mittels discovery zumindest in Ausnahmefällen einen Einblick in die Vergleichsverhandlungen bekommen können. In Deutschland wäre das allenfalls im Wege eines materiellrechtlichen Informationsanspruchs denkbar.
6. Anreize und Kosten Ein Gruppenmitglied hat konzeptionsgemäß dann einen Anreiz eine Einwen‑ dung zu erheben, wenn es den geschlossenen Vergleich für unangemessen hält und eine Chance sieht, auf eine bessere Lösung hinzuwirken – sei es in Gestalt eines nach ergänzenden Verhandlungen abgeänderten Vergleichs oder der strei‑ tigen Entscheidung der Sache. Wenn dies mit Kosten verbunden ist, kann das hingegen zur Folge haben, dass die Gruppenmitglieder oder andere Berechtigte davon absehen, ihre Interessen – beziehungsweise diejenigen der Gruppe – auf diese Weise zu verfolgen. Insofern dies ungerechtfertigte Einwendungen ab‑ schreckt, handelt es sich zwar um ein wünschenswertes Regulativ. Zum Pro‑ blem wird es jedoch, wenn in der Folge auch solche Einwendungen ausbleiben, die das Gericht dazu bewogen hätten, einem unangemessenen Vergleich die Ge‑ nehmigung zu versagen. Damit ist vor allem dann zu rechnen, wenn die Kos‑ ten der Einwendung den Gewinn übersteigen, den der jeweilige objector aus ihrem Erfolg ziehen könnte. In diesem Fall zeigt sich ein weiteres Mal die den kollektiven Rechtsschutz in vielerlei Hinsicht kennzeichnende Trittbrettfahrer‑ problematik: Selbst dann, wenn die Gruppe als Gesamtheit weit über diese Kos‑ ten hinaus von einer Einwendung profitieren würde – und damit jedes einzelne Gruppenmitglied über seinen jeweiligen Anteil an diesen Kosten hinaus –, wäre unter ungünstigen Umständen niemand bereit sie zu erheben. Ein Problem stellt das vor allem bei der class action dar: Der allgemeinen Kostenstruktur des amerikanischen Zivilprozessrechts entsprechend muss auch der objector im Ausgangspunkt unabhängig vom Erfolg seiner Einwendung für seinen eigenen Anwalt und gegebenenfalls für die von ihm vorgenommene dis‑ covery aufkommen. Die Rechtsprechung zur amerikanischen class action steu‑ ert dem jedoch zumindest ein Stück weit entgegen, indem sie die common fund doctrine auch zugunsten eines objectors anwendet.265 In common fund-Fäl‑ 265 Vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:60 m. w. N.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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len266 kann daher ein objector, der der Gruppe durch seine Einwendung einen finanziellen oder auch sonstigen Vorteil verschafft, seine hierbei entstandenen Kosten decken – abzüglich seines eigenen Anteils an ihnen. Wenn Gruppen‑ mitglieder, die Einwendungen erheben, dabei von Anwälten vertreten werden, die auf der Grundlage eines Erfolgshonorars arbeiten und oftmals die eigentli‑ che wirtschaftliche Triebkraft darstellen, kommt die common fund doctrine di‑ rekt diesen Anwälten zugute, ohne dass den objector ein wirtschaftliches Risiko trifft. Allerdings ist das Erfordernis der Verschaffung eines Vorteils eine hohe Hürde, die in den meisten Fällen nicht überwunden wird.267 Im deutschen Recht fehlt eine entsprechende Kostenproblematik bei Ein‑ wendungen praktisch völlig. Gesetzliche Regelungen dazu gibt es konsequen‑ terweise nicht; § 17 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG bestimmt lediglich allgemein, dass der Vergleich eine Regelung zur „Verteilung der Kosten des Musterverfahrens auf die Beteiligten“ enthalten soll. Eine Einwendung wird dabei für denjenigen, der sie vorbringt, allenfalls in sehr seltenen Ausnahmefällen überhaupt erstat‑ tungsfähige Kosten verursachen. Wenn sich ein Beigeladener anwaltlich ver‑ treten lässt, während er seine Stellungnahme vorbringt, werden die hierauf be‑ ruhenden Kosten in aller Regel bereits abgegolten sein. Das Ausgangs- und das Musterverfahren sind gemäß § 16 Nr. 13 RVG dieselbe Angelegenheit, so dass die Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3100 VV‑RVG auch dann nicht noch ein‑ mal entsteht, wenn das Einreichen einer Stellungnahme die einzige Handlung ist, die der Beigeladene im Musterverfahren vornimmt. Durch eine Einwen‑ dung können nur in einem äußerst seltenen Fall zusätzliche Anwaltsgebühren anfallen: Er setzt voraus, dass auf Grundlage der Einwendung ein Verhand‑ lungstermin stattfindet, aufgrund dessen für den Beigeladenen erstmals die Terminsgebühr gemäß Nr. 3104 VV‑RVG entsteht, da es zuvor weder im Aus‑ gangsverfahren noch im Musterverfahren einen solchen gegeben hat. Wohl eher theoretischer Natur ist momentan die Frage, ob für Aufwendungen zur Vor‑ bereitung einer Einwendung – etwa die Erstellung eines Privatgutachtens – Er‑ satz verlangt werden kann, wenn die Einwendung zu einem besseren Vergleich beiträgt. Möglicherweise wären hier Ansprüche aus dem Bereich der Geschäfts‑ führung ohne Auftrag oder des Bereicherungsrechts zu prüfen.
7. Missbrauchsrisiken Wenn objectors in den USA von unternehmerisch tätigen Anwälten vertreten werden, drängt sich die strukturelle Parallele zu dem den kollektiven Rechts‑ schutz prägenden principal-agent-Konflikt zwischen der Gruppe und dem class counsel auf. Ein objector ist typischerweise nicht in der Lage, die Tätigkeit seines 266 267
Siehe dazu oben S. 120 ff. Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 15:60.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Anwalts effektiv zu überwachen.268 Rubenstein fasst dies so zusammen: „objec‑ tors are essentially lawyers without clients.“269 Eine Ausnahme mag allenfalls dann gelten, wenn die Einwendungen von Gruppenmitgliedern mit hohem Ein‑ satz und ausgeprägter Fachkenntnis stammen. In der hiermit verbundenen Dis‑ kussion geht es indessen nicht darum, dass ein Anwalt dem spezifischen objector schaden könnte, den er vertritt; vielmehr werden Nachteile zulasten der Gruppe hervorgehoben. Zunächst wird von manchen schon darin ein Problem gesehen, dass die Gerichte bisweilen objectors und ihre Anwälte finanziell dafür beloh‑ nen würden, dass sie rein „kosmetische“ Änderungen eines Vergleichs veranlas‑ sen.270 Auf diese Weise würden Mittel fehlalloziert, die ansonsten anteilig den einzelnen Gruppenmitgliedern sowie dem class counsel zustünden. Im Schlaglicht steht aber eine andere Problematik: Der Vorwurf richtet sich gegen ein zweifelhaftes Geschäftsmodell, das manche nicht an der Aushand‑ lung des Vergleichs beteiligte Anwälte – sie werden in diesem Zusammenhang als „professional objectors“271 bezeichnet – entwickelt hätten:272 Sie suchten sich ein Gruppenmitglied, von dem sie sich mandatieren ließen und machten in dessen Namen – typischerweise ungerechtfertigte – Einwände geltend. Im Ex‑ tremfall handele es sich um sogenannte „canned objections“, also völlig generi‑ sche Ausführungen ohne konkreten Bezug zum Fall, die oft aus Versatzstücken bereits in anderen Fällen vorgebrachter Einwendungen bestünden.273 Sodann ließen sie die Vergleichsparteien wissen, dass sie gegen Zahlung einer Geld‑ summe dazu bereit seien, ihre Einwendungen fallen zu lassen und darauf zu ver‑ zichten, Rechtsmittel einzulegen. Das Drohpotential dieses Vorgehens verdanke sich der Rechtsprechung des Supreme Court. Dieser erlaubt den repräsentier‑ ten Gruppenmitgliedern, die Genehmigung eines Vergleichs mit Rechtsmitteln 268 Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 425 f.; Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1443, 1449 (2006). 269 Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1449 (2006). 270 So Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 962 (2010); auf die Kosten und Risiken ne‑ bensächlicher Einwendungen weist auch das Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.643 hin. 271 Dieser Begriff geht offenbar auf Shaw v. Toshiba America Information Systems, Inc., 91 F. Supp. 2d 942, 973 (E. D. Tex. 2000) zurück, vgl. Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 428. Vgl. auch City of Providence v. Aeropostale, Inc., 2014 WL 1883494 [*2] (S.D.N.Y. 2014). 272 Vgl. jeweils zum Ganzen ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.08, Comment a. und b.; McLaughlin on Class Actions § 6:10; Rubenstein, Newberg on Class Actions, §§ 13:20, 13:21; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d § 1797.4; Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403; Lopatka/Smith, 39 Fla. St. U. L. Rev. 865 (2012); Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1449 (2006). (Anonymisierte) Nachw. bzgl. einiger in dieser Weise tätiger An‑ wälte finden sich bei Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 980 ff. (2010). 273 Vgl. dazu Advisory Committee on Civil Rules, Report to the Standing Committee, De‑ cember 11, 2015, S. 11 (in: Committee on Rules of Practice and Procedure, Agenda Book 2016/01, S. 199); Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 422, 427; anschauliches Bsp. bei Shaw v. Toshiba America Information Systems, Inc., 91 F. Supp. 2d 942, 973 f. (dort Fn. 18) (E. D. Tex. 2000). Vgl. auch Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 963 f. (2010) m. w. N.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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anzugreifen, wenn ihren fristgerecht vorgebrachten Einwendungen nicht statt‑ gegeben wurde.274 Bis die nächste Instanz in einem oft langwierigen Verfahren entschieden habe, werde aber üblicherweise die Auszahlung der Leistungen an die Gruppe aufgeschoben und – was in diesem Zusammenhang von entschei‑ dender Bedeutung ist – die Vergütung der Anwälte der Gruppe zurückbehalten. Diese hätten demgemäß ein erhebliches Interesse eine solche Verzögerung zu verhindern, zumal diese sich im Extremfall über Jahre hinziehen kann.275 Nicht ohne Grund wird dieses Vorgehen in der amerikanischen Literatur mit Begriffen wie „extortion“ und „blackmail“ belegt.276 Aus einer anderen Perspektive kann man hier auch eine Variation einer Trittbrettfahrerproblematik sehen: Nachdem ihre Kollegen im Interesse der class einen Vergleich zustande gebracht haben, versuchen die professional objectors, die selbst nichts dazu beigetragen haben, Gewinn daraus zu schlagen. In diesem Sinne liegt der Kritikpunkt darin, dass sie zusätzliche Kosten verursachen, die in Grenzfällen dazu führen können, dass Anwälte davon absehen, berechtigte und damit rechtspolitisch wünschenswerte class actions anhängig zu machen.277 Schließlich bieten aus der Luft gegriffene Einwendungen – also insbesondere die bereits genannten canned objections – dem Gericht keinen Erkenntniswert für die Beurteilung der Qualität des Ver‑ gleichs.278 Anders als die Mehrzahl der Beiträge, die dem Problem der profes‑ sional objectors einen hohen Stellenwert einräumen, meldet Brunet Zweifel an, ob es in der Rechtspraxis tatsächlich weit verbreitet ist.279 Abschließend lässt sich das im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht beurteilen. Das WCAM und das KapMuG vermeiden dieses spezifische Missbrauchs‑ risiko schon dadurch, dass sie von vornherein keine Rechtsmittel gegen eine stattgebende Genehmigungsentscheidung zulassen.280 Dagegen erwägen die 274
Devlin v. Scardelletti, 536 U. S. 1, 10 (2002) (die Gruppenmitglieder seien als „parties“ anzusehen, da sie an den genehmigten Vergleich gebunden sind; sie könnten daher Rechtsmit‑ tel einlegen, ohne zuvor gem. Rule 24 FRCP interveniert zu haben); vgl. hierzu auch Wright/ Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.4; Lopatka/Smith, 39 Fla. St. U. L. Rev. 865, 884 (2012). Einwendungen werden nicht in einer separaten Entscheidung, son‑ dern im Rahmen der endgültigen Genehmigung des Vergleichs zurückgewiesen, vgl. Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:36. 275 Fitzpatrick, 62 Vand. L. Rev. 1623, 1624 (2009). 276 Vgl. Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 426, 429 f.; Fitzpatrick, 62 Vand. L. Rev. 1623, 1624 (2009). 277 Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 426 f., 432; ähnlich (in Bezug auf Einwendungen gegen die Höhe der Anwaltsvergütung) Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 973 f. (2010). 278 Vgl. Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 439. 279 Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 439. 280 So ausdrücklich § 18 Abs. 1 KapMuG („unanfechtbare[r] Beschluss“), vgl. auch Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 17 Rn. 33; das WCAM trifft diesbezüglich zwar keine aus‑ drückliche Regelung, gibt aber nur den Vergleichsparteien die Möglichkeit des Widerrufs gem. Art. 1018 Rv, ohne eine entsprechende Regelung für die Geschädigten zu enthalten, vgl. dazu van Boom, Collective Settlement, S. 186; Krans, 27 Pac. McGeorge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 294 (2014); § 18 Abs. 2 KapMuG schließt i. Ü. auch eine solche Möglichkeit aus. Gegen eine ablehnende Genehmigungsentscheidung können die Vergleichsparteien dem‑
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
amerikanischen Bundesgerichte nur ganz vereinzelt, den konkreten Sachverhalt von Devlin v. Scardalletti aufzugreifen und die Entscheidung dahingehend ein‑ schränkend auszulegen, dass sie nur für Fälle gelte, in denen die Gruppenmit‑ glieder nicht über die Möglichkeit verfügen, aus dem Vergleich auszutreten;281 diese Auslegung würde die praktische Relevanz der Entscheidung erheblich reduzieren. Ein weiterer Gesichtspunkt, der den Unterschied zum niederlän‑ dischen und deutschen Ansatz erklären könnte, sind die unterschiedlichen Zeit‑ punkte, zu dem die Austrittsoption eingeräumt wird.282 Anders als beim WCAM und dem KapMuG können die Gruppenmitglieder bei der class action nicht mehr aus einem Vergleich austreten, nachdem dieser genehmigt wurde. Austritt und Einwendungen sind nur alternativ möglich, nicht kumulativ;283 das erhöht das Bedürfnis dafür, denjenigen Gruppenmitgliedern, die sich dafür entschie‑ den haben, in der Gruppe zu verbleiben, schlagkräftige Werkzeuge in die Hand zu geben, mit denen sie ihren Einwendungen Nachdruck verschaffen können. Anstatt die Rechtsmittel zu beschränken, werden dementsprechend verschiede‑ ne Ansätze praktiziert, die das Missbrauchsrisiko neutralisieren oder zumindest abschwächen sollen, und weitere werden in der Literatur vorgeschlagen. Als Reaktion auf die Problematik der professional objectors wurde im Jahr 2003 Rule 23 (e) (5) FRCP a. F. eingefügt, so dass Einwendungen nur mit der Ge‑ nehmigung des Gerichts zurückgenommen werden konnten. Das Erpressungs‑ potential wurde auf diese Weise jedoch nicht umfassend beseitigt, denn es be‑ steht nicht nur dann, wenn eine Einwendung bereits formell erhoben wurde; regelmäßig wird schon der Hinweis auf die bloße Möglichkeit einer Einwen‑ dung genügen, um die Vergleichsparteien unter Druck zu setzen.284 Die Zah‑ lung an den objector wird dann in einer Nebenabrede vereinbart.285 Diese hätte zwar schon vor der jüngsten Reform von 2018 gemäß Rule 23 (e) (3) FRCP gegenüber beim WCAM (Art. 1018 Abs. 1 Rv) und eingeschränkt auch beim KapMuG (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, vgl. Reuschle, in: KK‑KapMuG, § 18 Rn. 12) vorgehen. 281 So aber In re General American Life Ins. Co. Sales Practices Litigation, 302 F. 3d 799, 800 (8th Cir. 2002) (allerdings letztlich offengelassen); dagegen sind einzelstaatliche Gerich‑ te mehrfach von Devlin abgewichen (im Wege des distinguishing), vgl. Ballard v. Advance America, 349 Ark. 545, 549 (2002); Barnhill v. Florida Microsoft Anti-Trust Litigation, 905 So. 2d 195, 199 (Fla. App. 3 Dist. 2005); vgl. auch Lopatka/Smith, 39 Fla. St. U. L. Rev. 865, 891 (2012). 282 Siehe dazu oben S. 248 ff. 283 Wenn man von den Ausnahmefällen einer Berücksichtigung von Einwendungen eines ausgetretenen – ehemaligen – Gruppenmitglieds und des nachträglichen Wiedereintritts in die Gruppe absieht. 284 Rubenstein, 53 UCLA L. Rev. 1435, 1449 (2006). 285 Kritisch aber Brunet, 2003 U. Chi. Legal F. 403, 436 f., der bezweifelt, dass man aus der geringen Quote an Einwendungen schließen könne, dass solche Nebenvereinbarungen vor‑ liegen. Sein Argument, dass viele der registrierten objectors nicht anwaltlich vertreten seien und nicht weiter in Erscheinung träten, nachdem sie sich mit einem einzelnen Schreiben an das Gericht gewendet hätten, lässt aber keinen Schluss darüber zu, ob für die Nichtgeltendma‑ chung von noch nicht formell erhobenen Einwendungen Geld an Anwälte fließt.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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gegenüber dem Gericht offengelegt werden müssen – ob dies tatsächlich ge‑ schieht, ist aber eine andere Frage, da effektive Mechanismen zur Durchsetzung dieser Pflicht fehlen. Die gesetzliche Lösung wurde daher allgemein als unbe‑ friedigend empfunden. Im Hintergrund stand dabei das Dilemma, die Gefahr eindämmen zu müssen, dass Einwendungen missbraucht werden, ohne umge‑ kehrt deren unbestrittenes Potential zu untergraben, zur Beurteilung des Ver‑ gleichs beizutragen. Rule 23 (e) (5) FRCP wurde daher Ende 2018 geändert. Nicht mehr die Rücknahme einer Einwendung bedarf nunmehr der richterlichen Genehmigung. Stattdessen bezieht sich diese gemäß Rule 23 (e) (5) (B) FRCP auf die Zahlungen oder sonstigen Vorteile, die in diesem Zusammenhang oder auch für die Rücknahme eines Rechtsmittels an den objector oder seinen An‑ walt fließen.286 Die Principles of Aggregate Litigation des American Law In‑ stitute setzen dagegen auf richterliche Sanktionen, die gegen Akteure verhängt werden sollen, die unberechtigte Einwendungen erheben.287 Das im amerikanischen Recht gegebene Missbrauchspotential beruht dem‑ entsprechend auf mehreren Besonderheiten, die im deutschen Recht nicht vor‑ liegen. An erster Stelle steht dabei der Umstand, dass unternehmerisch tätige Rechtsanwälte vergleichsweise einfach Gruppenmitglieder für die Geltendma‑ chung von Einwendungen rekrutieren können, indem sie diese im Wege der Vereinbarung eines Erfolgshonorars von allen damit verbundenen Kosten und finanziellen Risiken freistellen. Hinzu kommt die Berechtigung eines objectors, Rechtsmittel gegen einen Vergleich einzulegen, die diese Rechtsanwälte für ihr Geschäftsmodell ausnutzen. In Deutschland sind daher in dieser Hinsicht nicht die sprichwörtlichen amerikanischen Verhältnisse zu befürchten.
8. Schlussfolgerungen a) Das Potential von Einwendungen Die Möglichkeit der Gruppenmitglieder, Einwendungen gegen einen Vergleich vorzubringen, steht in einem Spannungsfeld von Vorteilen und Risiken. Ins‑ besondere in den USA wird sie kontrovers diskutiert, wobei sie jedoch nur ver‑ einzelt grundsätzlich in Frage gestellt wird.288 Der Nutzen von Einwendungen liegt vor allem darin, dass sie es den Betroffenen ermöglichen, den Blick des 286 Vgl. Advisory Committee on Civil Rules, Report of the Advisory Committee on Civil Rules, May 18th, 2017, S. 18 (= Committee on Rules of Practice and Procedure, Agenda Book 2017/06, S. 433). Vgl. für eine in der Formulierung leicht abweichende frühere Version Ad‑ visory Committee on Civil Rules, Report to the Standing Committee, Dec. 11th, 2015, S. 12 (=Committee on Rules of Practice and Procedure, Agenda Book 2016/01, S. 200). Das Com‑ mittee machte an dieser Stelle noch einen – ausdrücklich nachrangigen – Alternativvorschlag, der seiner eigenen Aussage zufolge deutlich komplexer war und umfassende Änderungen in Rule 42 FRCP (voluntary dismissal) vorsah. Dieser Vorschlag wurde aber verworfen. 287 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.08; vgl. auch a. a. O., Comment c. zu § 3.08. 288 So aber Greenberg, 84 St. John’s L. Rev. 949, 954 ff., 970 ff. (2010), der Einwendun‑
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Gerichts auf Gesichtspunkte zu lenken, die von den Parteien des Vergleichs möglicherweise nicht beachtet oder unterschlagen wurden.289 Allerdings lässt sich nicht zuverlässig gewährleisten, dass sie diese Einflussmöglichkeit auch effektiv wahrnehmen. Auf der anderen Seite fallen zudem der Aufwand, die Gruppenmitglieder in das Verfahren einzubeziehen,290 und eventuelle Miss‑ brauchsrisiken291 ins Gewicht. Letztere sind jedoch im Wesentlichen auf Be‑ sonderheiten des amerikanischen Rechts zurückzuführen. Insgesamt ist die Möglichkeit Einwendungen vorzubringen positiv zu bewerten. Diese können im Idealfall eine wertvolle Ergänzung der Entscheidungsgrundlage eines Ge‑ richts darstellen. Im deutschen Recht sind mit ihnen auch keine erheblichen Risiken verbunden. Das KapMuG bietet grundsätzlich verhältnismäßig gute Voraussetzungen für den Rückgriff auf Einwendungen als Teil der Erkenntnisgrundlage des Ge‑ richts: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beigeladener, der zuvor bereits eine Klage in seinem Ausgangsverfahren erhoben hat, auch bereit ist, sich mit dem Inhalt eines Vergleichs auseinanderzusetzen, ist voraussichtlich tendenziell höher als bei den zunächst ohne ihr Zutun einbezogenen Gruppenmitgliedern bei der class action und beim WCAM, wenn auch nur graduell.292 Auf die Mus‑ terfeststellungsklage lässt sich dies zwar nicht übertragen, da sie nicht voraus‑ setzt, dass für die einzelnen Gruppenmitglieder bereits Ausgangsverfahren an‑ hängig sind. Dennoch stellt es ein Defizit der gesetzlichen Regelung dar, dass sie nicht vorsieht, dass die Verbraucher, die ihre Ansprüche oder Rechtsverhält‑ nisse angemeldet haben, im Zusammenhang mit der Genehmigung eines Ver‑ gleichs Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Eine solche Vorgabe würde die Effizienz des Verfahrens nur unwesentlich reduzieren, dafür aber zumindest in manchen Fällen die Beurteilungsgrundlage für die Genehmigung des Ver‑ gleichs möglicherweise entscheidend verbessern.
b) Dogmatische Kategorisierung von Einwendungen im deutschen Recht Versucht man die Rechtsfigur der Einwendung in die Kategorien des deutschen Zivilprozessrechts einzuordnen, lassen sich strukturelle Parallelen mit dem Sachvortrag oder der Äußerung von rechtlichen Ansichten durch die Parteien aufzeigen – freilich mit dem Unterschied, dass Einwendungen von Beteilig‑ ten stammen, denen gerade keine Parteistellung zukommt. Mit einer Einwen‑ dung versucht ein Gruppenmitglied auf das Gericht einzuwirken. Soweit sie Behauptungen tatsächlicher Art enthält, zielt sie darauf ab den Streitstoff des gen in der Regel für überflüssig hält und weitgehende Vermutungen gegen ihre Berechtigung etablieren will. 289 Siehe oben S. 302 ff. 290 Siehe oben S. 310 ff. 291 Siehe oben S. 321 ff. 292 Kritisch von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 426 f.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Verfahrens und damit die Entscheidungsgrundlage des Gerichts zu modifizie‑ ren. Die Analogie zum Sachvortrag sollte jedoch nicht überstrapaziert werden. Insbesondere müssen die Anforderungen an die Substantiierung von Einwen‑ dungen nicht zwingend denjenigen für den Sachvortrag entsprechen. Vielmehr können jene auch dann von Nutzen sein, wenn sie sich darauf beschränken die Aufmerksamkeit des Gerichts auf mögliche Problempunkte zu lenken. Nicht selten werden Gruppenmitglieder mit ihren Einwendungen allein die Wertungs‑ entscheidung des Gerichts zu beeinflussen versuchen, ohne tatsächliche Be‑ hauptungen aufzustellen, die vom bisherigen Sach- und Streitstand oder dem Inhalt der Begründung des Vergleichs durch die Parteien abweichen.293 Selbst reine Meinungsäußerungen sind denkbar und legitim. Eine solche Einwendung ist lediglich ein Hinweis an das Gericht. Sofern sie plausible Kritikpunkte ent‑ hält, kann das Gericht in Anlehnung an den Gedanken einer gestuften Darle‑ gungslast zu dem Schluss kommen, dass sich die Anforderungen an die abs‑ trakte Behauptungslast der Parteien verschärfen, diese also ihre Begründung ergänzen müssen.294 Das Gericht hat aber einen Wertungspielraum, ob es es für geboten hält einer Einwendung auf diese Weise weiter nachzugehen oder nicht. Aufgrund des besonderen Stellenwerts, der prozessökonomischen Über‑ legungen im Kontext der Genehmigungsentscheidung zukommt, muss gewähr‑ leistet werden, dass es nicht im Übermaß zu komplexen Beweiserhebungen kommt. Es gilt zu vermeiden, dass das Verfahren durch eine Vielzahl generi‑ scher Einwendungen praktisch zum Kollaps gebracht werden kann. Man wird daher verlangen müssen, dass Beweise nur dann erhoben werden, wenn eine Einwendung eine in der Begründung der Parteien enthaltene Tatsachenbehaup‑ tung spezifisch und substantiiert in Frage stellt. Orientierung bieten in dieser Hinsicht die Anforderungen, die im Rahmen der Bestätigung eines Insolvenz‑ plans für die Darlegung einer Schlechterstellung gemäß § 251 InsO bestehen. Diese Regelung ist als ein Widerspruchsrecht ausgestaltet, das von den Betrof‑ fenen geltend gemacht werden muss und ähnelt daher einer Einwendung. Hier wird eine „konkrete und detaillierte Vergleichsrechnung“ verlangt, die erforder‑ lichenfalls gutachterlich zu untermauern ist.295 Ob man bei einer Einwendung gegen einen Vergleich ebenso weit gehen muss, ist zwar diskussionswürdig. Das Beispiel aus der InsO zeigt jedoch auf, welche Spielräume hier bestehen. Am weitesten würde es in diesem Sinne gehen, wenn man in Anlehnung an § 251 Abs. 2 InsO296 verlangen würde, dass ein Beigeladener seine Einwendung glaubhaft machen muss, um eine Beweiserhebung zu ermöglichen. Das würde seinen Rechtsschutz jedoch stark verkürzen und findet zudem keine Grundlage im KapMuG. Es muss dem Gericht vielmehr möglich sein, auch in Einwen‑ 293 294
So auch von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 426 f. Siehe oben S. 295 ff. 295 Pleister, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 251 Rn. 9. 296 Vgl. Pleister, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 251 Rn. 13.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
dungen enthaltene Tatsachenbehauptungen, die bislang nicht hinreichend be‑ legt sind, zum Anlass dafür zu nehmen, von den Parteien zu verlangen, dass sie ihre Begründung nachbessern. Hier zeigt sich das Element des Untersuchungs‑ grundsatzes im Rahmen des in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen hybri‑ den Ansatzes. Rechtliche Ausführungen in Einwendungen sollten schließlich ebenso wie solche der Parteien als unverbindliche Anregung an das Gericht be‑ trachtet werden.
IV. Einbeziehung von Stellungnahmen unbeteiligter Dritter Das Recht, Einwendungen zu erheben, steht bei der class action, dem WCAM und dem KapMuG nur jeweils einem begrenzten Personenkreis zu.297 Darüber‑ hinaus kann es aber sinnvoll sein, einzelnen Personen und vor allem Institutio‑ nen, Behörden oder Verbänden, die über einschlägige Expertise oder ein beson‑ deres Interesse an einem Verfahren verfügen, eine Beteiligung zu ermöglichen. Sie können das Gericht auf Problempunkte aufmerksam machen und Anregun‑ gen geben, welche Wertungen es berücksichtigen könnte. Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwiefern Stellungnahmen Dritter aus deren eigener Initiative zulässig sind.298
1. Beteiligungsmöglichkeiten für amici curiae und Behörden bei der class action Im amerikanischen Zivilprozess kann ein Gericht einer beliebigen Person er‑ lauben, schriftsätzlich zu einem Rechtsstreit Stellung zu nehmen, ohne dass sie dessen Partei ist. Ein solcher amicus curiae kann sowohl aus eigener Ini‑ tiative als auch auf Veranlassung des Gerichts tätig werden.299 Seine Beiträge stellen für das Gericht eine zusätzliche Informationsquelle im Rahmen seiner Entscheidungsfindung dar, die aber einen rein optionalen Charakter aufweist; ein Gericht muss sie selbst dann nicht einmal zur Kenntnis nehmen, wenn es zuvor ausdrücklich zugelassen hat, dass er sie einreicht.300 Sie betreffen dabei nur ganz ausnahmsweise die Sachverhaltserforschung. In aller Regel helfen sie dem Gericht, sich die rechtlichen Grundlagen für seine Entscheidung zu er‑ schließen.301 Als eine der Regelungen im Rahmen des CAFA schreibt 28 U.S.C. 297
Siehe oben S. 308. planmäßigen Heranziehung von Dritten als Hilfspersonen des Gerichts bei der class action siehe dagegen unten S. 334 f. 299 Garner, Black’s Law Dictionary, Eintrag „amicus curiae“; Kühne, Amicus Curiae, S. 2; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:25. 300 Kühne, Amicus Curiae, S. 127. 301 Kühne, Amicus Curiae, S. 120. 298 Zur
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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§ 1715 vor, dass bestimmte Behörden darüber zu benachrichtigen sind, wenn bei einer class action die Genehmigung eines Vergleichs beantragt wurde. Wenn diese sich in der Folge äußern wollen, gestehen ihnen die meisten Gerichte le‑ diglich die Stellung eines amicus curiae zu.302
2. Stellungnahmen von unbeteiligten Interessenorganisationen im WCAM Gemäß Art. 1014 Rv kann eine Interessenorganisation eine verweerschrift ein‑ reichen und darin zu der Übereinkunft Stellung nehmen, deren Verbindlich‑ erklärung beantragt ist.303 Seit der Änderung des Gesetzeswortlauts (Wegfall des „de“ vor „personen“) können auch Organisationen, die nach ihren Statuten nur die Interessen eines Teils der Geschädigten vertreten, von diesem Recht Ge‑ brauch machen.304 Auf dieses sind sie gemäß Art. 1013 Abs. 5 S. 2 Rv mittels Zeitungsanzeigen hinzuweisen.
3. Die prozessuale Stellung Dritter im deutschen Zivilverfahrensrecht Das deutsche Zivilprozessrecht ermöglicht es Dritten grundsätzlich nicht, aus eigener Initiative in einer rein informatorischen Rolle in einem Rechtsstreit aufzutreten. Das Institut der Nebenintervention, an das man in diesem Zusam‑ menhang zunächst denken könnte, dient vielmehr dem Schutz individueller Rechte und gewährt umfassende Beteiligungsrechte.305 Vereinzelte Sonder‑ regelungen erlauben aber bestimmten Behörden, sich in ein anhängiges Ver‑ fahren einzuschalten.306 Ein Anwendungsfall, der in Zukunft möglicherweise im Rahmen eines Verfahrens des kollektiven Rechtsschutzes Relevanz gewin‑ nen könnte, ist das Beteiligungsrecht des Bundeskartellamts gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 GWB – oder im Falle von § 90 Abs. 3 GWB dasjenige der Landeskartell‑ behörden – in zivilrechtlichen Rechtsstreiten, die kartellrechtliche Fragestel‑ lungen zum Gegenstand haben.307 Es dient dem öffentlichen Interesse an einem funktionsfähigen Wettbewerb;308 Kühne betont daneben auch seine das Gericht unterstützende Funktion.309 Den Kartellbehörden ermöglicht es, sowohl Tatsa‑ chen vorzutragen als auch Rechtsausführungen zu machen, wobei von letzteren 302 Vgl. 303 Vgl.
Rubenstein, Newberg on Class Actions, §§ 8:18, 13:26 m. w. N. Mom, Kollektiver Rechtsschutz in den Niederlanden, S. 348 f. 304 Memorie van toelichting, Tweede Kamer, 2011–2012, 33 126, Nr. 3, S. 21; vgl. auch van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1014 Rv Nr. 2. 305 Kühne, Amicus Curiae, S. 256. 306 Bsp. bei Nothdurft, in: MüKoWettbR, GWB, § 90 Rn. 4. 307 Die Europäische Kommission verfügt gemäß Art. 15 VO 1/2003 und § 90a Abs. 2 S. 1 und 4 GWB über ähnliche Rechte wie die nationalen Kartellbehörden. 308 Dicks, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, § 90 GWB Rn. 1; Nothdurft, in: MüKoWettbR, GWB, § 90 Rn. 7. 309 Kühne, Amicus Curiae, S. 277.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
auch ökonomische Erläuterungen umfasst sind.310 In der Praxis beschränken sie ihren Vortrag auf die normative Ebene, was auch den Umstand widerspiegeln mag, dass sie bislang praktisch nur in Revisionsverfahren von ihrem Recht Ge‑ brauch machen, nicht aber in den Tatsacheninstanzen.311 Rechtsbezogene Aus‑ führungen stellen dabei für das Gericht lediglich eine unverbindliche Anregung dar. Wenn eine Kartellbehörde doch einmal Sachvortrag einbringen sollte, muss ihn sich mindestens eine Partei zu eigen machen, damit er Wirkung entfalten kann.312 Sie kann das Gericht aber hiervon unabhängig auf Widersprüche oder sonstige Mängel des Parteivortrags aufmerksam machen, indem sie eine ab‑ weichende Schilderung der Sachlage präsentiert. Im Zusammenhang mit einer Entscheidung über die Genehmigung eines Vergleichs bedeutet das, dass eine Behörde mit ihren Äußerungen vor allem im Sinne des Gedankens der sekundä‑ ren Darlegungslast die Substantiierungsanforderungen für eine Begründung der Musterparteien oder eine Einwendung eines Beigeladenen beeinflussen kann.
V. Handlungsoptionen des Gerichts 1. Vorbemerkungen a) Die Ausgangssituation Legt man die bisherigen Ergebnisse zugrunde, kann sich ein Gericht bei der Überprüfung eines Vergleichs in verschiedenen Situationen wiederfinden. Ers‑ tens kann es angesichts der Begründung der Parteien beziehungsweise aufgrund des bisherigen Sach- und Streitstands – mangels oder trotz des Vorliegens von Einwendungen – zu dem Ergebnis kommen, dass es den Vergleich genehmigen muss. Diese Konstellation ist völlig unproblematisch, wenn das Gericht sämt‑ liche verfügbaren Erkenntnisquellen in angemessener Weise ausgeschöpft hat und keine Ansatzpunkte für Zweifel sieht. Zweitens kann es inhaltliche Gründe feststellen, die eine Genehmigung ausschließen. Die Frage ist in diesem Fall, ob und auf welche Weise es den Parteien Gelegenheit zur Nachbesserung des Ver‑ gleichs geben kann oder muss. Drittens kann das Gericht der Ansicht sein, dass es die Genehmigung momentan schon deswegen nicht erteilen kann, weil ihm eine hinreichende Entscheidungsgrundlage fehlt, um den Vergleich angemessen beurteilen zu können, ohne dass bereits irgendwelche Mängel positiv feststehen würden. In diesem Zusammenhang wird vor allem zu untersuchen sein, welche zusätzlichen Mittel dem Gericht zur Verfügung stehen, um einen hinreichenden 310
Nothdurft, in: MüKoWettbR, GWB, § 90 Rn. 9.
311 Voss, in: KK‑Kartellrecht, GWB, § 90 Rn. 12. 312 K. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker, GWB,
§ 90 Rn. 8; Dicks, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, GWB, § 90 Rn. 4; Nothdurft, in: MüKo‑ WettbR, GWB, § 90 Rn. 9; Voss, in: KK‑Kartellrecht, GWB, § 90 Rn. 12.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Eindruck von der Sachlage zu gewinnen oder die Beteiligten dazu zu veranlas‑ sen ihm diesen zu gewähren. Die zweite und die dritte Konstellation werden oftmals schwer voneinander zu unterscheiden sein. So impliziert die Rüge einer unzureichenden Entschei‑ dungsgrundlage, dass es den Parteien nicht gelungen ist, alle Zweifel daran aus‑ zuräumen, dass der Vergleich möglicherweise unfair ist. Wenn das Gericht um‑ gekehrt einen konkreten inhaltlichen Mangel zu erkennen meint, kann das im Einzelfall auch bedeuten, dass es nicht über eine bestimmte Information ver‑ fügt, die die spezifische Ausgestaltung des Vergleichs rechtfertigt.
b) Kategorisierung der Handlungsmöglichkeiten Die Handlungsoptionen eines Gerichts lassen sich abstrakt zwei Kategorien zu‑ ordnen: Einerseits kann es von den Parteien verlangen, dass sie eine bestimm‑ te Handlung vornehmen und etwa eine Regelung des Vergleichs abändern, ihre Begründung ergänzen oder bestimmte Nachweise vorlegen. Sie können dann wahlweise seiner Bitte nachkommen oder auch nicht – und als Folge eine für sie ungünstige Entscheidung in Kauf nehmen. Im Rahmen dieser ersten Kate‑ gorie sind grundsätzlich zwei Wege denkbar, auf die ein Gericht den Parteien kommunizieren kann, dass es ihren Vergleich nur akzeptieren wird, wenn sie seinen Wünschen nachkommen. Zum einen kann es ihnen bereits im Laufe des Genehmigungsverfahrens entsprechende Hinweise geben. Zum anderen kann es eine formelle Entscheidung treffen, mit der es die Genehmigung entweder ablehnt oder aufschiebt, und im Rahmen ihrer Begründung seine Vorstellungen zum Ausdruck bringen. Beide Ansätze können sowohl dazu dienen, in der zwei‑ ten der oben unter a) beschriebenen Konstellationen eine inhaltliche Nachbes‑ serung des Vergleichs als auch in der dritten Konstellation die Ergänzung sei‑ ner Begründung oder weitere Nachweise zu fordern. Insofern kann es sowohl um zusätzlichen Parteivortrag als auch um die Einführung von Beweismitteln gehen, wobei die Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien beispielsweise in den USA weniger deutlich ausgeprägt sind als in Deutschland.313 Andererseits könnte ein Gericht die gewünschte Handlung selbst vorneh‑ men, ohne dass die Parteien eine Wahl haben. Diese zweite Kategorie rich‑ terlicher Handlungsoptionen betrifft allerdings nur Fragen der Entscheidungs‑ grundlage, also etwa die Veranlassung zusätzlicher Beweiserhebungen, da das Gericht einen Vergleich in allen untersuchten Rechtsordnungen nicht aus eige‑ ner Machtvollkommenheit abändern kann.314 Im Folgenden soll im Lichte dieser Kategorienbildung untersucht werden, inwiefern diese Ansätze bei der class action (siehe unten 2.), dem WCAM (siehe unten 3.) und im deutschen Zivilprozessrecht (siehe unten 4.) offenstehen. Über 313 314
Siehe oben S. 301. Siehe oben S. 82 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
die Möglichkeit und Verbreitung informeller Einwirkungen während des Ver‑ fahrens können für die class action und das WCAM dabei allerdings in Erman‑ gelung einer belastbaren Datengrundlage nur sehr eingeschränkt Aussagen ge‑ troffen werden. Das deutsche Zivilprozessrecht bietet dagegen in Gestalt von § 139 ZPO immerhin einen Ansatzpunkt für eine dogmatische Auseinanderset‑ zung mit der Möglichkeit richterlicher Hinweise während des Genehmigungs‑ verfahrens. Insbesondere für die class action liegt der Schwerpunkt der Dar‑ stellung daher auf einer allgemeinen Charakterisierung der Rolle des Richters.
2. Handlungsoptionen eines Gerichts bei der class action a) Die im Kontext des amerikanischen Zivilprozessrechts ungewöhnlich aktive Rolle des Gerichts In den USA nehmen die Gerichte bei class actions allgemein eine aktivere Rolle ein als in gewöhnlichen Individualverfahren.315 Bei einem Vergleich müssen sie ein höheres Maß an Verantwortung übernehmen und die Parteien in Erman‑ gelung eines Interessengegensatzes zwischen ihnen intensiver überwachen316 – zumindest sollten sie dies idealerweise tun; dazu können sie unter Umständen auch auf Hilfspersonen wie einen sogenannten special master zurückgreifen.317 Sie sind angesichts ihrer Rolle als Treuhänder der class318 dazu verpflichtet, den Vergleich und seine Hintergründe kritisch zu untersuchen.319 Dabei müssen sie sicherstellen, dass sie über eine ausreichende Entscheidungsgrundlage ver‑ fügen, um den Vergleich beurteilen zu können – insofern unterliegen die Dis‑ trict Courts auch der Kontrolle durch die höheren Instanzen.320 Als ein Forum, um Fragen zu stellen und kritische Punkte zu beleuchten, bietet sich vor allem das fairness hearing an.321 Allgemein besteht für den individuellen Richter ein weiter Spielraum, wie er das Verfahren der Genehmigung eines Vergleichs aus‑ gestaltet. Die üblichen Regelungen zur Erhebung von Beweisen im Rahmen eines trial gelten hier nicht. Insbesondere die Freiräume bei der Einbeziehung von objectors sind im Einzelfall erheblich.322 Dem richterlichen Verfahrens‑ 315
Wright/Kane, Law of Federal Courts, § 72. Siehe dazu oben S. 265. ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment b. Siehe dazu i. E. unten S. 334 f. 318 Siehe dazu S. 79 ff. 319 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.61 („role of a skeptical client“); Ruben‑ stein, Newberg on Class Actions, § 13:40; Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Proce‑ dure, Civil 3d, § 1797.5 (dort bei Fn. 10). 320 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.635 („the judge must ensure that there is a sufficient record as to the basis and justification for the settlement“). 321 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.631. Das gilt auch für eine Anhörung im Zusammenhang mit dem preliminary approval, vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.632. 322 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:42. 316 317
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
333
management kommt insbesondere bei komplexeren class actions eine zentrale Bedeutung zu. Gegebenenfalls kann der Richter von den Parteien des Vergleichs Nach‑ besserungen verlangen.323 Inwiefern er ihnen im Einzelfall noch während des fairness hearing die Gelegenheit dazu geben kann, lässt sich jedoch mangels entsprechender Daten im Rahmen dieser Untersuchung nicht beurteilen.324 Denkbar erscheint dies aber zumindest insofern, als die Parteien für eine Anhö‑ rung – jedenfalls in Form von Dokumenten – Beweismittel einbringen und wei‑ tere Erläuterungen machen können, zumal sie auch zu Einwendungen Stellung nehmen können.325 Daneben kann ein Richter die vorläufige oder endgültige Genehmigung eines Vergleichs mit der Begründung ablehnen, dass die Partei‑ en ihm nicht die für die entsprechende Prüfung benötigten Informationen vor‑ gelegt hätten.326 Im Zuge dessen wird er typischerweise darauf hinweisen, wel‑ che Anforderungen die Parteien erfüllen müssen, um einem neuen Antrag zum Erfolg zu verhelfen. Daneben kommt es auch vor, dass ein Gericht das prelimi‑ nary approval erteilt, dabei aber ankündigt, dass es für seine Entscheidung über das final approval weitere Informationen benötigen wird.327 323 Siehe dazu bereits oben S. 83 f. Vgl. zu Änderungsvorschlägen durch einen Richter auch Resnik, 30 U. C. Davis L. Rev. 835, 855 (1997). In Torres v. Toback, Bernstein & Reiss LLP, 2014 WL 1330957 [*2, 4] (E. D. N. Y. 2014) schiebt das Gericht etwa das preliminary ap‑ proval auf, bis bestimmte Änderungen an dem Vergleich vorgenommen worden sind. 324 Zumindest ein Beispiel dafür, dass ein Gericht in einer Anhörung im Zusammenhang mit dem preliminary approval weitere Erläuterungen verlangt, bietet jedoch Cruz v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*9] (N. D. Cal. 2014) („At the hearing, the court requested supple‑ mental briefing on how the parties arrived at this estimate[.]“). 325 Siehe oben S. 269. 326 Vgl. Stewart v. USA Tank Sales and Erection Co., Inc., 2014 WL 836212 [*6] (W. D. Mo. 2014) („For example, because the record is devoid of information concerning how much an individual class member will receive for his or her claim, the Court cannot determi‑ ne whether the MMWMHL settlement is fair, reasonable, and adequate.“); v. Sky Chefs, Inc., 2014 WL 2089938 [*8] (N. D. Cal. 2014) („[…] class counsel must provide more information for the court to review in order to determine whether absent class members would be receiving a reasonable settlement in view of the risks and rewards of continuing litigation.“); In re Na‑ tional Collegiate Athletic Association Student-Athlete Concussion Injury Litigation, 2014 WL 7237208 [*7] (N. D. Ill. 2014) („Given the dearth of information, the Court is unable to deter‑ mine on the current record the plausibility and appropriateness of a direct notice program.“); In re National Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 961 F. Supp. 2d 708, 716 (E. D. Pa. 2014) (konkreter Hinweis auf die fehlende Wiedergabe des Inhalts bestimmter ökonomischer Gutachten); Myles v. AlliedBarton Security Services, LLC, 2014 WL 6065602 [*4] (N. D. Cal. 2014) („The parties have also not sufficiently explained why the proposed settlement amount for each class member is fair and reasonable given that it is quite small in comparison to the plaintiffs’ potential recovery at trial.“); Taylor v. West Marine Products, Inc., 2014 WL 7388780 [*3] (N. D. Cal. 2014) („Neither the motion, nor class counsel’s declaration, clarifies what this claim-submission process consists of.“); vgl. auch die Kritik am Inhalt des Vergleichs in Christensen v. Hillyard, Inc., 2014 WL 3381873 [*4] (N. D. Cal. 2014) (in der notice beschriebener Anspruchsverzicht im Wortlaut des Vergleichs nicht auffindbar). 327 Ogbuehi v. Comcast, 303 F.R.D. 337, 353 (E. D. Cal. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Andererseits sind einer aktiven Rolle des Richters aber praktische Grenzen gesetzt. Insbesondere kann sich ein besonders intensives fairness hearing als unangemessen kostenträchtig erweisen, zumal es nicht zu einem „mini-trial on the merits“ ausarten darf.328 Hier zeigt sich der strukturelle Konflikt zwischen den Zielen, einerseits einen möglichst effektiven Schutz der class members durch das Gericht zu gewährleisten und andererseits eine effiziente und kosten‑ günstige Streitbeilegung durch einen Vergleich zu ermöglichen.
b) Der Einsatz von Hilfspersonen des Gerichts Ein Gericht kann sich zu seiner Unterstützung im Zusammenhang mit dem Ab‑ schluss und der Genehmigung eines Vergleichs verschiedener Arten von Hilfs‑ personen bedienen. An dieser Stelle sind vor allem special masters, gerichtlich bestellte Sachverständige und magistrate judges329 zu nennen. Das Manual for Complex Litigation ermuntert die Gerichte ausdrücklich dazu, sie auf innovative Weise einzusetzen, um die Effizienz eines Verfahrens zu erhöhen.330 Die Dar‑ stellung beschränkt sich an dieser Stelle aber auf ein paar kurze Anmerkungen zu der Frage, welche Bedeutung diese Personen für die Entscheidungsgrundlage haben. Ein special master ist eine Hilfsperson, die in der Regel über besondere Expertise auf einem bestimmten Gebiet verfügt. Ein Gericht kann ihn in Ausnah‑ mefällen331 nach seinem Ermessen bestimmen und insbesondere mit unterstüt‑ zenden Aufgaben im Bereich der Sachverhaltsermittlung sowie mit rechtlichen Feststellungen, der Betreuung der discovery oder administrativen Tätigkeiten im Nachgang des Verfahrens332 betrauen.333 Ein special master kann dazu ein‑ gesetzt werden, Informationen zu sammeln und den Richter bei der Beurteilung der Fairness eines Vergleichs zu unterstützen, wobei dieser aber federführend tätig bleiben muss.334 Anders als ein gerichtlich bestellter Sachverständiger darf 328 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 182 (2009). Ähnlich hebt auch Hensler, Class Ac‑ tion Dilemmas, S. 89 unter Verweis auf das Manual for Complex Litigation, Third die Kosten weiterer discovery hervor; zudem bestehe das Risiko, dass die Abwesenheit eines Parteien‑ gegensatzes deren Aussagekraft beeinträchtige. 329 Vgl. 28 U.S.C. §§ 631–639. 330 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 11.54. 331 Vgl. Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 2603 („principle of restraint“). 332 Bei einer class action ist die Verteilung der Vergleichssumme an die Anspruchsberech‑ tigten eine typische Aufgabe in diesem Kontext, vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 21.661. 333 Eingehend Duve, Mediation und Vergleich im Prozess, S. 10 ff. Gesetzliche Regelung in Rule 53 FRCP. 334 Manual for Complex Litigation, Fourth, §§ 21.632, 21.644; Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:40. Vgl. auch Sullivan v. DB Investments, Inc., 667 F. 3d 273, 289 f. (3d Cir. 2011). Hensler, Class Action Dilemmas, S. 495 regt ausdrücklich an, dass Richter bei der Beurteilung eines Vergleichs externen Sachverstand zurate ziehen. Zum Einsatz von special masters bei der Bestimmung der Höhe der Anwaltsvergütung vgl. Manual for Complex Liti‑ gation, Fourth, § 21.727.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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er dabei aber keine eigenständigen Ermittlungen anstellen.335 Daneben ist es auch möglich, einen special master als Mediator einzusetzen, damit er die Ver‑ gleichsverhandlungen betreut und vorantreibt.336 Auf diese Weise kann ein Rich‑ ter einen Vergleichsschluss fördern, ohne seine eigene Unabhängigkeit zu kom‑ promittieren.337 Zur Aufgabe eines special masters gehört es gemäß Rule 53 (e) FRCP einen Bericht über seine Tätigkeit zu verfassen,338 auf den einzelne Ent‑ scheidungen zurückgreifen, um den Ablauf der Vergleichsverhandlungen zu be‑ urteilen.339 Im Übrigen wird bisweilen auch die Aussage eines Mediators, der nicht über den besonderen Status eines special master verfügt, zu diesem Zweck herangezogen.340
c) Zusammenfassung Es lässt sich feststellen, dass die amerikanischen Gerichte im Einklang mit der oben beschriebenen341 Grundstruktur des Genehmigungsverfahrens bei Un‑ klarheiten der Entscheidungsgrundlage vor allem von den Parteien Nachbes‑ serungen ihrer Begründung verlangen. Eigenständige Ermittlungen sind im Wege des Einsatzes eines gerichtlich bestellten Sachverständigen zwar grund‑ sätzlich möglich, aber untypisch.
3. Die Möglichkeiten des gerechtshof im Rahmen des WCAM In den Niederlanden hatte der gerechtshof Amsterdam in den ersten Entschei‑ dungen zum WCAM zunächst sehr zurückhaltend agiert. Im DSB‑Bank- und im Fortis-Verfahren hat er begonnen, eine aktivere Rolle einzunehmen. So gab er in der Sache DSB‑Bank den Antragstellern zunächst in einer Zwischenentschei‑ dung (tussenbeslissing) auf, die Angemessenheit der vereinbarten Ausgleichs‑ zahlungen näher zu erörtern sowie die Anzahl der Betroffenen zu benennen.342 Nicht zuletzt ein Protokoll der Vergleichsverhandlungen, das die Antragsteller 335 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 11.52; zu den (wenigen) Ansätzen eines in‑ quisitorischen Einsatzes von Sachverständigen durch ein Gericht bei mass torts vgl. Erichson, 87 Geo. L. J. 1983, 2009 (1999). 336 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.13. Zu den damit verbundenen Konflikten vgl. Duve, Mediation und Vergleich im Prozess, S. 342 f. 337 Manual for Complex Litigation, Fourth, § 13.11. 338 Zu dessen möglicher bindender Wirkung vgl. Manual for Complex Litigation, Fourth, § 11.52; Duve, Mediation und Vergleich im Prozess, S. 342. 339 Vgl. Allapattah Services, Inc. v. Exxon Corp., 2006 WL 1132371 [*3] (S.D. Fla. 2006). 340 Wal-Mart Stores, Inc. v. Visa U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 117 (2d Cir. 2005); In re Na‑ tional Football League Players’ Concussion Injury Litigation, 301 F.R.D. 191, 198 (E. D. Pa. 2014); Sylvester v. CIGNA Corp., 369 F. Supp. 2d 34, 50 (D. Me. 2005). 341 Siehe oben S. 267 ff. 342 Gerechtshof Amsterdam, tussenbeslissing v. 12. 11. 2013, ECLI:NL:GHAMS:2013: 3918 (DSB‑Bank), Rn. 2.7 und Rn. 2.8.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
im Zuge dessen offenlegten,343 veranlasste den Gerichtshof in der Folge dazu, die Genehmigung des Vergleichs vorerst abzulehnen und inhaltliche Nachbes‑ serungen zu fordern.344 Zudem verlangte er weitere Erläuterungen zur Rolle der Versicherer.345 Erst nachdem die Antragsteller seinen Wünschen entspro‑ chen hatten, genehmigte er schließlich den Vergleich.346 Der gerechtshof wirkte also aktiv darauf hin, seine Entscheidungsgrundlage zu erweitern, bevor er den Vergleich abschließend beurteilte. Im Fortis-Verfahren lag das Problem bei der unzulässigen Differenzierung zwischen zwei Gruppen von Geschädigten.347 Auch hier gab der gerechtshof den Antragstellern eine Gelegenheit zu Nach‑ besserungen.348 Um sich die nötigen Informationen zu verschaffen, kann der gerechtshof daneben auch die Inhalte von verweerschriften berücksichtigen, die ihm von einzelnen Geschädigten oder einer Einrichtung im Sinne von Art. 1014 Rv vor‑ gelegt wurden.349 Mit Art. 1016 Rv gibt das niederländische Prozessrecht ihm überdies die Möglichkeit an die Hand, aus eigener Initiative Sachverständige anzuhören, um zu klären, ob der Antrag auf Verbindlicherklärung einer kol‑ lektiven Übereinkunft den Anforderungen von Art. 7:907 BW entspricht. Die‑ ser Norm kommt insofern eine eigenständige Bedeutung neben der allgemei‑ nen Regelung von Art. 284 Abs. 1 i. V. m. Art. 194 Rv zu, als sie unabhängig davon gilt, ob die Genehmigungsfähigkeit des Vergleichs von einem Beteilig‑ ten bestritten wird.350 Ein Sachverständiger kann in diesem Rahmen entschei‑ dungserhebliche Gesichtspunkte zur Information der Richter ermitteln und auf‑ bereiten – etwa im Hinblick auf die Anzahl der Geschädigten, die Art ihrer Schädigung, den Schadensumfang oder auch die Frage, ob der Antragsteller hinreichend repräsentativ für die Belange der Gruppenmitglieder ist.351 343 Vgl. die von den Antragstellern eingereichte „nadere toelichting op verzoekschrift“ v. 23. 12. 2013 (dort: „productie 32“). 344 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), insb. Rn. 7. 5. 20. und Nr. 7. 5. 21. 345 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 13. 05. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:1690 (DSB‑Bank I ), Rn. 6.2.6 und Nr. 7.7.6. Daneben bestanden noch weitere Kritikpunkte, vgl. die Übersicht a. a. O. Nr. 8.1. 346 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 4. 11. 2014, ECLI:NL:GHAMS:2014:4560 (DSB‑Bank II ). 347 Siehe dazu oben S. 214 f. 348 Gerechtshof Amsterdam, beschikking v. 16. 06. 2017, ECLI:NL:GHAMS:2017:2257 (Fortis), Rn. 12. 349 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1016 Rv Nr. 2 a. Siehe dazu all‑ gemein oben S. 303, 308. 350 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1016 Rv Nr. 2 b. 351 van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1016 Rv Nr. 2 a; memorie van toelichting, Tweede Kamer 2003–2004, 29 414, Nr. 3, S. 29; vgl. auch Krans, 27 Pac. McGeor‑ ge Global Bus. & Dev. L. J. 281, 294 (2014) zu einem konkreten Beispiel der Einschaltung eines Sachverständigen im Dexia-Verfahren. Zur Kostentragung gem. Art. 1016 Abs. 2 Rv vgl. van Mierlo, in: T&C Burgerlijke Rechtsvordering, Art. 1016 Rv Nr. 3 b; memorie van toelich‑
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Das niederländische Recht erlaubt dem Gericht demgemäß Nachfragen zu stellen und von den Antragstellern weitere Informationen einzufordern. Da‑ neben sieht es die Unterstützung durch richterlich bestellte Sachverständige vor. Wie der amerikanische Ansatz gibt es ihm die Instrumente an die Hand, um von einer Begründung der Antragsteller ausgehend bei den kritischen Punkten nachzuhaken.
4. Handlungsoptionen eines deutschen Zivilgerichts bei der Kontrolle von Vergleichen a) Hinweispflicht gemäß § 139 ZPO § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO verpflichtet ein Gericht, auf die Parteien einzuwirken, damit sie rechtzeitig und vollständig zu den entscheidungserheblichen Tatsa‑ chen vortragen. Die Norm bietet daher einen Ansatzpunkt, um Nachbesserun‑ gen der Begründung des Vergleichs anzuregen, soweit diese den Anforderungen an die abstrakte Behauptungslast bislang nicht genügt.352 Der Unterschied zu einem gewöhnlichen Individualprozess ist dabei lediglich graduell. Im kollek‑ tiven Rechtsschutz kommt der richterlichen Aufgabe der Verfahrensleitung all‑ gemein ein erhöhter Stellenwert zu. Im Rahmen einer Gruppenklage muss das Gericht aktiv gewährleisten, dass das Gruppeninteresse gewahrt wird, um die eingeschränkte Beteiligung der Gruppenmitglieder auszugleichen.353 Konkret wird auch für das KapMuG die gesteigerte Bedeutung von § 139 ZPO und der Kooperationsmaxime im Musterverfahren hervorgehoben.354 Der Regierungs‑ entwurf zur KapMuG‑Reform betont ebenfalls, dass ein Gericht darauf hin‑ weisen sollte, „nach welchen Veränderungen es eine Genehmigung in Aussicht stellen kann“, bevor es die Genehmigung eines Vergleichs verweigert.355 An‑ ders als – zumindest teilweise – im amerikanischen und niederländischen Recht wird die Einwirkung durch das Gericht damit primär in den Verfahrensschritt eines konkreten Genehmigungsantrags integriert. Wenn das Gericht Kritik‑ punkte sieht, wird es die Genehmigung nicht zunächst ablehnen und eine neue Antragstellung abwarten, sondern einen Hinweis geben. Wenn die Parteien da‑ raufhin nicht tätig werden, was bei Mängeln zu erwarten ist, die nur aufwendig zu beseitigen sind, kann es in der Folge aber die Genehmigung verweigern. Die ting, Tweede Kamer 2003–2004, 29 414, Nr. 3, S. 29: Art. 1016 Abs. 2 Rv dient dazu, dem Gericht die Möglichkeit zu geben, die Kosten des von ihm eingeschalteten Sachverständigen einem oder mehreren Antragstellern aufzuerlegen – oder aber bewusst darauf zu verzichten („discretionaire bevoegdheid“). 352 Siehe dazu oben S. 295 ff. So auch von Katte, Der Vergleich im KapMuG, S. 427. 353 Micklitz/Stadler, Verbandsklagerecht, S. 1215. 354 Vollkommer, in: KK‑KapMuG, § 11 Rn. 46. 355 RegE KapMuG 2012, BT‑Drucks. 17/8799, S. 25.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
gerichtliche Praxis wird Methoden entwickeln müssen, um den Genehmigungs‑ prozess durch bewusstes case management zu strukturieren.356
b) Kompetenzen zur Beweiserhebung aus eigener Initiative Das deutsche Zivilprozessrecht stellt schon in einem gewöhnlichen Zivilpro‑ zess mit §§ 142 ff. ZPO ein Instrumentarium bereit, um Urkunden- und Sach‑ verständigenbeweise von Amts wegen zu erheben. Ein Gericht darf mit einer solchen Anordnung allerdings nicht über die Grenzen des Parteivortrags hi‑ nausgehen.357 Man könnte sich zwar damit behelfen, Einwendungen die Wir‑ kung zuzubilligen, dass sie die Begründung eines Vergleichs quasi streitig stel‑ len. Soweit keine Einwendungen vorliegen, scheidet eine Beweiserhebung von Amts wegen aber auch in diesem Fall aus, solange man an der Verhandlungs‑ maxime festhalten will. Der Effektivität der Kontrollfunktion des Gerichts wäre mit einem solchen Ansatz nicht gedient. Dem Gericht sollte es möglich sein zu überprüfen, ob einzelne Elemente der Begründung des Vergleichs zutref‑ fen, gerade dann, wenn die Parteien ihrer Darlegungslast genügt und zu ihnen detailliert ausgeführt haben. Wenn man den Gerichten dagegen ermöglicht den Sachverhalt erforderlichenfalls in Anlehnung an § 56 Abs. 1 ZPO auch von Amts wegen aufzuklären, wäre zu überlegen, ob das Freibeweisverfahren An‑ wendung finden kann.358 Auf diese Weise könnte sich ein Gericht etwa eines Sachverständigen bedienen, um fachlich anspruchsvolle Gesichtspunkte im Zu‑ sammenhang mit einem Vergleich zu erörtern.359 Hier ist eine Lösung vorzugs‑ würdig, die den Gerichten ein Höchstmaß an Flexibilität bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion bietet und ihnen dadurch ermöglicht, praktikable Lösungen für verschiedene, im Einzelnen nicht klar prognostizierbare Fallkonstellationen zu finden.
5. Zwischenergebnis Alle untersuchten Rechtsordnungen stellen einem Gericht auf prozessualer Ebene die Mittel bereit, um den Parteien zu kommunizieren, dass sie ihren Vergleich abändern oder seine Begründung ergänzen müssen, damit er geneh‑ migt werden kann. Die Unterschiede liegen darin, ob eher mit einer Ablehnung der Genehmigung gearbeitet wird, die eine erneute Antragsstellung erforder‑ lich macht, oder mit Hinweisen, die ohne eine formelle Entscheidung auskom‑ men. Die Erhebung von Beweisen spielt dagegen in der Praxis nur eine geringe 356
Vgl. zur Erforderlichkeit intensiven case managements auch Vollkommer, in: KK‑Kap‑ MuG, § 12 Rn. 13 ff., 38. 357 Greger, in: Zöller, ZPO, § 142 Rn 2. 358 Vgl. zur Prüfung von Prozessvoraussetzungen Althammer, in: Zöller, ZPO, § 56 Rn. 8; insofern ablehnend Jacoby, in: Stein/Jonas, ZPO, § 56 Rn. 9. 359 Vgl. zu diesem Bedürfnis Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1816.
§ 7: Die Entscheidungsgrundlage
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Rolle. Am flexibelsten ist hier das amerikanische System. Es trennt konzep‑ tionell nicht streng zwischen Parteivortrag und Beweis360 und ermöglicht es so zumindest in Einzelfällen, dass die Parteien insbesondere Gutachten ein‑ bringen, die im Rahmen ihrer Prozessvorbereitungen erstellt wurden, wobei die Anforderungen der Federal Rules of Evidence in diesem Zusammenhang keine Anwendung finden. Daneben können zudem gerichtliche Hilfspersonen eingesetzt werden. Auch das niederländische WCAM hält die Möglichkeit be‑ reit, Sachverständige hinzuzuziehen. In Deutschland ist eine Beweiserhebung – auch von Amts wegen – möglich, sobald eine hinreichend substantiierte Ein‑ wendung vorliegt. Jenseits hiervon kann ein Gericht aber nur Beweise erheben, wenn man das Verfahren so ausgestaltet, dass im Rahmen der Genehmigungs‑ entscheidung entweder eine Prüfung von Amts wegen möglich ist oder sogar der Untersuchungsgrundsatz gilt. Es erscheint sachgerecht hier flexible Lösun‑ gen zu ermöglichen, wobei man allerdings hinter den sehr weiten Freiräumen eines amerikanischen Richters bleiben müssen wird, um die gewachsenen und bewährten Strukturen des deutschen Zivilprozessrechts nicht überzustrapazie‑ ren, zumal die Ausgangssituation in Deutschland und Europa eine andere als in den USA ist.361 Allerdings könnte es sich als gewinnbringend erweisen, das amerikanische Beispiel verstärkt zu berücksichtigen, soweit es um den Bereich des case managements geht.362
VI. Schlussfolgerungen Das amerikanische und das niederländische Recht verlangen von den Parteien, dass sie ihren Vergleich begründen. Die in diesem Rahmen vorgebrachten In‑ formationen dienen dem zuständigen Gericht als ein wesentliches Element sei‑ ner Entscheidungsgrundlage, um die Fairness dieses Vergleichs zu beurteilen. Daneben haben die Gruppenmitglieder das Recht Einwendungen zu erheben. Diese Gestaltung könnte dem deutschen Recht Orientierung bieten und Vor‑ bildfunktion für seine Weiterentwicklung entfalten. Mit der Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes des Musterverfahrens übernehmen das KapMuG und die Musterfeststellungsklage zwar den bewährten Ansatz von § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO; es gibt aber möglicherweise Sachverhaltskonstellatio‑ nen, in denen dieser an seine Grenzen stößt. Es ist in Anlehnung an das ame‑ rikanische und das niederländische Recht wünschenswert, dass die Parteien das Gericht in Bezug auf die für die Angemessenheit des Vergleichs relevanten Ge‑ sichtspunkte auf das eigene Kenntnisniveau bringen. Das Gericht muss beurtei‑ 360 361
Siehe oben S. 301. Siehe dazu i. E. oben § 5. Vgl. auch Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1816. 362 Vgl. zum case management im kollektiven Rechtsschutz Tzankova, 19 Unif. L. Rev. 329 ff. (2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
len können, ob die Parteien einerseits auf der Basis eines hinreichend präzisen Bildes der Situation gehandelt haben und andererseits ob der Vergleich gege‑ benenfalls auf dieser Grundlage als angemessen erscheint. Eine Begründungs‑ obliegenheit für die Parteien lässt sich über den Gedanken der abstrakten Be‑ gründungslast auch dann in das deutsche Zivilprozessrecht integrieren, wenn man formal daran festhalten will, dass der Beibringungsgrundsatz gilt, sofern man bereit ist die nötigen Anpassungen an die besonderen Anforderungen des kollektiven Rechtsschutzes vorzunehmen. Über richterliche Hinweise gemäß § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO kann ein Gericht den Parteien erforderlichenfalls mittei‑ len, welche Gesichtspunkte sie klarstellen müssen. Einwendungen der Beige‑ ladenen lassen sich dementsprechend als Anregung für das Gericht verwerten, um den Maßstab der abstrakten Begründungslast für die Musterparteien aus‑ zuformen. Daneben kann man überlegen, ob man dem Gericht in Zweifelsfäl‑ len in Anlehnung an § 56 Abs. 1 ZPO ermöglicht, auf das Freibeweisverfah‑ ren zurückzugreifen, um Zweifelsfragen zu klären. Auf diese Weise kann der summarische Charakter der Überprüfung eines Vergleichs gewährleistet wer‑ den, ohne das Schutzniveau für die Beigeladenen unangemessen zu verringern. Letztendlich stellt dieser Lösungsansatz das prozessuale Instrumentarium be‑ reit, um unter Rückgriff auf einen Kriterienkatalog nach dem Muster von § 6 dieser Untersuchung einen Plausibilitätsstandard durchzusetzen und zugleich dem Bedürfnis nach einer verfahrensökonomischen Lösung gerecht zu werden. Welche näheren Anforderungen an einen solchen Prüfungsmaßstab zu stellen sind, wird im nächsten Abschnitt erörtert werden. Die Erkenntnismöglichkeiten eines Gerichts sind in ausgeprägtem Maße einzelfallabhängig. Gerade im deutschen Recht kann es eine große Rolle spie‑ len, welche Gesichtspunkte bereits im Rahmen des bisherigen Sach- und Streit‑ stands behandelt wurden. Ein erhebliches Problem ist zudem mit der Berück‑ sichtigung des Ablaufs der Vergleichsverhandlungen verbunden. Hier sind die Gerichte meist völlig auf die Schilderungen der Parteien angewiesen, die aber berechtigte Geheimhaltungsinteressen haben können. Bisweilen kann im Hin‑ blick hierauf zumindest im amerikanischen Recht die Aussage eines Mediators oder einer vergleichbaren Person einbezogen werden.
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs I. Maßstäbe für komplexe Wertungsentscheidungen Die Gerichte stehen bei der Genehmigung von Vergleichen im kollektiven Rechtsschutz vor der Herausforderung, einen Ausgleich zwischen einem hin‑ reichenden Schutzniveau und dem Gebot der Verfahrensökonomie zu finden. Einerseits bezweckt ein Vergleich, einen aufwendigen Rechtsstreit zu vermei‑ den,1 andererseits müssen die Gerichte gewährleisten, dass er die repräsentier‑ ten Gruppenmitglieder nicht benachteiligt, die an ihn gebunden sein sollen. Die in § 6 dieser Untersuchung vorgestellten Kriterienkataloge schreiben aber le‑ diglich vor, mit welchen Gesichtspunkten sich ein Gericht bei der Genehmi‑ gung auseinandersetzen muss. Die Anwendung der einzelnen Kriterien erfor‑ dert vielfach eine Wertungsentscheidung, die stark auf den jeweiligen Einzelfall bezogen ist. Das gilt vor allem insoweit, als die Erfolgsaussichten oder die vo‑ raussichtliche Komplexität, Kosten und Dauer eines Rechtsstreits abgeschätzt werden müssen, aber auch bei der Beurteilung der Qualität der Vergleichsver‑ handlungen. Die Anforderungen, die die Gerichte hier aufstellen, entscheiden darüber, wie effektiv und wie effizient sie ihre Kontrollfunktion ausüben. Dem‑ entsprechend setzt an diesem Punkt auch die Kritik an der amerikanischen Pra‑ xis an: Vergleiche würden regelmäßig lediglich pro forma geprüft und durch‑ gewunken.2 Da der Erkenntniswert der verschiedenen Kriterien davon abhängt, welche Informationen dem jeweiligen Gericht zur Verfügung stehen,3 bemessen sich die Maßstäbe einer Wertungsentscheidung auch danach, welches Mindestmaß an Informationen zur Verfügung stehen muss, damit die Genehmigung nicht schon mangels einer angemessenen Entscheidungsgrundlage ausscheidet. Auch wenn diese Schwelle überschritten wird, kann ein Gericht die Erfolgsaussich‑ ten eines Rechtsstreits in der Regel besser und präziser einschätzen, wenn ihm eine detaillierte Tatsachengrundlage dafür zur Verfügung steht, als wenn es sich auf allgemeine Erfahrungswerte aus ähnlichen Verfahren stützen muss. Je nach‑ dem, welcher Ansatz hier gewählt wird, gewinnt die Genehmigungsentschei‑ 1 Vgl. 2 Vgl.
Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.5. Mullenix, 64 Emory L. J. 399, 447 (2014) („pro forma, rubber-stamping reviews“). 3 Siehe oben S. 262.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
dung einen unterschiedlichen Charakter, obwohl ihr grundsätzlich dieselben Kriterien zugrunde liegen; das Spektrum reicht von einer reinen Evidenzkon‑ trolle4 bis zu einem Verfahren, das aufwendige tatsächliche Ermittlungen erfor‑ dert. Das in den jeweiligen Verfahrensformen vorgesehene Rollenverständnis des Gerichts ist daher von entscheidender Bedeutung.5 Wie bereits ausgeführt wurde, geben die untersuchten Rechtsordnungen dabei einen prozessualen Rah‑ men vor, der auf eine Kompromisslösung zwischen dem Schutz der Gruppen‑ mitglieder und verfahrensökonomischen Erwägungen zugeschnitten ist, wobei zumindest die Praxis in den USA oftmals eher in den unteren Rängen der mög‑ lichen Prüfungsintensität anzusiedeln ist. Auch Vermutungsregelungen kön‑ nen den Prüfungsmaßstab modifizieren, indem sie vorschreiben, dass unter be‑ stimmten Voraussetzungen geringere Anforderungen gelten.
II. Vermutungsregelungen im amerikanischen Recht In Teilen der amerikanischen Entscheidungspraxis finden sich verschiedene Vermutungsregelungen zugunsten der Fairness eines Vergleichs. Neben dem Hinweis auf eine generelle Präferenz für eine vergleichsweise Lösung werden zwei Varianten einer sogenannten presumption of fairness angewendet, also einer Vermutung zugunsten der Fairness eines Vergleichs, die eingreift, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Die erste knüpft dabei an bestimmte Aspekte der prozessualen Fairness an, die zweite an das preliminary approval. Wie diese Vermutungen im Einzelnen wirken sollen, bleibt dabei unklar. Die Principles of Aggregate Litigation stellen sie jedenfalls in den Zusammenhang mit dem Begriff der „burden of proof“.6 In den Niederlanden und Deutschland sind Parallelen zu diesen Ansätzen hingegen nicht ersichtlich.
1. Generelle Präferenz für eine vergleichsweise Lösung? Der amerikanischen Rechtsprechung lassen sich keine einheitlichen Maßstäbe für die Intensität und Gründlichkeit der richterlichen Überprüfung eines Ver‑ gleichs entnehmen. Die allgemeinen Aussagen, die die amerikanischen Bun‑ desgerichte zu dieser Problematik machen, variieren. Macey und Miller gehen sogar so weit, die Rechtsprechung als „widersprüchlich und verwirrend“ zu be‑ zeichnen.7 Zunächst ist häufig die Rede von einer „strong judicial policy in 4 Eine
solche fordern für das KapMuG von Katte, Vergleiche im KapMuG, S. 411; Wi‑ gand, AG 2012, 845, 850. 5 Vgl. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 273. 6 ALI, Principles of Aggregate Litigation des § 3.05, Comment c. 7 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 177 (2009) („They are like traffic lights signaling red and green at the same time.“).
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs
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favor of settlements“.8 Andernorts wird dagegen betont, dass ein District Court einen Vergleich einer eingehenden Prüfung unterziehen müsse.9 Bisweilen werden auch beide Aussagen miteinander kombiniert.10 Daneben findet sich eine Vielzahl weiterer Formulierungen.11 So verlangen manche Obergerichte von den District Courts demonstrativ ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit,12 während andere hervorheben, dass diese das Verhandlungsergebnis der Par‑ teien nur eingeschränkt hinterfragen dürften.13 Wenn ein Vergleich bereits vor der certification der class geschlossen wurde, wird manchmal ein schärferer Prüfungsmaßstab gefordert.14 Welche konkreten Folgerungen aus solchen all‑ gemeinen Erwägungen jeweils für die Prüfung des einzelnen Falls gezogen werden, bleibt jedoch oft unklar und ist jedenfalls keiner verallgemeinernden Darstellung zugänglich.
2. Vermutung zugunsten der Fairness bei ordnungsgemäßen Vergleichsverhandlungen Manche Gerichte leiten im Rahmen des final approval aus der „strong judicial policy in favor of settlements“ eine sogenannte „presumption of fairness“ ab.15 8 So etwa Wal-Mart Stores, Inc. v. Visa U. S. A., 396 F. 3d 96, 116 (2d Cir. 2005); Saki‑ ko Fujiwara v. Sushi Yasuda Ltd., 58 F. Supp. 3d 424, 431 f. (S.D.N.Y. 2014); San Francisco NAACP v. San Francisco Unified School Dist., 59 F. Supp. 2d 1021, 1029 (N. D. Cal. 1999); Stinson v. City of New York, 2017 WL 2544831 [*3] (S.D.N.Y. 2017). Diese Formulierung wird vor allem vom E. D. N. Y. und S.D.N.Y. häufig verwendet (das zeigt eine Recherche in Westlaw mit dem Suchbegriff „strong judicial policy in favor of settlements“). Vgl. auch In re General Motors Corp. Pick-Up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 784 (3d Cir. 1995) („The law favors settlement, particularly in class actions and other complex cases where substantial judicial resources can be conserved by avoiding formal litigation“). 9 D’Amato v. Deutsche Bank, 236 F. 3d 78, 85 (2d Cir. 2001) („carefully scrutinize the settlement“). 10 Zink v. First Niagara Bank, N. A., 155 F. Supp. 3d 297, 308 (W. D. N. Y. 2016). 11 Vgl. den Überblick von Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 175 f. (2009). 12 Mirfasihi v. Fleet Mortg. Corp., 450 F. 3d 745, 748 (7th Cir. 2006) („the highest degree of vigilance“). 13 Hanlon v. Chrysler Corp., 150 F. 3d 1011, 1027 (9th Cir. 1998); Officers for Justice v. Civil Service Com’n of City and County of San Francisco, 688 F. 2d 615, 625 f. (9th Cir. 1982) („the court’s intrusion upon what is otherwise a private consensual agreement negotiated bet‑ ween the parties to a lawsuit must be limited“); Rodriguez v. West Publishing Corp., 563 F. 3d 948, 965 (9th Cir. 2009). Bronsteen/Fiss, 78 Notre Dame L. Rev. 1419, 1448 (2003), die aller‑ dings eine Bindungswirkung von Vergleichen auf der Grundlage eines opt out-Modells ableh‑ nen, diagnostizieren, dass die Gerichte lediglich prüften, ob ein Vergleich offensichtlich un‑ gerecht („manifestly unjust“) sei. 14 Vgl. In re Bluetooth Headset Products Liability Litigation, 654 F. 3d 935, 946 (9th Cir. 2011); Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:45. 15 McReynolds v. Richards-Cantave, 588 F. 3d 790, 803 (2d Cir. 2009); Davis v. J. P. Morgan Chase & Co., 827 F. Supp. 2d 172, 176 (W. D. N. Y. 2011); vgl. auch Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:44 und bereits Feder v. Harrington, 58 F.R.D. 171, 174 f. (S.D.N.Y. 1972). Ablehnend hingegen Scovil v. FedEx Ground Package System, Inc., 2014 WL 1057079 [*2] (D. Me. 2014).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
Verbreitet ist diese vor allem bei einigen District Courts im Zuständigkeits‑ bereich des Second Circuit. Sie soll vorliegen, wenn gewisse Ansprüche an die Vergleichsverhandlungen erfüllt sind: A presumption of fairness, adequacy and reasonableness may attach to a class settlement reached in arm’s-length negotiations between experienced, capable counsel after mean‑ ingful discovery.16
Die angewandten Kriterien entsprechen also denjenigen, mit denen die Gerich‑ te im Second Circuit die verfahrensbezogene Fairness eines Vergleichs beur‑ teilen.17 Dementsprechend verschwimmen die beiden Prüfungspunkte oftmals miteinander.18 Einen ähnlichen Ansatz kennt zudem der Third Circuit – wenn‑ gleich er deutlich seltener Eingang in die Entscheidungen der dortigen District Courts findet: We have previously directed a district court to apply an initial presumption of fairness when reviewing a proposed settlement where: „(1) the settlement negotiations occurred at arm’s length; (2) there was sufficient discovery; (3) the proponents of the settlement are experienced in similar litigation; and (4) only a small fraction of the class objected.“19
Auch die District Courts im Ninth Circuit greifen teilweise auf den Gedanken einer presumption of fairness zurück.20 Welche Auswirkungen die Bejahung einer derartigen Vermutung im Einzelnen hat, bleibt typischerweise unklar. Je‑ denfalls ist es umgekehrt möglich, dass ein Vergleich schließlich genehmigt wird, obwohl sie zunächst abgelehnt wurde.21
3. Vermutung zugunsten der Fairness infolge des preliminary approval Nach einem anderen Ansatz soll der Umstand, dass der Vergleich vorläufig ge‑ nehmigt wurde, eine presumption of fairness begründen. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung In re General Motors Corp. Pick-up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation des Third Circuit: 16 Walmart Stores, Inc. v. VISA U. S. A., Inc., 396 F. 3d 96, 116 (2d Cir. 2005) unter Verweis auf das Manual for Complex Litigation, Third, § 30.42 (1995). 17 Zur Entscheidungspraxis siehe oben S. 184. 18 Vgl. etwa City of Providence v. Aeropostale, Inc., 2014 WL 1883494 [*4] (S.D.N.Y. 2014); Romero v. La Revise Associates, L.L.C., 58 F. Supp. 3d 411, 420 (S.D.N.Y. 2014). 19 In re Warfarin Sodium Antitrust Litigation, 391 F. 3d 516, 535 (3d Cir. 2004). Auf der Ebene der District Courts wird dieser Prüfungsmaßstab bspw. in folgenden Entscheidungen angewendet: In re CertainTeed Fiber Cement Siding Litigation, 303 F.R.D. 199, 216 (E. D. Pa. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 355 (E. D. Pa. 2014). Ein nahezu identischer Prüfungsmaßstab findet sich bereits in Feder v. Harrington, 58 F.R.D. 171, 174 f. (S.D.N.Y. 1972). 20 Vgl. etwa Barbosa v. Cargill Meat Solutions Corp, 297 F.R.D. 431, 445 (E. D. Cal. 2013); In re Netflix Privacy Litigation, 2013 WL 1120801 [*4] (N. D. Cal. 2013); In re Toys R Us-Delaware, Inc. – FACTA Litig., 295 F.R.D. 438, 450 (C. D. Cal. 2014). 21 Vgl. Lipuma v. American Express Co., 406 F. Supp. 2d 1298, 1310 (S. D. Fla. 2005).
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs
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Before sending notice of the settlement to the class, the court will usually approve the settlement preliminarily. This preliminary determination establishes an initial presump‑ tion of fairness when the court finds that: (1) the negotiations occurred at arm’s length; (2) there was sufficient discovery; (3) the proponents of the settlement are experienced in similar litigation; and (4) only a small fraction of the class objected.22
Diese Kriterien entsprechen einerseits einem im Third Circuit verbreiteten Prü‑ fungsmaßstab für die vorläufige Genehmigung des Vergleichs.23 Andererseits stimmen sie – abgesehen von Faktor (4) – mit den oben unter 2. genannten Kriterien überein. Rubenstein besteht dennoch darauf, dass es sich um zwei grundverschiedene Ansätze handele; der erste beruhe auf dem Vertrauen in die Redlichkeit der Parteien bei den Vergleichsverhandlungen, der zweite messe hingegen dem preliminary eine Indizfunktion bei.24 Möglicherweise liegt der Unterschied darin, zu welchem Zeitpunkt das Vorliegen der Voraussetzungen festgestellt wird: Wird auf die Ergebnisse des preliminary approval zurück‑ gegriffen oder findet im Rahmen des final approval eine erneute Prüfung statt? Aus den maßgeblichen Entscheidungen geht das allerdings nicht klar hervor.25 Verwirrung stiftet zudem der Umstand, dass teilweise auch solche Entscheidun‑ gen unmittelbar oder mittelbar auf In re General Motors Corp. Pick-up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation verweisen, in denen das preliminary ap‑ proval ersichtlich keine Rolle für die presumption of fairness spielt, da sie den oben unter b) beschriebenen Ansatz wählen.26
4. Kritik Die verschiedenen Vermutungsregelungen sehen sich vor allem in der Literatur erheblicher Kritik ausgesetzt. Selbst wenn man zugestehe, dass Vergleiche im kollektiven Rechtsschutz wünschenswert seien, meint etwa Piché, könne der bloße Umstand, dass die Anwälte der Parteien freiwillig einen Vergleich ge‑ 22
In re General Motors Corp. Pick-up Truck Fuel Tank Products Liability Litigation, 55 F. 3d 768, 785 (3d Cir. 1995). Bemerkenswerterweise kommt das Gericht an keiner Stelle auf diese Vermutung und ihre Bedeutung zurück; es stellt noch nicht einmal fest, ob ihre Voraus‑ setzungen tatsächlich vorliegen. 23 Siehe oben S. 199. 24 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:45. 25 Vgl. aber In re Netflix Privacy Litigation, 2013 WL 1120801 [*4] (N. D. Cal. 2013): Hier scheint sich das Gericht auf seine Feststellungen aus dem preliminary approval zu be‑ ziehen. 26 Vgl. In re Cendant Corp. Litigation, 264 F. 3d 201, 232, Fn. 18 (3d Cir. 2001); In re Warfarin Sodium Antitrust Litigation, 391 F. 3d 516, 535 (3d Cir. 2004); In re CertainTeed Fiber Cement Siding Litigation, 303 F.R.D. 199, 216 (E. D. Pa. 2014); In re Processed Egg Products Antitrust Litigation, 302 F.R.D. 339, 355 (E. D. Pa. 2014). Zudem ist bisweilen be‑ reits im Zusammenhang mit der Erteilung des preliminary approval die Rede von einer pre‑ sumption of fairness, vgl. etwa In re Tableware Antitrust Litigation, 484 F. Supp. 2d 1078, 1079 (N. D. Cal. 2007).
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
schlossen haben, kein Indiz für dessen Fairness darstellen.27 Sie plädiert in der Folge dafür, sich nicht auf eine „public policy favouring settlement“ zu beru‑ fen. Ohne hinreichende Sicherungsmechanismen trage diese dazu bei, dass Ver‑ gleiche unreflektiert genehmigt würden – zumal wenn den Einschätzungen der Anwälte eine erhebliche Rolle bei der Genehmigungsentscheidung zukomme. Stattdessen sollten die Gerichte klar darstellen, auf welche Argumente sie ihre Entscheidung im Einzelnen stützen.28 Dahinter steht offenbar das Bestreben, sie dazu zu zwingen, sich detailliert mit den Anforderungen der Genehmigungsent‑ scheidung auseinanderzusetzen. Sie sollen sich nicht hinter dem rechtspoliti‑ schen Interesse an konsensualen Lösungen verstecken können. Auch eine presumption of fairness, die an verfahrensbezogene Gesichts‑ punkte anknüpft, wird teilweise abgelehnt. So weisen die Principles of Aggre‑ gate Litigation auf die beschränkte Aussagekraft der in dieser Hinsicht maßgeb‑ lichen Kriterien hin; auch wenn diese erfüllt seien, sollten die Anforderungen, denen die Parteien genügen müssen, um das Gericht von der Fairness ihres Ver‑ gleichs zu überzeugen, nicht gelockert werden.29 Zudem wird die Überlegung angegriffen, dass das preliminary approval eine presumption of fairness nach sich ziehen könne. Rubenstein meint, dass eine solche Schlussfolgerung die Gefahr berge das Maß zu überschätzen, zu dem das Gericht den Fall bereits im Rahmen der vorläufigen Genehmigung durchdrun‑ gen habe. Er lehnt sie jedoch nicht kategorisch ab, sondern beschränkt sich da‑ rauf zu betonen, dass die Vermutungswirkung deswegen allenfalls eine schwa‑ che sein könne.30 Selbst Entscheidungen, die eine solche Vermutungswirkung befürworten, relativieren indessen deren Tragweite und stellen fest, dass die endgültige Genehmigung damit keinesfalls vorweggenommen werden dürfe.31
III. Vermutungsregelungen im deutschen Recht Für das deutsche Recht werden teilweise Lösungsansätze vorgeschlagen, die den Vermutungen des amerikanischen Rechts ähneln. So heißt es, man könne von der Angemessenheit eines Vergleichs ausgehen, solange es keine An‑ haltspunkte für Missbräuche durch in eigenem Interesse handelnde Prozess‑ vertreter gebe.32 Wenn man von der Situation einer unzureichenden Entschei‑ dungsgrundlage absieht, trifft es auf einer allgemeinen Ebene zwar zu, dass ein Vergleich nur dann nicht genehmigungsfähig ist, wenn konkrete Anhaltspunk‑ 27 28
Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 176. Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 207 f. 29 ALI, Principles of Aggregate Litigation, § 3.05, Comment c. 30 Rubenstein, Newberg on Class Actions, § 13:45. 31 Vgl. Ehrheart v. Verizon Wireless, 609 F. 3d 590, 603 (3d Cir. 2010). 32 So Halfmeier, DB 2012, 2145, 2150.
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs
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te dafür bestehen, dass er unfair ist. Man sollte aber den Eindruck vermeiden, es gäbe eine separate Kategorie des Missbrauchs, die den in § 6 dieser Unter‑ suchung dargestellten Kriterien vorgeschaltet ist. Ein Vergleich kann vielmehr auch dann inhaltlich unangemessen sein, wenn sich seine Defizite nicht auf ein zielgerichtetes Handeln der Akteure zurückführen lassen. In der deutschen Literatur ist darüber hinaus von einer allgemeinen Vermutung zugunsten der Wirksamkeit eines Vergleichs die Rede, wobei hier ein Zusammenhang mit der Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf eine Evidenzkontrolle besteht. Eine allgemeine Gültigkeitsvermutung wird dabei in den Kontext des Gedankens der Parteiautonomie gestellt.33 Die Parteien müssen im kollektiven Rechtsschutz aber nicht nur ihre eigenen Interessen wahren, sondern auch diejenigen der re‑ präsentierten Gruppenmitglieder. Richtigerweise kann eine Vermutung zugun sten der Fairness eines Vergleichs daher allenfalls darauf gestützt werden, dass das jeweilige Verfahren andere effektive Schutzmechanismen zugunsten der re‑ präsentierten Gruppenmitglieder vorsieht, die im konkreten Fall nachweislich geeignet waren positive Wirkungen auf den Vergleich zu entfalten. Der Gedan‑ ke einer generellen rechtspolitischen Präferenz für Vergleiche taugt dagegen kaum als Grundlage für eine Vermutungswirkung, zumal wenn diese sich in einer entsprechenden Ausgestaltung der Darlegungs- und Beweislast widerspie‑ geln soll. In Deutschland ist es anders als in den USA keine seltene Ausnahme, dass Zivilverfahren streitig durch ein Endurteil entschieden werden. Im kollek‑ tiven Rechtsschutz fehlen überhaupt noch Erfahrungswerte dazu, wie die Par‑ teien die Möglichkeit eines Vergleichsschlusses annehmen. Es würde zu weit gehen, wenn der Gesetzgeber oder die Rechtsprechung ein rechtspolitisches Interesse an einer einvernehmlichen Beilegung von Streitigkeiten zum Anlass nehmen würde, den Schutz für die Gruppenmitglieder in einem Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes zu lockern. Eine Vermutung, die an bestimmte Be‑ urteilungskriterien anknüpft, bedeutet letztlich nichts anderes, als dass diese Kriterien gegenüber anderen stärker gewichtet werden. Eine formalisierte Ver‑ mutung würde also dazu führen, dass die Wertungsentscheidung der Gerichte zumindest in Teilbereichen in starre Bahnen gelenkt wird. Jene könnten also möglicherweise nur noch eingeschränkt unter Berücksichtigung aller relevan‑ ten Gesichtspunkte umfassend prüfen, ob ein Vergleich angemessen ist. Beson‑ ders fragwürdig erscheint es – wie mitunter in der amerikanischen Praxis – dem Ablauf der Vergleichsverhandlungen die maßgebliche Indizwirkung zuzumes‑ sen, also einem bekanntermaßen unbestimmten und schwer zu fassenden Kri‑ terium,34 für dessen Anwendung zudem nur eine eingeschränkte Erkenntnis‑ grundlage zur Verfügung steht.
33 Vgl. 34
Mekat, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, § 7 Rn. 39. Siehe dazu oben S. 258 ff.
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Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
IV. Variable Prüfungsintensität als Lösungsansatz für das deutsche Recht Es gibt niemals nur den einen richtigen Vergleich. Eine einvernehmliche Lö‑ sung ist immer das das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, dessen Variabi‑ lität ein Gericht nicht ignorieren kann. Piché formuliert daher einen guten Aus‑ gangspunkt für dessen Kontrollaufgabe: [A] first golden rule that courts have followed at the fairness review stage, and should continue following […], is to recognize that acceptable class settlements include a „range of possible resolutions.“35
Ein Gericht, das einen Kriterienkatalog anwendet, um die Genehmigungsfähig‑ keit eines Vergleichs zu beurteilen, muss daher immer ein hinreichendes Maß an Rücksicht gegenüber der Gestaltungsfreiheit der Parteien walten lassen. Für das amerikanische Recht heißt es dementsprechend, dass das Gericht seine Vor‑ stellung dessen, was fair ist, nicht an die Stelle derjenigen der Parteien setzen dürfe.36 Man wird diese Aussage wohl dahingehend einschränken müssen, dass die Parteien freie Hand haben, solange sie sich diesseits der Grenze zur Unfair‑ ness bewegen. Diese Grenze wird aber von einer richterlichen Wertungsent‑ scheidung definiert und ist daher schwer fassbar. Die Aufgabe des Gerichts liegt darin auszuloten, was noch zulässig ist. Hiermit korrespondierend macht die amerikanische Rechtsprechung eine zweite Einschränkung, die für die deutsche Rechtspraxis übernommen werden sollte: Soweit bei der Anwendung von Kriterien inzident andere Rechtsnormen geprüft werden, soll die Prüfung summarisch bleiben. Die richterliche Kon‑ trolle eines Vergleichs soll weder den zugrundeliegenden Streitfall entscheiden noch ungeklärte Rechtsfragen einer Lösung zuführen.37 Das spiegelt sich auch in den Maßstäben für die Genehmigungsentscheidung wider, die die Kriterien‑ kataloge bereitstellen: Wie bereits ausgeführt wurde,38 schätzen die Gerichte die Risiken eines hypothetischen Rechtsstreits ein und wägen sie mit dem In‑ halt des ihnen vorliegenden Vergleichs ab. Sie postulieren dagegen keine idea‑ le Lösung, an der dieser sich messen muss. In Deutschland wird man sich bei der Behandlung von Rechtsfragen an der Praxis zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO ori‑ entieren können, wo schwierige Rechtsfragen ebenfalls nicht entschieden wer‑ den.39 35 Piché, Fairness in Class Action Settlements, S. 201; vgl. auch Stadler, [2013] EBLR 731, 747; Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1814. 36 Wright/Miller/Kane, Federal Practice and Procedure, Civil 3d, § 1797.5. 37 Carson v. Am. Brands, Inc., 450 U. S. 79, 88 (dort Fn. 14) (1981). 38 Siehe oben S. 222 ff. 39 Vgl. zu § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO Muthorst, in: Stein/Jonas, ZPO, § 91a Rn. 29, 31; Altham‑ mer, in: Zöller, ZPO, § 91a Rn. 27.
§ 8: Variabilität des Angemessenheitsmaßstabs
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Als Grundsatz lässt sich also festhalten, dass die Gerichte die Freiräume der Parteien respektieren müssen und ihrer Entscheidung zudem nur einen grob‑ maschigen rechtlichen Maßstab zugrunde legen dürfen. Ansonsten hängt die Intensität der Prüfung stark vom Einzelfall ab. Es bietet sich dabei ein flexi‑ bles Anforderungsprofil an, bei dem die abstrakte Behauptungslast der Partei‑ en, die den Vergleich geschlossen haben, mit dem rechtlichen Beurteilungsmaß‑ stab korrespondiert. Im deutschen Recht kommt es dementsprechend zunächst auf den Sach- und Streitstand des Musterverfahrens an. Genügt dieser bereits für eine Entscheidung, müssen keine weiteren Informationen eingeholt wer‑ den. Ansonsten müssen die Parteien ihren Vergleich in einer Weise begründen, die genügend Anhaltspunkte bietet, um seine Fairness anhand der maßgebli‑ chen Kriterien einzuschätzen. Werden hierbei kritische Umstände zutage ge‑ fördert, die Zweifel an der Genehmigungsfähigkeit des Vergleichs aufkommen lassen, verschärft sich der Genehmigungsmaßstab und damit ebenfalls die Be‑ hauptungslast in tatsächlicher Hinsicht. In gleicher Weise können entsprechend stichhaltige Einwendungen wirken. So entspinnt sich idealerweise ein Wech‑ selspiel zwischen den Parteien, den Gruppenmitgliedern, die Einwendungen erheben, eventuell hinzugezogenen Dritten und dem Gericht, das es ermög‑ licht, den Sachverhalt aus vielfältigen Perspektiven zu beleuchten, bevor über eine – vorzugsweise zu vermeidende – Beweisaufnahme nachgedacht werden muss. Die Prüfungsintensität variiert damit abhängig von den Umständen eines Vergleichs. Man kann insofern auch den Ansatz einer „tiered scrutiny“, den Macey und Miller für das amerikanische Recht vorschlagen, als Beispiel nen‑ nen. Sie sind zunächst der Meinung, dass ein Richter die allgemeine Angemes‑ senheit der Vergleichssumme schlechter beurteilen könne als die Maßstäbe für ihre Verteilung unter den Gruppenmitgliedern. Dementsprechend solle seine Prüfung in der zweiten Hinsicht intensiver ausfallen.40 Diese Differenzierung überschneidet sich demnach teilweise mit der Kategorienbildung, die in § 5 IV. dieser Untersuchung vorgenommen wurde.41 Vergleiche, die den Verdacht er‑ wecken, Ergebnis einer reverse auction zu sein, oder die in einem besonders frühen Verfahrensstadium zustande gekommen sind, sowie sogenannte coupon settlements sollen Macey und Miller zufolge davon unabhängig einer verschärf‑ ten Kontrolle unterliegen.42 Man muss diese Überlegungen nicht voreilig in das deutsche Recht übernehmen. Sie zeigen aber denkbare Ansatzpunkte für Diffe‑ renzierungen auf. Als Anhaltspunkte dafür, dass eine verschärfte Kontrolle von‑
40 41
Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 188 (2009). Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 177 (2009); vgl. auch Piché, Fairness in Class Ac‑ tion Settlements, S. 237. 42 Macey/Miller, 1 J. Legal Anal. 167, 191, 193 und 196 (2009). Den anspruchsvollsten Prüfungsmaßstab sehen Macey und Miller für die Anwaltsvergütung vor, was aber nicht auf das deutsche Recht übertragen werden kann, vgl. a. a. O. 196 ff.
350
Dritter Teil: Das Gericht als Kontrollinstanz
nöten ist, bieten sich überdies Zusammenstellungen nach dem Muster der „red flags“ des Manual for Complex Litigation an.43 Ein solcher variabler Ansatz ermöglicht den Gerichten, ihren Prüfungsauf‑ wand zu reduzieren, ohne die Standards der Kontrolle zugleich übermäßig zu senken. Er betont, dass es sich bei der Genehmigung eines Vergleichs um eine Wertungsentscheidung handelt, deren Maßstäbe ein Gericht im Einzelfall aus‑ tarieren muss. Die Folge ist, dass das jeweilige Gericht an der Schnittstelle zwi‑ schen den Akteuren und den Interessen der Gruppenmitglieder steht. Es muss daher den Fall vor dem Hintergrund der Genehmigungsentscheidung aktiv ma‑ nagen und weiterentwickeln, bis ihm eine hinreichende Entscheidungsgrund‑ lage zur Verfügung steht. Die Gerichte sind also stärker in das Verfahren invol‑ viert als dies üblicherweise der Falls ist.44
43
Siehe dazu oben S. 193 ff. Stadler, in: Festschrift Stürner, S. 1816.
44 Vgl.
Vierter Teil
Ergebnisse
§ 9: Nutzen und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen I. Das Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle In den USA kommt gerichtlich genehmigten Vergleichen im Rahmen von class actions eine enorme Bedeutung zu.1 Sie stellen ein charakteristisches Element der dortigen Rechtspraxis dar und können erhebliche wirtschaftliche Tragwei‑ te entfalten. In Europa ist der kollektive Rechtsschutz weit von diesem Ent‑ wicklungsstadium entfernt. Gerade in Deutschland ist der Gedanke, solche Ver‑ fahren im Wege eines umfassenden Vergleichs abzuschließen, der von einem Gericht gebilligt werden muss, noch etwas sehr neues. Die entsprechenden Re‑ gelungen im KapMuG und für die Musterfeststellungsklage warten noch darauf angewendet zu werden. In den Niederlanden hat sich das WCAM dagegen be‑ reits in einer Nische etabliert. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bestre‑ bungen der Europäischen Kommission, die grundlegenden Anforderungen an Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes auf europäischer Ebene zu regeln, die zwischenzeitlich die Form eines Richtlinienvorschlags angenommen hatten, bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten. Bei der amerikanischen class action, dem WCAM und den beiden deutschen Verfahren handelt es sich allesamt um Gruppenverfahren. Sie sehen also vor, dass ein Repräsentant die materiellrechtlichen Ansprüche der einzelnen Grup‑ penmitglieder gesammelt geltend macht und gegebenenfalls im Rahmen eines Vergleichs über diese verfügt.2 Davon abgesehen weisen die verschiedenen Verfahrensformen zwar erhebliche Unterschiede auf: So handelt es sich bei der class action, dem WCAM und der Musterfeststellungsklage um selbständige Klageverfahren, beim KapMuG dagegen um ein Vorlageverfahren, das auf an‑ hängigen individuellen Rechtsstreiten aufbaut. Die class action und das Kap‑ MuG weisen die Rolle des Repräsentanten mindestens einem Gruppenmitglied zu, das WCAM und die Musterfeststellungsklage hingegen Interessenorgani‑ sationen, die selbst nicht unmittelbar von dem maßgeblichen Schadensereig‑ nis betroffen sind.3 Zudem unterscheidet sich die Gestaltung des Verfahrens‑ 1 2
Siehe oben S. 9 f. Siehe oben S. 4 3 Siehe oben S. 20 f., 27 f., 37 f.
354
Vierter Teil: Ergebnisse
ablaufs, etwa mit Blick auf den Zeitpunkt, zu dem die Gruppenmitglieder ihren Austritt aus einem Vergleich erklären können.4 Alle untersuchten Verfahrens‑ formen haben indes gemeinsam, dass zwischen den jeweiligen Repräsentan‑ ten und den Gruppenmitgliedern Interessenkonflikte entstehen können. Eine zusätzliche Komplexitätsebene entsteht dadurch, dass die Repräsentanten re‑ gelmäßig durch Rechtsanwälte vertreten werden. Deren Anreize und Interes‑ sen müssen somit in die Rechnung einbezogen werden. Vor allem bei der class action5 sowie möglicherweise zumindest teilweise auch beim WCAM6 stellen die auf Klägerseite tätigen unternehmerisch ausgerichteten Kanzleien die trei‑ bende Kraft im Verfahren dar. Es besteht daher die Gefahr, das die Repräsen‑ tanten oder ihre Anwälte einen Vergleich schließen, der mehr ihren eigenen In‑ teressen entspricht als denen der Gruppenmitglieder. Auch wenn sich dieses Risiko schwer in Form präziser Wahrscheinlichkeiten fassen lässt, kann man es jedenfalls nicht vollkommen ausschließen. Seine Intensität wird abhängig von den Besonderheiten der einzelnen Rechtsordnungen beträchtlich variieren. Die gerichtliche Kontrolle von Vergleichen zielt jedoch auf den pathologischen Einzelfall ab, so dass der Frage nach Wahrscheinlichkeiten nur eine nachran‑ gige Bedeutung zukommt. Sie hat für das Gericht vor allem eine heuristische Funktion. Man muss sich zudem von dem Gedanken lösen, dass es vor allem um Kollusion zwischen den Parteien zulasten der Gruppenmitglieder geht. Viel‑ mehr können auch Einflüsse und Verzerrungen, derer sich die Akteure nicht be‑ wusst sind, schädlich sein. So liegt bei der deutschen Musterfeststellungsklage möglicherweise ein Problem darin, dass das Gesetz den Spielraum der Reprä‑ sentanten bei der Suche nach Finanzierungsmodellen aus – zum Teil berechtig‑ ter – Sorge vor Missbräuchen zulasten der Beklagten stark einengt und damit ihre Verhandlungsposition schwächt. Darauf, dass die Gruppenmitglieder ihre Repräsentanten effektiv kontrollieren, kann man sich dagegen in keinem der untersuchten Verfahren verlassen.7 Zudem kann auch eine sorgfältige Auswahl der Repräsentanten Konfliktsituationen nicht vollends ausschließen. Vor diesem Hintergrund soll die gerichtliche Kontrolle eines Vergleichs im Interesse der Gruppenmitglieder gewährleisten, dass die von den Reprä‑ sentanten beziehungsweise ihren Anwälten mit der Gegenseite ausgehandelte Regelung einem Mindeststandard entspricht. Sie baut demnach auf dem Re‑ präsentationsgedanken auf, der ein wesentliches Charakteristikum eines Grup‑ penverfahrens darstellt. Wenn der Repräsentant einer Gruppe – oder sein Pro‑ zessvertreter – eigenständig einen Vergleich mit der Gegenseite aushandeln kann, der auch die Gruppenmitglieder bindet, verfügt er über einen erheblichen Handlungsspielraum. Dass er diesen im Einzelfall nicht in einer Weise ausübt, 4 5
Siehe oben S. 248 ff. Siehe oben S. 96 f. 6 Siehe oben S. 99 f. 7 Siehe oben S. 109 ff.
§ 9: Nutzen und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen
355
die den Interessen der Gruppenmitglieder oder eines Teils von ihnen zuwider‑ läuft, lässt sich aber nicht allein dadurch zuverlässig gewährleisten, dass den Betroffenen Mitwirkungsrechte eingeräumt werden. Dem steht deren rationale Apathie ebenso entgegen wie die praktische Unmöglichkeit eine große Zahl an Betroffenen an den Vergleichsverhandlungen zu beteiligen. Umgekehrt wäre die Unsicherheit für die Parteien, die den Vergleich aushandeln zu groß, falls die Gruppenmitglieder nur dann in einen fertig ausgehandelten Vergleich einbezo‑ gen würden, wenn sie ihm ausdrücklich zustimmen. Der einzige praktikable Weg ist es vielmehr, den einzelnen Gruppenmitgliedern eine Austrittsoption zu geben. Eine solche Gestaltung lässt sich aber nur rechtfertigen, wenn es effek‑ tive Mechanismen gibt, die ein Mindestschutzniveau sicherstellen, ohne dass die Gruppenmitglieder dafür zwangsläufig selbst aktiv tätig werden müssen. In dieser Situation tritt die Kontrollfunktion des Gerichts als ausgleichender Fak‑ tor auf den Plan. Dagegen sollte das Genehmigungserfordernis entgegen einer in Deutschland vielfach vertretenen Ansicht keinen besonderen Schutz für die Beklagtenseite oder Dritte verwirklichen. Soweit die Beklagten selbst das Verfahren führen, also in Bezug auf sie kein Repräsentationsverhältnis besteht, fehlt die Grundlage für die Schutzfunktion des Gerichts. Soweit nicht die Interessen repräsentierter Gruppenmitglieder verletzt sind, sollte ein deutsches Gericht die Genehmigung eines Vergleichs richtigerweise nur dann ablehnen, wenn dieser mit Blick auf die grundlegenden Anforderungen der §§ 134, 138, 242 BGB schlechthin keine richterliche Legitimation erhalten darf.8 Auch soweit es darum geht die Interes‑ sen der Gruppenmitglieder zu schützen, kommt der richterlichen Kontrollauf‑ gabe in den untersuchten Verfahrensformen nur eine beschränkte Reichweite zu: Das Gericht kann einen Vergleich nur in Gänze billigen oder ablehnen. Eine Teilgenehmigung oder gestaltende Eingriffe scheiden dagegen aus.9
II. Die Kriterienkataloge Sowohl das amerikanische als auch das niederländische Recht greifen auf Kri‑ terienkataloge zurück, die sie mehr oder weniger stringent anwenden, um die Überprüfung eines Vergleichs zu strukturieren. Diese Kataloge sind in den USA in einzelnen Circuits oft sehr komplex und schwer handhabbar. Die in ihnen enthaltenen Kriterien lassen sich unter Rückgriff auf den Ansatz von Piché aber nahezu immer drei Kategorien zuordnen:10 Sie betreffen entweder den materiel‑ len Inhalt eines Vergleichs, das Verfahren, in diesem dieser zustande gekommen 8 9
Siehe oben S. 58 ff. Siehe oben S. 45 ff., 82 ff. 10 Siehe oben S. 165 f.
356
Vierter Teil: Ergebnisse
ist, oder die Reaktion von Personen, für die er in irgendeiner Weise relevant ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei regelmäßig die Frage nach den hypotheti‑ schen Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits in der Sache. Sie läuft auf eine um‑ fassende Wertungsentscheidung des Gerichts hinaus.11 Dagegen ist es oft mit Problemen verbunden, die Fairness der Vergleichsverhandlungen zu beurteilen, da hier regelmäßig klare Maßstäbe ebenso fehlen wie ein unverfälschter Ein‑ blick in den Entstehungsprozess.12 Die Aussagekraft der Reaktion der Grup‑ penmitglieder auf den Vergleich muss ebenfalls zwiespältig beurteilt werden, soweit diese als rein quantitatives Kriterium aufgefasst wird.13
III. Die Entscheidungsgrundlage Insbesondere die Anwendung des zentralen Kriteriums der Erfolgsaussichten ist in erheblichem Maße von der Entscheidungsgrundlage abhängig, die dem Gericht zur Verfügung steht. Es stellt sich daher die Frage, in welchem Maße der Sachverhalt aufgeklärt sein muss, damit das Gericht über eine angemessene Kenntnis der Sachlage verfügt. Die Aufgabe, über die Genehmigung eines Ver‑ gleichs entscheiden zu müssen, konfrontiert ein Gericht mit einer ungewohnten und herausfordernden Situation. Sobald die Parteien ihren Vergleich bei Gericht einreichen oder einen Vergleichsvorschlag des Gerichts annehmen, fällt der In‑ teressengegensatz zwischen ihnen weg, der sonst in allen untersuchten Rechts‑ ordnungen einen streitigen Zivilprozess vorantreibt. Das hat Konsequenzen für die Rolle des Gerichts. In den USA und den Niederlanden wurde ein Ansatz gewählt, nach dem die Parteien dem Gericht überzeugende Gründe darlegen müssen, warum ihr Vergleich genehmigungsfähig ist. Der deutsche Gesetzgeber nennt im KapMuG und bei der Musterfeststellungsklage dagegen den bisheri‑ gen Sach- und Streitstand des Musterverfahrens als primäre Erkenntnisquelle. Diese Lösung stößt in manchen Konstellationen jedoch an ihre Grenzen, zumal sie nicht optimal mit der Dualität von Muster- und Ausgangsverfahren im Kap‑ MuG und dem eingeschränkten Gegenstand einer streitigen Entscheidung in beiden Verfahren harmoniert. Es ist daher auch im deutschen Recht geboten, auf eine Begründung der Parteien zurückzugreifen, soweit der bisherige Sach- und Streitstand keine geeignete Entscheidungsgrundlage darstellt. In dogmatischer Hinsicht stellt ein solcher Ansatz das deutsche Zivilprozessrecht auf die Probe. Er fügt sich nur ungelenk in das Schema der Prozessmaximen ein. Eine Kom‑ bination von Elementen der Untersuchungsmaxime mit dem Beibringungs‑ grundsatz ist aber, wie auch § 56 Abs. 1 ZPO zeigt, nicht systemwidrig. Sie ist um die Komponente einer verschärften abstrakten Darlegungslast zu ergänzen, 11 12
Siehe oben S. 220 ff. Siehe oben S. 258 ff. 13 Siehe oben S. 244 ff.
§ 9: Nutzen und Grenzen der gerichtlichen Kontrolle von Vergleichen
357
um sicherzustellen, dass das Gericht in jedem Fall über einen geeigneten An‑ satzpunkt verfügt, um die Genehmigungsfähigkeit eines Vergleichs zu beurtei‑ len. Das Gericht muss einerseits in der Lage sein, die Begründung der Parteien zu hinterfragen, wenn es Anhaltspunkte dafür sieht, dass diese auf objektiv un‑ zutreffenden Annahmen beruht. Andererseits kann man von ihm nicht erwarten, dass es den Sachverhalt insgesamt eigeninitiativ aufklärt. Sinnvollerweise soll‑ te es den Parteien obliegen, den tatsächlichen Hintergrund darzulegen, der aus ihrer Sicht die Genehmigung des Vergleichs rechtfertigt. Das Ergebnis ist eine hybride Lösung, die spezifisch auf die besondere Situation zugeschnitten ist, dass es bei der gerichtlichen Kontrolle eines Vergleichs keinen Parteiengegen‑ satz mehr gibt. Auch ohne erhebliche Eingriffe in seine Strukturen bietet das deutsche Zivilprozessrecht demnach Potential für eine sachgerechte Lösung.14 Neben die Begründung der Parteien – und gegebenenfalls den bisherigen Sach- und Streitstand – können in allen untersuchten Verfahrenformen außer der Musterfeststellungsklage Einwendungen der Gruppenmitglieder treten. Auch wenn sie nicht geeignet sind, für sich genommen verlässlich einen QuasiParteiengegensatz herzustellen, können sie im Einzelfall eine wichtige Erkennt‑ nisquelle für das Gericht darstellen. Im deutschen Recht kann man sie als An‑ regung für das Gericht einordnen und sie zum Anlass für eine Steigerung der Darlegungslast der Parteien nehmen. Möglicherweise wird die Rechtsprechung Ansätze entwickeln müssen, um mit einer großen Anzahl an Einwendungen umzugehen, ohne dass die Effizienz des Verfahrens darunter leidet.15 Allgemein zeigt das Beispiel der USA und der Niederlande, dass das Gericht in einem Genehmigungsverfahren, das sich in tatsächlicher Hinsicht auf eine Begründung der Parteien stützt, eine ungewöhnlich aktive Rolle einnehmen und unter Umständen intensives Verfahrensmanagement betreiben muss. Für die deutsche Auffassung von der Rolle des Gerichts sollte dies aber eine gerin‑ gere Umstellung bedeuten als für die amerikanische. Mit den Frage- und Hin‑ weispflichten gemäß § 139 ZPO bietet das deutsche Recht hier einen geeigneten Ansatzpunkt, damit das Gericht von den Parteien gegebenenfalls die Ergänzung ihrer Begründung verlangen kann. In Abwesenheit eines Parteiengegensatzes liegt die Lösung in einem Wechselspiel zwischen den Parteien und dem Ge‑ richt; auch Gruppenmitglieder, die Stellung nehmen wollen, können hier ein‑ bezogen werden. Die ZPO hält im Bedarfsfall zudem die nötigen Instrumente bereit, um von Amts wegen Beweise zu erheben, wobei diese Option aber an‑ gesichts der Abwesenheit eines Parteiengegensatzes von dem Erfordernis eines streitigen Sachverhalts abgelöst werden muss. Das sollte für eine sachgerechte Lösung genügen, auch wenn das deutsche Prozessrecht hinter dem Maß an Fle‑ xibilität zurückbleibt, das in den USA gegeben ist.16 14
Siehe oben S. 283 ff. Siehe oben S. 302 ff. 16 Siehe oben S. 337 ff. 15
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Vierter Teil: Ergebnisse
Die vorliegende Untersuchung spricht sich in diesem Zusammenhang für ein bewegliches System aus, das es erlaubt, die Anforderungen, die an die Begrün‑ dung eines Vergleichs zu stellen sind, davon abhängig zu machen, in welchem Maße Verdachtsmomente dafür bestehen, dass dieser sämtliche oder einzelne Gruppenmitglieder unzulässigerweise benachteiligen könnte. Es ist demgemäß die Aufgabe des Gerichts, sich anhand der Begründung der Parteien sowie des bisherigen Sach- und Streitstands an die erforderliche Entscheidungsgrundlage heranzutasten und gegebenenfalls weitere Informationen zu verlangen. Wie ef‑ fektiv die Kontrolle im Einzelfall ist, hängt entscheidend von dem Einsatz ab, den das Gericht im Zusammenhang mit seiner Aufgabe zeigt. An dieser Stelle kommt es aber nicht umhin, zwischen den beiden Zielen der Prozessökonomie und des Schutzes der Gruppenmitglieder abzuwägen und einen vertretbaren Kompromiss zu finden. Abstrakte rechtliche Vorgaben können insofern ledig‑ lich einen Rahmen definieren. Die Intensität der richterlichen Prüfung hängt dabei davon ab, ob sich im Zuge dieses Prozesses des Hinterfragens und Nach‑ besserns Indizien dafür ergeben, dass der vorliegende Vergleich möglicherwei‑ se nicht angemessen ist.17
IV. Schlussstein der Schutzmechanismen Die gerichtliche Genehmigung des Vergleichs ist nur ein Element der verschie‑ denen Mechanismen, die im kollektiven Rechtsschutz ein für die Betroffenen angemessenes Ergebnis gewährleisten sollen. Sie wirkt dabei insbesondere vielfach mit der Auswahl eines geeigneten Repräsentanten zusammen und setzt diese voraus. Das Gericht bezieht die Informationen, die es benötigt, um einen Vergleich zu beurteilen, in erster Linie von den Repräsentanten – oder in der Praxis genaugenommen regelmäßig von deren Prozessvertretern – und ist damit darauf angewiesen, dass diese zumindest tendenziell eine zuverlässige Quelle darstellen. Auch kann es den Inhalt eines Vergleichs nicht abschließend vor‑ geben, sondern lediglich dem Handeln der Repräsentanten eine äußere Grenze ziehen. Im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen dem Gericht und den Repräsentanten bedeutet das, dass der gerichtlichen Kontrolle eines Ver‑ gleichs eine Auffangfunktion zukommt. Sie gewährleistet eine letzte Ergebnis‑ korrektur, nachdem zuvor andere Mechanismen eingegriffen haben und ist nur zusammen mit diesen denkbar.
17
Siehe oben S. 348 ff.
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Sachregister Abtretungsmodelle 61 f. Advocatenstichting 99 Affidavit 267, 269 f. American Law Institute 19, 188 f., 191 f., 198 American Rule 60, 115, 117 f. Amtsermittlungsgrundsatz siehe Unter‑ suchungsgrundsatz Änderungsvorschläge siehe richterlicher Hinweis Anerkenntnis (§ 307 ZPO) 65 f. Anhörungstermin 266 ff., 275, 299 f., 315 f. Anreize 57 f., 95, 101, 103, 110, 113 ff., 129 f., 132, 134, 137, 141 f., 147, 149, 205, 233, 274, 320 f. Anspruchsverzicht 156, 187, 202, 231 ff. Anwälte – Auswahlentscheidung 97 f. – unternehmerische Ausrichtung 12, 60, 96 f., 115, 138, 304, 315, 325 – Vergütung 25, 96, 116, 120 ff., 148, 154, 180, 233, 236, 306 Außergerichtlicher Vergleich 66 Austrittsoption 87, 95, 248 ff., 309 – im Zusammenhang mit der certifica tion 68 f. – nach dem Vergleichsschluss 110, 248 f. – Quorum 44, 57, 220, 249 ff. Begründung des Vergleichs 267, 269, 274 f., 276 f. – Begründungserfordernis 286, 291, 296 – inhaltliche Anforderungen 270 ff., 274 f. – schrittweises Vorgehen 273 Beibringungsgrundsatz 288 ff., 293 f., 297 – Darlegungslast 295 f., 349
Benachrichtigung der Gruppenmitglieder 24, 30 f., 68 f., 203, 310 Beurteilungsgrundlage 203 f., 217, 244, 276, 326 Beweiserhebung 297, 298 f., 327, 338 Beweislastentscheidung 296 f. Bindungswirkung 56 Blackmail settlement 94 Bundeskartellamt 329 CAFA 16, 143 f., 154, 179, 195 f., 328 f. Certification 10, 18 ff., 62, 70 f., 97, 102, 147, 182, 192, 239, 305 Claim Code 146 Claimcultuur 13 Claimstichting 99 f. Class representative 20 f., 70 ff., 102 ff., 183 – securities class action 104 Clear sailing provision 180, 204 f. Collateral attack 90 Common fund doctrine 120 ff., 128, 227, 320 f. Consent decree 17, 85, 118, 144 Contingency fee siehe Erfolgshonorar Coupon settlement 154 f., 158, 196, 229 f., 253, 349 Cy-pres remedies 155 f., 230 Discovery 22, 60, 143, 172, 175 f., 182, 184, 199, 204, 226 f., 256 f., 268, 274, 282, 318 f. Dispositionsbefugnis 61, 63, 65, 67, 83, 217, 285, 290 Eigendynamik des Verfahrens 95 Einschätzungsspielraum siehe Wertungs‑ spielraum des Gerichts Einwendungen 302 ff.
372
Sachregister
– Anwaltszwang 313 ff. – discovery 317 ff. – Erkenntniswert 306 ff. – Form 313 – Frist 311 f. – Häufigkeit 245 ff., 304 f. – Professional objectors 247, 322 ff. – Verhältnis zur Austrittsoption 309 f. Empirische Studien 9 f., 168 f., 245 endgültige Genehmigung siehe final approval Erfolgshonorar 60, 96 f., 115, 132, 136, 138 f., 149, 215, 227, 321 Ergebniskontrolle 79, 88, 91 Erledigungserklärung 44, 65 ff. Europäische Regelungsansätze 3 Exit siehe Austrittsoption Fairness hearing siehe Anhörungstermin Federal Judicial Center 18 Fee shifting 117 f., 123, 129, 208, 227 Feststellungsvertrag 86 Final approval 24, 171 ff. Finanzierungsmodelle – Interessenorganisationen beim WCAM 130 ff., 237 – Mischkalkulation 133, 138, 141 f. – Prozessfinanzierer 107 f., 132, 137, 139, 234, 237 f. FLSA 202, 232 Folgeprozess 86 Fürsorgepflicht siehe Treuhänderstellung Gegenleistung 156, 194, 231 Geheimhaltungsinteressen 273, 296, 319 Genehmigungserfordernis – andere Regelungen 33 ff. – Zweck siehe Schutzzweck Gestaltungsfreiheit der Parteien 16, 53 ff., 83, 348 Gruppenklage siehe Gruppenverfahren Gruppenverfahren 4 f., 53, 157 Haftung der Anwälte und Repräsentanten 71, 75 ff., 77 f., 90, 112, 137 Inanspruchnahme des Vergleichs 252 f. Incentive payment 116, 205
Individueller Vergleich 67 ff., 72, 285 f. Inquisitionsmaxime siehe Untersuchungs‑ grundsatz Insolvenzplanverfahren 34 f., 82, 225, 327 Institutionelle Investoren 104, 106, 110, 140, 148, 150, 159, 211, 251, 259 Interessen Dritter 63 f. Interessengleichlauf – der Gruppenmitglieder 75, 108 – der Parteien 263 Interessenkonflikt – der Gruppe mit den Anwälten 25, 94, 113 ff. – der Gruppe mit den Repräsentanten 94, 107, 113 ff., 264 f. – gruppeninterne Interessengegensätze 94, 147 ff., 242 f., 279 Interessenorganisation (WCAM) – Auswahl 106 f. – Repräsentativitätserfordernis 209 Kanzleien siehe Anwälte KapMuG – Ausgangsrechtsstreite 280 – Beteiligungsrechte der Beigeladenen 111, 284 – elektronisches Informationssystem 43, 318 – isolierter Vergleich des Musterverfah‑ rens 45 f., 219 – Vorlagebeschluss 279 f. – Vorlageverfahren 278 f. Klagebefugnis 27 Klagehäufung 20, 53 Klageregister 39 Kollusion 130, 139, 151, 180, 184, 199, 204, 234, 259, 354 Kontrolldefizit 138 f. Kostenverteilung 117 ff. Kriterien – discovery 172, 182, 184, 191, 199, 204, 226 f., 256 f. – Einschätzung der Anwälte 179, 254 f. – Erfolgsaussichten 172 ff., 177 ff., 181, 188, 191, 211 ff., 218, 221 ff. – Finanzkraft des Beklagten 174, 218 f., 226, 228
Sachregister
– gegenseitiges Nachgeben 219, 235 – Gemeinwohlbelange 177 ff. – Gesamtabwägung 186, 188, 190, 206, 243 – Häufigkeit 182 f. – Kategorienbildung 165 f. – Komplexität, Kosten und Dauer des Verfahrens 172, 182, 210, 226 ff. – Parallelverfahren 175, 206 – praktische Durchsetzbarkeit hypothe tischer Ansprüche 174, 226 – Reaktion der Gruppe 172, 179, 181, 190, 211, 244 ff. – Stand des Verfahrens 172, 227, 255 ff. – Vergleichsverhandlungen 172, 180 f., 183 ff., 191, 194, 199, 205, 258 ff. – Vergütung der Anwälte 175 f., 180, 194, 204 Kriterienkataloge 165 f. – gesetzlicher Kriterienkatalog (class action) 192 f. – gesetzlicher Kriterienkatalog (WCAM) 209 – Kriterienkataloge der Circuit Courts (class action) 167 ff. Lodestar doctrine 128 ff. Machtungleichgewicht 63 Manual for Complex Litigation 18, 193 ff., 198 Mediation 335 Mindeststandard 244 Mitwirkungsrechte 281 f. Modifizierung eines Vergleichs 82 ff. Multi District Litigation (MDL) 143 f. Musterfeststellungsklage: isolierter Ver‑ gleich des Musterverfahrens 46 Nebenabreden 122, 299, 319, 324 Nebenintervention 55 Notice siehe Benachrichtigung der Grup‑ penmitglieder Nudge 56 Nullsummenspiel 116, 121 Offensichtlicher Mangel 206 Opt out siehe Austrittsoption
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Opt out-Vergleich 57 f. Parteiengegensatz 263 ff., 297 f., 299 Percentage fee method 128 ff. Pick-off 18, 66 Poldermodell 13 Popularklage 4 Preliminary approval 22 ff., 197 ff. – presumption of fairness 23, 344 f. – Prüfungsmaßstab 23 f. – Terminologie 23 Presumption of fairness 343 ff. Principal agent-Konflikt siehe Interessen‑ konflikt Procesreglement Prognoseentscheidung 222 f., 225, 263 Prozessrisiko 12 Prüfung von Amts wegen 293, 298 f. Qualifizierte Einrichtung 41, 77 f., 101, 107 f., 140 f. Race to the courthouse 104 f. Range of reasonableness siehe Wertungs‑ spielraum des Gerichts Rechtliches Gehör 43 f. Rechtskraft 86 Rechtskraftdurchbrechung 90 Rechtskultur 13 Rechtsmittel 89, 198, 322 ff. Rechtsvergleich 4 Red flags 193 ff., 350 Regiezitting 84 Repeat player 116 Repräsentant – class action siehe class representative – KapMuG siehe Musterkläger – Musterfeststellungsklage siehe qualifi‑ zierte Einrichtung – WCAM siehe Interessenorganisation (WCAM) Repräsentation 53 ff., 63, 69 – Kompetenzen des Repräsentanten 54 Reverse auction 142 ff., 193 f. Reversion provision siehe Rückfall‑ bestimmung Richterlicher Hinweis 84, 284, 288, 306, 331, 333, 337 f.
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Richtlinienvorschlag 59 Risikoprognose siehe Prognoseentschei‑ dung Risikoscheu 139 Rolle des Richters 291 Rückfallbestimmung 180, 187, 194, 203, 233 ff. Sach- und Streitstand 277 ff. Sachverständigengutachten 267 f., 283 f., 334, 336 Schutzzweck 58 ff., 64, 291 Sittenwidrigkeit 63, 238 f. Special master 332, 334 f. Stichting 98 f. Streuschäden 90, 230, 247 Summarische Prüfung 197 Sweetheart settlement 93 f., 205 Teilvergleich 46 f., 219, 232 f. Toxic cocktail 60 Treuhänderstellung – des Anwalts 71 ff. – des Gerichts 79 ff. – des Repräsentanten 70, 72 ff., 88 Übereinstimmende Erledigungserklärung 65 f. Untergruppen 242 f. Untersuchungsgrundsatz 288, 290 f., 294, 296 f.
– Mitwirkungspflichten 295 Vereniging 98 Verfahrensleitung 83 f. Verfahrensökonomie 341 Vergleichsbereitschaft 57, 251 Vergleichsdruck 13, 59 ff., 229 Vergleichsverhandlungen 87 Verhandlungsmaxime siehe Beibringungs‑ grundsatz Verteilung der Ersatzleistungen 156 f. Verteilungsphase 26, 31, 47, 235, 236 Verzicht (§ 306 ZPO) 65 Voice siehe Mitwirkungsrechte Vorlagefragen 86 Vorläufige Genehmigung siehe prelimina‑ ry approval WCAM – gerechtshof Amsterdam 29 – komplementäre Funktion 28 ff. – procesreglement 27 – verzoekschriftprocedure 27 Wertungsspielraum des Gerichts 190, 199 f., 218, 224 Widerrufsvorbehalt 45 Windhundrennen siehe race to the court‑ house Zwischenvergleich 47