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German Pages 335 [336] Year 2001
Franz-Reiner Erkens (Hg.) Karl der Große und das Erbe der Kulturen
Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15.-18. März 1999 Im Auftrag des Mediävistenverbandes herausgegeben von Franz-Reiner Erkens
Franz-Reiner Erkens (Hg.)
Karl der Große und das Erbe der Kulturen
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Mediävistenverbandes Die Abbildung auf dem Einband zeigt eine um 870 entstandene Reiterstatue aus der „jüngeren Metzer Schule". Nach einer bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgbaren Lokaltradition stellt der reitende Herrscher Karl den Großen dar, doch könnte es sich auch um dessen Enkel Karl den Kahlen handeln. Die Figur befindet sich heute im Musee du Louvre in Paris.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-05-003581-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Druck: G A M M E D I A , Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
Eröffnungsvortrag RUDOLF SCHIEFFER
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
I. Karl der Große und seine Zeit MICHAEL RICHTER
Karl der Große und seine Ehefrauen. Zu einigen dunkleren Seiten Karls des Großen anhand von Quellen des ausgehenden achten und beginnenden neunten Jahrhunderts FRANZ TINNEFELD
Formen und W e g e des Kontaktes zwischen Byzanz und dem Westen zur Zeit Karls des Großen LUTZ E. VON PADBERG
Zur Spannung von Gentiiismus und christlichem Universalitätsideal im Rcich Karls des Großen BRIGFITE KASTEN
Laikale Mittelgcwaltcn: Beobachtungen zur Herrschaftspraxis der Karolinger FRANZ STAAB
Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen
VI
Inhalt
II. Karls Erbe und Erben KURT SMOLAK
Bescheidene Panegvrik und diskrete Werbung: Gedicht über das Standbild Theoderichs in Aachen
Walahfrid
Strabos 89
FRITZ LOSEK
Die Auswirkungen karolingischer Politik und Reformen im Südosten des Reiches anhand der lateinischen Überlieferung. Das Beispiel Salzburg
111
WOLFGANG EGGERT
Zu Inhalt, Form Reichsannalen"
und
politischer
Terminologie
der
"Fränkischen 122
EGON BOSIIOl·'
Karl der Kahle - novus Karolus magnus?
135
CHARLES R . BOWLUS
Carolingian Military Hegemony in the Carpathian Basin 791-907
153
MARTIN EGGERS
Die südöstlichen Nachbarn des Karolingcrreiches im 9. Jahrhundert
159
WILHELM G . BUSSE
Die 'karolingische' Reform König Alfreds
169
JÜRGEN RÖMER
Der Adler als Symbol Karls des Großen? Ein Blick in bisher unbeachtete Quellen
185
III. Rezeption und Wirkungen BERND B A S I E R :
Heros und Heiliger. Literarische Frankreich und Deutschland
Karlbilder
im
mittelalterlichen 197
ELISABETH MEGIER
Karl der Große, das römische Reich und die Kirche in frankonormannischer Sicht: der Standpunkt Hugos von Fleury
221
DOROTHEA W A L Z
Karl der Große - ein verhinderter Seefahrer. Die Reichenauer Heiligbluterzählung aus dem 10. Jahrhundert
234
Inhalt
VII
BERND SCHÜTTE Karl der Große in der Historiographie der Ottonen- und Salierzeit
246
KERSTIN WIESE Der Aachcner Karlsschrein - Zeugnis lokalkirchlicher Selbstdarstellung STEFAN ΗΟΠΜΛΝΝ Das Bild Karls des Großen in der politischen Lyrik. Pseudo-Frauenlob und L u d w i g der Bayer
257
275
RITA SCHEUSEMANN "Die edele coninc Karel?" Z u m Karlsbild in der niederländischen und deutschen Renout/Reinolt-Tradition
294
FRANK FÜRBETII Carolus Magus. Zur dunklen Seite des Karlsbildcs im Mittelalter
314
Vorwort
Unter der Schirmherrschaft des Sächsischen Staatsministers für Wissenschaft und Kunst, Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, fand vom 15. bis 18. März 1999 an der Universität Leipzig das 8. Symposion des Mediävistenverbandes statt. Da sich auf Weihnachten 2000 zum 1200. Mal die Kaiserkrönung Karls des Großen jährte, stand es unter dem Thema "Karl der Große und das Erbe der Kulturen". Die Tagung widmete sich dabei einerseits dem großen Karolinger selbst, der zu den wenigen Gestalten des Mittelalters zählt, die im historischen Bewußtsein auch noch breiterer Kreise präsent sind, und an den jedes Jahr in Aachen die Verleihung des Karlspreises für Verdienste um das Zusammenwachsen Europas erinnert. Andererseits wurde die gesamte Epoche des ersten abendländischen Kaisers in den Blick genommen und nach den Wirkungen gefragt, die von ihr und ihrem wichtigsten Repräsentanten ausgingen. In vier Sektionen konnte dabei das karolingische Zeitalter und dessen Ausstrahlung auf die späteren Jahrhunderte betrachtet werden. Eine Sektion war selbstverständlich dem Kaiser und seiner Herrschaft gewidmet ("Karl der Große und seine Zeit"), eine weitere dem 9. Jahrhundert ("Karls Erbe und Erben") und die dritte dem Nachleben Karls des Großen und der Rezeption seines Herrscherbildes in der Historiographie und Kunst des Mittelalters ("Rezeption und Wirkungen"). Die vierte Sektion beschäftigte sich mit dem Karlsbild seit dem Humanismus und der Renaissance ("Karl der Große in Renaissance und Moderne"), sie spannte den Bogen bis in die jüngste Vergangenheit und bezog dabei die neuere politische Instrumentalisierung des Karlsbildes in die Betrachtungen mit ein. Die Beiträge dieser Sektion, vermehrt um das Referat von Maria Blähovä aus Prag ("Das 'Nachleben' Karls des Großen in der Propaganda Karls IV."), das in der dritten Sektion gehalten worden ist, sich aber auch hierher glücklich fügt, sind 1999 in Band 4, 2 der Verbandszeitschrift "Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung" unter dem Titel "Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes" erschienen. Die übrigen Referate, mit Ausnahme der Ausführungen von Michael I. Allen aus Chicago ("Hintergrund und Aussicht des karolingischen Imperiums im Lichte zweier Universal-'chroniken" des 9. Jahrhunderts [Frechulf v. Lisieux und Ado v. Vienne]"), die durch eine Verquickung unglücklicher Umstände nicht publikationsfähig gemacht werden konnten, werden nun als Akten des Symposions vorgelegt. Die Gliederung dieses Bandes orientiert sich dabei grundsätzlich an den Tagungssektionen und versucht zugleich - soweit möglich - eine chronologische Ordnung zu befolgen.
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Vorwort
Der Erfolg der Tagung wie auch die Publikation ihrer Akten ist vielen Helfern zu verdanken, nicht zuletzt dem Kanzler der Universität Leipzig, Herrn Peter GutjahrLöser, der half, wo er helfen konnte. Aber auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig e. V. und dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst ist viel Unterstützung gekommen. Schließlich haben viele hilfreiche Geister - namentlich Nadja Braun, Sabine Borchert, MA, Anja Münchberger, Klaudia Naumann, Ulrich Rottleb, Bettina Schleusing, MA, Andrea Schüler und Konstanze Spanier - hinter den Kulissen der Tagung und bei der Drucklegung der Akten mitgewirkt. Herr Privatdozent Dr. Bernd Schütte, Oberassistent am Leipziger Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, und Frau Andrea Schüler haben die Manuskripte für den Druck miteingerichtet und dabei nötig gewordene Revisionen umsichtig durchgeführt. Ihnen allen, aber auch den Referenten und den Sektionsleitern - Ortrun Riha, Ursula Schaefer, Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut, Bernd Röcke und Thomas Vogtherr - sei herzlich Dank gesagt!
Leipzig, den 28. Januar 2001
Franz-Reiner Erkens
Eröffnungsvortrag
Rudolf Schieffer
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
Wer sich über die Wirkungen Gedanken machen möchte, die von der historischen Gestalt Karls des Großen ausgegangen sind, hat Stoff für mehr als ein Symposium. Ganz gleich ob man bloß die tiefgreifenden Wandlungen des Frankenreiches in den 46 Jahren von Karls Herrschaft betrachtet, ob man das Augenmerk auf die karolingischen Nachfahren richtet, die alle in seinem Schatten standen, ob man den Blick in die folgenden Jahrhunderte des Mittelalters ausweitet, die sich oft und vielfältig seiner erinnerten, oder ob man gar einen Horizont wählt, der die Gegenwart und ihre spärlichen Restbestände an allgemeiner Kenntnis von weit zurückliegenden Zeiten einschließt, stets bietet sich Karl als eine Ausnahmeerscheinung der Geschichte dar. Er galt und gilt als ein Mann von außerordentlicher Tatkraft, dem es gelang, die seit dem Ende der Antike betretenen Sonderwege der verschiedenen germanisch-romanischen Völker wieder zusammenzufuhren und, soweit das einem einzelnen überhaupt möglich war, die Grundlagen der spezifisch mittelalterlichen Ordnung Europas mit Konsequenzen bis tief in die Neuzeit hinein zu schaffen 1 . Ihren sichtbaren Ausdruck fand seine alle einzelnen Völker überragende Sonderstellung in dem 800 erneuerten Kaisertum des Westens, das sich durch siegreichen Heidenkampf ebenso wie die päpstliche Verleihung in Rom legitimierte und mit dem Anspruch auf gleichen Rang der Traditionsmacht des oströmisch-byzantinischen Imperiums gegenübertrat"*. Stand für die Zeitgenossen noch die Empfindung des rasch und kühn vollbrachten Wandels im Vordergrund, so wuchs mit dem zeitlichen Abstand zusehends das Bewußtsein der Dauerhaftigkeit und Grundsätz* Eröffnungsvortrag des Symposiums am 15. März 1999. Die Redeform ist beibehalten. 1 Vgl. als Gesamtbilder aus letzter Zeit R. COLLINS, Charlemagne, 1998; Μ. BECHER, Karl der Große, 1999; J. FAVIER, Charlemagne, 1999; D. HÄGERMANN, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, 2 0 0 0 ; daneben vor allem K. F. WERNER, Karl der Große oder Charlemagne? Von der Aktualität einer überholten Fragestellung (= Sb. Akad. München 1995 Nr. 4), 1995. 2 Vgl. P. CLASSEN, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Hg. v. H. Fuhrmann u. C. Märtl, 1985; D. A. BULLOUGH, Die Kaiseridee zwischen Antike und Mittelalter, in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Hg. v. Ch. Stiegemann u. M. Wemhoff, 1999, 36-46.
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Rudolf Schieffer
lichkeit vieler von Karls Erfolgen; er rückte zur Gründergestalt schlechthin auf, der nicht nur das Kaisertum und das Dasein zahlreicher Bistümer, Kirchen und Städte, mächtige Bauwerke, wertvolle Privilegien und weise Gesetze zuzuschreiben waren, sondern mit der Zeit auch tatsächlich weit jüngere Errungenschaften wie das Kurfürstenkolleg oder das Rittertum, die deutschen Rechtsbücher oder die Pariser Universität angedichtet wurden. Die bleibende Erinnerung, ja Bewunderung steigerte sich zur kultischen Verehrung als Heiliger und beflügelte immer aufs neue die künstlerische und literarische Phantasie, die bevorzugt die Idealbilder des unerschrockenen Kämpfers und des ebenso frommen wie gerechten Herrschers ausgemalt hat3. Selbstverständlich kann keine Rede davon sein (und ist auch nie ernstlich behauptet worden), daß der Mann, der am 28. Januar 814 unter Gicht- und Fieberanfällen armselig das Zeitliche segnete, all das, was ihm später nachgerühmt worden ist, selber vorausgesehen oder gar bedachtsam herbeigeführt hat. Das Problem der Diskrepanz zwischen dem eigenen Wollen und den tatsächlichen Wirkungen, die zu unterscheiden eine Grundbedingung angemessenen historischen Verstehens ist, stellt sich bei Karl nicht minder als bei anderen "Großen" der Geschichte, deren Bedeutung zunächst einmal aus der Tragweite der Folgen ihres Tuns resultiert und insoweit durchweg klar zutage tritt. Erst eine tiefer eindringende, epochenspezifisch von der Quellenlage abhängige Betrachtungsweise kann hoffen, hinter dem faktisch Eingetretenen auch Absicht und Voraussicht der Handelnden zu ergründen und aus dem Wechselverhältnis beider Ebenen Maßstäbe für Erfolg und Scheitern, für zurechenbare Leistung und unabwendbares Verhängnis abzuleiten. Daß uns das um so schwerer fallen müsse, je größer der zeitliche Abstand ist, dürfte nur bedingt richtig, weil allein von der Erreichbarkeit der Quellen und den hermeneutischen Schwierigkeiten ihrer Deutung her geurteilt sein; der Eindruck wandelt sich bis ins Gegenteil, wenn man für die Zeugnisse aus dem näheren Vorfeld der eigenen Gegenwart gebührend die von vornherein gegebenen Blickverengungen und Prädispositionen beim Umgang damit ins Kalkül zieht. Letztlich geht es für den Historiker immer wieder an Beispielen von besonderer Sichtbarkeit und Reichweite um die zeitlose, jedem Menschen geläufige und damit im Grunde triviale Erfahrung, daß wir höchstens zum Teil erreichen, was wir beabsichtigen, und allzu oft bewirken, was wir gar nicht bezweckt haben, für das eine wie das andere aber verantwortlich gemacht werden. Aus solchem Blickwinkel die historische Rolle Karls des Großen ins Visier zu nehmen, empfiehlt sich nicht allein mit Hinblick auf das im Vordergrund dieses Symposiums stehende Thema seiner Wirkungsgeschichte, gewissermaßen um von vornherein die Proportionen im Lot zu halten, sondern vermag auch zwei methodische Probleme der mediävistischen Geschichtswissenschaft zu veranschaulichen, die zunächst als solche zur Sprache kommen sollen. Da ist erstens die Frage nach der Erkennbarkeit der Intentionen von historischen Akteuren, die bei aller Willensstärke und Durchsetzungskraft, die wir ihnen zubilligen mögen, doch in keiner Quelle unmittelbar zu uns sprechen. Bei Karl dem Großen war es weniger der formale Bildungsgrad, also seine Lateinkenntnis und Lesefähigkeit, die ja 3 Vgl. R. FOLZ, Le Souvenir et la Legende de Charlemagne dans l'Empire germanique medieval, 1950; Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Hg. v. L.E. Saurma-Jeltsch, 1994.
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
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in der Forschung durchaus unterschiedlich beurteilt werden 4 , als der politisch-soziale Rang, der ihm sozusagen verbot, selbst als Produzent schriftlicher Äußerungen tätig zu werden. Das unterscheidet ihn merklich von manchen Kirchenmännern auch des früheren Mittelalters wie Bonifatius, Hinkmar von Reims oder Rather von Verona, die uns durch persönlich geprägte Schriftzeugnisse aus eigener Feder in ihren Absichten. Hoffnungen und Befürchtungen doch erstaunlich lebendig vor Augen stehen. Immerhin gibt es aber Briefe, Urkunden und Kapitularien in großer Zahl, die in Karls Namen von Geistlichen seiner Umgebung und seines Vertrauens formuliert worden sind. Sie spiegeln anschaulich Vorstellungen wider, die nicht bloß ihm nahegebracht wurden, sondern die er akzeptiert und zur Erklärung und Begründung seines Handelns zu verbreiten gewünscht hat. Nichts spricht dafür, daß sich seine "Ghostwriter" dauerhaft und grundsätzlich von den Bahnen seines Denkens hätten entfernen können oder daß einer der Berater ihn seinem exklusiven Einfluß zu unterwerfen vermocht hätte. Umgekehrt läßt sich mancher Wandel in der Tonlage der Verlautbarungen unschwer in Einklang bringen mit dem im übrigen bekannten Gang der Ereignisse, insbesondere mit Karls persönlicher Lebensbahn von der Jugend bis zum Alter. Man wird diesen Äußerungen daher allerhand Authentizität als Auskunft über seine Ziele zubilligen dürfen und muß sie jedenfalls unter dem Aspekt unseres Themas streng scheiden von den Vorstellungen und Wünschen, die dem großen Herrscher bereits von Zeitgenossen in den Widmungen ihrer Werke, in Dichtungen und im historiographischen Echo seiner Taten zugeschrieben werden, um ganz zu schweigen von der zunehmend legendenhaften Ausgestaltung des Karlsbildes späterer Zeiten 5 . Zweitens berührt der Versuch einer Abwägung von Intentionen und Wirkungen bei Karls geschichtlichem Handeln die neuerdings sehr grundsätzlich aufgeworfene Frage nach der Konzeptualisierung von Politik im früheren Mittelalter. Hier geht es darum, statt der mitunter arg kurzschlüssigen Rückrechnung von Fakten auf zugrundeliegende Absichten zunächst einmal zu prüfen, inwieweit das Zeitalter überhaupt zu konkreten, über längere Zeit planmäßig durchgesetzten Politikentwürfen imstande war. Unter Anachronismusverdacht gerät die Leitvorstellung von einem (eher für die Moderne kennzeichnenden) Regierungsstil, der die laufend zu treffenden Entscheidungen am Maßstab langfristig ins Auge gefaßter Ziele von hinreichend bestimmter Art ausrichtet 6 . 4 Vgl. M. RICHTER, Die Sprachenpolitik Karls des Großen, in: Sprachwissenschaft 7, 1982, 412437; J. FRIED. Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, in: Karl der Große und sein Nachwirken, Bd. 1. Hg. v. P. Butzer, M. Kerner u. W. Oberschelp, 1997, 25^13. 5 Vgl. die unterschiedlichen individualisierenden Zugriffe von P. E. SCHRAMM, Karl der Große. Denkart und Grundauffassungen, in: Historische Zeitschrift 198, 1964, 306-345; H. MORDEK, Karl der Große - barbarischer Eroberer oder Baumeister Europas?, in: Deutschland in Europa. Hg. v. B. Martin, 1992, 23-45; J. JARNUT, Karl der Große: Mensch, Herrscher, Mythos, 1999; F.-R. ERKENS, Karolus Magnus - Pater Europae, in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, Bd. 1. Hg. v. Ch. Stiegemann u. M. Wemhoff, 1999, 2-9. 6 Vgl. G. ALTHOFF, Von Fakten zu Motiven. Johannes Frieds Beschreibung der Ursprünge Deutschlands, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, 107-117; DERS., Otto III., 1996; F.-R. ERKENS, Mirabilia mundi. Ein kritischer Versuch über ein methodisches Problem und eine neue Deutung der Herrschaft Ottos III., in: Archiv für Kulturgeschichte 79, 1997, 485-498; M. BORGOLTE, Biographie ohne Subjekt, oder wie man durch quellenfixierte Arbeit Opfer des Zeitgeistes werden kann, in:
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Rudolf Schieffer
Ob das die angemessene Beschreibung neuzeitlicher und gegenwärtiger Politik ist, möge jeder selbst beurteilen; gewiß ist, daß vor tausend und mehr Jahren für die Festlegung solcher auf weitere Sicht gedachten Konzepte in Gestalt von internen Denkschriften, Regierungserklärungen oder Parteiprogrammen so gut wie alle Voraussetzungen fehlten und schon die logistisch-technischen Lebensbedingungen den Regierenden ein gesteigertes Maß an Spontaneität und Improvisationsgeschick abverlangten. Ein näherer Blick auf Karl den Großen mag zeigen, ob und wo dennoch Raum war für Zielprojektionen, die über längere Zeit bewußt durchgehalten wurden und die mehr waren als das elementare Bestreben, die ererbte Macht für sich und seine Familie zu behaupten, tunlichst zu mehren, ein gottgefälliges Leben nach den Begriffen der Zeit zu fuhren oder Recht und Frieden unter den Menschen, so gut es ging, aufrechtzuerhalten. Mustern wir unter solchen Prämissen die verschiedenen Bereiche, in denen Karl jahrzehntelang seinen Tatendrang zur Geltung brachte, so stellt sich der vielleicht überraschende Eindruck ein, daß Vorausschau und Planung gerade dort am wenigsten zu erkennen sind, wo der König nach dem einhelligen Urteil von Mit- und Nachwelt seine offenkundigsten Erfolge errungen hat: in der äußeren Expansion des Frankenreiches. Nicht als ob er all diese Siege ungewollt bloß über sich hätte ergehen lassen; an seinem robusten Machtwillen ist gewiß nicht zu zweifeln. Nachdem er schon seit seinem 14. Lebensjahr vom Vater Pippin aktiv an der militärischen Niederringung Aquitaniens beteiligt worden war7, dürfen wir getrost unterstellen, daß er sich Ende 771, als er nach dem jähen Tode des Bruders Karlmann zu voller Handlungsfreiheit kam, generell vornahm, den ruhmreichen Vorfahren nachzueifern und sie womöglich an Schlagkraft noch zu übertreffen, wobei ihm die Abrechnung mit den Langobarden in Italien nach den jüngsten Verwicklungen vordringlich erschienen sein mag. Aber nichts berechtigt doch zu der Annahme, er hätte ein durchdachtes Programm zur politischen Einigung des Okzidents, gar mit der Konsequenz einer Erneuerung des römischen Kaisertums, vor Augen gehabt. Vielmehr lehrt der Verlauf der folgenden 25 Jahre, daß Karl sich zwar früh entschlossen hat, auch über die merowingischen Reichsgrenzen auszugreifen, dabei im einzelnen aber ganz unterschiedliche und kaum voraussehbare Chancen nutzte. Daß und wie sich seine Ziele erst im Zuge der militärischen Aktion präzisierten, hat gerade die Forschung der letzten Zeit immer deutlicher werden lassen. So dürfte der Langobardenfeldzug von 773/74 gar nicht in der festen Absicht begonnen worden sein, die autonome Existenz des Nachbarreiches zu beenden, denn noch während der langwierigen Belagerung von Pavia traf Karl im April 774 in Rom Vereinbarungen mit dem Papst, die den Fortbestand des langobardischen Königtums voraussetzten und insofern bereits zwei Monate später überholt waren, als Karl sich nach dem Fall von Pavia entschloß, selber nach dieser Krone zu greifen8. Auch der sommerliche Vorstoß Göttingische Gelehrte Anzeigen 249, 1997, 128-141; E. HLAWITSCHKA, Kaiser Otto III., "der Jüngling, der Großes, ja sogar Unmögliches ersann", in: Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 20,1999, 29-74, bes. 67 ff. 7 Vgl. B. KASTEN, Königssöhne und Königsherrschafl, 1997,128 f. 8 Vgl. J. JARNUT, Quierzy und Rom, in: Historische Zeitschrift 220, 1975, 265-297.
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
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gegen die Sachsen im ersten alleinigen Herrscherjahr 772 scheint weniger programmatisch gewesen zu sein, als er bereits Einhard im Rückblick erschienen ist. Er hielt sich nämlich trotz der demonstrativen Zerstörung der Irminsul durchaus noch im Rahmen der seit Jahrzehnten üblichen Straf- und Abschreckungsexpeditionen, mit denen schon Karls Vater und Großvater die Sachsen einzuschüchtern gesucht hatten, ohne damit das Ziel einer umfassenden Unterwerfung zu verknüpfen. Erst der heftige Gegenschlag sächsischer Gruppen während Karls Abwesenheit in Italien führte dann dazu, daß die Auseinandersetzung seit 775 grundsätzlicher verstanden und nun auch um die Christianisierung geführt wurde, wobei die Franken viele Jahre und schlimme Rückschläge benötigten, um die Größenordnung dessen zu begreifen, worauf sie sich eingelassen hatten, nämlich die Eroberung eines weiten, dezentral verfaßten Landes, das sich als Einheit erst durch eben diesen Vorgang konstituierte und daher nicht durch eine einzelne Entscheidungsschlacht oder den Friedensschluß mit bestimmten Repräsentanten zu bezwingen war 9 . Daß der mitten in Sachsen getroffene Entschluß zum Eingreifen in Spanien 778 konzeptlos und ohne Kenntnis der Gegebenheiten zustande kam, liegt auf der Hand; erst nach dem bekannten Debakel vor Zaragoza und in den Pyrenäen sowie weiteren Zwischenfällen fanden Karl und seine Umgebung in den 790er Jahren zu dem realistischeren Ziel eines begrenzten fränkischen Vorfelds bis etwa zum Ebro, das der Sohn Ludwig dann zu erkämpfen hatte 10 . Auch im Verhältnis zum agilolfingischen Bayern kann man heute weniger denn je sagen, daß Karl von langer Hand die politische Ausschaltung seines Vetters Tassilo betrieben habe; die endgültige Zuspitzung ergab sich vielmehr relativ kurzfristig erst 787 und steht anscheinend im Zusammenhang mit dem gleichzeitigen offensiven Vorgehen auch gegen das langobardische Herzogtum Benevent 11 . Der bemerkenswerten Fähigkeit, überall dort ziemlich rasch zuzugreifen, wo die Aussicht auf Machterweiterung winkte, entsprach indes auch das - vielleicht erst mit der Zeit gewonnene - Unterscheidungsvermögen, welche Gelegenheiten wirklich lohnten und welche nicht. Schon der aufwendig vorbereitete Krieg gegen die Awaren in Pannonien war zum guten Teil ein Beutezug mit eher halbherziger Eroberungsabsicht 1 ", und gegenüber den Elbslawen, den Böhmen und den Dänen, bei denen es entschieden weniger zu holen gab, begnügte man sich wie einst gegenüber den Sachsen mit
9 Vgl. H.-D. KAHL, Karl der Große und die Sachsen. Stufen und Motive einer historischen "Eskalation", in: Politik. Gesellschaft. Geschichtsschreibung. Gießener Festgabe für F. Graus. Hg. v. H. Ludat u. R. Ch. Schwinges, 1 9 8 2 , 4 9 - 1 3 0 ; J. EHLERS, Das früh- und hochmittelalterliche Sachsen als historische Landschaft, in: Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für H. Jakobs. Hg. v. J. Dahlhaus u. A. Kohnle, 1 9 9 5 , 1 7 - 3 6 . 10 Vgl. R. H. BAUTIER, La Campagne de Charlemagne en Espagne (778), in: La bataille de Roncevaux dans l'histoire, la legende et lTiistoriographie, 1979, 1-51; E. BOSHOF, Ludwig der Fromme, 1996, 19 ff., 71 ff. 11 Vgl. M. BECHER, Eid und Herrschaft, 1993, 58 ff.; R. SCHIEFFER, Ein politischer Prozeß des 8. Jahrhunderts im Vexierspiegel der Quellen, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Hg. v. R. Bemdt, Bd. I, 1997, 167-182. 12 Vgl. T. REUTER, Plunder and Tribute in the Carolingian Empire, in: Transactions of the Royal Historical Society, Fifth Series 35, 1985, 75-94.
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Rudolf Schiefler
sporadischen Machtdemonstrationen, um sie in Schach zu halten, verzichtete aber auf Mission und Unterwerfung13. Daher verdient auf der Suche nach außenpolitischen Konzeptionen Karls auch negativ festgehalten zu werden, daß er sich niemals von der bloßen Existenz von Heiden in seiner Reichweite zu politisch-militärischen Abenteuern verleiten ließ, die seine Kräfte überforderten, sondern sein Potential nüchtern einzuschätzen wußte und sich von weiterer Expansion abwandte, als gegen Ende der 790er Jahre kein Ziel mehr in Sicht war, das die fränkischen Großen hätte locken können14. Ob und seit wann Karl darauf aus war, die bis dahin errungene Herrschaft über so viele Länder und Völker mit dem Kaisertitel zu krönen, ist ein berühmtes, traditionsreiches Forschungsproblem, das vor allem auf seinem von Einhard überlieferten, auf die römische Zeremonie an Weihnachten 800 gemünzten Dictum beruht, "er würde an diesem Tage, obwohl es ein bedeutendes Fest war, die Kirche nicht betreten haben, wenn er des Papstes Plan hätte vorauswissen können"15. Aus der langen Diskussion um diese Stelle, die immerhin aus prominenter Feder sogar die wissenschaftliche These vom "Kaiser wider Willen" hervorgebracht hat16, sei hier bloß festgehalten, daß unseren Quellen zufolge die Idee des imperium und des imperator ziemlich unvermittelt und eher unscharf in den späten 790er Jahren aufgetaucht ist und dann im Zeichen des kirchenpolitischen Gegensatzes zu den Byzantinern seit der Synode von Frankfurt 794 durch jähe Ereignisse wie den Umsturz am Bosporus 797 und das römische Attentat auf Papst Leo im Frühjahr 799 zügig an Aktualität gewann. Es spricht daher manches dafür, daß die Aussicht auf eine kaiserliche Rangerhöhung bereits beim Entschluß zu Karls vierter Romreise mitspielte17, doch war augenscheinlich die Überwindimg der Legitimitätskrise Leos III. in der Stadt durch ein sichtbares Auftreten des fränkischen Schutzherrn das primäre Motiv, und Einhard ist zumindest in dem Sinne zu verstehen, daß Karl sich nicht als Herr der Situation empfunden hat, als der Papst dann in feierlichem Rahmen die Krönung nach seinen Vorstellungen vollzog. Auf einem anderen Blatt steht, wie rasch der Kaiser dazu überging, die neu gewonnene Würde im Verhältnis zu den Untertanen auszumünzen. Überhaupt tritt ein höheres Maß an Vorbedachtheit, Planmäßigkeit, ja Zähigkeit zutage, wenn man sich Karls innerem Regiment zuwendet, und das nicht so sehr deshalb, weil uns in diesem Bereich explizite Zeugnisse über seine Intentionen in reichem Maße vorliegen, sondern es dürfte eher umgekehrt gelten, daß sein ausgeprägtes Bedürfnis nach bewußter langfristiger Steuerung der inneren Entwicklung eben erst solche programmatischen Äußerungen in zuvor ungekannter Weise hat entstehen lassen. Ein eindrückliches, in der Forschung nie bezweifeltes Beispiel für nachhaltiges und zielbewußtes Agieren ist Karls Bemühen um die Regelung seiner Nachfolge, in einer dyna13 Vgl. R. ERNST, Die Nordwestslaven und das fränkische Reich, 1976, 110 ff. 14 Vgl. T. REUTER, The End of Carolingian Military Expansion, in: Charlemagne's Heir. Hg. v. P. Godman u. R. Collins, 1990, 391-405. 15 Einhard, Vita Karoli c. 28. Hg. v. O. HOLDER-EGGER, MGH SS rer. Germ., 1911, 32. 16 Vgl. P.E. SCHRAMM, Die Anerkennung Karls des Großen als Kaiser, in: Historische Zeitschrift 172, 1951,449-515, Zitat: 492. 17 Vgl. Am Vorabend der Kaiserkrönung. Hg. v. P. Godman, J. Jarnut, P. Johanek, 2000, mit mehreren Beiträgen.
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stisch geprägten Ordnung bekanntlich ein Problem von kardinaler Zukunftsbedeutung. Wenn im Gesamtverlauf der karolingischen Familiengeschichte zu beobachten ist, daß die Klärung dieser Frage immer zeitiger im Leben einer Generation erfolgte, so hat Karl an dieser Beschleunigung wesentlichen Anteil, hat er doch bereits 33jährig 781 in Rom deutlich werden lassen, daß sein Erstgeborener, Pippin der Bucklige, von der Aussicht auf Herrschaft ausgeschlossen sein, unter den drei Söhnen der Hildegard aber auch der zweite und der dritte ihren Anteil haben sollten. Er hat diesen Kurs sodann gegen Widerstände, die im Aufstand Pippins 792 sichtbar werden, durchgehalten, 800 den ältesten Sohn der Hildegard zum Königtum aufsteigen lassen, keine Ansprüche von dessen nachgeborenen Halbbrüdern in Betracht gezogen und in der Divisio regnorum von 806 die künftige Stellung der drei seit 781 bevorrechtigten Nachkommen in subtiler Weise und mit Eventualregelungen für Todesfälle gegeneinander abgegrenzt18. Auch wenn dies alles durch das vorzeitige Hinscheiden von zweien der Söhne hinfällig wurde und schließlich Ludwig als alleiniger Erbe übrig blieb, spricht es doch unmißverständlich für Karls Fähigkeit und Bereitschaft zu konzeptionellem Handeln. Dagegen ist nicht so sicher, ob sich ihm die Grundlinie seiner inneren Politik, die von rückblickenden Historikern als Streben nach Integration der heterogenen Reichsteile beschrieben wird, in ihrem umfassenden Zusammenhang gedanklich voll erschlossen hat. Besser bezeugt sind ihre einzelnen Komponenten, der Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Mißstände, die mit vereinheitlichenden, zentralistisch gedachten Reformen überwunden werden sollten. Dazu gehören folgenreiche, Karls historische Wirkung nicht unwesentlich prägende Maßnahmen wie die Geldreform, die zu einer gemeinsamen Silberwährung im ganzen Reich verhalf und einen Münzfuß durchsetzte1 , von dem sich die Engländer bekanntlich erst in unserem Jahrhundert getrennt haben. Politisch noch bedeutsamer war die Umgestaltung des fränkischen Heerwesens, die das Gewicht des traditionellen Volksaufgebots entscheidend reduzierte zugunsten der Vasallenverbände der großen Lehnsträger, die dadurch weiter an Gewicht gewannen 20 . Auch im Gerichtswesen sind archaische Gepflogenheiten überwunden worden, indem man zu ständigen Schöffen überging und die sogenannten Rügezeugen einführte, die eidlich verpflichtet waren, Missetaten auch dann vor den Richter zu bringen, wenn die Geschädigten dies nicht tun konnten oder wollten21. Zu erinnern ist an Ausbau und Straffung der ReichsVerwaltung
18 Vgl. P. CLASSEN, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift H. Heimpel, Bd. 3, 1972, 109-134; R. SCHIEFFER, Väter und Söhne im Karolingerhause, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Hg. v. R. Schieffer, 1990, 149-164; KASTEN, Königssöhne (wie Anm. 7), 138 ff. 19 Vgl. H. WITTHÖFT, "Denarius novus", "modius publicus" und "libra panis" im Frankfurter Kapitulare, in: Das Frankfurter Konzil (wie Anm. 11), 219-252. 20 Vgl. J. FLECKENSTEIN, Adel und Kriegertum und ihre Wandlung im Karolingerreich, in: Nascita dell'Europa ed Europa carolingia: un'equazione da verificare (= Settimane di Spoleto 27), 1981, 67-94. 21 Vgl. R. LE JAN, Justice royale et pratiques sociales dans le royaume franc au EXe siede, in: La giustizia nell'alto medioevo (secoli IX-XI) (= Settimane di Spoleto 44), 1997, 47-85.
Rudolf Schießer
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durch die Forcierung der Grafschaftsverfassimg und den Einsatz der Königsboten22. Zweimal, nämlich 789 und 802, hat sich Karl gar dazu aufgerafft, sämtlichen Freien seines Reiches einen Treueid abzuverlangen23. Natürlich braucht er sich nicht alle diese Maßnahmen selbst ausgedacht zu haben, aber er hat sie sich zu eigen gemacht, d. h. seine Autorität bewußt fur eine Neugestaltung verschiedener Lebensbereiche eingesetzt und darin auch eine erkennbare Beharrlichkeit an den Tag gelegt, die nicht ohne Eindruck blieb. Für den Konnex von Wollen und Wirken besonders erhellend ist ein Blick auf Karls gesetzgeberische Tätigkeit. Daß in der Vorrede seines frühesten Kapitulars, 779 in Herstal erlassen, erstmals der Begriff capüulare in prägnanter Bedeutung auftaucht, hat man wohl mit Recht als Ausdruck der Absicht gedeutet, solche Verordnungen fortan mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu erlassen24. Lange bevor er sich daran machte, die überkommenen Rechte der einzelnen Völker zu sammeln und zu fixieren, hat sich der König in diesen Kapitularien ein Herrschaftsinstrument für das Gesamtreich geschaffen, das für ein breites Spektrum von Regelungen verwendbar war, darunter vielen, die tief in das Leben der Kirche einzugreifen beanspruchten. Welche Intention ihn dabei bewegte, läßt sich gut an dem nächsten großen Kapitular, der Admonitio generalis von 789, studieren. Deren Vorrede beruft sich auf den alttestamentlichen König Josias, der sein Reich persönlich bereist habe, um es durch Zurechtweisung und Ermahnung zur Verehrung des wahren Gottes zurückzufuhren, und es folgen dann in 59 Kapiteln Auszüge aus Konzilsbeschlüssen und Papstdekretalen, die zum größten Teil der Collectio DionysioHadriana entnommen sind, also jener kirchlichen Rechtssammlung, die Papst Hadrian I. fünfzehn Jahre zuvor Karl bei seinem ersten Rombesuch überreicht hatte. Noch bemerkenswerter ist, daß sich zwanzig weitere Kapitel anschließen, die sogar unmittelbar auf die Bibel zurückgreifen und Sätze des Alten wie des Neuen Testaments wörtlich als Rechtsnormen wiedergeben25. Dieser, übrigens der handschriftlichen Überlieferung zufolge mit allem Nachdruck und breitester Resonanz unternommene Versuch, die Gesetzgebung vollständig auf Kirchenrecht und Heilige Schrift zu gründen, war im Frühmittelalter ohne Vorbild und geht ziemlich sicher auf Alkuin als hauptsächlichen Autor oder besser gesagt: Redaktor der Admonitio generalis zurück, blieb aber beileibe nicht auf diesen prominenten Einzelfall beschränkt, sondern leitete eine Entwicklung ein, in deren Verlauf Karls Verlautbarungen zunehmend einen predigthaft-belehrenden Grundtenor annahmen. Zu seinen am deutlichsten faßbaren Bestrebungen gehört, wie formuliert worden ist, "die göttlichen Gebote unmittelbar zu gültigem Recht in seinem Reich zu machen. Das sittliche
22 Vgl. K. F. WERNER, Missus - Marchio - Comes. Entre l'administration centrale et l'administration locale de l'Empire carolingien, in: Histoire comparee de l'Administration (IVe-XVIIIe siecle). Hg. v. W. Paravicini u. K. F. Werner, 1980, 191-239. 23
V g l . BECHER, E i d ( w i e ANM. 11).
24
Vgl. W. HARTMANN, Karl der Große und das Recht, in: Karl der Große und sein Nachwirken (wie
A n m . 4 ) , 1 7 3 - 1 9 2 , b e s . 179 f.
25 Vgl. R. MCKITTERICK, The Frankish Church and the Carolingian Reforms, 789-895, 1977, 1 ff.; W. HARTMANN, Die karolingische Reform und die Bibel, in: Annuarium Historiae Conciliorum 18, 1 9 8 6 , 5 8 - 7 4 , bes. 6 1 .
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
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Verhalten eines jeden Bewohners des Frankenreichs sollte an der Richtschnur der Bibel ausgerichtet werden" 26 . Selbstverständlich hat Karl dies nicht zu erreichen vermocht, und es ist ihm auch bewußt geworden, daß sein unermüdliches Drängen auf innere Erneuerung des Riesenreiches auf allzu viele taube Ohren stieß. So kam es, daß aus seinen letzten Lebensjahren geradezu anrührende Äußerungen der Enttäuschung und der Ungeduld über die Vergeblichkeit seines erzieherischen Bemühens zu vernehmen sind wie diese: "Von diesen Kapitularien aber und von all den anderen, die wir seit vielen Jahren durch unser Reich gesandt haben, wollen wir jetzt endlich durch unsere missi genau wissen, was aus all dem geworden ist, und wer das, was dort geboten ist, hält und wer es verachtet und vernachlässigt, damit wir wissen, was mit jenen geschehen soll, die so viele Jahre Gottes Gebote und unser Gesetz (dei praecepta et decretum nostrum) mißachtet haben""7. Der hier spricht, empfindet sich nicht bloß als berufener Vermittler von Gottes Willen an die übrigen Menschen, sondern beharrt auch auf dem Anspruch, durch die Verbreitimg schriftlicher Verordnungen in einer weithin illiteraten Gesellschaft bedeutende Wandlungen des Verhaltens herbeifuhren zu können, ja zu müssen. Dieses Zutrauen Karls in die Macht des geschriebenen Wortes, in seine Verbindlichkeit und Wirksamkeit, findet sich erst recht wieder in den Bemühungen um die Bildungserneuerung^ 8 , denen ich mich unter gleichbleibender Fragestellung im letzten Teil meines Vortrage zuwenden will. Sie waren gedanklich eindeutig in das allgemeine Reformstreben eingebettet, wie sich schon aus dem Aufbau der programmatischen Admonitio generalis ergibt, in deren 72. Kapitel die Einrichtung von Leseschulen für Knaben (scolae legentium puerorum) gefordert wird, in deren 80. Kapitel die Erlernung des richtigen Kirchengesangs zur Sprache kommt und an deren Ende die scientia veritatis als allseitiges Mittel empfohlen wird, um am Ende vor Gott bestehen zu können 29 . Die herrscherliche Intention, die sich hier ausspricht, ist frei von allen humanistischen Idealen und allein auf die Besserung der kirchlichen Zustände, zumal den einwandfreien Vollzug des cultus divinus als Bedingimg des göttlichen Wohlwollens gerichtet 30 . Daher wird die konkrete Bewältigung der umfangreichen Aufgabe auch dezidiert den geistlichen Institutionen zugewiesen. Die berühmte Epistola de litteris colendis, überliefert in dem an den Abt von Fulda gerichteten Exemplar, zeigt
26 HARTMANN, Karl der Große (wie Anm. 24), 183; vgl. auch ΤΗ. M. BUCK, Admonitio und Praedicatio. Zur religiös-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten (5078 1 4 ) , 1 9 9 7 , 67 ff. 27 H. MORDEK U. G. SCHMITZ, Neue Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: Deutsches Archiv 43, 1987, 3 6 M 3 9 , Zitat: 423; vgl. H. MORDEK, Karolingische Kapitularien, in: H. Mordek (Hg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, 1986, 25-50, bes. 49; HARTMANN, Karl der Große (wie Anm. 24), 186. 28 Vgl. R. MCKITTERICK, The Carolingians and the written word, 1989; Carolingian Culture: emulation and innovation. Hg. v. R. McKitterick, 1994; J. FLECKENSTEIN, Karl der Große, seine Hofgelehrten und das Frankfurter Konzil von 794, in: Das Frankfurter Konzil (wie Anm. 11), 27-46. 29 MGHCapit. I, 1883, 60 ff. 30 Vgl. N. STAUBACH, "Cultus divinus" und karolingische Reform, in: Frühmittelalterliche Studien 18, 1984,546-581.
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Rudolf Schiefler
näher, daß Zuschriften aus verschiedenen Klöstern, die richtigen Sinn und schlechte Rede (sensus rectos et sermones incultos) aufwiesen, bei Karl die Befürchtung von irrigem Verständnis der heiligen Schriften hervorgerufen hätten, weshalb er allen Klöstern und Stiftskirchen zur Pflicht mache, für angemessenen Unterricht (Studium discendi) Sorge zu tragen31, und in einem anderen Erlaß, der sogenannten Epistola generalis, liest man die Klage, durch die Gleichgültigkeit der Vorfahren sei die Werkstatt der Wissenschaft (officina litterarum) nahezu ausgelöscht, weshalb er, Karl, alle einlade, nach seinem Beispiel sich das Bemühen um die artes liberales zu eigen zu machen32. Auch wenn sich der Frankenkönig in solchen mahnenden Sätzen gern selbst miteinbezieht, ist doch gerade an seinen "Bildungserlassen" längst der wiederholte Verweis auf consiliarii und fideles aufgefallen, deren Fachkunde in der Tat gerade auf diesem anspruchsvollen Gebiet den Ausschlag für die Formulierung der Ziele und die Art ihrer Bewältigung gegeben haben wird33. Karls ganz persönlicher, unentbehrlicher Beitrag m. E. seine vielleicht größte historische Leistung - bestand dabei in der offenbar früh gewonnenen und konsequent beibehaltenen Überzeugung, daß seine Franken einschließlich ihm selbst, trotz aller äußeren Machtentfaltung, den zur Ehre Gottes und zum Wohle des Großreiches erforderlichen qualifizierten Umgang mit Geschriebenem nicht von sich aus, sondern nur von gebildeteren Fremden erlernen könnten34. Daher war er schon seit der Mitte der 770er Jahre, wohl seit seinen ersten Erfahrungen in Italien, darauf aus, namhafte Gelehrte nichtfränkischer Herkunft, denen er begegnete, in seine Nähe zu holen und für das Ziel der allgemeinen renovatio oder correctio in seinem wachsenden Reich zu gewinnen. Dies war im Grunde alles andere als selbstverständlich, wenn man sich nur der Aversionen erinnert, die in früheren Generationen irische wie angelsächsische Kirchenmänner bei der geistlichen und weltlichen Führungsschicht der Franken geweckt hatten35. Erst durch Karls persönliche Initiative und gewiß auch die Faszination der Macht, die von ihm ausging, kam es dazu, daß sich ihm gelehrte Langobarden wie Petrus von Pisa, Paulinus von Aquileja und Paulus Diaconus aus Montecassino, Angelsachsen wie Beornrad von Sens und vor allem Alkuin aus York, Iren wie Dungal und Cadac-Andreas oder der Westgote Theodulf anschlossen und auf diesem Wege auch untereinander begegneten. Sie alle verdrängten nicht etwa fränkische Amtsträger am Hof, sondern übernahmen nach dem Willen des Königs Aufgaben, die dort bis dahin brach gelegen hatten, indem sie theologische, liturgische und grammatische Mustertexte, Lehrbücher und Gutachten fertigten, ihre Kenntnisse in der sogenannten Hofschule weitervermittelten und Karl als
31 Urkundenbuch des Klosters Fulda, Bd. 1, bearb. ν. Ε. E. STENGEL, 1958,251 ff. Nr. 166. 32 MGHCapit. I, 1883, 80 f. 33 Vgl. J. FLECKENSTEIN, Bemerkungen zu den Bildungserlassen Karls des Großen und zum Verhältnis von Reform und Renaissance, in: Societä, istituzioni, spiritualita. Studi in onore di C. Violante, Bd. 1, 1994, 345-360. 34 Vgl. R. SCHIEFFER, Vor 1200 Jahren: Karl der Große läßt sich in Aachen nieder, in: Karl der Große und sein Nachwirken (wie Anm. 4), 3-21, bes. 15. 35 Vgl. TH. SCHIEFFER, Angelsachsen und Franken, 1951.
Karl der Große - Intentionen und Wirkungen
Berater für Probleme von Kirche, Kultur und Bildung dienten36. Die relative Freiheit, in der sie, getragen von Karls persönlichem Vertrauen, dies vollbrachten, Schloß auch Konkurrenz um die besten Lösungen nicht aus 37 und war offenbar wesentlich für einen in den Quellen allenthalben zu spürenden Grundton optimistischer Zuversicht, die von der Ausdehnung der fränkischen Reichsgewalt, der Wiederbelebung wissenschaftlichen Strebens und beständiger christlicher Unterweisung eine umfassende Besserung auf allen Lebensgebieten erwartete. Und es ist wohl auch nicht zu gewagt, Karls lenkende Hand dahinter zu sehen, daß im Laufe der 790er Jahre- etwa parallel zur beständigen Niederlassung des Hofes in Aachen - begabte und gelehrige Franken aus dem Schatten ihrer von weither gekommenen Lehrer herauszutreten begannen und selbst die Führung in der geistig-literarischen Entwicklung übernahmen^8. Angilbert ist hier zu nennen, der Abt von Saint-Riquier, als dessen Lehrer ausdrücklich Petrus von Pisa, Paulinus von Aquileja und Alkuin bezeugt sind; er gehörte seit etwa 792 zu Karls engsten Vertrauten, war mehrfach sein Gesandter beim Papst und dabei als lateinischer Dichter hochgeschätzt. Der jüngere Einhard kam nach einer Ausbildung in Fulda um 794 an den Hof, wo er sogleich Alkuins besondere Förderung genoß und gemäß den literarischen Zeugnissen ob vielfältiger Talente von sich reden machte. Als hervorragender Repräsentant des geistigen Lebens in Aachen während der Kaiserjahre nach 800 verdient Modoin Erwähnung, der spätere Bischof von Autun, der mit Theodulf verbunden war und in seinen Dichtungen mehr als andere das Bewußtsein zeigt, eine Renaissance mitzuerleben. Sicher muß man sich auch hier vor einer verklärenden Sicht hüten. Die geistige Blüte der Karlszeit blieb auf eine zahlenmäßig winzige Elite beschränkt, und die so nachdrücklich intendierte Besserung der kirchlichen Zustände verdient im zeitgenössischen Horizont durchaus eine skeptische Einschätzung. Merklicher tritt eine Breitenwirkung der renovatio, die zum Reifen eben Zeit brauchte, erst unter den Nachfolgern im weiteren 9. Jahrhundert, zumal Ludwig dem Frommen, Karl dem Kahlen und, mit Abstrichen, auch Ludwig dem Deutschen, zutage, bevor neue Erschütterungen durch äußere Feinde und inneren Zwist wieder Einbußen mit sich brachten39. Aber entscheidender war doch, daß Karl, in einem überaus fruchtbaren geschichtlichen Augenblick und bei seinen persönlichen Kontakten die historische Tragweite schwerlich ahnend, objektiv den Anstoß gegeben und den Rahmen geschaffen hatte, um die nach den Umbrüchen der Völkerwanderung in der lateinischen Welt verbliebenen Potentiale zu bündeln, die gelehrten Traditionen der einzelnen Länder aus ihrer Isolierung zu lösen, Handschriften von überall her zusammenzutragen, miteinander zu vergleichen und in verbesserter Gestalt zu vervielfältigen, kurz, eine gemeinsame Ausgangsbasis für die geistige Entwicklung der folgenden Jahrhunderte zu schaffen. In seinen langfristigen Wirkungen führte dieser Impuls somit weit über die ausdrücklichen Ziele Karls und seiner Berater hinaus und entfaltete eine Dynamik eigener Art, die in den verschiedenen Renaissancen des Mittel36 Vgl. FLECKENSTEIN, Karl der Große (wie Anm. 28), 33 ff. 37 Ein anschauliches Beispiel: Das Konzil von Aachen 809. Hg. V. H. WILLJUNG, MGH Concilia 2 Suppl. 2, 1998, mit fünf verschiedenen Gutachten zur selben Streitfrage (Filioque). 38
Vgl. SCHIEFFER, V o r 1200 J a h r e n ( w i e A n m . 34), 17 ff.
39
Vgl. R. MCKITTERICK, The legacy of the Carolingians, in: Carolingian Culture (wie Anm. 28),
317-323.
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Rudolf Schieffer
alters ebenso aufscheint wie in allen weiteren Adaptationen antiker oder patristischer Texte, von denen kaum noch etwas ganz verloren gegangen ist, das in der Karolingerzeit einen Abschreiber fand. Als frühes Beispiel für die Dialektik des von Karl ausgelösten Prozesses der Aneignung kann man das wachsende Selbstbewußtsein und Autonomiestreben des fränkischen Episkopats im weiteren 9. Jahrhundert gegenüber den karolingischen Herrschern nennen, das sich ganz wesentlich aus der vertieften Kenntnis schriftlich überlieferten Kirchenrechts der Spätantike, wie etwa der gelasianischen Zweigewaltenlehre, nährte und kirchenpolitisch rasch die Gewichte in einer von Karls Regiment wegführenden Richtung verschob40. Um zum Schluß zu kommen: Das Verhältnis von Intentionen und Wirkungen stellt sich bei Karl dem Großen durchaus unterschiedlich dar, je nachdem welche Ebene seines Handelns man in den Blick faßt. Wirkungen größten Ausmaßes gingen von seiner Außenund Kaiserpolitik aus, doch ist hier nur mit ziemlich globalen Zielsetzungen und in der Praxis mit einem erheblichen Maß an kurzfristiger Improvisation zu rechnen. Grundsätzliche und zugleich konkrete Leitbilder prägen dagegen, deutlich faßbar, weite Bereiche der Innen- und zumal der Rechtspolitik, doch hatte Karl nach Jahrzehnten der Mahnungen und Anordnungen selbst schon Zweifel am Erfolg seiner Mühen, und die historische Forschung widerspricht ihm in dieser Hinsicht kaum. Die Bildungserneuerung schließlich, der Karl vor allem durch seine bemerkenswerte Offenheit fur auswärtige Kapazitäten den Weg ebnete, hat ihre erklärten Ziele allenfalls ein Stück weit befördern können, dafür aber Kräfte entbunden, die Karls Wünsche und Vorstellungsvermögen weit hinter sich ließen. Ihn einen Großen zu nennen, hatten Mit- und Nachwelt in je eigener Weise Anlaß.
40 Vgl. K. F. MORRISON, The Two Kingdoms. Ecclesiology in Carolingian Political Thought, 1964; R. SCHIEFFER, Freiheit der Kirche: Vom 9. zum 11. Jahrhundert, in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Hg. v. J. Fried, 1991,49-66, bes. 60 ff.
I. Karl der Große und seine Zeit
Michael Richter
Karl der Große und seine Ehefrauen. Zu einigen dunkleren Seiten Karls des Großen anhand von Quellen des ausgehenden achten und beginnenden neunten Jahrhunderts
Bekanntlich krankt die Erforschung der Karolingerzeit, und insbesondere der Herrschaft Karls des Großen, an einer beispiellosen Einseitigkeit der Quellen, die in ganz überwiegendem Maß im Umfeld des Hofes entstanden und entsprechend herrscherfreundlich sind. Man muß für viele Themen mit dieser Situation vorlieb nehmen, und eine kritische Erfassung ist fast unmöglich. Selbstverständlich werde auch ich quellennah arbeiten. Die Quellen für die Regierung Karls sind von Abel und Simson in den Jahrbüchern des fränkischen Reiches auf rund 1400 Seiten erschöpfend gesammelt worden 1 . Hier kann man bestenfalls neue Akzente in der Interpretation setzen 2 . Ich werde indes mit einer Quelle beginnen, die aus guten Gründen in den Jahrbüchern nicht aufscheint, weil sie erst nach Karls Tod entstanden ist, eine Quelle, die indes nach meiner Meinung eine Schlüsselstellung für unser Thema einnimmt. Zehn Jahre nach Karls Tod schrieb der Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo sein fast 1000-zeiliges Gedicht über den Stoff, den sein Lehrer Wetti in einer Jenseitsvision geschaut hatte und den er seinem Mitgeistlichen Heito berichtet hatte. Im Jenseits hatte Wetti unter anderem einen Mann gesehen, den er namentlich nicht nennt. Eindeutig handelt es sich dabei um Karl den Großen. Walahfrid schreibt (v. 446-450): Contemplatur item quendam lustrata per arva, Ausoniae quondam qui regna tenebat et altae Romanae gentis, fixo consistere gressu Oppositumque animal lacerare virilia stantis; Laetaque per reliquum corpus lue membra carebant. (Nun sah Wetti auf jenen Gefilden einen, der einstmals König Italiens war, des erhabenen römischen Volkes, an seinem Platz stehen - er wich keinen Schritt von der Stelle - ;
1 S. ABEL, B. SIMSON, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, 2 Bände, 1883, Nd. 1969. 2 Vgl. hier besonders J. JARNUT, 'Karl der Große - Mensch, Herrscher, Mythos: Ein Rückblick nach 1200 Jahren', Paderborner Universitätsreden 66, 1999; M. BECHER, Karl der Große, 1999.
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Michael Richter
ihm gegenüber ein Tier, das die Teile der Scham ihm zerfleischte; sonst aber war sein strahlender Leib verschont von der Seuche.) 3
Wir haben hier einen seltenen Fall einer negativen Darstellung Karls, zwar nicht zu dessen Lebzeiten, aber doch recht bald danach. Die Sache hat aber noch weitere bemerkenswerte Aspekte. Wer sich für Zahlensymbolik erwärmen kann, könnte anmerken, daß diese himmlische Strafe für Karls Sexualverhalten während seines Lebens genau im Zentrum der Visio Wettini angesiedelt ist. Wer von solchen Formfragen weniger hält, sei darauf verwiesen, daß in Walahfrids Vorlage, dem von Heito verfaßten Prosabericht, diese Sache auch berichtet wird, nicht an zentraler Stelle des Berichts, und mit deutlicheren Worten: Illic etiam quendam principem, qui Italiae et populi Romani sceptra quondam rexerat, vidisse se stantem dixerat. Et verenda eius cuiusdam animalis morsu laniari, reliquo corpore inmuni ab hac lesione manente4. Wetti fragte deshalb seinen Begleiter, den Engel, nach dem Grund dafür, und erhielt eine deutliche Antwort. Bei Heito heißt es (ich zitiere ihn hier vorrangig, weil er die Quelle von Walahfrid und somit wohl authentischer ist): Stupore igitur vehementi attonitus, ammirans quomodo tantus vir, qui in defensione catholicae fldei et regimine sanctae ecclesiae moderno saeculo pene inter ceteros singularis apparuit, inuri tanta deformitate poenae potuisset. Cui ab angelo ductore suo protinus responsum est, quod, quamvis multa miranda et laudabilia et deo accepta fecisset, quorum mercede privandus non est, tarnen stupri illecebris resolutus, cum ceteris bonis deo oblatis longevitatem vitae suae in hoc terminare voluisset, ut quasi parva obscenitas et concessa fragilitati humanae libertas mole tantorum bonorum obrui et absumi potuissef. Das Verhalten Karls in diesem Bereich wird bei Wetti mit dem ebenso deutlichen wie eindeutigen Begriff stuprum illecebre (wollüstige Unzucht) belegt, während Walahfrid den schwächeren Begriff turpis libido benutzt. In der Sache allerdings ändert das nichts. Diese Quellenstelle Heitos ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Das mit stuprum illecebre bezeichnete Sexualverhalten Karls wird nicht als besonders unangemessen dargestellt, im Gegenteil. Es wird vielmehr bemerkt, daß nach menschlichem Urteil dieser Aspekt seines Lebens wohl gering zu veranschlagen sei angesichts der anerkannt großen Verdienste Karls besonders um die Sache der Kirche. Wir haben hier einen für diese Zeit seltenen und wertvollen Fall eines Phänomens, das ich mit dem modernen Begriff als das kollektive Gedächtnis der Zeitgenossen bezeichnen möchte. Es wird thematisiert, daß die Leistungen Karls als christlicher Herrscher nach allgemeiner Überzeugung alles andere zur Nebensache degradieren würden. Wir erleben hier sicher die Auswirkungen karolingischer Hofpropaganda, die längerfristig wirksam waren, wobei ich doch einschränkend bemerken möchte, daß das dargestellte im allgemeinen gleichwohl positive Karlsbild von der Reichenau glaubhafter
3 Die maßgebliche Edition ist MGH Poet. Lat. II. Hg. v. E. Duemmler, 1884, 301-333. Die vorliegende Übersetzung ist entnommen Walahfrid Strabo. Visio Wettini. Die Visio Wettis übersetzt und erläutert von H. Knittel, Sigmaringen 1986, 66 f. 4 MGH Poet. Lat. II, 1884, cap. XI, 271. 5 Ibid.
Karl der Große und seine Ehefrauen
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erscheint, als man es sich etwa in Paderborn vorstellen könnte, wo Karl in dieser Zeit noch als Missionar mit eiserner Zunge galt6. Die andere Botschaft dieser Stelle der Visio Wettini scheint indes zu sein, daß das ausschweifende Sexualleben Karls außerhalb seiner Ehen von seinen fränkischen Zeitgenossen recht gleichmütig hingenommen wurde. Es war bekannt, aber offenbar nebensächlich. Natürlich war die Ehe des Königs damals keine Privatsache, und selbstverständlich war sie auch mit Vorstellungen verbunden, die durch christliche Ethik geprägt waren. Es wird hier deutlich, daß in dieser Angelegenheit dem rex Dei gratia die Gebote der Kirche gleichgültig waren. Es sei darauf hingewiesen, daß auch in dieser Sache unsere Quellenlage sehr einseitig ist. Wir wissen, und wir werden noch darauf zu sprechen kommen, daß in dieser Zeit die Kirche längst ganz feste Vorstellungen hinsichtlich der Unauflöslichkeit der Ehe hatte, die auf neutestamentliche Maximen zurückgingen 7 . In wie weit diese Vorstellungen allgemein durchgesetzt wurden, entzieht sich unserer Kenntnis weitgehend. Allerdings gilt dies nicht für die Herrscher, die nun einmal in den Quellen besonders präsent sind. Hier kann man sagen, daß die christlichen Ehevorstellungen auch für diese Kreise galten, und daß die Nichteinhaltung im allgemeinen größere Wellen schlug. Dies gilt, in gewissen Grenzen, auch für Karl. Im Zentrum steht dabei ein Brief Papst Stephans III. an die beiden Frankenkönige Karl und Karlmann.: Dominis excellentissimis filiis, Carolo et Carlomanno regibus Francorum et Patriciis Romanorum Stephanus papa8 Dieser Brief ist undatiert, stammt aber aus der Zeit vor dem Dezember 771, in dem Karlmann starb. Der Papst hatte gehört, daß ein Ehebündnis eines der beiden königlichen Brüder mit einer Langobardin bevorstehe, und er reagierte darauf, man kann es getrost so nennen, hysterisch. Das lag an der politischen Konstellation, die ein noch engeres Bündnis der fränkischen Könige mit den Langobarden, als es schon bestand, in den Augen des Papstes zu einer elementaren Bedrohung für die römische Kirche machte. Es spielten also zweifellos auch politische Opportunitätsfragen mit hinein, aber prinzipielle Fragen werden in diesem Brief vorrangig behandelt. Wie oberflächlich der Papst informiert war, zeigt sich bereits an der Adresse des Briefes. Dieser war an die beiden Brüder gerichtet, aber ein Ehebündnis mit einer langobardischen Prinzessin war damals durch die Königinmutter Bertrada für ihren älteren Sohn Karl vorbereitet worden. Von der Beteiligung der Königinmutter wird der Papst gewußt haben. Es ist deshalb wohl kaum zufällig, daß er zu Beginn seines Briefes darauf verweist, daß es die schwache Natur der Frau (inßrma mulieris natura, 560, 34 f.) war, die das Paradies verspielt hatte. Das eigentliche Thema wird wie folgt angesprochen: cum magno cordis dolore didicimus: eo quod Desiderius Langobardorum rex vestram persuadere dinoscitur Karolus ferrea quodammodo lingua praedicavit, Translatio S . Liborii. Hg. v. G. H. P E R T Z , MGH 4, 1841, 151. 7 Vervviesen sei etwa auf die damals im Frankenreich an Einfluß gewinnende Collectio Canonum Hibernensis, hg. v. H. WASSERSCHLEBEN, Die irische Kanonensammlung, 2 1885, bes. Buch XLV1 De ratione matriomomi. Dazu auch M. RICHTER, Ireland and her neighbours in the seventh century, 1999, bes. 31-33. 8 Codex Carolinus Nr. 45. Hg. v. W. GUNDLACH, MGH Epp. 3, 1892. 6
SS
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Michael Richter
excellentiam, suam filiam uno ex vestra fraternitate in commo copulari. (S. 561, Z. 46) Der Papst vertrat die Ansicht, daß es gegen den göttlichen Willen verstoße, eine Ausländerin zu heiraten. (S. 561, Z. 9-10, ähnlich 562, Z. 13) Aber es handelte sich ja nicht um Ausländer schlechthin, sondern besonders um Langobarden, die als letzter Abschaum zu gelten hatten, als Ausgeburt von Aussätzigen. Diese Schändlichkeit wird mehr als einmal thematisiert. Der Papst verweist ferner darauf, daß die Adressaten bereits gültig verheiratet seien, und zwar auf Weisung ihres Vaters: coniugio legitimo ex praeceptione genitoris vestri copulati estis (S. 561, Z. 20) Ihnen stünden gerechterweise die schönsten Fränkinnen als Ehefrauen zu. So hätten es auch ihre Vorfahren gehalten. Es ist nicht auszumachen, inwieweit die Behauptung, Pippin habe die Ehen seiner Söhne gestiftet, der Realität entspricht. In jedem Fall aber stünden die bereits vorhandenen Ehefrauen einer anderen Verbindung im Weg: impium enim est, ut vel penitus vestris ascendat cordibus, alias accipere uxores super eas, quas primitus vos certum est accepisse. (S. 561, Z. 33 f.) Der Papst spricht ein weiteres sehr delikates Thema an: Offenbar hatte sich Pippin mit dem Gedanken getragen, seine Frau zu verstoßen, und nur die Mahnung eines Papstes, nämlich des Vorgängers des Verfassers dieses Briefes, hatte ihn davon Abstand nehmen lassen. Dieser Gehorsam machte Pippin zum wahren allerchristlichsten König (Mementote hoc, praecellentissimi fllii, quod sanctae recordations praedecessor noster, dominus Stephanus papa, excellentissimae memoriae genitorem vestrum obtestavit, ut nequaquam praesumpsisset dimittere dominam et genitricem vestram; et ipse, sicut re vera christianissimus rex, eius salutifferis obtemperavit monitis, S. 561 f.). Diese schwere Ehekrise Pippins und Bertradas, offenbar nach der Geburt der beiden Söhne, ist anderweitig freilich nicht belegt9. Wir wollen hier zur Kenntnis nehmen, daß nach den Vorstellungen des Papstes die Adressaten dieses Briefes jeweils eine gültige christliche Ehe eingegangen waren, die nicht auflösbar war (nee vestras quoquo modo coniuges audeatis dimittere, S. 563, Z. 14). Schließlich drohte der Papst mit dem Anathem, falls seine Anweisungen in dieser Sache nicht befolgt würden. Bekanntlich predigte der Papst hier tauben Ohren. Nachdem möglicherweise die erste Ehe Karls von seinem Vater arrangiert worden war, wurde die Mutter zur Stifterin seiner zweiten Ehe. Karl nahm die Langobardin zur Frau. Eine Kirchenstrafe aber folgte nicht, Hadrians Drohungen waren lediglich Theaterdonner gewesen. Immerhin, seinem Schreiben ist zu entnehmen, daß die erste Ehe mit dem Einverständnis seines Vaters geschlossen worden war und eine vollgültige Ehe gewesen war. Die zweite Ehe, die mit der Langobardin, war allerdings nur von sehr kurzer Dauer und scheint auch ohne Nachkommen geblieben zu sein10. Mit Karlmanns Tod, der Flucht seiner Witwe und Kinder nach Italien, richtete Karl sein Augenmerk auf den Erwerb der langobardischen Krone, und zwar unter Ausschal9 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist eine Bestimmung der von Pippin einberufenen Synode von Vere von 755: c. 15: ut omnes homines laici publicas nuptias faciant, tarn nobiles quam innobiles. Hg. v. A. BORETIUS, MGH Capit. I, 1883, 36. 10 Vgl. dazu auch F. GEAU, 'Le mariage lombard de Charlemagne', Atti del 6 congresso internazionale di studi sull'alto medioevo, 1980, 443-446.
Karl der Große und seine Ehefrauen
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tung seines ehemaligen Schwiegervaters. Er schickte seine langobardische Ehefrau wieder zurück. Was aus ihr wurde, als Karl 774 Pavia eroberte und seine Schwägerin samt Kindern sowie Desiderius in seine Obhut nahm, ist nicht überliefert. Es ist auch nicht überliefert, wie der Papst diese Lösung des Eheproblems Karls empfand. Es ist nicht einmal überliefert, ob Karl die Langobardin in einer christlichen Zeremonie geehelicht hatte, aber da beide katholische Christen waren, ist davon auszugehen, daß es sich bei der Verbindung für die Zeitgenossen um eine förmliche christliche Ehe gehandelt hatte. Die beiden ersten Ehen Karls dauerten etwa vier Jahre und wurden vorzeitig beendet. Seine drei weiteren Ehen hingegen umfaßten insgesamt etwa 28 Jahre und fanden ihr natürliches Ende mit dem Tod der jeweiligen Partnerin. Karls nächste Ehefrau Hildegard, zwar keine Fränkin, sondern Alemannin, keine Ausländerin, vor allem aber keine Langobardin, stand in Rom in hohem Ansehen. Sie war 12 Jahre mit Karl verheiratet und brachte ihm neun lebensfähige Kinder zur Welt, bevor sie im Alter von 25 Jahren starb. Zu Hildegard scheint mir eine Sache bemerkenswert. Der Liber Pontificalis berichtet in der Vita Hadriani, einer Quelle mithin, die nicht im Umkreis des Hofes entstanden ist, recht unmotiviert, daß Karl während der Belagerung von Pavia im Winter 773/4 ins Frankenreich schickte und seine Frau Hildegard et nobilissimos filios holen ließ. Nach dem Stand unseres Wissens hatte Karl damals zwei Söhne, Pippin den Buckligen von seiner ersten Frau und Karl von Hildegard. Hildegard selbst war damals hochschwanger mit einer Tochter namens Adalhaid, die nur wenige Monate leben sollte. Es ist nicht bekannt, ob die Gewaltreise Hildegards nach Italien zu diesem baldigen Tod beigetragen hat. Merkwürdigerweise bleibt im Uber Pontificalis aber unkommentiert, daß Karl bei seinem Besuch in Rom zu Ostern 774 Frau und Kinder nicht mitnahm 11 . Andererseits wird in der Vita Hadriani mehr als einmal vermerkt, daß Desiderius den Papst erfolglos gedrängt hatte, Karlmanns Söhne zu salben - unguere12. Es liegt nicht fern zu vermuten, daß Karl in dieser Zeit ähnliche Pläne hegte, und das würde erklären, warum er seine junge Ehefrau im Winter nach Italien nachkommen ließ. Wir haben hier eine bezeichnende Situation, die allerdings in den Quellen nicht häufig genug erkennbar wird, daß Karl auch Pläne hatte, die er offenbar nicht unmittelbar ausführen konnte. Für den Papst war eine andere Frage wichtiger: Der Liber Pontificalis berichtet ausführlich darüber, wie Karl bei seinem Rombesuch dazu gebracht wurde, die Pippinsche Schenkung zu erneuern, und die schriftliche Fassung, die von ihm und anderen Männern unterzeichnet worden war, auf dem Grab des Heiligen Petrus zu deponieren. Nach dem parteiischen Liber Pontificalis geschah all dies propria voluntate 3. Wenn man zwischen den Zeilen liest, hat man den Eindruck von Nötigung, wobei hinzugefügt 11 Le Liber Pontificalis I. Hg. v. L. DUCHESNE, 1981, Vita Hadriani 496. In seinem Beitrag zu diesem Band weist R. SCHIEFFER darauf hin, daß Karl bei diesem Besuch in Rom noch von einem Fortbestand des unabhängigen Langobardenreichs ausgegangen war. 12 Vita Hadriani (wie Anm. 11), 488, Z. 22-23; 493, Z. 18-21. 13 Vita Hadriani (wie Anm. 11), 498, Z. 15. Es ist bemerkenswert, daß der 'Liber Pontificalis" diesen Begriff auch in der 'Übernahme' von Karlmanns Witwe und Söhnen nach der Eroberung von Verona benutzt, ibid., 496, Z. 19.
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Michael Richter
werden sollte, daß mit der Eroberung des Langobardenreichs durch Karl der politische Teil der Vita Hadriani ein Ende findet, obwohl der Pontifikat noch zwei Jahrzehnte dauerte und es zu weiteren Begegnungen Hadrians mit Karl und seinen Angehörigen kam, die offenbar zur Folge hatten, was bereits für 774 vorgesehen worden war. Daß Karl das Schenkungsversprechen nicht einlöste, wird diskret verschwiegen. Deshalb darf man wohl auch vermuten, daß ein für Ostern 778 angekündigter, aber nicht ausgeführter Besuch von Hildegard und Karl in Rom mit ähnlichen Absichten verbunden war. In einem Brief des Papstes 14 wird angesprochen, daß der Besuch für Ostern 778 vereinbart worden war und daß bei diesem der 777 geborene Sohn Karlmann / Pippin vom Papst getauft werden sollte. Hadrian fand lyrische Worte fur den geplanten Besuch: sicut terra sitiens imbrem, ita et nos exspectabiles fuimus mellifluam excellentiam vestram. Der Besuch in Rom wurde durch den ungeplanten, überstürzten und desaströsen Feldzug nach Spanien vereitelt. Die wiederum schwangere Hildegard wurde auf diesem noch bis in den Süden Frankreichs mitgefiihrt, wo sie später Zwillinge, Clothar und Chlodwig/Ludwig, gebar15. Bekanntlich kam es zu dem Besuch in Rom dann erst 781. Damals wurden die Söhne Pippin und Ludwig tatsächlich gesalbt. Es ist allerdings keineswegs gesagt, daß der Akt von 781 eine Erfüllung der Pläne von den geplanten Rombesuchen 774 und 778 darstellt. Hildegard starb kurz nach der Geburt ihres neunten Kindes. Ihr Epitaph stammt von Paulus Diaconus: Bei allen ihren Vorzügen, ihre beste Eigenschaft war ihr Gatte: Cum non sit grandior ulla laus tibi, quam tanto complacuisse viro16. Wenige Monate nach Hildegards Tod ehelichte Karl die Ostfränkin Fastrada. Diese Ehe dauerte ebenso lange wie die mit Hildegard, brachte aber nur zwei Töchter hervor. Karl scheint Fastrada nicht so sehr mit sich herumgeschleppt zu haben wie Hildegard, und dies ist auch ein Grund, warum wir eine seltene Quelle haben, nämlich einen Brief, den Karl an Fastrada aus dem Felde schrieb17. Dieser Brief datiert vom Herbst 791, also etwa aus dem 9. Ehejahr. Abel-Simson schreiben über ihn folgendes: "Das Schreiben des Königs, der sich frisch und wohl fühlte, athmet eine frohe, durch die guten Nachrichten, welche er mitzutheilen hatte, gehobene Stimmung"18. Man kann allerdings auch andere Züge dieses Schreibens hervorheben. Die unbeholfenen parataktischen Formulierungen vor allem im 2. Abschnitt des Briefes (insgesamt sieben Satzanfänge mit et) machen eine Urheberschaft Karls in welcher Form auch immer ziemlich wahrscheinlich und verleihen diesem Brief aus diesem Grund ein besonderes Interesse. Auch das Ende des Briefes klingt eher unbeholfen und rührend. Karl beschwert sich darüber, daß ihn seit ihrer Trennung keine Nachricht von Fastrada erreicht hat. Er schließt wie folgt: Unde volumus, ut sepius nobis de tua sanitate vel de aliud, quod placuerit, significari debeas. Iterumque salutamus tibi multum in Domino. Hat der Schreiber hier etwa absichtlich das krause Latein seines Herrn unverändert übernommen? 14 Vgl. Codex Carolinus (wie Anm. 8), Nr. 60. 15 J. JARNUT, Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karls des Großen, in: Francia 12, 1985,645-651. 16
M G H P o e t . L a t . I. H g . v. E . DUEMMLER, 1 8 8 1 , 5 8 , v. 15-16.
17
M G H Epp. 4. Hg. V. E. DUEMMLER, 1898-1899, 528 f.
18 Jahrbücher, (wie Anm. 1) Band 2, 22.
Karl der Große und seine Ehefrauen
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Das Epitaph für Fastrada, von Theodulf von Orleans verfaßt, ist kürzer als das Epitaph für Hildegard, ähnelt jenem aber in der Grundtendenz: der Ehemann war offensichtlich die bessere Ehehälfte: Pars ammae melior Carolus rex ipse remansit: / cui tradat mitis tempora larga Deus19 In dieser Hinsicht waren beide Ehefrauen offenbar austauschbar. Liutgard, die fünfte und letzte Ehefrau Karls, starb im Jahr 800, am 4. Juni 20 . Sie hinterließ keine Nachkommen. Diese Ehe fiel in eine Zeit, die politisch längst nicht so bedeutend war wie die vorhergehenden Jahrzehnte. Dies zeigt auch die beschränkte politische Bedeutung Liutgards, die sich auch in recht wenigen und wenig aussagekräftigen Quellenbelegen niederschlägt. Wann Liutgard von der Position der Liebhaberin zur Ehefrau aufstieg, läßt sich nicht mehr feststellen. Aus zeitgenössischen Zeugnissen erscheint sie am konsequentesten in den Briefen Alcuins, in denen sie aber weder, wie in anderen Quellen, als regina noch als coniux geführt wird. In einem Brief Alcuins an Liutgard, den Dümmler auf 795 datiert, wird die Empfängerin als nobilissima femina bezeichet, der das Wohlergehen des Königs eine Herzenssache sein sollte21. Alcuin ermahnt sie in konventionellem Ton, ein Leben der Art zu führen, daß sie ihren Mitmenschen ein Vorbild sei. Offensichtlich war sie damals Karl noch nicht nahe verbunden, galt aber bereits als Option. In einem Brief an Paulinus von Aquileia, auf 796 datiert, bezieht sich Alcuin auf sie als fllia mea .... femina relegiosa2 Dies läßt darauf schließen, daß sie immer noch nicht die Ehefrau Karls war, aber bereits nicht weiter motivierte Geschenke an Paulinus machte. Aus demselben Jahr stammt ein Brief, in dem Alcuin wieder Geschenke Liutgards vermittelt, diesmal nach England. Hier nennt er sie nobilis femina23. Eindeutig in der Nähe Karls erscheint Liutgard in einem Brief Alcuins an den König, hier nicht namentlich genannt, aber bezeichnet als filia mea, famula vestra fidelissima24. Schließlich schreibt Alcuin an Arn von Salzburg über "König, Liutgard und die Kinder im Palast" 25 , was auf eine intakte Wohngemeinschaft schließen läßt. Dennoch, aus Alcuins Briefen kann man überraschenderweise keine ordentliche Ehe zwischen Karl und Liutgard entnehmen. Dennoch von einer solchen zu sprechen, erlauben jedoch andere Quellen, die allerdings zeitlich ferner anzusetzen sind. Die Art und Weise, wie Liutgard in dem Eposfragment Karolus Magnus et Leo Papa aufscheint, läßt die Vermutung zu, daß dieser Teil des Epos zumindest noch zu ihren Lebzeiten verfaßt worden war, was aus anderen Gründen von großem Interesse ist:
19 20 21 22 23 24 25
MGH Poet Lat. I, 483. Trostbrief Alcuins an Karl Ep. 197, MGH Epp. 4, 325 f. Alcuin Ep. 50, 94. Alcum Ep. 96, 140. Alcuin Ep. 102, 149. Alcuin Ep. 149, 244, datiert 22. Juli 798. Alcum, Ep. 150, 246.
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Michael Richter
Hinc thalamo cunctata diu regina superbo Procedit, multa circum comitante caterva, Liutgardis Karoli pulcherrima nomine coniux (v. 182-84) Magnanimos inter proceres regina superbo Gaudet equo (v. 193-4)26. Es sei am Schluß unserer Betrachtungen ausdrücklich betont, daß das Verhältnis Karls zu seinen Ehefrauen durch den Begriff stuprum illecebre der Visio Wettini nicht erfaßt wird. Dieser betrifft Karl und seine Konkubinen, die er zeitgleich mit seinen Ehefrauen beglückte. Dies wäre ein eigenes Thema, das indes quellenmäßig noch schlechter abgedeckt ist als das der Ehefrauen. Immerhin trennte Karl sich von seinen zwei ersten Ehefrauen und handelte dadurch gegen die strikten kirchlichen Vorschriften der Zeit, die ihm wohl bekannt waren. *
Das große Thema 'Karl der Große im Spiegel seiner Mitmenschen' harrt noch der Bearbeitung. Auf jeden Fall wird ein differenzierteres Bild dabei herauskommen als das, was bisher gemalt wird, das in vieler Beziehung auf Grund der sehr einseitigen Quellen fast nur positiv ausfällt. Mit den Ehefrauen haben wir einen ersten Anfang gemacht, und es wird hoffentlich auch angesichts der Jubiläen und Ausstellungen um das Jahr 799 und 800 zu weiterer kritischer Erforschung Karls kommen, die dringend erforderlich ist. In meinen Ausführungen habe ich auf die Benutzung von Einhard und seine zu häufig unkritisch zitierte Vita Karoli Magni ganz verzichtet. Ich habe es gern getan, denn daß man von einem Höfling par excellence keine ausgewogene Beurteilung seines Mäzens erwarten kann, liegt auf der Hand. Für manche Themen (ζ. B. die Sprachkenntnisse Karls27) scheint an Einhard kein Weg vorbei zu fuhren, und es ist sehr schwierig, ihn angemessen zu verwerten28. Im ganzen gesehen mag jedoch behauptet werden, daß ohne die Berücksichtigung Einhards ein angemesseneres Karlsbild möglich ist als mit der Berücksichtigung der Vita Karoli Magni. Für unser Thema insbesondere ist es ein Glücksfall, insgesamt mehrere zeitgenössische Quellen zur Verfügung zu haben, die nicht im Umfeld des fränkischen Hofs entstanden sind und die, wenn nicht einen Paradigmenwechsel, so doch zumindest eine partielle Veränderung der Perspektive möglich machen. In dieser Hinsicht scheint vor allem der Visio Wettini eine Bedeutung zuzukommen, die bisher nicht angemessen gewürdigt wurde.
26 MGH Poet. Lat. I. 370 f. 27 Vgl. ζ. Β. M. RICHTER, Die Sprachenpolitik Karls des Großen, in: Sprachwissenschaft 7, 1982, 412-37 und die Gegenposition von J. FRIED. Karl der Große, die Artes Liberales und die karolingische Renaissance, in: Karl der Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa. Hg. v. P. Butzer - M. Keraer - W. Oberschelp, 1997,25-43. 28 Letztens: Einhard. Studien zu Leben und Werk. Hg. v. H. Schefers, 1997.
Franz Tinnefeid
Formen und Wege des Kontaktes zwischen Byzanz und dem Westen zur Zeit Karls des Großen
Die diplomatischen Kontakte zwischen Byzanz und den Franken waren seit 631 unterbrochen gewesen, als sie ca. 755 erneut aufgenommen wurden1. Es war wohl der oströmische Kaiser Konstantin V., der, beunruhigt über die neu sich anbahnende freundschaftliche Beziehung seines Untertanen Papst Stephan II. mit dem Frankenkönig Pippin, als erster den Dialog mit diesem Herrscher suchte2. Die Gespräche verliefen zunächst in freundschaftlicher Atmosphäre. Als aber einige Jahre später derselbe Kaiser von Byzanz eine Heirat zwischen seinem Sohn Leon und Pippins Tochter Gisela vorschlug, lehnte der König ab3. Nicht geringere Zurückhaltung zeigte er, als 767 byzantinische Gesandte auf einer Kirchensynode zu Gentilly versuchten, ihn für den bilderfeindlichen Kurs ihres Kaisers zu gewinnen 4 . In dieser Situation erbte Karl der Große 768 zusammen mit seinem Bruder Karlmann und nach dessen Tod 771 allein die Macht über das Frankenreich. Seine Beziehungen zu Byzanz waren gemäß der Entwicklung unter seinem Vater zunächst gespannt, und 1 C. MANGO, La culture grecque et l'occident au VTIIe siecle, in: Settimane di Studio (Spoleto) 20, 1973, 683-721, hier 691 f.; PH. GRIERSON, The Carolingian Empire in the Eyes of Byzantium, in: Settimane di Studio (Spoleto) 27, 1981, 885-916, hier 898. 2 Die Continuationes Fredegarii berichten von einer Gesandtschaft Konstantins V. an Pippin im Jahr 757, der aber eine Initiative Pippins vorausgegangen sei; vgl. G. WOLF, Fränkisch-byzantinische Gesandtschaften vom 5.-8. Jh. und die Rolle des Papsttums im 8. Jh., in: Archiv für Diplomatik 37, 1991, 1-13, hier 10. Diese Nachricht bezweifelt aber mit politischen Argumenten (Konstantin brauchte die Kontakte, Pippin nicht) D. H. MILLER, Byzantine-Papal Relations during the Pontificate of Paul I., in: Byz. Zeitschr. 68, 1975, 47-62, hier 50-52. Nach ihm zeigte GRIERSON (wie Anm. 1), 900, unter Berufung auf die Vita des Papstes Stephanus (Lib. pontif. I, 442, 445), daß Konstantin V. zuerst Gesandte nach Rom, dann auch zu Pippin schickte; die letzteren landeten in Südfrankreich, als Pippin in Pavia weilte, und trafen ihn schließlich dort. Die in den Contin. Fredeg. erwähnte Gesandtschaft Pippins wäre dann die darauf antwortende Gegengesandtschaft gewesen, die Konstantin seinerseits mit der Gesandtschaft von 757 beantwortete. 3 P. CLASSEN, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, 1985, 26 Anm. 73; WOLF, Gesandtschaften (wie Anm. 2), 10; I. ROCHOW, Kaiser Konstantin V., 1994, 118. 4 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 26 Anm. 74; ROCHOW, Konstantin V. (wie Anm. 3), 117.
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auch Papst Hadrian I. verfolgte eine entsprechende Linie, als er 769 auf einer Synode in Rom das byzantinische Ikonoklastenkonzil von Hiereia 754 als "execrabilis synodus" verurteilte und fortan erstmals auf die byzantinische Datierung nach Kaiserjahren verzichtete5. Byzanz unterstützte seinerseits nach dem Sieg Karls über die Langobarden 774 gegen ihn die Ansprüche des langobardischen Thronerben6. Die Beziehungen verschlechterten sich noch, als in den folgenden Jahren Karl auf byzantinisches Terrain übergriff, indem er ca. 778 Istrien in seine Gewalt brachte und auch in dem nun nominell päpstlichen Gebiet des ehemaligen Exarchats von Ravenna faktisch die Macht ausübte . Doch kehrte 781 die nunmehr in Byzanz für ihren minderjährigen Sohn Konstantin regierende Kaiserin Eirene zu einer Politik der friedlichen Verständigung mit den Franken zurück und schlug eine Heirat ihres Sohnes mit Karls Tochter Rothrud vor. Der Plan wurde von Karl freundlich aufgenommen und durch ein Bündnis besiegelt8. Doch beging man in Byzanz nun den Fehler, im Jahr 785 zu einem Konzil über die Bilderfrage nur Papst Hadrian, nicht aber Vertreter der fränkischen Kirche einzuladen. So entsandte zwar der Papst zwei Legaten, Karl aber zeigte sich verärgert und lehnte im Jahr 787 wohl auch aus diesem Grund die Herausgabe seiner Tochter ab9. Die Folge war eine erneute Unterbrechung der Kontakte, die nunmehr zehn Jahre dauerte. Erst in den Jahren 797 bis 799 gingen wieder versöhnliche Initiativen von Byzanz aus, zuerst von Konstantin VI.10, nach dessen Absetzung auch von seiner Mutter Eirene, die offenbar wejpn ihrer schwachen Stellung an guten Beziehungen zu den Franken interessiert war . Die Kontakte rissen auch nach der Kaiserkrönun^ Karls zunächst nicht ab, obwohl diese zweifellos in Byzanz Anstoß erregen mußte . Jedenfalls berichten die fränkischen Reichsannalen, daß Eirene etwa im Herbst 801 wieder eine 5 ROCHOW, Konstantin V. (wie Anm. 3), 118. 6 ROCHOW, Konstantin V. (wie Anm. 3), 121. 7 TH. BROWN, The Background of Byzantine Relations with Italy in the Ninth Century, in: Byzantin. Forschungen 13, 1988,27-45, hier 42. 8 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 30. 9 R.-J. LILIE, Byzanz unter Eirene und Konstantin VI., 1996, hier 198 f.; P. SPECK, Kaiser Konstantin VI., 1978, 168 hält es hingegen für wahrscheinlicher, daß die Verlobung auf Betreiben der Eirene aufgelöst wurde, und zwar vor allem wegen der Meinungsverschiedenheiten um die politische Ausrichtung des Herzogtums Benevent. 10 SPECK ebd., 298 f. nennt die Gesandtschaft unter Theoktistos, die im Auftrag des byzantinischen Gouverneurs von Sizilien Niketas in Aachen einen Brief des Kaisers überreichte und freundlich aufgenommen wurde (Annal. Lauriss, ad ann. 797). SPECK ebd., 299 f. nimmt an, daß der nunmehr beiderseits akzeptierte unabhängige Status von Benevent Thema der Gesandtschaft war. 11 Es handelt sich um die Gesandtschaft, die nur in der wahrscheinlich im Kloster Saint-Amand aufgezeichneten, in einer Kölner Handschrift von 805 abschriftlich überlieferten sog. Kölner Notiz "quando missi venerunt de Grecia ut traderent ei (sc. Karolo) imperium" bezeugt ist. Gemäß dem Kontext der Notiz ist diese Gesandtschaft auf die Zeit zwischen dem 9.10.798 und dem 8.10.799 zu datieren. Vgl. H. BEUMANN, Das Paderbomer Epos und die Kaiseridee Karls des Großen, in: Karolus Magnus et Leo Papa. Hg. v. H. Beumann u. a., 1966, 1-54, hier 35. Die verschiedenen Deutungsversuche diskutiert LILIE, Byzanz (wie Anm. 9), 205 f. 12 LILIE, Byzanz (wie Anm. 9), 210.
Formen und Wege des Kontaktes zwischen Byzanz und dem Westen
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Gesandtschaft de pace conflrmanda zu dem westlichen Rivalen beorderte, auf welche dieser mit einer Friedensgesandtschaft antwortete13. Daß aber Karl damals ein Heiratsantrag der Kaiserin überbracht wurde, wie die byzantinische Theophanes-Chronik berichtet, wird heute einhellig als Legende zurückgewiesen14. Doch setzte auch Nikephoros I., der Eirene am 31.10.802 gestürzt hatte, die Politik der Verständigung fort. Karl empfing seine Gesandten im Sommer 803 zu Salz an der Saale und ließ sie mit Vorschlägen für einen Friedensvertrag zurückkehren, auf die aber nun Nikephoros nicht mehr reagierte. Vielleicht hatte Karl die gegenseitige Anerkennung des Kaisertums vorgeschlagen, was in Byzanz als unannehmbar galt . Anfang 806 gliederte Karl Venetien und Dalmatien förmlich seinem Reich ein und provozierte damit einen vierjährigen Krieg mit Byzanz. Der Bruch ging nun so weit, daß er auch auf die kirchlichen Kontakte übergriff; der Papst wurde vom byzantinischen Patriarchen in den Svnodika nicht mehr erwähnt16. Dennoch appellierte Theodoras, der Abt des Studiosklosters in Konstantinopel, 809 an den Papst, da er sich in einer kirchlichen Streitfrage mit seinem Patriarchen überworfen hatte1 .810 lenkte Kaiser Nikephoros, bedrängt von den Bulgaren, ein, und es begann bis zum Tod Karls eine letzte Phase des Gesandtenaustausches, in der man zu einer Einigung sowohl über Venetien als auch über die Zweikaiserfrage gelangte. Sogar von einem Heiratsbündnis war noch einmal kurzfristig die Rede18. Aus dieser Zeit der Verhandlungen stammen auch die einzigen beiden diplomatischen Briefe Karls an seinen byzantinischen Kollegen, die im Wortlaut überliefert sind19. Der Abschluß der Verhandlungen, den er nicht mehr erlebt hat, erfolgte erst 815 zwischen seinem Sohn Ludwig und Kaiser Leon V. von Byzanz20. Ein Austausch von Gegenständen der anderen Kultur erfolgte in dieser Zeit häufig im Rahmen von Gesandtschaftsgeschenken. Ein regelrechtes Sortiment von Geschenken, seidene Gewänder, Wohlgerüche und sogar eine kunstvoll gearbeitete Wasseruhr, wird in dieser Zeit nur einmal aufgezählt. Doch kam diese üppige Gabe nicht aus Byzanz21, sondern vom Kalifen Harun al Raschid22. Unter den byzantinischen Geschenken wird in der Literatur häufig die Wasserorgel genannt, welche eine Gesandtschaft Konstantins V. 757 Pippin in Compiegne überbrachte23. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß
13 Annales regni Francorum ad a. 802. Hg. v. F. K U R Z E (MGH SS rer. Germ. [6.]), 1895, 117. 1 4 Dazu zuletzt LILIE, Byzanz (wie Anm. 9 ) , 2 1 1 . 1 5 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 3), 86 f. 1 6 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 3 ) , 8 7 . 1 7 E . PATLAGEAN, Les Stoudites, Pempereur et Rome, in: Settimane di Studio (Spoleto) 3 4 , 1 9 8 8 , 4 2 9 - 4 6 0 , hier 4 4 1 ; T. PRATSCH, Theodoras Studites, 1 9 9 8 , 1 7 5 f. 18 GRIERSON (wie Anm. 1), 903. Kaiser Michael I. plante, seinen Sohn Theophylaktos mit einer Tochter Karls des Großen zu verheiraten. 19 G R I E R S O N , Empire (wie Anm. 1), 8 8 7 . 20 C L A S S E N , Karl der Große (wie Anm. 3), S. 96. 21 Diese irrige Annahme findet sich in: Karl der Große, Werk und Wirkung (Katalog einer Aachener Ausstellung). Hg. v. W. Braunfels, 1965, 23. 22 Annales regni Francorum ad. a. 807 (wie Anm. 13), 123 ff. 23 J . EBERSOLT, Orient et Occident. Recherches sur les influences byzantines et orientales en France avant et pendant les croisades, Paris 1 9 5 4 , 4 1 ; T . C . LOUNGHIS, Die byzantinischen Gesandten als
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826 ein venezianischer Priester namens Gregor Ludwig dem Frommen anbot, ihm eine Wasserorgel (hydraulica) zu bauen, wie er es in Byzanz gelernt hatte, den Auftrag auch erhielt und ihn ausführte24. Ein Paar geschnitzter Elfenbeintüren, die Karl 803 zu Salz erhielt, waren ein Geschenk des Patriarchen Fortunatus von Grado und nicht der byzantinischen Gesandten, die mit ihm kamen25. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß es sich um eine byzantinische Arbeit handelte26. Reliquien des hl. Kreuzes und des Zacharias (Vater Johannes' des Täufers) sowie Kleider von Christus und Maria erhielt 817/19 der Doge von Venedig von Kaiser Leon V. als Geschenk27, Seidenstoffe Ludwig der Fromme 824 von Michael II.28. Von demselben Kaiser erhielt Ludwig auf sein Ersuchen im Jahr 827 den heutigen Codex Paris, gr. 337 mit den Schriften des PseudoDionysios Areopagita, aus dem bereits 835 eine vollständige lateinische Übersetzung erstellt wurde. Bei der Gelegenheit wurden Ludwig auch wieder kostbare Stoffe überreicht29. In einigen anderen Fällen ist nur allgemein von Geschenken der byzantinischen Gesandten die Rede. Man hat aber auch in Objekten byzantinischer Provenienz, die in anderem Zusammenhang erwähnt werden, Gesandtschaftsgeschenke vermutet. So befanden sich gemäß Einhard30 im Nachlaß Karls des Großen drei silberne Tische, von denen je einer eine Darstellung Konstantinopels, Roms und des Kosmos zeigte, sowie ein goldener Tisch31, die nach Meinung einiger Forscher Geschenke aus Byzanz waren 2 Auch einige erhaltene Objekte der Stoffkunst sind hier zu nennen. So wird vermutet, daß ein Seidenstoff aus Mozac mit der Darstellung einer Jagd33 im Jahr 757 Pippin von den Gesandten Konstantins V. zusammen mit der Orgel überreicht wurde34. Möglicherweise ist auch einer der erhaltenen byzantinischen Stoffe mit Quadrigamuster zur Zeit Karls des Großen als Geschenk nach Aachen gelangt, vielleicht im Zusammenhang mit der Brautwerbung 78135. Das Grabtuch Karls des Großen mit Elefantenmuster, ebenfalls
Vermittler materieller Kultur vom 5. bis ins 11. Jh., in: Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Hg. v. H. Kühnel, 1994,49-67, hier 52 mit Anm. 15. 2 4 P . E. SCHRAMM U. F . MUTHERICH, Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, 1 9 6 2 , 6 3 . 25
LOUNGHIS, Gesandte (wie Anm. 23), 54 f.
26 O. DEMUS, Byzantine Art and the West, 1970, 78. 27
LOUNGHIS, Gesandte (wie Anm. 23), 58 f.
Denkmale (wie Anm.
28
SCHRAMM U. MÜTHERICH,
29
EBERSOLT, Orient (wie Anm. 23), 42; LOUNGHIS, Gesandte (wie Anm. 23), 60 mit A n m . 47.
24), 42.
30 Einhard, Vita Karoli Magni, cap. 33. Hg. v. HOLDER-EGGER (MGH SS rer. Germ. [25.]), 1911, 40. 31 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 69 mit Anm. 259. 32 DEMUS, Byzantine Art (wie Anm. 26), 78; V. ELBERN, Liturgisches Gerät in edlen Materialien zur Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, Bd. III, Karolingische Kunst. Hg. v. W. Braunfels u. H. Schnitzler, 1965, 115-167, hier 116. 33 Heute Lyon, Musee Historique des Tissus. 34 A. MUTHESIUS, Byzantine Silk Weaving AD 400 to AD 1200. Hg. v. E. Kislinger u. J. Köder, 1997, Nr. M34 m i t T a f 2 4 B . 3 5 MUTHESIUS ebd., Nr. M 2 9 mit Taf. 2 3 A ; Abbildung auch bei SCHRAMM u. MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 24), 211.
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eine byzantinische Arbeit, stammt hingegen erst aus dem 10. Jh. und wurde entweder von Otto III. im Jahr 1000 oder von Friedrich II. im Jahr 1215 in Karls Grab gelegt^6. In Karls Herrscherideologie, in der Kaisertitulatur und im Zeremoniell lassen sich manche byzantinischen Einflüsse nachweisen. So ließ Papst Leo III. ein Dop^elmosaik im Lateran anbringen, das Karl in Parallele zu Konstantin dem Großen setzte 3 . Classen weist auch darauf hin, daß Karls Krönung im Jahr 800 nach byzantinischem Brauch während der Eucharistiefeier erfolgt sei38. Wie ferner in Byzanz nach dem Tod des Hauptkaisers der erste Mitkaiser nochmals in einem besonderen Akt als αυτοκράτωρ (autokrätor) bestätigt wurde, so wurde auch nach dem Tod Karls sein Sohn Ludwig, den sein Vater bereits zu Lebzeiten zum Mitkaiser erhoben hatte, erneut als imperator akklamiert 39 . Eine weitere Form der Kontaktnahme sind, wenn auch unter negativem Vorzeichen, kriegerische Auseinandersetzungen. Eine solche erfolgte zwischen Byzanz und den Franken zu Lebzeiten Karls nur einmal, als Karl im Jahr 806 Venetien zusammen mit Dalmatien seiner Herrschaft, wenn auch unter Zusicherung der Autonomie, untergeordnet hatte. Die Reaktion Kaiser Nikephoros' I. zeigt, daß Byzanz an einem neuralgischen Punkt getroffen war, weil Karl damit seine Hand auf bisher unbestritten byzantinisches Territorium gelegt hatte. Angeführt von dem Patrikios Niketas, lief eine byzantinische Kriegsflotte aus, die Ende 806 in der nördlichen Adria eintraf. Der Doge ergab sich dem Patrikios; Karls Sohn Pippin, der in Italien regierte, sah sich nach längeren Auseinandersetzungen 808 gezwungen, einen Waffenstillstand zu schließen. Im Winter 808/09 erschien erneut eine byzantinische Flotte unter dem Dux Paulos, aber diesmal behielt Pippin die Oberhand, und im Jahr 810 entsandte Kaiser Nikephoros Friedensunterhändler, die aber erst nach dem im Juli 810 erfolgten Tod Pippins in Venetien eintrafen und daher zu Karl nach Aachen weiterreisten 40 . Über Handelskontakte zwischen Ost und West ist aus dieser Zeit enttäuschend wenig bekannt; Grierson bezeichnet sie aufgrund fehlender Nachrichten als "virtually not existant" 41 . Seit dem Ende der diplomatischen Beziehungen um 630 gelangten anscheinend auch keine byzantinischen Goldsolidi mehr in den Westen. Auch dies spricht für eine Unterbrechung der zuvor mehrfach belegten Handelsbeziehungen 42 . Doch lassen sich bis 750 doch noch einige wenige Nachrichten darüber finden, und erst danach scheint der Anteil byzantinischer Händler im Westen, also auch in Italien, drastisch
36 M.-M. GAUTHIER, Straßen des Glaubens, 1983, 20 u. 22. 37 CLASSEN, Karl der Große (wie ANM. 3), 55. 38 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 64. 39 F. DÖLGER, Europas Gestaltung im Spiegel der fränkisch-byzantinischen Auseinandersetzung des 9. Jh., 1943, hier zitiert nach: F. DÖLGER, Byzanz und die europäische Staatenwelt, 1964, 282-369, hier 308; CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 100 f. 40 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 92f. Der Brief, mit dem Karl damals dem Kaiser von Byzanz antwortete und die folgenden Friedensverhandlungen einleitete, ist das erste im Originaltext erhaltene Schreiben eines westlichen Kaisers an seinen Kollegen im Osten; vgl. GRIERSON, Empire (wie Anm. 1), 887. 41 42
GRIERSON, Empire (wie Anm. 1), 888. GRIERSON, Empire (wie Anm. 1), 899 f.
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gesunken zu sein43. Anscheinend hielt sich Byzanz damals an näher wohnende Handelspartner, wie zeitgenössische Handelsverträge mit den Bulgaren beweisen44. Das einzige Ost-West-Handel bezeugende Ereignis in dieser Zeit scheint die Anwesenheit griechischer Sklavenhändler an der Küste Latiums in den 70er Jahren des 8. Jh. gewesen zu sein, deren Schiffe, als sie im Hafen von Centumcellae/Civitavecchia lagen, Papst Hadrian I. 778 in Brand stecken ließ45. Es scheuten sich also in dieser Zeit byzantinische Seefahrer nicht grundsätzlich vor den Gewässern Italiens, wie auch der Krieg um Venetien beweist. Dennoch kann man, zumindest aufgrund der negativen Quellenlage, nicht von einem einigermaßen funktionierenden Handel zwischen Byzanz und dem Westen sprechen, auch nicht in umgekehrter Richtung. Zwar füllte, als das fränkische Reich im Frieden von Aachen 812 seine Ansprüche auf das adriatische Meer aufgegeben hatte46, Venedig, das bereits um die Mitte des 8. Jh. seine ersten Schritte zur Emanzipation von Byzanz getan hatte47, das entstandene Vakuum mehr und mehr aus48. Es sollte aber noch eine Zeitlang dauern, bis Torcello zum großen Handelsplatz wurde, wie diese Lagunenstadt im 10. Jh. in "De administrando imperio" genannt wird49. Für die Zeit Karls des Großen ist eher an lokalen Handel der adriatischen Küstenstädte untereinander zu denken50. Es bleiben dann nur noch einige unsichere archäologische Funde, aus denen man auf Handelsbeziehungen zwischen Byzanz und dem Westen geschlossen hat51. Weitgespannte gegenseitige Kontakte sind ab dem 7. Jh. für Klöster und Mönche in Ost und West bezeugt. Die Gründung griechischer Klöster in Rom begann im 7. Jh, und seit der Regierungszeit Konstantins V. sind griechische Mönche in Rom in immer größerer Zahl anzutreffen. Vielleicht waren einige von ihnen Bilderverehrer, die sich aus dem Machtbereich des Ikonoklastenkaisers Konstantin V. entfernt hatten52. Ob aber die Gründung eines griechischen Frauenklosters in Rom in den vierziger Jahren aus 43 D. CLAUDE, Der Handel im westlichen Mittelmeer während des Frühmittelalters, 1985,186 f. 44 J. FERLUGA, Der byzantinische Handel nach dem Norden im 9. und 10. Jh., 1987, hier zitiert nach: DERS., Untersuchungen zur byzantinischen Provinzverwaltung, 1992,131-157, hier 135 f. 45 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 27; CLAUDE, Handel (wie Anm. 43), 187. 46 CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 96. 4 7 J. FERLUGA, L'Italia bizantina dalla caduta dell'esarcato di Ravenna alia metä del secolo I X , 1988, hier zitiert nach: DERS., Untersuchungen (wie Anm. 44), 309-333, hier 316. 48 J. FERLUGA, Das adriatische Meer im Frühmittelalter, in: DERS., Untersuchungen (wie Anm. 44), 287-308, hier 289. 4 9 Constantine Porphyrogenitus, De administrando imperio. Hg. v. G . MORAVCSIK U. R . J. H. JENKINS, 1 9 6 7 , 1 1 8 ; vgl. J. FERLUGA, Navigation et commerce dans l'Adriatique aux V I R et V H I E siecle, 1987, hier zitiert nach DERS., Untersuchungen (wie Anm. 44), 449^(61, hier 454. 50
FERLUGA, Navigation (wie Anm. 49), 454 f.
51 Gemäß FERLUGA, Navigation (wie Anm. 49), 457 fand man an der Ostküste der nördlichen Adria Glas-, Keramik- und Eisengegenstände angeblich byzantinischer Herkunft, deren Datierung unsicher ist. 52 Über die Flucht ikonoduler Mönche nach Italien (Rom und auch Neapel) berichten einige Quellen, so ζ. B. die Vita Stephans des Jüngeren für die Zeit nach dem ikonoklastischen Konzil von Hiereia 754. Vgl. J.-M. SANSTERRE, Les moines grecs et orientaux ä Rome aux epoques byzantine et carolingienne, I—II, 1983, hierl, 42.
Formen und Wege des Kontaktes zwischen Byzanz und dem Westen
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diesem Grund erfolgte 53 , scheint weniger sicher zu sein. Zu Beginn der zweiten Phase des Ikonoklasmus 815 floh der spätere Patriarch von Konstantinopel Methodios nach Rom, und im Jahr 824 bat Kaiser Michael II. Ludwig den Frommen brieflich um die Auslieferung byzantinischer Mönche, die sich vor der Verfolgung durch Ikonoklasten dorthin gerettet hatten 54 . Natürlich kamen nicht alle griechischen Mönche in Rom aus Byzanz, sondern ζ. T. auch aus dem unteritalienisch-sizilianischen Machtbereich der Byzantiner. Insgesamt sind jedenfalls zehn neue griechische Klöster für die Zeit zwischen 750 und 850 in Rom bezeugt. Die Korrespondenz des Abtes Theodoros Studites zeigt, daß er mit Klöstern Italiens und mit Päpsten in brieflicher Verbindung stand55. Was die beiderseitigen Sprachkenntnisse betrifft, so war damals das Griechische im Westen immer noch besser als das Lateinische im Osten bekannt. Vor allem in Italien gab es nicht wenige Kleriker, die des Griechischen kundig waren 56 . Manche von ihnen waren allerdings selbst Griechen wie Papst Zacharias (741-752), dessen vorzügliche Übersetzung der Dialoge Gregors des Großen ins Griechische in Byzanz weite Verbreitung fand 57 . Doch blieb das Interesse am Griechischen nicht auf Italien beschränkt; auch aus dem fränkischen Bereich liegen Zeugnisse vor. So wissen wir aus einem Brief von Papst Paul I., daß Pippin sich von ihm griechische Handschriften erbat und auch erhielt: Schriften des Aristoteles und des Pseudo-Dionysios sowie Werke über Geometrie, Orthographie und Grammatik 58 . Nach 750 aber ist im ganzen ein merklicher Niedergang der Griechischkenntnisse festzustellen. Wenn allerdings im Jahr 765 Kaiser Konstantin V. fränkische und päpstliche Übersetzer beschuldigte, den Sinn seiner Briefe an König Pippin und den Papst verfälscht zu haben, kann es sich auch um beabsichtigte Entstellungen handeln. Zumindest ein erheblicher Anteil sprachlichen Unvermögens war jedoch zweifellos bei der lateinischen Übersetzung im Spiel, die nach dem Ende der Synode von Nikaia von den Konzilsakten für Papst Hadrian erstellt wurde und auf die sich manche Kritik Karls des Großen stützte, die er auf dem Frankfurter Konzil 794 und in den Libri Carolini 59 an den Beschlüssen des Konzils von Nikaia übte60. 53 SANSTERRE ebd., I, 34. Es handelt sich um ein Kloster, das der Gottesmutter und dem hl. Gregor von Nazianz geweiht war. Von letzterem hatten die Nonnen Reliquien aus Byzanz mitgebracht. 54 SANSTERRE, Les moines grecs (wie Anm. 52), I, 42 f.; MANGO, La culture grecque (wie Anm. 1), 716. 55 MANGO ebd., 715 (Klöster). Über die Briefe des Studiten an die Päpste Leo III. und Paschalis I. vgl. PRATSCH, Theodoros (wie Anm. 17), 175 und 253 f. 56 SANSTERRE, Les moines grecs (wie Anm. 52), I, 68. 57 MANGO, La culture grecque (wie Anm. 1), 709; SANSTERRE, Les moines grecs (wie Anm. 52), 72; Ε. V. MALTESE, Appunti su Zaccaria traduttore di Gregorio Magno, in: La traduzione dei testi religiosi. Hg. v. C. Moreschini u. G. Menestrina, 1994, 243-252. 58 MANGO, La culture grecque (wie Anm. 1), 692. 59 Deren Echtheit wird allerdings neuestens bezweifelt von Ρ. SPECK, Die Interpolationen in den Akten des Konzils von 787 und die Libri Carolini, 1998. 60 Zur Mangelhaftigkeit der Übersetzung vgl. CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 36; SANSTERRE, Les moines grecs (wie Anm. 52), 69; W. HARTMANN, Das Konzil von Frankfurt 794 und Nizäa 787, in: Annuarium Historiae Conciliorum 20. 1988, 307-324; E. LAMBERZ, Studien zur Überlieferung der Akten des VII. Ökumenischen Konzils, in: Dt. Archiv 53, 1997, 1 —43, hier 3-6.
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Aber auch am Hof Karls des Großen blieb das Griechische nicht ganz unbeachtet. So wird berichtet, der Langobarde Paulus Diaconus habe in den Jahren 782-86 die Hofkleriker in dieser Sprache unterwiesen; freilich darf man sich diesen Unterricht nicht zu anspruchsvoll vorstellen61. Noch weniger ist von den angeblichen Griechischkenntnissen Karls des Großen und seines Sohnes Ludwig des Frommen zu halten, über die einige Quellen berichten62. Aus dieser Sicht war es durchaus angebracht, daß im Rahmen der Heiratsverhandlungen von 781 ein Griechischlehrer aus Byzanz zur Unterweisung der Braut nach Aachen entsandt wurde63. Natürlich beherrschte man in den griechischen Klöstern Italiens die Sprache nach wie vor recht gut. So hatte Papst Hadrian I. sicher mit Bedacht Petras, den Abt des griechischen Sabasklosters in Rom, zu einem der beiden Konzilslegaten bestimmt, da er, wie ausdrücklich gesagt wird, in beiden Sprachen bewandert war64. Es verwundert daher nicht, daß zu der Zeit nur in Klöstern Italiens umfangreichere griechische Handschriftensammlungen und Skriptorien anzutreffen sind65. Kulturelle Einflüsse des abendländischen Westens auf Byzanz werden in jüngerer Zeit von namhaften Forschern für zwei Bereiche angenommen, in der Entwicklung der Buchschrift und in der Emailtechnik. Etwa zeitgleich liegt die Entwicklung der karolingischen und der byzantinischen Buchminuskel, so daß man nur schwer an einen Zufall glauben kann. Mango hatte die Ursachen zunächst in den Kontakten der Studitenmönche mit Rom gesucht . Da jedoch nach neueren Erkenntnissen die griechische Minuskel nicht im Studioskloster zu Konstantinopel, sondern eher in Kleinasien oder gar in Palästina entstanden ist, hat er später seine These modifiziert und auf die vielfältigen Beziehungen von Mönchen aus Byzanz, Palästina und Syrien zu Klöstern Italiens und insbesondere Roms hingewiesen, die auch die Kenntnis der karolingischen Minuskel an den Osten vermittelt hätten67. Jedenfalls nimmt er an, daß der Westen hier der Gebende war, denn auch die in dieser Zeit aufkommenden ältesten Liniensysteme in byzantinischen Handschriften gehen auf westliche Vorbilder zurück68.
M A N G O , La culture grecque (wie Anm. 1 ) , 6 9 3 . EBERSOLT, Orient (wie Anm. 2 3 ) , 4 2 weist noch auf die Nachricht von der Gründung einer kirchlichen Schule in Osnabrück hin, an der man auch griechische Studien betrieb, und auf die Tatsache, daß Alkuin in York Griechisch studiert habe. 62 EBERSOLT, Orient (wie Anm. 23), 41. 63 LILIE, Byzanz (wie Anm. 9), 193. 64 SANSTERRE, Les moines grecs (wie Anm. 5 2 ) , 7 3 . 65 M A N G O , La culture grecque (wie Anm. 1), 710. 66 M A N G O , La culture grecque (wie Anm. 1), 716-718. 67 C. M A N G O , L'origine de la minuscule, in: La paleographie grecque et byzantine. Hg. v. Centre Nationale de la Recherche Scientifique (CNRS), 1977, 175-180. 68 M A N G O ebd., 177. M A N G O verweist auch auf die zoomorphe Initiale nordischen Typs, die um diese Zeit in Byzanz erscheint und ohne Vermittlung von Griechen aus Italien nicht erklärbar sei. Der erste Beleg für diese findet sich bezeichnenderweise in einer um 800 in Rom geschriebenen griechischen Handschrift, dem Vat. gr. 1666. 61
Formen und Wege des Kontaktes zwischen Bvzanz und dem Westen
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Seit den späteren 80er Jahren plädiert Buckton 69 für die führende Rolle des Westens bei der Entwicklung der byzantinischen Emailtechnik. In Bvzanz kannte man zunächst nur das griechische Filigran-Verfahren, den dünnen Auftrag farbiger Glasschmelze innerhalb der durch Metalldrähte gebildeten Kammern. Die früher als typisch byzantinisch bezeichnete Vollschmelz- oder Cloisonne-Technik, bei der die aus Metallstreifen gebildeten Zellen völlig mit Glasschmelze gefüllt sind und die aus Glas und Metall zusammengesetzte Oberfläche am Schluß abgeschliffen und poliert wird, ist nach Buckton hingegen zuerst im karolingischen Westen belegt 70 . Doch sind auch byzantinische Einflüsse auf die Hofkunst Karls des Großen nicht zu bezweifeln. Die Frage ist nur, welchen Weg sie nahmen. Läßt sich alles durch die Übernahme byzantinischer Vorbilder aus Italien erklären, oder sind auch direkte byzantinische Vorlagen anzunehmen? Was die Architektur betrifft, so hat man früher vermutet, das Oktogon der Aachener Pfalzkapelle sei nach dem Vorbild des Thronsaales im byzantinischen Kaiserpalast, des sog. Chrysotriklinos, gebaut worden, doch kommt wohl nur San Vitale in Ravenna in Frage. Hier hielt sich Karl zwischen 787 und 801 mehrmals auf, und er hielt San Vitale für die Palastkapelle Theoderichs des Großen, in dem er sein Vorbild sah71. Ferner gestaltete Karl die Aula Regia in seiner Aachener Pfalz als monumentale Halle mit Apsis nach dem Vorbild der als Thronsaal dienenden Basilika Konstantins des Großen in Trier 72 . So läßt sich bereits an der Architektur erkennen, was auch für andere Zweige der Kunst gilt: Karl sah im Rahmen einer renovatio Imperii Romani nicht in der zeitgenössischen Kunst der Byzantiner, sondern in der des spätantiken christlichen Römischen Reiches sein Vorbild 73 . In der Buchmalerei der Hofschule Karls des Großen ist eine Gruppe von Handschriften besonders zu nennen, in deren Malstil man spätantike Vorbilder zu erkennen glaubte. Es handelt sich um die Gruppe des sog. Wiener Krönungsevangeliars, die wohl in die letzten Jahre des 8. Jh. zu datieren ist. Es wird berichtet, daß dieses auf den Knien 69 D. BUCKTON, Byzantine Enamel and the West, in: Byzantium and the West. Hg. v. J. D. HowardJohnston, 1988 = Byz. Forschungen 13, 1988, 235-244; D. BUCKTON, "Chinese Whispers": The Premature Birth of the Typical Byzantine Enamel, in: Byzantine East, Latin West. Hg. v. D. Mouriki, 1995,591-595. 70 Eine dritte Emailtechnik, der sog. Senkschmelz, ist wiederum typisch byzantinisch; sie wurde aber gemäß Buckton erst im 10. Jh. entwickelt. Bei diesem Verfahren sind die Bildelemente aus Email in eine Metallplatte "versenkt". 71 G. BANDMANN, Die Vorbilder der Aachener Pfalzkapelle, in: Karl der Große, Bd. III (wie Anm. 32), 424^162. 72 E. LEHMANN, Die Architektur zur Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große, Bd. III (wie Anm. 32), 3 0 1 - 3 1 9 , hier 307.
73 DEMUS, Byzantine Art (wie Anm. 26), 78. Aus dieser Sicht wurden zwar auch byzantinische Elemente aufgenommen, aber "almost by chance, and ... by mistake", wie Demus sagt, der in diesem Zusammenhang von einem "odd quid pro quo", spricht, einem Mißverständms also, insofern bvzantische Vorbilder hier und da als vermeintlich antike angesehen wurden. Ähnlich ist es zu deuten, wenn Karl auf Münzen den Lorbeerkranz trägt und damit an die Münzporträts der Cäsaren vor Konstantin dem Großen anknüpft, der sich erstmals mit dem Diadem der hellenistischen Könige abbilden ließ.
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Karls des Großen gefunden wurde, als Otto III. im Jahr 1000 sein Grab in Aachen öffnen ließ. Mit seinem illusionistischen, plastisch modellierenden Stil wird es auf die sog. hellenistische bzw. antikisierende Tradition in Byzanz zurückgeführt. Für die Ausführung der Miniaturen durch byzantinische und nicht durch italienische Künstler wird u. a. das geringe Anhaften der Farben am Grund angeführt, da man auch in byzantinischen Miniaturen des 9. Jh. ein leichteres Abblättern der Farbe feststellen konnte. Ferner verweisen einige Details wie große Hände oder kräftige Konturen auf Byzanz74. Ein spätantikes griechisches Vorbild wird ferner für den in antikem Linearismus gestalteten karolingischen Utrecht-Psalter, der um 825 in einem Kloster bei Reims entstand, angenommen75. Im Bereich der Plastik sind die Bronzetüren an der Palastkapelle in Aachen zu nennen, welche griechischen Einfluß zeigen76, aber auch Elfenbeinarbeiten. Allerdings sind die meisten Werke der karolingischen Elfenbeinglyptik von italienischen Vorbildern aus dem 5. Jh. beeinflußt, nach Meinung von Demus einige aber auch von Vorbildern aus Konstantinopel, die im frühen 6. Jh. entstanden sein dürften77. Berühmte Beispiele sind die Elfenbeinplatten auf dem vorderen und hinteren Einbanddeckel des Lorscher Evangeliars, deren vermutete spätantike Vorbilder stilverwandt mit mittelbyzantinischen Elfenbeinarbeiten sind78. Am Schluß eine kurze Bemerkung zu den Reisewegen. Wo immer von diesen die Rede ist, heißt es entweder, daß die byzantinischen Gesandten über die Adria79 oder, meist aus kirchenpolitischen Gründen, über Rom80 ins Frankenreich oder zurück nach
Nach Meinung von W. KOEHLER, Die karolingischen Miniaturen, Bd. III/L, Die Gruppe des Wiener Krönungs-Evangeliars, Text, 1960, 20 wurden die Miniaturen der vier Evangelisten von zwei griechischen Künstlern ausgeführt, die gegen Ende des 8. Jh., wohl im Rahmen einer byzantinischen Gesandtschaft, nach Aachen kamen und dort im Auftrag des Hofes die Handschrift illuminierten. Je einer von ihnen malte Matthäus und Markus bzw. Lukas und Johannes. Zur Annahme der byzantinischen Deszendenz vgl. J. BECKWITH, Byzantine Influence on Art at the Court of Charlemagne, in: Karl der Große (wie Anm. 3 2 ) , Bd. III, 2 8 8 - 3 0 0 , hier 2 9 7 f.; DEMUS, Byzantine Art (wie Anm. 2 6 ) , 6 1 und 7 7 . KOEHLER ebd., 51 f. nimmt an, daß dieser Stil in drei weiteren Evangeliaren nachwirkte. Sie werden heute in Aachen (Schatzkammer des Münsters; vgl. KOEHLER ebd., 7 2 ) , Brüssel (Bibliotheque Royale, cod. 1 8 7 2 3 , olim 4 6 2 ; vgl. KOEHLER ebd., 8 5 ) und Brescia (Biblioteca Civica Queriniana, Cod. Ε . II. 9; vgl. KOEHLER ebd., 8 1 ) aufbewahrt. 74
Les illustrations du Psautier d'Utrecht, 1 9 7 8 . Influence (wie Anm. 7 4 ) , 2 9 9 . 7 7 DEMUS, Byzantine Art (wie Anm. 2 6 ) , 7 0 - 7 4 . 7 8 DEMUS ebd., 7 4 ; BECKWITH, Influence (wie Anm. 7 4 ) , 3 0 0 . Der vordere Deckel mit der Marienplatte wird heute im Victoria und Albert Museum zu London, der rückwärtige Deckel, der Christus als Sieger über Untiere zwischen zwei Engeln zeigt, im Vatikanischen Museum aufbewahrt. 79 Diesen Weg nahm im Jahr 810 ein Gesandter, der ursprünglich zu Pippin nach Venetien und dann zu Karl weiterreiste; vgl. CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3 ) , 9 3 ; I. CH. DIMITROUKAS, Reisen und Verkehr im Byzantinischen Reich vom Anfang des 6. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, 1997, 253. Die Reise einer fränkischen Gesandtschaft über Venetien nach Byzanz ist für 813 bezeugt; vgl. 75
S. DUFRENNE,
76
BECKWITH,
DIMITROUKAS e b d . , 2 5 4 . 80
So ζ.
B.
im Jahr
803;
vgl.
CLASSEN,
Karl der Große (wie Anm.
3), 8 6
f.
Formen und Wege des Kontaktes zwischen Byzanz und dem Westen
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Byzanz reisten, wenn sie Karl nicht gleich in Italien trafen 81 . Einmal ist von einer Landung in Südfrankreich die Rede 8 '. Sie setzt natürlich voraus, daß die Gesandten ähnlich wie bei der Fahrt über Rom nicht durch die Adria, sondern durch das Meer westlich von Italien segelten. In Griechenland wird einmal Monembasia als Zwischenstation genannt 83 . Der Weg über die Donau und den Balkan nach Byzanz ist für diese Zeit nicht zu belegen 84 . Über die Dauer der Reise von Konstantinopel ins Frankenreich oder zurück liegen für unsere Zeit keine konkreten Angaben vor. Man wird je nach dem Reiseweg und eventuellen Zwischenaufenthalten etwa sechs Wochen und mehr ansetzen dürfen.
81 781 trafen die Gesandten Karl in Rom; vgl. SPECK, KONSTANTIN VI. (wie Anm. 9), 119. 787 begegneten sie ihm bei Capua; vgl. CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 3), 32. 82 S. o. Anm. 2. 83 CLAUDE, Handel (wie Anm. 43), 150. Patras wird als Zwischenstation erst im 10. Jh. erwähnt; vgl. DIMITROUKAS, Reisen (wie Anm. 79), 254. 84
DIMITROUKAS e b d . , 160 f.
Lutz Ε. ν. Padberg
Zur Spannung von Gentiiismus und christlichem Universalitätsideal im Reich Karls des Großen
Für Hrabanus Maurus war die Sache klar: Das unter den Karolingern im Westen entstandene Vielvölkerreich wurde durch die Kirche als Einheitsinstrument im Innersten zusammengehalten. Einen Unterschied zwischen den dazugehörigen Nationen dürfe es nicht geben, denn die katholische Kirche sei eine und über den ganzen Erdkreis verbreitet1. Ein anderer Kirchenmann, der geradezu fanatische Vorkämpfer der karolingischen Reichseinheitsidee, Erzbischof Agobard von Lyon, brachte seine Sicht mit dem ganzen Gewicht biblischer Vorgaben auf den Punkt: Ein Glaube, eine Hoffnung, eine Liebe gelte für alle Völker, und alle Menschen sollten den einen Gott anrufen, eine Heiligung und ein Reich erbitten. Weil ihm der Regionalismus der immer noch gültigen Volksrechte ein Dorn im Auge war, verband er die Einheit des Reiches mit dem Ideal der christlichen Universalität und der Gleichheit aller Menschen. Ohne Zögern übertrug Agobard die bekannte Formel des Paulus aus dem Kolosserbrief, nach der es in Christus 'nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Barbaren oder Sythen, Sklaven oder Freie' gebe, auf seine Gegenwart und postulierte: 'nicht mehr Aquitanier und Langobarde, Burgunder oder Alemanne' 2 . Solche Programmäußerungen ließen sich gut hören, zumal wenn man sich dabei auf die Bibel berufen konnte. Vergessen werden darf dabei jedoch nicht, daß Agobard sein 1 Hrabanus Maurus, Epistolarum Fuldensium fragmenta. Hg. v. E. DÜMMLER U. a. (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae 5), 1898-1899, ND 1978, Nr. 11, 520 Z. 15: Differentia non debet esse in diversitate nationum, quia una est ecclesia catholica per totum orbem diffusa. Nach A. ANGENENDT, Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter, in: Herkunft und Ursprung. Hg. v. P. Wunderli, 1994,27-52,41 und DERS., Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 1997, 337. - Der folgende Beitrag ist in der Vortragsform belassen und nur um die erforderlichen Nachweise ergänzt worden. 2 Agobard von Lyon, Adversus legem Gundobadi. Hg. v. L. VAN ACKER (Corpus Christianorum Continuatio mediaevalis 52), 1981,17-28, c. 3,20 Z. 10 f. nach Col 3,9-11; vgl. ANGENENDT, Der eine Adam (wie Anm. 1), 41; DERS., Geschichte der Religiosität (wie Anm. 1), 347 und L. E. v. PADBERG, Unus populus ex diversis gentibus. Gentiiismus und Einheit im früheren Mittelalter, in: Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Hg. v. C. Lüth u. a., 1997, 155-193, 183.
Zur Spannung von Gentiiismus und christlichem Universalitätsideal
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engagiertes Plädoyer Adversus legem Gundobadi zur Zeit Ludwigs des Frommen geschrieben hat, als die Reichseinheitsidee alles andere als unumstritten war3. Aber immerhin kommt hier ein Echo auf eine Epoche zum Ausdruck, in der das Ideal der Universalität die Richtlinien der Politik bestimmte. Ein paar Generationen früher sah das alles noch ganz anders aus. Das verdeutlicht ein kalkuliert demütiges Schreiben, das der greise Bonifatius im Jahre 752 an Abt Fulrad von St. Denis gerichtet hat. Der eigentliche Adressat war gar nicht Fulrad, sondern König Pippin, bei dem der Erzkaplan des Bonifatius Bitte um Fürsorge für seine angelsächsischen Mitarbeiter und um die Bestallung Luis zu seinem Nachfolger in 'spiritueller Freundschaft brüderlicher Liebe' unterstützen sollte4. Nichts macht die kirchenpolitisch höchst prekäre Lage des Bonifatius deutlicher als dieser briefliche Umweg über einen Vertrauten des Königs. Stand aber der führende Kopf der Angelsachsengruppe im Abseits, so galt das erst recht für deren Mitglieder selbst. Für diese sollte sich nun Fulrad bei dem 'ruhmreichen und geliebten König Pippin', dem 'heißen Dank zu sagen fiir alle Werke der Liebe' Bonifatius nicht vergaß, verwenden5. Bonifatius fühlte sein Lebensende herannahen und sorgte sich daher um seine Mitarbeiter, deren zukünftige Situation, wie er wußte, von der Huld des Herrschers abhängen würde. Denn, so die bezeichnende Begründung der gleich 'im Namen Christi' vorgetragenen Bitte, 'es handelt sich um fast lauter Landfremde', sunt enim pene omnes peregrin f . Eindringlich stellt Bonifatius ihr 'armseliges Leben' dar, das vor allem 'an der Heidengrenze' des herrscherlichen Schutzes bedürfe7. 'Einige sind als Priester an
3 Dazu generell E. BOSHOF, Erzbischof Agobard von Lyon, 1969; DERS., Ludwig der Fromme, 1996; J. FRIED, Ludwig der Fromme, das Papsttum und die fränkische Kirche, in: Charlemagne's Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Hg. v. P. Godman u. R. Collins, 1990, 231-273 und DERS., Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, 1994, 366 ff. 4 S. Bonifatii et Lulli Epistolae. Hg. v. M. TANOL (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae selectae in usum scholarum 1), 1916, ND 1989; hier benutzte Ausgabe: Briefe des Bonifatius. Hg. v. R. RAU (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom SteinGedächtnisausgabe 4b), 1968, ND 1994, Nr. 93, 312-315, 312 Z. 25.· Fratemae dilectionis tuae spiritalem amicitiam. Vgl. einführend T. SCHIEFFER, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, 1954, ND 1972; L. E. v. PADBERG, Wynfreth-Bonifatius, 1989 und FRIED, Der Weg in die Geschichte (wie Anm. 3), 220 ff. 5 Bonifatii Epistolae (wie Anm. 4), 314 Z. 3-7: ut meo verbo gloriosum et amabilem regem nostrum Pippinum salutaveris et illi magnas gratias referas de omnibus pietatis operibus, quae mecum fecit; et ut Uli referas, quod mihi et amicis meis veri simile esse videtur. Videtur, ut vitam istam temporalem et cursum dierum meorum per istas infirmitates cito debeamßnire. 6 Bonifatii Epistolae (wie Anm. 4), 314 Z. 7-11: Propterea deprecor celsitudinem regis nostri pro nomine Christi filii Dei, ut mihi nunc viventi indicare et mandare dignetur circa discipulos meos, qualem mercedem postea de Ulis facere voluerit. Sunt enim pene omnes peregrini. Zum peregriniBegriff einführend A. ANGENENDT, Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frühen Mittelalters, 1972, 127 ff. und L. E. v. PADBERG, Mission und Christianisierung. Formen und Folgen bei Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert, 1995, 61 ff. 7 Bonifatii Epistolae (wie Anm. 4), 314 Z. 25-27: Propterea hoc maxime autem fieri peto, quia presbiteri mei prope marcam paganorum pauperculam vitam habeant.
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vielen Orten zum Dienst an der Kirche und den Leuten eingesetzt; andere sind Mönche in unseren Klöstern oder für Kinder bestellt, die lesen und schreiben lernen sollen; es gibt auch einige ältere Leute, die lange Zeit mit mir gelebt, gearbeitet und mir geholfen haben. Für sie alle bin ich bekümmert, damit sie nicht nach meinem Tode verlorengehen, sondern als Zeichen Eurer Belohnung den Rat und den Schutz Eurer Hoheit erfahren, und nicht zerstreut sind wie die Schafe, die keinen Hirten haben, und nicht die Völker unweit der Grenze gegen die Heiden hin das Gesetz Christi verlieren'8. Anders als später Agobard sah Bonifatius in der Mitte des 8. Jahrhunderts die christliche Gleichheit der Menschen also noch nicht verwirklicht. Im Gegenteil, selbst die Mitarbeiter des berühmten päpstlichen Legaten in Germanien schienen in ihrer Versorgung gefährdet, und das nur deshalb, weil sie 'Ausländer' waren. Schlaglichtartig erhellen die Aussagen von Bonifatius und Agobard unterschiedliche Situationen, wobei wir vorerst beiseite lassen, daß der eine die Realität und der andere ein Ideal beschrieben hat. Deshalb dürfte es lohnend sein, nach dem Verhältnis von Gentiiismus und christlicher Universalität im Vielvölkerreich der Karolinger zu fragen9. Um die Problematik vollends deutlich zu machen, ist ein knapper Rückblick erforderlich. Die Vorstellung eines für alle zuständigen Gottes gab es bei den archaischen Völkern nicht, vielmehr hatte jedes seine eigenen Gottheiten. Ganz urtümliche Abstammungsgruppen konnten sogar meinen, jedes einzelne Dorf habe seinen eigenen Glauben und seine eigene Sonne für sich10. Im Gegensatz dazu stand die Idee der Einheit aller Menschen im Christentum, die vor allem von Paulus entfaltet worden ist. Indem er Adam als den einen Stammvater der Menschheit bezeichnete, durch den die Sünde in die Welt gekommen sei, und ihm die für alle gültige Erlösungstat Christi gegenüberstellte, in der alle trennenden Mauern zwischen den Menschen niedergerissen 8 Bonifatii Epistolae (wie Aran. 4), 314 Ζ. 11-18: Quidam presbiteri per multa loca ad ministerium aecclesiae et populorum constituti; quidam sunt monachi per cellulas nostras et ad infantes legentes litteras ordinati; sunt et aliqui seniores, qui longo tempore mecum viventes laboraverunt et me aduivabant. De his omnibus sollicitus sum, ut post obitum meum non disperdantur, sed ut habeant mercedis vestrae consilium et patrocinium celsitudinis vestrae et non sint dispersi sicut oves non habentes pastorem et populi prope marcam paganorum non perdant legem Christi. Dazu L. E. v. PADBERG, 'Fidelis intercessor in caelesti Hierusalem'. Formen und Funktionen der BonifatiusVerehrung, in: Fuldaer Geschichtsblätter 70, 1994 [erschienen 1996], 53-74. 9 Die folgenden Gedanken sind zuerst entfaltet worden von ANGENENDT, Der eine Adam (wie Anm. 1), 32 ff.; v. PADBERG, Unus populus (wie Anm. 2), 159 ff.; A. ANGENENDT, Mission - christlich und frühmittelalterlich, in: Die Vita Sancti Liudgeri. Text, Übersetzung und Kommentar, Forschungsbeiträge. Hg. v. E. FREISE, 1999, 127-149 und L. E. v. PADBERG, Zum Sachsenbild in hagiographischen Quellen, in: Sachsen und Franken in Westfalen. Hg. v. H.-J. Hässler, 1999, 173-191, 187 ff.; vgl. A. ANGENENDT, Die Christianisierung Nordwesteuropas, in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Hg. v. C. Stiegemann u. M. Wemhoff, 1999, 42(M33. 10 Beschrieben von H.-D. KAHL, Die ersten Jahrhunderte des missionsgeschichtlichen Mittelalters. Bausteine für eine Phänomenologie bis ca. 1050, in: Die Kirche des früheren Mittelalters. Hg. v. K. Schäferdiek, 1 9 7 8 , 1 1 - 7 6 , 2 9 f.; vgl. ANGENENDT, Der eine Adam (wie Anm. 1), 2 8 und H. WOLFRAM, Origo et religio. Ethnische Traditionen und Literatur in frühmittelalterlichen Quellen, in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit. Hg. v. W . Hartmann, 1 9 9 3 , 2 7 - 3 9 .
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seien, entwickelte Paulus die dann in der Kirche besonders von Augustinus nachhaltig propagierte Vorstellung des Monogenismus. Sie sollte den Gentiiismus, also "die Aufteilung der Menschheit in mehrere oder gar viele, jeweils von einem eigenen Stammvater abstammende Nationen, grundsätzlich" überwinden 11 . In der Umsetzung des Missionsbefehls Christi geschah das dann auch geschichtswirksam, freilich in der Konfrontation mit dem Polytheismus. Rasch eingeschränkt wurde diese Idee allerdings durch die Entstehung eigenständiger Kirchenverbände und durch die Begrenzung der Gesamtheit der Völker auf diejenigen innerhalb des Imperiums. Sie geriet in der Dekomposition der Alten Welt vollends in die Krise durch die verschiedenen germanischen Reichsbildungen. Denn sie verdrängten die Idee des umfassenden Imperiums zugunsten des Gentiiismus und bewahrten ihre auf den eigenen Volksbereich konzentrierten Vorstellungen auch nach ihrer Christianisierung. Das wiederum zog "die Parzellierung des Christentums zu 'Gentilkirchen'" und den Verlust des Zusammengehörigkeitsbewußtseins der christlichen Völker des Westens nach sich12. "Jenseits der eigenen Welt beginnt die 'Fremde', die einen im Grunde nichts angeht" 13 . Damit aber war eine Bewährungsprobe für das Christentum gekommen, denn es verstand sich doch als Religion der Ökumene, also des ganzen Erdkreises mit allen seinen Völkern 14 . Das Papsttum hatte sich den Gentilkirchen gegenüber dieses Bewußtsein bewahrt, was jene noch bis ins 8. Jahrhundert hinein freilich wenig kümmerte. Rom lag fern. Trotzdem sollte die Überwindung des Gentiiismus durch ein neues Gemeinschaftsbewußtsein im Abendland tatsächlich vom Zentrum der westlichen Christenheit ausgehen. Papst Gregor der Große ist es gewesen, der dem Monogenismus neue Geltung verschaffte. Die von ihm in Gang gesetzte planmäßige Mission bei den Angelsachsen und deren Aktivität auf dem Kontinent zielte auf die Integration aller erreichba-
11 ANGENENDT, Der eine Adam (wie Aran. 1), 33: dort 33 ff. und bei v. PADBERG, Unus populus (wie Anm. 2), 160 f. mit weiteren Nachweisen zu den einschlägigen Paulus-Stellen Gal 3,28, Eph 4,46 und Rm 5,1-21; vgl. C. MÖLLER, Gemeinde I. Christliche Gemeinde, in: Theologische Realenzyklopädie 12, 1984, 316-335, 318 f. Zum Monogenismus ANGENENDT, Mission (wie Anm. 9), 129 ff.; K. RAHNER, Theologisches zum Monogenismus, in: DERS., Schriften zur Theologie I, 1954, 253-322; F. MILDENBERGER, Adam IV. Systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie 1, 1977, 4 3 M 3 7 , 434 f und R. SCHULTE, Monogenismus, in: Lexikon für Theologie und Kirche 7, 31998,417 f. 12 ANGENENDT, Der eine Adam (wie Anm. 1), 39; dazu zuletzt DERS., Mission (wie Anm. 9), 127 ff. sowie zur Konfrontation mit dem Polytheismus L. E. v. PADBERG, Christen und Heiden. Zur Sicht des Heidentums in ausgewählter angelsächsischer und fränkischer Überlieferung des 7. und 8. Jahrhunderts, in: Iconologia sacra. Hg. v. H. Keller u. N. Staubach, 1994, 291-312; DERS., Mission und Christianisierung (wie Anm. 6), 32 ff. und zu den Folgen DERS., Odin oder Christus? Loyalitätsund Orientierungskonflikte in der frühmittelalterlichen Christianisierungsepoche, in: Archiv für Kulturgeschichte 77, 1995,249-278. 13 A. ANGENENDT, Das Frühmittelalter, 2 1995 ( 1 1990), 154. 14 Dazu einführend H.-W. GENSICHEN, Glaube für die Welt. Theologische Aspekte der Mission, 1971; N. BROX, Zur christlichen Mission in der Spätantike, in: Mission im Neuen Testament. Hg. V. K. Kertlege, 1982, 190-237; ANGENENDT, Mission (wie Anm. 9), 127 ff, 132 f und noch immer A. v. HARNACK, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 4 1924.
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ren heidnischen Völker in die eine Kirche der weltumspannenden Christenheit15. Es versteht sich von selbst, daß sich mit der kirchlichen auch Chancen für die politische Einheit boten, was von weitblickenden Herrschern auch sofort genutzt werden sollte. 'Weltumspannend' bedeutete hier zunächst einmal die Bindung der bereits bestehenden Gentilkirchen und der neu wachsenden Landeskirchen an die Zentrale in Rom. Auf dem Kontinent wurde das bereits in England erprobte neue Missionskonzept erstmalig von Willibrord umgesetzt, wobei die politischen Implikationen von Anfang an mit im Spiel waren. Das programmatisch Neue in Willibrords Mission ist bekanntlich, daß er sich in einer Art doppelter Rückversicherung sowohl vom fränkischen Herrscher wie auch vom Papst beauftragen ließ und damit den ersten "Ansatzpunkt der großen, die Geschichte des abendländischen Mittelalters bestimmenden Roma-zentrischen Kirchenorganisation nördlich der Alpen" schuf16. Willibrords zweite Romreise im Jahre 695 geschah im Auftrag Pippins mit dem Ziel, zum Erzbischof der Friesen geweiht zu werden. Zukunftsweisend war dabei vor allem die von Pippin mitgetragene Bindung des Erzbischofsamtes an die Palliumverleihung in Rom. Das war in der Tat ein Umsturz in der bis dahin geltenden Kirchenverfassung, denn es bot den Päpsten die Möglichkeit, "in die landeskirchlichen Verhältnisse einzugreifen und die zentralen Metropolitansitze an sich zu binden"17. Das ist freilich nur die eine, die kirchliche Seite der Medaille. Rom vertrat aus Eigeninteresse und aus theologischer Überzeugung die Universalitätsidee, was sich auch deshalb anbot, weil das Missionspersonal in der Regel aus Ausländern bestand. Die Überwindung des Gentiiismus war damit noch nicht gegeben, dazu bedurfte es ferner
15 Vgl. P. BENKART, Die Missionsidee Gregors des Großen in Theorie und Praxis, Masch.-schr. Diss. 1946; Κ. SCHÄFERDIEK, Die Grundlegung der angelsächsischen Kirche im Spannungsfeld insular-keltischen und kontinental-römischen Christentums, in: Die Kirche des früheren Mittelalters. Hg. v. K. Schäferdiek, 1978, 149-191; F. PRINZ, Von der Bekehrung der Angelsachsen bis zu ihrer Missionstätigkeit im Frankenreich, in: Angli e sassoni al di qua e al di la del mare, 1986, 701-734; G. JENAL, Gregor d. Große und die Anfange der Angelsachsenmission (596-604), in: ebd., 1986, 793849; R. A. MARKUS, Gregory the Great and his World, 1997, 51 ff., 177 fT. und L. Ε. ν. PADBERG, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, 1998, 69 ff. Besonders auffällig ist bei Gregor die Kombination von Planmission und eschatologischer Geschichtssicht, siehe v. PADBERG, Mission und Christianisierung (wie Anm. 6), 41 ff. 16 W. H. FRITZE, Zur Entstehungsgeschichte des Bistums Utrecht, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 35, 1971, 107-151, 151; vgl. die Sammelbände Willibrord, Apostel der Niederlande, Gründer der Abtei Echternach. Hg. v. G. Kiesel u. J. Schroeder, 1989 und Willibrord, zijn wereld en zijn werk. Hg. v. P. Bange u. A. G. Weiler, 1990 sowie A. ANGENENDT, Willibrord im Dienste der Karolinger, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 175, 1973, 63-113; L. E. v. PADBERG, Heilige und Familie. Studien zur Bedeutung familiengebundener Aspekte in den Viten des Verwandten- und Schülerkreises um Willibrord, Bonifatius und Liudger, 2 1997, 19 ff. sowie E. HONEE, Sint Willibrord in wisselend historisch perspectief, in: Tijdschrift voor Theologie 31,1991, 357-380. 1 7 ANGENENDT, Das Frühmittelalter (wie Anm. 1 3 ) , 2 7 6 ; dazu ebd., 2 6 8 ff.; J. SCHROEDER, Willibrord und Rom, in: Hemecht 37, 1985, 5-13; A. ANGENENDT, Willibrord als römischer Erzbischof, in: Willibrord, Apostel der Niederlande (wie Anm. 1 6 ) , 3 1 - 4 1 und L. E. v. PADBERG, Missionare und Mönche auf dem Weg nach Rom und Monte Cassino im 8. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1 1 1 , 2 0 0 0 , im Druck.
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des politischen Willens, und damit kommen wir zu der zweiten Seite der Medaille. Denn Pippin und seine Nachfolger schwenkten, wenn auch mit Einschränkungen, bereitwillig auf die römische Linie ein, weil sie diese zur Stabilisierung ihrer Politik nutzen konnten. Am nachhaltigsten zeigt das der Staatsstreich der Karolinger von 751, der trotz der nachgeschobenen compaternitas-Vereinbarung von 754 zuerst einmal ein Zweckbündnis der beiden neuen Zentralmächte des Westens war 18 . An der sich herausbildenden politischen Einheit des karolingischen Großreiches hatte die christliche Universalitätsidee allemal entscheidenden Anteil. Trotz dieser Entwicklung waren indes die alten gentilen Vorstellungen nach wie vor lebendig. Das mußte selbst Bonifatius schmerzlich erfahren. Nach der Herrschaftsentsagung Karlmanns 747 ging die von Bonifatius in Gang gebrachte Reform des fränkischen Episkopates mehr und mehr an einheimische Kräfte über und er selbst geriet in eine Randposition. Deshalb auch machte er sich die oben zitierten Sorgen um die Zukunft seiner Mitarbeiter. Diese kirchenpolitische Kaltstellung des Bonifatius, an der der Angelsachse aufgrund seiner zunehmenden Schroffheit freilich nicht ganz unschuldig gewesen sein dürfte, zeigt nachhaltig, wie schwer trotz mancher Entwicklungsschritte der christliche Einheitsgedanke zu etablieren war 19 . Die gentile Tendenz zur Abgrenzung und zur Distanz dem Fremden gegenüber hielt sich hartnäckig. Ein weiterer Beleg für die wachsende Distanz der Franken den Angelsachsen gegenüber ist der Umstand, daß nach seinem Martyrium im Juni 754 die Anerkennung des Bonifatius als Heiliger zwar bei der Bevölkerung seiner Wirkungsgebiete sofort begann, sich auf offizieller Ebene aber nur sehr schleppend entwickelte 20 . Das nötigte seinen Landsmann und Nachfolger in Mainz, Lul, zu vorsichtigem Taktieren. Unterstützung erhielt er durch eine Synode, die noch 754 unter der Führung des Erzbischofs Cuthberht von Canterbury zusammentrat. Beschlossen wurde die Erhebung des Bonifatius zum besonderen Schutzpatron der Engländer. Wichtiger noch ist in diesem Zusammenhang die Sorge der Synodalen um die Zukunft der Angelsachsen auf dem Kontinent. Lul wurde als 'Lehrer und Lenker' der einst Bonifatius unterstellten Knechte Gottes anerkannt, und Cuthberht versicherte dem neuen pater familias seine Unterstützung und Hilfe 21 . Ob Lul diese offizielle Verlautbarung aus seiner Heimat allerdings beim fränki18
V g l . FRIED, D e r W e g i n d i e G e s c h i c h t e ( w i e A n m . 3 ) , 2 3 1 ff.; R . SCHIEFFER, D i e K a r o l i n g e r ,
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1997, 50 ff.; M. RICHTER, Die 'lange Machtergreifung' der Karolinger. Der Staatsstreich gegen die Merowinger in den Jahren 747-771, in: Große Verschwörungen. Hg. v. U. Schultz, 1998, 48-59, 261 und die Literaturangaben bei v. PADBERG, Mission und Christianisierung (wie Anm. 6), 243 Anm. 54. Zum compaternitas-Bündnis W. AFFELDT, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins, in: Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, 95-187; A. ANGENENDT, Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern, in: Historisches Jahrbuch 100, 1980, 1-94; in Auseinandersetzung damit O. ENGELS, Zum päpstlich-fränkischen Bündnis im 8. Jahrhundert, in: Ecclesia et regnum. Hg. v. D. Berg u. H.-W. Goetz, 1989,21-38. 19 Eingehender dazu SCHIEFFER, Bonifatius (wie Anm. 4), 199 ff; FRIED, Der Weg in die Geschichte (wie Anm. 3), 229 ff und L. Ε. V. PADBERG, Studien zur Bonifatiusverehrung, 1996, 16 ff. 20 Siehe P. KEHL, Kult und Nachleben des heiligen Bonifatius im Mittelalter (754-1200), 1993: v. PADBERG, Fidelis intercessor (wie Anm. 8), 60 ff. und DERS., Unus populus (wie Anm. 2), 177 ff. 21 Bonifatii Epistolae (wie Anm. 4), Nr. 111, 342-351, 350 Z. 4 und 346 Z. 4-9: Praeterea quippe, ut prediximus, vestrae sollicite speculationis curam et quasi taedio absentati patris familias, ut ita dicam,
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sehen Hof und Episkopat viel geholfen hat, ist angesichts seiner etwas prekären Lage eher unwahrscheinlich, hätte man sie dort doch vermutlich als Einmischung von Ausländern in innere Angelegenheiten abgewiesen. Entscheidend ist an dem ganzen Vorgang, daß das bleibende Abstammungsbewußtsein der Angelsachsen ebenso zum Ausdruck kommt wie ihre Erfahrung der Distanz der Franken ihnen gegenüber. Zwar wußte man sich in der einen römischen Kirche zusammengeschlossen, dachte aber unterhalb des Ideals der christlichen Universalität durchaus noch in gentilen Grenzen. Trotzdem sollte das Idealbild der christlichen Universalität in Zukunft zur Grundlage der Politik werden. Denn Karl der Große sah sich in der Pflicht, für die Verteidigung der Kirche und die Ausbreitung des Glaubens zu sorgen und wollte deshalb die religionsgeographische Zweiteilung Europas zumindest dort, w o sie seine Interessen berührte, nicht einfach hinnehmen 2. So war es für ihn schon aus Stabilitätsgründen wichtig, die Rheingrenze zu sichern 23 . Nach der weitgehenden Überwindung des friesischen Widerstandes waren es vor allem die Sachsen, die den Machtzuwachs ihres fränkischen Nachbarn mit Mißtrauen beobachteten. Das Lösungskonzept Karls war denkbar einfach: Integration ins Reich mit militärischen Mitteln und dann mehr oder weniger freiwillige Christianisierung 24 . Die Missionare folgten den Militärs sozusagen auf dem quodammodo confectam nec non et generalitatem subiectorum vobis servorum Dei paternis ajfatibus fraternisque solaciis relevare et consolare, ubicumque et in quocumque negotio prevalemus, /atemur nos semper esse paratos. Cuthberht spricht ausdrücklich von den in generali synodo nostra gefaßten Beschlüssen; 344 Z. 32. Vgl. T. SCHIEFFER, Angelsachsen und Franken. Zwei Studien zur Kirchengeschichte des 8. Jahrhunderts, 1950, 45 ff.; E. FREISE, Lul, in: Neue deutsche Biographie 15, 1987, 515-517; L. E. v. PADBERG, Lul, in: Lexikon für Theologie und Kirche 6, 31997, 1117 f. und DERS., Fiedeiis intercessor (wie Anm. 8), 60 ff. 22 Formuliert an Anlehnung an K. HAUCK, Die Ausbreitung des Glaubens in Sachsen und die Verteidigung der römischen Kirche als konkurrierende Herrscheraufgaben Karls des Großen, in: Frühmittelalterliche Studien 4, 1 9 7 0 , 1 3 8 - 1 7 2 und DERS., Die religionsgeographische Zweiteilung des frühmittelalterlichen Europas im Spiegel der Bilder seiner Gottheiten, in: Fomvännen 82, 1987, 161183.
23 Diesen Aspekt betont P. BROWN, Die Entstehung des christlichen Europa, 1996, 295 ff ; vgl. I. WOOD, The Frontiers of Western Europe. Developments East of the Rhine in the Sixth Century, in: The Sixth Century. Hg. v. R. Hodges u. W. Bowden, 1998,231-253. 24 Vgl. aus der kaum noch zu überblickenden Literatur den Sammelband Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich. Hg. v. W. Lammers, 1970; HAUCK, Ausbreitung des Glaubens (wie Anm. 22); H.-D. KAHL, Karl der Große und die Sachsen, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Hg. v. H. Ludat u. R. C. Schwinges, 1982, 49-130; H. BEUMANN, Die Hagiographie 'bewältigt'. Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle Campagne nell'alto medioevo, 1982, 129-163, ND in: DERS., Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1966-1986. Hg. v. J. Petersohn u. R. Schmidt, 1987, 289-323; E. FREISE, Die Sachsenmission Karls des Großen und die Anfänge des Bistums Minden, in: An Weser und Wiehen, 1983, 57-100; ANGENENDT, Das Frühmittelalter (wie Anm. 13), 296 ff; FRIED, Der Weg in die Geschichte (wie Anm. 3), 248 ff; P. JOHANEK, Fränkische Eroberung und westfälische Identität, in: Westfalens Geschichte und die Fremden. Hg. v. P. Johanek, 1994, 2340; T. CAPELLE, Die Sachsen des frühen Mittelalters, 1998, 129 ff; v. PADBERG, Christianisierung Europas (wie Anm. 15), 89 ff; M. BALZER, Paderborn im frühen Mittelalter (776-1050), in: Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region 1: Das Mittelalter. Hg. v. J. Jarnut, 1999, 3-118, 22 ff.
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Fuße. Dieses wenig einfühlsame Vorgehen mußte zwangsläufig den Gentiiismus der Betroffenen stärken, wußten sie doch, daß ein Zulassen der Mission ihr politisches Überleben gefährden würde. Die sich lange hinziehende Auseinandersetzung zwischen Karl und den Sachsen wurde daher bald auf beiden Seiten als Religionskrieg geführt. Des jungen Königs Kriegsziele waren sicher doppelpolig, nämlich politisch-militärischer und missionarischer Natur 25 . Der Friede, und das bedeutete hier nichts anderes als die endgültige Unterwerfung der Sachsen und ihre Eingliederung in das Frankenreich, ließ jedenfalls lange auf sich warten. Auf der Reichsversammlung zu Lippspringe im Juli des Jahres 782 stellte Karl die Weichen für die Zukunft, indem er die fränkische Grafschaftsverfassung durchsetzte und durch die Verfügung der Capitulatio de partibus Saxoniae alles tat, um das traditionelle Verfassungsgefüge der Sachsen systematisch zu zerstören 26 . In der ''Rechtsform eines Predigens mit eiserner Zunge" zielte die Capitulatio noch nicht auf eine Bistumsorganisation, sondern auf die Errichtung von "Pfarrkirchen als Basisinstitution der
und M. BECHER, Die Sachsen im 7. und 8. Jahrhundert, in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit ( w i e A n m . 9), 1 8 8 - 1 9 4 .
25 An diesem Zusammenhang kann nach Ausweis der verschiedenen Quellen, die nicht nur aus der Retrospektive geschrieben worden sind, kein Zweifel bestehen, vgl. die ausführliche Diskussion durch L. E. v. PADBERG, Das Paderborner Treffen von 799 im Kontext der Geschichte Karls des Großen, in: De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser. Hg. v. W. HENTZE, 1999, 9-104, bes. 100 ff. Selbst wenn man "die urwüchsige Kraft des Karolingers, aber auch die nüchterne Robustheit seiner Zeit nicht außer acht lassen" darf (so R. SCHNEIDER, Das Frankenreich, 31995, 107), kann man Karl nicht als "Bandenchef' und "Anführer einer Reiterbande" abqualifizieren, wie dies überzeichnend geschieht bei K. FLASCH, Einführung in die Philosophie des Mittelalters, 1987, 2; vgl. dagegen die ausgewogenen Charakterisierungen bei K. HAUCK, Karl der Große in seinem Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, 202-214; SCHIEFFER, Die Karolinger (wie Anm. 18), 70 ff.; H. MORDEK, Karl der Große - barbarischer Eroberer oder Baumeister Europas?, in: Deutschland in Europa. Hg. v. B. Martin, 1992, 23^15; R. COLLINS, Charlemagne, 1998; J. JARNUT, Karl der Große: Mensch, Herrscher, Mythos, 1999 und F.-R. ERKENS, Karolus Magnus - Pater Europae?, in: 799 Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 9), 2-9. Auf einer anderen Ebene liegt die von R. Schieffer in seinem in diesem Band abgedruckten Leipziger Vortrag diskutierte Frage, ob Karl in seiner Frühphase ohne vorausschauende Planung einfach sich ihm bietende Chancen ergriffen hat, denn an seiner doppelten Motivation ändert sich dadurch nichts. 26 Capitulatio de partibus Saxoniae. Hg. v. A. Boretius (Monumenta Germaniae Historica, Capitularia regum Francorum 1), 1883, ND 1984, Nr. 26, 68-70; zum älteren Forschungsstand G. THEUERKAUF, Lex, Speculum, Compendium iuris. Rechtsaufzeichnungen und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis 16. Jahrhundert, 1968, 38 ff; überzeugende Neuinterpretation durch E. SCHUBERT, Die Capitulatio de partibus Saxoniae, in: Geschichte in der Region. Hg. v. D. Brosius u. a., 1993, 3-28 (mit deutscher Übersetzung); vgl. FREISE, Sachsenmission (wie Anm. 24), 60. Zur Reichsversammlung M. BALZER, 'Lippiagyspringiae in Saxonia'. Der Quellbereich der Lippe in den Sachsenkriegen Karls des Großen, in: Lippspringe. Beiträge zur Geschichte. Hg. v. M. Pavlicic, 1995, 63-71; DERS., Paderborn (wie Anm. 24), 26 ff. und v. PADBERG, Das Paderborner Treffen (wie Anm. 25), 23 f.
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Herrschaft"27. Trotz der Aufzählung der mit allerdings unterschiedlichen Strafen belegten heidnischen Gebräuche war es Karls Ziel, die mildere fränkische Bußgerichtsbarkeit in das sächsische Strafrecht einzuführen. Gleichwohl wird die Capitulatio kaum freudige Zustimmung zum neuen Glauben hervorgerufen haben, denn in dieser Mischung politischer und kirchlicher Zwangsmaßnahmen wird nur die Alternative Tod oder Taufe in Gesetzesform angeboten28. Karl machte damit unmißverständlich klar: Die Grenze ist geschlossen, in den Provinzen des Frankenreiches gilt die Universalitätsidee und deshalb ist nur noch der Kult der christlichen Kirche zulässig. Trotzdem hatte Karl größte Mühe, die fränkische und christliche Ordnung im Nordosten des Reiches bis an die Grenze zu Dänemark und an die Elbe durchzusetzen. Schließlich erkannte auch der Sachsenhäuptling Widukind, "daß der Christengott den alten Göttern überlegen war", gab auf und ließ sich Weihnachten 785 in der Pfalz Attigny taufen, nun sofort von Karl als Christ akzeptiert und höchstpersönlich aus dem Taufbecken gehoben29. Im Rückblick mußte Karl sich in seiner unnachgiebigen Haltung bestätigt sehen, war es ihm doch so gelungen, die Sachsen dem Teufel zu entreißen und Christus zuzuführen, wie das Carmen de conversione Saxonum schon 777 etwas voreilig jubelte30. Die damit verbundene Eingliederung in das Frankenreich war gleichsam eine nicht unwillkommene Nebenfrucht, aber dem Herrschaftsideal nach zumindest nicht das primäre Ziel des Missionskrieges. In dem Sachsenkrieg kommt die ganze Ambivalenz der Universalitätsidee deutlich zum Ausdruck. Denn dessen Umsetzung in die Realität konnte, wie das sogenannte Blutgericht von Verden 782 zeigt, überaus brutal sein31. Mit mo-
27 SCHUBERT, Die Capitulatio (wie Anm. 26), 16; siehe H. BÜTTNER, Mission und Kirchenorganisation des Frankenreiches bis zum Tode Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1: Persönlichkeit und Geschichte. Hg. v. H. Beumann, 1965,454-487,474 und P. JOHANEK, Der Ausbau der sächsischen Kirchenorganisation, in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 9 ) , 4 9 4 - 5 0 6 . 28 Siehe SCHUBERT, Die Capitulatio (wie Anm. 26), 12 ff.; femer R. M. KARRAS, Pagan Survivals and Syncretism in the Conversion of Saxony, in: The Catholic Historical Review 72, 1986, 553-572; B. EFFROS, De partibus Saxoniae and the Regulation of Mortuary Custom, in: Revue Beige de Philologie et d'Histoire 75, 1997, 267-286 und Κ. SCHÄFERDIEK, Sachsen I. Volk, in: Theologische Realenzyklopädie 29, 1998, 551-557, 553 f. 2 9 J. FLECKENSTEIN, Karl der Große, in: Lexikon des Mittelalters 5 , 1 9 9 1 , 9 5 6 - 9 6 1 , 9 5 7 ; dazu ausführlich A. ANGENENDT, Kaiserherrschaft und Königstaufe, 1984, 207 ff. 30 De Conversione Saxonum Carmen. Hg. v. E. DUMMLER (Monumenta Germaniae Historica, Poetae 1), 1880, ND 1978, 380-381; Neuausgabe unter der rekonstruierten Überschrift von K. HAUCK, Karolingische Taufpfalzen im Spiegel hofnaher Dichtung, 1985, 62-65; vgl. A. EBENBAUER, Carmen Historicum. Untersuchungen zur historischen Dichtung im karolingischen Europa 1, 1978, 7 ff, 340 ff; D. SCHALLER, Der Dichter des 'Carmen de conversione Saxonum', in: Tradition und Wertung. Hg. v. G. Bemt u. a., 1989, 27^15, ND in: DERS., Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, 1995, 313-331,429 f. und v. PADBERG, Das Paderborner Treffen (wie Anm. 25), 21 f. 31 Die ältere Literatur zu diesem vieldiskutierten Ereignis in dem Sammelband Eingliederung der Sachsen (wie Anm. 24) und bei FREISE, Sachsenmission (wie Anm. 24), 81 Anm. 65; den gegenwärtigen Stand repräsentieren J. FLECKENSTEIN U. a., Widukind und Karl der Große, 1992, 25;
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dernen Kategorien würde man wohl von einer ideologisch überhöhten Imperialmission sprechen. Aber nach den damaligen Denkmustern sah Karl sich schon 777, als er mit der Umbenennung Paderborns in Urbs Karoli experimentierte, in der Konstantinsrolle und wollte das eine Reich unter dem einen Glauben schaffen, weshalb das Karlsepos ihn später als pater Europe feierte 32 . Und so wie Konstantin die Kirche als einigendes Band begriff, war sie mit großer Selbstverständlichkeit für Karl "Instrument der Herrschaft". Da mußte dann zur Erreichung des hehren Zieles auch einmal Zwang ausgeübt werden. Die Taufe war daher bei den Sachsen "nicht Folge einer inneren Bekehrung, sondern eines Gefolgschaftsgelübdes, ... eine Art Lehnseid." Was geistlicherseits die Befreiung von den Dämonen und ewiges Heil bedeutete, war politischerseits eine Verpflichtungserklärung. "Die Sachsen müssen Christen werden, damit sie bei einem Gott schwören können, Verträge zu halten" 33 . Das robuste politische Programm und die christliche Herrschaftsauffassung lassen sich eben in dieser Zeit weder gegeneinander ausspielen noch voneinander trennen. Übrigens bedeutet das nicht, daß es unter den Fachleuten keine Debatten über das missionsprogrammatische Vorgehen gegeben hätte. Die Form regierungsamtlicher Christianisierung per Todesdrohung war durchaus umstritten, und unter den über größere missionarische Kompetenz als die Franken verfügenden angelsächsischen Theologen dürfte es entsprechende Diskussionen gegeben haben. Lul, dessen Meinung jetzt wieder gefragt war, unterstützte die Linie Karls, die bei Alkuin keinen Beifall fand. Es ist ferner bezeichnend, daß in der zeitgenössischen Hagiographie nur ein relativ bescheidenes Echo auf die Sachsenmission zu finden ist. Dieses Schweigen ist besonders auffällig, wenn man es mit panegyrischen Texten wie dem Carmen de conversione Saxonum oder dem Karlsepos vergleicht 34 . In dem Ziel, aus den vielen Völkern das eine
FRIED, Der W e g in die Geschichte ( w i e A n m . 3), 2 5 2 und SCHÄFERDIEK, Sachsen ( w i e A n m . 28), 554;
anders K. HENGST, Die Urbs Karoli und das Blutbad zu Verden in den Quellen zur Sachsenmission (775-785), in: Theologie und Glaube 70,1980,283-299. 32 Zum Namen 'Karlsburg' Annales Petaviani. Hg. v. G. H. PERTZ (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 1), 1826, ND 1976, 7-18, a. 776, 16.· aedificaverunt Franci in fmibus Saxanorum civitatem, quae vocatur Urbs Karoli und Annales Mosellani. Hg. v. G. H. PERTZ (ebd., Scriptores 16), 1859, ND 1994, 4 9 M 9 9 , a. 776, 496: Et aedificavit civitatem superflircio Lippiae, que appellatur Karlesburg. Vgl. K. HONSELMANN, Paderborn 777. 'Urbs Karoli', Karlsburg, in: Westfälische Zeitschrift 130, 1980, 398402. Zur Konstantinsrolle K. HAUCK, Karl als neuer Konstantin, in: Frühmittelalterliche Studien 20, 1986, 513-540. Karl als pater Europe: De Karolo rege et Leone papa (wie Anm. 25), Beiheft 44 v. 504. 33
SCHUBERT, D i e Capitulatio ( w i e Anm. 26), 14.
34 Vgl. BEUMANN, Die Hagiographie 'bewältigt' (wie Anm. 24); v. PADBERG, Zum Sachsenbild (wie Anm. 9); I. WOOD, Missionary Hagiography in the Eighth and Ninth Centuries, in: Ethnogenese und Überlieferung. Hg. v. Κ. Brunner u. Β. Merta, 1994, 189-199; DERS., The Use and Abuse of Latin Hagiograpgy in the Early Medieval West, in: East and West: Modes of Communication. Hg. v. E. Chrysos u. I. Wood, 1999, 93-109 sowie die Vorträge von I. WOOD, An Absence of Saints: The Evidence for the Christiamsation of Saxony und L. E. v. PADBERG, Die Diskussion missionarischer Programme zur Zeit Karls des Großen auf der Tagung 'Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos Karolus magnus et Leo papa und der Papstbesuch in Paderborn' im Oktober 1999 in Paderborn, im Druck.
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christliche Reich Europas zu schaffen, waren sich alle einig, nicht aber über den Weg dorthin. Zu den Missionaren, denen eine friedliche, vielleicht sogar eine staatsunabhängige Glaubensausbreitung besonders am Herzen lag, gehörte der Friese Liudger, nachmaliger Rektor von Werden und erster Bischof von Münster. Wie kaum ein anderer hat er die Mission als Fundament der Universalität verstanden. In einer 790/791 entstandenen Erinnerungsschrift an seine Vorläufer Bonifatius und Gregor stellte Liudger das Christentum als die alle Grenzen überwindende, gemeinschaftstiftende Kraft und seine Boten als übergentile Missionarsgemeinschaft dar35. In einem Idealbild beschrieb er, wie die Schülerschar des Utrechter Abtes Grenzen zu überwinden vermochte: 'Seine Schüler stammten nicht aus einem Volk, sondern waren aus der Blüte aller benachbarten Völker vereint. Sie waren von solchem Vertrauen, solcher Freundlichkeit und geistlicher Freude beseelt, daß man sie in ihrer Einheit sonnenklar als Söhne des einen geistlichen Vaters und der Mutter aller, der Liebe, erkannte' 36 . Liudger beließ es freilich nicht bei diesem allgemeinen Lobpreis. Er ordnete die Gregor-Schüler darüber hinaus einzelnen Stämmen zu und versah sie mit Kurzcharakteristiken: 'Einige waren aus dem edlen Stamm der Franken, einige aus dem frommen Volk der Angeln, einige aus der neuen Pflanzung Gottes, die erst in unseren Tagen bei den Friesen und Sachsen angelegt wurde. Andere kamen von den Bayern und Schwaben, die dieselbe Religion hatten, oder von welchem Volk und Stamm sie Gott gerade gesandt hatte' 37 . Nach Liudgers Verständnis berief Gott sich aus den eben
35 Vita Gregorii abbatis Traiectensis auctore Liudgero. Hg. v. O. HOLDER-EGGER (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 15,1), 1887, ND 1963, 63-79. Vgl. einführend H. LÖWE, Liudger als Zeitkritiker, in: Historisches Jahrbuch 74, 1954, 79-91, ND u. a. in: DERS., Von Cassiodor zu Dante, 1973,111-122; A. SCHRÖER, Das geistliche Bild Liudgers, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr 1. Hg. v. V. H. Elbern, 21963, 194-215, leicht veränderter ND in: DERS., Die Kirche von Münster im Wandel der Zeit, 1994, 3-37; K. HAUCK, ZU geschichtlichen Werken Münsterscher Bischöfe, in: Monasterium. Festschrift zum 700jährigen Weihegedächtnis des Paulus-Domes zu Münster. Hg. v. A. Schröer, 1966, 337-426; B. SENGER, Liudger in der Utrechter Väter-Tradition, in: Studia Westfalica. Hg. v. M. Bierbaum, 1973, 341-353; K. HAUCK, Apostolischer Geist im genus sacerdotale der Liudgeriden, 1986; W. KOHL, Liudger. Wandlungen einer Biographie, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 84, 1990, 17-29; W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 3: Karolingische Biographie 750920 n. Chr., 1991, S. 41 ff.; E. FREISE, Liudger, in: Lexikon des Mittelalters 5,1991, 2038 und L. E. v. PADBERG, Die Liudger-Viten in der angelsächsischen Tradition der Missionsarbeit im geistlichen Familienverband, in: Vita Sancti Liudgeri (wie Anm. 9), 113-126. 36 Vita Gregorii (wie Anm. 35), c. 11, 75 Z. 26-29: Νon enim ex una qualibet gente eius erant discipuli congregati, sed ex omnium vicinarum nationum ßoribus adunati; et tanta familiaritate et mansuetudine laeticiaque spiritali illuminati sunt, ut luce clarius daretur agnosci, quia de uno patre spiritali et de matre omnium virtutum caritate generati sunt et coadunati. Deutsche Übersetzung von B. SENGER, Liudger in seiner Zeit. Altfrid über Liudger. Liudgers Erinnerungen, 6 1993, 66 und 68; vgl. v. PADBERG, Unus populus (wie Anm. 2), 162 ff. 37 Vita Gregorii (wie Anm. 35), c. 11, 75, Z. 29-33: Quidam enim eorum erant de nobili Stirpe Francorum, quidam autem et de religiosa gente Anglorum, quidam vero et de novella Dei plantatione diebus nostris inchoata Fresonum et Saxonum, quidam autem et de Baguariis et Suevis praeditis
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christianisierten Stämmen einen durch geistliche familiaritas verbundenen Mitarbeiterkreis, der in der Festigung des Glaubens und der weiteren Ausbreitung des Evangeliums zusammenwirkte. Seine Einheit vermochte auch in der Fremde die gentilen Schranken zu überwinden und so die Entstehung einer die Völker übergreifenden Gemeinschaft vorzubereiten. Ihre Basis bildete eben jener 'internationale' Verbund von Missionaren, der in einer einheitlichen Glaubensüberzeugung die einzig denkbare Grundlage des fränkischen Großreiches sah. Die Nennung der jeweiligen Herkunftsländer der Missionare ist hier natürlich nicht als Abgrenzung von Identitäten zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil als Zeichen ihrer möglichen Überwindung durch die christliche Universalität38. Diese Idealvorstellung gewinnt noch dadurch an Bedeutung, daß sie im Zusammenhang mit den erwähnten Auseinandersetzungen um die richtige Missionsprogrammatik gesehen werden muß. Denn Liudger hat die Vita Gregorii keineswegs nur im Sinne hagiographischer Konvention verfaßt. Sie ist vielmehr erkennbar in der Konfrontation mit den auseinanderdriftenden Kräften seiner Zeit und den neuen Herausforderungen der komplexer werdenden Situation des Frankenreiches entstanden. Geschrieben in Verbindung mit Liudgers Wirken in der Sachsenmission, trägt sie deutlich Züge der Kritik "am adligen Lebensstil fränkischer Bischöfe und Kleriker .... die sich davor scheuten, die harte und lebensgefährliche Missionsarbeit im Sachsenland aufzunehmen" 39 . Liudger antwortete auf diese krisenhafte Situation mit dem kaum verhüllten pädagogischen und mahnenden Konzept, das die Segenskontinuität der Glaubensväter als leuchtendes Beispiel hervorhob. Er tat dies freilich nicht in direkter Kritik, sondern subtiler durch die Betonung der guten Werke der Missionare um Bonifatius und Gregor: 'sie beschenkten nicht nur das Volk und die Führer der Franken, sondern auch die gottesfurchtigen Herrscher selbst mit dem Salz der göttlichen Weisheit. Bei dieser Übereinstimmung und Einmütigkeit von Lehrer, Herrschern und dem Volk im ganzen Frankenreich konnten sie dem Teufel täglich mehr Schaden zufügen und dem Wachstum der Kirche Gottes dienen. Es traten keine Irrlehren auf, der katholische
eadem religione, vel de quacumque natione et gente misisset eos Deus. Deutsche Übersetzung von B. SENGER, Liudger (wie Anm. 36), 68.
38 Siehe auch A . ANGENENDT, Mission bis Millenium (313-1000), 1998, 148 f i ; J. GERCHOW, Liudger, Werden und die Angelsachsen, in: Kloster Welt Werden 799-1803. Das Jahrtausend der Mönche. Hg. v. J. Gerchow, 1999,49-58; I. WOOD, The Use and Abuse (wie Anm. 34), 108 f. und L. E. v. PADBERG, Liudger und die Vollendung der angelsächsischen Mission in der Karolingerzeit, in: St. Liudger Zeuge des Glaubens. Hg. v. Communitas sancti Ludgeri, 1999, 37-50. 3 9 W . WATTENBACH U. W . LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 6. Heft: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Das ostfränkische Reich, bearbeitet v. H. LOWE, 1 9 9 0 , 8 2 4 ; vgl. H. RADEMACHER, Die Anfänge der Sachsenmission südlich der Lippe, in: Liudger und sein Erbe. Hg. v. v. M. Bierbaum u. a., 1 9 5 0 , 1 3 3 - 1 8 6 ; LÖWE, Liudger als Zeitkritiker (wie Anm. 3 5 ) , 7 9 ff.; E. FREISE, Das Frühmittelalter bis zum Vertrag von Verdun (843), in: Westfälische Geschichte 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches. Hg. v. W. Kohl, 1 9 8 3 , 2 7 5 - 3 3 5 , 3 0 7 ff. und V. PADBERG, Die Liudger-Viten (wie Anm. 35), 114 ff.
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Glaube leuchtete überall; weit und breit erstrahlte die reine und makellose Religion' 40 . Damit wollte Liudger verdeutlichen, wem die Franken ihre segensreiche Entwicklung zu verdanken hätten, nämlich der übergentilen Missionarsgemeinschaft. Allein die von ihnen begründete unanimitas von Glaubensboten, Herrschern und Volk könne die Einheit des Reiches garantieren und den Gegenangriff des Teufels, wie er sich im Widerstand der heidnischen Sachsen zeige, überwinden. Damit war unausgesprochen zugleich klar, was der angestrebten Universalität im Wege stehen mußte, eine von den Militärs getragene Imperialmission mit Zwangstaufen und eine Funktionalisierung der Kirche als Herrschaftsinstrument nämlich. Seine angesichts von Karls vorwärtsdrängendem Herrscherwillen gewiß nicht unumstrittene Argumentation hob Liudger auf eine nahezu unangreifbare Ebene, indem er das Wirken der Missionare im geistlichen Familienverband als apostelgleich darstellte. So kommentiert er etwa jene Begegnung im Kloster Pfalzel, die Gregor von Utrecht 721 zum Schüler des Bonifatius werden ließ, mit den Worten: 'Mir scheint, derselbe Geist wirkte damals in diesem Jimgen, der die Apostel Christi und Ausspender der göttlichen Geheimnisse dazu entflammte, daß sie auf ein Wort des Herrn hin ihre Netze und ihren Vater verließen und dem Erlöser nachfolgten' 41 . Auf diese Weise instrumentalisierte Liudger seine Vergangenheitsinterpretation zur Kritik an seiner Gegenwart. Es dürfte ihm klar gewesen sein, daß er das Idealbild einer den Gentiiismus überwindenden Universalität gezeichnet hat. Aber Träumerei war es trotzdem nicht, denn erstens hatten die Missionare entsprechende Leistungen vollbracht und zweitens strebte Karl tatsächlich danach, in diesem Sinne sein Vielvölkerreich zu ordnen. Zum Ausdruck kommt dieses Ziel in Karls Aktivitäten, zitierbar wird es in den programmatischen Äußerungen seiner Hoftheologen, beispielsweise in jenen, die seine Verantwortung für die gesamte lateinische Christenheit hervorhoben. Berühmt etwa ist jener wohl von Alkuin verfaßte Brief aus dem Jahre 796, mit dem Karl in cäsaropapistischer Manier42 auf die Wahlanzeige des neuen Papstes Leo III. antwortete. Darin finden sich die bekannten Formulierungen zur Aufgabenteilung zwischen König und Papst. 'Unser ist es, mit Hilfe des göttlichen Erbarmens die heilige Kirche Christi allenthalben vor dem Eindringen der Heiden und der Verwüstung der Ungläubigen nach 40 Vita Gregorii (wie Anm. 35), c. 8, 73 Z. 39-44: non solum populum et proceres Francorum, sed etiam ipsos reges religiosos sale sapientiae divinae non mediocriter condierunt. Et sic in consensu et unanimitate doctorum et regum et cuncti populi per omne regnum Francorum coeperunt cotidie magis magisque detrimenta fieri diabolo et incrementa ecclesiae Dei, hereticae pravitates non apparere, et catholica fides in omnibus rutilare, ac religio munda et immaculata longe lateque clarescere. Übersetzung von SENGER, Liudger (wie Anm. 36), 63; vgl. ANGENENDT, Monachi peregrini (wie Anm. 6), 157. 41 Vita Gregorii (wie Anm. 35), c. 2, 69 Z. 1-3: Idem enim utique spiritus videtur mihi in hoc tunc operari puero, qui apostolos Christi et dispensatores misteriorum Dei ad illud infiammavit, ut ad unam vocem Domini, relictis retibus et patre, sequerentur Redemptorem. Übersetzung von SENGER, Liudger (wie Anm. 36), 54. Dazu HAUCK, Apostolischer Geist (wie Anm. 35), 8; BERSCHIN, Biographie und Epochenstil (wie Anm. 35), 41 ff.; v. PADBERG, Heilige und Familie (wie Anm. 16), 27 ff. und P. ENGELBERT, Liudger und das fränkische Mönchtum seiner Zeit, in: Vita Sancti Liudgeri (wie Anm. 9), 151-166. 4 2 So A . ANGENENDT, Leo III., in: Lexikon für Theologie und Kirche 6 , 3 1 9 9 7 , 8 2 2 f.
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außen mit den Waffen zu verteidigen und nach innen mit der Erkenntnis des katholischen Glaubens zu festigen. Euer ist es. heiligster Vater, mit zu Gott erhobenen Händen wie Moses unser Waffenwerk zu unterstützen, damit durch Eure Vermittlung dank Gottes Führung und Gabe das christliche Volk über die Feinde seines heiligen Namens allezeit und allenthalben den Sieg habe und der Name unseres Herrn Jesus Christus in der ganzen Welt gepriesen werde' 43 . Frankenkönig und Papst erscheinen hier als Häupter der Christenheit mit genau festgelegten Machtbereichen, Bvzanz wird schlicht übersehen. Karls Aufgaben sind immens, bestimmt von der Vorstellung des einen christlichen Imperiums. Dessen Grenzen muß er schützen, wobei politischer und kirchlicher Bereich kaum voneinander zu trennen sind. Unausgesprochen gehört die Imperialmission mit zu den Aufgaben des Königs, wobei mit großer Selbstverständlichkeit das Zusammengehen von Militärs und Missionaren akzeptiert wird. Insofern kann man diesen Passus auch als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen die Sachsen lesen. Darüber hinaus obliegt dem Herrscher auch die Sorge für den rechten Glauben im Reichsinneren. Man kann es auch schärfer formulieren und festhalten, daß die fränkische Kirche damit zum Ausführungsorgan des königlichen Reformwillens wurde. Alkuins Begeisterung für die Rolle seines Königs war sogar noch steigerungsfähig, bedingt freilich durch die Schwächeperiode des Papstes 44 . In einem berühmten Brief aus dem Jahre 799 über die drei höchsten Personen des Erdkreises, den römischen Papst, den byzantinischen Kaiser und den fränkischen König, sah er Karl von Christus zum rector populi christiani berufen, von dem allein 'das gesamte Heil der Kirche Christi abhänge' 45 . Und in einem weiteren Schreiben formulierte er wenige Wochen
Alcvini sive Albini epistolae. Hg. v. E. D U M M L E R (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae ND 1 9 9 4 , 1 - 4 8 1 , Nr. 9 3 , 1 3 7 Z. 3 1 - 1 3 8 Z. 2 : Nostrum est: secundum auxilium divinae pietatis sanctam undique Christi ecclesiam ab incursu paganorum et ab infidelium devastatione arrnis defendere foris, et intus catholicaeßdei agnitione munire. Vestrum est, sanctissime pater: elevatis ad Deum cum Moyse manibus nostram adiuvare militiam, quatenus vobis intercedentibus Deo ductore et datore populus christianus super inimicos sui sancti nominis ubique semper habeat victoriam, et nomen domini nostri Iesu Christi toto clarificetur in orbe. Zu Alkuins Verfasserschaft L. W A L L A C H , Alcuin and Charlemagne, 1 9 5 9 , 1 9 sowie demnächst eingehend D.A. BULLOUGH, Alcuin. Achievement and Reputation, im Druck; vgl. E. C A S P A R , Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 5 4 , 1 9 3 5 , 1 3 2 - 2 6 4 , separater ND 1 9 6 5 , 1 1 8 ff. und P. C L A S S E N , Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, 2 1988,44. 43
4), 1895,
Eingehend zu der Krise um Leo III. mit Verzeichnis der älteren Literatur CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 4 3 ) , 4 2 ff.; v. PADBERG, Das Paderbomer Treffen (wie Anm. 2 5 ) , 4 2 ff. und M. B E C H E R , Karl der Große und Papst Leo III. , in: 7 9 9 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 44
9), 22-36.
Alcvini epistolae (wie Anm. 4 3 ) , Nr. 1 7 4 , 2 8 8 Z. 1 7 - 2 7 : Nam tres personae in mundo altissime hucusque fuerunt: id est apostolica sublimitas, quae beati Petri principis apostolorum sedem vicario munere regere solet; quid vero in eo actum sit, qui rector praefate sedis fuerat, mihi veneranda bonitas vestra innotescere curavit. Alia est imperialis dignitas et secimdae Romae saecularis potentia; quam impie gubernator imperii illius depositus sit, non ab alienis, sed a propriis et concivibus, ubique fama narrante crebrescit. Tertia est regalis dignitas, in qua vos domini nostri Iesu Christi dispensatio rectorem populi christiani disposuit, ceteris praefatis dignitatibus potentia excellentiorem, sapientia clariorem, regni dignitate sublimiorem. Ecce in te solo tota salus ecclesiarum Christi inclinata 45
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später: 'Zierde des Christenvolkes, Schutz der Kirchen Christi, Trost dieses Lebens! Für diese deine Aufgaben alle muß man deine Seligkeit durch Gelübde erheben, durch Fürbitten unterstützen, auf daß durch euer Wohl das Christianum imperium beschirmt, der katholische Glaube verteidigt, die Norm des Rechts allen vor Augen geführt werde. Sieh, was dem Apostolischen Stuhl angetan ist in der erhabenen Stadt, in der höchsten Würde! Deinem Richtspruch ist das alles vorbehalten'46. Auch Papst Leo III., durch den Attentatsversuch geschwächt, wird hier zu einer vollkommen von Karl abhängigen Figur im Spiel der Macht. Was lag da näher, als Karl gleich zum Vertreter des heiligen Petrus zu erheben, wie dies Theodulf von Orleans in einem Gedicht an den König aus dem Sommer 800 vollzog. Petrus habe den Papst nach dem Attentat geheilt und ihn nun Karl anvertraut, der für seine Wiedereinsetzung sorgen solle. Wie Petrus über die Himmelsschlüssel verfügt und diese vom Papst verwalten lasse, so habe Karl ,als der Lenker des Klerus und des Volkes der Kirche Schlüssel'47. Gewiß ist der Gehalt dieser Äußerungen von einer konkreten historischen Situation mitbestimmt, dennoch belegen sie in nüchternem Kalkül die karolingische Herrscherideologie. Karl, obschon Machtpolitiker, wird sich gern in dieser von Alkuin, Theodulf und anderen beschriebenen Rolle gesehen und sein Amt so verstanden haben. Sein Vielvölkerreich hat er aus der Vision der christlichen Universalität heraus regiert. Das zeigte nicht nur die Übernahme der Kaiserverantwortung, sondern auch seine Bildungsreform, in der gentile Schranken auch dadurch überwunden wurden, daß er sie mit
recumbit. Tu vindex scelerum, tu rector errantium, tu consolator maerentium, tu exaltatio bonorum. Dazu M. ALBERI, The Evolution of Alcuin's Concept of the Imperium christianum, in: The Community, the Family and the Saint. Hg. v. J. Hill u. M. Swan, 1998, 3-17; W. HARTMANN, Zur Autorität des Papsttums im karolingischen Frankenreich, in: Mönchtum - Kirche - HeiTschaft 7501000. Hg. v. D. R. Bauer u. a., 1998, 113-132, 114 und v. PADBERG, Das Paderborner Treffen (wie Anm. 25), 40 f., 80. 46 Alcvini epistolae (wie Anm. 43), Nr. 177, 292 Z. 24-33: Ο dulcissime, decuspopuli christian!, ο defensio ecclesiarum Christi, consolatio vitae praesentis. Quibus tuam beatitudinem omnibus necessarium est votis exaltare, intercessionibus adiuvare, quatenus per vestram prosperitatem christianum tueatur imperium, fides catholica defendatur, iustitiae regula omnibus innotescat. Ecce quid actum est de apostolica sede in civitate praecipua, in dignitate excellentissima. Quae omnia vestro tantummodo servantur iudicio; ut prudentissimo consilio sapientiae, vobis a Deo datae, temperata consideratione corrigantur quae corrigenda sunt, et conserventur quae conservanda sunt; et quae clementer divina gessit pietas extollantur in laudem nominis illius, qui salvum fecit servum suum et liberavit a persecutione exsecrande infidelitatis. Vgl. v. PADBERG, Das Paderborner Treffen (wie Anm. 25), 54 f., 80. 47 Theodulf, Ad regem, in: Theodulfi carmina. Hg. v. E. DÜMMLER (Monumenta Germaniae Historica, Poetae 1), 1880, ND 1978, 437-581, Nr. 32, 523 f. vv. 27 f., 31 f.: Hunc tibi salvandum, rex clementissime, misit, / Teque sua voluit fungier ille vice. / Caeli habet hic claves, proprias te iussit habere, / Tu regis ecclesiae, nam regit ille poli. Vgl. W. VON DEN STEINEN, Karl und die Dichter, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben 2: Das geistige Leben. Hg. v. B. Bischoff, 21966, 63-94, ND in: DERS., Menschen im Mittelalter. Hg. v. P. von Moos, 1967, 37-77, 61 ff. und H. SAUER, Theodulf, in: Lexikon des Mittelalters 8, 1997, 647 f.; vgl. K. HERBERS, Der Pontifikat Papst Leos III. (795-816), in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Hg. v. C. Stiegemann u. M. Wemhoff, 1999, 13-18.
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Fremden vorantrieb 48 . Denn führende Köpfe seiner Renaissance waren Ausländer, die Italiener Petrus von Pisa und Paulinus von Aquileja, der Langobarde Paulus Diaconus. der Angelsachse Alkuin und der Westgote Theodulf von Orleans 49 . So entspricht insgesamt betrachtet Karls Herrschaftsideal durchaus den Vorstellungen von Hrabanus Maurus und Agobard von Lyon. Stets verstand er sich als christlicher Herrscher. Die Sachsen haben das als erste zu spüren bekommen. Sie mußten erleben, daß bei Karl missionarische Absicht und politischer Durchsetzungsvville deckungsgleich waren. Sie erfuhren aber auch sein mit großer Beharrlichkeit verfolgtes Ziel, eben nicht nur weitere Stämme seinem Reich einzugliedern, sondern aus dem Vielvölkerstaat tatsächlich ein christliches Imperium bilden zu wollen. Denn als die Sachsen 'dem heidnischen Götzendienst und den heimischen Religionsgebräuchen entsagten', so erzählt Einhard, und 'die Sakramente des christlichen Glaubens annahmen", da sorgte Karl dafür, daß sie 'mit den Franken zu einem Volke sich verbanden' 50 . Der Glaube, das galt in jener Zeit für Heiden wie Christen, war keine private Angelegenheit. Er war eine öffentliche Notwendigkeit, um angesichts bedrohlicher Mächte das Heil für König und Volk zu bewahren. Er hatte mit Pflicht und Wissen zu tun, die sich in objektiver Form als Ritual und Zeremoniell äußerten 51 . Deshalb konnte die Kirche die Idee der christlichen Universalität als identitätsstiftende Kraft vermitteln und diese von Karl auch politisch genutzt werden. Darauf basiert die theokratische Herr-
48 Die umfangreiche Literatur zur Kaiserkrönung ist registriert in den neueren Arbeiten von CLASSEN, Karl der Große (wie Anm. 4 3 ) . 6 2 ff.; SCHNEIDER, Das Frankenreich (wie Anm. 2 5 ) , 1 0 5 ff; P. LLEWELLYN, Le contexte romain du couronnement de Charlemagne, in: Le Moyen Age 9 6 , 1 9 9 0 , 2 0 9 - 2 2 5 ; Η . MAYR-HARTING, Charlemagne, the Saxons, and the Imperial Coronation of 8 0 0 , in: English Historical Review 1 1 1 , 1 9 9 6 , 1 1 1 3 - 1 1 3 3 ; COLLINS, Charlemagne (wie Anm. 2 5 ) , 141ff;v. PADBERG, Das Paderborner Treffen (wie Anm. 2 5 ) , 9 4 ff und Η . MORDEK, Von Paderborn nach Rom - der Weg zur Kaiserkrönung, in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Beiträge (wie Anm 4 7 ) , 4 7 - 5 4 . Zur Bildungsreform Nachweise bei v. PADBERG, Mission und Christianisierung (wie Anm. 6 ) , 3 4 7 f. Anm. 151 sowie ANGENENDT, Das Frühmittelalter (wie Anm. 13), 3 0 5 ff; Carolingian Culture: Emulation and Innovation. Hg. v. R. McKitterick, 1994; J. FRIED, Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, in: Karl der Große und sein Nachwirken 1: Wissen und Weltbild. Hg. v. P. Butzer u. a., 1 9 9 7 , 2 5 - 4 3 und R. MCKITTERICK, Die karolingische Renovatio, in: 799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 9), 668-685. Siehe ANGENENDT, Das Frühmittelalter (wie Anm. 13), 3 0 5 ff. und v. PADBERG, Unus populus (wie Anm. 2), 183 sowie den Beitrag von R. Schieffer in diesem Bande. 50 Einhardi Vita Karoli Magni. Hg. v. O. HOLDER-EGGER (Monumeta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 25), 1911, ND 1965; hier zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 1. Hg. v. R. RAU (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 5), 1955, ND 1993, 157-211, c. 7, 174 Z. 31 - 176 Z. 2: Eaque conditione α rege proposita et ab Ulis suscepta tractum per tot annos bellum constat esse finitum, ut, abiecto daemommi cultu et relictis patnis caeremoniis, Christianae fidei atque religionis sacramenta susciperent et Francis adimati unus cum eis populus efficerentur. Siehe v. PADBERG, Zum Sachsenbild (wie Anm. 9), 186 ff. 51 Dazu FRIED, Der Weg in die Geschichte (wie Anm. 3), 7 9 3 und ANGENENDT, Geschichte der Religiosität (wie Anm. 1), 3 4 ff, 2 9 5 ff.; vgl. v. PADBERG, Das Paderbomer Treffen (wie Amn. 2 5 ) , 100 ff. 49
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schaftsidee Karls52. Er übernahm die Verantwortung für den göttlichen Kult in seinem Reich, ob er nun die heidnischen Sachsen für Christus gewann, an seinem Hofe theologische Spezialprobleme diskutierte, sich um den Ausbildungsstand der Priester kümmerte, die Liturgie in seinem Riesenreich vereinheitlichte oder für die Ausstattung der Kirchenbauten sorgte. Letztlich wurde dabei das alttestamentliche rex et sacerdos-Herrschaftsmodell kopiert, das die Wohlfahrt des Volkes an die Aufsichtspflicht des Königs für die Beziehungen zum göttlichen Bereich band. Vor diesem Hintergrund sind der Missionskrieg gegen die Sachsen, die Gesetzgebung, das großangelegte Bildungsprogramm der sogenannten karolingischen Renaissance sowie die materielle Kirchen- und Armenfursorge zu sehen. Das war die rechte Norm der Herrschaft, die Alkuin auf die Kurzformel 'Böses berichtigen, Gutes bestärken' {prava corrigere, recta corroborare) gebracht hatte. Dadurch sollten die Menschen zu einem gottgefälligen Leben angeleitet werden, wobei sich alle Gewalten als Bestandteile des einen geschlossenen corpus christianum zu verstehen hatten53. Karl folgte in seinem Vielvölkerreich also der Vision der christlichen Einheit54, mit der er die auseinanderdriftenden Kräfte der verschiedenen Stämme zusammenhalten wollte, auch wenn die Franken immer das Kernvolk blieben. Trotz all dieser Bemühungen war das Karlsreich aber nicht der Gottesstaat auf Erden. Und wie zu Konstantins Zeiten handelte es sich um das geschlossene System einer Einheitsideologie. Alte Denkmuster ließen sich nicht so schnell überwinden, weshalb man vielleicht von einem gentil eingefärbten Universalitätsideal sprechen sollte55. Denn wenn auch die in kultureller und kirchenpolitischer Hinsicht von Karl geschaffenen Grundlagen weiterhin 52 Zum Folgenden HAUCK, Karl als neuer Konstantin (wie Anm. 32), 533 ff.; N. STAUBACH, 'Cultus divinus' und karolingische Reform, in: Frühmittelalterliche Studien 18, 1984, 546-581; ANGENENDT, Das Frühmittelalter (wie Anm. 13), 304 ff. und DERS., Karl der Große als rex et sacerdos, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Hg. v. R. Berndt, 1997, 255-278. 53 Vgl. K. SCHATZ, Königliche Kirchenregierung und römische Petrus-Überlieferung im Kreise Karls des Großen, in: Das Frankfurter Konzil von 794 (wie Anm. 52), 357-371 sowie am Beispiel der Kapitularien Τ. M. BUCK, Admonitio und Praedicatio. Zur religios-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten (507-814), 1997. 54 Der Mission kam daher in dieser Phase der Fundamentierung Europas ein entscheidender Stellenwert zu, weshalb ihrer Erforschung auch weiterhin größte Aufmerksamkeit zu schenken ist; vgl. H . - D . KAHL, W a s b e d e u t e t : ' M i t t e l a l t e r ' ? , in: S a e c u l u m 4 0 , 1 9 8 9 , 1 5 - 3 8 , b e s . 3 7 f.; v . PADBERG,
Mission und Christianisierung (wie Anm. 6), 350 ff. und ANGENENDT, Mission (wie Anm. 9), 134 ff., 149.
55 Diese politisch motivierte Einschränkung wurde von den Missionaren nicht immer geteilt, war für sie doch auch eine Mission bei den außerhalb des christlichen Frankenreiches liegenden heidnischen Völkern ohne vorherige militärisch-politische Integration denkbar. Ihre entsprechenden Versuche waren allerdings kaum durchsetzbar; vgl. v. PADBERG, Zum Sachsenbild (wie Anm. 9), 190. In nachkarolingischer Zeit wurde deshalb die Kombination von Integration in das Reich und Christianisierung mit deutlicher Förderung durch die Päpste mehr und mehr aufgegeben, wie etwa die Mission in Skandinavien zeigt; dazu S. BRINK, The Formation of the Scandinavien Parish, with some Remarks Regarding the English Impact on the Process, in: The Community (wie Anm. 45), 19^14; B. NILSSON, Sveriges kyrkohistoria 1: Missionstid och tidig medeltid, 1998 und v. PADBERG, Christianisierung Europas (wie Anm. 15), 108 ff.
Zur Spannung von Gentiiismus und christlichem Universalitätsideal
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Bestand hatten, so zerfiel sein Einheitsreich unter seinen Nachfolgern doch rasch wieder in Bruderkrieg und Teilungen 56 . Insofern blieben Liudgers, Hrabans und Agobards mahnende Äußerungen fromme Wünsche.
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Zur weiteren Entwicklung FRIED, Der Weg in die Geschichte (wie Anm. 3), 366 ff. und
ANGENENDT, D a s F r ü h m i t t e l a l t e r ( w i e A n m . 13), 3 6 1 ff.
Brigitte Kasten
Laikale Mittelgewalten: Beobachtungen zur Herrschaftspraxis der Karolinger
In neueren Publikationen zum Frühmittelalter wird die überaus große Bedeutung des Königtums für die Herausbildung des frühmittelalterlichen Gemeinwesens und der Ethnogenese ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt, wobei einige Dualismen wie: hier König dort adelige Eliten oder, hier Königsherrschaft dort gentile Eigenständigkeiten einen Teil ihrer Gegensätzlichkeit einzubüßen scheinen. Regine Le Jan beispielsweise räumt in ihrer these de Doctorat dem Königtum den wesentlichen Anteil an der Bildung politischer Eliten innerhalb des Adels ein1. Die Aussonderung der Großen, der potentes und proceres, von den übrigen nobiles sei ein Ende des 7. Jahrhunderts einsetzender Prozeß, der von den Karolingern bewußt gefördert und beschleunigt wurde. Ausschließlich auf die Großen {proceres), also auf die Spitzen des Adels gestützt, sei es ihnen gelungen, vertikale Herrschaftsstrukturen zu schaffen, d. h. Macht zu hierarchisieren. Damit wird der Blick auf ein Problem gelenkt, das trotz der Überfülle an Literatur zum frühmittelalterlichen Königtum und Adel selten als Hierarchisierungsproblem thematisiert worden ist2. Im allgemeinen geht man stillschweigend davon aus, daß es ein hierarchisch strukturiertes Gemeinwesen gab, daß der König über Herzöge und Grafen gebot - geistliche Würdenträger wie Bischöfe und Äbte seien hier ausgespart - und daß er die im allgemeinen anerkannte Königsmacht allenfalls in Einzelfall gegen renitente Individuen unter Beweis stellen mußte3. Danach konnte er wieder auf die als existent 1 R. LE JAN, Familie et pouvoir dans le monde franc (VIF-XE siecle), 1995, insbes. Teil 1, Kap. 4, 99 ff. 2 Gerade in jüngster Zeit findet die hierarchische vertikale Perspektive jedoch Beachtung im Sammelband von R. LE JAN, La royaute et les elites dans Peurope carolingienne, 1998, vor allem auf das 9. Jahrhundert bezogen in den Beiträgen von E. TREMP, St. AIRLIE, D. BARTHELEMY und Th.
ΖΟΤΖ, für das 6. Jahrhundert bei V. EPP, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter, 1999, 130 ff., und für das frühere Mittelalter generell bei S. REYNOLDS, Fiefs and vassals, 1994. 3 Vgl. dazu die kritischen Untersuchungen von K. BRUNNER, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich, 1979; J. HANNIG, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von
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gedachten Hierarchien zurückgreifen. Doch sind solche vertikalen Machtverhältnisse nicht einfach vorhanden, sondern müssen erst geschaffen werden - mittels Krieg, Recht, Gefolgschaftswesen und Treuebindungen. Mitte des 8. Jahrhunderts, als Karls des Großen Vater Pippin das karolingische Königtum begründete, hatte die fränkische Königsherrschaft als solche eine tiefe Krise durchlebt, ja mußte sie in ihrer bisherigen merowingischen Ausprägung als gescheitert gelten. Sie war ferner längst so transformiert, daß man sie weder als eine erweiterte germanische Hausherrschaft noch als öffentliche Gewalt im Sinne des spätantiken römischen Staatswesens bezeichnen kann 4 . Ihr eigenartiger Mischcharakter entzieht sich weitgehend einer präzisen Definition in moderner Begrifflichkeit. Pippin mußte - überspitzt formuliert - durch sein Handeln als König, durch sein Agieren und Reagieren, die Königsherrschaft gleichsam neu erfinden. Hervorgegangen aus der politischen Führungsschicht der principes, standen ihm weder der königliche Terror eines Merowingers noch dessen Steuerlisten und Munizipalakten noch hierarchische Institutionen eines abstrakten transpersonalen Königtums (sieht man einmal von einer rudimentären Verwaltung der Königsgüter ab) zur Herrschaftsausübung zur Verfügung. Es ist fast nichts aus den erhaltenen Quellen zu erfahren, ob und wie er den Adel integrierte. Das Problem, dem er sich hauptsächlich widmete, um seine Königsherrschaft auf solide Fundamente zu stellen, war die Familie. Es gelang ihm, alle innerfamiliären Konkurrenten politisch und physisch zu überleben oder zu beseitigen, so daß er 768 die Herrschaft allein seinen beiden Söhnen Karl und Karlmann übertragen konnte 5 . Solange mehrere Könige existierten, blieb die Familie das Hauptproblem einer stabilen Königsherrschaft. Zwischen Karl und Karlmann wäre es zu einem Bruderkrieg merowingischen Ausmaßes gekommen, wäre Karlmann nicht 771 überraschend gestorben und seine Großen zu Karl übergegangen 6 . Erst im Laufe der langen Regierungszeit Karls des Großen wird ersichtlich, wie sich der König seine Herrschaft dachte - und zwar nicht durch Königsspiegel oder Traktate, auch nur zum Teil durch seine rechtlichen und administrativen Verlautbarungen in den Kapitularien, sondern vielmehr durch sein Handeln 7 . Dieses soll nun Gegenstand einer beschreibenden Analyse der Herrschaftspraxis sein im Verhältnis zwischen König, königlichen Mittelgewalten und anderen regionalen Inhabern öffentlicher Gewalt wie Herzögen, Markgrafen und Grafen. Der Begriff "Mittelgewalt" meint hier Königssöhne, die bereits zu Lebzeiten ihres Vaters zum König erhoben worden sind. Der von Gustav Eiten 1907 geprägte Begriff
Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches, 1982; A. KRAH, Absetzungsverfahren als Spiegelbild der Königsmacht, 1987. 4 Zu den Facetten des Begriffes "Haus" vgl. nun U. MEYER, Soziales Handeln im Zeichen des 'Hauses'. Zur Ökonomik in der Spätantike und im früheren Mittelalter, 1998, insbes. 160 ff. und 277 ff. 5 Vgl. vor allem M. BECHER, Drogo und die Königserhebung Pippins, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, 131-151. 6 J. JARNUT, Ein Bruderkampf und seine Folgen, in: Herrschaft, Kirche und Kultur. Festschrift Friedrich Prinz. Hg. v. G. Jenal, 1993, 165-176. 7 Dies setzen auch die modernen Biographien zu Karl dem Großen voraus, vor allem D. HÄGERMANN, Karl der Große, 2000, und M. BECHER, Karl der Große, 1999.
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"Unterkönige" soll nach Möglichkeit vermieden werden, weil er eine Hierarchie mit den Stufen König, Unterkönig, Grafen voraussetzt, deren Existenz zu bezweifeln ist. Der Begriff "Unterkönig" ist außerdem Ausdruck einer statisch-bürokratisch gedachten Herrschaft, der es nicht erlaubt, sich verändernde Machtverhältnisse zwischen einerseits dem Königssohn und seinem Vater und andererseits dem Königssohn und dem Adel seines Reiches zu beschreiben8. Eine erste Möglichkeit, Herrschaft zu gestalten, bot sich Karl dem Großen bei der Integration Aquitaniens, einer stets unruhigen, schwer zu beherrschenden Region am Rande des Reiches mit recht starken eigenständigen Traditionen. Am Beispiel Aquitaniens soll das Verhältnis zwischen König, Mittelgewalten und lokalen adeligen Machthabern mit einigen notwendigen Rückblicken auf die Merowingerzeit näher dargestellt werden. Ursprünglich ein westgotisches Königreich wurde Aquitanien zur Merowingerzeit von zahlreichen Herzögen verwaltet und Teile des Landes in zeitlichen Abständen der Kontrolle von Königssöhnen unterstellt oder gewaltsam von diesen usurpiert: Theuderich I. um 532 mit Sitz in Clermont9, Chramn 555 - 560 in Clermont, Poitiers und Limoges10, König Chilperichs I. Söhne Chlodowech wohl 567 und Merowech um 575/76 - 577 in Poitiers, König Charibert II. vor 629/30 - 63111. Im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts stand der aquitanische Adelsverband unter der alleinigen Führung Herzog Eudos, der von außerfränkischen Quellen als dux Francorum bezeichnet wird12 und 721 einen grandiosen Sieg über die aus Spanien vordringenden Araber bei Toulouse erlang13. Rund zehn Jahre danach wußte sich Eudo allerdings der arabischen Übergriffe nicht mehr zu erwehren, hatte zudem durch die Verheiratung seiner Tochter mit einem rebellischen Berberfursten die falsche Partei ergriffen und wandte sich daher um Hilfe an Karl Martell mit dem Ergebnis, daß 732 die Araber bei Poitiers vernichtend geschlagen wurden, eine Tat, die später allein Karl Martell zugeschrieben wurde, möglicherweise jedoch der Erfolg einer gemeinsamen Vorgehensweise war14. Solche militärischen, zeitlich auf eine bestimmte Aktion begrenzten Bündnisse waren in der Araberabwehr notwendig. Karl Martell bat wenige Jahre später seinerseits den langobardischen König Liutprand um Hilfe und schlug 738 oder 739 in einer konzer-
8 Vgl. dazu B. KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit, 1997,272 ff. 9 F. BEISEL, Theuderbertus magnus rex Francorum, 1993. 10 R. SCHNEIDER, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter, 1972, 85 ff. 11 SCHNEIDER, Königswahl (wie Anm. 10), 143 ff.; M. ROUCHE, L'Aquitaine des Wisigoths aux A r a b e s 4 1 8 - 7 8 1 , 1 9 7 9 , 9 0 ff.
12 Continuatio Hispana der Gotengeschichte des Isidor von Sevilla (um 754). Hg. v. Th. MOMMSEN, MGH AA 11, 1894, 631 Zeile 16 ff.: Et quia flliam suam dux Francorum nomine Eudo causa federis ei in coniugio copulandam ob persecutionem Arabum differendam iam olim tradiderat...; jüngere Vita Papst Gregors II., um 750, c.l 1, in: Le Liber pontificalis. Hg. v. L. DUCHESNE, Bd. 1, 1955, XCI, 401 13 U. NONN, Die Schlacht bei Poitiers 732, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Hg. v. R. Schieffer, 1990, 39. 14 NONN, Die Schlacht bei Poitiers 732 (wie Anm. 13) 39 und 43 ff; DERS., Das Bild Karl Martells in mittelalterlichen Quellen, in: Karl Martell in seiner Zeit. Hg. v. J. Jarnut, U. Nonn und M. Richter, 1994, 9-13. Siehe auch Anm. 12.
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tierten Aktion mit langobardischen Verbänden die Araber in der Provence15. Keine der Parteien leitete aus der militärischen Hilfeleistung eine politische Über- bzw. Unterordnung ab. Im Gegenteil, Liutprand hatte ein Jahr zuvor Karl Martells Sohn Pippin adoptiert, die fränkische Hausmeierfamilie somit als nahezu gleichrangig behandelt16. Das gleiche gilt im Verhältnis Karl Martells zu Eudo von Aquitanien. Nach der Schlacht von Poitiers zog sich Karl Martell - offenbar verabredungsgemäß - wieder in die Francia zurück17. Keinen Glauben sollte man der überaus parteiischen Darstellung des Fortsetzers der Fredegar-Chronik schenken, wonach Eudo 731 irgendeinen Vertrag gebrochen hätte, Karl Martell eine Strafexpedition gegen ihn unternommen habe, Eudo Sarazenen gegen Karl Martell ins Land gerufen habe und diese Sarazenen bei Poitiers 732 allein von Karl Martell geschlagen worden seien18. Die Fortsetzung dieser Chronik wurde von Karl Martells Halbbruder, dux Childebrand, in Auftrag gegeben. Herzog Eudo starb 735 und hinterließ drei Söhne namens Hunoald, Hatto und Remistan19. Zwischen den beiden Erstgenannten kam es zu Sukzessionskämpfen, die Karl Martell die Möglichkeit zu einer militärischen Intervention in Aquitanien boten20. Nachdem Hunoald Karl Martell und seinen Söhnen Pippin und Karlmann die Treue versprochen hatte, gab Karl ihm in einzigartiger Pietät das Herzogtum, wie die 805 niedergeschriebenen tendenziösen Annalen von Metz berichten21. Der Vitenschreiber des Abtes Pardulf von Waractus, einem Kloster bei Limoges, ebenfalls der aquitanischen Herzogsfamilie wenig gut gesonnen, sah dies ähnlich: Hunoald regierte Aquitanien mit Erlaubnis Karl Martells22. Gemäß der karolingerfreundlichen Geschichtsschreibung stand der Herzog von Aquitanien seit 735 in einem politischen Abhängigkeitsverhältnis zu den Karolingern, basierend auf einem Treueversprechen. Es handelt sich bei dieser Darstellung um eine karolingische Herrschaftspropaganda, die es 15 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum VI, 54. Hg. v. G. WAITZ, MGH SS rer. Germ. [48], 1 8 7 8 , 2 3 7 . Zu den schwierigen politischen Verhältnissen in der Provence vgl. P. J. GEARY, Aristocracy in Provence. The Rhone Basin at the Dawn of the Carolingian Age, 1 9 8 5 , 1 2 7 f.; DERS., Die Provence zur Zeit Karl Martells, in: Karl Martell in seiner Zeit (wie Anm. 1 4 ) , 3 8 6 ; JARNUT (wie Anm. 16), 2 2 1 . 16 J. JARNUT, Die Adoption Pippins durch König Liutprand und die Italienpolitik Karl Martells, in: Karl Martell in seiner Zeit (wie Anm. 14) 217-226; KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8) 110 f. 17 Chronicon Moissiacense. Hg. v. G. H. PERTZ, MGH SS 1, 1826, 291. 18 Chronicarum qui dicuntur Fredegarii scholastici libri I V cum continuationibus. Hg. v. B . KRUSCH, MGH SS rer. Merov. 2, 1888, cont. c. 13, 175. 19 Zur Ereignisfolge vgl. ROUCHE, L'Aquitaine des Wisigoths aux Arabes 418-781 (wie Anm. 11), 116-126.
20 Vgl. KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8), 95 ff 21 Annales Mettenses priores zu 735. Hg. ν. Β. v. SIMSON, MGH SS rer. Germ. [10], 1905, 28: Ducatumque ilium solita pietate Hunaldo filio Eodonis dedit, qui sibi et filiis suis Pippino et Carolomcmno fidem promisit. Mit dem Treueid auf seine Söhne scheint Karl Martell eine merowingische Herrschaftspraxis übernommen zu haben; vgl. M. BECHER, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen, 1993, 120-128. 22 Vita Pardulfi abbatis Waractensis c. 2 1 . Hg. v. B . KRUSCH und W . LEVISON, MGH S S rer. Merov. 7, 1919, 38: Muster quoque vir Chunoaldus regeret Aequitaniam per perniissum Karoli...
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erlaubte, das Verhalten faktisch unabhängiger und gleichrangiger Herzöge künftig ausschließlich nach dem rechtlichen Kriterium der eingehaltenen bzw. verletzten Treue zu bewerten. Es suggeriert, daß es in Aquitanien nur einen einzigen Herzog gegeben habe, nämlich den von Karl Martell anerkannten. Karl Martell hatte sich gegenüber den Herzögen von Bayern bereits ähnlich verhalten. 725 hatte er in die dortigen Nachfolgestreitigkeiten eingegriffen und die Herrschaft eines einzigen Herzogs favorisiert, 728 ein weiteres Mal im Zusammenwirken mit dem Langobardenkönig Liutprand. Nur Hugbert, Theodeberts Sohn, wurde schließlich als Herzog anerkannt, während der Rivale Grimoald, Hugberts Onkel, aus den Quellen verschwindet 23 . Das wiederholt sich beim erbenlosen Tod Hugberts 736: largiente Carolo principe habe Odilo den bayerischen Gesamtdukat erhalten, wie wiederum die Metzer Annalen betonen, und zwar zum Jahr 743, als ebendieser Odilo vorgeblich untreu gegenüber Karl Martells Nachfolgern wurde und diese militärischen Intervention 24
reizte . Zu 744 entwickeln die Metzer Annalen jenes Muster, nach dem künftig alle Konfrontationen der Karolinger mit scheinbar unbotmäßigen und untreuen Herzögen verlaufen, seien es diejenigen von Aquitanien oder später (unter Karl dem Großen) die Herzöge Tassilo von Bayern und Grimoald von Benevent. Wegen der Treulosigkeit und Meineidigkeit Hunoalds von Aquitanien drangen 744 die Hausmeier Karlmann und Pippin nach Aquitanien ein und zwangen den Herzog zu dem Versprechen, Eide und Geiseln zu geben, und sich selbst mit allem, was er hatte, in den Dienst der unbesiegbaren Fürsten zu eigen zu geben (servitio se mancipavit, so die Annalen 25 ). Um so erstaunlicher, daß nach denselben Annalen Hunoald kurz darauf in ein Kloster auf der lie de Re eintreten und seine Herrschaft, genauer sein Fürstentum, seinem Sohn Waifar überlassen konnte - ohne jede Einwirkung oder Zustimmung der Karolinger 26 . Völlig widersprüchlich wird der aquitanische Herzog einmal als mancipium, als Knecht, und wenig später als princeps, als ein mit den Hausmeiern Gleichrangiger, angesprochen. Hunoalds Nachfolger Waifar war gefährlich, denn er bot 748 dem rebellischen Karolinger Grifo Schutz, der von seinen Halbbrüdern Karlmann und Pippin um Herrschaft, Erbe und Hausmeierwürde betrogen worden war und gerade das Angebot, zwölf Grafschaften in Neustrien more ducum, nach Art eines Herzogs zu regieren, ausgeschlagen hatte 27 W o immer Grifo auftauchte - in Sachsen, in Bayern, schließlich in Aquitanien, 23 J. J A H N , Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger, 1991, 191 ff. und 116 ff. 24 Annales Mettenses priores zu 7 4 3 (wie Anm. 2 1 ) , 3 3 . Vgl. J. J A R N U T , Beiträge zu den fränkischbayerisch-langobardischen Beziehungen im 7 . und 8 . Jahrhundert ( 6 5 6 - 7 2 8 ) , in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 39, 1976, 348 f.; DERS., Untersuchungen zur Herkunft Swanahilds, der Gattin Karl Martells, in: Zeitschrift fur Bayerische Landesgeschichte 4 0 , 1 9 7 7 , 2 4 7 ff.; J. JAHN, Hausmeier und Herzöge. Bemerkungen zur agilolfmgisch-karolingischen Rivalität bis zum Tode Karl Martells, in: Karl Martell in seiner Zeit (wie Anm. 14), 336 f 25 Annales Mettenses priores zu 744 (wie Anm. 21), 35 f. 26 Ebd. zu 744, 36: Nec multo post idem Hmaldus corona capitis deposita et monachi voto promisso in monasterium quod Radis insula situm est intravitfiliumque suum Waifarium in principatu reliquit. 27 Annales qui dicuntur Einhardi zu 748. Hg. v. F. K U R Z E , MGH SS rer. Germ. [6], 1895, 9.
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wo er mindestens fünf Jahre weilte - schürte er Opposition und bewaffneten Widerstand gegen Hausmeier Pippin. Bis 751 stellen sich die Auseinandersetzungen der Karolinger mit den Herzögen von Aquitanien als Verdrängungskämpfe zwischen Gleichrangigen, ja Gleichberechtigten dar. Die Treueversprechen der Herzöge waren allenfalls Ausdruck einer situationsbedingten Nötigung aufgrund militärischer Unterlegenheit, nicht jedoch einer generellen politischen Anerkennung karolingischer Oberhoheit oder gar einer rechtlichen Bindung an die Hausmeier. Das Treueversprechen schuf in diesen Fällen keine (dauerhafte) vertikale hierarchische Struktur. Nach Erwerb der Königsherrschaft änderte sich Pippins Vorgehen gegen Herzog Waifar grundlegend. Er trat seit 760 mit königlicher Autorität auf, die ihn in der Nachfolge der Merowinger die Herrschaft über Aquitanien fordern ließ und die ihm in der Funktion eines Schützers der Kirchen und Schwachen die Handhabe bot, den Herzog mit rechtlichen Forderungen zu konfrontieren. So sollte Waifar entfremdeten Fernbesitz fränkischer Kirchen in Aquitanien zurückerstatten, die Immunität der Kirchen beachten, keine Richter und Steuereintreiber auf die Kirchengüter schicken, dem König das schuldige Bußgeld für zu Unrecht getötete Goten zahlen und aus dem Frankenreich flüchtige homines des Königs ausliefern, wobei es sich um beides, um Oppositionelle wie um Dienst- und Abgabenflüchtige zu handeln scheint28. Waifar mußte nicht mehr wie ein gleichrangiger Rivale aus der herzoglichen Gewalt verdrängt, sondern "nur" zur Anerkennung Pippins als König gebracht werden. Aber auch dies lehnte Waifar nicht nur ab, sondern konterte seinerseits mit Angriffen auf Burgund und die Provence29. Die Verwicklungen der sich intensivierenden Kampfhandlungen und die Parteiungen innerhalb der aquitanischen Herzogsfamilie schildert der Fredegar-Fortsetzer detailfreudig und im Wesentlichen glaubhaft. Erst nachdem Waifar - wohl auf Anstiften König Pippins - von seinen eigenen Leuten 768 ermordet worden war, gewann Pippin ganz Aquitanien. Doch starb er selbst wenige Monate später. Nach dem glücklosen Widerstand Hunoalds des Jüngeren, vermutlich eines Sohnes Waifars, den Karl der Große 769 durch den Verrat des Baskenherzogs Lupus in seine Gewalt bringen konnte, wurde die Existenz eines aquitanischen Herzogtums beendet30. Karl der Große nutzte 769 keineswegs die Chance, dieses unruhige Gebiet mit wirksamen politischen und administrativen Maßnahmen in sein Reich zu integrieren. Neun Jahre lang kümmerte er sich - vorwiegend wegen der Sachsenkriege - gar nicht um Aquitanien. Er war weder selber dort, noch übte er eine indirekte Herrschaft aus, jedenfalls erfährt man von keinerlei herrscherlichen Maßnahmen. Daß hier Handlungsbedarf bestand, scheint dem König erst 778 deutlich vor Augen geführt worden zu sein, als die Nachhut seines Heeres auf dem Rückweg von Pamplona in den Pyrenäen bei Roncevaux von Basken vernichtet wurde und unter anderen Getreuen der berühmte 28 Fredegar, cont. c. 41 (wie Anm. 18), 187; Annales regni Francorum zu 7 6 0 . Hg. v. F. KURZE, MGH S S rer. Germ. [ 6 ] , 1895, 19; Chronicon Laurissense breve. Hg. v. H. SCHNORR VON CAROLSFELD, in: Neues Archiv 36, 1910, 29. 29 Fredegar, cont. c. 42 und c. 44 (wie Anm. 18), 187 f.; Annales regni Francorum zu 761 (wie Anm. 28), 20.
30 ROUCHE, L'Aquitaine des Wisigoths aux Arabs 418-781 (wie Anm. 11), 126 ff.
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Roland fiel, der Markgraf der bretonischen Mark31. Ob der baskische Herzog Lupus, der 769 Hunoald den Jüngeren ausgeliefert hatte, an diesem Desaster beteiligt war, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls war die Gascogne mehr nominell als faktisch Aquitanien und dem karolingischen König unterstellt. Im Zusammenhang von 778 steht die Mitteilung des sog. Astronomus, Karl der Große habe sich der Mithilfe von Bischöfen versichert, in ganz Aquitanien fränkische Grafen, Äbte und Vasallen eingesetzt und ihnen die Sorge für das Reich, den Schutz der Grenzen und die Verwaltung der königlichen villae auf dem Lande anvertraut32. Welche Äbte Karl der Große eingesetzt haben soll, ist freilich unbekannt; erst zu 794 lernen wir einen fränkischen Abt namentlich kennen, nämlich Ato von Saint-Hilaire vor Poitiers bzw. Nouaille, einen Verwandten der Karolinger, bald darauf Bischof von Saintes33. Als einfacher Diakon begleitete Ato 779/80 den Abt Fulrad von Saint-Denis auf einer Gesandtschaftsreise nach Rom34, so daß er offensichtlich nicht zu denjenigen gehörte, denen Karl der Große 778 eine aquitanische Abtei anvertraut hatte. Zudem gab es ja noch keine oder doch nur sehr wenige Königsklöster im Sinne des 9. Jahrhunderts, in die Äbte hätten eingesetzt werden können. Bis 800 sind allenfalls sechs Adelsklöster in Karls des Großen Schutz tradiert worden: zunächst Charroux zwischen 785 und 800, Aniane 792 und Caunes 794, dann Gellone, Goudargues-Casa Nova und Montolieu35. Hinsichtlich der Grafschaften und Grafen nennt der Astronomus neun Orte und Namen: "In Bourges setzte er [Karl] Umbert zum Grafen ein und bald darauf Sturbius, in Poitiers Abbo, im Perigord Widbod, in der Auvergne Iterius, im Velay Bullus, in Toulouse Chorso, in Bordeaux Sigwin, im Albigeois Haimo und in Limoges Rotgar"36. Entgegen seiner Aussage ist jedoch hervorzuheben, daß Karl der Große keine neue "Grafschaftsverfassung" schuf und auch nicht alle Grafen wirklich neu einsetzte, ferner nicht immer Franken an die Stelle der alten Führungsschicht setzte, sondern weitaus behutsamer vorging, als es dem Astronomus im nachhinein erschien. Er besaß 778 nicht die Machtfülle, die ihm die nachfolgende Generation unter dem Eindruck seiner mitt31 R.-H. BAUTIER, La Campagne de Charlemagne en Espagne (778), in: DERS., Recherches sur l'histoire de la France medievale, 1991, 147, zu Roland 32 ff., zu Lupus 37; HÄGERMANN, Karl der Große (wie Anm. 7), 155-162.
32 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 3. Hg. v. E. TREMP, MGH SS rer. Germ. 64, 1995, 290: Orditiavit autem per totam Aquitaniam comites abbatesque necnon alios plurimos, quos vassos vulgo vocant, ex gente Francorum, ... eisque commisit curam regni, prout utile iudicavit, finium tutamen villarumque regiarum ruralem provisionem. 33 J. F. BÖHMER, Regesta Imperii 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918, neu bearbeitet von E. MÜHLBACHER ..., 1966 [ND von 2 1908; künftig zitiert als BM 2 ], 516 = Chartae Latinae antiquiores, ed. H. ATSMA und J. VEZIN, 1987, Bd. 19, Nr. 681, 36 ff., von 794 Aug. 3. Anders ROUCHE ( w i e A n m . 11), 131.
34 Ph. DEPREUX, Prosopographie de l'entourage de Louis lePieux (781-840), 1997, 115. 35 J. SEMMLER, Karl der Große und das fränkische Mönchtum, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 2, 1965, 260 f. und 269 ff. 36 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 3 (wie Anm. 32), 290/2. Der Darstellung des Astronomus folgen L. AUZIAS, L'Aquitaine carolingienne (778-987), 1937, 17 f.; ROUCHE, L'Aquitaine des Wisigoths aux Arabes 418-781 (wie Anm. 11) 131; Ph. WOLFF, L'Aquitaine et ses marges, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1. Hg. v. H. Beumann, 1965, 290 f.
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lerweile schon glorifizierten Kaiserherrschaft zuschrieb. Wie hätte er auch nach einem verlustreichen Rückmarsch über die Pyrenäen und nach neun Jahren, nachdem er sich erstmalig wieder in Aquitanien zeigte, eine großangelegte und wohldurchdachte "Verwaltungsreform" mitsamt dem Austausch der politischen Führungsschicht durchführen sollen? Woher hätte er das entsprechende Reservoir an Personen so schnell hernehmen sollen? Abt Adrevald von Fleury beklagte um 850 rückblickend, daß nach der Eroberung des Langobardenreiches 774 Karl der Große sein palacium von den besten Männern {primates et duces) entvölkert habe, um mit ihnen seine Herrschaft in Italien und anderswo zu festigen. Die Franken seien außerdem von zweifelhafter Treue gewesen, wie sich bei der Hardrad-Verschwörung 785, bei den Sachsenkriegen und bei der Verschwörung Pippins des Buckligen 792 gezeigt habe. Nur deswegen hätten Männer unfreier Herkunft - dies ist natürlich polemisch zu verstehen - wie Sturbius/Sturmius die Grafenwürde von Bourges oder Bertmund die Grafschaft Clermont in der Auvergne erhalten können, um nur die beiden in Aquitanien tätigen Grafen zu nennen 37 . In fünf der vom Astronomus genannten neun Orte und Landschaften - in Bourges, der Auvergne, dem Perigord, Limoges und Poitiers 38 - verfügte bereits Herzog Waifar über Grafen. Dies sind mit Saintes und Angouleme genau jene befestigten Orte, von denen der Fredegar-Fortsetzer und Karolingerverwandte Graf Nibelung berichtet, daß ihre Verteidigungsanlagen auf Waifars Befehl wohl 762 nach dem Fall von Bourges und Clermont niedergelegt worden seien, um nicht den fränkischen Eroberern in die Hände zu fallen 39 . In Saintes hielten sich Waifars weibliche Verwandten auf, seine Mutter, eine der beiden Schwestern und seine Nichten, die erst 768 zusammen mit der Stadt in Pippins Hände fielen 40 . Die Auvergne war ein hartnäckiges Widerstandsnest. Ein Graf dieser Region namens Bladinus geriet 760 in König Pippins Gefangenschaft, floh aus ihr zu Waifar und verlor im Kampf gegen Franken das Leben 41 . Sein Nachfolger Chilpingus fiel ebenfalls im Kampf gegen Pippins burgundische Grafen 42 , und der von Karl dem Großen 778 eingesetzte Iterius dürfte von zweifelhafter Loyalität gewesen sein, wenn es sich um die gleichnamige Geisel von 760 handelt 43 . Ähnliches gilt für Bourges. Der von Karl dort eingesetzte Graf Umbert dürfte wohl mit dem Grafen Unibert identisch sein, der 761 in Waifars Auftrag Burgund zwischen Autun und Chalon-sur-Saöne verwüstete und 762 von König Pippin zusammen mit anderen Waskonen gefangengenommen worden war, Eide unbestimmten Inhalts geleistet hatte und mit Frau und Kindern in die Francia geführt worden war 44 . Er schloß sich - im Gegensatz zu Bladinus - Pippin an und scheint schon von diesem die Grafschaft Bourges zu-
37 Adrevald Floriacensis, Miracula s. Benedicti c. 18. Hg. v. O. HOLDER-EGGER, MGH SS 15,1, 1887,486.
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Fredegar, cont. c. 45 (wie Anm. 18), 188 f.: Graf Ammanugus, der bei einem Überfall auf Tours Leuten des Abtes Vulfard von Saint-Martin getötet wurde. Fredegar, cont. c. 46 (wie Anm. 18), 189. Annales regni Francorum zu 768 (wie Anm. 27), 26. Fredegar, cont. c. 42 und c. 47 (wie Anm. 18), 187 und 190. Fredegar, cont. c. 45 (wie Anm. 18), 188. Annales regni Francorum zu 760 (wie Anm. 27), 18 f., dort: Eitherius. Fredegar, cont. c. 42 und c. 43 (wie Anm. 18), 187 f.
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rückerhalten zu haben, denn in dessen Auftrag jagte er Waifars Onkel Remistan und ließ in als Gefangenen schließlich in der Stadt am Galgen hinrichten45. Remistan, der von seinem Vater Eudo, seinem Bruder Hunoald und seinen Neffen Waifar nie an der Herzogswürde beteiligt oder mit einer adäquaten Herrschaft in Aquitanien ausgestattet worden war, war 766 zu Pippin übergelaufen und hatte die auf königlichen Befehl erneut befestigte Burg Argenton-sur-Creuse mit dem halben Gau Berry erhalten; doch hatte er kurz danach wieder die Seiten gewechselt, um nun für Waifar das Umland von Bourges zu verheeren46. Das Bistum Bourges übrigens, von Bischof Bertelandus verwaltet47, büßte um diese Zeit bedeutenden Fernbesitz in Burgund an die karolingische Seitenlinie der sog. Nibelungen ein, zu denen der Fredegar-Fortsetzer gehörte48. Toulouse befand sich erst seit etwa 789/790 in der Hand eines sicheren Vertrauten der Karolinger, nämlich ihres Verwandten Wilhelm, nachdem der von Karl "eingesetzte" Chorso wegen seines blamablen Fehlverhaltens gegenüber einem aufständischen Waskonen abgesetzt worden war49. Von Graf Sigwin von Bordeaux ist völlig ungewiß, ob er fränkischer, waskonischer oder westgotischer Herkunft war50. Graf Rotgar von Limoges schließlich kann nicht erst 778 von Karl eingesetzt worden sein, da er sich schon 773, als er sein Testament machte, im Besitz der Grafenwürde befand51. Er tradierte sein Kloster Charroux zwischen 785 und 800 in den Schutz Karls des Großen, der es mit Grundbesitz großzügig bedacht hatte. Nur Abbo, der dem Astronomus zufolge 778 die Grafschaft Poitiers erhielt, ist tatsächlich erst nach diesem Datum, im Jahre 780 nämlich, als Graf in dieser Region nachweisbar52. Von den eingesetzten Vasallen sind nur sehr wenige namentlich bekannt, als einer der frühesten 782 der vassus dominicus Rotstagnus, der 801 vermutlich Graf von Gerona wurde53. Auch hinsichtlich der Vasallen führte Karl der Große wohl kaum grundsätzliche Neuerungen in Aquitanien ein. Wie ihre karolingischen Kontrahenten so hatten sich auch die aquitanischen Herzöge Hunoald und Waifar in den Besitz von Kirchen- und Klostergütern gesetzt, womit sie sicherlich ihre Gefolgsleute und Anhän-
45 Fredegar, cont. c. 51 (wie Anm. 18), 191. 46 Fredegar, cont. c. 46 und c. 50 (wie Anm. 18), 189 und 191. 47 Fredegar, cont. c. 42 (wie Anm. 18), 187. 48 B. KASTEN, Erbrechtliche Verfügungen des 8. und 9. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 107, 1990, 321 f. 49 Zu Wilhelm von Toulouse vgl. DEPREUX, Prosopographie de l'entourage de Louis le Pieux (wie Anm. 34), 224 f.; zu Chorso vgl. KRAH, Absetzungsverfahren als Spiegelbild der Königsmacht (wie Anm. 3), 2 1 f. 50 Ch. HIGOUNET, Bordeaux pendant le haut moyen äge = Histoire de Bordeaux, Bd. 2, 1963, 31 f., hält Sigwin für einen Franken und setzt sich von der Forschungsmeinung ab, die ihn für einen Waskonen hält und in ihm den Stammvater der Jimenez, der zweiten Dynastie von Navarra sieht. 51 Chartes et documents pour servir ä l'histoire de l'abbaye de Charroux (Archives historiques du Poitou, 39), Poitiers 1910, 53-62. 52 DEPREUX, Prosopographie de l'entourage de Louis le Pieux (wie Anm. 34), 68. 53 WOLFF, L'Aquitaine carolingienne (778-987) (wie Anm. 36), 292 f.; DEPREUX, Prosopographie de l'entourage de Louis le Pieux (wie Anm. 34), 369.
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ger ausgestattet haben 54 . Waifar hatte seine Hand insbesondere auf den Fernbesitz fremder Kirchen in Aquitanien gelegt, so wie Pippin das aquitanische Bistum Bourges um seinen burgundischen Fernbesitz beraubte 55 . Alles in allem scheint es demnach so, als ob Karl 778 zunächst einmal Vertreter der vorhandenen Führungsschicht an sich zog, sie in der Ausübung öffentlicher Gewalt, die sie ohnehin besaßen, autorisierte und in den folgenden zwölf Jahren allmählich, bei sich bietenden Gelegenheiten - etwa beim Versagen einzelner Würdenträger - daran ging, fränkische und gotische Gefolgsleute an die Stelle aquitanischer und waskonischer zu setzen. Goten waren durch Waifar verfolgt worden, vielleicht deswegen, weil sich Pippin auf sie stützte. Der gotische Graf von Maguelonne, der zeit seines Lebens diese Grafschaft behielt, zeichnete sich in den 755/60er Jahren dadurch aus, daß er mit ganzer Kraft den Franken die Treue gegen die Waskonen wahrte und seinen Sohn zur Erziehung an König Pippins Hof schickte, an dem dieser zusammen mit dem wenig älteren Karl dem Großen ausgebildet wurde 56 . Es handelt sich um den Vater Witizas, des nachmaligen Benedikt von Aniane. Karl der Große schuf also zunächst gleichsam "Herrschaftsinseln". Diese vorsichtige Vorgehensweise entsprach deijenigen, mit der das Langobardenreich in die karolingische Herrschaft integriert wurde. Von der Einführung einer hierarchisch durchstrukturierten Ordnung in Aquitanien war Karl 778 und längere Zeit danach, bis etwa in die Mitte der 790er Jahre hinein, weit entfernt. Die erwähnten Grafen waren sicherlich nicht seine Vasallen. Der Astronomus unterscheidet völlig zu Recht zwischen den beiden Personengruppen der Grafen und der Königsvasallen, auf die sich Karl bei seinen aquitanischen Maßnahmen stützte. Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum König der Aquitanier und seine Entsendung als dreijähriges Kind nach Aquitanien im Jahre 781 war ein weiterer kleiner Schritt zur Integration dieser schwer beherrschbaren Region 57 . Er erlaubte, einerseits mehr königliche Anhänger in Aquitanien zu installieren, denn der Kindkönig brauchte Erzieher, Verwalter und Berater, überhaupt einen "Hofstaat", und andererseits die lokalen adeligen Machthaber zur Ehrerbietung gegenüber einer ständig präsenten königlichen Gewalt zu bringen. Karl der Große beschritt mit dieser Maßnahme einen neuen Weg. Wenn die Merowinger ihre Söhne nach Aquitanien entsandt hatten, hatten sie sich eine herzogsähnliche Funktion für ihre waffenfähigen, erwachsenen Söhne vorgestellt, die ein unruhiges Gebiet für ihren Vater befrieden sollten. Sie schufen kein aquita-
54 H. DONIOL, Cartulaire de Brioude, Liber de honoribus s. Tuliano collatis, Clermont und Paris 1863, Nr. 2 5 , 4 7 f. 55 Siehe Anm. 28 und 48. 56 Ardo, Vita Benedicti abbatis Anianensis et Indensis c. 1. Hg. v. G. WAITZ, MGH SS 15,1, 1887, 201: Pater siquidem eius comitatum Magdalonensem quoadusque vixit tenuit et Francorum genti fidelissimus totis viribus extitit, fortis et ingeniosus; hostibus enim valde erat infestus. Hic nempe magna postravit strage Wascones, qui vastandi gratia fines regni Francorum fuerant ingressi; e quibus nullus evasit... 57 Vgl. E. BOSHOF, Ludwig der Fromme, 1996, 28 ff.; DEPREUX, Prosopographie de l'entourage de Louis le Pieux (wie Anm. 34), 25-29 und 42-46.
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nisches Königreich für ihre Söhne58. Karl der Große hingegen wollte 781 offenbar die Keimzelle für eine heranwachsende Königsmacht in Aquitanien begründen. Die erste Möglichkeit, die Königsgewalt tatsächlich zur Geltung zu bringen, bot sich etwa 794/95 sachlich über die Rückforderung der durch die Großen entfremdeten Königsgüter. Der inzwischen für volljährig erklärte, 791 mit dem Schwert umgürtete Ludwig der Fromme hatte seinem Vater eingestehen müssen, fast mittellos und nur dem Namen nach ein Herr zu sein. Es war jedoch nur billig, daß ein König und sein Hofhalt ein angemessenes Auskommen hatten, zumal Ludwig kurz darauf heiratete. Um dem Ansehen seines Sohnes nicht zu schaden, aber auch um dessen Durchsetzungsfähigkeit nicht zu kompromittieren, ließ Karl der Große diese unpopuläre Maßnahme durch auswärtige, hochrangige Königsboten durchführen: Erzbischof Willebert von Rouen und Graf Richard, den provisor villarum59. Nach 794 übte Ludwig der Fromme eine recht weitgehende fiskalische Verfügungsmacht aus. Er gründete ein Kloster auf Königsgut (Conques/Rovergue)60, vergab Wüstungen zur Errichtung eines Klosters (St. Grata/ Urgel)61, verlieh eine villa als beneficium (an Abt Benedikt von Aniane)62 und tätigte jährlich Anweisungen aus dem königlichen Schatz für ein Kloster (St. Hilaire/Nouaille)63. In wirtschaftlicher Hinsicht war der aquitanische König eine hierarchisch zu denkende Zwischengewalt zwischen dem Gesamtherrscher Karl dem Großen und den aquitanischen Großen. In anderen Funktionsbereichen war dies allerdings nicht der Fall. In militärischer Hinsicht stand der König von Aquitanien in dem gleichen Abhängigkeitsverhältnis zu Karl dem Großen wie die aquitanischen Markgrafen. Er befehligte nicht automatisch den Heerbann seines Reiches, denn Karl beanspruchte für sich allein zu bestimmen, ob sein Sohn oder der Markgraf von Toulouse oder Königsboten Feldzüge nach Spanien anführten. Ludwig der Fromme sollte dies später als Kaiser übrigens ebenso halten, so daß hier offensichtlich ein struktureller Sachverhalt der Herrschaftspraxis vorliegt, der nicht mit einer persönlichen Schwäche Ludwigs des Frommen, etwa seiner angeblichen militärischen Unfähigkeit, abgetan werden kann. Die als Markgrafschaft fungierende Grafschaft Toulouse war das wichtigste politisch-militärische Zentrum Aquitaniens. Die erzählenden Quellen würdigen die Sonderstellung des Grafen von Toulouse, indem sie ihn als Herzog und seine Befehlsfulle als ducatus bezeichnen. In einem ganz wesentlichen Teil ihrer Beziehungen zum Gesamtherrscher standen der König von Aquitanien und der Markgraf von Toulouse, der mit Wilhelm zu dieser Zeit eine herausragende Persönlichkeit und zudem ein Karolingerverwandter gewesen ist, nebeneinander. 58 59
Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8), 49 ff. und 55 £ Ludwig der Fromme (wie Anm. 57), 56 f. 2 6 0 BM 6 8 8 = Cl. DEVIC und J. VAISSETE, Histoire generale de Languedoc, Bd. 2 , Toulouse 1 8 7 5 , Preuves Nr. 5 2 , 1 2 6 ff. (von 8 1 9 April 8). Vgl. J. MARTINDALE, The Kingdom of Aquitaine and the "Dissolution of the Carolingian Fisc", in: Francia 1 1 , 1 9 8 3 , 1 4 0 f. 2 6 1 BM 7 7 5 = R . D' ABADAL Υ DE VINYALS, Catalunya Carolingia, Bd. 2 , 1, Barcelona 1 9 2 6 - 5 2 , Nr. 1,260 ff. (von 823 Juni 21). 62 BM2 969 = DEVIC - VAISSETE (wie Anm. 60) Nr. 92,200 f. (von 837 Okt. 17) (darin erwähnt). 6 3 B M 2 5 1 9 = Documents pour Γ histoire de L'eglise de St-Hilaire de Poitiers. Hg. v. L. REDET, Poitiers und Paris 1848, Nr. 3, 3 ff. (von 808 Mai). KASTEN, BOSHOF,
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Toulouse war zwar geographisch und verwaltungsmäßig ein Teil Aquitaniens, aber nicht des aquitanischen Königtums. Von hier wurde die Grenzverteidigung gegenüber dem muslimischen Spanien geleitet. Die Hauptaufgabe des Königs von Aquitanien war es dagegen, seinen Vater persönlich und mit Kontingenten seines Reiches bei dessen militärischen Unternehmen gegen die Awaren und die Sachsen, aber auch in Italien zu 64
unterstutzen . Das Herrschaftsgefüge im Innern des aquitanischen Königreiches war gleichfalls eher offen als streng hierarchisch organisiert. Nicht nur Wilhelm von Toulouse verstand sich als Getreuer sowohl des Gesamtherrschers als auch des Königs von Aquitanien 65 . Als sich der spanische Flüchtling Johannes in Septimanien niederließ, dort Land vermutlich von Ludwig dem Frommen erhalten hatte, nach der Urbarmachung sich mit einem Begleitschreiben Ludwigs des Frommen zu Karl dem Großen begab und sich diesem kommendierte, wurde er von diesem nicht nur zur Treue gegenüber ihm selbst, sondern auch gegenüber seinen Söhnen verpflichtet - nicht jedoch allein auf den für Aquitanien zuständigen König 66 . Das korrespondiert mit der Treueidformel von 789, die eine doppelte Bindung gegenüber Karl dem Großen und seinen Söhnen enthielt 67 . In dieser doppelten Treueverpflichtung wird eine Form von Zweiherrigkeit der Großen sichtbar, die zur Herrschaftspraxis der Karolinger gehörte, wie sich aus parallelen Entwicklungen im Königreich Italien sicher erschließen läßt 68 . Auf der unteren Ebene der homines versuchten Karls des Großen Söhne, die unmittelbare Zugriffsgewalt ihres Vaters abzuschneiden und sich zu alleinigen Herren dieser Leute zu machen. Königsboten und Grafen wagten nicht mehr, gegen die homines der Königssöhne und -töchter vorzugehen, gegen Leute, die sich vor Kriegsdiensten drückten, indem sie behaupteten, sie begäben sich zum Dienst zu ihren königlichen Herren und müßten daher nicht wie die übrigen pagenses ausrücken. 808 und 811 schritt Karl energisch ein und reservierte sich in militärischen und fiskalischen Angelegenheiten den direkten Zugriff auf die Leute seiner Söhne 69 . Schon 802 hatte er den Treueid auf seine Person monopolisiert, da dieser nun nicht mehr zugleich auch auf die Königssöhne zu leisten war 70 . Und 805 hatte der Kaiser erläutert, daß der Treueid nur dem Gesamtherrscher und dem eigenen senior zum aussschließlichen Nutzen dieser beiden geleistet werden dürfe 71 . Die Könige von Aquitanien und Italien sollten den Treueid demnach nur noch entgegennehmen dürfen, wenn ein homo sich einen von ihnen zum 64 KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8) 276 ff.; BOSHOF, Ludwig der Fromme (wie Anm. 57), 31. 65 BM 2 517 = DEVIC - VAISSETE (wie Anm. 60) Nr. 18, 70 (von 807 Dez. 8). Vgl. auch BM 2 519 (wie Anm. 63) mit der Adresse cunctis fidelibus sanctae Dei ecclesiae et domni imperatoris ac nostri. 66 D Karl der Große Nr. 179 (von [795] März) = MGH Diplomata Karolinorum 1. Bearb. v. E. MÜHLBACHER, 1 9 0 6 , 2 4 1 f.
67 BECHER, Eid und Herrschaft (wie Anm. 21), 120 ff. 68 Zur Zweiherrigkeit vgl. KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8), 300 f. 69 MGH Capitularia 1. Hg. v. A. Boretius, 1883, Nr. 50, c. 5, 137; Nr. 51, c. 13, 139; Nr. 70, c. 1, 160; Nr. 73, c. 7, 165; Nr. 162, c. 1,325. 70 MGH Capitularia 1, Nr. 23, c. 18, 63. 71 MGH Capitularia 1, Nr. 44, c. 9, 124.
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senior ausgesucht hatte. Dieser konnte aber auch einen Grafen oder geistliche Herren zu seinem senior machen, so daß sich die zu Königen erhobenen Königssöhne hierin nicht grundsätzlich von adeligen Inhabern öffentlicher Gewalt unterschieden, sich also nicht als Zwischengewalt zwischen den Gesamtherrscher und den Adel ihrer Reiche schoben. Eine strenge Hierarchiebildung war damit ausgeschlossen. Der Treueid oder die Vasallität ist von Karl dem Großen mithin nicht als Mittel zur Schaffung einer mehrstufigen vertikalen Herrschaftsstruktur verstanden worden. Zum Verhältnis zwischen Karl dem Großen und seinen zu Königen erhobenen Söhnen ist zu bemerken, daß dieses weder durch den Treueid noch durch eine vasallitische Bindung geregelt wurde, sondern ausschließlich durch die Normen des Vaterrechts und des Sohnesgehorsams. Erst Ludwig der Fromme verlangte seinen Söhnen Eide unterschiedlicher Art ab - darunter auch solche der Treue -, aber erst nachdem er sich auf die Folgeleistung aufgrund des Sohnesgehorsams allein nicht mehr verlassen konnte, also seit etwa 83072. Am Beispiel Aquitaniens wird deutlich, wie bedächtig Karl der Große bei der Errichtung seiner Herrschaft vorging und wie offen das Verhältnis zwischen Gesamtherrscher, königlichen Mittelgewalten und adeligen Inhabern öffentlicher Gewalt gestaltet war. Man wird wohl Abschied nehmen müssen von der Vorstellung eines hierarchisch gedachten Gemeinwesens im Sinne eines Gustav Eiten73, das letztlich auf dem Erfahrungshorizont der wilhelminischen Bürokratie mit einer streng geregelten Befehl-undGehorsam-Struktur beruht.
72 KASTEN, Königssöhne und Königsherrschaft (wie Anm. 8), 229-238 mit eingehender Diskussion der Forschungsmeinungen. 73 G. EITEN, Das Unterkönigtum im Reiche der Merowinger und Karolinger, 1907.
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Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen
I Das bekannteste Beispiel für die Bedeutung einer vasallitischen Bindung innerhalb der karolingischen Familie ist der Fall des Herzogs Tassilo III. von Bayern, der 757 in Compiegne eine solche Verpflichtung gegenüber König Pippin und seinen Söhnen eingegangen war. Die moderne Diskussion über dieses Ereignis und seine Folgen steht einseitig in der Perspektive des staatsrechtlichen Verhältnisses zwischen dem Frankenreich und dem Herzogtum Bayern. Dies hat eine lange Tradition seit Heinrich Canisius 1603 in seiner "Antiqua lectio" das "Francicorum annalium fragmentum" aus einem Band der Bibliothek Herzog Maximilians I. von Bayern, veröffentlichte, wobei diese Vorlage ihrerseits als Abschrift auf einen Pergamentcodex der Abtei Lorsch zurückging 1 . Schon gleich in der Widmung des Buches an Christoph Fugger, bei deren Gelegenheit er kurz den Inhalt einzelner Stücke vorführte, pries Canisius mit keckem Zweckoptimismus die Bedeutung gerade dieser Quelle für die Geschichte des Hauses Bayern: "Taceo quod Chronicon Francicum totum pene in laudes Serenißimae Domus Bauariae redundat" 2 . Darüber hatte er auch mit dem vor allem durch die Veröffentlichung der Peutinger'schen Tafel bekannten Augsburger Historiker Marcus Welser korrespondiert, der ihm unter anderem geschrieben hatte: "Historiam Taßilonis hic distinctius; quam fere vllibi reperi" 3 . In der also auf den Beginn des 17. Jahrhunderts zurückzuführenden traditionellen Beleuchtung erscheint es bis heute wie eine Nebensächlichkeit, daß Tassilo durch seine Mutter Hiltrud, die vielleicht noch zu Lebzeiten ihres Vaters Karl Martell, jedenfalls 1 H. CANISIUS, Antiquae lectionis tomus III. bipartitus, in quo XI. antiqua monumenta, numquam edita, Ingolstadt 1603, 187-217; vgl. 188: "Insignis huius fragmenti Chronici apographum extat in Bauarica bibliotheca, quod transcriptum esse ex membranis peruetustis Monasterii Laurissae prope Wormatiam, testatur is ipse qui transcripsit". 2 Ebd. fol. 3 (Widmungen). 3 Ebd. 189.
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aber zum Nachteil der Erbansprüche ihrer Brüder, den Bayernherzog Odilo geheiratet hatte4, ein Neffe Pippins gewesen ist, der überdies gerade erst volljährig geworden war. So bewertete etwa Heinrich Mitteis das Vasallitätsverhältnis zwischen Tassilo und König Pippin allein aus der Sicht der Entwicklung der Staatsverfassung: "Sie [i. e. die Vasallität] beginnt bald den ursprünglichen Rahmen zu sprengen und die Form für höhere Beziehungen, vor allem politische Bündnisse, zu werden: dem König kommendieren sich jetzt unter Leistung des Treueids die Führer angegliederter Stämme, wie der Baiernherzog Tassilo ,.."5. Noch Walther Kienast, der immerhin anerkannte, daß die vasallitische Unterwerfung von 757 "einen bereits eingewurzelten fränkischen Brauch" repräsentierte, meinte, das Bemerkenswerteste sei die ungeheure Neuerung gewesen, daß Tassilo "in dieses mit Handgebärde verbundene vasallitische Rechtsverhältnis hineingezwungen und damit nach allgemeiner Anschauung tief erniedrigt wurde"6. Die Quellen verbalisieren übrigens die hier angesprochene Demütigung nicht. Sie wurde nur erschlossen aus einem den modernen Anschauungen entsprechenden Maßstab für ein ideales staatsrechtliches Verhältnis zwischen König und Herzog. Die Zeitgenossen haben indessen den dynastischen Aspekt, die verwandtschaftlichen Beziehungen des Bayernherzogs, keineswegs als nebensächlich eingeschätzt. Als nach dem Ableben Karl Martells des toten Hausmeiers Söhne Pippin und Karlmann, den Willen ihres Vaters mißachtend7, die Herrschaft unter sich alleine teilten, ohne ihrem Halbbruder Grifo eine partnerschaftliche Teilhabe am gemeinsamen Erbe einzuräumen, versuchte dieser, sobald es ihm möglich war, den erlittenen Schaden auszugleichen.
4 J. JARNUT, Studien über Herzog Odilo (736-748), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 85, 1977, 283; M. BECHER, Zum Geburtsjahr Tassilos ΠΙ., in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 52,1989, 3-12; J. JAHN, Hausmeier und Herzöge, in: Karl Martell in seinerzeit. Hg. v. J. Jamut, U. Nonn, M. Richter, 1994, 339. 5 H. MITTEIS, Der Staat des hohen Mittelalters, 8 1968 [erste Auflage 1940], 59. 6 W. KIENAST, Die fränkische Vasallität. Hg. von Peter Herde, 1990, 80-117; Zitate 80 und 112 f. Da in diesem Abschnitt und bei M. BECHER, Eid und Herrschaft, 1993, 21-77, alle wesentliche Literatur aufgearbeitet ist, wird hier auf eine umfängliche Bibliographie verzichtet. Zur gesamten Karriere Tassilos vgl. zuletzt R. SCHIEFFER, Ein politischer Prozeß des 8. Jahrhunderts im Vexierspiegel der Quellen, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Hg. von R. Berndt, 1997, 167-182 (hier Liste jüngerer Arbeiten 167 Anm. 1). 7 Zu der von Karl Martell gewünschten Dreiteilung des Erbes unter Berücksichtigung Grifos vgl. Regesta Imperii 1. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918, nach Johann Friedrich Böhmer neubearb. von E. MÜHLBACHER, nach Mühlbachers Tode vollendet von J. LECHNER, Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen von C. BRÜHL U. H. H. KAMINSKY, 1966 [künftig: Reg. Imp. I 2 ], Nr. 42 a. Über den Umstand, daß dieses Konzept der traditionell gewordenen Zweiteilung zwischen Neustrien-Burgund und Austrasien widersprach, vgl. E. EWIG, Descriptio Franciae, in: DERS., Spätantikes und fränkisches Gallien 1. Hg. von H. Atsma, 1976, 275 [früher in: Karl der Große 1: Persönlichkeit und Geschichte. Hg. von H. Beumann, 1965], - Ein meist übersehenes Zeugnis für die letzten Pläne Karl Martells ist der unmittelbar nach dessen Tod an Grifo gerichtete Brief des Bonifatius: Die Briefe des hl. Bonifatius und Lullus, ed. M. TANGL, MGH Epp. sei. 1, 1916, 76-78 Nr. 48. Es ist gewiß auch von Bedeutung, daß Lul nur diesen Brief in die Sammlung aufnehmen ließ, nicht aber die sicher anzunehmenden parallelen Schreiben an Pippin und Karlmann.
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Zunächst nistete er sich in Sachsen ein, wurde jedoch dort von Pippin vertrieben. Daraufhin begab er sich nach Bayern, nahm Hiltrud, seine gerade verwitwete Halbschwester, und deren Sohn Tassilo unter seine Fittiche und versuchte, sich hier als Herr dauerhaft zu etablieren. Aber auch dies ließ Pippin nicht zu, zwang ihn 748, nach Neustrien zu gehen, versorgte ihn dort wie einen Herzog mit Territorien und übertrug Bayern direkt an den jungen Tassilo 8 . Der bayerische Enkel Karl Martells war also aufgrund seiner eigenen Erbansprüche eine wichtige Figur im Kampf Pippins, Karlmanns und Grifos um die Aufteilung der Hausmeierherrschaft, nicht bloß der Repräsentant eines Herzogtums. Daß gerade die Verwandtschaft Tassilos mit den Karolingern als eine wichtige Vorgabe für die Politik Pippins und Karls des Großen betrachtet wurde, zeigt eine Bemerkung des Astronomen in der Lebensbeschreibung Ludwigs des Frommen. Unmittelbar nach dem Tod des Vaters habe Ludwig seine Beauftragten nach Aachen geschickt, ne quod per Hodilonem et Hiltrudem olim acciderat, revivesceret scandalurrfi, damit also nicht durch eine unerwünschte Vermählung seiner Schwestern wieder solche Komplikationen entstünden wie seinerzeit durch Hiltrud und Odilo. Bei der Übertragung des Herzogtums 748 war Tassilo auf jeden Fall noch minderjährig, so daß dieser Akt wie die vorläufige Zusicherung einer späteren Verleihung erscheint, verbunden mit der zwischenzeitlichen Verwaltung durch einen Regenten oder eine Regentin. Eine solche Auffassung entspräche unserem modernen Rechtsverständnis, aber sie gibt nicht ganz die Sichtweise der Autoren unserer Quellen, der Zeitgenossen wie der etwas späteren Chronisten, wieder. Für sie war die Handlung von 748 eine gültige Verleihung vom Herrn auf den Gefolgsmann, die dementsprechend ganz formell unter persönlicher Beteiligung des kleinen Tassilo, nicht mithilfe eines Stellvertreters, durchgeführt worden sein muß. Aus dem in den Berichten gebrauchten Wort beneflcium ergibt sich 10 , selbst wenn man es unspezifisch als "Gnade" oder 8 Vgl. Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 57 b-f. Die chronologischen Überlegungen von Mühlbacher, nach denen Grifo nach dem Tod von Herzog Odilo (748 I 18) über ein Jahr gebraucht hätte, um sich Bayerns zu bemächtigen, weshalb die Einsetzung Tassilos nach Zeugnis peripherer Quellen auf 749 (statt 748, wie die sog. Reichsannalen und ihre Verwandten angeben) zu verlegen wäre, scheinen ganz in der Vorstellung des zu bewältigenden Flächeninhalts des Herzogtums verwurzelt. Sein Ziel konnte Grifo aber dann schnell erreichen, wenn er Hiltruds und Tassilos habhaft wurde. Wie die Chronisten erzählen, ist ihm genau dies sofort gelungen. Wenn die frühalemannischen Annalen die Ereignisse so verteilen, daß Grifo 748 nach Sachsen kommt, 749 nach Bayern und schließlich 750 aus Bayern herausgeholt wird, vgl. W. LENDI, Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik, 1971, 152 f., so handelt es sich offensichtlich nicht um mit diesen Zahlen zusammen überlieferte Nachrichten, sondern um die redaktionelle Stoffverteilung einer Quelle auf die zur Verfügung stehenden Jahre. KIENAST, Die fränkische Vasallität (wie Anm. 6), 81 f. Anm. 264, hat m. E. Recht, wenn er das von den Annales Laurissenses maiores angegebene Jahr 748 bevorzugt. 9 Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs - Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, ed. u. übers. E. TREMP, MGH SS rer. Germ. [64], 1995, hier: 348, mit Kommentar 349 Anm. 276 (Astronomus cap. 21).
10 Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, ed. F. KURZE, MGH SS rer. Germ. [6], 1891, 8 (Annales Laurissenses maiores): Tassilonem in ducatu Baioariorum conlocavit per suum beneficium, von Regmo abbas Prumiensis [Regino von Prüm], Chronicon cum continuatione Treverensi, ed. F. KURZE, MGH SS rer. Germ. [50],
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"Gnadenerweis" übersetzen möchte 11 , doch zwingend der Rahmen eines Verhältnisses der Unterordnung, denn Pippin war Hausmeier, der junge Tassilo nur Herzog. Eine Stellvertretung durch die Mutter oder andere Vormünder war anscheinend nicht möglich. Das Kind erscheint hier nicht mehr unter der Obhut der Mutter, sondern wird als eigenständig behandelt. Wie aber wurde dieses Unterordnungs- und Loyalitätsverhältnis zeremoniell nach außen hin bekannt gemacht und damit dokumentiert? Wir werden auf diese Frage zurückkommen. Aus der Minderjährigkeit Tassilos bei dem Geschehen von 748 erklärt sich zwanglos sein Erscheinen 757 auf dem Tag von Compiegne. Damals hat sich Tassilo nicht nur seinem inzwischen König gewordenen Onkel und dessen Söhnen als Vasall unterstellt, wobei die erwachsenen Bayern in seiner Begleitung ebenfalls Eide leisteten 12 , sondern
1890, a. 747, S. 43 gekürzt zu: Tassilonem ducem Baioariorum constituit, bei Ado von Vienne, Chronicon in aetates sex divisum, in: J.-P. MIGNE, Patrologiae latinae cursus completus 123,1879, Sp. 23-138, hier: a. 748 Sp. 123 A, dagegen ausführlicher: Tassilonem vero in ducatum Bajovariorum posuit, eique per beneficium Bajovariam commisit. - Zu der von Ado und Regino verwendeten, stofflich über die Annales Laurissenses maiores hinausgehende Vorlage (sog. Reichsannalen) vgl. W. KREMERS, Ado von Vienne. Sein Leben und seine Schriften, 1911 [Phil. Diss. Bonn], 98-103. Im Unterschied zu den andern Ableitungen der sog. Reichsannalen überliefert Ado auch Maurienne als Ort, an dem Grifo erschlagen wurde, vgl. ebd. 93. - Über die ebenfalls weitgehend parallele Verwendung der älteren, kleinen Annalen bei Ado und Regino vgl. N. SCHRÖER, Die Annales S. Amandi und ihre Verwandten, 1975, 33-70. 11 So nach älteren Vorarbeiten: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 1, neu bearb. von R. RAU 1980 [Nachdruck der Ausgabe von 1968], 13. KIENAST, Die fränkische Vasallität (wie Anm. 6), 81 f. Anm. 284, räumt zwar ein, daß beneficium bereits in dieser Zeit in der Bedeutung von "Lehen" vorkommt, nimmt auch die Konkurrenz zwischen Grifo und Pippin im Blick auf Tassilo sehr wohl wahr, will aber trotzdem von einer Belehnung 748 nichts wissen: "Trotzdem bleibt es zweifelhaft, ob Tassilo wirklich mit Bayern belehnt wurde". Konsequenterweise glaubt er, Pippin habe nach dem Tod Hiltruds 754 für seinen Neffen regiert. SCHIEFFER, Ein politischer Prozeß (wie Anm. 6), 170, läßt beide Übersetzungsmöglichkeiten offen. - S. REYNOLDS, Fiefs and Vassais, 1994, 86, 98, hält in ihrer Behandlung der Vasallität Tassilos die Vorgänge von 748 nicht für bedeutsam. 12 Annales Laurissenses maiores a. 757 (wie Anm. 10), S. 14-16: rex Pippinus tenuitplacitum suum in Compendio cum Francis; ibique Tassilo venit, dux Baioariorum, in vasatico se commendans per manu, sacramenta iuravit multa et innummerabilia, reliquias sanctorum manus imponens, et jidelitatem promisit regi Pippino et supradictis filiis eius, domno Carolo et Carlomanno, sicut vassus recta mente et firma devotione per iustitiam, sicut vassus dominos suos esse deberet. Sic confirmavit supradictus Tassilo supra corpus sancti Dionisii, Rustici et Eleutherii necnon et sancti Germani seu sancti Martini, ut omnibus diebus vitae eius sie conservaret, sicut sacramentis promiserat; sie et eius homines maiores natu, qui erant cum eo, firmaverunt, sicut dictum est, in locis superius nominatis quam et in aliis multis. Von Regino, Chronicon a. 756 (wie Anm. 10), S. 46, gestrafft: rex Pippinus tenuit placitum suum in Compendio; ibique Tassilo venit dux Baiorariorum et suus effectus est per manus sacramentaque multa iuravit Pippino et filiis eius supra corpus sancti Dionisii et sancti Germani et sancti Martini; similiter et eius homines meliores fecerunt. Anders gekürzt von Ado, Chronicon (wie Anm. 10) 124 Β (ohne Jahr): Tenenteplacitum Pippino Regem (!) Compendio, Tassilo dux Bajovariorum ad illum ibi venit, seque Uli in vassallum commisit, atque super corpora sanctorum martyrum Dionysii, Rustici, et Eleutherii, simul et super corpora sanctorum confessorum Martini et Germani juravit ut in omnibus diebus vitae suae regi filiisque ejus integram fidem cum subditione
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erst von da an konnte er das Herzogtum seines Vaters als Volljähriger und in einer für ihn als Erwachsenen verpflichtenden Einbindung in die Herrschaft des Königs und das Reich der Franken innehaben. Den Bericht über diese Ereignisse hat Regino von Prüm im Vergleich zum Textbestand der Annales Laurissenses maiores sehr stark gekürzt, das Eingehen einer vasallitischen Bindung mit Handgang von Seiten Tassilos aber deutlich genug hervorgehoben. Dafür scheint er eine über das Material der genannten Annalen hinausgehende Quelle verwendet zu haben. Daß es neben der durch die Annales Laurissenses maiores überlieferten Redaktion der sog. Reichsannalen eine ausführlichere Version gegeben hat, zeigt jener ältere Annalenstrang, in welchem der Handgang eingehender geschildert wird13: Regino, die jüngeren Annales Einhardi, die es ebenso machen und in denen der Vorgang zusätzlich als more francico inszeniert bezeichnet wird14, aber auch die Chronik des Ado von Vienne, weil sie die Datierungsformel mitliefert und die bei der Eidesleistung verwendeten Reliquien ausdrücklich nach Märtyrern und Bekennern klassifiziert, während die andern Ableitungen nur die entsprechende Anordnimg belassen haben15. Dies sind Einzelheiten, die man selbst bei geschickter Interpretation nicht aus dem heute noch vorliegenden Text der Annales Laurissenses maiores rekonstruieren konnte16. Gerade die Reliquien der hl. Dionysisus, Eleutherius, Rusticus, Germanus und Martinus müssen für den Akt von Compiegne mit besonderer Sorgfalt ausgewählt worden sein. Sie spiegeln exakt die besondere Affinität Pippins zu bestimmten neustrischen Heiligenkulten17 wieder. Bei der Erhebung der Gebeine des Germanus von Paris wenige Jahre zuvor waren er und sein Sohn Karl (der Große), der dabei seinen ersten Milchzahn verlor, sogar persönlich beteiligt gewesen18. Während des aquitanischen Feldzugs des Jahres 763, den Pippin von Nevers aus unternahm, brach Tassilo jedoch seine Eide, verließ das Heer seines Onkels und zog sich nach Bayern zurück, um, wie es die Annales Laurissenses ausdrücken, das Angesicht des Königs nie mehr sehen zu wollen19. servaret. Acta sunt haec anno Incarnationis Domini septingentesimo quinquagesimo octavo. Omnesque majores Bajovariorum una cum ipso sacramentis jurationum obstricti sunt. Die Quelle der drei Chronisten muß die genannten Heiligen nicht nur nach ihren Ordines aufgezählt, sondern diese auch angegeben haben, wie es bei Ado steht, denn es war leichter und sinnvoller, diese Klassifizierung herauszukürzen, als sie nachträglich einzufügen. Auch wird es in ihr schon eine Datierung gegeben haben. 13 Darauf verweisen bereits J.-P. POLY - E . BOURNAZEL, La mutation feodale, X E - X Ü E siecles, 1980, 108. 14 Annales Einhardi (wie Anm. 10) 15. - Die Annales Mettenses priores, ed. B. VON SIMSON, MGH SS rer. Germ. 10, 1905, 49 f., erwähnen den Handgang überhaupt nicht. 15 Vgl. oben Anm. 12. 16 Vgl. auch oben Anm. 12. Auf die redaktionelle Bedingtheit (die keine Abstufung des Quellenwerts erlaubt) der Varianten wies bereits hin M . ROUCHE, LAquitaine des Wisigoths aux Arabes 418-781, 1979, 368 mit 672 Anm. 241. 17 Vgl. R.-H. BAUTIER, Le poids de la Neustrie, in: La Neustrie. Hg. V. H. Atsma (Beihefte der Francia 16/1), 1989, 540 f. 18 Ε translationibus et miraculis s. Germani, ed. G. WAITZ, MGH SS 15/1, 1887, 7 f. 19 Annales Laurissenses maiores a. 763 (wie Anm. 10), S. 22: et nusquam ampliusfaciem supradicti regis videre voluit; die Annales Einhardi a. 763 (wie Anm. 10), S. 23, bieten die Version: ßrmatoque
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Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß Grifo 748 versuchte, sich seinen Neffen Tassilo Untertan zu machen, um damit ebenfalls eine Hausmeierherrschaft auszuüben, wie sie von seinen Brüdern praktiziert wurde. Pippin wiederum unterband diese Bestrebungen, bewahrte seinen Neffen vor dem Verlust des Herzogsrangs, übertrug ihm das väterliche Herzogtum, gewiß nicht ohne dabei auch ein erstes persönliches Treueverhältnis zu installieren, das ich als Knabenvasallität bezeichnen möchte. Die Annales Einhardi betonen im übrigen, daß Tassilo sein Herzogtum damals zurückerhielt20, also im Verhältnis zu dem Zustand während der Machtübernahme Grifos wieder bessergestellt wurde. Zehn Jahre später erreichte Pippin von Tassilo die vasallitische Unterordnung des Erwachsenen, der sich der junge Bayernherzog allerdings nach weiteren fünf Jahren mitten im Krieg entzog. Es hat überdies einen erheblichen interpretatorischen Vorteil, wenn man für das Jahr 748 zunächst eine Knabenvasallität Tassilos einräumt, die der aufwendigen Zeremonie des Jahres 757 in Compiegne vorausging. Manche Annalenredaktionen beschreiben diese nicht einmal in abgekürzter Form, wie etwa die Annales Mettenses priores21, sondern erwähnen sie überhaupt nicht mehr. Dies ist zu beobachten bei den Annales Laurissenses minores, aber auch bei den sog. Annales Fuldenses, die eigentlich Mainzer Reichsannalen sind22. Das hat die Forschung zu sehr weitgehenden Spekulationen über Gehalt oder gar Glaubwürdigkeit des Zeremoniells von 757 verleitet23. Eine Nichterwähnung Tassilos zu 757 war aber unter dem Gesichtspunkt einer konzisen Redaktion von Annalen durchaus zu rechtfertigen, weil der Knabenvasallität von 748 die Kommendation des Erwachsenen logischerweise folgen und deshalb nicht eigens behandelt werden mußte. Bei einer Betrachtung der späteren Auseinandersetzungen Karls des Großen mit seinem Vetter ist man versucht, Sympathie für den Schwächeren zu empfinden und sich darüber zu verwundern, daß Karl die lange zurückliegende "Fahnenflucht" von 763 erst 788 in Ingelheim gerichtlich wieder aufgriff, auf diesem Wege einen Urteilsspruch der Großen erwirkte und so die Herrschaft des Herzogs beendete. Heinrich Mitteis hatte den
ad defectionem animo ad regis conspectum ulterius se venturum abiuravit, Regino, Chronicon (wie Anm. 10), 47, bietet inhaltlich dasselbe, betont darüber hinaus aber die Undankbarkeit des Herzogs: postpositis sacramentis fraudulenter se inde subduxit, omnia beneßcia oblitus, quae rex avunculus eius eifecerat et Baioariam regeressus amplius noluit videre faciem supradicti regis; vgl. Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 95 d. 20 Annales Einhardi (wie Anm. 10) 9: Tassilonem in ducatum restituit. 21 Vgl. oben Anm. 14. 22 Annales Laurissenses minores, ed. G. H. PERTZ, MGH SS 1, 1826, 112-123, hier 116, Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis ab Einhardo, Ruodolfo, Meginhardo Fuldensibus Seligenstadi, Fuldae, Mogontiaci conscripti cum continuationibus Ratisbonensi et Altahensibus, ed. F. KURZE, MGH SS rer. Germ. 7, 1891, 11. - Zur Einordnung der sog. Annales Fuldenses vgl. F. STAAB, Klassische Bildung und regionale Perspektive in den Mainzer Reichsannalen (sog. Annales Fuldenses) als Instrumente der geographischen Darstellung, der Bewertung der Regierungstätigkeit und der Lebensverhältnisse im Frankenreich, in: Gli umanesimi medievali. Hg. von C. Leonardi, 1998, 637668. 23 Vgl. unten S. 75.
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tieferen Grund hierfür im "Zusammenbruch des Langobardenreichs" 24 ausgemacht, der aber auch schon fünfzehn Jahre zurück lag, also nicht unmittelbar wirksam geworden wäre, sondern Spätfolgen ausgelöst hätte. Rudolf Schleifer blickte auch auf das Verhältnis zu Italien und sah einen Zusammenhang mit den 787 sowohl von Arichis von Benevent als auch von Tassilo von Bayern, den beiden Schwiegersöhnen des von Karl gestürzten Langobardenkönigs Desiderius, abverlangten Eiden 25 . Die Pause zwischen Aktion und Reaktion erscheint jedoch nicht gar so lang, wenn man nicht bloß Eide und Prozesse berücksichtigt. Schon unmittelbar nach der Fahnenflucht Tassilos ließ König Pippin 764 in Worms neben andern Angelegenheiten auch die des Bayernherzogs verhandeln 26 . 781 beorderte Karl seinen Vetter nach Worms, damit er die einst Pippin geleisteten Eide wiederholte 27 . Dann folgte der erneute Widerstand Tassilos, die erzwungene Unterwerfung von 787, schließlich 788 der Ingelheimer Prozeß, dem anläßlich des Frankfurter Konzils von 794 noch einmal eine formelle Abdankung folgte 28 . Was hatte Tassilo dazu bewogen, sich so undankbar gegenüber seinem Onkel zu erweisen, der ihm schließlich den väterlichen Herzogsrang wiedergegeben hatte, den ihm Grifo genommen hatte? Verbirgt sich in diesem Verhalten nicht doch etwas, was Karl als sein Vetter mit einigem Recht als unerträglich oder gar gefährlich ansehen mußte? Der Schlüssel zum Verständnis der Ziele Tassilos liegt in dem merkwürdigen Satz der Annales Laurissenses maiores, Tassilo habe das Heer 763 in Aquitanien verlassen und das Angesicht des Königs nie mehr sehen wollen, ein Satz, der so nur auf eine persönliche Äußerung des Bayernherzogs zurückgehen kann. Auch von den Verhandlungen in Ingelheim wird ein ähnlich radikaler Ausspruch überliefert. Dort gab er zu, gesagt zu haben, er wolle lieber zehn Söhne verlieren als in dem Status verbleiben, zu dem er sich eidlich verpflichtet hatte 29 . Solches ließ sich aus einer besonderen verfassungsrechtlichen Stellung Bayerns im Merowingerreich nicht begründen. Auch dieser Dukat unterstand zweifelsohne dem fränkischen König und konnte nach Tradition und Recht keine Sonderstellung beanspruchen. Eine andere Sicht ergab sich jedoch aus der dynastischen Stellung Tassilos. Als Enkel Karl Martells, weil dieser zuletzt ohne Hausmeier, also wie ein König, regiert hatte, durfte er durchaus, ebenso wie die Söhne König Pippins, Anspruch auf Teilhabe 24 MITTEIS, Staat (wie Anm. 5), 71. 25 SCHIEFFER, Ein politischer Prozeß (wie Anm. 6), 181 f. 26 Reg. Imp. 12 (wie Anm. 7) Nr. 98 d. 27 Ebd. Nr. 243 b. 28 Ebd. Nr. 286 b, e-f, 294 a, 324 a. 29 Ausspruch von 763: vgl. oben Anm. 19; Ausspruch von 788: Annales Laurissenses maiores a. 788 (wie Anm. 10), S. 80: confessus est se dixisse, etiamsi decern filios haberet, omnes voluisset perdere, antequam placita sie manerent vel stabile permitteret, sicut iuratum habuit; et etiam dixit, melius se mortuum esse quam ita vivere. Von Regino, Chronicon a. 788 (wie Anm. 10), S. 56, so gekürzt und geglättet: confessus est se dixisse, etiam si decern filios haberet, omnes mallet amittere, quam ita maneret, sicut iuraverat. Von Ado, Chronicon (wie Anm. 10), 127 D, nur zusammengefaßt: et ipse petjuria sua publice fateretur. Und auch die sog. Annales Fuldenses (wie Anm. 22) 11 straffen wieder sehr rigoros: Tassilo dux Baioariorum ad Carlum in palatio Ingilenheim veniens multis periuriis et infidelitatibus convictus deponitur.
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an der Königsherrschaft über die Franken erheben, worauf Joachim Jahn mit Recht hingewiesen hat30. Tassilo wollte nicht in das Angesicht seines Onkels schauen, der ihn zwar gegen Grifo geschützt hatte, aber ihm letztlich verwehrte, mit seinen Vettern eine königliche Stellung zu genießen. Ja, er wollte seine Söhne lieber verlieren - die Annales Laurissenses maiores benützen sogar perdere, also "ins Verderben stürzen", was Regino zu einem amittere abschwächte31 - als ihnen zuzumuten, einen nachgeordneten Platz einzunehmen, der ihrer mit Pippin, Karl dem Großen und dessen Söhnen gemeinsamen Familienherkunft nicht entsprach. Wie ernst Tassilo seinen Rang nahm, ist der Tatsache zu entnehmen, daß er bereits 772 seinen und der Desiderius-Tochter Liutbirg Sohn Theodo von Papst Hadrian I. taufen und salben ließ32. Auch Karl hatte 771 eine Tochter des Langobardenkönigs geheiratet, aber keine Kinder mit ihr gezeugt, so daß ihm erst seine zweite Gemahlin Hildegard 777 und 778 die Söhne Karlmann und Ludwig (den Frommen) gebar33. Es dauerte dann bis zum Osterfest (15. April) 781, bis Karl seinen ältesten Sohn Karlmann durch den gleichen Papst auf den Namen Pippin taufen, ihn zum König von Italien, Ludwig aber zum König von Aquitanien salben lassen konnte34. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Daten der Tassilo-Eide und -Prozesse unter Karl dem Großen ihre Logik. Nachdem die beiden Söhne Karls die Salbung durch den Papst erhalten hatten, Pippin auch gerade volljährig geworden war oder kurz davor stand, brauchte ihr Vater nach der Rückkehr ins Frankenreich von Tassilo die Erneuerung der Eide von 757, um dessen Konkurrenz für die neu gesalbten Prinzen auszuschalten; daher der Akt von 781 in Worms. Der Bayernherzog hätte aber keine Veranlassung gehabt, dem zu folgen, wenn er vorher keine derartige Verpflichtung eingegangen wäre. Die Akte 787 in Bayern, 788 in Ingelheim und 794 in Frankfurt waren schließlich nötig, weil Tassilo seine früheren Eide offensichtlich gering achtete, während auch Ludwig volljährig wurde. Der Ausgangspunkt der Verpflichtung Tassilos war aber die Verleihung Bayerns 748 an ihn als mindeij ährigen Knaben. Hiermit bereitete König Pippin die Vasallität für den erwachsenen Tassilo vor, die innerhalb der karolingischen Familie zur Definition von Loyalität, zur Etablierung einer Treueverpflichtung und letztlich zur Herrschaftssicherung für den König selbst und seine eigenen Nachkommen dienen sollte. Auf der anderen Seite bezeugen die beiden Aus-
30 JAHN, Hausmeier und Herzöge (wie Anm. 4), 341. 31 Vgl. oben Anm. 29. 32 Vgl. dazu immer noch H. WOLFRAM, Das Fürstentum Tassilos III., Herzogs der Bayern, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 108, 1968, 164 f.; zu den DesideriusTöchtern jetzt J. L. NELSON, Making a Difference in Eigth-Century Politics: The Daughters of Desiderius, in: After Rome's Fall. Narrators and Sources of Early Medieval History. Essays presented to W. Goffart. Hg. v. A. C. Murray, 1998, 171-190. 33 Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 214 a, 235 b, 515 q. Die traditionelle Berechnung des Geburtsjahrs Pippins von Italien führt auf 777. Die erste Urkunde, in der Karl nicht nur für das Wohl von Gemahlin und Nachkommenschaft schenkt, sondern ausdrücklich dafür beten läßt, Reg. Imp. I 2 Nr. 209, datiert aber vom Januar 777. Daraus ist zu schließen, daß der Sohn entweder in diesem Monat oder noch Ende 776 geboren wurde. 34 Ebd. Nr. 234 b.
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Sprüche Tassilos von 763 und 788 in der Tat seinen vehementen Ehrgeiz, der nicht davon lassen wollte, nach den Sternen, d. h. nach der Teilhabe am fränkisch-langobardischen Königtum zu greifen. Die hier vorgeschlagene Interpretation widerspricht der Forschungsentwicklung der letzten Jahrzehnte, derzufolge der Autor der sog. fränkischen Reichsannalen frühe Verpflichtungen Tassilos gegenüber seinem Onkel und seinen Vettern nachträglich erdichtet hätte, um das Vorgehen Karls gegen ihn in den Jahren 788 und 794 gerechtfertigt erscheinen zu lassen35. Die dabei befolgte Methode besteht aus einer Serie von argumenta e silentio nach dem Prinzip, alles Material der sog. fränkischen Reichsannalen und ihrer Ableitungen, welches in andern Annalen fehlt, für verdächtig zu halten und, wenn nicht passend, als nachträgliche Einfügungen zu verwerfen. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß der konzise Stil von Annalen, der den Autor zur Stoffauswahl, zum Weglassen von für unwichtig gehaltenen Einzelheiten und Namen, zur Redefigur pars pro toto und anderen platzsparenden Mitteln zwingt, die Annahme von durchgehend detaillierten, die gewünschten inhaltlichen "Bestätigungen" ermöglichenden Texten nicht gestattet. Hierauf aufgebaute Schlüsse können grundsätzlich nicht zu verläßlichen Ergebnissen führen, so subtil sie auch erscheinen mögen. Es braucht deshalb nicht zu verwundern, wenn das, was dabei herausgekommen ist, sehr realitätsfern klingt: Einfügung frei erfundener Vorgänge, deren Unwahrheit für die Zeitzeugen auf der Hand liegen mußte, Herrschaftsübertragung ohne Bindung des Begünstigten an den König, Eide ohne Vertragsinhalt, nachträgliche Änderungen von bayrischen Urkundennotizen zum Liegenschaftsverkehr der Tassilo-Zeit, bloß um dort den Namen Pippins unterzubringen, ohne daß ein Interesse der Inhaber solcher Dossiers daran erkennbar ist, schließlich ein verbohrt rachsüchtiger Karl der Große, der jede Menge Zeit aufwendet, um seinen Verwandten Tassilo grundlos zu verfolgen. Es ist überflüssig, hierauf im einzelnen einzugehen. Die bisherige Forschungslinie hängt eng mit der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Bewertung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den sog. fränkischen Reichsannalen und ihren Derivaten zusammen. Hier hat ein Umdenken bereits begonnen 36 . Betrachtet man die Abfolge der Ereignisse, so fand in der Mindeijährigkeit Tassilos 748 bereits eine Unterstellung unter Pippin, ein Akt der Knabenvasallität mit gleichzeitiger Übertragung des Herzogtums statt. Nachdem Tassilo volljährig geworden war, wurde dieser Akt auf der Ebene des Erwachsenenalters und der vollgültigen Vasallität wiederholt. Die anschließenden beeideten Verträge und Prozesse waren nötig, um die
35 H. K R A W I N K E L , Untersuchungen zum fränkischen Benefizialrecht, 1937, 48-51; P. C L A S S E N , Bayern und die politischen Mächte im Zeitalter Karls des Großen und Tassilos III., in: Die Anfange des Klosters Kremsmünster. Hg. von S. Haider, 1978, 169-188; K I E N A S T , Die fränkische Vasallität (wie Anm. 6), 112-115; B E C H E R , Eid und Herrschaft (wie Anm. 6), 21-77; SCHIEFFER, Ein politischer Prozeß (wie Anm. 6), passim. 36 Vgl. R. M C K I T T E R I C K , Constructing the Past in the Early Middle Ages: The Case of the Royal Frankish Annals, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th series, 7, 1997, 101-129; R. C O L L I N S , The 'Reviser' Revisited: Another Look at the Alternative Version of the Annales Regni Francorum, in: After Rome's Fall (wie Anm. 32), 191-213.
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Herrschaftsnachfolge der Söhne Karls des Großen in Bayern und Italien gegen eine drohende Mitbewerbung Tassilos abzusichern. II Die eingehendsten Betrachtungen der Karolingerzeit über die Verschränkung von familialen mit vasallitischen Bindungen und Verpflichtungen verdanken wir dem Vademecum der Dhuoda, das die hochgebildete Gemahlin Bernhards von Septimanien für ihren ältesten Sohn Wilhelm in den Jahren 841 bis 843 schrieb. Daß sie bei all ihrer Frömmigkeit und Vertrautheit mit Bibel und Liturgie keine berufsmäßige Theologin war, kann nicht als Mangel angesehen werden, sondern kam ihrem ethischen Denken nur zugute. Ein Theologe konnte den Konflikt zwischen Kindespflicht und anderweitiger eidlicher Treuebindung jederzeit dergestalt lösen, daß er das Vierte Gebot als ein göttliches Gesetz über jegliche menschliche Vereinbarung stellte und so problemlos zu stringenten, aber unter Umständen staatsgefahrdenden Schlußfolgerungen gelangte37. In der Lebenswelt des Frankenreiches aber, dessen Bestand und Erfolg wesentlich auf der durch Untertaneneid und Vasallität begründeten Verläßlichkeit der Krieger gegenüber dem König beruhte, konnte das Vierte Gebot nicht absolut gelten, sondern mußte im Rahmen einer Güterabwägung angewendet werden. Daß Dhuoda ihre Überlegungen auch unter dem Eindruck der Rebellionen der Söhne Ludwigs des Frommen gegen ihren Vater, der immerfort brodelnden Rivalität dieser Söhne und der sich ankündigenden Reichsteilung anzustellen hatte, verleiht ihnen zusätzliche Tiefe. Es ist nun höchst bemerkenswert, wie Dhuoda ihre Güterabwägung nicht bloß unter die Gesichtspunkte von Nützlichkeit, Erfolg, Gewinn, Wohl des Staates, der Kirche oder der eigenen Familie stellt, die relativ einfach ihrer Rangfolge nach- welche selbstverständlich zu diskutieren gewesen wäre - hätten angewendet werden können. Vielmehr entwickelt sie eine organische, vernetzte Hierarchie von Werten, die Pierre Riehe mit Recht "eine Mystik der Treue, eine Religion der Vaterschaft" genannt hat38. An der Spitze dieser Hierarchie steht die in Gott und im leiblichen Vater Realität gewordene Vaterschaft, die aber zugleich Züge einer Lehnsherrlichkeit in sich trägt. Die prekäre Lage der Familie, die traditionell dem Königtum Pippins II. von Aquitanien verbunden war, zugleich aber einen modus vivendi mit Karl dem Kahlen suchen mußte, damit ihr die ererbte Position in Septimanien nicht entglitt, wenn einer der beiden Könige endgültig den kürzeren zog, versuchte Dhuoda zur Zeit der Abfassung ihres Buches in ihr Konzept der Vaterschaft und Treue einzuordnen. An diesem von ihr ent37 Einen solchen, rein auf Bibel und Kirchenväter gestützten, alle Elemente der realen Staatsverfassung außer acht lassenden Diskurs führte etwa Hrabanus Maurus in einem Brieftraktat von 834 an Ludwig den Frommen: Hrabani Mauri Epistolae, ed. E. DÜMMLER, MGH Epistolae Karolini aevi 3, 1898-1899, Nr. 15, S. 403-415. Ziel dieses Textes war es allerdings nur, Ludwig den Frommen zur Milde gegenüber den mit ihrer Rebellion gescheiterten Söhnen zu bewegen. 38 Dhuoda, Manuel pour mon fils. Introduction, texte critique, notes par P. RICHE, trad. B. DE 2 VREGILLE et C. MONDESERT, 1991, 27 (Einleitung): "Ainsi le Manuel presente, a cöte d'une mystique de la fidelite, une religion de la patemite"; vgl. auch schon F. L. GANSHOF, Was ist das Lehnswesen?, übers. R. und D. GROH, 6 1983, 33.
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wickelten System sollte zunächst der ältere Sohn Wilhelm, dann auch der jüngere Bernhard sein Verhalten orientieren, um sowohl sittlich gut, als auch dynastisch erfolgreich zu handeln. Wenn man annehmen wollte, was ja der heutigen Mentalität nahe liegt, daß Dhuoda ihre Position als Ehefrau und Mutter in diesem System - sie bezeichnet ihren Gemahl als den Erzeuger ihres Sohnes und als ihren dominus et senior, d. h. ihren Herrn und Lehnsherrn 39 - für wenig erstrebenswert gehalten, sich gegenüber Ehemann und Sohn zurückgesetzt gefühlt hätte, so trifft dies auffallenderweise nicht zu. Verglichen mit der höchst ereignisreichen Tätigkeit Bernhards von Septimanien und seiner Söhne führte Dhuoda sicherlich ein relativ inaktives, stärker kontemplatives Leben. Sie war jedoch durchaus von großem Stolz auf ihre Familie erfüllt, etwa auf die Hochzeit 40 am Kaiserhof in Aachen am 29. Juni 824 oder auf den immer wieder betonten Adel ihres Sohnes, dem sie das Buch widmete 41 . Sie litt unter der räumlichen Entfernung ihres Ehegatten und ihrer Söhne, nicht jedoch unter deren scheinbar privilegierter Stellung. Ja gerade die Muße, zu der sie in der abgeschiedenen Stadt Uzes, fern von den Ereignissen ihrer bewegten Zeit, verurteilt war, machte sie zu einem Zentrum ihrer Familie, erlaubte ihr die in ihrem Buch niedergelegten weitläufigen Überlegungen, befähigte sie zum Gebetsgedächtnis fiür die zahlreichen Lebenden und Verstorbenen, so daß sich der Zusammenhalt der Familie, ihre Einbindung in Kirche und Königreich bei Dhuoda zu Hause stärker realisierte als bei Bernhard und seinen Söhnen draußen. Da Bernhard von Septimanien 841 nach dem 22. Juni, nach der blutigen Schlacht von Fontenay en Puisaye, seinen Sohn Wilhelm als Vasall (und wohl auch als Geisel) Karl dem Kahlen überantwortet hatte 42 , verwendet Dhuoda größte Mühe darauf, Lösungsmöglichkeiten für die abzusehenden Konflikte zwischen der Treue zum Vater einerseits und zum König andererseits zu entwickeln. Das Fundament ist für sie eine Hierarchie der Treue, bei der Gott und der leibliche Vater an der Spitze stehen 43 . Ausdrücklich betont sie, daß im Denken Wilhelms der Vater vor allen anderen zu stehen hat, noch vor dem König, obgleich es ansonsten allgemein üblich sei, die forma uel potentia regalis atque imperialis an die erste Stelle zu setzen 44 . Die Treue zum leiblichen Vater wird nicht allein aus dem Vierten Gebot und biblischen Beispielen heraus begründet, sonden sie erscheint vor allem eingebunden in eine generationenübergreifende Tradition, die erwarten läßt, daß auch die eigenen Söhne diese Treue üben werden 45 . Von den Vorfahren kamen die Familiengüter, selbst die Güter des ver-
39 Dhuoda (wie Anm. 38)17 37, S. 116. 40 Ebd., praefatio 1-5 S. 84; zur richtigen Auflösung des Datums vgl. ebd. 85 Anm. 2. 41 Ebd. I 1 9 f., S. 96; IV 7 10, S. 230; IV 8 181 f., S. 248; X 2 50, S. 344; XI 2 2, S. 368. 42 Ebd. praefatio 34-37, S. 86: Audiui enim quod genitor tuus Bernardus in manus domni te commendauit Karoli regis; admoneo te ut huius negotii dignitatem usque ad perfectum uoluntati operant des; vgl. S. 19 (Einleitung). Zu den Umständen dieser Kommendation, von der man angenommen hat, daß sie an die Bedingung der Belehnung mit bestimmten burgundischen Gütern geknüpft war, vgl. zuletzt KIENAST, Die fränkische Vasallität (wie Anm. 6), 322 f. 43 Dhuoda (wie Anm. 38)1112 15-21, S. 140-142. 44 Ebd. III 22 1-14, S. 140. 45 Ebd. III 3 69-71, S. 146.
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storbenen Taufpaten Theuderich, auf den Vater und gelangen über ihn, so bald er es für richtig hält, auf den Sohn 46 , fast so wie der Vater auch das Leben als solches dem Sohn schenkte 47 . Aus letzterem Gedanken leitet sie die Folgerung ab, daß es keinen höheren senioratus, d. h. Lehnsherrschaft, geben könne als den des Vaters 48 . Andererseits habe Wilhelm seinen König als einen Menschen anzusehen, der beiderseits (also von der Seite Ludwigs des Frommen wie auch Judiths) von großen Geschlechtern abstamme. Die Tatsache, daß sie hinsichtlich der Herkunft des Königs nicht expressis verbis von einer "königlichen" Familie spricht, ebenso nicht bei der Erörterung über das Verhältnis Wilhelms zu den Verwandten des Königs, sondern beide Male nur von der erlauchten Herkunft sowohl von väterlicher wie von eingeheirateter Seite 49 , wirft übrigens ein sehr bezeichnendes Licht darauf, wie der fränkische Adel den durch die Königskrönung Pippins von 751 herbeigeführten Dynastiewechsel gesehen hat: die Karolinger hatten zwar das Königsamt inne, sie waren aber doch nur eine sehr vornehme Familie wie die anderen auch, nicht mehr ein wirkliches Königsgeschlecht wie einst die Merowinger. Auch vor diesem Hintergrund muß man die vielfältigen Maßnahmen sehen, mit denen sich Karl der Große und Ludwig der Fromme gegen Verschwörer und Thronprätendenten zur Wehr setzten. In dem gezeichneten Rahmen, so fährt Dhuoda fort, und auf der Grundlage seiner Vasallität müsse Wilhelm, dessen Vorfahren stets treu waren, nun im Dienst des Königs wahrhaftig, wachsam, nützlich und herausragend sein, dessen Geschäfte klug betreiben 50 . Darüber hinaus erstrecke sich diese Verpflichtung Wilhelms auch auf die Verwandtschaft des Königs 51 , so daß es sehr schwierig erscheint, wie bei diesen Pflichten nach außen die so stark betonte Sohnespflicht innerhalb der eigenen Familie erfüllt werden kann. Auf den ersten Blick mag es sogar ein wenig naiv erscheinen, wenn Dhuoda die Treue gegenüber dem Vater und die andere Treue gegenüber dem König nebeneinander, beide mit Anspruch auf volle Unterstützung in omni negotio utilitatis,
46 Ebd. V i n 14 6-8, 14-18, S. 320: tarnen eorum, ut praedixi, haereditates non extranei, sed tuus possidet dominus etpater Bernardus. ... Si, concedenteprius dementia omnipotentis Dei, tuus genitor aliquid exinde tibi iusserit largiri, in quantum ualueris per amplius, ora ut illi merces adcrescat ex eorum animabus quorum cuncta fuerunt. Über die Hinterlassenschaft des Paten Theuderich ΙΠ 15 8-10 S. 320-322: Te quasi primogenitum paruulum relinquens in saeculo, suo (!) cuncta domno et seniori nostro, ut tibi prodesse ualerent in omnibus, remanserunt. Mit dem domnus et senior ist nicht, wie in
der älteren Literatur angenommen wurde, Karl der Kahle gemeint, sondern Wilhelms Vater, vgl. ebd. S. 19 f. 47 Ebd. III 2 11-14, S. 140. 48 Ebd. III 2 13 f., S. 140: non potest ad aliam etsummam personam culmine peruenire senioratus. 49 Ebd. III 4 1-6, S. 148: Seniorem quem habes Karolum ... adhuc tene quod est generis ex magno utrumque nobilitatis orto progenies III 8 1-5, S. 166: regiae potestatis eximios parentes atque propinquos, tarn ex paternitatis illustrem quam ex matrimonii dignitatum ascendente originem. 50 Ebd. III 4 37-41, S. 150: Tu ergo, β Ii Wilhelme, ex illorum progenie ortus, seniori ut praedixi tuo sis uerax, uigil, utilisque atque praecipuus; et in omni negotio utilitatis regiae potestati, in quantum tibi Deus dederit uires, intus forisque prudentius te exhiberi satage.
51 Ebd. III 8, S. 166-170.
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also für ihre Interessen insgesamt 52 , aber mit Präferenz für das Sohn-Vater-Verhältnis behandelt, ohne ausdrücklich auf mögliche Konfliktfälle und deren Lösung einzugehen. Hat sie wirklich nicht gesehen, daß es zwischen den Plänen Bernhards von Septimanien, ihres Gemahls, und denen Karls des Kahlen erhebliche Gegensätze geben würde, in denen Wilhelm zur Entscheidung fur den einen oder anderen gezwungen sein und, falls sie gegen den König ausfiele, sein Leben riskieren würde? Bei genauerer Betrachtung sieht Dhuoda in ihrer organisch vernetzten Systematik doch einen Weg, der sich in der künftigen Entwicklung des Verhältnisses Wilhelms zu Karl dem Kahlen eröffnen wird. Vorerst ist Wilhelm gerade noch minderjährig von seinem Vater in die Hände des Königs kommendiert worden. Dementsprechend hat er zwar bereits die Position eines Königsvasallen, aber noch ohne die damit verbundenen Pflichten eines Erwachsenen, die er selbst später durch Handgang und Eid wird übernehmen müssen. So soll er in jener Würde, die ihm als Minderjähriger zuteil wurde, noch ad perfectum, zum eigentlichen Vollzug gelangen 53 . Dies war bisher noch nicht eingetreten während der langen Abfassungszeit des Werkes, die sich über den ursprünglich als Abschlußtermin geplanten 30. November 84254 bis zum 2. Februar 843 hinzog, also weit über den 29. November 841 hinaus, an dem Wilhelm das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hatte 55 und damit nach fränkischem Recht als volljährig galt. Aus welchen Gründen Wilhelm anschließend nicht vollgültiger Vasall Karls des Kahlen geworden war, erörtert Dhuoda nicht. Vielleicht wartete die Familie ganz bewußt ab, weil immer noch nicht feststand, welchem König die Herrschaft über Aquitanien zufallen würde 56 . Zunächst ist nach Dhuodas Darstellung zu hoffen, daß Karl den jungen Wilhelm trotz seiner Jugend tatsächlich in seinen Dienst nimmt, wobei allerdings Gott und Bernhard den Zeitpunkt bestimmen werden 57 . Dies wäre die formelle Eingehung des vasallitischen Vertrages zwischen Erwachsenen. Sodann soll Wilhelm in den Rat des Königs aufsteigen, womit das Ziel, ad perfectum zu gelangen, tatsächlich erreicht wäre. Und hier hätte Wilhelm klug, umsichtig, mit sorgfaltiger Abschätzung der Folgen Rat zu erteilen, sich im übrigen mit denen zu halten, die von der Planung bis zur Umsetzung Treue wahren wollen: Si ad perfectum te aliquando adduxerit Deus, ut ad consilium inter magnates merearis esse uocatus, tracta prudenter quid, quando, cui, uel quomodo dignum et aptum possis exibere sermonem. Fac cum consilio illorum qui tibi ad corpus
52 Ebd. III 1 16 f., S. 134: Sis in omni negotio utilitatis obedienspatri, et iudicium illius obsculta, III 4 39-41, S. 150: in omni negotio utilitatis regiae potestati, in quantum tibi Deus dederit uires, intus forisque prudentius te exhiberi satage. Vgl. auch III 8 8, S. 166 dasselbe mit Bezug auf die Verwandtschaft des Königs. - Zur Bedeutung dieser "utilitas" für das fränkische Adelsethos vgl. immer noch F. IRSIGLER, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels, 1969,239-241. 53 Vgl. oben Anm. 42. 54 Dhuoda (wie Anm. 38) X 2 70-73, S. 346, vgl. S. 20 (Einleitung). 55 Ebd. S. 18, 20 (Einleitung). 56 Vgl. Ebd. XII 2 5-8, S. 368-370: Finitus est autem, auxiliante Deo, 1111° nonas februarii. Purifications sanctae et gloriosae semper uirginis Mariae, Christo propitio regnante, et regem quem Deus dederit sperantem; vgl. ebd. S. 20 f. (Einleitung). 57 Ebd. III 4 1-4, S. 80.
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et animam fidelem praeparant actionem58. Dieser Beratung bei Hofe widmet Dhuoda drei ausführliche Kapitel, De consilio accipiendo, Item de eiusdem, De consiliariis, singularis eiusdem59. Wie es ζ. B. eine viktorianisch erzogene Frau des 19. Jahrhunderts nie gekonnt hätte, gibt sie hier Ratschläge, die sehr ins Konkrete von Politik und Wirtschaft gehen, mehr ins einzelne als in ihren sonstigen Kapiteln. Und hier entdeckt man auch, in einer Sprache, die noch mehr als sonst dem umgangssprachlichen Vulgärlatein verpflichtet ist, also die praktische Relevanz des Dargelegten unterstreicht, die Schnittfläche, wo die Interessengegensätze zwischen der eigenen Adelsfamilie, die derzeit noch durch Wilhelms Vater vertreten wird, und dem König vermittelt werden können, wo also im Rat des Königs auch die eigenen Interessen nicht vergessen werden dürfen, sondern klug vertreten werden müssen. Da heißt es etwa, daß böser Einfluß oder Übelwollen dem Nützlichkeitssinn schadet60, daß da, wo die Dummheit regiert, auch kein Reichtum entstehen könne, während andererseits vernünftige Planung auch zu wirtschaftlichem und politischem Erfolg führe61. Wilhelm möge nicht allein Kontakt mit den Alten pflegen, sondern auch mit gottesfürchtigen, tüchtigen jungen Leuten, weil das Alter nur durch die Blüte der Jugend mächtig sein kann62. Es gebe auch Menschen, die sich als weise Ratgeber präsentieren, es aber nicht sind. Deren wirklicher Wert sei daran zu messen, welchen Nutzen sie stiften63. Auch habe er mit Leuten zu rechnen, die etwas Gutes von sich geben, aber nicht auf gute Weise, so weder sich selbst noch anderen zunutze seien, weil ihr Verstand nicht ausreiche, um eine Sache bis ans Ende durchzudenken - und natürlich sehr viele, die schlechten Rat geben64. Aber, die familiale Strategie geht durchaus noch weiter. Während Dhuoda sonst immer davon spricht, daß Wilhelm im Dienst Karls des Kahlen, seines Königs oder Lehnsherrn, stehen wird, kommt sie bei der Erörterung über das Verhältnis zu dessen Verwandten auch darauf, daß er einmal am Kaiserhof, also bei Lothar I., Rat geben könnte und dies selbstverständlich nach allen Regeln vasallitischer Treue - hier erkennt man übrigens unschwer Textbausteine aus Eidesformeln - auszuführen habe: si ad hoc perueneris, ut cum commilitonibus infra aulam regalem atque imperialem, uel ubique utilis merearis esse seruitor, time, ama, uenera et dilige eos, atque in omni negotio
58 Ebd. III 5 1-7, S. 152. 59 Ebd. III 5-7, S. 152,158,162. 60 Ebd. III 5 8 f., S. 152: permixta mala quae sensui nocent utili. Vgl. auch ebd, III 7 5-10. 61 Ebd. III 5 26 f., S. 154: Non sunt diuitiae ubi regnat stultitia, et nichil deest obstans in rebus ubi assiduus militatur sermo eucarus. 62 Ebd. III 5 59-61, S. 156: cum iuuenibus Deumque diligentibus et sapientiam discentibus assiduus esse non pigeas, quoniam in iuuenta uigetflorentis senecta. 63 Ebd. III 6 4 f., S. 158: Tarnen est non deficiens ille in quo omnis utilitaspossibiliter uiget. 64 Ebd. III 6 5-8, S. 158-160: Sunt enim qui dant bonum et non bene, nec sibi utilem, nec alieni sublimem. Quare? Ouia ad perfectum et summum non transit acumen. Et sunt plerique qui dant malum, et nonßectitur ad opus.
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utilitatum illorum, purum et abtum, cum executionis fidelitate, tarn mente quam corpore, certum Ulis in omnibus para obsequiwn65. Im Rat des Herrschers also soll Wilhelm nicht allein die Interessen des Monarchen verfolgen, sondern auch seine eigenen und die seiner Familie, wobei er in den Besprechungen bei Hofe darauf zu achten hat, daß beides zusammengeht. Als Belohnung der Treue wird selbstverständlich erwartet, Gott und der Lehnsherr hätten dem Vasallen jederzeit als Schützer und Verteidiger zur Verfügung zu stehen 66 . Gewiß ist der Königsdienst ein Joch, iugum famulanüs norma, in dem sich omnes in ... regni imperio militantes61 befinden, aber es ist nach dem Grundsatz "do ut des" auferlegt: ich liebe dich, damit du mich liebst, ich küsse dich, damit du mich küßt, ich erkenne dich an, damit du mich anerkennst, wie es schon in den alten Grammatikbeispielen des Donat steht68. Der König, auf der anderen Seite, war darauf angewiesen, durch vasallitischen Vertrag die Loyalität von mächtigen und tüchtigen Leuten in Schlüsselpositionen zu gewinnen, sie sich durch fortlaufende Gegenleistungen fur ihre Dienste gewogen zu halten. Nim, Bernhard von Septimanien und der junge Wilhelm waren Mitspieler im Reich der Nachfahren Karls des Großen, in der Krise nach dem Tod Ludwigs des Frommen, aber sie gehörten nicht zur Königsfamilie, die sie, wie oben gezeigt, auch gar nicht als so unbedingt königlich gelten lassen wollten. Dennoch werfen die differenzierten Erörterungen Dhuodas für ihren an einer heiklen Karriere arbeitenden Sohn ein klärendes Licht auch auf Karl den Großen, seinen Sohn Ludwig den Frommen, seinen Enkel Ludwig den Deutschen und deren Verhältnis zueinander kurz vor dem Thronwechsel des Jahres 814. III In seinem Resümee der Jugendgeschichte Ludwigs des Deutschen bemerkt Engelbert Mühlbacher mit Hinweis auf die Biographie, welche der Sangallenser Mönch über Karl den Großen verfaßte: "Durch klugdreiste antwort soll er [Ludwig] seinen grossvater zu dem ausspruch veranlasst haben, dass aus dem kind grosses werden würde" 69 . Die Bewertung kindlichen Verhaltens scheint hier noch ein wenig von der StruwwelpeterPädagogik beeinflußt zu sein und läßt einen ernsthaften Hintergrund nicht erkennen. Man hegt keine großen Erwartungen, wenn man nach der betreffenden Stelle im Werk Notkers des Stammlers sucht. Dort stößt man aber doch auf eine sehr ausführliche Erzählung Notkers, die genau in das Bild paßt, das bisher an den Beispielen Tassilos III.
65 Ebd. III 8 5-9, S. 166. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Eidesformularen zur Diktion Dhuodas ist ein Desiderat. Für Fulbert von Chartres ist dies geleistet worden von A. BECKER, Form und Materie. Bemerkungen zu Fulberts von Chartres De forma fidelitatis im Lehnrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 102, 1983, 338-349. 66 Dhuoda (wie Anm. 38) III 4 49-52, S. 150-152. 67 Ebd. III 8 34 f., 38 f., S. 168. 68 Ebd. III 10 68-70, S. 176. 69 Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 1338 b.
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und Wilhelms von Septimanien von der gestuften Karriere eines jungen fränkischen Vasallen entwickelt werden konnte. Nachdem Notker über die Beziehungen Karls des Großen zum Morgenland berichtet und erwähnt hat, Ludwig der Deutsche habe noch verordnet, daß von jeder Hufe in Deutschland ein Pfennig zu geben sei, um versklavte Christen im Heiligen Land auszulösen 70 , benützt er die Gelegenheit, da Ludwigs Name gefallen ist, für einen längeren Exkurs über ihn. Ludwig der Deutsche wird zunächst bis zum sechsten Lebensjahr im Haus seines Vaters erzogen. Da er sehr vernünftig erscheint, "weiser als sechzigjährige Männer", holt ihn sein Vater von der Mutter weg, erklärt ihm, was ihn im Palast des Großvaters erwartet und wie er sich dort zu verhalten habe. Anschließend nimmt er ihn dorthin mit. Karl wird auf ihn inmitten der Hofgesellschaft aufmerksam und erkundigt sich nach den Eltern. Ludwig erklärt sich als der Vater und bietet an, der Kleine könne auch Karl gehören: meus et vester, si dignaminf1. Der Kaiser macht davon Gebrauch, holt den Knaben zu sich, küßt ihn und schickt ihn an seinen Platz. Jetzt aber stellt sich der kleine Ludwig nicht mehr hinter seinen Vater, sondern neben ihn. Vom Vater nach dem Grund befragt, gibt er die nach Mühlbacher angeblich "klugdreiste" Antwort: Quando, inquiens, vester ercan vasallus, post vos ut oportuit inter commilitones meos steteram, nunc autem vester socius et commilito non inmerito me vobis coaequo. Worauf Karl der Große bemerkt: Si vixerit puerulus iste, aliquid magni erif2. Der junge Ludwig durchläuft also die gleiche Karriere wie Tassilo III. oder Wilhelm von Septimanien. Noch in der Minderjährigkeit wird er seiner Mutter weggenommen und in diesem Fall zunächst Vasall des eigenen Vaters. Bei der Vorstellung am Kaiserhof aber nimmt ihn Karl der Große als Vasall auf. Der Kuß, den Karl ihm gibt, ist mehr als eine großväterliche Zärtlichkeit, es ist der Lehnskuß 73 . So jedenfalls faßt ihn der junge Ludwig auf, betrachtet sich nun als "Kommilitone" des eigenen Vaters, stellt sich mit ihm in eine Reihe und begründet sein Handeln auch mit ausgezeichnetem Verständnis ganz im Sinne des vasallitischen Systems. Seine Antwort ist nicht "klugdreist", sondern die korrekte Interpretation einer wichtigen Etappe in der Karriere eines jungen Franken, der gerade Knabenvasall seines Großvaters geworden ist. Die Terminologie, die Notker dem jungen Ludwig in den Mund legt, entspricht ganz derjenigen, welche Dhuoda fur ihre Erörterungen verwendete. Bei beiden wird insbesondere deutlich, wie die Vasallen als "Kommilitonen" eine kollegial organisierte Gruppe bilden, deren Mitglieder mit gleichem Rang und gleichen Pflichten ausgestattet sind. Ist es nun möglich, dieses Ereignis genauer zu datieren?
70 Notker der Stammler, Taten Karls des Großen, ed. H. F. HAEFELE, MGH SS N.S. 12, 1959, II 9, S. 64 f. 71 Ebd. II 10, Zitats. 66. 72 Ebd. 73 Zum Lehnskuß, den der Herr dem Vasall gibt, vgl. GANSHOF, Lehnswesen (wie Anm. 38), S. 80 f. Etwas anderes ist der Fuß- und Handkuß als Geste der Unterwürfigkeit, vgl. KIENAST, Die fränkische Vasallität (wie Anm. 6), 111, und DERS., Gefolgswesen und Patrocinium im spanischen Westgotenreich, in: Historische Zeitschrift 239, 1984, 73-75. Auch dies wird von Kienast etwas mißverständlich als "vasallitischer Kuß" bezeichnet.
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Vieles, was Notker erzählt, ist anekdotisch, oft auch mit Namen verknüpft, die zu dem, was über sie gesagt wird, nicht recht passen74. Als seinen Hauptgewährsmann nennt er aber mit Adalbert einen Gefolgsmann Gerolds, des Bruders der Königin Hildegard und Mutter Ludwigs des Frommen, sowie Adalberts Sohn Werinbert75. Er hatte also durchaus Zugang auch zu guten Informationen. In der Tat läßt sich nun die Aufnahme des sechsjährigen Ludwig des Deutschen als Vasall Karls des Großen unschwer in den bekannten Lauf der Ereignisse einfügen. Ludwig der Deutsche ist um 806 geboren, sein Bruder Pippin I. von Aquitanien kam um 797 zur Welt, Lothar I. im Jahr 795 76 . Das von Notker berichtete Ereignis ist also zunächst um 812 anzusetzen. Nach der schrittweise vorgehenden Erzählung des Astronomen läßt sich ganz gut verfolgen, daß Ludwig der Fromme als Unterkönig von Aquitanien nach einem Aufenthalt von Mariä Lichtmeß (2. Februar) bis in die Fastenzeit des Jahres 806 seinen Vater einige Jahre lang nicht mehr besuchte; es war 806 die Zeit der Divisio Regnorum, mit der Karl der Große in Diedenhofen seine Nachfolge regeln wollte77. Anschließend kehrte Ludwig in sein Reich zurück, von wo er mehrere Feldzüge in das muslimische Spanien unternahm78. Allerdings achtete Karl schon bei den späteren Spanienzügen darauf, daß sich Ludwig nicht allzu sehr exponierte, um sein Leben nicht in Gefahr zu bringen79. Erst 813, nachdem alle seine Brüder gestorben waren, wurde Ludwig wieder zum Kaiser gerufen. Karl, der wie der Astronom berichtet, sein Ende nahen fühlte und
74 Vgl. allgemein H.-J. REISCHMANN, Die Trivialisierung des Karlsbildes der Einhard-Vita in Notkers Gesta Karoli Magni, 1984, passim; speziell auch F. STAAB, Die Königin Fastrada, in: Das Frankfurter Konzil von 794, Bd. 1 (wie Anm. 6) 198 f. 75 Notker (wie Anm. 70) II, S. 48 (praefatio). 76 Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 1014 d, 1338 b; K. F. WERNER, Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000 (1.-8. Generation), in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, 4. Hg. von W. Braunfels undP. E. Schramm, 1967,446. 77 Reg. Imp. 12 (wie Anm. 7) Nr. 415-416 a. 78 Vgl. Astronomus 14-19 (wie Anm. 9), S. 321-340 mit Kommentar. Der von manchen älteren Forschern angenommene Aufenthalt im Februar 809 in Aachen, vgl. Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 7) Nr. 439 d, nach Astronomus 14, S. 320: Rege porro Hludouuico in Aquitania hibernum exigente tempus, pater rex eum mandat venire ad suum conloquium Aquisgrani in purificatione sanctae Mariae genitricis Dei. Cui occurrens et quousque placuit cum eo commorans, quadragesimae tempore rediit, wird von Tremp in seiner Astronomus-Ausgabe sicher mit Recht nicht mehr so angesetzt. Andererseits scheint mir die Festlegung auf 802, ebenfalls nach älterer Literatur, ebd. 321 Anm. 166, doch problematisch, weil andere Zeugnisse für ein Treffen Karls mit den Söhnen zu diesem Zeitpunkt fehlen. Daß Karl seinen aquitanischen Unterkönig mitten im Winter aufforderte, zu ihm zu kommen, weist auf einen wichtigeren Anlaß als auf eine bloße Unterredung, die von anderen Chronisten keiner Erwähnung gewürdigt wurde. Die Verhandlungen in Diedenhofen über die Divisio Regnorum aber fanden in der Tat im Februar 806 statt, ihr Beginn kann also sehr wohl für den 2. Februar angesetzt gewesen sein, möglicherweise sogar in Aachen, nur hätte man sich dann entschlossen, doch in Diedenhofen zu bleiben, wo sich Karl schon den ganzen Winter aufgehalten hatte. Im Rahmen der spanischen Aktivitäten Ludwigs des Frommen würde die winterliche Reise 806 zum Vater keine Schwierigkeiten machen. 79 Astronomus 15 (wie Anm. 9), S. 324.
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fürchtete, das Reich in Unordnung zu hinterlassen80, leitete nun eine Absicherung der Nachfolge in die Wege, deren erster Schritt am 11. September 813 in Aachen mit der Selbstkrönung Ludwigs umgesetzt wurde81. In diese Maßnahmen paßt nun sehr gut das Debüt des jungen Ludwig des Deutschen bei seinem Großvater. Der Knabe war damals in der Tat sechs Jahre (und ein wenig älter). Für Karl war es von Vorteil, seinen Enkel als Vasall an sich zu binden, damit nicht unter den Fittichen des Sohnes ein Treueverhältnis existierte, das sich dem eigenen direkten Zugriff entzog. Auch für die übrigen Söhne Ludwigs des Frommen ist, obgleich davon keine Quelle berichtet, anzunehmen, daß sie bereits in ihrer Jugend Vasallen des Großvaters geworden waren. Der alte Kaiser konnte sich so der Treue seiner männlichen Nachkommen versichern, sie auch davon abhalten, noch zu seinen Lebzeiten, wenn sein Tod doch nicht so bald eintreten würde wie erwartet, die Führung des Reiches zu usurpieren. Der hier verwendeten Erzählung Notkers hat übrigens schon Georg Waitz eine vasallitische Bedeutung zugemessen82. Seitdem Charles Edwin Odegaard sie jedoch, gerade deswegen, weil einem Kind ein solches Verhalten im Rahmen des Lehnrechts noch nicht möglich gewesen sei, als rein fiktiv abgetan hatte83, verlor sie ihren Kredit. Diese Interpretation entspricht dem Jahrhundert des Kindes und seiner Liebe zum Eigenwert der Kindheit, jedoch nicht der Karolingerzeit. Mehr Beachtung fand ein weiterer Hinweis von Waitz auf die Vita Walae des Paschasius Radbertus, die für die Zeit der Rebellion der Söhne Ludwig den Frommen mit dem Vorwurf zitiert, sie seien doch seine Vasallen, die ihm Treue geschworen hätten84. Hier wird über den Zeitpunkt des Eintritts in die Vasallität des Vaters nichts gesagt. Nach den übrigen Beispielen dürfte er aber ebenfalls zweistufig zunächst während der Mindeijährigkeit, dann im Erwachsenenalter der Söhne erfolgt sein. Elisabeth Magnou-Nortier und Michel Rouche haben darauf aufmerksam gemacht, daß in der frühen merowingischen Zeit das Wort vassus von den Franken noch mit der mallobergischen Glosse horogavus übersetzt werden mußte85. Das Rechtsinstitut einer 80 Ebd. 20 S. 342: considerans in senectute adclinem devexum, et verens ne forte subtractus rebus humanis confusum relinqueret regnum. 81 Reg. Imp. I 2 (wie Anm. 9) Nr. 479 a-b. 82 G. WAITZ, Deutsche Verfassungsgeschichte 4, 2 1885 (Nachdruck 1955), 282 Anm. 1. 83 CH. E. ODEGAARD, Vassi and Fideles in the Carolingian Empire, 1945 (Nachdruck 1972), 32 f.: "The legendary quality of this tale is obvious: at the age of six Louis the German renounces his vassalage to his father". 84 Paschasius Radbertus, Vita Walae (Exzerpte), ed G. H. PERTZ, MGH SS 2, 1829, II 17, S. 563, aus den capitula, quae augustus pater quasi pro querela filiis direxit (Z. 18 f.) ... Mementote, inquit, etiam quod met vasalli estis, mihique cum iuramento fidem firmastis (Z. 33 f.), vgl. WAITZ (wie Anm. 79) 282 f.; GANSHOF, Lehnswesen (wie Anm. 38), 27; REYNOLDS, Fiefs and Vassais (wie Anm. 11), 86.
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E. MAGNOU-NORTIER, Foi et fidelite, 1976, 25 mit Anm. 2 0 ; ROUCHE, L'Aquitaine (wie Anm.
16), 368 mit 670 Anm. 218. Vgl. auch POLY-BOURNAZEL, La mutation feodale (wie Anm. 13), S. 108. Das dort Anm. 1 für horogavo angegebene deutsche Vergleichswort "heurig" (= diesjährig) müßte allerdings "hörig", "gehorsam" heißen, vgl. R. SCHÜTZEICHEL, Althochdeutsches Wörterbuch, 2 1974, 86.
Rnabenvasallität in der Familie Karls des Großen
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der germanischen Gefolgschaft ähnlichen Vasallität war jedoch vom Gebrauch des Wortes vassus nicht notwendigerweise abhängig. Schon die Unterwerfung Tassilos III. 757 unter König Pippin wird als ein speziell der fränkischen Sitte gemäßer Akt charakterisiert 86 . Für den Astronomen gehört die Vasallität ebenso wie das gerichtliche Duell oder auch die Herbstjagd des Königs zum mos Franconim*1. Die Realität typischer Lehnstreue zum König wird von Jonas von Bobbio bereits für das frühe 7. Jahrhundert bei einem Chrodoald geschildert, der als Schwager überdies ein angeheirateter Verwandter Theudeberts II. war 88 . Es scheint mir auch, daß die mit reichen WafTenbeigaben (es handelt sich dabei nicht um Spielzeug) ausgestatteten Knabengräber der Merowingerzeit 89 in den Zusammenhang einer Knabenvasallität einzuordnen sind, wie sie hier an den Beispielen Tassilos III., Wilhelms von Septimanien und Ludwigs des Deutschen vorgestellt wurde. Doch eine neue Untersuchung solcher Gräber unter diesem Gesichtspunkt sei anderen überlassen.
86 Vgl. oben S. 71 mit Anm. 14. 87 Vasallität: Astronomus 24 (wie Anm. 9), S. 356; Zweikampf: 46, S. 466; Herbstjagd: 29, S. 380; 35 S. 410. 88 Vgl. dazu F. STAAB, Eine ungleiche Gesellschaft, in: Mannheimer Geschichtsblätter N.F. 3, 1996, 50 f. 89 Vgl. zusammenfassend F. VALLET, Die Ausstattung der Kindergräber, in: Die Franken, Wegbereiter Europas 1-2 [Ausstellungskatalog des Reiss-Museums Mannheim], 1996, hier 2, S. 712715, vgl. auch S. 931 .
II. Karls Erbe und Erben
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Bescheidene Panegyrik und diskrete Werbung: Walahfrid Strabos Gedicht über das Standbild Theoderichs in Aachen
Die folgenden Überlegungen zu dem vielbehandelten 23. Gedicht Walahfrid Strabos lassen sich am besten, so scheint es, in einer Art interpretatorischer Klimax vorführen 1 . Z w e c k dieses Vorgehens ist es, die hohe literarische Kultur der ersten Dichtergeneration nach Karl dem Großen im allgemeinen und des späteren Abts der Reichenau im besonderen zu analysieren, eine Kultur, die ohne die bildungspolitischen Maßnahmen Karls und den dadurch bewirkten produktiven Umgang mit der Literatur von Antike und Spätantike nicht vorstellbar wäre 2 . Zu Beginn einige trockene äußere Daten: Die in dem C o d e x unicus, S. Gallen 869, aus dem späteren 9. Jh. überlieferte Überschrift ist bemerkenswert ausfuhrlich und gibt Ort und Zeit der Abfassung s o w i e den Titel des Stückes an: "Gedicht, verfaßt in der Aachener Pfalz im 16. Jahr des Kaisers Ludwig (das ist 829) über das Standbild Theoderichs" (Versus in Aquisgrani palatio 1 Das Gedicht wurde kritisch herausgegeben von E. DÜMMLER, MGH, Poetae latini 2, 1884, 370378, und, 1991, von M. W. HERREN (S. im folgenden); Textgrundlage für vorliegenden Artikel war die Edition in den MGH (v. a. wegen der herkömmlichen Verszählung, da ich Herrens Umstellungen nicht übernehme); zu den von mir vorgeschlagenen Textänderungen gegenüber den beiden Ausgaben s. den Anhang. - Hier noch eine Bibliographie jener Artikel, die sich mit dem ganzen Gedicht beschäftigen und auf die in den Anmerkungen mit Kurzzitat verwiesen wird: F. v. BEZOLD, Kaiserin Judith und ihr Dichter Walahfrid Strabo, in: Historische Zeitschrift 130, 1924, 377^39; A. DÄNTL, Walahfrid Strabos Widmungsgedicht an die Kaiserin Judith und die Theoderichstatue vor der Kaiseipfalz zu Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 52, 1930, 3-23; H. HOMEYER, Zu Walahfrid Strabos Gedicht über das Aachener Theoderich-Denkmal, in: Studi Medievali, serie terza, XII, 1971, 899-913; F. BRUNHÖLZL, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, München 1975, 351 f.; H. HOMEYER, Walahfrids Gedicht über das Theoderich-Denkmal in Aachen, in: Piatonismus und Christentum, hg. von H.-D. BLUME - F. M A N N , Münster i. W. 1983, 106-117; P. GODMAN, Poets and Emperors. Frankish Politics and Carolingian Poetry, 1987; Μ. W. HERREN, The "De imagine Tetrici" of Walahfrid Strabo: Edition and Translation, in: The Journal of Medieval Latin (JML) 1, 1991, 118-139; DERS., Walahfrid Strabo's De imagine Tetrici: An Interpretation, in: Latin Culture and Medieval Germanic Europe, hg. von R . NORTH - T . HOFSTRA, 1992,25-41. 2 Gemeint sind die Admonitio generalis aus dem Jahr 789 und das in zwei Fassungen vorliegende Zirkularschreiben De litteris colendis.
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editi anno Hludowici imperatoris XVI. de imagine Tetrici). Hier eine Zwischenbemerkung: Daß die Namensform Tetricus statt Theodoricus für den Ostgotenkönig, dessen Reiterstandbild nach dem Zeugnis des Andreas Agnellus Karl im Jahr 801 aus Ravenna nach Aachen als Schmuck der Kaiserpfalz hatte bringen lassen 3 , etwas mit dem Adjektiv taeter, "abscheulich, häßlich", zu tun haben soll, wie neben anderen auch Brunhölzl mutmaßt 4 , kann aus dem Text nicht abgeleitet werden. Vielmehr ist eben diese Form des germanischen Namens für zwei Bischöfe im Merowingerreich, also in fränkischem Gebiet, des späten 6. bzw. des späten 7. Jahrhunderts belegt 5 sowie bei Einhard für den letzten der illegitimen Söhne Karls (Vita Caroli Magni 18). Doch zurück zu dem Gedicht: Dieses besteht aus 262 Hexametern und wird von drei Elegischen Distichen abgeschlossen (263-268) 0 . Die metrisch abgehobenen sechs Schlußverse stellen eine Sphragis dar: Der Dichter nennt seinen Namen, Strahns, "der Schielende", und setzt diese adjektivische Form in der Funktion des substantivischen Strabo als Bescheidenheitsäußerung ein. Er, die parvissima - so wohl absichtlich ein wenig regelwidrig statt minima - portio fratrum, beherrsche eben die Regeln, nämlich jene der Grammatik, nur mangelhaft (263). Zu den äußeren Angaben über das Gedicht mag noch hinzugefügt werden, daß dieses sich als Ergebnis von Reflexionen über persönliche Erlebnisse des Reichenauer Mönchs in der fernen Residenzstadt gibt. Allerdings spricht kaum etwas für persönliches Erleben - im Sinne einer romantischen Vorstellung von Erlebnisdichtung - von Vorgängen in Aachen, auf die das Gedicht Bezug nimmt, es sei denn der Tod einer Frau, den man vielleicht eher als einen hyperbolisch beschriebenen Ohnmachtsanfall verstehen sollte, als Folge einer Ekstase, hervorgerufen durch allzu sinnliche ("süße") Musik 7 . Nach diesen äußeren Angaben über Dichtung und Dichter soll nun eine interpretierende Inhalts- und Strukturanalyse folgen. Als Exposition des Gedichts dient zunächst die Aufforderung des Dichters an eine weibliche Allegorie, Scintilla, "Funke" 8 . Sie 3 Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis 94, ed. O. HOLDER-EGGER, MGH Script, rer. Lang. 338, 1878: Karolus rex Francorum videns pulcerrimam imaginem (seil. Theodorici), quam numquam similem, ut ipse testatus est, vidit, Franciam deportare fecit atque in suo earn firmare palatio qui Aquisgranis vocatur. 4 BRUNHÖLZL (wie Anm.l) 351; HOMEYER, Piatonismus (wie Anm. 1) 109, übersetzt den Titel des Gedichts folgendermaßen: "Über das Standbild des Grausamen"; HERREN, JML 120. 5 Es handelt sich um einen Bischof von Langres, 539-572 oder 573 (Gregor. Turon., Hist. Franc. 4, 16), und einen von Auxerre, 691-706 (Gesta pontificum Autissodorensium 1, 1850 Duru); s. J. RICHARD, Lexikon des Mittelalters 8, 577. 6 Die Sekundärliteratur spricht fälschlich von 268 Hexametern: HOMEYER, Studi Medievali (wie A n m . 1 ) 9 0 0 ; BRUNHÖLZL ( w i e A n m . 1 ) 3 5 1 .
7 131-133: Dulce melos tantum vanas deludere mentes / coepit, ut una suis decedens sensibus ipsam /femina perdiderit vocum dulcedine vitam. 8 Die Namen Strabus und Scintilla finden sich in der Handschrift jeweils vor den Abschnitten, die von dem Dichter bzw. der Personifikation gesprochen werden; der Dichter selbst redet seine Muse im Einleitungsvers mit jener Wendung an, die Horaz, carm. 1, 1,2 für seinen Förderer Maecenas im Einleitungsgedicht seiner ersten Odensammlung verwendet, dulce decus. Die Wortverbindung begegnet auch sonst in der karolingischen Dichtung: Alkuin schließt carm. 58, 55 mit dieser feierlichen Anrede an den Kuckuck als den ersehnten Frühlingsboten.
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wird unter Hinweis auf das frühlingshafte Wetter gebeten, Fragen zu beantworten. Scintilla willigt ein. Bei dieser Gestalt handelt es sich aber nicht um eine Personifikation Grimalds, des am Aachener Hof wirkenden früheren Lehrers Walahfrids, wie Herren vermutet hat9, sondern um eine Art Muse, die, ganz wie in antiken Epen, dem Dichter Wahres mitteilt10. Wenn Walahfrid statt Musa oder Ratio, wie die inspirierende Gesprächspartnerin in Augustins philosophischem Dialog Soliloquia heißt, eben von einem Funken spricht, so muß dies ebenso wie an der in Anmerkung 9 zitierten Stelle als Bescheidenheitsäußerung verstanden werden, denn nach dem Zeugnis etwa Ciceros geht der göttliche Funke im Menschen dem vollentwickelten Geist voraus11. Es darf natürlich nicht übersehen werden, daß die Frage- und Antwortform dem Mönch Walahfrid von der Gattung der monastischen Lehrer-Schüler-Dialoge her geläufig gewesen sein mußte, die in der frühbyzantinischen Literatur als Frage-Antwort-Folge zu der philosophisch-theologischen Untergattung der sogenannten Erotapokriseis gefuhrt hatte12. Die dialogische Form eines Gedichts freilich weist das Stück in seiner Grundstruktur der in der Literaturkritik von der Antike an als niedrig bewerteten Gattung der Bukolik13 zu - und mit einem massiven Leitzitat aus dem ersten Vers der 5. Ekloge Vergils, eines ebenfalls dialogischen Gedichts14, beginnt Walahfrid seine Fragen an Scintilla. Diese streicht zunächst, gewissermaßen als Entschuldigung und gespielte recusatio den Exordialtopos alii - ego variierend, den Unterschied zwischen dem Einst und dem Jetzt heraus, was gleichzeitig sowohl eine Bezugnahme auf die als auch eine 9 HERREN, The ,De imagine Tetrici' 1 1 9 , führt diese Identifikation auf DÜMMLER zurück (Anm. 10: "in the apparatus to his edition, p. 3 7 0 " ) , doch liegt hier ein Mißverständnis vor: DUMMLER verweist bloß in einer Anmerkung zu Scintilla auf jene Stelle im Widmungsbrief zu Walahfrids Visio Wettini, an der der Dichter sein Jugendwerk folgendermaßen beurteilt: scintilla quaedam inest et eget fomite ( 3 0 2 DÜMMLER = H . KNTTTEL, Walahfrid Strabo, Visio Wettini, 1 9 8 6 , 4 0 ) . Der Brief ist an Grimald adressiert, was aber nicht besagt, daß Scintilla mit diesem gleichgesetzt wird: Der Zusatz eget fomite könnte im Gegenteil als für den Lehrer nicht unbedingt schmeichelhaft aufgefaßt werden. 10 Für die diesbezügliche mittelalterliche Tradition im Westen waren nicht die homerischen Prooemien, sondern selbstverständlich Vergil, Aen. 1, 8: Musa, mihi causas memora, maßgebend; zur Sache s. K. SMOLAK, Die Gunst Gottes und die Kunst zu schreiben. Zum Begriff des Schöpferischen in der antiken und der frühchristlichen Literatur, in: Bruckner-Symposion. Zum Schaffensprozeß in den Künsten, 1997,25-35. 11 Cicero, De ßnibus bonorum et malorum 5,43: in pueris virtutum quasi scintillas videmus, a quibus accendi philosophi ratio debet. 12 S . dazu H . DÖRRIE - H . DÖRRIES, Erotapokriseis, in: Reallexikon für Antike und Christentum 6 , 3 4 2 - 3 7 0 ; bezüglich lateinischer monastischer Literatur in Frage- und Antwortform sei auf die spätantike sog. Regula Magistri hingewiesen (hg. von A. DE VOGUE, 1 9 6 4 ) . 13 Als Kardinalstellen für diese Qualifizierung sah man Vergil selbst, der Ecl. 4, 2 die Metapher "niedrige Tamarisken" (humiles myricae) für die bukolische Dichtung verwendet hatte, und den spätantiken Vergilkommentar des Servius an, in dessen Einleitung zu den Eklogen zu lesen ist: qualitas autem haec est, scilicet humilis character. Zur grundsätzlichen Problematik dieser Einstufung s. Ε. A. SCHMIDT, Poetische Reflexion. Vergils Bukolik, 1972, 17-32. 14 Hier ein Textvergleich zwischen dem Beginn von Walahfrids Gedicht und jenem der 5. Ekloge Vergils: Cur η on, dulce decus, qu on i am se c on tulit hora - Cur η on, Mopse, boni qu oni am convenimus ambo\ Walahfrid, Vers 4: ... dulcescit et umbra - Vergil, Vers 5: Zephyris motantibus umbras.
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Distanzierung von der Dichtung der Antike und ihrer Inspirationstopik sowie eine Distanzierung von dem bukolischen Ambiente bedeutet, auf das der Dichter in seiner Eingangsbitte abgezielt hat: Die alten Dichter, veteres poetae (10), hätten sich in der Einsamkeit der Natur inspirieren lassen, der Wald, das Wild und die Vögel seien Zeugen ihres Schaffens gewesen15. Jetzt aber gelte es, im Unrat, in der Gosse, im Menschengewühl mit schmutzgeschwärzten Waden zu wirken, in der hyperbolisch als solche stilisierten Großstadt Aachen also (18-27). Hiermit ist übrigens nach dem zeitlichen Gegensatz zwischen Antike und Gegenwart auch die für Bukolik im Mittelalter, die ja oft agonale Züge trägt16, erste inhaltliche Kontrastierung gegeben. In dieses für große Dichtimg eher negativ gezeichnete städtische Szenario trifft die erste Frage Walahfrids, des Neuankömmlings in der Kaiserpfalz - tatsächlich wurde er ja 829 trotz seiner Jugend als Lehrer dorthin berufen: Wessen Standbild ist das hier, an dem man öfters vorbeigeht? (28 f.) Die ortskundige Scintilla gibt Auskunft: Es handle sich um das Standbild des Tetricus, das heißt des Theoderich. Dieser wird sofort negativ charakterisiert: als habgierig, ketzerisch, der Hölle würdig und hochmütig-tyrannisch, da es ihm an der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis gemangelt habe (30-43). Zu den angeführten Lastern tritt an späterer Stelle noch luxuries (65). Dieses negative Urteil, das erstmals von Gregor dem Großen so massiv literarisch formuliert wurde17, läßt Walahfrid Scintilla zum Unterschied von den anderen Verunglimpfungen in zweifacher Weise aussprechen, sowohl andeutungsweise als auch direkt. Zunächst heißt es, von dem habgierigen Tyrannen sei nur noch ein dürres Gerücht, fama arida, übrig (33); diese auffällige, da (soweit feststellbar) singulare Metapher soll wohl lautlich &\£Arius anspielen18: Einer der Hauptkritikpunkte betraf ja die arianische Ketzerei des Ostgotenkönigs. Erst im nachhinein wird Theoderich ausdrücklich als Gotteslästerer, blasphemus Dei, angesprochen, der, antikisierend ausgedrückt, durch die Pechströme des Avernersees, das heißt christlich gesprochen: durch die Hölle, schreitet (32). Schon in ihrer ersten Antwort beginnt Scintilla, Einzelheiten des Standbildes allegorisch zu erklären. So ist für sie die Tatsache, daß es sich um ein Reiterstandbild handelt, keinesfalls übrigens um
15 Allgemein s. A. KAMBYLIS, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, 1965; vgl. auch Horaz, carm. 1, 1, 50 f.; 2, 19, 1 £ 16 So schon in Vergils 3. Ekloge; für die frühmittelalterliche Literatur genüge ein Hinweis auf Alkuins schon in Anm. 8 erwähntes pastorales Streitgedicht De conflictu veris et hiemis (carm. 58) und die Ecloga Theoduli; s. F. MOSETTI-CASARETTO, Teodulo. Ecloga, 1992, LIV-LXXXI; vgl. auch die zahlreichen eklogenhaften Streitgedichte in der Sammlung von H. WALTHER, Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters, 1920 (mit Vorwort, Nachträgen und Registern neu herausgegeben von P. G. SCHMIDT, 1984). 17 Dialogi 4,31: Gregor berichtet von der Erzählung eines Mönches, der zur Todesstunde Theoderichs die Vision hatte, daß der König von zwei seiner früheren Opfer, dem Papst Iohannes und dem Patricius Symmachus, in den Vulkankrater von Lipari, also in die Hölle, geführt wurde. 18 Der Eigenname ist umgangssprachlich nicht als griechisches Wort behandelt und daher nach dem Gesetz der Vokalkürzung vor folgendem Vokal auf der ersten Silbe zu betonen, wie die Evidenz aus christlich-lateinischer Dichtung zeigt, ζ. B. Prudentius, Psych. 794; Sedulius, Carm. pasch. 1,300; Arator, Act. 1, 444 etc.
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eine Quadriga, w i e in Folge einer Fehldeutung v o n Vers 44 erklärt wurde 1 9 , B e w e i s für die Überheblichkeit des Abgebildeten. Die nächste Frage des Dichters bezieht sich auf die Tauben, die täglich dreimal zu dem Standbild fliegen (46-48). U m die gewünschte moralische Allegorese anbringen zu können - die sozial Niedrigen, humiles, die durch die bescheidenen Tauben repräsentiert werden, scharen sich um Tyrannen, um von diesen materiell ausgehalten zu werden, doch nicht aus innerem Antrieb - um diese Allegorese anbringen zu können, muß sogar ein Teil des Berichts des Agnellus in sein Gegenteil gekehrt werden: Der ravennatische Historiograph berichtet nämlich, daß Vögel im Leib des Pferdes aus Goldbronze nisteten 2 0 - Walahfrids Scintilla sagt dagegen: Die Tauben suchen dort nur Futter, petunt pastum, sie haben aber nicht genug Ruhe, um dort zu nisten ( n o n nidificando quiescunt)\ Nestruhe bei einem Ketzer zu finden kommt für die in der Exegese grundsätzlich positiv besetzten Tauben 21 nicht in Frage. Die Allegorisierung wird nach der nächsten Frage des Dichters noch intensiver: Warum trägt, so fragt Walahfrid, eine nackte schwarze, das besagt: eine nicht oder nicht mehr vergoldete Gestalt, offenbar eine Heroldsfigur oder ein Steigbügelhalter, keineswegs aber Theoderich selbst, w i e man mitunter verstehen wollte 2 2 - es ist nur eine Inter19 So HOMEYER, Studi Medievali (wie Anm. 1) 905; DIES., Piatonismus (wie ANM. 1) 107, spricht zwar nicht mehr von einer Quadriga, wohl aber läßt sie infolge des Mißverständnisses von stare in der umgangssprachlichen sowie spät- und mittellateinischen Bedeutung als Äquivalent von esse und unter Mißachtung des Wortes sedit in Vers 45 den Reiter auf seinem Pferd stehen wie einen Zirkusakrobaten (desultor) oder Iupiter Dolichenus auf dem Rücken eines Stieres. - Der fragliche Vers lautet: Curribus atque in equis noris si stare superbos; doch auf diese allgemeine Feststellung bezüglich überheblicher Menschen folgt gleich in 45 eine konkrete Aussage über das Theoderichstandbild: non quod sedit equo, tecum miraberis umquarn, der Gotenkönig sitzt also eindeutig auf seinem Pferd (non ist natürlich auf miraberis zu beziehen und nicht, wie Homeyer meint, auf sedit). Auch die in der folgenden Anm. 20 zu zitierende Stelle aus Andreas Agnellus weiß nichts von einer Quadriga. 20 Wie Anm 3: Ex naribus vero equi patulis et ore volucres exibant in alvoque eius nidos haedificabant. 21 Grundlage ist Matth. 10, 16; eine Stellensammlung aus lateinischen patristischen Autoren bietet Thesaurus linguae Latinae 3, 1732, 3143. 22 In Richtung eines derartigen Verständnisses, gegen das allein die Worte dextra de parte (52; nicht gleichbedeutend mit dextra manu) sprechen, weist jedenfalls die Interpunktion Dümmlers (Fragezeichen nach 52); in diesem Sinn übersetzt auch HERREN, JML 133; JML 120 nimmt er dagegen gar ,a group of "retainers'" an, wofür es im Text nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt, oder liegt etwa ein MißVerständnis von 58: dat nudo opprobria nudus vor? Bei diesen zwei ,Nackten' handelt es sich in Wahrheit um die Heroldsgestalt und den im übertragenen Sinn (s. im folgenden) nackten, d. h. in moralischer Hinsicht ebenso ,schwarzen' Theoderich; es wäre auch denkbar, daß die, wie unten darzulegen sein wird, nicht zutreffende Identifizierung des von einer "Gruppe zu Fuß" begleiteten auratus eques (129) mit der Theoderichgruppe zu dieser Auffassung Anlaß gegeben hat; richtig dagegen HOMEYERS Übersetzung, Piatonismus und Christentum 111; ebenso Studi Medievali 9 0 5 f.; HOMEYER bringt zwar brauchbare Stellen zur allegorischen Deutung der dunklen Hautfarbe, identifiziert aber in nicht zutreffender Weise den Herold mit der .dunklen' Gestalt von 140-146 (dazu s. u.) und, wie HERREN, den Reiter von 129 mit Theoderich (deswegen vielleicht auch S. 905 das Fehlzitat von Vers 63: satellites statt satellite); gänzlich ohne Grundlage im Text Walahfrids ist übrigens die Annahme HERRENS, Latin Culture (wie Aran. 1) 26; 36, daß auch die Allegorien von Rom und Ravenna in Aachen aufgestellt waren: Dies ist ein gewagter Schluß auf der Grundlage von
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punktion von Vers 52 nach Vers 53 zu versetzen - warum also trägt diese Gestalt eine Glocke? Nach der Allegorese Scintillas bedeutet dies, daß moralisch Verwerfliche von ebensolchen Personen in höchstem Maß gepriesen werden (56-58) - ein Detail, auf das noch zurückzukommen sein wird. Durch diese immer dichter werdende Allegorisierung ist fiir die Antwort auf die nächste, sehr allgemein formulierte Frage Walahfrids: "Sag es mir, wenn du sonst noch etwas weißt" (59) der Weg zur Ablösung der personenbezogenen Darstellungsweise durch eine ausschließlich deutende gegeben. Als Umschreibung der Person Theoderichs werden demnach negative Abstrakta im Femininum eingesetzt: avaritia, superbia, vis pessima, pestis, wie übrigens bereits Papst Gelasius, epist. 26, den Gotenkönig bezeichnet hatte, was aber Walahfrid kaum bekannt gewesen sein dürfte 23 . Dieses Vorgehen des Dichters bedeutet vielmehr eine Annäherung an die Darstellungsweise des allegorischen Epos, konkret der Psychomachie des Prudentius. Bezugnahmen auf diese spätantike, in der mittellateinischen Literatur äußerst wirkungsstarke Dichtung wurden in der Forschung bereits erkannt 24 , doch als punktuelle Imitationen beurteilt, nicht als Ergebnisse eines konsequent zunehmenden allegorischen Verständnisses des beschriebenen konkreten Gegenstandes - im Stil etwa der Allegorisierung der Materialien und Bestandteile des Salomonischen Tempels durch Beda Venerabiiis in seiner Schrift De aedificatione templi allegoricae expositionis libri II. Theoderich wird somit zur Epiphanie von Lastern oder einer Ausdrucksform des Bösen schlechthin, der sich gegen Adel und Kirche erheben will (82-86). Dafür dient Scintilla der Umstand als Beweis, daß Theoderichs Pferd sein rechtes Vorderbein angehoben hat - das Reittier muß also ähnlich jenem des Mark-Aurel-Denkmals auf dem Kapitol gestaltet gewesen sein - , und zwar in Richtung auf die Aachener Pfalz als das Ziel der Bedrohung 5.
Andreas Agnellus 94, der aber erstens von einer Mosaikdarstellung des Theoderich und der genannten Stadtallegorien berichtet und erst im nachhinein von dem Reiterstandbild; zu Recht nimmt HolderEgger eine Lücke in der Überlieferung an. - Zu der Begleitfigur der Reiterstatue ist eine Elfenbeinschnitzerei vom Anfang des 6. Jahrhunderts zu vergleichen, das sog. Barberini-Diptychon (heute im Louvre): Dieses zeigt einen Kaiser, wahrscheinlich Anastasios I. (491-518), zu Pferd, das beide Vorderbeine erhoben hat (aus statischen Gründen war bei dem Theoderichdenkmal natürlich nur ein Bein gehoben - s. 80 - wie im Fall der Reiterstatue Marc Aurels in Rom), bewaffnet mit einer Lanze und begleitet von einem Barbaren (kenntlich an Beinkleidern und Bart) mit zum Redegestus (gedacht ist wohl an einen Siegesruf zu Ehren des ,unbesiegbaren' Kaisers) erhobener linker Hand. Als Steigbügelhalterin erscheint die Allegorie der fruchtbaren Erde. Abbildung bei W . F. V O L L B A C H M. HIRMER, Frühchristliche Kunst, 1958, Abb. 219. 23 Was die Ablösung einer konkreten Person durch feminine Allegoresen zwecks Hebung des Erzählten auf die Ebene der Allgemeingültigkeit betrifft, ist aus frühkarolingischer Zeit die Versifizierung der Benediktvita Gregors des Großen durch Paulus Diaconus, Hist. Langob. 1, 26, zu vergleichen; in den Versen 21 f. des ersten Benediktgedichtes ersetzen dort im Referat einer konkreten Begebenheit die abstrakten Begriffe agapes (= agape) und fides die Personen des Priesters Romanus und Benedikts von Gregor, dial. 2, 1,5. 24 HOMEYER, Studi Medievali (wie Anm. 1) 904. 25 Walahfrid wendet hier die Methode der allegorischen Detailinterpretation an, wie sie längst von den Stoikern und, in der Spätantike, von den Neuplatonikern in ihrer philosophisch-theologischen Interpretation der alten Götter praktiziert wurde (als Beispiel diene Macrobius, Sat. 1, 17); in
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Nachdem dieser umfangreiche Allegoresenblock, der mit einem Hinweis auf das Weltende, also einem universalhistorischen Aspekt schließt (88) und mit dem die Deutung des Theoderich-Denkmals abgeschlossen wird, drängt der Dichter Scintilla, zu Erfreulicherem überzugehen, nämlich zur Panegyrik, wie sie der Herrscherfamilie zukommt, debitaprincipibus laudum persolvere vota (90). Mit einer allgemeinen Sentenz, die den von Quintilian (inst. or. 8,3,41-43) formulierten rhetorischen Topos enthält, daß Positives einer negativen Folie bedürfe 2 , um zu voller Geltung zu kommen, stimmt Scintilla das Lob des Caesar, Ludwigs des Frommen, an, welcher erwartungsgemäß als positives Gegenstück zu dem ketzerischen Tyrannen Tetricus gezeichnet ist. Denn sofort wird an ihm, dem "Frommen", eben seine Frömmigkeit, pietas, hervorgehoben, mit der er hilfreich dort eingreife, wo es ihm an dieser zu mangeln scheine (96). Auch dieser Abschnitt enthält, was bisher noch nicht beobachtet wurde, eine Bezugnahme auf die Psychomachie des Prudentius. Wenn nämlich der Kaiser als Erbauer von "Tempeln der guten Gesittung" gerühmt wird (102), der seine eigenen gottgeschenkten Anlagen an alle Menschen weitergibt, dann steht er dadurch zwar inhaltlich in Gegensatz zu dem habgierigen Theoderich, als sprachliches Gewand wird aber ein letztlich neutestamentliches Bild verwendet, das Prudentius in der Psychomachie breit ausgearbeitet hat, und zwar ebenfalls in deren zweitem Teil, der nach Überwindung der Laster durch die Tugenden spielt: die Errichtung des Tempels Christi in den einzelnen Menschen unter der Führung der siegreichen, triumphierenden Fides, das ist der - natürlich katholische - Glaube (804-887). Auch Ludwig erscheint aufgrund seiner religiös-moralischen Qualitäten als Triumphator, und zwar als einer, der fähig ist zu Triumphen aller Art: ad omnigenas transis, rex magne, triumphos (99); das bedeutet wohl auch militärische Triumphe (doch dies müßte in einem traditionellen Herrscherpanegyrikus nicht eigens hervorgehoben werden), vor allem aber moralische Siege, wie eben die Tugenden bei Prudentius über die Laster triumphieren, danach den Tempel in jedem Menschen errichten und so die messianische Heilszeit vorbereiten, die sich nach der Auffassung des Prudentius im Imperium verwirklichen soll27. Bedenkt man ferner, daß Fides, eine in ihrer christlichen Bedeutung dem ebenfalls christlich verstandenen Begriff pietas, Ludwigs herausragender Eigenschaft, sehr nahe stehende Qualität, bei Prudentius ihren endgültigen Sieg gerade über die Ketzerei, Heresis, erringt (716-725), so wird die Antithese zu Theoderich noch deutlicher. Hier also ist das bukolische Element des Streitgedichts von seiner volkstümlichen Ebene, wie sie sich etwa in Alkuins Gedicht über den Wettstreit von Frühling und Winter manifestiert, durch Einbeziehung der hohen Gattung des allegorischen Epos auf höchstes, heilsgeschichtliches Niveau angehoben, wie auch Vergil in der fünften Ekloge, auf die Walahfrid ja eingangs Bezug karolingischer Zeit versuchte Theodulf von Orleans, die Lektüre der erotischen Dichtungen Ovids durch Anwendung der moralischen Detailallegorese von Erscheinungsform und Attributen Cupidos zu rechtfertigen (carm. 45, 33-52). 26 Darauf weist HOMEYER, Studi Medievali (wie Anm. 1) 900, hin. 27 D. SHANZER, Allegory and Reality: Spes, Victoria and the Date of Prudentius' Psychomachia, in: Illinois Classical Studies 14, 1989, 347-363; Κ. SMOLAK, Die Psychomachie des Prudentius als historisches Epos, in: La poesia tardoantica e medievale. Atti del Convegno Internazionale di Studi, hg. von M. Salvadore, Macerata 4-5 maggio 1998, 2000, 125-148.
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nimmt, das sehr volkstümliche Streitgespräch der dritten Ekloge zu einem panegyrischen Nachruf auf den Dichterfürsten Daphnis in Form eines Wechselgesangs gesteigert hat. Der allgemeine hymnische Lobpreis Ludwigs, ein Musterpanegyrikus Scintillas, dessen erster Teil mit dem schon im antiken Herrscherlob, bei Vergil28, und in karolingischer Zeit in den Eklogen (!) Modoins29, topischen Hinweis auf das wiedergewonnene Goldene Zeitalter beginnt und 33 Verse umfaßt (94-127), oszilliert ganz im Stil der Psychomachie zwischen Bezugnahmen auf konkrete Gegebenheiten - auch Prudentius spricht ζ. B. von einer Kirche (107 f.) - und auf eine durch ständige Allegorese präsent gehaltene geistige Welt, in der sich auch biblische Exempelfiguren bewegen wie bei Prudentius (163-171: Hiob; 530-550: Judas und Achar). Unter diesem komparatistischen Aspekt erhält die in der Karolingerzeit für sich genommen nicht auffällige Tatsache, daß nicht nur Ludwig, sondern auch die Persönlichkeiten, die im folgenden aufgezählt werden, biblische - alttestamentliche - Namen erhalten, die Namen ihrer alttestamentlichen Typoi - mit Ausnahme König Pippins und des Lehrers Walahfrids, Grimald, der ehrend Homerus (228) genannt wird, eine zusätzliche, literarische Dimension. Durch diese biblische Inszenierung erscheint der karolingische Hof als Gotteswerk und tritt somit als diametraler Gegensatz zu Theoderich dem sich in diesem manifestierenden Bösen entgegen, und das in konkreter, historischer Zeit. So wird in 109 auf die Sachsenbekehrung durch Ludwigs Vater, Karl den Großen, in verdeckter Form hingewiesen: Denn eben die Neubekehrten sind unter der vermehrten Zahl von Tempeln aus heiligen Steinen zu verstehen, die Ludwigs Vater diesem hinterlassen habe30. Hier fallt ein kurzes Schlaglicht auf Karl, von dessen goldenen Standbildern auf hohen Säulen, wie etwa auf der Trajanssäule, berichtet wird - eine konkrete Angabe oder bloß eine Metapher? Jedenfalls ein markantes Gegenstück zu der dunklen Goldbronze des Theoderichstandbildes. Auf die spirituellen Tempel, die Ludwig von seinem Vater übernommen hat und eben geistig vollendet, indem er sie mit seinen Gnadengaben beschenkt (107-109), folgt der konkrete 'Tempelbau' der Aachener 28 Aen. 6, 792 (über die augusteische Friedenszeit); schließlich ist ja auch die berühmte vierte Ekloge, in der das mit der Geburt des Knaben anbrechende Goldene Zeitalter gepriesen wird, zumindest ihrem Anlaß nach ein Panegyrikus (auf das Konsulat des Asinius Pollio); sie im konkreten Fall im Zusammenhang mit dem Herrscherlob namhaft zu machen ist aber deshalb unangebracht, weil Walahfrid sie natürlich als Prophezeiung der Geburt Christi las. 29 Modoin preist von Ecl. 2, 55 bis zum Ende des Gedichts das nunmehr durch Karl den Großen herbeigeführte Goldene Zeitalter, wobei der Zentralbegriff aureus in geschickter Weise im Zusammenhang mit der Sonne fällt (69) - im Goldenen Zeitalter scheint ja stets die Frühlingssonne dem Symbol für den Herrscher (s. 118). 30 Apoc. 21, 14 (Hinweis in DÜMMLERS Apparat); Ambrosius, apol. David 17, 83 (CSEL 32, 2; 353, 18) zitiert folgenden Hexameter, der das metaphorische Konzept knapp ausdrückt: hos muros lapidum aedificat structura vivorum\ der stets gegenwärtige zweifache Aspekt, die eigentliche und die metaphorische Bedeutung, zeigt sich in dem frühmittelalterlichen Hymnus zur Einweihung eines Kirchengebäudes, 1 f. (Analecta Hymnica medii aevi 51, 110-112): Urbs beata Ierusalem, dicta pads visio, / quae construitur in coelis vivis ex lapidibus, s. dazu J. SZÖVERFFY, Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung, Bd. 1, 1964, 151 f.; zu der Vorstellung als solcher vgl. J. C. PLUMPE, Vivum saxum, vivi lapides. The Concept of .Living Stone' in Classical and Christian Antiquity, in: Traditio 1,1943, 1-14.
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Pfalzkapelle. Auch sie wird von Ludwig vollendet. So lassen sich jedenfalls die Verse 116 f. verstehen, in denen v o m Werk Salomons die Rede ist, das ganz oben durch structurae geglichen werden muß: templa supremis aequanda structuris^. Die nun folgende Szene bewegt sich unzweifelhaft zwischen der Realität der Aachener Topographie und der allegorisch interpretierten Herrschaft Ludwigs des Frommen. Ausgehend von dem auch anderweitig bezeugten Wildgehege 3 2 , anscheinend ein geräumiges, umfriedetes Jagdrevier des Hofes, auf das man durch die Fensteröffnungen des D o m e s blicken könne und in dem sich das übliche Jagdwild Europas tummelt (118120), wird ein in die Potentialität verlegter, d. h. von der Willensentscheidung des Kaisers abhängig gemachter allgemeiner Tierfriede gemäß der diesbezüglichen Prophezeiung bei Isaias 1 1 , 6 über die messianische Heilszeit figuriert, mit exotischen Raubtieren, ja sogar mit Einhorn 33 und gezähmten Drachen (123) 3 4 . Das zuletzt ge-
31 Mit Salomonis opus, in Apposition zu dem poetischen Plural templa (der Appositionscharakter wird durch die emphatische Anapher hinc ... opus, hinc templa nicht beeinträchtigt, es steht ja nicht hinc ... illinc; außerdem wäre es unmöglich, die noch in demselben Satz erwähnten Fenster, specularia, einem bestimmten Gebäude zuzuordnen), als Bezeichnung für die Pfalzkapelle wird eine Art Typologie konstruiert, wie sie ähnlich für Justinians Hagia Sophia und den alttestamentlichen Tempel bezeugt ist: Die Episode vom Ausruf des Kaisers, er habe Salomon durch seinen Bau übertroffen, illustriert dieses Konzept mit aller Deutlichkeit (bezeugt in dem Bericht über die Hagia Sophia, c. 27, hg. von TH. PREGER, Scriptores originum Constantinopolitanarum, Bd. 1, 1901, 105; vgl. J. KÖDER, Justinians Sieg über Salomon, Θυμίαμα στη μνήμη της Λασκαρίνας Μπούρα, 1994, 135-142); der übliche Akademiename Karls, David, ist hier aus sachlichen Gründen geändert; vgl. aber bereits Theodulf, carm. 25, 29, wo Karl bezüglich seiner geistigen Abstammung von Salomon hergeleitet wird. - Die Wortgruppe templa supremis / structuris aequanda scheint zunächst doppeldeutig: "ein Sakralbau, höchsten Konstruktionen / Bauwerken / gleichzustellen", wenn structuris als Dativ aufgefaßt wird, oder "ein Sakralbau, der durch den Dach stuhl / die Konstruktionselemente an seiner höchsten Stelle / (in seiner Höhe) ausgeglichen werden muß" (vgl. den bautechnischen Terminus ,Dachgleiche'); doch sprechen für letztere Deutung die üblichen Bedeutungen von structura "das Aufmauem" bzw. "Mauerwerk" und von aequare, das nicht gleichbedeutend ist mit comparare oder conferred die Übersetzung HOMEYERS, Piatonismus (wie Anm. 1) 113, "ragende Tempel", ist daher in einfacher Hinsicht korrekturbedürftig, diejenige HERRENS, JML 135, "temples of comparable structure" (vgl. DERS., Latin Culture [wie Anm. 1] 30) in zweifacher. 32 Karolus Magnus et Leo papa 137-152; Ermoldus Nigellus, Hlud. 583-594; wahrscheinlich auch Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni 2,8. 33 Die Nähe zu dem nicht in der zoologischen Realität angesiedelten zahmen Drachen legt es nahe, unter rinoceros nicht, wie üblich, ein Nashorn zu verstehen, sondern das im Sinne des Physiologus 22 (mit Bezugnahme auf Psalm 92, 11) als Symbol Christi auffaßbare Einhorn als Gegensatz zu dem Drachen; zur Verwendung von r(h)inoceros, in dieser Bedeutung vgl. Baudri von Bourgueil, carm. 7, 205 (in die Nachbarschaft europäischen Wildes wie Eber, Hase und Damwild paßt das pferd- oder hirschähnliche Einhorn wesentlich besser als ein exotisches Nashorn; die Übersetzung von J.-Y. TILIETTE in der Belles-Lettres-Ausgabe, 1998, "rhinoceros" ist daher zu korrigieren); Carm. Bur. 88, Str. 2, 5 (die im gleichen Zusammenhang erfolgende Erwähnung der Jungfrau macht hier die Bedeutung unzweifelhaft). 34 Den sachlichen Hintergrund für dieses Konzept bildet die bereits antike Gepflogenheit, daß Herrscher oder hohe Beamte zur Unterhaltung der Bevölkerung exotische Tiere vorführen ließen;
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nannte, unrealistische Detail gibt einen deutlichen Hinweis auf den gefesselten Drachen der Apokalypse (20, 1-3), eine Stelle, die in der Exegese auf den Tierfrieden des Isaias bezogen wird und somit auf die messianische Heilszeit verweist35: Dies also ist das Goldene Zeitalter, das Ludwig, der, wie es in Vers 114 heißt, "in alle Ewigkeit den hochthronenden Vater verehrt"36 - Gott ist die metaphysische Entsprechung zu dem zuvor genannten leiblichen Vater Karl - , herbeigebracht hat und noch vollenden wird, in Form der Vollendung des Tempels, d. h. sowohl der Kirche im eigentlichen wie im metaphorischen Sinn. Abgeschlossen wird dieser erste panegyrische Durchgang, der dem katholischen, freigiebigen und sanften Herrscher Ludwig als Gegenstück zu Tetricus gewidmet ist, mit einem Element von Epiphanieschilderungen, dem Vogelgesang, dessen sprachliche Gestaltung zwar aufFälligerweise an Lukrezens Venusepiphanie erinnert, aber wohl in erster Linie als Bestandteil imperialer und soteriologischer Epiphanie zu verstehen ist: Auch am byzantinischen Hof spielte ja der Vogelgesang eine Rolle, allerdings von den sogenannten Automata anläßlich kaiserlicher Empfänge im Audienzsaal, der das Paradies repräsentieren sollte, künstlich erzeugt 37 . Von einer kurzen Paradiesesvision mit ihrem für Epiphanien bzw. die göttliche Sphäre typischen Vogelgesang 38 , die ein positives Gegenstück zu dem Hinweis auf das Jüngste Gericht am Ende der Tetricuspartie (88) darstellt, wird in der Folge mit der epischen Wendung ast alia de parte, "aber auf der anderen Seite"39 (128), zu einer irdischen Festszene mit Musik kontrastierend übergegangen. Schon deswegen, aber nicht nur deswegen, halte ich die in der Handschrift gebotene Abfolge der Verse für
dafür genüge ein illustratives Beispiel: der byzantinische Historiker des 11. Jh., Michael Attaleiates, erwähnt im Nachruf auf Kaiser Konstantin IX. Monomachos unter dessen .Wohltaten' auf gleicher Ebene mit der Errichtung eines Krankenhauses die Vorführung eines Elephanten und einer Giraffe vor dem Volk der Hauptstadt (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae 47, 48, 11-50, 11) - entsprechend groß war bereits der Stolz Nikephoros' II. Phokas auf seinen Tiergarten in Byzanz (s. Liutprand, Legatio 37 f.); zum Herrscher als Wohltäter seiner Untertanen vgl. H. HUNGER, Reich der neuen Mitte, 1965, 105 f.; andererseits manifestierte sich das internationale Ansehen eines Souveräns u. a. im Erhalt diplomatischer Geschenke in Form exotischer Tiere: s. Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni 2, 8 (persische Gesandte bringen Karl Elefanten und Affen). 35 Dieses Konzept begegnet ζ. B. auf der südlichsten Konsole (Nr. 6) der Westseite des Ostflügels des spätmittelalterlichen Kreuzgangs in dem ehemaligen Zisterzienserstift Neuberg a. d. Mürz (Steiermark): In einer Erdhöhle unterhalb einer Szene mit dem Tierfrieden kauert der Drache; auf einer der Konsolen an der Ostseite begegnet übrigens auch ein Einhorn im Schoß einer Jungfrau; zur Deutung der Neuberger Konsolen s. K. SMOLAK, Im Buche der Natur, in: Der Dom im Dorf 54,1996. 36 Die feierliche Ausdrucksweise altithronum ... patrem orientiert sich an dem spätantiken Bibelepos des Iuvencus, praef. 24: altithroni genitoris, 2, 62: patris altithroni. 3 7 Eine Schilderung bietet Liutprand von Cremona, Antapodosis 6, 5, hg. von J. BECKER, MGH, Script, rer. Germ, in usum scholarum 4 1 , 1 9 1 5 ; vgl. G. JARITZ, Lexikon des Mittelalters 1, 1 2 7 3 . 38 Aus der römischen Literatur vgl. Lucr. 1,1-14; Apul., met. 11,7. 39 Dieser Hexameterteil bis zur Penthemimeres begegnet in der Form at parte ex alia in antiker und spätantiker Dichtung häufig (Catull 64,251; Cicero, Arat. 34; 367; Vergil, Aen. 10, 362; Manilius 1, 319; Sil. It. 1, 426: Statius, Theb. 4, 345; 11, 354; Paulinus Petr., Mart. 4, 541); es ist daher die Angabe im Apparat DÜMMLERS, Vergil, Aen. 4, 153: alia de parte (im Versinneren), zu korrigieren.
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authentisch und möchte den fraglichen Abschnitt nicht an eine spätere Stelle des Gedichts rücken, wie dies Herren 40 tut, mögen auch nicht alle Einzelheiten dieser bis Vers 146 reichenden Szene vollständig geklärt sein. Jedenfalls spielt Musik hier eine wesentliche Rolle: "Aber auf der anderen Seite", heißt es, "läuft ein goldener Reiter hin und her, begleitet von einer Schar, welche mit Schellen (tintinnum ... pulsant, 130) und einer Orgel (organa, 130) musiziert". Bei dieser Musik handelt es sich offenbar um sinnliche Unterhaltungsmusik, vielleicht als Begleitung eines Schaureitens. Sie ist allein durch die Nennung von zwei Instrumenten als weltlich gekennzeichnet, denn der liturgische Choral, das Ideal beherrschter, keuscher Musik, bestand nur aus Gesang und vermied in Spätantike und Frühmittelalter jegliche Polyphonie 41 . Diesem Musikkonzept, der verführerischen Sinnlichkeit der Instrumentalmusik, entsprechend ist in den Versen 131-133 vom Tod, wie ich meine: von einer Ohnmacht, einer Frau die Rede und von Eitelkeit, vanas mentes, welche der Süße der Musik, dulce melos, zum Opfer fällt. Diese betörende Musik, die zumindest zu einer Art Tod führt, steht als Repräsentation des Diesseits in Kontrast zu dem suave susurrare der Vögel in der Paradiesesszene. Somit muß auch der Goldene Reiter - ein Reiter in Prunkrüstung ? - ein Symbol der eitlen diesseitigen Welt sein. Daß es sich aber um die - zum Leben erwachte Theoderichstatue als Symbol des - nicht lebendigen - Goldenen Kalbes aus dem Buch Exodus handelt, wie Herren an anderer Stelle vermutet 42 , möchte ich nicht glauben; dies würde nämlich mindestens e i η despektierliches Epitheton erfordern. Außerdem ist die Szene sehr bewegt, das Denkmal dagegen rein statisch geschildert 43 . Vielmehr dürfte die Beschreibung eines weltlichen Festes vorliegen, das die folgende Szene, das Auftreten des kaiserlichen Hofes, präludiert, das als feierliche Prozession vor mit Zuschauern gefüllten Tribünen stilisiert ist. Möglicherweise sind Schaureiter in Prunkrüstung und Musikanten als eine Truppe fremdländischer, eventuell mediterraner Herkunft vorgestellt. Dies würde die anschließenden Verse 134-136 verständlich machen, in denen, rein inhaltlich betrachtet, der panegyrische Topos ausgesprochen ist, der etwa auch bei Modoin begegnet, daß nämlich der fränkische Hof die Nachfolge der ehemaligen Welthauptstadt Rom, was die Internationalität betrifft, angetreten hat . Als weiteres Beweisstück folgt nämlich die Orgel als Repräsentation des griechischen Bereichs, die Ludwig zum Geschenk gemacht wurde. Von dieser Orgel - ein derartiges Instrument diente im Frühmittelalter wie in der Antike ausschließlich der Unterhaltungsmusik - berichten auch Einhard in der Translatio Marcellini et Petri und ein anderer karolingischer Autor, von dem noch zu reden sein wird. Hier sei nur soviel gesagt: Die Erwähnung der Orgel gibt Walahfrid Anlaß zu einer sich über acht Verse erstreckenden Attacke gegen einen wütenden, unbelohnten Musikanten, der als dunkel40 JML (wie Anm. 1) 121 und in der folgenden Edition 122-131. 41 Dazu s. J. QUASTEN, Musik und Gesang in den heidnischen Kulten der Antike und im Christentum der ersten Jahrhunderte, 1927; K. SMOLAK, Der dreifache Zusammenklang (Prud. Apoth. 1 4 7 - 1 5 4 ) , in: W i e n e r S t u d i e n 84, 1971, 180-194, bes. A n m . 29.
42 Latin Culture (wie Anm. 1) 36-3 9. 43 Ohne plausiblen Grund muß daher HERREN, Latin Culture (wie Anm. 1) 33, annehmen: "the image of Tetricus begins to move". 44 Modoin, Eel. 1, 40^14; inhaltlich verwandt auch Theodulf, carm. 25, 1-4; 33^16.
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häutig geschildert ist (139-146)45. Gewissermaßen in einer Ringkomposition weisen der goldene Reiter und der schwarze Musikant der Festszene als lebendige Personen der Gegenwart auf das Theoderichstandbild aus Goldbronze mit seinem schwarzen, glockentragenden, d. h. ein Klanginstrument betätigenden Herold zurück. Daß sie aber mit diesen zusammenfallen, wie entgegen früheren Interpreten, die keinerlei Zusammenhang mit der Denkmalgruppe angenommen haben46, Homeyer und Herren durchgehend meinen, dafür gibt es keinen zwingenden Anhaltspunkt. Die Erwähnung des Reiters hätte somit bloß die Funktion einer auf die Versetzung des Schwarzen in die Gegenwart abzielenden Aktualisierung der Theoderichgruppe: Zwischen der ravennatischen Plastik und dem Fest in Aachen besteht ein Verhältnis ähnlich wie zwischen Typus und Antitypus. Aber darüber später. Die bisherigen Interpreten haben offenbar eines übersehen: daß nämlich die von dem wütenden Musiker handelnden Verse nicht Teil der Schilderung sind, sondern eine von der Erwähnung der Orgel ausgehende Reflexion des Dichters darstellen, wie aus dem hypothetischen Konjunktiv von 139 und den Futura der Verse 140-143 hervorgeht. Die gesamte Festszene ist überdies, in Variation des eklogentypischen Streitelements, als Gegenstück zu den vorangehenden, allgemein gehaltenen laudes Ludwigs zu verstehen und zugleich als Kontrast zum Folgenden. Denn auf diese - zu ausgelassene: man denke an das Herumsprengen des Reiters, discurrit eques, und die polyphone, süße Musik - Festszene folgt, wieder eingeleitet mit dem typischen Wort eines epischen Szenenanfangs, interea (145), das Hauptstück, eben die Prozession des Hofes, stilisiert als Epiphanie in der Art einer Offenbarung, an welcher der Dichter Anteil hat: Dies kommt in der Wendung "und ich sah", et vidi (150), zum Ausdruck, einer typischen Fügung der Johannesapokalypse47. Auch die direkte Anrede des Sehers durch eine Gestalt der geschauten Szene in 243 f. (den Kaiser selbst oder eher einen Hofbeamten) - hier die Frage nach der Herkunft des Dichters, formuliert nach Prudentius, Psychomachie 706-708 erinnert in ihrer Struktur an die 45 Hier die schwierigen Verse in Übersetzung: "Wenn (die Orgel) aber unbeschädigt (oder: ohne daß man sie anrührt) die Klänge, die angeschlagen wurden, behält, wird derjenige nichts zu tun haben, der oftmals mit Schlagstück (der Lyra) die Luft erschüttert: Zuvor aber wird er von seiner verachtenswerten Haut den Mantel abwerfen (d. h.: seine verachtenswerte Hautfarbe preisgeben), rasend ein großes Stück Eisen ergreifen und damit die klingenden Baumstämme und die ungleich langen Halme (d. s. die Orgelpfeifen) zerschmettern, und das nicht ohne Grund: Denn er hat sich keine Gaben fur sein Lied erworben, so daß wenigstens ein winziges Stück glänzenden Goldes seinen schwarzen Leib aufgrund verdienten Lohnes färben würde." Zu den abweichenden Übersetzungen und Interpretationen durch HOMEYER, Piatonismus (wie Anm. 1) 113, bzw. Studi Medievali (wie Anm. 1) 108, und HERREN, JML (wie Anm. 1) 138, sei bloß angemerkt, daß bachari längst so abgegriffen war, daß es nicht mehr unbedingt mit dem Gott des Weines assoziiert werden mußte. Schwer nachvollziehbar ist daher die Auffassung HERRENS (Latin Culture 30), daß es sich bei dem Beschriebenen um den Organisten handle, dessen Fähigkeiten mit Dionysius (sie!) verglichen werden. 46 HOMEYER, Studi Medievali (wie Anm. 1)911: "Der Dichter kommt nochmals auf das Denkmal zu sprechen (aureatus [sie!] läßt keinen Zweifel darüber)"; unter den von HOMEYER a. O. angeführten früheren Deutungen trifft jene von v. BEZOLD (wie Anm. 1) 403-405, am ehesten das Richtige, der wenigstens die Begleitfiguren des Reiters als Teil der Schilderung eines realen Vorgangs vor dem Kaiserpalast aufgefaßt hat. 47
A p o c . 5,1; 2; 6; 11; 6,1;12; 8 , 2 etc.
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biblische Apokalypse (7, 14), ebenso das Element des Staunens und der Furcht: Die Begriffe obstipui (149 und 244) und pavitans (244) rahmen die Szene48. Die Persönlichkeiten des Hofes, die an dem Dichter vorüberziehen, sind streng hierarchisch nach Würde und Alter geordnet. Auf den Kaiser, Ludwig den Frommen, folgt, zur Rechten seines Vaters, der bereits zum Mitkaiser gekrönte Lothar, nach diesem wird der zweite Sohn Ludwigs genannt, Ludwig der Deutsche, König von Bayern - daß er links steht, wird möglicherweise wegen der unheilbringenden Bedeutung dieser Seite verschwiegen, doch hat Walahfrid wohl den Typ spätantiker kaiserlicher Maiestasdarstellungen vor Augen, wie etwa das berühmte Silbermissorium aus Madrid, das Theodosius I. auf dem Thron, umgeben von seinen Söhnen Arcadius und Honorius zeigt49. Sodann folgt in der Aufzählung Pippin, Ludwigs dritter Sohn, König von Aquitanien. Er allein trägt keinen biblischen Namen, Walahfrid beteuert außerdem, daß er ihn nicht gesehen hat, sondern nur durch fama kennt. Auch sind ihm nur drei Verse gewidmet - dagegen Ludwig dem Frommen 10, Lothar 7 und Ludwig dem Deutschen 6. Ich meine übrigens, daß Homeyer nicht Recht hat, wenn sie betont, der Umfang der jeweiligen laudes habe nichts zu besagen50. Es folgt nämlich ein kurzes episches Binnenproömium von drei Versen mit einer topischen Schiffahrtsmetapher für die Schwierigkeit des nun zu behandelnden Stoffes (174-176). Dieser Stoff ist aber nichts anderes als die Präsentation des noch kindlichen Karl des Kahlen und der Mutter der Söhne Ludwigs, der Kaiserin Judith; sie wird engstens an ihren Jüngsten gebunden. Dieser, biblisch Benjamin genannt, erhält 15 Verse (177-191), auf die 17 Verse für Judith folgen (192-208). Dieser Unterabschnitt umfaßt also nicht weniger als 36 Verse. Von den 15 Versen für Karl den Kahlen enthält das letzte Drittel ein konventionelles Lob Karls des Großen, des gleichnamigen Großvaters von Walahfrids Zögling. Nur er und Ludwig der Fromme werden ausdrücklich als Verwandte Karls des Großen apostrophiert. Auch dieser Umstand will bei einer Gesamtinteipretation des Gedichtes bedacht sein. Mit der betont ausfuhrlichen Vorstellung Karls des Kahlen und seiner Mutter Judith endet die Beschreibung der kaiserlichen Familie. Es folgen der geistliche Führer, der Erzkaplan und Abt von St. Denis, Hilduin, genannt Aaron (209-220), der priesterliche Bruder des Moses, aus Gründen der Analogie zu Ludwig, welcher eben den Namen des weltlichen Führers, Moses, trägt, mit 12 Versen und die geistig-literarischen Größen bei Hof, Einhard und Grimald, Walahfrids Lehrer auf der Reichenau, mit je 6 Versen (221-238). Ebensoviele mißt dieser sich selbst zu, indem er den alten, schon bei Homer bezeugten Topos von den vielen Zungen, die ein Lobredner benötigen würde51, auf seinen ganzen Körper 48 Typisch für die Mischung von Furcht und Freude bei einer Epiphanie sind Matth. 28, 8 (die Frauen verlassen das Grab des Auferstandenen nach der Angelophanie cum timore et magno gaudio), ähnlich Luc. 2, 9 (die Hirten fürchten sich bei der Engelerscheinung, die ihnen .große Freude' verkündet); besonders eindrucksvoll Apoc. 1, 17. 49
A b b . 5 3 b e i VOLLBACH-HIRMER ( w i e A n m . 2 2 ) .
50 Studi Medievali (wie Anm. 1) 909. 51 Die Zahl der erwünschten Zungen steigert sich von zehn bei Homer, II. Β 488, über hundert bei Vergil, Georg. 2, 43; Aen. 6, 625 (vgl. Ovid, Met. 8, 533 u. a.), zu praktisch unzählbar vielen bei Dracontius, laud. Dei 3, 570f.: die Stelle steht deswegen Walahfrid besonders nahe, weil Dracontius gleichfalls von Körperteilen, und zwar (Zähnen für die Münder und) Kopfhaaren, spricht.
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ausdehnt: Nicht einmal wenn er ganz Musikinstrument wäre - Walahfrid verwendet den Begriff cicutae, "(kleine) Orgelpfeifen" (235), wie zuvor im Zusammenhang mit der realen Orgel in der Aachener Pfalz (143) - , könnte er das Lob des Hofes gebührend künden. Daher will er besser schweigen, seil, als zu viele, unpassende bzw. ungelenke Worte machen. Auch dieses Detail will in einer Gesamtinterpretation bedacht sein. Was folgt, ist die kurze Erwähnung der Einbeziehung des 'Sehers', also Walahfrids selbst, in die imperiale Epiphanie in Form der schon erwähnten, an ihn gerichteten Frage nach seiner Herkunft und ein Rückblick auf die Epiphanie des splendor imperii sufficiat vidisse semel (2, 45) von der er ewige Liebe - zum Hof - und, daraus resultierend, das Bedürfnis nach ewigem Lob - des Kaiserhauses - mitgenommen hat, wie von einer göttlichen Epiphanie. Ein konventioneller Glücks- und Siegeswunsch für Ludwig den Frommen, eben ein specimen der laus perennis, schließt an, mit einem bemerkenswerten Schluß: Erst in Ludwig habe sich das platonische Ideal des Philosophenkönigs verwirklicht (256 f.). Dies ist einmal mehr sprachlich formuliert nach Prudentius, und zwar nach contra Symmachum 1, 30-3252, also ebenfalls nach einem politischen Gedicht des patristischen Dichters, wie es ja auch die Psychomachie ist, die des öfteren herangezogen worden war. Daß es sich dabei um einen Satz Piatons handelt, wußte man im Mittelalter aus Boethius (cons. 1, prosa 4)53. Somit bedeutet noch nicht Karl der Große die Vollendung weltlicher Herrschaft, sondern erst Ludwig der Fromme, denn im ersten Lob Karls (111), wo dieser panegyrischer Gepflogenheit gemäß als der Vater des zu Preisenden gelobt wird, heißt es: "Auf seine, nämlich Karls, Veranlagung wende ich den Lehrsatz Piatons nicht an" (cuius ad ingenium non confero dogma Piatonis). Insofern ist dies besonders auffällig, als in etlichen panegyrischen Dichtungen der Karolingerzeit sapiens für Karl den Großen geradezu ein stereotypes Epitheton ist54. Dieses letzte Wort, nämlich das auf Ludwig zutreffende dogma Piatonis, verbietet es im übrigen, eine wie immer geartete Kritik an Ludwig bei gleichzeitiger Aufwertung der Geistlichkeit in der Person Hilduins aus dem Gedicht herauszulesen, wie dies Herren versucht55. Es erscheint überdies höchst fraglich, ob es sinnvoll gewesen wäre, als junger Neuankömmling bei Hof auch nur versteckte Kritik an der zentralen Persönlichkeit, dem Kaiser, anzubringen. Vielmehr wird nun noch einmal Theoderich angesprochen: Tetrice stulte vale (258). Theoderich ist ein letztes Mal auf das deutlichste, und zwar durch stultus in unmittelbarer Nachbarschaft der Aussage über Ludwigs Weisheit, als diametraler Gegensatz zum regierenden Kaiser,
52 Nimirum pulchre quidam doctissimus: "Esset / publica res, inquit, time fortunata satis, si / vel reges saperent vel regnarent sapientes. " - Walahfrid übernimmt zum Teil wörtlich, zum Teil setzt er Synonyma, wie es für kunstgemäße imitatio schon in der Antike üblich war, und behält sogar das ,umgekehrte Enjambement' bei: Nunc tandem crevit felix res publica, cum sat / et reges sapiunt simul et regnant sapientes. 53 Politeia 473 D; 487 E; s. J. GRUBER, Kommentar zu Boethius, De consolatione Philosophiae, 1978, 116; DÜMMLER gibt im Quellenapparat irrtümlich Consol. I, c(armen) 4 an; es sollte jedoch angesichts ihrer sprachlichen Ähnlichkeit eher die Prudentiusstelle angegeben werden. 54 Ζ. B. Theodulf, carm. 25,29; Modoin, prol. 1; die ,Weisheit' Karls wird ja bereits in seinem , Akademienamen' Salomon angesprochen, den auch Walahfrid gebraucht (116). 55 Latin Culture (wie Anm. 1)36-39.
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dem Vollender des von Karl grundgelegten politischen Gesamtwerks, angesprochen. Vielleicht wird, um Theoderichs Dummheit umso krasser hervortreten zu lassen, schon im ersten Teil häufig auf Boethius, das berühmteste Opfer des Gotenkönigs und den summus philosophus des Frühmittelalters, durch Zitate angespielt 56 . Walahfrid und Scintilla sind von Beginn des panegyrischen Teils an miteinander verschmolzen; das besagt: Der Dichter nimmt im negativen ersten Teil eine distanzierte Haltung gegenüber seinem Stoff, dem Denkmal, ein, im zweiten, positiven, identifiziert er sich mit seinem Stoff, dem Lob des Kaiserhofes; Walahfrid / Scintilla verabschiedet sich mit einem Hinweis auf den anbrechenden Abend, seit Vergils erster Ekloge ein typisch bukolischer Schluß 57 und damit ein letzter Hinweis auf das Genus, welches das Grundschema abgibt, das seinerseits im panegyrischen Teil um epische Elemente erweitert wurde, was für poetische Panegyrik nicht weiter auffällig ist: Aus dieser Genusmischung resultiert der über antike Eklogen hinausgehende Umfang des Gedichts, das man als Groß-Ekloge bezeichnen könnte. Es gilt nun, im Anschluß an diese Analyse nach der literarischen Verankerung von Walahfrids Dichtung in der Tradition zu fragen bzw. zu erkunden, welchen Zweck oder welche Zwecke der Dichter mit seiner literarischen inventio verfolgt. Um chronologisch zu beginnen: Die zahlreichen Klassikerzitate, abgesehen von dem Gattungshinweis in Form des vergilischen Leitzitats im ersten Vers, verwundern in der späteren Karolingerzeit nicht. Beachtung verdient vielleicht der Umstand, daß so manche Wendung an das Venusprooemium des wegen seines mutmaßlichen Atheismus von der Kirchenväterzeit an offiziell verpönten römischen Epikureers Lukrez erinnert, in dem gleichfalls ein Frühlingsmorgen geschildert wird 58 . Wichtiger, da für die Gesamtaussage entscheidend, ist allemal die durch etliche wörtliche Zitate deklarierte Bezugnahme auf die Psychomachie des Prudentius mit ihrem antithetischen Grundzug von Böse und Gut. Walahfrid hat diese Dichtung, so scheint es, anders als moderne Literaturgeschichten, richtig als historisch-politisches Epos in allegorischer Einkleidung verstanden. Die Psychomachie fuhrt, das wurde bisher nicht beachtet, an eine der Grundaussagen des Gedichtes heran, nämlich den Appell zu politischer Eintracht: Im Abschnitt über Ludwig den Deutschen, den Zweitältesten, aber nicht wie Lothar zum Mitkaiser gekrönten und daher potentieller Mißgunst verdächtigen Sohn Ludwigs des Frommen, steht ausdrücklich ein Hinweis auf die gloria consors, die er mit Lothar teile (169), und die trotz geringerer finanzieller Mittel zu Eintracht verpflichte 59 : quod gaza negat, concordia praestat (170). In der Psychomachie erscheint nun als letzte und gefähr-
56 Dazu s. HOMEYER, Studi Medievali (wie Anm. 1) 904 f. 57 Vergil, Eel. 1, 82 f.; 6, 85 f.; 10,77; Nemesian 1, 86 f.; 2, 89 f.; 3, 67-69; Epigramma S. Paulini 110 f.; Ecl. Theoduli 343 f. 58 6: genus omrte animantum = Lucr. 1,4; 16: ferae ... volucres, cf. Lucr. 1, 12; 15: volucres ... ferae; auffällig ist auch der Gebrauch des in der Dichtersprache eher seltenen Verbums tranare bei Walahfrid 7 und bei Lucr. 1, 14. 59 Zu diesem viel beanspruchten, schon römisch-republikanischen Propagandabegriff, der in der Kaiserzeit auch auf Münzen gemeinsamer Imperiumsträger erschien, s. K. THRAEDE, Homonoia (Eintracht), in: Reallexikon für Antike und Christentum 16, 176-289; über kaiserzeitliche Propaganda auf Münzen 229-235; 262 f.
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lichste Gegnerin aller persönlichen und politischen Tugenden eine Allegorie mit Doppelnamen (709 f.): Discordia cognomento Heresis. Sie wird gefangen und von den allegorischen Kämpferinnen Concordia und Fides vernichtet (Walahfrid zitiert wörtlich aus dieser Szene in 243 ), denn sie hatte den endgültigen Sieg des Heils und damit den Anbrach der messianischen Heilszeit zu verhindern gesucht; und ein Ausblick auf die messianische Friedenszeit wird ja, wie bereits dargelegt, von Walahfrid gegeben. Nun besteht Theoderichs Kardinallaster, dessentwegen er gleich in den ersten Versen von Scintilla zweifach gebrandmarkt wird, in seinem Häretikertum. Somit steht er vor dem Hintergrund des intendierten Psychomachiebezuges auch fur jenes Übel, das im Jahr 829 dem Reich zu drohen schien: Discordia, nämlich zwischen den Söhnen Ludwigs. In seinen im einzelnen sicher überzogenen Annahmen politischer Anspielungen im Gedicht Walahfrids hat v. Bezold diese mit literarischen Mitteln indirekt getroffene politische Aussage übersehen. Die Dichtungsgattung der Bukolik konnte außerdem von Vergil an Vehikel persönlich-politischer Aussagen sein. Dies wußte das Mittelalter nicht zuletzt aus den spätantiken Vergilkommentaren, in denen etwa der mehrmals aufscheinende Hirte Tityrus, die 'glückliche' Gestalt der ersten Ekloge, mit dem Dichter identifiziert wurde61; und dieses Wissen machte sich auch die karolingische Literatur zunutze: Modoins panegyrische Eklogen auf Karl den Großen in Dialogform könnten Walahfrid bekannt gewesen sein. Darauf läßt nicht nur die Gleichheit der Gattung schließen, sondern auch der merkwürdige, aus epischen Dichtungen der Spätantike übernommene Usus eines kurzen, metrisch abgehobenen Teils in elegischen Distichen, bei Modoin Prolog und Epilog, bei Walahfrid nur der Epilog. Auch die Eklogen Modoins beginnen mit (eher) Negativem und enden mit dem Preis der von Karl der Welt bescherten Friedenszeit62. Beziehungen bestehen allem Anschein nach ferner zu den panegyrischen Gedichten auf denselben Herrscher von dem sogenannten Hibernicus exul6 . Dieser bietet in dem hexametrischen ersten Gedicht sogar einen elegischen Epilog im Umfang von ebenfalls drei Elegischen Distichen und im zweiten einen weitgehend mit Walahfrids Komposition ähnlichen Aufbau, einen Dialog zwischen Dichter und Muse, die ihm Vorgänge der Zeitgeschichte, konkret den Aufstand Tassilos, vor biblisch-universalhistorischem Hintergrund erläutert und als Ausdruck des metaphysischen Kampfs zwischen Gut und Böse deutet, durch den die eximia pax gestört ist - es herrscht eben DiscordiaAuch auf Theodulfs umfangreiches carmen 25, an Karl den Großen gerichtet, scheint Walahfrid sich zu beziehen. Auch dort findet sich ein allgemeines Herrscherlob 60 Psych. 706-708: Virtutum legio exquirens ... patriam ... et missu cuiatis venerit- Quaeritur, unde essem et missu cuiatis adessem. 61 Servius zu Vergil, Ecl. 1,1 (4,21-23 THILO): et hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere; non tarnen ubique, sed tantum ubi exigit ratio. 62 Es ist für die getroffene Feststellung nicht von Belang, ob man die bukolische Dichtung Modoins als ein einziges Gedicht auffaßt wie A. EBENBAUER, Nasos Ekloge, in: Mittellateinisches Jahrbuch 11, 1976, 13-27, oder traditionellerweise als zwei, was doch eher wahrscheinlich ist. 63 Über Modoin und Hibernicus exul als mögliche Bezugsautoren Walahfrids s. GODMAN (wie Anm. 1) 137. 64
Hg. von E. DÜMMLER, MGH, Poetae latini 12, 1881, 396-399.
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gewissermaßen als Exposition wie bei Walahfrid am Beginn des panegyrischen Teils, auch dort ist die Szene imperialer Epiphanie im Frühling angesetzt und ist eine Spur Bukolik enthalten: historische Persönlichkeiten wie Meginfrid und Audult erscheinen unter den typisch bukolischen Namen Thyrsis und Menalcas 65 . Auch bei Theodulf tritt der gepriesene Herrscher mit seiner Familie (61-114) auf; auch bei Theodulf findet sich, im Anschluß daran, ein Katalog herausragender Persönlichkeiten: der berühmte Katalog von Mitgliedern der gelehrten Hofgesellschaft (115-180) 66 . Eine namentlich nicht genannte Person, ein Ire, als Scottus (160; 165; 167) oder Scotellus bezeichnet (214), wird allerdings gröblichst verunglimpft. B. Bischoff hat anhand eines anonymen Gedichtfundes aus der Umgebung Theodulfs gezeigt, daß es sich um den Iren Cadac-Andreas handelt 67 . Persönliche Polemik aus Rivalität hatte also ihren Platz in der karolingischen poetischen Panegyrik, im besonderen in einem Walahfrid mit Sicherheit bekannten Gedicht, eben Theodulfs carmen 25. Von dieser Gegebenheit ausgehend, soll nun zum Abschluß dargelegt werden, daß auch Walahfrid polemisiert, und zwar nicht nur gegen Theoderich - und die negative Schilderung des Stadtlebens sowie die offene Kritik an der Denkmalgruppe scheinen sogar einen Lesehinweis auf subtilere Polemik zu geben. Da fallen zunächst auf lexikalischer Ebene die Verse 23 f. mit ihren Deminutiva und deren sprachlichem Umfeld auf, wenn Scintilla sagt: "Hier (in der Stadt) tönt das Geschrei der Mittellosen, und ihre nackten Waden sind beschmutzt von schwärzlichem Unrat: Wenn die Musen je diese Art von Glanz liebten, Unrat, Geschrei, Gosse, Lärm, dann will ich dir prompt antworten." Gleichzeitig kündet sie an, nur wenig zu sprechen, pauca loquar (27). Die lateinischen Begriffe, auf die es für die folgende Interpretation ankommt, lauten: clamor egentum (22), stercoribus nigellis (23), has nitellas (24), stercora, clamores, caenosa fluenta, tumultus (25). Das nicht gerade häufige und im Zusammenhang mit stercora auch nicht angebrachte Deminutiv nigellus6t weist inhaltlich auf den schwarzhäutigen Begleiter des Theoderich voraus, der dessen Ruhm mit einer Glocke, also lauthals, verkündend seine eigene schwarze Haut zur Schau stellt und von Scintilla unter die virtutis egentes (57) gezählt, also moralisch abqualifiziert wird: summis laudibus accelebrant virtutis egentes - einmal mehr das Wort egentes, hier auffalligerweise im Sinnzusammenhang mit laudibus (57), dem lateinischen Fachbegriff für Panegyrikus. Die schwarze Heroldfigur wird, wie bereits erwähnt, in dem gegen die Hoforgel wütenden, deren kleine Pfeifen, cicutae, zu zerschmettern
65 Thyrsis begegnet bei Vergil, Ecl. 7, Menalcas in den Eklogen 2, 3, 5, 9 und 10. 66 Vgl. die Analyse von D. SCHALLER, Vortrags- und Zirkulardichtung am Hof Karls des Großen, in: Mitteldeutsches Jahrbuch 6, 1970, 17-36 (ergänzte Fassung in: D. SCHALLER, Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, 1995, 87-109). 67 B. BISCHOFF, Theodulf und der Ire Cadac-Andreas, in: Historisches Jahrbuch 74, 1955, 92-98 (DERS., Mittelalterliche Studien, Bd. 2,1967, 19-25). 68 Das Adjektiv ist sehr selten belegt, es könnte dem Mittelalter durch spätantike Grammatikerliteratur bekannt sein: So bezeugt es Nonius Marcellus zweimal für Varro (731 und 882 Lindsay); vgl. auch Palladius 3, 25 und Ausonius, epist. 4, 74.
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drohenden Musikanten wieder aufgenommen69. Auch dieser ist moralisch verwerflich, da der Leidenschaft des rasenden Zorns ausgeliefert (142: bachatus), materiell arm, weil er für sein Lied keinen Lohn erhalten hat: nulla suo pro carmine dona emeruit (144 f.), und - dies ist besonders bemerkenswert - von schwarzer Haut, nigros ... artus (145 f.). Allein diese philologischen Beobachtungen legen es nahe, hier an eine mehrstufige, von Mal zu Mal konkreter werdende Polemik gegen einen dunkel pigmentierten, 'schwarzen' Panegyriker zu denken. Als Ziel der Polemik bietet sich nur Ermoldus mit dem Beinamen Nigellus an. Dieser hatte ja wenige Jahre vor 829 terminus post ist der Bretonenfeldzug von 824 - seinen vier Bücher umfassenden Großpanegyrikus, der in Nachahmung von Ovids Verbannungsdichtung in elegischen Distichen abgefaßt ist - auf Ludwig geschrieben, doch erfolglos: Er weilte, als Walahfrid nach Aachen berufen wurde, noch als Verbannter in Straßburg70. Ein sprachlicher Vergleich der Schlußpartie des Ludwig-Panegyrikus des Schwarzen, Nigellus, ein solcher Vergleich wurde bisher nicht vorgenommen - läßt die eben geäußerte Vermutung Gewißheit werden: Bei Ermoldus liest man 4, 747 von des Dichters Flöte, cicuta, seinem Begleitinstrument - man erinnere sich: Walahfrid wünscht sich die Metamorphose seiner Körperhaare in cicutae (235); gerade der Plural hat aber die (kleinen) Orgelpfeifen bezeichnet, auf die der Schwarze erbost einhämmert, da er sie als seine Rivalen betrachtet (143). Ermoldus betont in derselben Passage mehrfach seine materielle Armut, egenus sei er, inops und divitiis liber (748; 750), und bringt nach seinen eigenen Worten ein bescheidenes - immerhin aber 2614 Verse umfassendes Gedicht dar: carmina pauca (749), er sei bisher aber ohne Belohnung geblieben, munere carens (749). Derartige Gedanken, besonders jener der (moralischen und materiellen) Armut, finden sich auch in den Beschreibungen der beiden schwarzen Gestalten, des Herolds Theoderichs (57) und des erbosten Musikanten (144 f.). Walahfrid nimmt in De imagine Tetrici auf Ermoldus Nigellus auch sonst Bezug71, und zwar immer in antithetischer Weise: So bei der Erwähnung der griechischen Orgel. Sie ist bei Ermoldus einer der Beweise fiir die Superiorität der fränkischen Herrschaft, bei Walahfrid dagegen "nicht das Größte für den großen König" (13 8)72. Bei Ermoldus ist 69 HOMEYER, Piatonismus (wie Anm. 1) 108, verkennt die Intention Walahfrids, wenn sie von einem betonten Gegensatz (seil, des mutmaßlichen Organisten) "zu dem mißtönenden Instrument des Negers" (d. i. die Heroldsfigur neben der Theoderichstatue) spricht. 70 Zu Ermoldus s. M. MANITIUS, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters 1, 1911, 5525 5 7 ; BRUNHÖLZL ( w i e A n m . 1) 1, 3 9 0 - 3 9 4 .
71 BRUNHÖLZL (wie Anm. 1) 1, 394 erklärt, es hätten sich keine Spuren der Benutzung des Ermoldus durch einen anderen Dichter nachweisen lassen: Dies muß nun korrigiert werden; HOMEYER, Piatonismus (wie Anm. 1) 108, Anm. 5, weist zwar auf die Ähnlichkeit der jeweiligen Verse über die Orgel hin (s. die folgende Anm.), zieht daraus aber keine Schlüsse für die Interpretation; auch HERREN, JML 119, merkt zwar, ausgehend von dem Deminutiv nigellus (24), an: "The reference ... contains a cruel pun on the name of the poet Ermoldus Nigellus", verfolgt diese Spur aber nicht weiter; ähnlich GODMAN (wie Anm. 1) 134-144, der in seiner Behandlung von Walahfrids carmen 23 zwar verschiedentlich auf den Ludwigspanegyrikus zu sprechen kommt, doch eine Bezugnahme auf diesen von Seiten Walahfrids nicht erwägt. 72 Die Übersetzung von HERREN, JML (wie Anm. 1) 138: "The great king has installed an organ (not one of the largest)" scheint mir nicht das Richtige zu treffen, denn dies würde ja eine Minderung
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der an Tieren reiche Hain bei der Aachener Pfalz sowohl Ort der Jagd als auch des Sich-Duellierens, also des Kampfes und des (potentiellen) Tötens (3, 583-618); für Walahfrid dagegen gibt der Aachener Tierpark ein Symbol des künftigen Paradiesesfriedens und somit des ewigen Lebens ab73. Ebenso verhält es sich bei der Beurteilung Karls des Großen: Zwar ist er auch auf den wohl fiktiven, von Ermoldus beschriebenen Fresken in Ludwigs Ingelheimer Pfalz der Kriegerische, Ludwig dagegen der Friedensherrscher74, doch wird Karl trotzdem vorbehaltlos als sapiens bezeichnet (4, 279), eine Qualifikation, die ihm Walahfrid eben abspricht (111). Ermoldus stand Ludwigs Sohn Pippin nahe, an ihn richtete er zwei längere panegyrische Sendschreiben in elegischen Distichen. Walahfrid, in derselben Funktion wie seinerzeit Ermoldus, distanziert sich dagegen diskret von Pippin, um seinen künftigen Zögling und Rivalen Pippins, Karl den Kahlen, umso eingehender zu rühmen75. All dies läßt sich nur auf folgende Weise zwanglos erklären: Der junge Walahfrid, Schüler des bereits etablierten und vielleicht mit Ermoldus verfeindeten Grimald, empfiehlt sich den Intellektuellen bei Hof in äußerst behutsamer Weise als einen ehrlichen Panegyriker, der kein langes Gedicht in vier Büchern schreibt, sondern sich moderat der niedrigen Gattimg der Bukolik bedient, in deren Nähe er übrigens auch Grimald stellt, wenn er über ihn aussagt, dieser sehne sich in Wahrheit nach den Grotten Siziliens, des Ursprungslandes der Hirtendichtung76, worunter wahrscheinlich die klösterliche Ruhe der Reichenau zu verstehen ist (229). Bedenkt man aber die kulturellen Gegebenheiten der fortgeschrittenen karolingischen
Ludwigs bedeuten; wenn dagegen ausgesagt ist, daß der Herrscher den Stolz Griechenlands nicht zu den bedeutendsten Dingen zählt (maxima ist nicht auf Organa zu beziehen, sondern substantiviert), so wird er über Byzanz (und indirekt über den byzantinischen Kaiser) gestellt, was ganz im Sinne der Panegyrik ist. Dies spricht auch Ermoldus 4, 639-642 in viel direkterer Weise aus. Dies gibt einerseits einen externen Beweis für die vorgetragene Interpretation ab und macht andererseits die überbietende Bezugnahme auf Ermoldus durch Walahfrid deutlich. Übrigens: Sollte es Zufall sein, daß sich bei beiden Autoren die nicht häufige Kurzform des Pluralablativs des Relativpronomens, quis für quibus (137 bzw. 4, 641), ausgerechnet im Kontext der Orgel findet, noch dazu zum Ausdruck desselben Gedankengangs (die Orgel als Grund griechischer Überheblichkeit)? - Richtig übersetzt HOMEYER, Piatonismus (wie Anm. 1) 113: "Der Kaiser erachtet sie nicht als das Größte." 73 Walahfrid scheint sich im Eingang seiner Beschreibung des Aachener Tierparks sprachlich sowohl auf die entsprechende Stelle bei Ermoldus zu beziehen (3, 583-586: locus insignis, viret herba, Erwähnung des Baches - 118: insigne nemus, viridique ... prato, Erwähnung des Baches) als auch auf dessen Schilderung der Jagd, die Ludwig mit seinem angelsächsischen , Staatsgast' Harold im Wald der Rheininsel bei Ingelheim abhält (4, 486: nemus umbriferum, viret herba). 74 Dazu s. Ch. RATKOWITSCH, Die Fresken im Palast Ludwigs des Frommen in Ingelheim (Ermold., Hlud. 4, 181 ff.): Realität oder poetische Fiktion? in: Wiener Studien 107/108, 1994/95, 554-581. 75 Parallel zu Walahfrid ist in diesen Sendschreiben allein die Tatsache, daß Ermoldus im ersten Stück ein Zwiegespräch mit seiner Muse führt, die er Thalia nennt und zur Überbringerin des Gedichts macht. Doch hat sich dieses Vorgehen auch bei Hibernicus exul feststellen lassen und kann daher nicht als Indiz für eine literarische Bezugnahme auf Ermoldus ins Treffen geführt werden. Walahfrid wird in Aachen wohl auch andere Möglichkeiten gehabt haben, über die gute Beziehung des Verbannten zu Pippin in Kenntnis gesetzt zu werden. 76 Dies wußte man aus Vergil, Ecl. 4, 1; 6, 1 sowie dem Kommentar des Servius, in Verg. buc., prooem. 2, 14-17 THILO.
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Literatur, so wird man mit den Gebildeten des Jahres 829 folgende Überlegung anstellen: Ovid, wegen seiner mutmaßlichen Amoralität immer wieder suspekt und somit im Sinne der in Anm. 22 genannten Allegoresen zumindest potentiell 'schwarz' 77 , dessen Verbannungsdichtung Ermoldus offensichtlich imitierte, blieb beim Kaiser erfolglos; hatte aber nicht der nach frühmittelalterlicher Auffassung größte aller Dichter, der das wichtigste antike Erbe der Karolingerzeit auf literarischem Gebiet darstellt, hatte nicht der junge Vergil die größten, jedenfalls die für das Selbstverständnis des fränkischen Kaisertums, im besonderen des zum Unterschied von seinem Vater als friedliebend auftretenden Ludwig, maßgeblichsten aller Herrscher durch bukolische Gedichte verherrlicht: Augustus, den diesseitigen Kaiser und Friedensbringer der Vergangenheit, durch die erste Ekloge78, und durch die vierte Ekloge den Friedensfiirst79 der künftigen, jenseitigen Welt, Christus80?
Anhang: zur Textgestaltung Für die folgenden Stellen werden Änderungen des von Dümmler gebotenen Textes vorgeschlagen (an erster Stelle jeweils der Text Dümmlers): 14: omnigenam pharetrata echonem voce ciebant (seil, veteres poetae) - phalerata (vgl. Ambros., off. 1,12,44: eloquentiae phalerandae gratia·, carm. Sangall. 3, MGH poet. 2, 476: Virgilius faleratus; carm. Cenoman. 5,60, MGH poet. 2,627: flgmenta [= carmina] ... nullis ... falerata modis; der Hinweis Dümmlers im Similienapparat auf Walahfrid, Blaitmaic 53: ventis ... pharetratis, trifft vom Inhalt her nicht zu: die heulenden, 'köchergewappneten' Winde der irischen See sind schwerlich mit der - mutmaßlich wohlklingenden - Stimme der alten Dichter zu parallelisieren); 16: triste nemus testesque ferae timidaeque volucres -teste (so die Handschrift; zu neutralem adjektivischen teste vgl. Hieron., epist. 22, 29, 6: teste est tribunal, ... iudicium teste est; Ps.-August., serm. 57,3 Mai: teste est caelum; Alcim. Avit., carm. 6,576: caelum 77 Zu dem ständig schwankenden Ovidbild s. W. STROH, Ovid im Urteil der Nachwelt. Eine Testimoniensammlung, 1969. - Daß Walahfiid carm. 76, 62-65 aus dem Jahr 842, adressiert an Kaiser Lothar, Ovids Exildichtung lobt, hängt mit seiner für ihn als Parteigänger Ludwigs des Deutschen damals problematischen Situation zusammen, in der er sich als einen Verbannten sieht. 78 Die Identifizierung des .göttlichen Jünglings' von Ecl. 1,42 mit Augustus findet sich im Serviuskommentar zur Stelle (11,6-8 THILO). 79 Dieser messianische Titel von Is. 9, 6 wurde längst auf Christus angewendet. 80 Das Schema ,Abwertung des in der Verbannung viel schreibenden Ovid als Kontrast zu Vergil als dem Dichter der 1. Ekloge (und in der Folge zu anderen römischen und zeitgenössischen Dichtern)' findet sich, ebenfalls in der Funktion einer Eigenwerbung, bei Modoin, Ecl. 1, 60-95. Es darf vermutet werden, daß Walahfrids Konzept davon angeregt ist (wenn Modoin, ad Theodulfum 48, Ovid als unschuldig Verbannten bezeichnet, so muß dies als Trost für den nach Angers verbannten Dichter Theodulf verstanden werden; in den an Karl den Großen gerichteten Eklogen konnte Modoin dessen kaiserlichen Vorgänger Augustus natürlich nicht in dieser Weise als Dichterfeind hinstellen). Aufgrund all der vorgetragenen Überlegungen muß die Beurteilung des Gedichts durch BRUNHÖLZL (wie Anm. 1) 352 gründlich revidiert werden: "Auch das ist Walahfrid: arglos und offen, voll ehrfurchtiger Bewunderung gibt er sich den Eindrücken hin, welche der Hof auf ihn, den blutjungen Mönch, ausüben mußte..."
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teste vocat); 21: (pupula)... stercoribusque novi s s i m a, pro pudor, omnis inhorret - no vis via (in der Version Dümmlers, der der Handschrift folgt, ist der Sinn von novissima und omnis nicht verständlich); 33-35: Cui nihil in mundo, nisi vix fama arida restat./Quamquam thermarum vulgus vada praeparet ο Iii, / hoc sine nec causa, nam omni maledicitur ore - res tat, /quamquam ... ol Ii; /... causa: nam..: (der Konzessivsatz muß eng an den vorangehenden Gedanken gebunden werden, weil der spielerisch ausgewertete Gegensatz zwischen dem metaphorisch gebrauchten arida [zu den Implikationen der Metapher s. o.] und dem konkreten Brunnenwasser, vada, das das Volk von Aachen der Statue bereitet, nur so zur Geltung kommt; der epexegetische Zusatz von 35 dagegen sollte stärker abgehoben sein, ebenso der auf causa folgende, mit erklärendem nam beginnende Satz); 50 f.: non ex corde tarnen, sed enim pro temporis huius /pace, pe tun t pastum, non nidificando quiescunt pace; petunt (die zwei Gegensatzpaare sollten deutlicher voneinander abgehoben werden); 52 f.: Cur dextra de parte nolam gestare videtur? / Nudus ob hoc solum, puto, ut atra pelle fruatur -videtur / nudus? ob hoc ... (zur Erklärung s. o.); 69-71: Quodque super lapides plumbumque et inane metallum / currit (seil. Tetricus) equo, signat se pectore belua duro / corde pigro sensuque cavo regnare superbiam - equo: signat te ... regnare, superbia ("Was das betrifft, daß er über Steine, Blei und hohles Metall [d. h. aus Blei getriebene, hohle Steine] zu Pferd dahinsprengt: Das Tier zeigt an, daß du mit hartem Herzen, trägem Sinn und leerem Geist deine Herrschaft ausübst, Hochmut!" Das 'stolze' Roß wird allegorisch als Hochmut gedeutet, der Untergrund als dessen negative Eigenschaften; der überlieferte, von Dümmler gedruckte Text ergibt keinen befriedigenden Sinn; die Apostrophe des Abstraktums dagegen bereitet die Anrede eines ebenfalls negativen abstrakten Begriffs im folgenden Vers vor: Ο pestis sine fine nocens, die in 79 mit dem Vokativ vis pessima aufgenommen wird); 72 f.: Ο pestis sine fine nocens, non sufficit omnem /pervolitasse orbem bellis et caede potentum, / quin etiam faciem praeclara palatia contra / Christicolasque greges vide as posuisse nefandam - potentum?... audes (der Feststellungssatz paßt schlecht nach einer affektischen Apostrophe, das überlieferte videas ergibt keinen Sinn; es könnte eine nachträgliche Konjektur eines schwer lesbaren audes vorliegen, bei der der Konjunktiv unter dem Einfluß des - fälschlich als subordinierende Konjunktion verstandenen - quin gesetzt worden wäre); 86: pestem monitis compescuit (sc. cautela patrum) atrisat ram (so Herren; die gegen Theoderich getroffenen Maßnahmen der kirchlichen Autoritäten können schwerlich mit einem negativen Attribut versehen werden, wohl aber die 'Pest' Theoderich); 156 f.: hunc cui fulgorem divi consortia verbi / edide r an t - addider ant (die Rede ist vom Glanz, den nach Ex. 34, 29 das Zwiegespräch mit Gott auf dem Antlitz des Moses zurückließ; das Verbum edere scheint in diesem Zusammenhang wenig geeignet; zwar kommt die Verbindung fulgorem edere bei Servius, Aen. 12, 300, vor, doch bezeichnet sie eben den Ausgangspunkt des Glanzes, das Feuer, nicht den Zielpunkt, wie im Fall des Antlitzes des Moses); 170: nec dole as, quod gaza negat, concordia praestat do leas: (der Doppelpunkt trennt die nachgetragene Begründung besser von der vorangehenden Aufforderung); 215: ante tibi contingit aquis, Thetis uda, carere continget (die logisch richtige Konstruktion des Advnaton mit einem Futur, dem
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im Vergleichssatz ein Konjunktiv des Präsens folgt, hat seine Entsprechung in 76-78); 245-247: sufficiat, vidisse semel, laudare perennis / instat amor, divina manum dementia vestram / omnibus in populis facial retinere trophea sufficiat vidisse... amor: (Prädikat und Subjekt sind nicht durch ein Komma zu trennen; da der auf amor folgende Glückwunsch Ausdruck eben dieser Liebe zum Kaiser ist, sollte er als Konsequenz aus dem Vorangehenden durch Doppelpunkt getrennt werden); 254: Vulgar Sarraque cenus malus hospes Hiberis - Sarraeque cynos, malus (so die Handschrift und Herren; die Tmesis von Sarracenus, die nicht den Charakter eines Wortspiels hat wie etwa bei Eugenius von Toledo, carm. 70, sondern auf der Kenntnis der etymologischen Herleitung des Wortes von Sarah beruhen könnte, ist in der überlieferten Form sinnvoller, und zwar nicht nur wegen des grammatikalisch notwendigen Genetivs, sondern weil ein Wort cenus nicht existiert, wohl aber das griechische cynos; dieser Genetiv von 'Hund' war im Latein durch mehrere Komposita bekannt, wie etwa die astronomische Bezeichnung der Kleinen Bärin als Cynosura, 'Hundeschwanz'; allein aufgrund der Endung -os konnte die Form leicht als Nominativ verstanden werden; in der Tat erscheint das Lemma cinus: canis, Grece in den Glossen der St. Gallener Handschrift 912, einem im 7. oder 8. Jh. überschriebenen Palimpsest [CLA 7, Nr. 970; Corpus Glossariorum Latinorum 4, 219,29; ebd. 5, 350,3: cynus: canis, Grece]. - 'Hund der Sarah' würde sich gut als abfällige Bezeichnung des mohammedanischen Eroberervolkes der Iberischen Halbinsel eignen; zu canis als Häretikerbeschimpfung vgl. Prudentius, Apoth. 979).
Fritz Losek
Die Auswirkungen karolingischer Politik und Reformen im Südosten des Reiches anhand der lateinischen Überlieferung. Das Beispiel Salzburg
1. Tassilo III. und Arn von Salzburg1 Mit der Absetzung des bayerischen Agilolfingerherzogs Tassilo III. durch Karl im Jahre 788 schienen auch jene reichen Schenkungen in Gefahr, die sowohl die Mitglieder des genannten Herzogshauses (Theodo, Theodbert, Hucbert, Odilo und Tassilo) als auch liberi Baioarii, allerdings per licentiam Tassilonis2, an die Salzburger Kirche gemacht hatten. Bischof (seit 798 Erzbischof) Arn von Salzburg (785-821) sah sich durch diese politischen Entwicklungen veranlaßt, eine schriftliche Fixierung der Schenkungen zu veranlassen, und beauftragte einen Diakon namens Benedikt mit dieser Aufgabe, wie die Quelle, nach dem Initiator heute als "Notitia Arnonis" bezeichnet, selbst berichtet. In diese Selbstanzeige fließt ein Umstand ein, der sich wie ein roter Faden auch durch die weiteren Quellen ziehen wird, nämlich die Erwähnung von Karl und seinen Nachfolgern und Mitarbeitern als Veranlasser oder Partner in politischen und kirchlichen Entscheidungen und das Sich-Berufen darauf: Noticiam vero istam ego Arn una cum consensu et licentia domni Karoli piissimi regis ... conscribere ad memoriam feci ...Et ego Benedictus diaconus hanc noticiam dictavi et conscribere iussi3. Im selben Abschnitt wird auch erwähnt, wann diese Zusammenstellung erfolgte: eodem anno, quo ipse Baioariam regionem ad opus suum recepit. Karls Mitwirkung war schon bei der Ordination Arns am 11. Juni 785 nach dem Tod Virgils von Salzburg am 27. November 784 gegeben, wie Arn in der Praefatio der "Notitia Arnonis" selbst betonen läßt: ubi
1 Grundlegend für die folgenden Ausführungen: H. WOLFRAM, Salzburg, Bayern. Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, 1995; H. WOLFRAM, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Österreichische Geschichte 378-907, 1995. Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 1,1 und 1,2. Hg. v. H. DOPSCH/H. SPATZENEGGER, 1983. 2 Notitia Arnonis 6,1 (hg. v. F. LOSEK, Notitia Arnonis und Breves Notitiae. Die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800: Sprachlich-historische Einleitung, Text und Übersetzung, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 130, 1990, 5-192). 3 Siehe Anm. 7.
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preest venerabilis vir per divinam misericordiam et mercedem domni nostri Caroli excellentissimi regis Arn episcopus4. Auch die etwa ein Jahrzehnt nach Abfassung des älteren Güterverzeichnisses erfolgte Bestellung Arns zum Erzbischof und somit die Schaffung eines neuen Metropolitansitzes in Salzburg am 20. April 798 geschah nicht ohne Zutun Karls5, wie auch die als Folge dieser Rangerhöhung entstandenen Schreiben des Papstes an Karl einerseits und an die der Entscheidung kritisch gegenüberstehenden Bischöfe von Bayern andererseits beweisen6. In weiterer Konsequenz führte diese Erhebung zur Abfassung eines zweiten bedeutenden Dokuments zur Salzburger Frühgeschichte, der "Breves Notitiae"7. Allerdings ging es in diesem jüngeren Güterverzeichnis nicht mehr nur um die Sicherung des materiellen Bestandes für Salzburg, jetzt galt es, auch die Vorrangstellung Salzburgs innerhalb der bayerischen Diözesen zu untermauern und somit eine literarische Stilisierung des Gründerheiligen, Ruperts von Salzburg, als Apostel der Bayern vorzunehmen8. Schon auf dem Rückweg von der Palliumsverleihung in Rom, so berichtet später eine der bedeutendsten Quellen für die Geschichte des südöstlichen Mitteleuropas, die "Conversio Bagoariorum et Carantanorum"9, habe Arn von Karl den Auftrag zu Aktivitäten erhalten, deren Tragweite und Auswirkungen für die nächsten Jahrzehnte enorm waren, vor allem der Auftrag zur Missionierung der partes Sclavorum, nachdem schon 796 Karls Sohn Pippin die Gebiete der Awaren in die kirchliche Obhut Salzburgs übergeben hatte, eine concessio, die Karl im Jahre 803 in Salzburg selbst bestätigte und unverbrüchlich werden ließ10.
4 Notitia Arnonis, praef. (wie Anm. 2). Siehe WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1), 171 f. 5 WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1), 172 f. mit Anm. 198. 6 Quod vestra a deo protecta regalis excellentia mandasset nobis per ipsum, quodArnoni episcopo pallium tribueremus et in provincia Baiouvariorum archiepiscopum constitueremus (Salzburger Urkundenbuch 2. Hg. v. W. HAUTHALER und F. MARTIN, 1916, Nr. 2b,); unacum consensu et voluntate praedicti filii nostri domni Caroli praecellentissimi magni regis vobis ordinavimus secundum sanctiones patrum archiepiscopum, videlicet Arnonem ecclesiae luvauensium (Salzburger Urkundenbuch 2, Nr. 2c). 7 M. STRATMANN, Schriftlichkeit in der Verwaltung von Bistümern und Klöstern zur Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große und sein Nachwirken: 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa. Hg. v. P. I. Butzer, M. Kerner und W. Oberschelp, 1997, 253-256, bezeichnet fälschlicherweise Benedikt als Verfasser der "Breves Notitiae"; siehe Anm. 3. 8 Siehe LOSEK, Notitia Arnonis (wie Anm. 2), 34 ff.; H. DOPSCH, Schriftliche Quellen zur Geschichte des heiligen Ruperts, in: Hl. Rupert von Salzburg 696-1996 (Katalog), 1996, 55 f. 9 Zuletzt hg. v. F. LOSEK, Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg, 1 9 9 7 , 9 0 - 1 3 5 . 10 Conversio 8 (wie Anm. 9): contigit anno videlicet nativitatis Domini DCCXCVIII Arnonem iam archiepiscopum α Leone papa accepto pallio remeando de Roma venisse ultra Padum eique obviasse missum Caroli cum epistola sua mandans Uli ipso itinere in partes Sclavorum ire et exquirere voluntatem populi illius et praedicare ibi verbum Dei... Post expletam legationem ipse imperator praecepit Arnoni archiepiscopo pergere in partes Sclavorum et providere omnem illam regionem et ecclesiasticum officium more episcopali colere populosque in fide et christianitate praedicando confortare. 6: Qui (Pippinus) inde revertens partem Ραηηοηίς circa lacum Pelissa, inferioris ultra fiuvium, qui dicitur Hrapa, et sic usque ad Dravum fluvium et eo usque, ubi Dravus fluit in Danubium,
Die Auswirkungen karolingischer Politik und Reformen im Südosten des Reiches
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2. Karl, Arn und Alkuin (Erz-)Bischof Arn stand während seiner Amtszeit (785-821) nicht nur mit den politischen Entscheidungsträgern in engem Kontakt, sondern auch mit den geistigen Führern des Hofes, allen voran mit Alkuin. Im umfangreichen Cbuvre des Alkuin findet sich auch die Sammlung von fast 300 Briefen, die der große Gelehrte im Laufe von vier Jahrzehnten an verschiedene Persönlichkeiten seiner Zeit gerichtet hat 11 . Über 40 dieser Briefe sind an den (Erz-)Bischof von Salzburg Arn gerichtet; leider sind die Briefe Arns an Alkuin fast vollständig verloren 12 . Offensichtlich hat der riesige Umfang dieses Briefcorpus dazu gefuhrt, daß zwar immer wieder auf die Bedeutung dieser Sammlung für die Erforschung der Geschichte dieser Zeit, aber auch für die Religions- und Kulturgeschichte hingewiesen 13 wird, die Forschung sich ihrer jedoch nur sehr zögernd annimmt: "opportunities which have never yet been fully exploited" urteilt daher mit Recht Donald A. Bullough, der 1995 eine umfangreiche Studie zu einem der Briefe (Nr. 172) vorgelegt hat 14 . Höchste politische und militärische Brisanz für Karl in den letzten Jahren des 8. Jahrhunderts hatte, wie bereits angedeutet 15 , die Auseinandersetzung mit den Awaren östlich der Enns. In diese Aktivitäten war Salzburg sowohl direkt als auch später als Träger der Mission und der damit verbundenen bildungspolitischen Maßnahmen in den neu eroberten Gebieten eingebunden. Alkuin weist in seinen Briefen immer wieder auf die exponierte Lage Salzburgs 16 und die Gefährlichkeit dieser Aktionen hin: Die Nachricht vom Tod der beiden Präfekten der Ostgrenze, Gerold I. und Erich von Friaul bestätigt diese Ansicht 17 . Schon im Mai 796 hatte Alkuin Arn, der das Heer begleitete,
prout potestatem habuit, praenominavit cum doctrina et ecclesiastico officio procurare populum, qui remansit de Hunis et Sclavis in Ulis partibus, Amoni Iuvavensium episcopo usque ad praesentiam genitoris sui Karoli imperatoris. Postmodum ergo anno DCCCIII Karolus imperator Bagoariam intravit et in mense Octobrio Salzburc venit et praefatam concessionem filii sui iterans potestative multis adstantibus suisßdelibus adßrmavit et in aevum inconvulsam fieri concessit. 11 Ediert von Ernst DÜMMLER, in: M G H Epistolae 4 , 1 8 9 5 , 1 8 - 4 8 1 . 12 Siehe dazu am Ende des Kapitels. 13 "Briefwechsel..., der jeden erfaßte, der zu seiner Zeit im Abendland Rang und Bedeutung hatte, eine Quelle ersten Ranges, nicht nur für das geistige Leben sondern... selbst für die politische Geschichte" (Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Vorzeit und Karolinger 2, bearb. von W. LEVISON und H. LÖWE, 1953, 235); die Bedeutung dieser Briefe wurde sehr früh erkannt, was auch ihre große Verbreitung beweist (vgl. M. MANITIUS, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters 1, 1911,287). 14 D. A. BULLOUGH, Reminiscence and Reality. Text, Translation and Testimony of an Alcuin Letter, in: Journal of Medieval Latin 5 , 1 9 9 5 , 1 7 4 - 2 0 1 . 15 Siehe Kap. 1. 16 Ep. 184 (a. 799, wie Anm. 11), 309, 24-28: dilectissime fili et merito venerande frater, tuos hortare fratres regulariter vivere et devotionem primam firmiter servare... Prope enim estis vos terminis paganorum.. 17 Ep. 185 (Oct./Nov.799, wie Anm. 11), 310, 31 f.: Ecce quomodo recesserunt subito viri fortissimi, qui terminos custodierunt, etiam et dilataverunt, christiani imperii; siehe WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1) 239.
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gewarnt, er solle ein praedicator pietatis, aber nicht ein decimarum exactor sein18. Und er zieht eine interessante Parallele zu einem anderen Krieg, der einige Jahre zuvor geführt worden war: Decimae, ut dicitur, Saxonum subverterunt fidem, eine Kritik an den fränkischen Missionsmethoden19, die auch in weiteren Briefen auftaucht20. Im bereits zitierten Brief 184 ist diese Parallele zwischen Awaren und Sachsen am besten zu sehen (309, 13 ff.): Hunorum vero, sicut dixisti, perditio nostra est neglegentia, eine Anspielung auf den schweren Rückschlag in der fränkischen Ostpolitik im Jahr 79921: laborantium in maledicta generatione Saxonum Deoque despecta usque hue; et eos neglegentes, quos maiore mercede apud Deum et gloria apud homines habere potuimus, ut videbatur. Neben politischen Themen tauchen in den Briefen Alkuins an Arn immer wieder Fragen auf, welche die geistliche und geistige Entwicklung Salzburgs betreffen. Der Gedankenaustausch erfolgte allerdings nicht nur auf beschriebenem Pergament, sondern wurde auch in persönlichen Kontakten und durch Vermittler gepflogen. Wir erfahren aus den Briefen Alkuins, daß Arn neben anderen auch seinen Neffen Hildegarius zu Alkuin geschickt hatte22. Aber leider genügte dieser nicht den hohen Ansprüchen, was für Alkuin besonders delikat war23: quod vero de filio meo, fratre et nepote tuo, durius scripsisti, videat Caritas et pietas tua, ne inanis fiat labor noster, et ne perdatur anima, pro qua Christus mori non dubitavit. Ecce eum remisi tuae dilectioni, ut facias de illo, sicut videatur prudentiae vestrae. Arn wählte daher fur seinen nepos die weltliche Laufbahn, was Alkuin ausdrücklich gutheißt24: illum vero praefatum puerum bene fecisti, dum dedisti eum saeculo servire, quia Studium ecclesiasticae vitae noluit insisti. Et non mihi irascaris contra eum: sciebam illum nolle, quod vos velle sciebam. Sed nolui, ut per me a te separaretur, qui ad te sanguine pertinebat, timeo non spiritu. Tarnen non est desperandum de eo; pot ens est Deus de lapidibus istis suscitare filios Abrahae'." Die Arbeit, für die man Hildegarius noch geeignet erachtete, war der Transport von Codices: libellos nostros, quos Hildegarius portavit de Sancto Martino, id est saneti Ambrosii de fide catholica ad Gratianum imperatorem et tractatus in prophetas Iohel et Arnos, hos vero libellos, si in monasterio remansissent, omnimodis tecum adfer, si venias, sin autem, remitte nobis25... Hildegarius duos libros Saneti Martini secum
18 Ep. 107(wieAnm. 11), 154,16. 19 Siehe W. BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 3, 1991, 129 mit Anm. 78. 20 Epp. 110 und 111 (wie Anm. 11), 113, 164, 25 f.: idcirco misera Saxonum gens toties baptismi perdidit sacramentum, qui numquam habuit in cordefidei fundamentum. 21 Siehe W. POHL, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567-622 n. Chr., 1988, 320 ff. 22 Ep. 112 (a. 796, wie Anm. 11), 162, 19 f.: de filiis vero tuis, quos mihi commendasti, et iam proficiunt donante Deo, et meliores eos aeeepturus eris vel commendaturus domno regi und 158 (a. 798) 257, 9 f. de puero, quam habemus in domo nostra, sicut filium erudiemus, ut volente Deo perfectum faciamus virum ex illo. 23 Ep. 156 (a. 798, wie Anm. 11), 253, 24-27. 24 Ep. 193 (a. 800, wie Aran. 11), 320, 36^0. 25 Ep. 193 (a. 800, wie Anm. 11), 320, 30-33.
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portavit, sicut in alia epistola tibi designavi26. In einer sozialgeschichtlichen Analyse 27 liest sich diese Angelegenheit folgendermaßen: "Ein eigentümlicher Fall der sollicitudo betrifft den Schüler Hildegarius, einen offenbar gemeinsamen Schützling Ams von Salzburg und Alcuins, über den es zu Mißverständnissen zwischen den beiden Freunden zu kommen scheint. Gerade dieser Fall zeigt, daß sollicitudo und die affektive Fürsorglichkeit des Lehrers nicht auf den Bereich des geistlichen Amtes beschränkt bleibt. Er ist besonders relevant, weil er somit einen Beleg für die anthropologische Grundstruktur der sollicitudo innerhalb eines geschichtlich geprägten Musters bringt: daß nämlich die affektive Struktur des Verhältnisses von magister = pater zu discipulus = filius nicht allein dem in der Epoche herrschenden ekklesial-hierarchischen geistlichen Ordnungssystem zugeordnet ist, worin eruditio sich weitgehend realisiert. Eruditio reicht mithin auch wenn sie sich im wesentlichen darin realisiert - tiefer und weiter zurück, in eine Schicht hinab, die dieser ekklesial-hierarchischen Verfassung noch voraus liegt." Durch die Möglichkeit, Codices aus den Zentren des Reiches zu erhalten 28 , gelang es Arn, in Salzburg eine bedeutende Bibliothek aufzubauen, was für die weitere kulturelle Entwicklung Salzburgs, sein "Schulwesen" 29 , von entscheidender Bedeutung war. Auch darauf geht Alkuin in seinen Briefen ein30. Und er bringt auch zum Ausdruck, daß fur diese Aufgabe nicht nur die schriftlichen Grundlagen, sondern auch der geeignete Lehrer vorhanden sein muß 31 . Nach dem Vorbild Alkuins, der durch seine Sendschreiben entscheidende Impulse zur "karolingischen Erneuerung" gesetzt hat 32 , erließ Arn wahrscheinlich noch im Jahre seiner Erhebung zum Erzbischof auf der Riesbacher Synode seine "Instructio
26 Ep. 194(a. 800, wie Anm. 11), 322, 16 f . 27 W. EDELSTEIN, Eruditio und sapientia. Weltbild und Erziehung in der Karolingerzeit. Untersuchungen zu Alkuins Briefen, 1965, 131. 28 Vgl. auch Ep. 254 (a. 802, wie Anm. 11), 412, 1-5: direxi quoque ad transcribendum, si placeat nobisque iterum reddendum, quia aliud non habeo nisi illud tantum - opusculum in ecclesiasten Salomonis... sed deprecor, ut citius transcribatur, si dignum ducas, atque mox remittatur nobis, ne pereat pueris nostris laboris nostri devotio; Ep. 259 (a. 802) 417, 6 ff. direxi dilectioni vestrae per Fredegisum filium meum manualem libellum multa continentem de diversis rebus, id est... 29 Siehe H. ENGELBRECHT, Geschichte des österreichischen Bildungswesens 1, 1982, 103. 30 Ep. 161 (a. 798?, wie Anm. 11), 260, 13-16: nunc velim te properare in patriam et ordinäre puerorum lectiones, quis grammaticam discat, quis epistolas et parvos libellos legat, quis sanctam scribturam sobria mente haurire dignatus sit. Tu vero, sancte pater, evangelicis maxime studeas lectionibus et canonicis sanctorum scribturarum inservire eruditionibus. Ep. 168 (a. 799) 276, 34 ff. quapropter armate vosmetipsos in scientia veritatis, sententiis evangelicae auctoritatis, ut resistere valeatis contradicentibus veritatem. Ouomodo pugnat inermis? Vel quomodo docere potest, qui discere noluit? 31 Ep. 168 (wie Anm. 11), 277, 8 ff.: sed non est opus meae parvitate vos ammonere de singulis, dum habetis sacrae institutionis libros notissimos et pium patrem, pastorem vestrum, praesentem, qui vos viva voce melius ammonere poterit quam mea series litterarum. 32 Mögliche Anspielung auf "Epistola de litteris colendis": quod pia devotio interius fideliter dictabat, hoc exterius propter negligentiam discendi lingua inerudita exprimere sine reprehensione non valeat in ep. 243 (a.798/802, wie Anm. 11), 391, 25 f.: hortare fratres sanctos eorum diligenter discere sensus; ut sciant et intellegant corde, quid ore et lingua resonent.
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pastoralis", die neben der "Admonitio generalis" und der sogenannten Salzburger Bekehrungsmethode für die Awaren und Slawen aus dem Jahre 79633 für die Rekonstruktion der Bildungsverhältnisse auf dem Boden des späteren Österreich von grundlegender Bedeutung ist34: Episcopus autem unusquisque in civitate sua scolam constituat et sapientem doctorem, qui secundum traditionem Romanorum possit instruere et lectionibus vacare et inde debitum discere35. Von Arn selbst sind nur zwei Briefe36, beide nicht an Alkuin, erhalten. Der erste empfiehlt den Bruder Reginolis, der nach Italien reist, den dortigen Bischöfen37. Bernhard Bischoff konnte in seiner Studie zu den Salzburger Formelbüchern und Briefen aus Tassilonischer und Karolingischer Zeit zeigen, daß dieser wohl als Reginolf zu benennende Bote in den Jahren 784/85 eigentlich ein anderes Ziel verfolgen sollte, nämlich "die Wahlanzeige an den Klerus des unterworfenen, aber noch unruhigen ehemaligen Langobardenreiches, aus dem die nunmehrige Landesherrin Arns, Tassilos Gemahlin Liutperga, stammte"38 zu überbringen. Der zweite zeigt aber sehr deutlich wieder den Einfluß und die enge Verbundenheit, die zwischen dem Salzburger Oberhirten und Alkuin bestand. Es richtet sich dieses Schreiben nämlich an einen Cuculus, und Arn ermahnt diesen darin, er möge alles daran setzen, wieder auf den rechten Weg zu finden39. Dieser "Kuckuck" hatte nämlich dem Wein allzusehr zugesprochen, was auch Alkuin in seinem Gedicht "de Cuculo"40 kritisiert. Es soll abschließend nicht übergangen werden, daß zu Beginn des Briefes und am Ende Arn - wohl nach dem Vorbild Alkuins - sich auch in insgesamt 6 Versen (3 Distichen) versucht: Kartula die: Cuculus valeat per saecula noster/ prospere nos spectet, kartula, die, Cuculus ... Adveniant aquilae cuculi, rogo, carmina nostri/ audiat ut cuculi prosper a cuncta sui/ Mellifluum turdus variat de gutture carmen/ ecce tuum resonat semper in aure mea. 3. "Carmina Salisburgensia" Die im Münchener Codex Clm. 14743 überlieferten sogenannten "Carmina Salisburgensia" sind zwar in keine lateinische Literaturgeschichte aufgenommen worden, fanden aber immerhin Aufnahme in den 2. Band der "Poetae latini medii aevi" der "Monumenta Germaniae Historica"41. Es handelt sich bei diesen Gedichten um karolingische Gebrauchspoesie in Hexametern (113 Verse) und elegischen Distichen (244 Verse), die wohl zur Zeit Erzbischofs Liupram (836-859) gesammelt, zum Teil 3 3 F . ZAGIBA, Das Geistesleben der Slawen im frühen Mittelalter, 1 9 7 1 , 6 1 - 6 4 . 34 ENGELBRECHT, Bildungswesen 1 (wie Anm. 29), 102 mit Anm. 85,286 und 380. 3 5 MGH Concilia 2,1,1906, 199, Nr. 22 can. 8. 36 Laut Ep. 184, 309, 6f. und 11 (a. 799, wie Anm. 11) wurde ein Brief Arns, quaerimonias quasdam habens de moribus apostolici et de periculo tuo apud eum propter Romanos dem Feuer übergeben, ne aliquid scandali oriri potuisset. 37 MGH Ep. 4 (wie Anm. 11), 497 f. Nr. 3. 38 B . BISCHOFF, Salzburger Formelbücher und Briefe aus Tassilonischer und Karolingischer Zeit, 1973,19. 39 Ep. 66 (a. 789/796, wie Aran. 11), 109 f. 40 Carm. 57,17: cuculum Bachus dimersit in undis. Hg. v. E. DÜMMLER, in: MGH Poetae 1, 1881, 269. 41 Hg. v. E. DÜMMLER, 1884, 637-648.
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aber schon früher geschrieben worden waren. Josef Szöverffy stellt die Salzburger Sammlung in eine Reihe mit den "Carmina Cenomanensia" aus Le Mans 42 und den "Versus Augienses" 43 , stuft sie in ihrer literarischen Bedeutung als "unwichtiger" ein als die "Carmina Centulensia" aus St. Riquier (Centula), der größten lokalen Sammlung dieser Zeit 44 . Die Frage nach dem oder den Verfasser(n) ist offen, als möglicher Autor wird der auch sonst bekannte Baldo ins Spiel gebracht 45 . Offen bleiben auch die literarischen Vorbilder der einzelnen "Carmina" 46 . Eine genauere sprachlich-stilistische Analyse der Gedichte ist ein Desiderat, es sind in den letzten Jahrzehnten nur marginale Äußerungen zu den meisten der Gedichte gemacht worden. Dennoch sind einige davon durchaus bemerkenswert, auch was unser Thema und die Auswirkungen von karolingischer Dichtung allgemein und ihre Ausformung in einem Randgebiet des Reiches betrifft. Die Reihe der insgesamt sechzehn Stücke (Nr. 1 mit 6 Einzelgedichten, Nr. 15 mit 7) umfassenden "Carmina" beginnt mit dem sogenannten "Ordo conprovincialium pontificum", einer metrischen Liste der Bischöfe aus den bayerischen Diözesen 47 . Dieses Stück ist das in der Literatur, vor allem der historischen 48 , bei weitem am meisten zitierte. In ihm wird eine hexametrisch gestaltete Liste der ersten Salzburger Äbte und (Erz-)Bischöfe von Rupert bis Liupram präsentiert 49 , in weiteren Stücken begegnen die ersten Würdenträger aus Regensburg 50 , Freising 51 , Passau und Säben 53 . Die Stücke sind somit ähnlichen Verzeichnissen wie dem der Metzer Bischöfe vergleichbar 54 . Um noch einmal auf die einleitende Salzburger Liste zurückzukommen: An eine erste reine Aufzählung, in der alle Bischöfe außer Adalram (821-836) und Liupram (836-859) nur einen Vers zugestanden bekommen, schließt sich ein zweiter Abschnitt mit 26 Versen, mit denen auf einzelne Oberhirten genauer eingegangen wird. So wird bei Arn die Rolle
42 MGH Poetae 2, 623-636 (wie Anm. 41). 43 MGH Poetae 4/3. Hg. V. K. STRECKER, 1923, 1112-1116. 44 J. SZÖVERFFY, Weltliche Dichtungen des lateinischen Mittelalters 1: Von den Anfangen bis zum Ende der Karolingerzeit, 1970, 621 und 102. 45 Siehe K . FORSTNER, Dichtung und Literatur. Die lateinische Literatur, in: Geschichte Salzburgs (wie Anm. 1), 1089 ff. 46 Die von DÜMMLER in seiner MGH-Edition ausgewiesenen Zitate, wie ein Tempore quo (I lb 3), könnten nicht nur aus Vergils "Aeneis" (9, 80), sondern genau so gut oder schlecht aus Eugippius' "Commemoratorium vitae sancti Severini" (1, 1) oder sonst woher stammen. 47 Siehe LOSEK, Conversio (wie Anm. 9 ) , 3 0 . 48 Siehe A. LHOTSKY, Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs, 1963, 150 f.; WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich (wie Anm. 1), 252, mit einer Gegenüberstellung der Listen im "Liber confratemitatum", im "Ordo" und im cap. 2 der "Conversio"; LOSEK, Conversio (wie Anm. 9), 30. 49 I, la dicta Iuvavo fuit quondam metropolis ista. 50 I, II hic Reginensis sedis vocitatur ab urbe. 51 I, III Frigisiensis enim sedis haec aula vocata est. 52 I, IV Pattaviensi ergo sedi est haec aula dicata. 53 I, V haec sedis vallis Noricanae dicta Sebana. 54 F. P. KNAPP, Geschichte der Literatur m Österreich, Bd. 1, 1994, 32.
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Karls bei der Ernennung zum Erzbischof ebenso betont wie die Papst Leos55; daß verfügt wurde, Salzburg solle die erste Stelle in Bayern übernehmen, ist eine Spiegelung der bereits erwähnten Kritik an der Rangerhebung56. Gedicht Nr. II gibt eine 10 Hexameter umfassende Grabinschrift auf Bischof Virgil wieder, dessen Grab im Jahre 1181 in der Südostecke des Salzburger Domes wiedergefunden wurde57. Daran schließen sich Epitaphien auf Arn (III) und Adalram (IV und V)58 sowie Lobgedichte auf die Erzbischöfe Liupram (VI) und Adalram (VII und VIII, letzteres beginnend mit einer gelehrten Erklärung des Namens Adalram als η ob i Iis hanc Aries cognomine dictus avitof9. Hervorzuheben ist das Gedicht Nr. VII: Wie Nr. VI zeigt es sprachlich umfangreiche Anklänge an Venantius Fortunatus (7,1). In das Lob des Adalram stimmen sogar Orpheus und Philomela ein60. Aber bei aller Mythologie geht für den Verfasser die konkrete kirchenpolitische Dimension seines Adressaten nicht verloren, wenn er in zwei Versen auf die Aufgabe der (Heiden-)Mission im Osten anspielt, die Salzburg und der Salzburger Erzbischof zu übernehmen hatten (V. 20f.): Dogmate praeclaro valeas quo rite docere/ Barbaricas doctor doctorum saepe phalanges. Mit dem Gedicht Nr. IX in der Zählung von Dümmler kehren wir wieder zum Thema Bücheraustausch zurück61, diesmal aber ist ein politischer Würdenträger betroffen: Ludwig der Deutsche bedankt sich in den unter seinem Namen gehenden Versen für pia scripta, die ihm der auch sonst bekannte Baldo62 geschickt hatte (Inmensas grates volumus tibi dicere, Baldo). Ludwig gibt aber auch freimütig zu erkennen, daß er den Inhalt der Schriften nicht ganz verstehen könne, und bittet um Erklärung63. Der Name Baldo begegnet innerhalb der Salzburger Sammlung noch in der Nr. XV,VI64, er ist auch außerhalb der "Carmina" als Schreiber von Codices Salzburger Provenienz nachzuweisen65; und der in der Literaturgeschichte umstrittene Ire Dungal hat ihm ein Ge-
55 Siehe WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1), 172. 56 V. 7-12 Quem Carolus, princeps regni, superauxit honore/ Archisacerdotis, digntor ut fieret;// Quem Leo papa sui veste vestivit honoris,/ Et privilegia dans mox solidavit eum,// Ut regionis apex ac summus episcopus esset,/ Urbsque haec metropolis tempus in omne foret. 57 Hie pater et pastor humilis doctusque sacerdos/ corpore Virgilius pausat, quem Hibernica tellus/ disponente Deo partes direxit in istas... Siehe H. VETTERS, Die mittelalterlichen Dome in Salzburg, in: Frühmittelalterliche Studien 4,1975,413-435, bes. 423. 58 Siehe SZÖVERFFY, Dichtung (wie Anm. 44), 620 f. Nr. 4 (=111), Nr. 13 (= IV), Nr. 14 (= V). 59 Siehe SZÖVERFFY, Dichtung (wie Anm. 44), 620 f. Nr. 12 (= VI), Nr. 5 (= VII) und Nr. 6 (= VIII). 60 V. 10-14 Orpheus ut molli fertur dum pollice fibras/ Tangeret, applieuit post se mantes quoque silvas,/ Et Filomela canens dulei modulamine cunctas/ Ad se traxit aves, tua sic nam fama suavis/ Captavitplures demuleens me quoque, praesul, vgl. SZÖVERFFY, Dichtung (wie Aran. 44), 621 f. 61 Vgl. oben S. 115. 62 Vgl. oben S. 117. 63 V. 8-12: Nunc vero nuper misisti talia scripta,/Non potuit totum noster quod noscere sensus,/Est quia per totum contextum in aenigmate firme./ Conscius ipse tuis quid opus hie addere verbis?/ Hoc tarnen oramus, ut nobis pandas aperte. 64 hunc humilis librum feci perscribere Baldo/reddat in aeternum mitis cuipraemia Christus. 65 Siehe K. FOLTZ, Geschichte der Salzburger Bibliotheken, 1877, 13 ff.
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dicht gewidmet: Baldo deifamule, clare magister/in Domino valeas, opto freqjienter66. Ludwig hatte schon von Erzbischof Adalram (821-836) ein Buch zugeschickt bekommen. wie uns Gedicht Nr. XV.I lehrt, in der Anordnung von Dümmler nachgereiht: Accipe, summe puer, parvum, Hludowice, libelhim,/ quem tibi devotus optulit en famulus/ Scilicet indignus Iuvavensis pastor ovilis/ Dictus Adalrammus servulus ipse tuus. Das Bemerkenswerte an den Carmina X und XI, zwei in älterer Tradition stehenden Monatsgedichten, in denen die zwölf Monate als Personen dargestellt, ihre Gaben und Besonderheiten geschildert und die mit ihnen verbundenen Arbeiten aufgezählt werden, ist der Umstand, daß diese Verse eine in Worte gefaßte Beschreibung des in zwei Salzburger Handschriften (heute Codex Wien, cvp 387, fol. 90 v und München, Clm 210) überlieferten Bilderzyklus über die Monatsarbeiten und -gaben darstellen 67 , wobei die Frage nach der Priorität von Text oder Bild offen bleiben muß 68 . Trotz der Tradition dieses Genres findet sich in diesen Gedichten auch Innovatives, wie die Figur des sich am Feuer wärmenden Januar (XI, lf. Porte focum mensis dictus de nomine Iani/ heret contractus frigore sive sedetf9. Die beiden Gedichte nehmen von ihrer inhaltlichen Gestaltung her auch Bezug aufeinander: Während in X ("Ydioma mensium singulorum") die Namen der Monate in der Tradition Isidors von Sevilla erklärt werden, setzt XI diese zum größten Teil bereits voraus und geht auf konkrete Tätigkeiten, die in den einzelnen Monaten verrichtet werden müssen, ein. Eine wertende Beurteilung der "Carmina Salisburgensia" schwankt zwischen "bemerkenswerter literarischer Leistung" 70 und, wie gesagt, Nichtbeachtung in Handbüchern zur mittellateinischen Literatur. Die "Handhabung des Lateinischen zeigt'" aber, laut dem Urteil von Fritz Peter Knapp, "daß man den Anschluß an den westlichen Standard gefunden hat" 71 . Es sei darauf hingewiesen, daß vier Verse auch das zeitlich letzte literarische Denkmal aus Salzburgs Frühmittelalter abschließen 72 .
4. Theotmar und Ludwig das Kind Auch zu den letzten der karolingischen Herrscher im Ostreich stand Salzburg zunächst nominell in enger Verbindung, und zwar durch Erzbischof Theotmar (873-907), Erzkaplan und Leiter der Hofkapelle unter Karlmann, Ludwig dem Jüngeren, Arnulf und Ludwig dem Kind. Jener Brief, der unter dem Namen Theotmars in die Geschichtsforschung eingegangen ist und den ich im Gegensatz zu Egon Boshof für echt halte 73 ,
66 MGH Poetae I 412 f., Nr. XXIV; siehe SZÖVERFFY, Dichtung (wie Anm. 44), 650 und 506; W. LEVISON, Die älteste Lebensbeschreibung Ruperts von Salzburg, in: Neues Archiv 28, 1903, 292 f. 67 Siehe WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1), 358. 68 Siehe FORSTNER, Dichtung (wie Anm. 45), 1090 f. 69 Siehe G. BERNT, Das lateinische Epigramm im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, 1968, 290 f. 70
71 72 73 der
FORSTNER, D i c h t u n g ( w i e A n m . 45), 1091.
KNAPP, Literatur in Österreich (wie Anm. 54), 32. LOSEK, Conversio (wie Aran. 9), 80, 84 und 156 f. Siehe dazu ausführlich LOSEK, Conversio (wie Anm. 9), 55-87, gegen E. BOSHOF, Das Schreiben bayerischen Bischöfe an einen Papst Johannes - eine Fälschung Pilgrims?, in: Papstgeschichte und
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erwähnt die Rolle, welche die karolingisehen Herrscher aus der Sicht des Salzburger Metropoliten vor allem in der Auseinandersetzung mit den Mährern gespielt haben, an zentraler Stelle. Im übrigen tut die Diskussion um die Echtheit dieser Quelle der Fragestellung dieser Arbeit keinen Abbruch: Denn sollte der Brief wirklich eine Fälschung Pilgrims aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts sein, so zeigte er eine Sicht der Dinge, wie sie der Passauer Bischof Pilgrim in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts einem Erzbischof von Salzburg im Jahre 900 in den Mund gelegt hätte, wäre also nur ein späterer Beleg für die Wertung der karolingisehen Herrschaft aus der Sicht des Passauer Bischofs. Es geht in diesem Brief aber nicht nur um die Ansprüche Salzburgs im Osten und das Zurückdrängen von Bestrebungen der Mährer, die - mit Billigung des Papstes - eigene Bischöfe einsetzen wollten74. Es geht auch um die Thronerhebung Ludwig des Kindes und seine Legitimation 75 . Diese versucht Theotmar vor allem mit dem Erbe und der Tradition zu begründen, in der Ludwig steht, und in der auch er sich selbst stehen sieht: progenitores namque serenissimi senioris nostri Hludouuici, videlicet imperatores et reges, ex christianissima Francorum gente16 prodierunt, Moimarii vero Sclaui a paganis et ethnicis venerunt. Illi potentia imperiali Romanam rem publicam sublimaverunt, isti damnaverunt; illi christianum regnum confortaverunt, isti inflrmaverunt; illi toto mundo spectabiles apparuerunt, isti latibulis et urbibus occultati fuerunt; illorum consilio apostolica sedes pollebat, istorum persecutione christianitas dolebat. In omnibus his iuvenculus rex noster nulli predecessorum suorum secundus, nulli est inferior, sed secundum virtutem a Deo sibi datam sanete Romane ecclesiae et vobis summo patri cum omnibus regni sui prineipibus adiutor optat esse fortissimus11. Der Brief Theotmars ist aber vor allem deswegen von großer Bedeutung, weil er den Abschluß einer Entwicklung zeigt, in der sich Salzburg und der Salzburger Erzbischof immer mehr von den Geschehnissen im Reich abkoppelten und versuchten, eigene Politik zu machen, sich im "kleinen Raum" einzurichten, wie Herwig Wolfram formulierte78. Dabei scheut Theotmar auch nicht davor zurück, Rom und den Papst, dem Arn und Salzburg ein Jahrhundert zuvor noch das Pallium verdankt hatten, in mehr oder weniger scharfer, ja ironischer Form anzugreifen 79 . Wenn der Erzbischof von Salzburg Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag. Hg. v. J. Dahlhaus u. a., 1995 37-67. 74 Epistola Theotmari episcopi 140, 2-7 (wie Anm. 9) venerunt... de latere vestro tres episcopi, videlicet Johannes archiepiscopus, Benedictus et Danihel episcopi, in terram Sclavorum, qui Maraui dicuntur, que regibus nostris et populo nostro, nobis quoque cum habitatoribus suis subacta fuerat tarn in cultu Christiane religionis quam in tribute substantie secularis, quia exinde primum imbuti et ex paganis christiani sunt facti. 75 Siehe dazu H. BEUMANN, Die Einheit des ostfränkischen Reiches und der Kaisergedanke bei der Königserhebung Ludwigs des Kindes, in: Archiv für Diplomatik 23, 1977, 142-163; U. PENNDORF, Das Problem der Reichseinheitsidee nach der Teilung von Verdun (843), 1974. 76 Zur Textgestaltung, die Egon Boshof verdankt wird, siehe LOSEK, Conversio (wie Anm. 9), 147 Anm. 38. 77 Epistola Theotmari (wie Anm. 9), 146, 11-148, 8. 78 WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie Anm. 1), 186 f. 79 Siehe LOSEK, Conversio (wie Anm. 9), 82-87.
Die Auswirkungen karolingischer Politik und Reformen im Südosten des Reiches
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dabei geschickt mit der lateinischen Sprache umgeht, wenn er Bibelzitate in seinem Sinne ummünzt, wenn er dem Papst quasi Nachhilfeunterricht in Kanonistik erteilt, so ist dies aber auch ein Zeichen für das hohe Niveau, das in Salzburg gegen Ende des 9. Jahrhunderts erreicht worden war, nicht zuletzt aufgrund der engen Kontakte zum karolingischen Hof, die wir aufgrund der guten Quellenlage fur das gesamte 9. Jahrhundert feststellen konnten.
5. Die Katastrophe von 907 Theotmar von Salzburg hatte schon in seinem Brief mehrmals auf die Ungarngefahr Bezug genommen 80 . Im Jahre 907 fiel er selbst, wie auch die Bischöfe von Freising und Säben, in oder kurz nach der Schlacht bei Preßburg gegen die Ungarn. Diese Niederlage markiert auch einen markanten Einschnitt in der literarischen Produktion nicht nur im Salzburger Einflußbereich. Über Theotmars Nachfolger Pilgrim I. von Salzburg (907923) besitzen wir nur ganz wenige Nachrichten aus den erhaltenen Quellen "Im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts scheinen die Antriebe der karolingischen Renaissance verbraucht. Dann brechen die Ungarnstürme über das Land herein. Der materielle und kulturelle Neubeginn gestaltet sich hernach in allen 'österreichischen' Ländern schwierig und langwierig ... Unerklärlicherweise werden die Salzburger Annalen sogar in der Ungarnzeit bis 956, dann aber nicht mehr fortgesetzt. In diesem Abbruch der historiographischen Tradition darf man fast so etwas wie ein Symbol für das Ende der literarischen Vormachtstellung Salzburgs im 'österreichischen Mittelalter' sehen" 82 .
80 Epistola Theotmari (wie Anm. 9), 152, 5 f. quando vero Ungarios Italiam intrasse comperimus, pacificari cum eisdem Sclauis (seil. Maravis) teste communi Deo multum desideravimus; 154, 14-16 pecuniam vestro iuri debitam propter infestam paganorum sevitiam nec per me perferre nec per alios poteram transmittere; sed quia Dei gratia liberata est Italia, quantocius potero, vobis transmisero. Zur Bedeutung der letzten Stelle für die Datierung und somit für die Echtheit des Briefes siehe LOSEK, Conversio (wie Anm. 9), 87. 81 Siehe C. ROHR, Pilgrim I. von Salzburg (907-923). Zwischen Bayern und Ungarn, in: Lebensbilder Salzburger Erzbischöfe aus zwölf Jahrhunderten. 1200 Jahre Erzbistum Salzburg, 1998, 23-40, bes. 23 und 31. 82 KNAPP, Literatur in Österreich (wie Anm. 45), 36 f.
Wolfgang Eggert
Zu Inhalt, Form und politischer Terminologie der "Fränkischen Reichsannalen"
Eine der wichtigsten Quellen für die Zeit Karls des Großen, die "Fränkischen Reichsannalen"1, kann man wohl mit größerem Recht als jedes andere frühmittelalterliche Werk mit dem Prädikat "offiziell" kennzeichnen. Nachdem um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Leopold von Ranke mit sicherem Blick die Ansicht, hier handele es sich um ein "Klostergewächs", vollständig erschütterte und ganz zu Recht für eine Entstehung am königlich-kaiserlichen Hof eintrat2 - weswegen die "Annales Laurissenses maiores", deren Name auf das Kloster Lorsch hindeutet, wo die älteste Handschrift gefunden wurde, zu "Annales regni Francorum" mutierten ist diese Erkenntnis nur noch selten bezweifelt worden3. Denn man hat mit Sicherheit anzunehmen, daß das Werk in der Hofkapelle entstand; eine Gruppe der dort auch in verschiedenen anderen Funktionen agierenden Kleriker dürfte mit seiner Aufzeichnung beauftragt worden sein4, wobei es auch mehr als wahrscheinlich ist, daß zumindest der große Karl diese Tätigkeit in entscheidender Weise kontrollierte und somit beeinflußte5. Daß dies Spuren in der Quelle hinterließ, wird, wie ich meine, auch durch die nachfolgenden Ausführungen in nicht geringer Weise bestätigt. Es ist merkwürdig, daß dieses Werk, das in seinen Jahresberichten von 741 bis 829 neben der gesamten Regierungszeit Karls auch die seines Vaters Pippin sowie die 1 Annales regni Francorum (künftig: Ann. reg. Franc.), rec. F. KURZE, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum, 1895; lateinisch und deutsch in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 1 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vomStein-Gedächtnisausgabe 5), neubearb. von R. RAU, 1955, 9-155. Dazu hauptsächlich W. WATTENBACH/W. LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 2, 1953, 245-256, mit weiterführender Literatur. - Die Anmerkungen sind durchgängig auf das Nötigste reduziert. 2 L. RANKE, Zur Kritik fränkisch-deutscher Reichsannalisten (1854), erweitert in: DERS., Sämmtliche Werke 51,1888, 115. Vgl. auch WATTENBACH/LEVISON (wie ANM. 1) 247. 3 Zum Forschungsgang ebenda, 247 f. 4 J. FLECKENSTEIN, Die Hofkapelle der deutschen Könige 1, 1959,234. 5
WATTENBACH/LEVISON ( w i e A n m . 1 ) 2 4 8 .
Zu Inhalt, Form und politischer Terminologie der „Fränkischen Reichsannalen"
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"besseren" Anfangsjahre seines Sohnes Ludwig des Frommen beschreibt, hinsichtlich seiner Darstellungsweise, Tendenz und Terminologie bisher nur sehr unvollkommen behandelt worden ist. Eine monographische Darstellung, wie sie einigen anderen Quellen der Karolingerzeit in solcher Beziehung zuteil geworden ist6, hat es nicht erfahren; in Arbeiten, die sich etwa bestimmten politischen bzw. politisch-geographischen Begriffen jener Zeit oder ähnlichem widmeten, ist es schlecht weggekommen . Größere Beachtimg schenkten ihm in letzter Zeit allerdings Hans-Werner Goetz in seiner umfassenden Untersuchung über den damaligen ReichsbegrifT8 sowie Rosamond McKitterick, die zwei Aufsätze über die Annalen veröffentlichte9. So dürften die folgenden Beobachtungen, die allerdings alles andere sind als eine grundlegende Analyse zum Thema, eher erste Einblicke in bisher nahezu Unerforschtes gestatten. Sie sollen letztendlich dazu herausfordern, den "Annales regni Francorum" weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn man sich bereits vor mehr als hundert Jahren darauf geeinigt hat, das Geschichtswerk, um das es hier geht, wie eben gesagt zu benennen, so erhebt sich zunächst fast zwangsläufig die Frage, ob der Begriff regmim Francorum in ihm selbst überhaupt auftaucht. Goetz hat nicht ganz richtig gesehen, wenn er dies leugnet10, denn der Terminus erscheint zweimal: bei der Schilderung von Ereignissen zu 742 und 820. Allerdings ist das wenig genug; die gesamte Herrschaftsperiode Karls des Großen hindurch sucht man ihn in der Darstellung vergebens, und auch die Textpassagen, in denen er begegnet, sprechen in gewisser Beziehung für sich. Zunächst heißt es in einem der ersten Sätze, welche die Quelle überhaupt aufweist, lapidar über die Hausmeier Karlmann und Pippin, die Söhne Karl Martells, während eines Feldzuges gegen den aquitanischen Herzog: et in ipso itinere diviseriint regnum Francorum inter se in loco, qui dicitur VetusPictavisn. Das Reich ist hier das Objekt einer Teilung und damit alles andere als eine Institution von erhabener Größe, was man doch mit Recht vermuten könnte. Dem schon näher kommt die zweite Erwähnung, wenn verzeichnet wird, eine Seuche, die Menschen und Tiere gleichermaßen erfaßte, habe zu Anfang der Regierung Ludwigs des Frommen dermaßen gewütet, ut vix ulla pars totius regni Francorum ab hac peste inmunis atque 6 Genannt sei hier besonders I. HASELBACH, Aufstieg und Herrschaft der Karolinger in der Darstellung der sogenannten Annales Mettenses priores, 1970; auch W . WEHLEN, Geschichtsschreibung und StaatsaufFassung im Zeitalter Ludwigs des Frommen, 1970, über Nithard und das Epitaphium Arsenii. 7 Ebenda über res publica sowie M. LUGGE; "Gallia" und "Francia" im Mittelalter, 1960, nur 50, 99, 117. 8 H.-W. GOETZ; Regnum: Zum politischen Denken der Karolingerzeit, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 104, 1987, 110-189, speziell 116-121. 9 R. MCKITTERICK; Constructing the past in the Early Middle Ages: the case of the Royal Frankish Annals, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th series, 7 , 1 9 9 7 , 1 0 1 - 1 2 9 ; DIES., L'ideologie politique dans lliistoriographie carolingienne, hg. von R. Le Jan, Centre dTiistoire de l'Europe du Nord-Ouest 17, 1 9 9 8 , 5 9 - 7 0 . Beide Veröffentlichungen haben weniger den Text im Auge als die Handschriften, die Entstehung der Quelle und ihre Einordnung in größere Zusammenhänge. 10
GOETZ, Regnum (wie ANM. 8), 117.
11 Ann. reg. Franc, ad a. 742, 4 [Teilung von Vieux Poitiers: J. F. BÖHMER; Regesta imperii 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918, neubearb. von E. MUHLBACHER, 2 1908, Neudruck 1966, nr. 44b (künftig: BM 2 )].
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Wolfgang Eggert
intacta posset inveniri12. Dies ist freilich ein Ereignis, welches mit Herrscher und Politik nichts zu tun hat; es gehört durchaus in eine andere Kategorie als jenes, das der erstgenannte Beleg schildert. Hier sei nur am Rande vermerkt, daß die gewissermaßen in Nachfolge der Reichsannalen stehenden Annales Fuldenses, die die Hauptquelle für die Geschehnisse des ostfränkischen Reiches im 9. Jahrhundert bilden und gelegentlich schon einmal als "ostfränkische Reichsannalen" bezeichnet werden13, einen Satz wie den zuletzt zitierten mit ziemlicher Sicherheit anders gestaltet hätten; hier blieb der Frankenname bei "apolitischen" Ereignissen und Vorgängen ausgespart, und wenn es sich bei diesen um solche im hier tonangebenden rechtsrheinischen Gebiet handelte, operierte man mit dem Germania-Begriff, welcher der fränkischen Tradition fernstand14. Eine derartige Scheidung ist in unsererm Werk noch nicht festzustellen, was vielleicht mit der auch in anderer Hinsicht gezielteren Gestaltung des Textes zu sehen ist, wie sie generell in späteren Geschichtswerken anzutreffen ist15. Über Entstehungszeit und -ort des hier behandelten Quellenwerkes soll im folgenden nur wenig gesagt werden. Es entstand, wie schon ausgeführt, in der Hofkapelle, und es hatte, wie es sich damit fast zwangsläufig ergibt, nicht nur einen Verfasser; auch zur selben Zeit werden gewiß mehrere an ihm gearbeitet haben. Wenn Gabriel Monod es - was in der Tendenz gewiß nicht unrichtig ist - als eine Art Tagebuch zum Dienstgebrauch ansehen wollte16, so ist allerdings mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß Heinz Löwe in Ergänzung hierzu herausstellte, man werde "diesen praktischen Zweck von vornherein nur neben der literarisch-historiographischen Zielsetzung gelten lassen dürfen"17 - verdeutlicht uns der Text dies doch immer wieder. Über die Abfassungszeit ist lange und heftig gestritten worden, worauf hier nicht eingegangen werden soll. Heute wird - nur das sei vermerkt- für wahrscheinlich gehalten, daß man mindestens mit drei verschiedenen Entstehungsphasen zu rechnen hat. Zunächst nämlich soll zwischen 787 und 793 der erste Teil des Werkes verfaßt worden sein - bis 741 rückblickend und unter Verwendung älterer Annalen sowie wohl auch der Fortsetzungen des sogenannten Fredegar, zuletzt dann gleichzeitig mit den Ereignissen. Diese Form der Aufzeichnung setzt sich dann im zweiten Teil fort, der bis zum Jahre 807 geführt worden sein soll; von hier an rechnet man den dritten bis zum Ende des Textes im Jahre 829, wobei noch einmal ein Einschnitt geringerer Art um 820 angesetzt wird18. Was im folgenden dargeboten wird, kann zur Verifizierung
12 Ann. reg. Franc, ad a. 820,154. 13 WATTENBACH/LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 6, bearb. v. H. LÖWE 1990, 671 f. (mit entsprechender Überschrift) und 687. 14 W. EGGERT, Das ostfränkisch-deutsche Reich in der Auffassung seiner Zeitgenossen, 1973, 68. Beispiel: Annales Fuldenses ad a. 878, rec. F. KURZE, MGH SS in usum scholarum,1891, 92: Boum pestilentia in Germania immanissime grassata est, maxime circa Rhenum; diese letzte Bemerkung zeigt deutlich (wie auch die nachfolgende Nennung eines links des Rheins gelegenen Ortes), daß die Germania, anders als etwa bei Einhard, Vita Karoli Magni c. 15 (wie Anm. 28), 18, über den Fluß hinausreichte: EGGERT (wie oben) 69. 15 Siehe auch S. 133. 1 6 G . MONOD, Etudes critiques sur les sources de lliistoire carolingienne 1, 1 8 9 8 , 1 5 3 f. 17
I n : WATTENBACH/LEVISON ( w i e A n m . 1), 2 4 8 .
18 Ebenda, 249-253.
Zu Inhalt, Form und politischer Terminologie der „Fränkischen Reichsannalen"
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dieser Einteilung leider kaum etwas beitragen; vielleicht verunklart sich hier sogar noch einiges mehr. Es scheint sich nämlich aufgrund mancher hier getroffener Beobachtungen eine Zäsur herauszustellen, die um die Mitte der neunziger Jahre des 8. Jahrhunderts anzusetzen ist. Bis zu dieser Zeit kann man gut beobachten, daß sich die Autoren strikt auf das konzentrierten, was sie der Aufzeichnung unbedingt für wert hielten - und dies war das Agieren des Herrschers. Besonders in den ersten Jahrzehnten der Regierung Karls richtete man den Blick kaum einmal darauf, was in der übrigen "Welt" außerdem noch geschah. Dies wird in den späteren Partien der Quelle dann völlig anders. Bereits vor 800, besonders aber danach finden sich Notizen über Byzantiner und Bulgaren, über Völker im Westen, über Reliquientranslationen, Papsttode und Papstwahlen sowie andere Ereignisse19. Im folgenden soll vorrangig der frühere Teil betrachtet werden, der in vielem erscheint, als wäre er unter einem bestimmten "Zwang zur Norm" verfaßt worden- was ihn auch interessanter als den folgenden macht. Zu beobachten ist hierbei unter anderem folgendes: Daß, wie eben erwähnt, hier das Handeln und Wirken Karls grundsätzlich im Mittelpunkt der Berichterstattung steht, fuhrt teilweise dazu, daß in den Jahresberichten nichts anderes mehr Platz hat. Zu 780 etwa wird der Zug des Herrschers nach Sachsen geschildert mit den Stationen Eresburg - Lippequelle - Ohrum jenseits der Ohre Ohremündung - Rückkehr in die Francia; hierauf der Entschluß zum Romzug mit seiner Gemahlin Hildegard und der Weihnachtsaufenthalt in Pavia20. Auch in den Jahresberichten zu 786 sowie 791 findet sich nichts, was nicht den Herrscher beträfe21. Symptomatisch fur diese Art der Darstellung ist der Bericht zu 790, der sich auf die Worte beschränkt: In sequenti vero anno nullum fecit iter (= Heereszug), sed ibi in iamdicta civitate (= Worms) iterum natalem Domini celebravit, pascha similiter. Et inmutaivit se numerus annorum in 79122. Und wenn hiernach im eben erwähnten Text zum letztgenannten Jahr der Satz folgt: Inde autem itinere permoto partibus Baioariae perrexit23, so gibt uns hier eine grammatikalische Auffälligkeit ein besonderes Indiz dafür, wie sehr die Person des Frankenkönigs das Denken der Annalenschreiber in Beschlag nahm, hätte doch der eingeschobene Standardsatz zum Jahreswechsel, der in schöner Regelmäßigkeit von 758 bis 808 begegnet 24 und mit seinem Subjekt numerus stets die Erzählung unterbricht, im folgenden einen direkten Hinweis darauf benötigt, daß nun wieder von Karl die Rede ist. Wenn dies hier und an anderen Stellen nicht erfolgt 25 , dann liegt wohl weniger eine Folge
19 Ähnlich DIES., L'ideologie (wie Anm. 9), 64. - Vgl. etwa Ann. reg. Franc, ad a. 802 und 812, 117 und 136 f., aber auch bereits ad a. 798,102-106. 20 Ebenda ad a. 780, 54-56. 21 Ebenda ad a. 786 und 791, 72 und 86-90. Wenn MCKITTERICK, L'ideologie (wie Anm. 9), 64, über den Text der Reichsannalen sagt: "Les dirigeants carolingiens agissent en toute chose avec le consentement, l'appui et le conseil des Francs", so ist dies für diesen Teil sehr problematisch. 22 Ann. reg. Franc, ad a. 790, 86. 23 Ebenda ad a. 791, 86. 24 Ebenda 16-127. 25 Die ausdrückliche Kennzeichnung des Herrschers als Subjekt fehlt ζ. B. auch im ersten Satz der Jahresberichte zu 781 und 790, 56 und 86, ebenfalls im Anschluß an die zitierte Wendung zum Jahreswechsel.
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Wolfgang Eggert
des in manchem noch recht holprigen Lateins vor, dessen sich die Autoren mangels besserer Kenntnisse bedienten26. Vielmehr sehen wir in solchen Fällen mehr als deutlich, wie recht Josef Fleckenstein hatte, wenn er - schon vor vielen Jahren - einmal betonte: "Es gibt kein Zeugnis aus der Umgebung Karls, das nicht... den Eindruck seiner Überlegenheit vermittelte"27 Betrachtet man weiterhin etwas näher, was über den großen Herrscher berichtet wird, so ist dies recht einseitig: Karl erscheint vorwiegend als Krieger und Heerführer sowie auch noch als Repräsentant gegenüber anderen Völkern und Reichen. Alles, was ihm wie seinen Beratern und Helfern darüber hinaus zuzuschreiben ist- etwa die Bildungs- und Gerichtsreform, die Einführung der Grafschaftsverfassung in verschiedenen Teilen seines Reiches sowie auch die Forderung eines allgemeinen Untertaneneides - taucht nicht auf; was man hierüber weiß, kommt aus anderen Quellen wie etwa der "Vita Karoli Magni" von Einhard, der in ihr bekanntlich einen systematischen Überblick über das gesamte Wirken seines "Helden" gibt28. Für die höfischen Annalenschreiber ist Karl der Große ein König bzw. Kaiser, der das Reich schützt, indem er es erweitert- so bei seinen Heereszügen gegen die Langobarden, die Awaren, gegen slawische Stämme und besonders gegen die Sachsen - und der intensive Beziehungen zu seinen Nachbarn wie zu entfernten Großreichen pflegt, Gesandtschaften sendet und empfängt, Geschenke entgegennimmt und austeilt. Typisch sind solche Stellen wie: Tunc domnus Carolus rex iter peragens partibus Hispaniae per duas vias29 oder: ... venerunt ... duces Venetiae necnon et ... legati Dalmatarum ad praesentiam imperatoris cum magnis donis. Et facta est ibi ordinatio ab imperatore de ducibus etpopulis tarn Venetiae quam Dalmatiae30, welche ganz ohne Mühe beliebig vermehrt werden könnten. Der Herrscher der Franken und Langobarden sowie spätere Kaiser wird fast durchgängig präsentiert als die alles dominierende Führungsfigur, welche sowohl die militärische und politische Richtung bestimmt als auch in dem geplanten Sinne handelt. Und bei genauerem Hinsehen fällt auf, daß auf seiten der von Karl jahrzehntelang bekämpften Sachsen deren Führer Widukind in ganz ähnlicher Weise dargestellt wird: Bei seiner ersten Erwähnung zum Jahre 777 heißt es, auf einer Zusammenkunft in Paderborn kamen mit dem König sowie "allen" Franken die Sachsen aus ihren sämtlichen Regionen zusammen excepto quod Widochindis rebellis extitit cum paucis aliis31, und wenn in einer ähnlichen Situation, bei einem Tag an der Lippequelle im Jahre 782, omnes Saxones ... excepto rebellis Widochindus erscheinen, so ist er hier nun ebenso allein wie wenn kurz danach sich sein Volk nur auf sein Betreiben hin (suadente
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WATTENBACH/LEVISON ( w i e A n m . 1 ) 2 4 7 u n d 2 5 2 .
27 J. FLECKENSTEIN, Karl der Große und sein Hof, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1, 1965, 49. [ND in : DERS., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, 1989,63],
28 Einhard, Vita Karoli Magni, cur. O. HOLDER-EGGER, M G H SS in usum scholarum, 61911 [Neudruck 1927] etwa c. 17, 20 f. (Bauten), c. 27, 31 f. (Armenfürsorge), c. 29, 33 f. (Rechts- und Sprachpflege). 29 Ann. reg. Franc, ad a. 778, 50. 30 Ebenda ad a. 806, 120 f. 31 Ebenda ad a. 777,48.
Zu Inhalt, Form und politischer Terminologie der ..Fränkischen Reichsarmalen"
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Widochindo) wieder erhebt32. Zugespitzt kann man dieses Darstellungsprinzip wohl so charakterisieren, daß hier Führer und Geführte bei den Franken sowie Führer und Verführte bei den Sachsen gezeigt werden, wenn auch in den weitaus meisten diesbezüglichen Passagen die letztgenannten unterwerfungsfreudiger erscheinen, als sie wohl waren33. Die Glorifizierung Karls des Großen durch die Verfasser der Reichsannalen schlägt sich auch in der von diesen verwendeten Titulatur nieder. Bereits bevor beide an die Macht gelangt waren, wird ein Unterschied zwischen den Söhnen Pippins III., Karl und Karlmann, gemacht. Über ihre Salbung 754 durch den Papst nämlich heißt es: inunxit dommim Carolum et Carlomannum in regibus34, und der hier aufscheinende Unterschied zeigt sich auch weiterhin35. Er wird noch einmal ganz deutlich bei der Regierungsübernahme, über welche die Verfasser zu 768 vermerkten: Et dommis Carolns et Carlomannus elevati sunt in regnum, domnus Carolas VII. Id. Octobr. in Noviomo civitate, Carlomannus in Suessionis civitate similiter36. Sofort im Anschluß heißt es weiter: Et celebravit... gloriosus domnus Carolus rex natalem Domini in villa, quae dicitur Aquis, et pascha in Rodomo civitate37 - ein aufschlußreicher Satz, was die Titulatur anbelangt. Bringt er doch erstens die Standardbenennung domnus Carolus rex zur Anschauung, welche so oder in leichter Variation {domnus rex Carolus) bis in den Anfang der neunziger Jahre hinein verwendet wird 38 ; zum zweiten zeigt er, daß diese Titelgebung durch schmückende Beifügungen erweitert werden kann. Neben dem hier und oft begegnenden gloriosus39 waren dies benignissimus^, mitissimus4\ praecelsus42, clementissimus43 und piissimtis44 sowie in Doppelung praeclarus et gloriosus45 nebst ρ ins atque praeclarus46·.
32 Ebenda ad a. 782, 58-60. 33 Schon bei der Schilderung des ersten Feldzuges gegen sie wird gesagt, daß sie zu einer Versammlung kamen und Geiseln stellten: ebenda ad a. 772, 34. Später wiederholt sich das in ähnlicher Form mehrmals, etwa ad a. 775, 40-42; ad a. 777, 48; ad a. 785, 68-70. 34 Ebenda ad a. 754,12. 35 Ebenda ad a. 757, 14-16, über den Bayemherzog Tassilo: ßdelitatem promisit regi Pippine et supradictisßliis eius, domno Carolo et Carlomanno. 36 Ebenda ad a. 768, 28 (in Noyon und Soissons). All das macht klar, daß die Aufzeichnung hier nicht zeitgenössisch sein kann. Zu Karlmanns Titulatur siehe auch unten S. 128, mit Anm. 53 und 54. 37 Ebenda ad a. 768,28 38 Ebenda ad a. 768-791, 28-90, Ad a. 792 wird der König nicht genannt; danach begegnet gewöhnlich das bloße rex, und Titel wie domnus Carolus gloriosissimus rex (ad a. 794, 94) bleiben Ausnahmen. 39 Auch noch ebenda ad a. 769, 28; ad a. 781, 58; ad a. 783, 64; ad a. 784, 66; ad a. 787, 74,76,78. Siehe daneben die Zitate in den Anm. 38 und 64 (gloriosissimus). 40 Ebenda ad a. 769, 28. 41 Ebenda ad a. 772 und 787, 32 und 76. 42 Ebenda ad a. 773, 34. 43 Ebenda ad a. 778 und 788, 52 und 80. 44 Ebenda ad a. 781, 58; ad a. 787, 74; ad a. 788, 80. 45 Ebenda ad a. 771,32. 46 Ebenda ad a. 775, 40.
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häufiger als die letztgenannten aber erscheint magnus47, was auch in bezug auf unsere Quelle die bekannte Tatsache verdeutlicht, daß die noch heute übliche Kennzeichnung des berühmtesten Frankenherrschers als "der Große" bereits zeitgenössisch ist. Diese Bandbreite von Adjektiven, welche eingesetzt wird, um den "Helden" der Annalen zu glorifizieren, steht, was nebenbei bemerkt sei, in einem ziemlichen Gegensatz zu der ansonsten recht einförmigen Wortwahl, deren sich die Autoren befleißigten. Ein Zug durch das Land heißt ein- über das andere Mal iter4\ wobei in überwiegender Zahl hierunter Kriegszüge verstanden werden; ausdrücklich gekennzeichnet sind solche selten49 und friedliche Reisen sparsam verzeichnet50. Gegen den Herrscher und seine Maßnahmen aktiv Angehende heißen rebelies, ihr Vorgehen rebellare, wobei diese Begriffe allein fur Aufständische und Aufstände außerhalb des fränkischen Kernreiches- zumeist für die Sachsen und ihren Protagonisten Widukind- angewendet werden51. Innere Unruhen verschweigen die Verfasser beharrlich, zumindest in Karls Regierungszeit; später geschieht es schon einmal, daß in bestimmtem Zusammenhang auf eine "Verschwörung", die damals stattfand, rückverwiesen wird52. Diese Beispiele mögen genügen; sie könnten leicht vermehrt werden. Karls früh verstorbener Bruder Karlmann blieb auch während seiner kurzen Königszeit hinsichtlich der Titelgebung fur die Annalisten der Ausgestoßene, indem er weiterhin allein mit dem einfachen Namen genannt wurde53; nur bei seinem Tode am 4. Dezember 771 gestand man ihm den Königstitel zu54. Zu Anfang der Aufzeichnungen wurde Pippin als Hausmeier eingeführt55, aber dann bis zu seiner Machtergreifung doch nur mit seinem Namen erwähnt56; hiernach heißt er, dessen Wahl zum König secundum morem Francorum (751) ebenso erwähnt wird wiedie Salbung (unctio sancta in regem) durch
47 Ebenda ad a. 769, 28; ad a. 772, 34; ad a. 778, 50; ad a. 779, 54; ad a. 781, 56 und 58; ad a. 783, 66; ad a. 784, 68. 48 Vgl. nur ebenda ad a. 769,28; ad a. 778, 50; ad a. 779, 52; ad a. 789,84; ad a. 790, 86. 49 Ebenda ad a. 792, 92: iter exercitale. 50 Aber ebenda ad a. 793, 92: Rex autumnali tempore de Reganesburg iter navigio faciens usque ad fossatum magnum inter Alemana (= Altmühl) etRadantia (= Rednitz)pervenit: BM 2 320(31 l)h. 51 Vgl. zu letzterem die oben vor Anm. 31 und 32 zitierten Stellen; dazu als weitere Beispiele Ann. reg. Franc, ad a. 784, 66: Et tunc rebellati sunt iterum Saxones; ad a 785, 68: Saxones, qui rebelies fuerunt, und die Belege im Glossarium s. v. rebellare: ebenda 203. 52 Ebenda ad a. 817, 148, in der Erzählung über die Erhebung König Bernhards von Italien. Einer von deren Anführern war Reginharius Meginharii comitis filius, cuius maternus avus Hardradus olim in Germania cum multis ex ea provincia nobilibus contra Karolum imperatorem (!) coniuravit. Letzteres geschah 786: BM 2 270(262)c. Die Annales qui dicuntur Einhardi (siehe Anm. 72) handeln über diese Verschwörung und die Bestrafung ihrer auctores (ad a. 785, 71) ausführlich. 53 Ann. reg. Franc, ad a. 769, 28: Carlomannus ... Franciam iter arripiens; ad a. 770, 30: Carlomannus et Berta regina iungentes se ad Salossa (= Selz). 54 Ebenda ad a. 771, 32: eodem anno Carlomannus rex defunctus est in villa, quae dicitur Salmontiacus (= Samoussy), prid. Non. Decembr. 55 Ebenda ad a. 742, 2: Carlomannus (= sein älterer Bruder) et Pippinus maiores domus ... Der Text beginnt mit dem Satz ad a. 741, ebenda: Carolus (= Karl Martell) maior domus defunctus est. 56 Ebenda ad a. 743-749 (in letzterem Jahr befiehlt Papst Zacharias Pippinum regem fieri), 4-8.
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Papst Stephan II. (754)57, in der Regel Pippinus rex bzw. rex Pippinus58, ab 767 in der gleichen Weise wie später sein Sohn Karl domnus Pippinus rex59. Auch die Gemahlinnen dieses seines Nachfolgers tragen im ersten Teil der Reichsannalen eine an das königliche Vorbild angeglichene Titulatur: Man trifft nacheinander auf die domna Hildegardis regina60, die domna Fastrada regina61, aber nur- weil sie hier im Konnex mit ihrem Gatten genannt wird? - auf die domna Liutgardis coniux62. Karls des Großen ältester Sohn Karl, der im Jahre 811 verstarb63, begegnet gewöhnlich als domnus und filins seines berühmten Erzeugers64; dessen weitere Söhne Pippin und Ludwig, welche 781 zu Königen von Italien und Aquitanien erhoben wurden, wird in der Zeit bis 813 der Königstitel nicht verweigert, wobei zuweilen auch der geographisch-politische Zusatz erscheint65. Im schönsten Verfolg der hauptsächlich im ersten Teil angetroffenen Stilisierung, wo Karl, wie ausgeführt, meist der allein Handelnde ist, heißt es über Ludwig zum Jahre 813, sein Vater habe ihm, dem König von Aquitanien, auf einem Tage in Aachen eine Krone aufgesetzt und ihn zum Mitkaiser erhoben66 - was zunächst nichts daran ändert, daß Karl, wie schon von seiner Krönung in Rom im Jahre 800 an67, weiter imperator heißt68. Erst 57 Ebenda ad a. 750 und 754, 8 und 12. 58 Ebenda ad a. 753-766, 10-24. 59 Ebenda ad a. 767 und 768, 24-26. Pippins Gemahlin, die 783 verstorbene Bertrada, erscheint ad a. 755 und 770, 12 und 30, als Bertrada (Berta) regina (siehe das Zitat in Anm. 53), ad a. 768 und 783 (bei ihrem Tode) aber als domna Bertrada (Berta) regina. 60 So ebenda ad a. 780, 56; ad a. 783, 64, bei ihrem Tode am 30. April: domna ac bene merita Hildegardis regina. 61 Ebenda ad a. 783, 66; ad a. 785, 68; ad a. 787, 76. Bei ihrem Tod erscheint sie als Fastrada regina und ohne Sterbedatum - allerdings bereits im "nicht genormten" Teil: ebenda ad a. 794, 94. 62 Ebenda ad a. 800, 110: ...quae ibidem (= in Tours) et defuncta est; obiit autem die II. Non. Iunii (= Juni 4). 63 Ebenda ad a. 811, 135: Interea Carlus filius domni imperatoris, qui maior natu erat, II. Non. Decembr. (= Dezember 4) diem obiit. 64 Ebenda ad a. 784, 66: Domnus Carolus rex ... ßlium suum domnum Carolum dimisisset una cum scara contra Westfalaos; ebenda, 68 . filius domni Caroli regis und Carolus filius magni regis Caroli. Ad a. 794, 94, ebenfalls im Bericht über die Sachsenkriege: domnus Carolus gloriosissimus rex ... misit domnum Carolum nobilissimum filium per Coloniam. Vgl. auch ebenda ad a. 799, 106; ad a. 804, 119; ad a. 806, 121; ad a. 808, 125. 65 Pippin: im früheren Teil ad a. 781, 56, zweimal domnus Pippinus rex bei seiner Salbung; ebenda, 58, zweimal nach diesem Akt. Vgl. im späteren Teil ad a. 797, 102; ad a. 800, 110; ad a. 801, 114; ad a. 805, 120: filius; ad a. 807, 124; ad a. 810, 130: rex; ad a. 809, 127: domnus Pippinus Italiae rex; ad a. 810, 132: Todesnachricht über Pippinus filius eius (= Karls des Großen) rex Italiae zum 8. Juli. Ludwig: im ersten Teil ad a. 781, 56, zusammen mit Pippin zweimal domnus Hludowicus rex bei seiner Salbung; im folgenden Part ad a. 797 und 806, 102 und 121: filius; ad a. 809, 127: domnus Hludowicus rex, der in Aquitaniam zurückkehrt. 66 Ebenda ad a. 813, 137 f.: Imperator ... habito generali conventu, evocatum ad se apud Aquasgrani filium suum Hludowicum Aquitaniae regem, coronam Uli inposuit et imperialis nominis sibi consortem fecit. BM2 479(466)a; vgl. auch W . WENDLING, Die Erhebung Ludwigs d. Fr. zum Mitkaiser im Jahre 813 und ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des Frankenreiches, in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, 202 und 220. 67 Ann. reg. Franc, ada. 801-813, 114-137 (ad a. 803, 118, mit domnus).
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nach dessen Tod, der mit gebührenden Worten verzeichnet wird69, geht dieser Titel allmählich auf Ludwig über70, wird aber schließlich bis hin zum Ende des Werkes dessen gängige Bezeichnung \ Auch dies macht deutlich, daß man stets bestrebt war, den großen Frankenherrscher Karl, wie es nach Meinung der Verfasser geboten und angezeigt schien, herauszustellen. Der "Herr und König", wie es zu Anfang hieß, durfte nicht beschädigt werden - besonders nicht als Kriegsheld. Für dieses Prinzip verbog man, wenn es nicht anders ging, schließlich auch schon einmal die Tatsachen - nach allem, was uns bekannt ist, freilich nur einmal in folgendem groben Maße. Im Verlauf des Jahres 782 nämlich geschah ein völlig singuläres Ereignis während des blutigen Sachsenkrieges: Die Franken wurden von ihren Widersachern - am Süntel - schwer aufs Haupt geschlagen. Man weiß dies in erster Linie aus einer wohl erst nach Karls des Großen Tod überarbeiteten Fassung der Reichsannalen, den sogenannten "Annales qui dicuntur Einhardi"72, die mit dieser Niederlage ganz offen umgingen: Sie berichten unter anderem, daß wegen Eifersüchteleien zwischen den Führern zweier Heerhaufen, die gegen die wieder einmal aufständischen Sachsen gesandt waren, der eine von ihnen blindlings gegen die geordnete Schlachtreihe des Feindes anrannte, was zur Folge hatte, daß seine Kämpfer fast sämtlich niedergehauen wurden - unter ihnen auch zwei der Anführer, der Kämmerer Adalgis und der Marschalk Geilo, ministri Karls, daneben vier Grafen und etwa zwanzig weitere clari atque nobiles13. Ganz anders aber stellen dies die urspünglichen Annalen dar: Sie sind weit kürzer in ihrem Bericht, verschweigen zwar auch nicht die gefallenen multi Saxones, gebrauchen aber schließlich auch hier, wie so oft vorher und nachher, ihre Standardformel victores extiterunt Franci14. Wie erwähnt, ist dies mitnichten die Wahrheit, und die "Erfinder" dieser Version haben das sehr wahrscheinlich auch gewußt. Sieht man sich nämlich ihre Darstellung genauer an, so ergeben sich Auffälligkeiten, die zumindest Fragen provozieren. Wie in den sogenannten Einhardsannalen werden schon hier die drei Anführer der einen Heeresabteilung - Adalgis, Geilo und Worad - genannt, von denen es dann aber heißt, sie handelten bei ihrem Kampf 68 Ebenda ad a. 813,138 (zweimal). 69 Ebenda ad a. 814, 140: Domnus Karolus imperator, dum Aquisgrani hiemaret, anno aetatis circiter septuagesimo primo, regni autem quadragesimo septimo subactaeque Italiae quadragesimo tertio, ex quo vero imperator et augustus appellatus est, annoXIIII, V. Kai. Febr. (= Januar 28), rebus humanis excessit. 70 Ebenda im Anschluß an diesen Satz: Hludowicus ßlius eius (bei der Übernahme der Nachfolge); danach ebenda - beim Empfang von Gesandtschaften - domnus Hludowicus. 71 Ebenda ad a. 814-829, 141-177. 7 2 Hierzu WATTENBACH/LEVISON (wie Anm. 1 ) 2 5 4 - 2 5 6 . Die inhaltlichen Abweichungen reichen etwa bis 801. 73 Annales qui dicuntur Einhardi ad a. 782, in: Arm. reg. Franc, (wie Anm. 1) 61-63. BM2 260(25 l)a. 74 Ann. reg. Franc, ad a. 782, 60: Et commiserunt bellum cum Saxonibus; et fortiter pugnantes et multos Saxones interimentes victores extiterunt Franci. In der näheren Umgebung dieser Stelle vgl. ebenda ad a. 778, 52: auxiliante Domino Franci victores extiterunt; ad a. 783, 64: et Domino adiuvante Franci victores extiterunt. Ähnlich bereits ad a. 774, 40, über drei fränkische Heeresabteilungen: auxiliante Domino victores extiterunt. Vgl. auch ad a. 775, 42: Franci Deo volente victoriam habuerunt.
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gegen die Sachsen ohne Auftrag des Herrschers75. Was für ein Unterschied gegenüber der üblichen Darstellung, in deren Mittelpunkt, wie schon ausfuhrlich beschrieben, Karl ständig steht! Man hat fast den Eindruck, der Tod von zweien dieser Führer76 sei als Strafe ftir unbotmäßiges Handeln zu verstehen und Gott sei trotz deren und ihrer Untergebenen mutigen Streitens diesmal nicht mit den Franken gewesen77. Weiter ist auffällig, daß Karl, nachdem er von der Schlacht erfuhr, "in aller Eile" selbst nach Sachsen zog78 - warum war dies bei einem Sieg so nötig? Und vor allem. Warum ließ er gerade damals bei Verden an der Aller ein drakonisches Strafgericht veranstalten, bei dem angeblich 4500 Sachsen - an einem Tage, wie die Überarbeitung sagt79 - ihr Leben lassen mußten80? All dies ist bei einer fränkischen Niederlage am Süntel viel logischer, was gewiß auch den Annalisten klar gewesen sein muß. Wollten oder durften sie nicht die Wahrheit schreiben? Und suchten sie diese Beschränkung durch die genannten Andeutungen zu vermitteln? Über Vorkommen und Gehalt des Terminus regnum hat, wie bereits gesagt, HansWerner Goetz gehandelt81; darum sei - teilweise im Anschluß an seine Ausführungen - hier nur mehr auf die teils eng damit zusammenhängende politisch-geographische Terminologie eingegangen. Mehr als die hier untersuchten Annalen, die den Begriff "Frankenreich" zu Karls Zeiten, wie bereits ausgeführt, nicht gebrauchen, nimmt ihn Einhard in seiner Karlsvita auf, der an entscheidender Stelle sagt, der Herrscher habe das regnum Frcmcorum im Laufe seiner Regierungszeit vom Umfang her fast verdoppelt, und dieser Vergrößerung räumlich genau beschreibt82. Unser Werk hingegen kennt für dieselbe Periode nur Francia und Fremd, von denen der erstgenannte Begriff jedoch dem Herrschaftsbereich des "Königs der Franken" insgesamt nicht gleichzusetzen ist. Francia bezeichnet das kernfränkische Gebiet, den Raum, in dem Franken wohnten; neben ihr stehen, um nur eine Auswahl zu nennen, die Saxonia, die Baioaria, die Aquitania und selbstverändlich die Italia83. Für die Schreiber sind dies ganz weitgehend konstante Größen, denn es gibt beispielsweise eine Saxonia vor, während und nach dem großen, über dreißig Jahre hinweg geführten Krieg: Zu 753 wird sie ebenso genannt wie zu 780 oder zu
75 Ebenda ad a. 782, 60: inruerunt super Saxones et nullum mcmdatum exinde fecerunt domno Carolo regi. 76 Ebenda: Et ceciderunt ibi duo ex ipsis missis, Adalgisus et Gailo, in monte, qui dicitur Suntdal. 77 Vgl. die Belege in Anm. 74. 78 Ann. reg. Franc, ad a. 782, 62: Hoc audiens domnus Carolus rex una cum Francis, quos sub celeritate coniungere potuit, illuc perrexit. 79 Ann. qui dicuntur Einhardi ad a. 782, 65: omnes una die decollati sunt. 80 Ann. reg. Franc, ad a. 782, 62: Saxones ... reddiderunt omnes malefactores illos, qui ipsud rebellium maxime terminaverunt. ad occidendum Uli D; qiwd ita et factum est: BM2 260(25 l)b. Ausführlich hierzu und zu den weiteren Quellen über diesen Vorgang M. LINTZEL, Die Vorgänge in Verden im Jahre 782 (1938), jetzt in: DERS., Ausgewählte Schriften 1, 1961, 147-174. 81 Siehe oben Anm. 8. 82 Einhard, Vita Karoli c. 15 (wie Anm. 28), 17: rex potentissimus ... regnum Francorum, quod post patrem Pippinum magnum quidem et forte suseeperat, ita nobiliter ampliavit, ut poene duplum Uli adiecerit. 83 Vgl. hierzu den Index nominum et reram der Ann.-reg.-Franc.-Ausgabe (wie Anm. 1), 186 (.Francia), 196 (Saxonia), 181 (Baioaria), 180 (Aquitania), 190 (Italia) usw.
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80884, und auch Bayern findet man im Text zu 778 gleichermaßen wie zu 791 - Herzog Tassilos Unterwerfung bedeutet hier keinen Einschnitt85. Auch die Nennungen der zu den aufgeführten Regionen gehörigen gentes ziehen sich konstant durch die Berichterstattung; sie erscheinen als Rebellen86 wie als mit Karl kooperierende "Verräter"87, in großer Zahl auch als Teilnehmer von Kriegszügen88. Somit ist kein geographisch-politischer Begriff, der fur das von Karl dem Großen insgesamt beherrschte Gebiet stehen könnte, in den Annales regni Francorum auszumachen; deren Text wird vielmehr von den Teilen dieses räumlich riesigen Komplexes "dominiert". Daß der König und spätere Kaiser letztlich in die immer wieder genannte Francia gehörte, deren Bewohner auch sein "Reichsvolk" bildeten89, kommt oft klar zum Ausdruck - besonders deutlich in der ständig wiederholten Wendimg, daß er nach an anderen Orten erledigten Aktionen (und hier wieder meist Kriegszügen) dorthin zurückkehrte90. Zu erwähnen ist hier endlich noch die über die gentes9] und ihre Wohnsitze hinausreichende Einteilung in Gallia und Germania, die beiden durch den Rhein geschiedenen Großregionen. Sie tauchen in den Annalen sowohl zusammen als auch getrennt auf: 817 entsandte Kaiser Ludwig der Fromme, um die Ambitionen König Bernhards von Italien zu zügeln, gegen diesen ein großes Heer ex tota Gallia atque Germania91·, die fünf in Reims, Tours, Chalons-sur-Saone, Arles und Mainz im Jahre 813 "zur Verbesserung der kirchlichen Zustände" (super statu ecclesiarum corrigendo) abgehaltenen Konzilien tagten jedoch allein per totam Galliam93. Auch hier
84 Ebenda ad a. 753, 10: Pippinus rex in Saxonia iter fecit; ad a. 780, 54-56: Tunc domnus Carolus rex iter peragens ad disponendam Saxoniam; ad a. 808, 125: imperator ... iubens vesano regi (= Godofrido regi Danorum) resistere, si Saxoniae terminos adgredi temptaret. 85 Ebenda ad a. 778, 50: Ibique venientes de partibus Burgundiae et Austriae vel Baioariae seu Provinciae et Septimaniae... Das Zitat zu 791 siehe ... vor Anm. 23. 86 Vgl. etwa die Zitate in Anm. 51. 87 Als Beispiel Ann. reg. Franc, ad a. 788, 80, im Zusammenhang mit der Unterwerfung des Bayernherzogs Tassilo in Ingelheim [BM2 294(285)a]:... et coeperuntfideles (!) Baioarii dicere, quod Tassilo fidem suam salvam non haberet. 88 Ebenda ad a. 787, 78: domnus rex Carolus ... iussit... exercitum fieri, id est Franci Austrasiorum, Toringi, Saxones. Ad a. 782, 60, ist das in der Süntelschlacht angeblich siegreiche Heer ein exercitus Francorum et Saxonum. Vgl. auch die Belege in Anm. 74. 89 Grundlegend immer noch H. BEUMANN, Romkaiser und fränkisches Reichsvolk, in: Festschrift E. E. Stengel zum 70. Geburtstag, 1 9 5 2 , 1 5 7 - 1 8 0 . 90 Ann. reg. Franc, ad a. 772, 34, nach dem ersten sächsischen Kriegszug: reversus est in Franciam; ad a. 7 7 4 , 4 0 , nach der Übernahme des Langobardenreiches: cum magno triumpho Franciam reversus est, ad a. 775, 42, nach einer weiteren sächsischen Heerfahrt: domnus Carolus rex ad propria (!) reversus est auxiliante Domino in Franciam. Die Beispiele lassen sich mühelos vermehren. 91 Vgl. in Zukunft H.-W. GOETZ, Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert. Herrn Prof. Goetz habe ich für die Überlassung des Manuskripts herzlich zu danken. 92 Ann. reg. Franc, ad a. 817,147. 93 Ebenda ad a. 813, 138; LUGGE, "Gallia" (wie Anm. 7), 50 mit Anm. 232, zu Mainz in der Gallia. Zu Germania vgl. u. a. die in Anm. 52 zitierte Stelle.
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trifft man also auf eine Scheidung des großen Raumes, den Karl regierte94, so daß allein der bloße regnum-Begriff als dessen einigende Klammer übrigbleibt9 . Ein umfassendes Zusammengehörigkeitsgefühl, das alle im Karlsreich lebenden Bewohner einschloß, ist vielleicht dort zu spüren, wo über eine Heerfahrt gegen die Awaren berichtet wird - gegen jenes Volk, das zuvor allzu unerträgliche Bosheit gegenüber der heiligen Kirche und dem populus christianus gezeigt haben soll96. Zwar ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß dieser populus auch andere, nicht unter dem großen Frankenkönig Stehende einschloß; doch der Zusammenhang des Textes97 macht dies nicht sehr wahrscheinlich. Stärker noch weist auf das Vorhandensein eines solchen Bewußtseins das im Annalentext sporadisch begegnende Wir-Gefühl hin, welches an den Termini nostri bzw. nostrates festzumachen ist. Mit ihnen zielten die Autoren historiographischer Werke auf eine bestimmte Gruppe, der sie sich zugehörig fühlten, und das waren in unserem Falle ausschließlich die Reichsangehörigen. Einige Beispiele seien angeführt98: Zum Jahre 797 heißt es, daß die spanische Stadt Barcelona, die von "uns" abgefallen war, "uns" durch ihren Präfekten wieder übergeben wurde99, und 817 rückten die Dänen vor die damals erst wenige Jahre bestehende Grenzfeste Itzehoe100 und suchten diese zu belagern; "da ihnen jedoch die Unsrigen tapfer widerstanden", zogen sie wieder ab101. Das hier ausgedrückte Wir-Gefuhl stellt, in seiner Entwicklung gesehen, eine erste Stufe dar: Das Bewußtsein von der Gleichartigkeit der Gruppenmitglieder beruht auf einem Vergleich mit in grundlegenden Merkmalen andersartigen Kontrahenten und kann somit als "Kontrastbewußtsein" bezeichnet werden102. Noch nicht ausgebildet war damals die Identifikation mit einer Gemeinschaft, die in sich selbst verbunden war und keine Gegenüberstellungen mehr benötigte; diese, die sich beispielsweise durch ihre königliche Spitze repräsentierte (welche dann als rex noster erschien), begegnet erst Jahrzehnte später - in den Fuldaer oder Xantener Annalen etwa103. So sehr die höfischen Annalisten 94 Ganz sicher ist in Ann. reg. Franc, ad a. 809, 129 [Imperator..., cumque ad hoc (= zur Gründung von Itzehoe gegen den Dänenkönig) per Galliam atque Germatiiam homines congregasset] sowie ebenda ad a. 817, 147 [Ad quos motus comprimendos (= gegen den Aufstand König Bernhards) cum ex tota Gallia atque Germania congregate ... magno exercitu imperator (= Ludwig der Fromme) Italiam intrare festinasset] der Doppelbegriff allein auf den von den Kaisern regierten nordalpinen Raum gerichtet. 95 GOETZ, Regnum (wie ANM. 8), 117. 96 Ann. reg. Franc, ad a. 791, 88. 97 Ebenda: cum Dei adiutorio partibus iamdictis Avarorum perrexerunt. 98 Vgl. hierzu insgesamt W. EGGERT, Das Wir-Gefuhl bei fränkischen und deutschen Geschichtsschreibern bis zum Investiturstreit, in: DERS./B. PÄTZOLD, Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern, 1984, 34-36. 99 Ann. reg. Franc, ad a. 797,100. 100 Siehe Anm. 94. 101 Ann. reg. Franc, ad a. 817, 147. Francorum exercitus und noster exercitus sind gleichgesetzt ad a. 827, 173. 102 EGGERT, Wir-Gefühl (wie Anm. 98), 35 f.; vgl. auch ebenda, 169, mit der Vermutung, daß letzten Endes dieses Wir-Gefühl doch auf die eigentlichen Franken zielte. 103 Ebenda 49 f. und 55-57 (56 mit Anm. 275: Karl der Große als imperator noster in den Annales Xantenses) und öfter.
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unter Karl dem Großen und teilweise später unter seinem Sohn auch ihren Herrscher ins Zentrum ihrer Berichterstattung stellten - sie haben es bis zu dieser Stufe noch nicht gebracht. Einige Auffälligkeiten, die sich diese leisteten, seien zum Schluß noch erwähnt. So wurden oft in jenem halben Jahrhundert, in dem die Formel Et inmutavit se numerus annorum in ... verwendet wurde104, zuvor nicht nur die Weihnachts-, sondern auch die Osteraufenthalte des Herrschers angegeben; erst spät schien man zu begreifen, daß letztere hier nicht recht hinpaßten, ließ sie dann weg und beschränkte sich auf den Tag der Geburt des Herrn, der ja damals mit dem Jahreswechsel zusammenfiel105. Wenn bei der Beschreibung solcher Aufenthalte und an ähnlichen Stellen im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts einige Male im Text Passivkonstruktionen auftauchen106, so darf vielleicht mit einiger Phantasie daran gedacht werden, daß die Hofkapelläne, die so schrieben, mitsamt dem Hof, der ja den König durch das Reich begleitete, auch in bescheidener Weise sich selbst ins Spiel bringen wollten. Last but not least fällt am Anfang des Jahresberichtes zu 807 eine geballte Menge von Himmelserscheinungen auf, die genau beschrieben werden; sie erscheinen stets mit genauem Datum107, während sonst derart präzise Zeitangaben fast ausschließlich einschneidenden Ereignissen, die die Herrscherfamilie betrafen, vorbehalten blieben108. Diese kleine Untersuchimg könnte zu dem Schluß fuhren, daß der Name "Annales regni Francorum" für unsere Quelle im Grunde nicht sehr treffend erscheint. Bei dem unleugbaren Faible, das sie zumindest in der Zeit Karls des Großen für diesen Herrscher an den Tag legt - was gewiß auch darauf zurückzufuhren war, daß er sie nicht aus dem Blick ließ -, wäre "Annales regis Francorum" wahrscheinlich besser geeignet, um sie hinreichend zu charakterisieren. Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß auch dieser Name einer vertieften Betrachtung, die hier nicht geleistet werden konnte, vielleicht nicht standhielte.
104 Siehe oben mit Anm. 24. 105 Ann. reg. Franc, ad a. 799-806, 108-122, fehlt die Osterangabe; ad a. 807, 124, ist der Osteraufenthalt des laufenden Jahres verzeichnet. Ad a. 808, 127, ist gestaltet wie ad a. 759-798, 16 bis 106 (mit Ausnahme von ad a. 775,42; ad a. 780, 56; ad a. 784,68; ad a. 786, 72; ad a. 793, 94: nur Weihnachten): genannt werden hier erst die Weihnachts-, dann die Osterfeier, was bedeutet, daß diese Jahresberichte, sofern sie zeitgenössisch sind, erst weit im Laufe des folgenden Jahres niedergeschrieben sein können. 106 Ebenda ad a. 794, 94: Pascha celebratum est in Franconofurt; ad a. 799, 108: Celebratusque est dies natalis Domini in eodem palatio; vgl. auch ad a. 792, 90: Natalem Domini et pascha in Reganesburg (direkt nach ad a. 791, ebenda: Et celebravit domnus rex Carolus natalem Domini in Reganesburg, pascha similiter). 107 Besonders Sonnen- und Mondfinsternisse, aber auch "Durchgänge" von Planeten: ebenda ad a. 807, 122 f. So ist der "Astronomus", Verfasser einer der beiden bekannten Lebensbeschreibungen Kaiser Ludwigs des Frommen [WATTENBACH/LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 3, bearb. v. H. LÖWE, 1957, 335-338], wohl keine Einzelerscheinung am Karolingerhof gewesen. 108 Zu Karls des Großen Tod vgl. das Zitat in Anm. 69, zu dem seines Bruders Karlmann das in Anm. 54. Zu beider Regierungsantritt vor Anm. 36; zum Tod des Kaisersohnes Karl in Anm. 63; zu dem von Karls Gemahlinnen Hildegard und Liutgard mit Anm. 60 und 62.
Egon Boshof Karl der Kahle - novus Karolus magnus?
Die berühmte Metzer Reiterstatuette, die Plakat und Programm der Leipziger Mediävistentagung zierte, wird heute allgemein als Darstellung eines karolingischen Herrschers mit Karl dem Kahlen in Verbindung gebracht. Daß sie in der Metzer Kathedrale aufbewahrt wurde - sicher belegt allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert gab Anlaß zu der Vermutung, sie sei von dem Karolinger bei der Annexion Lotharingiens 869 in Auftrag gegeben worden, um die neuen Herrschafts Verhältnisse zu dokumentieren: ein "Zeichen"" für die Präsenz des Herrschers in seinem neu erworbenen Königreich, zugleich aber ein Hinweis auf Karl den Großen, dessen Namen der König trug und als Verpflichtung verstanden habe. In dieser Deutung erscheint also die Statuette als "Herrschaftszeichcn" und "Erinnerungsbild" in einem und gleichsam als eine Kontamination von Großvater und Enkel 1 . Die Namensgleichhcit beider hat bereits auf die Zeitgenossen eine gewisse Suggestivkraft ausgeübt, und häufig begegnet in Gedichten und Traktaten der Vergleich, der die ganze Skala von bloßem Hinweis auf die verwandtschaftliche Beziehung bis hin zur Rühmung des Enkels als novus Kamins magnus umfaßt. Die moderne Forschung hat sich davon nicht selten inspirieren lassen und ein Bild von dem Sohne Ludwigs des Frommen und der Judith gezeichnet; das ihn zum wahren Nachfolger Karls des Großen und Erben seiner geistig-künstlerischen Interessen wie seiner politischen Ziele stilisierte. Der westfränkischc König, dem die Mutter eine
1 P. F.. SCHRAMM - F. MCTHKRICH. Denkmale der deutschen Könige und Kaiser I, 2. erg. Aull. 1981, 137 f.. 481 u. Abb. 207; P. F. SCHRAMM. Die deutsehen Kaiser und Könige M Bildern ihrer Zeit 751-1190. Neuaull, bearb. v. F. Μ ι ; π π · : κ ι α ι , 1983. 58 f.. 173 1". Dazu P. F. SCHRAMM. Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert. ? 1960, 30 f.: F. MLTHHRICH. Bemerkungen zur Metzer Reiterstatuette (Colloquium über spätantike u. trühmal. Skulptur 3, 19721 1974, 39-43: J. M. WAI.LACK-HADRILI.. A Carolmgian Renaissance Prince: The F.mperor Charles the Bald 1978, publ. 1980, 156-184, zu oben 173: N. STALBACH. Rex Christianus. I lotkultur und Herrschaftspropaganda im Reich Karls des Kahlen. Γ. II: Die Grundlegung der religion rovale'. 1993. 221 A N M . 3 8 3 ; .1. I I C B K R T - J. P O R C H H R - W . F . V O I . B A C H . D i e K u n s t d e r K a r o l m g e r .
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1969. 355 mit
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Erziehung angedeihen ließ, die ihn für Kunst, Literatur und theologische Fragen aufgeschlossen machte, scharte wie sein Großvater Dichter und Gelehrte um sich, die seinen Hof erneut zum Zentrum von Kunst und Literatur machten; er setzte damit Impulse für ein Wiederaufblühen der Kultur, das man als eine "zweite karolingische Renaissance" charakterisierte, wodurch eine unmittelbare Beziehung zu der ebenso bezeichneten kulturellen Hochblüte unter Karl dem Großen hergestellt wurde, die die Epoche Ludwigs des Frommen völlig in den Schatten treten ließ2 Wie selbstverständlich wird dem Enkel unterstellt, daß er zeitlebens das Ziel verfolgt habe, das "alte Karlsreich" wiederherzustellen, und er seinen Namen in diesem Sinne als Verpflichtung empfunden habe3, ja, daß er durch "Kukurtaten" "die Anwartschaft auf Kaiserkrone und Karlsnachfolge" habe befestigen wollen4. Im Zusammenhang mit der Vorstellung von einer "zweiten karolingischen Renaissance" spielt die These von der Existenz einer Hofschule Karls eine wichtige Rolle. Unter diesem Begriff faßt man eine Gruppe von Schreibern und Malern zusammen, die eine Anzahl von Handschriften im Auftrag des Herrschers oder zu seinem persönlichen Gebrauch geschaffen haben5. Dem Skriptorium, dessen Tätigkeit sich nach etwa 855, dem Todesjahr des Bischofs Drogo von Metz und dem dadurch bedingten Ende der Metzer Schule, zu entfalten begann und in der Schlußphase der Regierung Karls auf den Höhepunkt gelangte, wird die durch Karls Mäzenatentum getragene Bibliothek zugeordnet. Schwieriger läßt sich - vor allem wenn man einen Vergleich zur sogenannten Hofakademie Karls des Großen zieht - das Verhältnis der Gelehrten in der Umgebung des Herrschers zu dieser Institution bestimmen. Wahrscheinlich haben sich überhaupt nur zwei oder drei, nämlich Lupus von Ferneres und Johannes Scottus Eriugena sowie ein gewisser Manno, dem mitunter die Titel philosophus und scholasticus beigelegt werden, längere Zeit am Hofe aufgehalten6. Die vor allem in der kunsthistorischen Forschung vertretene These von der Existenz einer 2 Vgl. STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 12 f. (mit weiterer Lit.); Ε. BOSHOF, Ludwig der Fromme, 1996,260 f. 3 N. STAUBACH, Das Herrscherbild Karls des Kahlen. Formen und Funktionen monarchischer Repräsentation im früheren Mittelalter. I. Teil, Phil. Diss. Münster 1 9 8 1 , 1 7 f.; WALLACE-HADRILL, Carolingian Prince (wie Anm. 1), 1 6 7 . Vgl. auch W . J. DIEBOLD, NOS quoque morem illius imitari cupientes. Charles the Bald's Evocation and Imitation of Charlemagne, in: Archiv fur Kulturgeschichte 75, 1993,271-300. 4
STAUBACH, R e x Christianus (wie Anm. 1), 14.
5 SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 131 Nr. 43 (vgl. die weiteren Nummern); P. RICHE, Charles le Chauve et la culture de son temps, in: Jean Scot Erigene et l'histoire de la philosophie medievale, hg. v. R . ROQUES, 1977, 37-46; W. KOEHI.ER - F . MÜTHERICH, Die Hofschule Karls des Kahlen. Text- und Tafelband, 1982, 9 ff.; J. FLECKENSTEIN, Die Hofkapelle der deutschen Könige 1: Grundlegung. Die karolingische Hofkapelle, 1959, 159. 6 Dazu R. MCKITTERICK, The Palace School of Charles the Bald, in: Charles the Bald: Court and Kingdom. Papers based on a Colloquium held in London in April 1 9 7 9 , edd. by Μ. GIBSON - J. N E L S O N - D. GANZ, 1 9 8 1 , 3 8 5 - 4 0 0 (trotz gewisser Skepsis kommt sie S. 3 8 5 zu dem Urteil: "Nevertheless it is clear that a "palace school" of some kind existed"). Zu Manno vgl. auch: W. WATTENBACH - W . L E V I S O N - H . LÖWE, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 1 9 5 2 - 1 9 9 0 , 540.
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Hofschule begegnet daher von anderer Seite eher skeptischer oder kritischer Einschätzung 7 . Zu denken gibt auch, daß neben der prunkvollen Ausstattung gerade ein nicht zu übersehender Stileklektizismus, der Elemente früherer bedeutender karolingischer Schulen miteinander verknüpft, als ein wesentliches Merkmal dieser Handschriftengruppe herausgestellt wird, zu der unter anderem der Codex Aureus aus St. Emmeram/Regensburg, das Gebetbuch und der Psalter Karls des Kahlen und das Metzer Sakramentarfragment, nicht aber die der Schule von Tours zugeschriebene Vivian-Bibel und die vielleicht in Reims entstandene Bibel von San Paolo fuori le mura gehören 8 . Es kommt daher nicht von ungefähr, daß eine Lokalisierung der Institution kaum möglich erscheint; diskutiert wurden Corbie, Laon, Compiegne, Saint-Denis, Reims und Soissons, bis man sich schließlich mit der eher vagen Verortung in der "Residenzlandschaft" zwischen Aisne und Oise begnügt hat 9 . In unserem Zusammenhang sind die Herrscherbilder einiger Handschriften mit ihren Tituli von besonderem Interesse, insofern sie möglicherweise das herrscherliche Selbstverständnis Karls widerspiegeln und sich daher vielleicht in die Karlstradition einordnen lassen, wenn diese tatsächlich für die Herrschaftskonzeption des westfränkischen Königs konstitutiv ist. Wir kommen darauf zurück. Zunächst sind jedoch einige methodische Grundprobleme zu klären, die in der Literatur nicht immer genügend reflektiert erscheinen. Die Namensgleichheit mit dem Großvater hat, wie bereits gesagt, zu weitreichenden Spekulationen Anlaß gegeben, die aus ihr das "dynastisch-politische Programm einer besonderen Nachfolge Karls des Großen" ableiteten10. Anfangs von außen dem Karlsenkel vorgezeichnet, habe dieser es schließlich "bewußt übernommen" und sich angeeignet. Genau dies, der Prozeß der Aneignung, ist also zu belegen. Dabei dürfte wohl die Namensgebung selbst jeglicher Spekulation entzogen sein11. Als die Kaiserin Judith ihrem Gemahl Ludwig am 13. Juni 823 einen Sohn schenkte, waren die karolingischen Königsnamen Lothar, Ludwig und Pippin bereits an die Söhne aus des Kaisers erster Ehe vergeben; es blieb nur noch die Wahl zwischen Karl und Karlmann, und es leuchtet ohne weiteres ein, daß man sich für den Namen des berühmten Großvaters entschied und nicht an dessen einstigen, aber erfolglosen Rivalen anknüpfte.
7 MCKITTERICK (wie Anm. 6); vgl. auch DIES., Charles the Bald (823-877) and his library. The patronage of learning, in: English Historical Review 95, 1980, 28-47, zu oben 36; WALLACE-HADRILL, Carolingian Prince (wie Anm. 1), 168 f.; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 41 f., P. GODMAN, The poetry of the Carolingian Renaissance, 1985, 56 ff. Vgl. auch mit positiver Wertung: B. BISCHOFF, Das Problem der karolingischen Hofschulen, in: 23. Versammlung deutscher Historiker in Ulm. Beiheft zur Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1956, 50 f. 8 Vgl. die betreffenden Katalognummern bei SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 130 f f , sowie die Übersicht bei KOEHLER - MÜTHERICH; ZU Einzelheiten jeweils unten. 9
KOEHLER - MÜTHERICH, H o f s c h u l e ( w i e A n m . 5 ) , 1 3 ff., 7 1 ; DIEBOLD, NOS q u o q u e ( w i e A n m . 3 ) ,
276.
10 STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 201; ferner DERS., Herrscherbild (wie Anm. 3), 53 IT. 11 Vgl. aber STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 56 ff.; DIEBOLD, NOS quoque (wie Anm. 3), 289: "'The most obvious and, to the Carolingians, the most important way in which Charles imitated his grandfather was in name."
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Als erster hat Ermoldus Nigellus in seinem Lobgedicht auf Ludwig den Frommen den Namensvergleich verwendet: Er rühmt an Karl, daß ihn des Vaters Tugend (virtus) und des Großvaters Name (nomen) auszeichnen12. Auch Walahfrid Strabo stellt vom Namen her eine Beziehung seines Schülers zum Großvater her, aber dies geschieht bezeichnenderweise in der Form einer Gebetsbitte: Christus möge gewähren, daß der Knabe dem, dessen Namen er trägt, in seinen Taten und Tugenden nacheifere13. Im übrigen hat der Dichter in einem an Karl selbst gerichteten Gedicht den sittlichen Adel über die königliche Abstammung gestellt und ein Abweichen von der Frömmigkeit des Vaters als das eigentliche Vergehen, als Entartung (degenerare) gegeißelt14. Die beiden Beispiele verdeutlichen das methodische Problem. In der paränetischen und der panegyrischen Literatur sind mannigfache Formen des Vergleichs möglich. Sie haben zunächst nichts mit dem Selbstverständnis des Angesprochenen zu tun, sondern bringen eine Intention des Verfassers zum Ausdruck: Die causa scribendi kann die Hoffnung auf Lohn, der Wunsch, einen Förderer zu finden, bloße Propaganda, oder im Sinne der Fürstenspiegelliteratur die Ermahnung, die Beschwörung eines Vorbildes sein. Der Erwerb der Kaiserkrone durch Karl im Jahre 875 ist jüngst als "das Ergebnis planmäßig-konsequenter Erfüllung eines Programms der Nachfolge Karls des Großen durch dessen gleichnamigen Enkel" interpretiert worden15. Damit wird unterstellt, daß der Westfranke von Anfang an im Banne der verpflichtenden Kraft des großväterlichen Namens und Vorbilds eine zielgerichtete Politik verfolgt habe, die in der Kaiserkrönung an Weihnachten 875 - in Parallele zum Geschehen des Weihnachtstages 800 gesetzt ihren glorreichen Abschluß fand. Das ist eine Deutung ex eventu. Sie unterschätzt die Wirkung der mannigfachen dynastischen Zufälle, die ein solches Ergebnis erst möglich machten. Karl hat das sukzessive Erlöschen des Mannesstammes der lotharischen Linie konsequent genutzt, dabei auch Rückschläge hinnehmen müssen wie 870 die Teilung von Meersen, schließlich mit Hilfe des Papsttums und unter Mißachtung der Nachfolgepläne Ludwigs II. und der Kaiserin Angilberga die ostfränkische Karolingerlinie überspielt16. Machtpolitisches Kalkül und dynastisches Denken verbinden sich in seinem Handeln; den Rahmen bildet das als ideelle Einheit immer noch bestehende fränkische Großreich, das aber auch für Ludwig den Deutschen und seine Söhne das Aktionsfeld darstellt, auf dem sie ihre Ambitionen auf Vergrößerung
12 Ermold le Noir, Poeme sur Louis le Pieux et epitres au roi Pepin. Ed. et trad, par Ε. FARAL, 1964, 184 Vers 2411 f.: Hunc (seil. Karl) puerile decus hirtc inde frequentat et ambit, / Hunc patris virtus, nomen et omat avi... Dazu BOSHOF, Ludwig der Fromme (wie Anm. 2), 63. 13 De imagine Tetrici, hg. v. E. DÜMMLER, MGH Poet. Lat. II, 1884, 187: Nomine quem sequitur, factis, da Christe sequatur /Moribus...; vgl. STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 60 ff. 14 Ad Karolum, ebd. 382 (Nr. 28): De pietate patrispotius, quam stemmate regni /Degenerare ulla conditione time. 15
STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 335.
16 Zur Ereignisgeschichte: E. DÜMMLER, Geschichte des ostfränkischen Reiches, Bd. 2, 21887, 339351, 383-399; J. L. NELSON, Charles the Bald, 1992, 221 ff.; zu Angilberga: Ch. E. ODEGAARD, The
empress Engelberge, in: Speculum 26, 1951, 77-103; zur päpstlichen Politik: A. LAPÖTRE, L'Europe et le Saint-Siege ä l'epoque Carolingienne. Premiere partie: Le pape Jean VIII (872-882), 1895; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 335 ff.
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ihrer Herrschaftsbereiche und letztlich auch den Gewinn der Kaiserkrone zu verwirklichen suchten. Die Päpste Hadrian II. und Johannes VIII. haben sich für Karl den Kahlen nicht deshalb entschieden, weil er den Namen seines Großvaters trug und sich vielleicht propagandistisch als dessen Erbe stilisierte17, sondern weil er ihnen unter den gegebenen Umständen am ehesten die Gewähr zu bieten schien, ihre politischen Vorstellungen zu verwirklichen. In jüngster Zeit hat sich neben der englischen Forschung 18 vor allem Nikolaus Staubach intensiv mit dem Selbst- und Herrschaftsverständnis des Karolingers befaßt. Mit großem gelehrten Aufwand hat er die Zeugnisse aus Literatur und Kunst gesichtet und sich dabei auch eingehend mit dem oben skizzierten methodischen Problem auseinandergesetzt. Indem er von einem "erweiterten Begriff der 'Selbstdarstellung'"' 9 ausgeht, versteht er das in der Panegvrik und in anderen literarischen Zeugnissen, in Fürstenspiegeln, theologischen Traktaten und Krönungsordines, entwickelte Herrscherideal - und der Großvater-Enkel-Vergleich ist ein Teilaspekt derartiger Vorstellungen - als Ausdruck einer "Art 'Rollen'- oder Amtsbewußtsein des Königs, das wesentlich zu seinem Selbstbild gehörte" 20 ; indem er mit der Kategorie der "intentionalen Kongruenz" 21 operiert, ist er dann im Einzelfall der Notwendigkeit enthoben, streng zwischen Selbstaussage und Fremdaussage zu unterscheiden. Wenn der Astronomus die Ausstattung Karls im Jahre 838 mit Neustrien so kommentiert, daß dem Prinzen damit der Reichsteil zugewiesen worden sei, den einst der den gleichen Namen tragende Karl innegehabt habe - quam homonimus eins Karolus habuit22 - , dann ist das nicht mehr als eine sachliche Feststellung; Staubach deutet die Notiz allerdings als Hinweis darauf, daß Karl "als der besonders privilegierte Erbe das vom Großvater überkommene Vermächtnis" angetreten habe 3. Aus der Tatsache, daß Karl Nithard den Auftrag gegeben hat, die Geschichte seiner Zeit aufzuzeichnen 24 , folgert Staubach, daß das Werk aufgrund dieser Entstehungsbedingungen "nicht nur die Funktion, sondern auch den Wahrheitswert einer Selbstdarstellung des jungen Königs" habe 25 . Aber der Historiograph ist in erster Linie ein unbestechlicher Kritiker der krisengeschüttelten fränkischen Gesellschaft seiner Zeit, und wenn seine "Historien" eine antilotharische Tendenz verfolgen, so ist doch nicht Karl allein der für Frieden und Gerechtigkeit eintretende Gegenspieler des 17 So implizit STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 340 ff. 1 8 Vgl. WALLACE-HADRILL (wie Anm. 1); J. L . NELSON (wie Anm. Bald (wie Anm. 6). 19
Sammelband: Charles the
STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 18.
20 Ebd. 21 Ebd., 20. 22 Astronomus, Vita Hludowici imp., hg. u. übers, v. E. 526/527 c. 59. 23
16);
TREMP
(MGH SS rer. Germ. 64), 1995,
STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 77.
Nithard, Historiarum libri I U I , 1. I, Prooemium, rec. E . MÜLLER (MGH S S rer. Germ. [ 4 4 . ] ) , 3 1 9 0 7 , 1: Cum, ut optime, mi domine, nosti, iam poene annis duobus illatam a fratre vestro persecutionem vos vestrique haudquaquam meriti pateremini, ... precepistis, ut res vestris temporibus gestas stili officio memoriae traderem. 24
25
STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 78.
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Kaisers, sondern es sind "die besseren Brüder" (fratres meliores), denen nach dem Urteil der Bischöfe durch das Gottesurteil der Schlacht von Fontenoy das Reich zugefallen ist26; Ludwig der Deutsche ist also nicht minder ein Werkzeug der Vorsehung als Karl. Dort, wo die friedvollen Zeiten und die erfolgreiche Herrschaft Karls des Großen beschworen werden27, dürfte man vielleicht einen Vergleich mit dem Enkel oder einen vorausweisenden, sozusagen prophetischen Hinweis erwarten. Sie bleiben jedoch aus. Die Kritik an Staubachs Thesen läßt sich noch weiter zuspitzen. Er sieht in Sedulius Scottus einen der wichtigsten Propagandisten des westfränkischen Karolingers28; allerdings vermag seine Zuordnung des Fürstenspiegels "De rectoribus christianis" zu Karl dem Kahlen, die Datierung in die Zeit der Metzer Krönung 869 und die Interpretation des Traktates als "indirekte Selbstdarstellung"29 nicht wirklich zu überzeugen. Da aber der Karlsvergleich hier ohnehin keine Rolle spielt, sondern in der Betonung der Weisheit als auszeichnendes Merkmal des Herrschers das SalomonExempel von zentraler Bedeutung ist, sind diese Fragen im Rahmen unserer Überlegungen nicht weiter von Belang. Unter den zahlreichen Gedichten, die Sedulius verschiedenen Personen, Gönnern und solchen, die er als Mäzene gewinnen wollte, widmete, sind fünf an den westfränkischen Herrscher gerichtet30. Das Carmen 1231 apostrophiert ihn im Eingang als Sproß des großen Karl (flos magni Karoli), zugleich aber auch als Nachkommen des berühmten Ludwig, und parallelisiert diese Herkunftsbestimmung später mit der alttestamentlichen Generationenfolge von Abraham, Isaac und Jakob; im übrigen aber steht der Salomonvergleich im Zentrum des Lobpreises. Ob die Bezugnahme auf Jakob bewußt die Vorzugsstellung Karls vor seinem erstgeborenen Bruder - und damit letztlich den Anspruch auf das Kaisertum und das ganze Reich - impliziert32, bleibe zunächst dahingestellt. Sehr viel deutlicher und plakativer stellt das Carmen 1433 den Vergleich zwischen dem Großvater (priscus Karolus) und dem Enkel (novus Karolus) her und leitet daraus die Aufforderung an die Francia ab, den Adressaten des Gedichtes, dessen edle Abstammung über den
26 Nithard IV 1 (wie Anm. 24), 40. 27 Nithard 11 (wie Anm. 24), 1 f. sowie IV 7, 49: Narrt temporibus bone recordations Magni Karoli ..., quoniam hie populus unam eandemque rectam ac per hoc viam Domini publicam incedebat, pax Ulis atque concordia ubique erat, at nunc econtra ... ubique dissensiones et rixae sunt manifestae. 28 STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 105-221 ("Sedulius Scottus als Propagandist Karls des Kahlen 869/870"). 29 Ebd., 188-197; Zitat: 196. Zu diesem Fürstenspiegel vgl. Η. H. ANTON, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit, 1968, 261 ff. (Lothar II. als Adressat); D. SIMPSON, Sedulii Scotti Collectaneum Miscellaneum (CC Cont. med. LXVII), 1988, XXIV Anm. 41 (Karl als Adressat). 30 MGH Poet. Lat. III, hg. v. L.TRAUBE, 1886-1896,180 ff Carmina 12,14, 15,28,44. 31 MGH Poet. Lat. III, 180 f.; ausführliche Interpretation: STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 200-210.
32
So STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 205 u. 207 f.
33 MGH Poet. Lat. III, 182; dazu STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 210 ff.
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Großvater hinaus durch Vater und Mutter verdreifacht wird34, mit Freuden zu empfangen - angespielt ist damit wohl auf die Ankunft Karls in Metz und Aachen 869/870. Als besonders aufschlußreich erweist sich dann aber ein Gedicht, das Karl den Kahlen und Ludwig den Deutschen anläßlich einer Zusammenkunft - möglicherweise bei der Aufteilung des Lotharreiches in Meersen 870 - rühmt als die gemini fratres, das Brüderpaar, das - und diese Verse sind als Gebet stilisiert - unter Gottes Schutz die Völker gemeinsam regieren möge35. Wenn die chronologische Einordnung richtig ist, dann hatte sich Sedulius Scottus schnell dem Wandel der politischen Lage angepaßt. Ein weiteres Gedicht auf Ludwig den Deutschen, das vielleicht nach Meersen entstanden ist, unterstreicht diesen Sachverhalt noch: Das Carmen 30 preist nun den ostfränkischen Herrscher als Erben karolingischer Größe, als Sproß des großen Karl (flos magni Karoli), dessen Ruhm den Erdkreis erfüllt36. Der irische Poet, der in Lüttich eine neue Heimat gefunden hatte37, hatte seine Hoffnungen zunächst auf das Haus Lothars gesetzt. So begrüßte er auch diesen Nachfolger Ludwigs des Frommen als Sproß des großen Karl und neuen Salomon38, und im Sarazenenbezwinger Ludwig II. schien ihm der Urgroßvater in alter Kraft wiedererstanden zu sein39. Die schwülstige Panegyrik schlägt aber um ins Lächerliche, wenn er Lothars jüngsten, an Epilepsie leidenden Sohn Karl, der bis zu seinem frühen Tod im Januar 863 sich nur mühsam in seinem provenzalischen Teilreich behaupten konnte, als neuen Karl (novus Karolus) aus dem Geschlecht des großen Karl apostrophiert und als Hoffnungsträger des fränkischen Volkes feiert40. Die panegyrischen Formeln erweisen sich als austauschbar; der Dichter hatte keine Schwierigkeiten, sie als Versatzstücke zu verwenden und zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Personen zu übertragen und an unterschiedliche Situationen anzupassen41. Wie Karl der Kahle so werden auch Lothar und Ludwig der Deutsche mit Salomon verglichen, und Karl der Große als das verpflichtende Vorbild spiegelt sich 34 Carmen 14, Vers 1 f.: Dicite: cui, populi, conceditur ampla potestas /ιam prisci Karoli? norme novo Karolo? ...; Vers 7 ff.: Nobilis emicuit Karolus de semine regum / Europae princeps, imperiale decus: / In hoc nobilitas triplicaturprincipe celso: / et patris et Iudith atque sui Karoli. 35 Carmen 15 MGH Poet. Lat. III, 183; dazu STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 216-220. 36 MGH Poet. Lat. III, 195 ff; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 220 ("Motive aus allen diesen Carmina... verarbeitet"!). 37
WATTENBACH - LEVISON - LÖWE, G e s c h i c h t s q u e l l e n
(wie Anm.
6),
905-909;
Lexikon
des
Mittelalters VII, 1995, 1667 f. 38 Carmen 59 MGH Poet. Lat. III, 216. 39 Carmen 25 b MGH Poet. Lat. III, 191 Vers 27 f 40 Carmen 23 MGH Poet. Lat. III, 189 Vers 1-6: Splendide palmes, ave, Francorum gloria gentis, / Spes magni populi, splendide palmes, ave, / Aurea nobilitas, soboles benedicta Lothari, / Flos Ermingardis, aurea nobilitas. /'Hie novus est Karolus Karoli de semine magni. / Omnes laetemur, hic novus est Karolus... Zu Karl vgl. R. POUPARDIN, Le royaume de Provence sous les Carolingiens (855933?), 1901, 1-32. 41 Vgl. P. GODMAN, Poets and Emperors. Frankish politics and Carolingian poetry, 1987, 159 (bezogen auf das Carmen 15 [vgl. Anm. 35]): "and behind the heated enthusiasm of the poet's rhetoric lies a cool calculation that what he declares to be exclusively pertinent to those two monarchs could be reapplied, if necessary, to others."
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nicht allein im gleichnamigen Enkel wider. Die Gleichnamigkeit hat ohnehin nur assoziative Funktion; es ist schwer vorstellbar, daß das, was aus panegyrischen oder paränetischen Motiven daraus gefolgert wurde, von Karl dem Kahlen "bewußt übernommen"42 und damit zu einem konstitutiven Bestandteil seines Selbstverständnisses und seiner herrschaftlichen Ambitionen geworden wäre. In gleicher Weise wird man einige andere in unserem Zusammenhang verwendete Zeugnisse deuten dürfen. Frechulf von Lisieux hat den zweiten Teil seiner Weltchronik der Kaiserin Judith gewidmet und als Fürstenspiegel fur ihren Sohn empfohlen43. Es lag nahe, den jungen Prinzen, den der Autor in höchsten Tönen preist, mit dem Großvater zu vergleichen, der im Enkel wieder zum Leben erwacht, um der Welt neuen Glanz zu verleihen44 - das mag den Knaben beeindruckt haben, aber Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Frechulf war es darum zu tun, eine Gönnerin zu finden. Auch Paschasius Radbertus sucht in seinem Widmungsgedicht zum Traktat "De corpore et sanguine Domini" um die Unterstützung Karls nach; er stilisiert ihn zum Philosophenkönig, beläßt es aber in der Anspielung auf den großen Vorfahren beim bloßen Namensvergleich45. Zu beachten ist ferner, daß es nicht allein der Großvater ist, der als Vorbild beschworen wird, dem Vater Ludwig wird ebenfalls nicht selten eine solche Funktion zugeschrieben, und selbst der proavus, der Vorfahr Karl Martell, wird - hier also wieder unter dem Vorzeichen der Namensgleichheit - dem Nachfahren als Beispiel vor Augen gestellt40. Das sogenannte "Carmen de exordio gentis Francorum", die versifizierte Fassung einer Karolingergenealogie aus den Anfängen der Regierungszeit Karls, ist, wenn man dem Autor Glauben schenken darf, vom Westfrankenkönig selbst
42
So STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 201.
43 Dazu STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 71 ff.; ANTON, Fürstenspiegel (wie Anm. 29), 86 Anm. 50. Zu Frechulf: F.-J. SCHMALE, in: Lexikon des Mittelalters IV, 1989, 882 f. 4 4 Widmungsbrief an die Kaiserin Judith: hg. v. E. DÜMMLER - K . HAMPE, 1 8 9 8 - 1 8 9 9 , M G H Epp. V, 319 Nr. 14: (seinem Alter vorauseilend elegantia corporis ac moribus optimis seu agili prudentiae studio) ut videatur avus eius non obisse, sed potius detersa caligine somni, novum inlustrare orbem, siquidem in nepote inmortale ipsius ingenium una cum nomine decor et virtus splendeant. 4 5 Pascasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini, ed. B . PAULUS (CC Cont. med. X V I ) , 1 9 6 9 , 2 (Widmungsgedicht): Rex virtute potens, Sophiae quem splendor adornat, / Karole cui nomen serie descendit avita...; dazu STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 27 FF 46 Beispiele: Hucbald v. Saint-Amand, Widmungsgedicht zum Carmen de sobrietate des Milo, hg. v. L.TRAUBE, 1 8 8 6 - 1 8 9 6 , MGH Poet. Lat. III, 6 1 0 Nr. III: Aurea lux mundi, Francorum gloria regni, / Inclite Caesar, ave, spes et honor patriae / A proavis nomen retinens, pariter quoque numen ... Ratramnus v. Corbie, Widmungsgedicht zu "De praedestinatione", hg. v. E.DÜMMLER - E . PERELS, 1 9 0 2 - 1 9 2 5 , MGH Epp. V I , 1 5 0 : ... siquidem gloriosae memoriae augusti pater et avus et virtutum armis et sapientiae decore et religionis sublimitate adeo effulserunt, ut ... et posteris imitationis exempla relinquerunt; a quibus ut originem sanguinis ducitis, ita utriusque parentes et virtutem et religionem possidetis. - Pseudo-Hinkmar, Migne PL 125, col. 931: Avum et homonymum tuum dicimus, Ecclesiae sanctae doctrinae et fidei propugnatorem, sed et genitorem, totius bonitatis atque pietatis decus insigne. - Zu Hucbald: STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 2 6 5 ff; GODMAN, Poets (wie Anm. 41), 178 f. ("Charles is dignified with a conventional likeness to Solomon"). - Zu Pseudo-Hinkmar: STAUBACH, 3 4 ff - Zu Ratramnus: ebd., 3 8 ff.
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in Auftrag gegeben worden 47 . Er erscheint als das Schlußglied einer langen Reihe bedeutender Vorfahren, deren er sich würdig erweisen soll. Karl der Große nimmt darin den überragenden Platz ein, und der Autor hofft, daß der Enkel der im Namen gegebenen Verpflichtung gerecht wird. Aber das Vorbild des Vaters ist nicht minder bedeutsam; beiden soll der junge Herrscher nacheifern. Über die hier zitierten Stimmen des Herrscherlobes ist Heiric von Auxerre weit hinausgegangen. Er hat es im Widmungsschreiben zur Vita s. Germani gewagt, den Westfrankenkönig, der inzwischen zum Kaisertum aufgestiegen war, als Förderer der Wissenschaften (immortales disciplinae) noch über seinen berühmten Großvater zu stellen 48 , ein Urteil, das von den Teilnehmern der im Zusammenhang mit der Kaiserkrönung 877 abgehaltenen Synode von Ravenna offenbar geteilt wurde 49 - frühe Beispiele also für die Vorstellung von einer "zweiten karolingischen Renaissance". Es ist zweifellos das Verdienst Staubachs, die Aufmerksamkeit der Historiker stärker auf die literarischen Zeugnisse gelenkt zu haben, aber für eine Deutung des Selbst- und Herrschaftsverständnisses Karls sind diese panegyrischen und paränetischen Texte, die Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen artikulieren, nur sehr bedingt brauchbar. Aussagekräftiger erscheinen uns jene Zeugnisse, die wie die Urkunden und Kapitularien die Regierungstätigkeit unmittelbar widerspiegeln oder in den Bereich der "Staatssymbolik" im weiteren Sinne gehören. Bei ihnen ist eher davon auszugehen, daß der Herrscher eigene Vorstellungen eingebracht oder Einfluß auf Gestaltung und Formulierungen genommen hat. Daß Karl der Kahle die Form des Monogramms von Karl dem Großen übernommen hat, bedarf keiner tieferen Begründung. In der Münzprägung wie in der Gestaltung der Siegel hat man sich in einzelnen Stilelementen an beiden Vorgängern, Ludwig dem Frommen und Karl dem Großen, ausgerichtet, dabei aber auch eigene Vorstellungen eingebracht 50 . Die hier faßbare Programmatik hält sich im Rahmen der karolingischen Tradition. Der Befund der Kapitularien erlaubt keine weitreichenden Schlußfolgerungen. In der Regel wird auf frühere gesetzgeberische Maßnahmen mit einfacher Nennung von Vater und Großvater Bezug genommen, mitunter wird aus deren Kapitularien zitiert; ganz selten wird die Rechtskontinuität eigens betont - sicut temporibus avi et paths nostri iusta et rationabilis consuetudo fuit - oder der Wille des
47 MGH Poet. Lat. II, 141-145; dazu O. G. OEXLE, Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf, in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, 250-364, zu oben: 263 ff.; STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3), 89 ff. 48 MGH Poet. Lat. III, 429: quod famosissimi avi vestri Karoli Studium erga inmortales disciplinas non modo ex aequo repraesentatis, verum etiam incomparabili fervore transcenditis ... Dazu STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 340 Anm. 16; GODMAN, Poets (wie Anm. 41), 175. 49 W. A. ECKHARDT, Das Protokoll von Ravenna 877 über die Kaiserkrönung Karls des Kahlen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 23, 1967, 295-311, zu oben 305: Karl der Kahle avitum Studium vicit et universum paternum certamen in causa religionis atque iustitiae superavit... 50 Ph. GRIERSON, The 'Gratia Dei Rex' Coinage of Charles the Bald, in: Charles the Bald (wie Anm. 6), 39-51; vgl. auch die Abb. bei SCHRAMM - MÜTHERICH, Kaiser und Könige (wie Anm. 1), 305 (mit den Kommentaren 165 f.).
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Herrschers zum Ausdruck gebracht, das Beispiel der großen Vorgänger nachzuahmen51. Eine Vorrangstellung Karls des Großen als Gesetzgeber ist nirgendwo erkennbar. Wer sich aus den Diplomen mehr Aufschlüsse über Karls Verhältnis zum Großvater erwarten sollte, wird enttäuscht. Über eine von der Sache her erzwungene Berufung auf den Vorgänger als den Aussteller von Vorurkunden geht die Nennung Karls des Großen meist nicht hinaus. Natürlich werden ihm die üblichen Epitheta ornantia beigelegt: magnus, gloriosus, invictissimus, serenissimus usw., aber das alles gilt in gleicher Weise für den Vater Ludwig. Dabei bleibt das Epitheton "piissimus ", wenn wir richtig sehen, allein dem Vater vorbehalten und wird einmal auch der Mutter Judith beigelegt52. Einer eingehenderen Erörterung bedarf aber das Diplom über die Ausstattung und den Rechtsstatus des Marienstifts in der Pfalz Compiegne vom 5. Mai 87753, das schon durch seine feierliche Form - die Goldbulle und den die persönliche Mitwirkung des Ausstellers dokumentierenden Legimus-Vermerk54 - seine Bedeutung für Karl erkennen läßt. Ausdrücklich nimmt er auf das von Karl dem Großen in der Pfalz Aachen errichtete Marienstift Bezug, betont, daß dieser hier Kanoniker eingeführt habe mit der Verpflichtung, den Gebetsdienst für ihn und das Reich zu leisten, und erklärt, daß er selbst diesem Beispiel folgen wolle und daher seinerseits in seiner Pfalz Compiegne ein Kloster zu Ehren der Mutter Gottes gestiftet habe. Über die reiche Ausstattung hinaus verleiht er seiner Gründung den Rechtsstatus eines Königsklosters und überträgt den Gebetsdienst für seine Vorfahren, seine Familie und das Reich hundert Kanonikern. In einem Nebensatz wird der politische Kontext deutlich, in dem die Gründung erfolgte: Da jener Reichsteil - zu ergänzen ist: in dem Aachen lag - ihm noch nicht (nondum) zugefallen sei, habe er das Pfalzstift in seinem eigenen Herrschaftsbereich errichtet. Karl war mit seinem Zugriff auf das Lotharreich 869 gescheitert und hatte im Vertrag von Meersen 870 einer Teilung zustimmen müssen; Aachen, das er zeitweise besetzt hatte, war ihm dadurch wieder verlorengegangen. Auch der zweite Annexionsversuch nach dem Tode Ludwigs des Deutschen blieb erfolglos, da Karl, inzwischen im Besitz der Kaiserwürde, am 8. Oktober 876 von Ludwig dem Jüngeren in der Schlacht bei Andernach schwer geschlagen wurde. Die Gründung des Pfalzstifts in Compiegne dürfte nach 870 in die Wege geleitet worden sein, da die Zeit zwischen Oktober 876 und der Weihe am 5. Mai 877 für eine solche Maßnahme wohl zu knapp bemessen wäre. Wie weit die imitatio Aachens in baulicher Hinsicht ging, ist unklar; ob das von Johannes Scottus auf die Errichtung einer
51 Die Aussage beruht auf einer Durchsicht der MGH-Edition; Einzelbelege erübrigen sich; vgl. etwa: MGH Capit. II 2, hg. v. A. BORETIUS - V. KRAUSE, 1890-1897, 258 Nr. 256 (zu 844):
progenitorum nostrorum, magnorum siquidem orthodoxorumque imperatorum, avi... seu genitoris ... auctoritatem imitantes... 52 Durchsicht der Diplomata: Recueil des actes de Charles II le Chauve, roi de France, ed. par G. 3 Bde. 1943-1955. 53 D 425, ed. TESSIER (wie Anm. 52), Bd. 2, 448; dazu: R. KAISER, Aachen und Compiegne. Zwei Pfalzstädte im Mittelalter, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43, 1979, 100-119; D . LOHRMANN, Trois palais royaux de la vallee de l'Oise d'apres les travaux des erudits Mauristes: Compiegne, Choisy-auBac et Quierzy, in: Francia4, 1976,121-140. TESSIER,
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V g l . TESSIER ( w i e A n m . 5 2 ) , B d . 3 , 1 8 2 f
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Marienkirche durch Karl den Kahlen verfaßte Gedicht: "Aulae sidereae" buchstäblich auf Compiegne zu beziehen ist, bleibt umstritten 55 , Staubach interpretiert es eher als Beschreibung eines "Idealbauwerks nach biblischem Muster" 56 . Im Zusammenhang unserer Überlegungen interessiert in erster Linie die imitatio Karoli. Daß das Vorbild Karls des Großen beschworen wird und der westfränkische Herrscher seine Ambitionen auf Aachen noch nicht aufgegeben hat, das alles ist nicht zu bestreiten, und vielleicht gehört die Gründung des Pfalzstifts von Compiegne wie Aachen in den Context der Kaiserpolitik 57 . Aber das ist nicht die ganze Botschaft des Urkundentextes: Karl bezieht nämlich in sein Bemühen um imitatio alle seine Vorfahren, Könige und Kaiser, ein, und daß dies keine leere Floskel ist, wird deutlich, wenn er für den Rechtsstatus als Königskloster unter ausdrücklicher Nennung des Gründers Pippin Prüm sowie Notre-Dame-et-Saint-Jean de Laon als Beispiele zitiert. Hier artikuliert sich ein starkes dynastisches Bewußtsein, in dem nicht allein Karl der Große seinen Platz hat; zugleich aber ist dem Aussteller der Urkunde bewußt - und auch das wird in den Eingangsworten des Textes klar formuliert -, daß die Zugehörigkeit zu dem hier beschworenen stemma regium nicht in eigenem Verdienst, sondern in göttlicher Gnade begründet ist58. Das Diplom für Compiegne erweist sich damit tatsächlich als ein Schlüsseldokument für Karls des Kahlen Selbst- und Herrschaftsverständnis. Vor diesem Hintergrund findet vielleicht auch die an sich erstaunliche Tatsache eine Erklärung, daß Karl sich bei seinem Versuch, das Lotharreich zu annektieren, am 6. September 869 in Metz, in der Stadt des heiligen Arnulf, des Ahnherrn der Dynastie, und nicht in Aachen, der sedes regni des Großvaters und Vaters, zum König krönen ließ59. Aachen suchte er erst zur Feier des Weihnachtsfestes auf, und hier erfolgte dann am 22. Januar 870 die Vermählung mit Richilde, der Schwester des Grafen Boso von
55 MGH Poet. Lat. III, 550-552 (Carmen IX); dazu: A. V E R B E E K , Zentralbauten in der Nachfolge der Aachener Pfalzkapelle, in: Das erste Jahrtausend. Textband 2, 1964, 898-947; F . FOUSSARD, "Aulae sidereae", vers de Jean Scot au roi Charles, in: Cahiers archeologiques 21, 1971, 78-88; M. VIEILLARD-TROIEKOUROFF, La chapelle du palais de Charles le Chauve a Compiegne, in: ebd., 89-109; ausführlich diskutiert von STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 75-86, insbesondere: 78 Anm. 193; vgl. femer 269 ff. 56 STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 2 7 1 . 5 7 N E L S O N , Charles the Bald (wie Anm. 1 6 ) , 2 3 5 ; W A L L A C E - H A D R I L L , Carolinglan Prince (wie Aran. 1), 181 f. 58 D 425 (wie Anm. 53): Quicquid voto aut gratiarum actione Deo omnipotent! offerimus, cni non [solum eja quae habemus quaeque de manu eius accepimus sed etiam nosmetipsos debemus, qui nos et praedecessores nostros imperatores et reges nullo nostr[o] merito sed sua benignissima gratia regium in stemma evehere dignatus est... 59 O E X L E , Karolinger (wie Anm. 4 7 ) , 3 5 3 ff.; 3 5 7 ff.; 3 6 0 ; vgl. auch W . SCHLESINGER, Zur Erhebung Karls des Kahlen zum König von Lothringen 869 in Metz, in: Landschaft und Geschichte. Festschrift für F. Petri, hg. v. G. D R O E G E , P. SCHÖLLER - R. SCHÜTZEICHEL - M. Z E N D E R , 1 9 7 0 , 4 5 4 4 7 5 (Wiederabdruck in: D E R S . , Ausgewählte Aufsätze 1 9 6 5 - 1 9 7 9 . Hg. v. H. PATZE - F. SCHWIND, 1987).
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Vienne60. Metz als Krönungsstadt- das war tatsächlich ein "Rückgriff auf die Herkunftstradition des karolingischen Hauses"61. Dem Befund der Urkunden, der die Auffassung von einer Ausnahmestellung Karls des Großen im Denken seines Enkels nicht bestätigt hat, entspricht weitgehend die Praxis des Gebetsgedenkens62. Die Seelgerätsstiftungen für Ludwig den Frommen überwiegen die für andere Personen zahlenmäßig bei weitem - hier wird eine besondere Zuneigung zum Vater deutlich, Ausdruck wohl auch des Dankes fur Ludwigs unermüdliches Eintreten für die Belange des nachgeborenen Sohnes. Dazu paßt, daß die Mutter Judith den zweiten Rang in der Liste der Gebetsverpflichtungen einnimmt. Karl dem Großen aber hat der Enkel nur eine Gedächtnisstiftung zukommen lassen: Bei der Bestätigung der Mensa der Mönche von Saint-Denis am 19. September 862 ordnete der König an, daß Gedächtnismähler an den Anniversarien des Großvaters, der Tante Bertha und der Großmutter Hildegard gefeiert werden sollten63; auch in diesem Diplom wird der Vater Ludwig wieder besonders bedacht. Das Gebetsgedenken ist auf die Familie zentriert; bezeichnenderweise wird aber die Gebetspflicht der Kanoniker in der zitierten Urkunde für Compiegne auch auf die Vorfahren, die progenitores, ausgedehnt. Die hier angeführten urkundlichen Zeugnisse sind wohl mit größerem Recht als die literarischen Texte als Selbstaussagen oder Ausdruck des Selbstverständnisses Karls zu interpretieren. Auf der gleichen Ebene liegen die Briefe, in denen sich der Karolinger selbst als Verfasser nennt. Als besonders aufschlußreich für unsere Fragestellung erweist sich ein Schreiben an den Papst Hadrian II., das in einem Dossier der Akten der Synode von Douzy überliefert ist64. Diese Bischofsversammlung, die mit dem Verfahren gegen den des Meineids, Aufruhrs, Hochverrats und der Verleumdung des Königs angeklagten Bischof Hinkmar von Laon und der Hochverratsklage gegen den Königssohn Karlmann befaßt war, tagte vom 5. August bis zum 6. September 87165. Der Papst hatte sich zugunsten Hinkmars eingeschaltet, was von Karl, der sich durch Hadrians Vorwürfe persönlich herausgefordert fühlte, mit äußerster Schärfe als Kompetenzüberschreitung zurückgewiesen wurde. In den einleitenden Zeilen fordert er Hadrian auf, endlich zur Kenntnis zu nehmen - ut tandem animadvertatis -, daß er, der König, zwar auch durch menschliche Irrungen schuldig werden könne, aber dennoch hier eine Anspielung auf Genesis 1,26 - im Angesichte Gottes wandele, und daß er in der Nachfolge seines Vaters und Großvaters durch göttliche Gnade zur königlichen Würde erhoben worden sei; daß er, so fährt er fort, was noch mehr bedeute, ein
60 NELSON, Charles the Bald (wie Anm. 16), 221. 61 OEXLE, Karolinger (wie Anm. 47), 360. 62 Vgl. E. EWIG, Remarques sur la stipulation de la priere dans les chartes de Charles le Chauve, in: Clio et son regard. Melanges d'hist., d'hist. de Fart et d'archeol. offerts ä J. Stiennon, ed. par R. Lejeune et J. Deckers, 1982, 221-233. 63 D 247, ed. TESSIER (wie Anm. 52), Bd. 2, 65: ... in anniversariis divae memoriae Karoli imperatoris avi nostri et Bertae amitae nostrae atque Hildejardis reginae avae nostrae ... 64 D 358 (Regest), ed. TESSIER (wie Anm. 52), Bd. 2, 296; MGH Concilia IV. Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860-874. Hg. v. W. HARTMANN, 1998, 410-572; Edition des Briefes: 533547 (F2). 65 W. HARTMANN, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, 1989, 325 ff.
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katholischer Christ und Förderer des wahren Glaubens sei, von Kindheit an in den heiligen Schriften, im kirchlichen und weltlichen Recht ausgebildet und keines Verbrechens vor einem Bischofsgericht angeklagt oder gar verurteilt66. Die königliche Abstammung, die Zugehörigkeit zur stirps regia wird hier mit der Berufung zum Königtum durch Gott verknüpft; entscheidende Legitimationsgrundlage seiner Herrschaft aber ist seine Rechtgläubigkeit, der cultus fidei orthodoxae. Janet Nelson hat den Nachweis zu führen versucht, daß das Schreiben von Karl selbst verfaßt worden und nicht, wie man bisher annahm, von Hinkmar von Reims aufgesetzt worden sei. Sie formuliert sehr dezidiert, daß dies der erste und einzige Text sei, der mit plausiblen Argumenten dem König selbst zugeschrieben werden könne67. Dagegen spricht allerdings nach Auffassung von Wilfried Hartmann, dem Herausgeber der Konzilsakten, daß Hinkmar von Reims die Textherstellung des Dossiers veranlaßt und auch überwacht habe und die im königlichen Schreiben verwendeten Zitate durchweg in anderen Werken des Reimser Erzbischofs nachzuweisen seien68. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen; anderseits haben umfangreiche Passagen des Briefes vor allem auch die oben zitierte - einen unverkennbar persönlichen Charakter, so daß wir zumindest mit einer wesentlichen Mitwirkung Karls an der Abfassung rechnen können und das Selbstporträt, dem unsere Überlegungen gelten, in gewissem Sinne authentischen Charakter haben dürfte. Von hier ergibt sich nun vielleicht ein Zugang zu den Herrscherbildern. Die Diskussion über Existenz oder Nichtexistenz einer Hofschule Karls hat bereits deutlich gemacht, daß die Interpretation der Herrscherbilder, mit denen einige Prachthandschriften geschmückt sind, als "Spiegel des Selbstverständnisses" Karls69 gewissen methodischen Bedenken unterliegt. Wenn man diese Herrscherdarstellungen darüber hinaus als ein Mittel der Propaganda ansieht, die letztlich in der Kaiserkrönung des westfränkischen Königs zum Erfolg führte, dann ist prinzipiell zu fragen, welche Öffentlichkeit mit diesen in der Regel liturgischen Handschriften erreicht wurde, wie groß also letztendlich die Breitenwirkung sein konnte. Da überdies in den Bildern häufig Vorlagen aus unterschiedlichen Epochen und Zeiten nachgeahmt oder übernommen wurden, dürfte es nicht immer so einfach sein, zwischen eher
66 Wie Anm. 64: ... ut... animadvertatis, quanquamperturbationibus humanis obnoxium ... esse nos hominem, habere sensum paterna et avita successione, dei gratia, regio nomine ac culmine sublimatum; et quod his maius est, christianum, catholicum, fidei orthodoxae cultorem, sacris litteris ac legibus tarn ecclesiasticis quam secularibus, ab infantia eruditum, nullo crimine publico in audientia episcopali legaliter ac regulariter accusatum, minime autem convictum. 67 NELSON, Charles the Bald (wie Anm. 16), 235 ff.; vgl. 236: "it is the first and only text that can be plausibly ascribed to Charles himself." Dazu femer: DIES., 'Not bishops' bailiffs but lords of the earth': Charles the Bald and the problem of sovereignty, in: D. WOOD, (ed.), The Church and Sovereignty. Essays in Honour of M. Wilks, 1991. 68 MGH Cone. IV (wie Anm. 64), 412,416. 69
STAUBACH. R e x C h r i s t i a n u s ( w i e A n m . 1), 2 2 1 .
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traditionellen Ausdrucksmustern und situationsbestimmter gegenwartsbezogener Darstellung zu unterscheiden70. Ein Beispiel mag die angesprochenen Probleme verdeutlichen. Das in der Bibliotheque Nationale aufbewahrte Fragment eines Sakramentars (BN lat. 1141), das auch als Metzer Sakramentar bezeichnet wird, da es möglicherweise aus Metz stammt und darüber hinaus mit der hier im Jahre 869 an Karl vollzogenen Krönung in Zusammenhang gebracht wird, zeigt auf fol. 2V ein Herrscherbild, das in der Forschung in seiner Deutung sehr umstritten ist: Zwischen zwei Bischöfen mit Heiligenschein steht ein jugendlicher König, ebenfalls nimbiert, über dessen Haupt eine aus den Wolken schwebende Hand Gottes ein edelsteinbesetztes Diadem hält Die Dreiergruppe hat unterschiedliche Interpretationen erfahren. Dabei spielt wohl nicht so sehr eine Rolle, daß verschiedene Details der Darstellung - wie etwa bei der Tracht - von den üblichen Stilelementen karolingischer Herrscherdarstellung abweichen, sondern die eigentliche Crux der Deutung besteht darin, daß der Herrscher einen Heiligenschein trägt. Die unter dem Bild angebrachte Tafel für den Titulus ist leer; der Maler und Schreiber hat die Nachwelt also im ungewissen gelassen. Percy Ernst Schramm hat die von Α. M. Friend gegebene Interpretation - daß es sich hier um Chlodwig und die Bischöfe Remigius von Reims und Arnulf von Metz handele - als eine bestechende Lösung beurteilt, zumal Hinkmar von Reims, der Coronator von 869, diese drei historischen Gestalten in seiner Rede selbst erwähne; sie erscheinen damit gleichsam als Präfigurationen der die Metzer Ereignisse beherrschenden Akteure: Karls des Kahlen, Hinkmars und des Bischofs Adventius von Metz72. Demgegenüber wird die Dreiergruppe auch mit Pippin, Gregor dem Großen und Stephan II. oder Karl dem Großen mit den Päpsten Gelasius und Gregor oder Gregor und Hadrian I. identifiziert73. Es kommt bei einer solchen Vielzahl von Vorschlägen also nicht von ungefähr, daß man schließlich auch auf eine historische Zuordnung ganz verzichtet hat und dem Bild eher eine allgemeinere, symbolische Bedeutung zuweisen möchte74. Staubach versucht dagegen, den Herrscher eindeutig als Karl den Kahlen zu identifizieren; die Deutung scheitert aber daran, daß hier dann ein lebender König mit dem Nimbus dargestellt worden wäre, was so exzeptionell erscheint, daß es auch nicht als Ausdruck sakramental-charismatischen Herrschertums eine hinreichende Erklärung finden würde75.
70 Dazu auch grundsätzlich: D. BULLOUGH, Imagines regum and their significance in the early medieval West, in: Studies in memory of D. T. Rice, ed. by G. Robertson and G. Henderson, 1975, 223-276. Umfangreiche Literaturangaben zur Problematik mittelalterlicher Herrscherbilder bei STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 223 Anm. 388. Im Folgenden werden nicht immer alle verfügbaren Abb. zitiert. 71
Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 258 Nr. 51 (Komm. 133); DES., Kaiser
u. Könige (wie Anm. 1), 169 Nr. 39; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 223 ff. (mit weit. Lit.: 2 2 4 Anm. 3 8 9 ) . 72 SCHRAMM, König v. Frankreich (wie Anm. 1), 28 ff. 73
V g l . KOEHLER - MÜTHERICH, H o f s c h u l e ( w i e A n m . 5 ) , 3 6 .
74
Vgl. STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 224 Anm. 392.
75 Vgl. SCHRAMM - MÜTHERICH, Kaiser u. Könige (wie Anm. 1), 56; zu den ganz wenigen frühen und auch nicht immer eindeutigen Beispielen nimbierter Herrscher im Westen vgl. H . HOFFMANN,
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Wenn wir also nun die mit Karl dem Kahlen in Verbindung gebrachten Herrscherbilder daraufhin untersuchen, inwieweit sie eine Aussage zu seinem Herrschaftsverständnis erlauben - und dies in erster Linie unter dem Aspekt der Karlsnachfolge so werden wir uns auf die Darstellungen beschränken, für die eindeutige Belege eine Zuordnung zu seiner Person ermöglichen. Der Psalter BN lat. 1152 zum Beispiel ist offenbar für seinen persönlichen Gebrauch bestimmt gewesen. In der Litanei bittet er für sich als den a deo coronatus und für seine Gemahlin Irmintrud. Der Titulus zum Herrscherbild, das vielleicht sogar als ein Porträt gelten kann, nennt ihn und vergleicht ihn mit Josia, der Israel erneuerte, und Theodosius 76 . Das in der Schatzkammer der Münchener Residenz aufbewahrte Gebetbuch nennt ihn als Auftraggeber und stellt ihn in Gebetshaltung kniend vor dem Kreuz dar 77 . Die Gebetsbitten mit persönlichem Bezug betreffen neben ihm selbst seine Gemahlin Irmintrud mit den Kindern und das Seelenheil der verstorbenen Eltern 78 . Unter den Karl gewidmeten Bibeln gilt die von Vivian, dem Grafen von Tours und Laienabt von St. Martin, um 845/46 überreichte als die erste. Die Vivian-Bibel wird nicht der Hofschule zugerechnet. Das Widmungsbild hält den Akt der Übergabe des Buches durch die Mönche fest; Karl neigt sich, inmitten seiner Großen unter einem Baldachin thronend, der Mönchsgruppe zu. Über ihm am Himmel erscheint die segnende Hand Gottes 79 . In den Dedikationsversen, die nach Art der Fürstenspiegel eine ganze Herrscherethik entwickeln 80 , steht deutlich im Mittelpunkt der Davidvergleich: rex inclite David - Carle, decus regni. Karl erscheint als der Erneuerer des Werkes seiner Vorfahren: praeceptum genitoris, avi, proavi renovasti. Hoc stet, hoc maneat, hoc nec obire queat. Daß man über den Davidvergleich eine herausgehobene Beziehung zum Großvater hergestellt, die Davidtypologie als eine besondere Form der imitatio Karoli gedeutet hat, weil Karls des Großen Herrschaft als eine programmatische Nachahmung des Davidkönigtums verstanden und er selbst im Kreise der Hofgelehrten als "neuer David" angesehen worden sei81, ist nicht akzeptabel. Der Verfasser der Verse hat an keiner Stelle selbst eine solche Deutung vorgenommen, und im übrigen werden Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich, (Schriften der MGH 30, I) 1986, 525 f. 76 Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Kaiser u. Könige (wie Anm. 1), 3 1 0 Nr. 3 8 (Komm. 1 6 8 ) ; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 13/14; WALLACE-HADRILL, Carolingian Prince (wie Aran. 1), 173 f. 77 Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 249 Nr. 43 (Komm. 130 f.); STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 3, dazu 55 mit Anm. 140; KOEHLER - MÜTHERICH, Hofschule (wie Anm. 1), 75 ff.; R. DESHMAN, The exalted servant: The ruler theology of the prayerbook of Charles the Bald, in: Viator 11, 1980, 385-417. 7 8 KOEHLER - MÜTHERICH, Hofschule (wie Anm. 1), 8 0 . 7 9 Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Kaiser u. Könige (wie Anm. 1), 3 0 6 Nr. 3 6 (Komm. 5 1 ff); DIES., Denkmale (wie Anm. 1), 129 ff; STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 6, 92 ff. 80 MGH Poet. Lat. III, 243-248 Nr. III; dazu ANTON, Fürstenspiegel (wie Anm. 29), 254 ff. 8 1 DIEBOLD, NOS quoque (wie Anm. 3 ) , 2 8 6 ; GODMAN, Poets (wie Anm. 4 1 ) , 1 7 3 ff; vgl. ferner ANTON, Fürstenspiegel (wie Anm. 29), 420 ff, sowie allgemein: H. STCGER, David Rex et Propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts, 1961.
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auch andere karolingische Herrscher mit dem König des Alten Testaments verglichen. Das in den zitierten Dedikationsversen zum Ausdruck kommende Traditionsverständnis bezieht die ganze Karolingerdynastie ein. Als ein Höhepunkt im Schaffen der sogenannten Hofschule gilt der Codex aureus aus St. Emmeram, ein Evangeliar, das im Jahre 870 fertiggestellt wurde und durch Schenkung Kaiser Arnulfs an das Regensburger Kloster kam (heute München, Staatsbibliothek Clm 14000)*. Karl wird als Auftraggeber in der Schreibernotiz und nochmals in der Beischrift zum Herrscherbild genannt8 . Dieses stellt ihn auf goldenem Throne sitzend dar; unter ihm zu beiden Seiten stehen zwei Waffenträger und zwei Frauengestalten mit Füllhörnern, die durch die Beischrift als Francia und Gotia gekennzeichnet sind. Schon durch seine Größe ist der Herrscher die dominierende Gestalt, über der in der Wölbung des Baldachins die segnende Hand Gottes erscheint. Karls Name wird mehrfach erwähnt - so bei den Versen, die das Bild von der Anbetung des Lammes begleiten, und mit der Bitte um Schutz bei der Darstellung der Hand Gottes zu Beginn des Johannesevangeliums; der Titulus zum Herrscherbild bringt ihn in Bezug zu Eltern und Großvater: Dabei werden Ludwigs des Frommen Gerechtigkeit und Judiths hohe Abstammung gerühmt; Karl der Große aber hat mit seinem Namen dem Enkel auch das Kennzeichen der Herrschaft gegeben84. Ob den huldigenden Frauengestalten als Länderpersonifikationen eine "imperiale Perspektive" eignet85, bleibe dahingestellt; es könnte mit Francia und Gotia auch lediglich der westfränkische Herrschaftsbereich umschrieben sein. Daß die Übernahme von Stilelementen aus dem der Hofschule Karls des Großen zugeschriebenen Evangeliar von Soissons als ein Beleg für das Bestreben Karls des Kahlen gedeutet werden könne, die unter dem Großvater herrschenden Verhältnisse wiederherzustellen86, ist nun doch zu weit hergeholt. In den Begleitversen des Herrscherbildes wird noch das Vorbild Davids und Salomons beschworen - das ist in den Kontext der Fürstenspiegel zu stellen; im übrigen aber wird die karolingische Familie angesprochen, ohne daß Karl der Große besonders hervorgehoben wird.
8 2 Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 2 5 9 Nr. 5 1 (Komm. 1 3 4 ff.); DIES., Kaiser u. Könige (wie Anm. 1), 312 Nr. 40 (Komm. 170); STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 4 ; dazu: KOEHLER - MÜTHERICH, Hofschule (wie Anm. 5 ) , 1 7 5 ff.; STAUBACH, ebd., 8 5 , 2 6 1 ff. bringt 277 f. wenig überzeugend die Herstellung des Codex mit der Gründung des Pfalzstifts von Compiegne in Zusammenhang. 83 MGH Poet. Lat. III, 252 Nr. IV 1, Vers 11 f.: Istius imperio hic codex resplendet et auro, / Qui bona construxit multa favente deo; vgl. 254 Nr. IV 11, Vers 3 f.: Terdenis annis Karolus regnabat et uno, / Cum codex actus illius imperio. 84 MGH Poet. Lat. III, 252 Nr. IV 1, Vers 1-8: Hic residet Karolus divino munere fultus, / Ornat quem pietas et bonitatis amor. / Hludowic iustus erat (quo rex non iustior alter), / Qui genuit prolem hanc tribuente deo. / Alma viro peperit Iudith de sanguine claro, / Cum genitor regnis iura dabat propriis. / Hic nomen magni Karoli de nomine sumpsit, / Nomen et indicium sceptra tenendo sua.
85
So STAUBACH, R e x Christianus (wie Anm. 1), 263.
86 DIEBOLD, NOS quoque (wie Anm. 3), 272 ff.; W. BRAUNFELS, Karolingischer Klassizismus als politisches Programm und karolingischer Humanismus als Lebenshaltung, in: Nascitä deH'Europa ed Europa carolingia, Settimane di studio del Centro Italiano 27,1981, 822 f.
Karl der Kahle - novus Karolus magnus?
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Nicht der Hofschule, sondern wohl dem Scriptorium von Reims zuzuordnen ist schließlich die Bibel von San Paolo fuori le mura, deren Prolog einen König Karl als Stifter nennt. Die Frage, ob Karl III. oder Karl der Kahle gemeint sei, ist wohl schlüssig zugunsten des westfränkischen Königs beantwortet 87 . Das Thronbild, dessen Beischrift wieder auf einen König Karl hinweist, zeigt den Herrscher mit einem Globus in der linken Hand, zu seiner Rechten zwei Waffenträger und in Arkaden über seinem Haupt die Personifikationen der vier Kardinaltugenden, flankiert von zwei Engeln mit Kreuzstäben. Völlig ungewöhnlich ist die Aufnahme der Gemahlin ins Bild; sie steht mit einer Begleitperson links vom Thron, und die Beischrift verweist auf sie, indem zugleich der Erwartung Ausdruck verliehen wird, daß sie dem König Nachkommen schenken werde 88 . Für das Thema der Karlsnachfolge geben weder Bild noch Begleitverse etwas her. Zu beachten ist aber, daß der Codex ein zweites Herrscherbild aufweist: die Darstellung eines auf dem Throne sitzenden Königs Salomon 89 . Die Parallelität ist wohl bewußte Konzeption. Hier ist also zum Bild geworden, was in Widmungsversen und Traktaten immer wieder formuliert worden ist: der alttestamentliche Herrscher, der die Tugend der Weisheit verkörpert, als Präfiguration Karls des Kahlen 90 . Die Darstellung der Gemahlin läßt die These plausibel erscheinen, daß der Bibelcodex aus Anlaß der Vermählung Karls mit Richilde am 22. Januar 870 hergestellt worden ist91. Die Hoffnung auf Nachkommenschaft aus dieser Ehe hat Karl wenig später auch in der Schenkung des Klosters St. Eloi an die Kirche von Paris zum Ausdruck gebracht, als er den Gunsterweis verknüpfte mit der Verpflichtung der Bischöfe zum Gebetsgedächtnis an den Sterbetagen seiner Eltern, an seinem Geburtsund Krönungstag, nach seinem Tode an seinem Sterbetag, am Geburtstag der Richilde, an ihrer beider Hochzeitstag und dem Geburtstag der Kinder, wenn ihnen diese geschenkt werden sollten92. Die Interpretation der Herrscherdarstellungen rundet das Bild ab, das wir aus den anderen Zeugnissen gewonnen haben, die mit einem gewissen Recht als Ausdruck des Selbst- und Herrschaftsverständnisses Karls des Kahlen zu deuten sind. Daß der in panegyrischen Texten aus der Namensgleichheit mit dem Großvater abgeleitete Vergleich und die daraus in der Regel als Wunschvorstellung gezogenen Konsequenzen, der Enkel möge zum Karolus novus werden, das Selbst- und Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Kaiser u. Könige (wie Anm. 1), 5 1 3 Nr. 4 1 (Komm. 1 7 0 ff.); STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 17; dazu 178 ff, 234 ff; vgl. ferner: E. KANTOROWICZ, The Carolingian King in the Bible of San Paolo fuori le mura, in: DERS.. Selected 87
Studies, 1965, 82-94.
88 MGH Poet. Lat. III, 257 Nr. VI 1, Vers 14 f.: Nobilis ad levarn coniunxde more venustat, / Qua insignis prolis in regnum rite paretur. 89 Abb. SCHRAMM - MÜTHERICH, Denkmale (wie Anm. 1), 265 Nr. 56 (Komm. 136 f.); STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), Abb. 19 - dazu: 243 ff. 90 Zum Salomonvergleich: ANTON, Fürstenspiegel (wie Anm. 29), 430 u.ö. 91 KANTOROWICZ (wie Anm. 87); STAUBACH, Rex Christianus (wie Anm. 1), 177 f. 92 D 364, ed. TESSIER (wie Anm. 52), Bd. 2, 315: ut... et copulam secundum D[ei] voluntatem nostrae coniunctionis, insuper et ortum prolis nostrae, si a fecunda virgme impetrarido data fuerit... antistes celebret et refectio in utraque congregatione in die ortus prolis nostrae, si, ut diximus, a geni trice Dei data fuerit studiosissime peragatur...
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Herrschaftsverständnis Karls des Kahlen wesentlich bestimmt hätten, oder daß der westfränkische Karolinger die Wiederherstellung des alten Karlsreiches zeitlebens als Ziel verfolgt und als die "Rechtfertigung seines als eine Verpflichtung empfundenen Namens" 93 verstanden habe, läßt sich nicht wirklich nachweisen. Wo familiäre Beziehungen angesprochen werden, stehen die Eltern im Vordergrund; mit spürbarer Sympathie ist das Verhältnis zum Vater dargestellt, an keiner Stelle wird dem Großvater eine Vorzugsstellung eingeräumt. Zweifellos bestimmte ein starkes dynastisches Bewußtsein, das - wie die Metzer Krönung von 869 vermuten läßt - auch den Ahnherrn Arnulf einbezog, das Denken und Handeln Karls; dieses aber war gepaart mit einem nicht minder starken Machtinstinkt, der, wie das Schicksal des Sohnes Karlmann zeigt, sich auch über Familienbande hinwegsetzen konnte94. Ob in der Provence, in Lotharingien oder Italien, der Sohn der Judith griff zu, wenn sich ihm die Möglichkeit bot, seinen Herrschaftsbereich zu erweitern. Sein Halbbruder Ludwig der Deutsche war ihm in dieser Hinsicht aber durchaus ebenbürtig. Noch immer bot das karolingische Großreich als ideelle Einheit den Rahmen für politische Ambitionen und Aktivitäten der Könige, und in diesem Sinne behielt die von Karl dem Großen und seinen Vorgängern begründete Tradition verpflichtende Kraft für die Enkelgeneration und deren Nachfolger. Der Erwerb der Kaiserkrone war nicht das zwangsläufige Ergebnis einer planvoll betriebenen und propagandistisch abgestützten Politik Karls des Kahlen; er gelang durch konsequente Ausnutzung der dynastischen Wechselfälle und klug kalkulierende Bündnispolitik zu gegebener Zeit. Stärker aber als durch die dynastische Herkunft sah Karl seine Herrschaft durch göttlichen Auftrag und göttliche Gnade legitimiert. Das hat er im Privileg für Compiegne ebenso wie in seinem Schreiben an Hadrian II. formuliert; diese Auffassung spiegelt sich in den Herrscherbildern wider und fand schließlich in der Verkirchlichung des Thronerhebungsaktes ihren staatsrechtlich relevanten Ausdruck.
93 STAUBACH, Herrscherbild (wie Anm. 3 ) , 243. 94 R. SCHIEFFER, Väter und Söhne im Karolingerhause, in: ders. (Hg,), Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum, 1990,149-164, zu oben: 157.
Charles R. Bowlus Carolingian Military Hegemony in the Carpathian Basin
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In his plenary address to the annual meeting of the Mediävistenverband, R. Schicffcr used "Beutezug" to characterize Charlemagne's invasion of Avar territory in 791. implying that Carolingian expeditions into the Carpathian basin were hardly more than plundering raids, whose sole purpose was booty, not systematic conquest. I disagree. This essay takes the position that Charlemagne took his campaigns there very seriously, as did his son, Louis the Pious, and his East Frankish descendants, Louis the German. Carloman, Charles III, and Arnulf, all of whom made strenuous efforts to maintain control over this region long after the lure of Avar gold had vanished. The campaigns in the middle Danube are spectacular examples of Frankish armies operating successfully far from their home bases. For the first time since the end of the sixth century a sedentary power came to exercise military hegemony over that vast region between Byzantine controlled territories and the Latin West 1 . But first we must sketch the background. The rise of the Carolingians in the eighth century marked a turning point in the military history of the Latin West". Charles Martel, Pepin III, and especially Charlemagne abandoned the defensive posture of the late Roman empire and its successor states and moved aggressively to conquer neighboring regions that had been included in the imperium Romamim, and, in the case of Saxony, Carolingian forces moved into territories well beyond the old imperial limes. Militarily the most significant factor in the rise of the Carolingians was their ability to maintain armies in the field for long enough to force their enemies to capitulate. Under Charlemagne the Franks practiced a military doctrine of overwhelming force, which rested upon this ruler's ability of raise, ] C. BOWLUS, Frankish-Moravian Conflicts in the Ninth Century: A Turning point in the history of the Carpathian Basin, in: Thessaloniki - Magna Moravia, ed. A. - F.. TACHLAOS, 1999, 53-64. 2 B. BACHRACH, Grand Strategy in the Germanic Kingdoms, in: I / A r m e e Romaine et Los Barbares du Ille au Vile Siecle, ed. F. VALLET and M. KAZANSKI. 1993, 55-63. By the same author and C. BOWLUS, Heerwesen, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, hg. von 1). GEUEXICH U. II. STEUER, forthcoming. Cf. T. REUTER, Carolingian and Ottoman Warfare, in: Medieval Warfare. A History, ed. Μ . KEEN, 1999,
13-35.
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Charles R. Bowlus
dispatch, and maintain huge armies year after year, frequently operating in disparate theaters simultaneously. Charlemagne's genius was strategic, not tactical. He created an empire by first establishing manpower superiority over his opponents and then converging on them with pincers launched from several directions. His field armies kept the pressure up until the enemy eventually succumbed3. Frankish commanders in the era of Charles Martel, Pepin, Charlemagne, and even their successors in the late ninth century prepared military expeditions carefully, establishing in advance the logistical infrastructures that would support their operations. Unfortunately our sources do not spell out precisely what motives lurked behind Charlemagne's conquest of Avar territory. A. Brackmann, however, argued that there must have been a connection between these campaigns and his desire for the imperial crown4, a hypothesis that deserves reconsideration5. The thoroughness of Charlemagne's preparations for the campaign of 791 certainly suggests serious motives. His presence in Regensburg through the years 792 and 793 despite unrest in many parts of his realm demonstrates a commitment to continuing expeditions. Although he did not personally participate in further operations, from his headquarters in Regensburg he supervised attempts to create a Main-Danube canal as well as the construction of special ships that could be lashed together to facilitate river crossings. Charlemagne's seriousness about the conquest is also illustrated by the appointments that he made to lead the expeditions, to organize the region militarily and administratively, and to oversee its Christianization6. For example, Charlemagne appointed his brother-in-law Gerald as Prefect of the East, the commander of invasion forces operating from Bavaria, and he raised Arn of Salzburg, a figure closely connected with the court, to the rank of archbishop, making him responsible for missions in Pannonia north of the Drava River. His son, the Lombard king Pepin, was at least officially in charge of expeditions sent out from Friuli under the command of the margrave Eric, another Frankish imperial aristocrat. Charged with supervising the establishment of an ecclesiastical organization south of the Drava was Paulinus, patriarch of Aquileia, also a well known figure at the Carolingian court. Indeed, both Arn and Paulinus were closely tied to Alcuin, who expressed his deep interest in the continuing military operations in the southeast in letters to these prelates. Although Charlemagne's heir, Louis the Pious, never personally campaigned there, he exhibited an unshakable determination to maintain Frankish hegemony, 818-822, when the region was seriously threatened by a major Slavic rebellion under Liudewit7. During these years Louis dispatched four massive military expeditions against the re3 J. VERBRUGGEN, L'armee et la Strategie de Charlemagne, in: Karl der Große: Persönlichkeit und Geschichte, ed. H. Beumann, 1965, B. BACKRACH, Charlemagne's Cavalry: Myth and Reality, in: Military Affairs, 57, 1983, 181-87. 4 A. BRACKMANN, Die Anfänge de^ Slawenmission und die Renovatio imperii des Jahres 800, in: A. Brackmann, Gesammelte Aufsätze, 1967, 56-75. 5 Β. S. BACHRACH, Charlemagne and Pirenne, in: After Rome's Fall. Festschrift for Walter Goffart, ed. A. Muixy, 1999,213-31. 6 M. MITTERAUER, Karolingische Markgrafen im Südosten, 1963,1-84. 7 C. BOWLUS, Franks, Moravians, and Magyars, 1995, 60-71.
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bels. Particularly impressive was the one in 820 which involved forces from all parts of the East Frankish realm, as well as an army based in Lombard Friuli under the command of a margrave. The ,Annales regni Francorum' make it clear that this operation was successful because the middle pincer was able to fight its way from Bavaria through the Carantanian Alps to gain control over the upper Drava watershed 8 . Carolingians sought to dominate the passes and river systems of the region as a means of exercising their hegemony over the southeast and securing communications between Bavaria and the upper Adriatic. In this rebellion, which carried into Dalmatia, there is evidence of Byzantine involvement. First of all, in 817 an embassy arrived from Constantinople to negotiate frontier disputes in Dalmatia with Cadolah, margrave of Friuli. Secondly, after the rebellion had been crushed, Patriarch Fortunatus of Grado, accused of sending masons to Liudewit to construct fortifications, fled to a Byzantine coastal enclave. Liudewit's revolt was followed by a Frankish-Bulgarian conflict, also involving boundary disputes. After several years of negotiations, the Bulgars, operating from ships on the Drava, raided Pannonia in 8279. In the wake of this invasion Balderich, the new margrave of Friuli, was relieved of his command propter eius ignaviam and his march was divided into four comital lordships. Louis the German was ordered by his father to attack the Bulgars from Bavaria 10 . Unfortunately, no detailed knowledge of this expedition exists because conflicts within the Carolingian family occupied the attention of the annalists. Important to note, however, is the fact that eventually some settlement with the Bulgars was reached, and relations remained friendly during the rest of the ninth century 11 . The point to bear in mind is that despite difficulties Carolingian authority in the southeast was reestablished. As ruler of Italy Lothair tried to reconstitute the march of Friuli under his brother-inlaw Eberhard 12 , but to no avail, for in 838 his brother and rival, Louis the German, sent Ratpot, his new Prefect of the East, against the Slavic leader Ratimar, establishing East Frankish authority into the Sava valley and, at the same time, detaching the lordship there from the march of Friuli. The nascent East Frankish kingdom began to extend its tentacles into parts of southern Pannonia earlier belonging to the northern Italian march. For the rest of the ninth century the East Franks attempted to exercise military power over the Carpathian basin. The 830s and 40s witnessed a thorough restructuring of the southeastern marches of Louis's realm. A member of the powerful Wilhelminer clan was given control of the county of Savaria (Szombathely), a crucial junction of roads 13 . In Carantania Slavic duces were replaced by Frankish-Bavarian counts, one of whom
8
Armales regni Francorum a. 820, ed. F. KURZE (MGH SS rer. Germ, in usum scholarum, 1891).
152-53.
9 Ibid. a. 827, 173. 10 Ibid. a. 828, 174. 11 BOWLUS, Franks (as note 7), 157-160,214,224,239. 12 C. BOWLUS, The Military Organization of Carinthia and Pannonia, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift fur Karl Bosl, ed. F. Seibt, 1988, 168-178. 13 MITTERAUER, Markgrafen (as note 6), 117-25.
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Charles R. Bowlus
was Pabo, also a Wilhelminer14. During these decades, Louis the German also established a Slavic leader named Priwina in Lower Pannonia15. As a lordship, Priwina was granted a wedge-shaped territory extending southeastward along the principal roads through Pannonia leading toward the confluence of the Drava with the Danube. In 847 Louis the German handsomely rewarded Priwina for services that he had performed "for God and King." His beneficia in Pannonia were converted to allods. His services were undoubtedly related to logistical assistance that he had provided the East Frankish king who in 846 intervened in the realm of the Moravian Slavs (Sclavi Margenses) to establish Rastislav as their dux 6. The eventual emergence of a powerful Moravian principality centered probably somewhere near Belgrade17, however, challenged Frankish overlordship in Pannonia. Nevertheless, the persistent and brutal wars that ensued demonstrate ultimately how tenacious the East Franks were in maintaining hegemony in the Carpathian basin. Frankish penetration into a region that in late antiquity had been disputed territory between Byzantium and Rome caused anxiety in the eastern imperial capital. Throughout the ninth century Byzantine emperors, patriarchs, and diplomats seized every opportunity to dislodge the Franks from the middle Danube. The most famous of these attempts was the embassy of the brothers, Constantine and Methodius, to Rastislav's court in 86318. The Moravian leader had not remained a compliant underling, rising time and again in rebellion against the East Franks. Between 855 and 874, as these conflicts disturbed the marches, the center of gravity of Frankish military organization shifted decisively to Carantania, where Louis the German installed his eldest son Carloman as prelatus19. This ambitious roval scion, however, frequently allied himself with the Moravian duke against his father Eventually, Carloman reconciled with his father in 864 and was reinstalled in Carantania, where he assumed overall command responsibilities in the continuing Moravian wars. In 870 Sventibald, Rastislav's nephew, betrayed his uncle and turned him over to the Franks, whose forces then occupied Moravian civitates et castellc^\ Frankish leaders were obviously determined to rule Moravia directly. Nevertheless, events turned out badly for the them, when, in 871, Sventibald broke his oath of loyalty to Louis the German and Carloman and destroyed an unsuspecting Bavarian army
14 Ibid. 104. 15 P. STIH, Priwina: slawischer Fürst oder fränkischer Graf, in: Ethnogenese und Überlieferung, ed. K. Brunner u. B. Merta, 1994,209-222. 16 Annales Fuldenses a. 846 (as note 8), 1891, 36; BOWLUS, Franks (as note 7), 107-111. 17 I. BOB A, Moravia's History Reconsidered, 1971, M. EGGERS: Das "Grossmährische Reich". Realität oder Fiktion?, 1995, and: Das Erzbistum des Method, 1996, BOWLUS, Franks (as note 7). 18 F. DVORNIK, Byzantine Missions among the Slavs, 1970,105-130. 19 Annales Fuldenses a. 861 (as note 8), 55. R. SVETINA, "Zur Bedeutung Karantaniens für die Politik der ostfränkischen Karolinger Arnulf'von Kärnten' und Karlmann," in: Carinthia I, 1998, 157183. 20 BOWLUS, Franks (as note 7), 128-133. 21 Annales Fuldenses a. 870 (as note 8), 70.
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encamped near a Moravian fortress 22 . Subsequently Sventibald expanded his power to the north, bringing the region around Nitra (modern Slovakia) under his control for the first time 23 . After 871 Carloman, the prelatus Carantanis, was on the defensive, hard pressed by Sventibald, who attacked his territory relentlessly. Finally, in 874, a peace was arranged in Forchheim by a certain John, a priest of Venice, once again demonstrating a connection between events in the Carpathian basin and the Adriatic""4. There must also have been a relationship between this peace with the Moravian leader and Carloman's ambitions in Italy where the imperial throne became vacant in 875. An Italian expedition would have been a risky undertaking, if hostilities with Sventibald had remained unresolved. When Louis died in 876, Carloman became the ruler of Bavaria and its neighboring regions 25 . With an army including many Slavs, he crossed the eastern Alps in 877 to invade Italy. Returning to Bavaria in autumn, however, he suffered a stroke, leaving his ambitions unfulfilled when he finally succumbed in 880. Meanwhile, Carloman had appointed Arnulf, an illegitimate son, to govern Carantania. Ca. 880, the latter took over the Pannonian lordship that Priwina had governed. Between 882 and 884 another series of wars erupted in the southeastern marches involving Arnulf and Sventibald. During these conflicts much of Pannonia "east of the Raba" was devastated 26 . It is noteworthy that in 884 Charles III found it necessary to come to the east to establish peace in this region before proceeding through Carantania to Italy. The peace that was concluded between Arnulf and Sventibald lasted until 892 and proved mutually beneficial 27 . Peace with the Moravian ruler gave Arnulf an opportunity in 887 to seize the East Frankish crown from his ailing uncle. Sventibald, who had already expanded his power from the south far to the north and west at Frankish expense, consolidated these gains and was recognized bv Arnulf as Bohemian ruler, c. 89028. The peace between Arnulf and Sventibald came to an end after Arnulf had secured his position as a successful war-king by defeating Scandinavians who had occupied the region around Louvain in 891. The following summer, he attacked Sventibald's overextended realm, even calling in Hungarians to assist him and sending an embassy to Bulgaria asking for the khan's help 29 . Other than Arnulf, the most important Frankish commander in this invasion was Engelschalk II, Arnulfs son-in-law and a member of the Wilhelminer clan30. Defined as marchio in the ,Annales Fuldenses', Engelschalk
22 Ibid. a. 871,72-73. 23 C. R. BOWLUS, Archbishop Theotmar of Salzburg's Letter to Pope John EX, in: SüdostForschungen 57, 1998, 1-11. 24 Annales Fuldenses a. 874 (as note 8), 83. BOWLUS, Franks (as note 7), 173-185. 25 Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon a. 876. ed. F. Kurze, MGH SS rerum Germ, in usum scholarum, 1890, 112. 26 Annales Fuldenses a. 884 (as note 8), 110-113. 27 C. BOWLUS, Imre Boba's Reconsiderations of Moravia's Early History and Arnulf of Carinthia's Ostpolitik, in: Speculum 62, 1987, 552-574. 28 Reginonis Chronicon a. 890 (as note 25), 134. 29 BOWLUS, Franks (as note 7), 224-30. 30 BOWLUS, Franks (as note 7), 269-75.
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was the supreme commander in the eastern marches with primary responsibilities in Carantania and Lower Pannonia. Engelschalk's cousin Ruodpert, who also was involved in this operation, was a comes around Klagenfurt. Although these Wilhelminer cousins met a bad end a year later, largely because of rivalries with other major leaders, Carantania remained the primary staging area for wars against Moravia. Replacing Engelschalk in Carantania was Liutpold, a relative of the king's and the founder of the family that would become the Bavarian ducal line in the tenth century. Sventibald, the military power of his realm already greatly reduced, died in 893. Arnulf now felt secure enough to turn his back on Pannonia, to follow the ambitions of his father and seek in Italy the coveted imperial office, which he finally acquired in 896. Shortly thereafter he suffered a disabling stroke. Although the emperor survived until 899, military command passed to Liutpold who lead military operations against the Moravians during Arnulfs last years. Liutpold became the most powerful military leader in the East Frankish kingdom, a position that he held until 907, when he perished in a major clash with the Hungarians31. This battle, a real disaster, which probably took place near Lake Balaton32, not in the vicinity of Bratislava, illustrates once again how tenaciously East Frankish leaders sought to hold onto Pannonia throughout the ninth century, the major theme of this essay. Liutpold was obviously willing to risk an encounter with formidable Magyar horsemen on the plains of Transdanubia rather than lose hegemony over the region. Since he was a proven warrior who had already considerable experience fighting with and against Hungarians, his defeat cannot be attributed to ignorance of their tactics. He apparently thought that he could successfully drive them out of Pannonia. In conclusion it must be reiterated that throughout the Carolingian era Frankish armies were involved in much more than meaningless raids for plunder ("Beutezüge") into the Carpathian basin. In the southeastern marches rulers created an elaborate military organization that they were determined to hold onto at almost any price. Why they invested so much effort into this enterprise is a question that lies beyond this essay, but it is one that deserves study and much further reflection. The evidence presented in this essay suggests a tentative hypothesis that Carolingian rulers' interest in Pannonia was driven, at least partially, by their imperial ambitions in Italy. Military operations on the Italian peninsula would have been difficult to sustain for East Frankish rulers if a powerful enemy, who could threaten their rear, lurked in the Carpathian basin.
31 R. HIESTAND, Pressburg 9 0 7 . Eine Wende in der Geschichte des ostfränkischen Reiches?, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 57,1994,1-20. 3 2 BOWLUS, Franks (as note 7), 2 5 8 - 2 6 6 .
Martin Eggers
Die südöstlichen Nachbarn des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert
Bekanntlich hatten die karolingischen Herrscher nach dem Vorbild des Römischen Reiches ein gestaffeltes Vorfeld ihrer Reichsgrenzen eingerichtet. So waren im Südosten dem unter fränkischer Herrschaft stehenden Herzogtum Baiern zunächst mehrere Marken vorgelagert: Die sogenannte "karolingische Ostmark" entlang der österreichischen Donau, der "Dukat" des Priwina und seines Sohnes Kocel in Pannonien - im Grunde ebenfalls eine Mark -, die Mark Friaul und die Markgrafschaften um Siscia. Kennzeichen dieser Marken war, daß die einheimische, ganz überwiegend slawische Bevölkerung verblieb, aber fränkisch-bairische Markgrafen und Besatzungen als Herrenschicht installiert wurden; vielleicht kamen auch schon einige bairische Siedler. Jenseits der Markgrafschaften lagen Stammesgebiete oder Fürstentümer unter Herrschern aus einheimischen Familien, über welche die Karolinger nur eine Art "indirect rule" ausübten. Dieses Vorfeld von "Staaten" im Südosten stellt das eigentliche Thema dieser Zeilen dar, in denen einige neue Vorschläge zur Lokalisierung und Ausdehnung dieser Herrschaftsbildungen gemacht werden sollen. Die Abweichungen betreffen vor allem das "Großmährische Reich", dessen Lage erstmals Imre Boba 1971 in Frage stellte1. Bisher stellte man sich nämlich das System dieser dem Frankenreich im Südosten vorgelagerten Stammesherrschaften so vor: Von Norden nach Süden zunächst Böhmen unter einer Vielzahl von Stammesfiirsten, dann das bereits geeinte Mähren, das zuerst seinen Nachbarn in Nitra annektierte und sich im weiteren zum sog. "Großmährischen Reich" entwickelte; zwischen Donau und Theiß eine menschenleere "Awarenwüste", wobei östlich der Theiß schon das Bulgarische Reich begonnen hätte; schließlich südlich von Drau und Donau, im heutigen Bosnien und Kroatien, eine Vielzahl kleinerer 1 Der Aufsatz basiert auf folgenden Arbeiten: M. EGGERS, Das "Großmährische Reich" - Realität oder Fiktion?, 1995; DERS., Das Erzbistum des Method, 1996. DERS., Die ungarische Stammesbildung, in: Ungam-Jahrbuch 23 (1997), 1-63; DERS., Die ungarische Landnahme, erscheint ebd. 24 (1998); DERS., Awaren, Slawen, Ungarn. Zur Archäologie des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert (erscheint 2000). Dazu grundlegend I. BOBA, Moravia's History Reconsidered, 1971; Ch. R. BOWLUS, Franks, Moravians and Magyars, 1995.
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Martin Eggers
Stammesgebiete; offen blieb meist, wie weit die fränkische Oberhoheit sich wirklich nach Osten erstreckte 2 . Diesem Modell soll nun ein anderes gegenübergestellt werden. Nach diesem haben die Feldzüge Karls des Großen gegen die Awaren seit 791 auch weite Gebiete östlich der Donau, j a der Theiß betroffen. Alsbald setzten auch slawische Vorstöße gegen bisher awarisches Gebiet ein, und zwar von Süden her 3 . Dies läßt sich u. a. daraus erschließen, daß der neue, von den Franken eingesetzte awarische Khagan um 805 seine bisherige Residenz zwischen Donau und Theiß aufgeben mußte. Er bat seinen neuen Schutzherren, eben Kaiser Karl, propter infestationem Sclavorum um neue Sitze in einem weiteren Gebiet um den Neusiedler See 4 . Wären Mährer oder andere Westslawen die Hauptgegner des Khagans gewesen, so wäre er damals in Richtung Nordwesten geradewegs auf diese zugezogen, was doch sehr unwahrscheinlich ist. 811 mußte dann sogar ein fränkisches Heer zur Schlichtung der slawisch-awarischen Kämpfe nach Pannonia geschickt werden, und die streitenden Parteien hatten Gesandte nach Aachen abzuordnen 5 . Andere Awaren setzten sich sogar bis nach Niederösterreich ab, wo in Urkunden des frühen 9. Jahrhunderts etliche in Avaria - oder in Hunia - Nennungen aufscheinen 6 . Weitere Restverbände awarischer Tradition lassen sich aufgrund archäologischer Analogien in Transdanubien, Mähren und der Slowakei nachweisen, ebenso in Siebenbürgen, wohin die Flucht größerer awarischer Gruppen für 796 auch durch Schriftquellen belegt ist 7 . Wenn auch der Name der Awaren bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts gänzlich verschwunden war, wie es die russische "Nestorchronik" ausdrückt 8 , so übten die Awaren doch in einigen Regionen des Donaubeckens weiter einen erheblichen kulturellen Einfluß aus. Eine "Awarenwüste" hat es jedenfalls nie gegeben. Als Haupt- oder sogar einziger Bestandteil der über die Donau setzenden südslawischen Wanderwelle sind die Moravljane anzusehen, wie der Stamm in den kirchenslawischen Quellen bezeichnet wird 9 . Der Stammesname hängt offensichtlich mit der südlichen oder serbischen Morava zusammen, in deren Tal vielleicht Teile des Volkes zurückblieben. In der Ungarischen Tiefebene, zu beiden Seiten der Theiß, begründeten sie ein Fürstentum, zunächst unter Billigung oder sogar Mithilfe der Franken, von denen es als Vasallen- und Pufferstaat gegen die verbleibenden freien Awaren und die Bulgaren an der unteren Donau konzipiert war. Möglicherweise sahen sich die Franken nicht aus eigener Kraft imstande, die Ungarische Tiefebene nach der Zerschlagung des Awarenreiches wirkungsvoll zu verteidigen. Es sei hier daran erinnert, daß sich die Franken schon bei dem Feldzug von 796 an der "Südfront" slawischer Verbündeter
2 Ein guter Überblick bei A. Sös, Die slawische Bevölkerung Westungarns im 9. Jahrhundert, 1973. 3 Vgl. Karte 6 bei EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1). 4 Annales regni Francorum ad 805. Hg. v. F. KURZE (MGH SS rer. Germ. 6), 1895,119-120. 5 Annales regni Francorum ad 811 (wie Anm. 4), 135. 6 So ζ. B. DD LdD 2, 3, 8, 9, 18, in: Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren. Hg. V. P. KEHR (MGH Die Urkunden der deutschen Karolinger 1), 1932-1934. 7 Annales regni Francorum ad 796 (wie Anm. 4), 99. 8 Die Nestorchronik. Hg. v. D. TSCHIZEWSKIJ, 1969,11. 9 Dazu F. GRAUS, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter, 1980, 156-157.
Die südöstlichen Nachbarn des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert
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bedient hatten 10 . 822 werden jedenfalls zum ersten Mal Marvani in fränkischen Quellen genannt, als sie neben anderen tributpflichtigen Völkern eine Gesandtschaft zu Kaiser Ludwig dem Frommen schickten". Ihr damaliges Gebiet war die Keimzelle des irrtümlich so genannten "Großmährischen Reiches". Über dieses Kerngebiet allein herrschten die beiden ersten namentlich bekannten Fürsten Moravias, bis 846 Moimir, dann sein Neffe Rastislav. Am Rande sei erwähnt, daß Imre Boba sein "neues Großmähren" südlich der Donau, um Sirmium herum, gesucht hatte; hierin weiche ich von ihm ab. "Kronzeuge" für die Lage Moravias ist der byzantinische Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos, der in seinem kompilatorischen Werk De administrando Imperio mehrfach eine μ ε γ ά λ η Μ ο ρ α β Ι α nennt 12 . Μ ε γ ά λ η wurde bisher fast immer als "groß" übersetzt (daher "Großmährisches Reich"), muß aber vielmehr "alt, ehemalig" bedeuten. Denn der Kaiser betont immer wieder, die Ungarn hätten die Moravia bei ihrer Einwanderung ins Karpatenbecken erobert und (so wörtlich) "ausgelöscht", seine Bewohner vertrieben oder unterworfen. Zur Zeit der Abfassung der De administrando Imperio habe das Reich der Ungarn aus zwei Teilen bestanden, einem diesseits der Donau (aus byzantinischer Sicht) und einem zweiten jenseits der Donau, wo einst Moravia gelegen habe, und zwar jenseits einer Strecke von der Trajansbrücke bis Sirmium. Die byzantinische Quelle läßt also die Donau als Süd- und Westgrenze Moravias erkennen13. Die Nord - und Ostgrenze Moravias ergibt sich durch ein gewaltiges, aus der Römerzeit stammendes Wallsystem, dessen Durchbrechung den Ungarn nach 895 den Sieg über die Moravljanen brachte 14 . Rund um den so erschlossenen Raum verläuft ein Kranz von Ortsnamen des Typs "Maröt". Dieser Name bezeichnet im Ungarischen das Volk der Moravljanen und der Ortsnamenkranz somit deren Siedlungsgrenze 15 . Die Donau und das Wallsystem verwandelten Moravia in eine große, von den militärischen Basen der (Ost-)Franken relativ weit entfernte Festung. Das läßt die Abwehrerfolge Rastislavs und später Sventopulks viel eher verständlich erscheinen, als wenn deren Residenzen in Mähren, von der Ostmark über das offene Marchtal schnell und leicht zu erreichen, gelegen hätte; nicht in den dortigen Festungen vom Typ Mikulcice und Stare Mesto lag also das Geheimnis des Erfolgs 1 .
10 Annales regni Francoram ad 796 (wie Anm. 4), 98: Markgraf Erich zieht cum Wonomyro Sclavo aus. 11 Annales regnis Francorum ad 822 (wie Anm. 4), 159. 12 Constantinus Porphyrogenitus, De Administrando Imperio. Hg. v. G. MORAVCSIK - R. J. H. JENKINS. Bd. 1: Text, 1949, Bd. 2: Commentary, 1962; die einschlägigen Passagen in Kap. 10, 38, 40, 41 und 42. 13 Vgl. Karte 7 bei EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), dort 102 ff. auch ausführliche Argumentation. 14 Vgl. E. GARAM U. a., Sarmatisches Wallsystem im Karpatenbecken, 1983. 15 Aufstellung bei EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 163 ff. 16 Zu den hier hineinspielenden archäologischen Fragen zukünftig EGGERS, Awaren (wie Anm. 1).
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Eine weitere wichtige Quelle zur Lage Moravias ist der sog. "Bairische Geograph", der seine Völkerliste um 850 verfaßte17. Er will, wie die Überschrift seines Werkchens, (Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii) besagt, die Völker nördlich der Donau aufzählen. Beginnend mit den direkten Nachbarn des Reiches schreitet seine Aufzählung konsequent von Norden nach Süden fort. Auf die diversen Elbslawenstämme zwischen Obodriten und Sorben folgen daher erst die Beheimare oder Böhmen, dann die Marharii oder March-Anwohner, die Vulgarii (nicht die DonauBulgaren, sondern ein ehemals awarischer Teilstamm!18) und schließlich die Merehani. Diese letzteren müssen also nach dem Konzept der Völkerliste die südlichsten Nachbarn des Frankenreiches auf dem Nordufer der Donau gewesen sein, bevor die offizielle fränkische Reichsgrenze entlang der Teilungsgrenze von 395 zwischen West- und Ostrom vom Fluß weg nach Süden abschwenkte19. Die Merehani sind also genau dort zu suchen, wo Kaiser Konstantinos sein μ ε γ ά λ η Mo ρ cxß L(X piaziert hatte. Es gab somit im Gesichtskreis der Franken an der Südostgrenze des Reiches zwei Völker mit recht ähnlich klingenden Namen, was die ganze Verwirrung um die vermeintlichen "Großmährer" zum Teil erklärt20. Es sei hier noch auf eine Gruppe von arabischen, persischen und hebräischen Autoren verwiesen, welche die Morvat oder Moravljanen zu südslawischen Stämmen wie den Serben und Kroaten stellen und als Nachbarn der Donaubulgaren und Ungarn (in deren südrussischen Sitzen vor 895!) bezeichnen, von denen sie durch die Karpaten geschieden seien21. Damit sind die direkten Quellenhinweise auf die Lage Moravias erschöpft22. Aus der altkirchenslawischen und byzantinischen hagiographischen Literatur ließe sich allenfalls noch beisteuern, daß Moravia hier als ein Teil "Pannoniens" betrachtet wurde23. So bleibt zunächst die Frage nach der tatsächlichen, bisher offenbar maßlos überschätzten Rolle der Bulgaren im Karpatenbecken. Seit den sechziger Jahren hat nämlich eine Theorie zahlreiche Anhänger gefunden, der zufolge eigentlich nicht Karl der Große, sondern der 803 bis 814 regierende bulgarische Khan Krum dem Awarenreich den Todesstoß versetzt und anschließend dessen Ostteil annektiert habe24. Byzantini17 Descriptio civitatum ad septentrionalem plagam Danubii. Hg. v. B. HORÄK- D. TRÄVNICEK, 1 9 5 6 , 2.
18 Dazu EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 293 ff. 19 Zum Problem dieser Trennungslinie als neuerlicher theoretischer wie faktischer Grenze nach 812 vgl. H. ANTON, Beobachtungen zum fränkisch-byzantinischen Verhältnis in karolingischer Zeit, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. Hg. v. R. Schieffer, 1990, 97-119. 20 Es entstand sogar die Theorie von der Existenz zweier gleichzeitiger Moravias im 9. Jahrhundert, s. EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 21-22. 21 Ausführlich dazu EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 121 ff. und DERS., Stammesbildung (wie Anm. 1), 15 ff. 22 Für indirekte Hinweise, die sich aus den fränkischen Feldzügen nach Südosten ergeben, vgl. BOWLUS, Franks (wie Anm. 1) sowie DERS. in diesem Band. 23 EGGERS, Erzbistum (wie Anm. 1). 24 Hauptvertreter dieser These sind I. BONA, "Cundpald fecit". Acta Archaeologica 18, 1966, 279325, und P. VACZY, Der fränkische Krieg und das Volk der Awaren, in: Acta Antiqua 20, 1972, 395420.
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sehe Quellen des 9. Jahrhunderts sprechen jedoch nur von awarischen Söldnern, nicht von Untertanen in Krums Heer 25 . Erst die romanhaften Gesta Himgarorum des frühen 13. Jahrhunderts kennen, zeitlich noch vor den Ungarn, die Bulgaren als Herrenschicht im Karpatenbecken; doch haben diese Gesta ungefähr denselben historischen Wert wie die gleichzeitigen Artus-Romane 26 . Wirklich belegt sind allein kurzfristige fränkischbulgarische Auseinandersetzungen entlang der Drau in den Jahren von 824 bis 831. Dabei handelt es sich jedoch nur um bulgarische Strafexpeditionen als Folge eines vorherigen fränkischen Übergriffs in die bulgarische Grenzzone am Timok und in die westliche Walachei, nicht um echte Eroberungskriege 27 . Zur Zeit des Khan Krum, der doch so weit vorgestoßen sein soll, sind hingegen keine Zusammenstöße belegt. Später kämpften die Bulgaren 863/64, 881/82 und noch einmal 892 sogar im Bündnis mit dem Ostfrankenreich gegen die Moravljanen, was bei einem westslawischen Mähren, das überaus weit vom bulgarischen Kernraum entfernt liegt, wenig glaubhaft erscheint. Gegen ein mittlerweile expandiertes südslawisches Moravia, das zwischen den beiden Reichen lag, erscheint dieses Bündnis hingegen ganz natürlich. Eine tatsächliche bulgarische Herrschaft ist nur für den Raum südlich der Karpaten, in der Walachei während des ganzen 9. Jarhhunderts wahrscheinlich zu machen, und zwar aufgrund des archäologischen Befundes 28 . Für Belgrad ist sie um das Jahr 885 ausdrücklich in den Clemensund Naumviten bezeugt 29 , für Sirmium dagegen überhaupt nicht verifizierbar. Mit Belgrad ist das Stichwort für eine Betrachtung der Verhältnisse südlich der Donau-Drau-Linie gegeben. Hier kennt man zwar, wieder vor allem dank der Informationen des Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos, Grenzen und innere Verhältnisse der direkten Nachbarn byzantinischer Besitzungen an der Adria recht gut. So weiß man, daß sich Kroatien bis gegen Ende des 9. Jahrhunderts auf das heutige dalmatinische Küstengebiet beschränkte und dem italienischen Teilreich der Karolinger tributpflichtig war. Das Serbien des 9. Jahrhunderts hingegen nahm vor allem den Raum des heute vielzitierten Kosovo ein und war in unaufhörliche Kriege mit dem übermächtigen Bulgarischen Reich verstrickt. Serbien vorgelagert gab es zudem an der Adriaküste vier weitere winzige Fürstentümer 30 . Dagegen wissen wir wenig über das Binnenland, also das heutige Bosnien und Slawonien. Gerade hier aber möchte ich, darin weitgehend Imre Boba folgend, das ursprüngliche Herrschaftsgebiet Sventopulks vor 870 ansetzen.
25 I. D U J C E V , Medioevo bizantino-slavo, 2, 1968, 425-489. 26 P. magistri qui Anonymus dicitur Gesta Hungarorum. Hg. v. E. J A K U B O V I C H - D. P A I S , in: Scriptores rerum Hungaricarum 1, 1937, 13-117. Zum Wert dieser Quelle ζ. B. G . G Y Ö R F F Y , Formation d'etats au Die siecle suivant les Gesta Hungarorum, in: Nouvelles etudes historiques 1, 1965,27-53. 27 Annales regni Francorum ad 824 ff. (wie Anm. 4), 164 ff.; Annales Fuldenses ad 824 ff. Hg. v. F. K U R Z E (MGH SS rer. Germ. 7), 1891, 23 ff. Dazu V. GJUSELEV, Bulgarisch-fränkische Beziehungen in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, Byzantinobulgarica 2, 1966, 15-39. 28 Dazu noch E G G E R S , Awaren (wie Anm. 1). 29 Clemensvita XVI.47. Hg. v. A. MILEV, Grbckite zitija na Kliment Ohridski, 1966, 120; 2. Naumsvita. Hg. v. P . A. LAVROV, Materialy po istorii vozniknovenija drevnejsej slavjanskoj pis'mennosti, 1930, 183-184. 30 Gute Übersicht bei J. FERLUGA, Byzantium on the Balkans. 1 9 7 6 .
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Wichtigste Stütze für diese Lokalisierung ist die Chronik eines Priesters aus Dioclea im heutigen Montenegro, die zwar erst zwischen 1150 und 1180 entstand, sich aber offensichtlich auf ältere, bis ins 9. Jahrhundert reichende Vorlagen stützte 31 . In dieser wird Sventopulk eingeordnet in eine Reihe südslawischer Fürsten, die uns auch aus anderen, durchaus vertrauenerweckenden Quellen bekannt sind. So erscheint als einer seiner Vorgänger ein gewisser Ratimir, von dem wir aus fränkischen Quellen wissen, daß er an Drau und Save regierte und 838 von den Franken vertrieben wurde 32 . Das Fürstentum des Ratimir hat die Forschung bisher allerdings nur im westlichen Slawonien vermutet. Nichts zu tun hat Sventopulk dagegen mit der ephemeren Reichsbildung des Liudewit mit dem Zentrum in Siscia (um 820). Als Sventopulks direkten Nachfolger nennt die Chronik seinen Sohn Svetolik, leicht zu identifizieren als der aus fränkischen Quellen bekannte gleichnamige Sohn Sventopulks 33 . Später taucht noch Tomislav, der erste große König Kroatiens auf. Es sei aber nicht verschwiegen, daß die Glaubwürdigkeit der Chronik von Dioclea immer noch heftig diskutiert wird. Interessant ist allerdings, daß sich aus den relativen Daten der Chronik von Dioclea und den fränkischen Quellen zu gewinnenden exakten Jahreszahlen ein plausibles Bild der Geschichte dieses bosnisch-slawonischen Fürstentums gewinnen läßt. Dazu gehören ein Bündnis mit den Bulgaren im 3. oder 4. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts, eine Christenverfolgung unter Ratimir, wohl der Anlaß von dessen Vertreibung 838, und das Datum des Regierungswechsels zwischen Sventopulks Vater und ihm selbst, nämlich 854. Zugleich läßt sich eine gemeinsame Genealogie der Herrscher von Moravia und BosnienSlawonien vom Beginn bis zum Ende des 9. Jahrhunderts erstellen 34 . Sventopulk selbst erscheint in der Chronik von Dioclea als Einiger und Organisator aller Südslawen im Räume zwischen dem Fränkischen und dem Bulgarischen Reich. Tatsächlich wissen wir j a aus den fränkischen Quellen, daß er zunächst über ein eigenes regnum verfugte 35 , und aus einem Papstbrief, daß er seinem Onkel Rastislav im protokollarischen Rang untergeordnet war 3 . Erst 871 errang er nach Ausschaltung Rastislavs und dem vollständigen Sieg über ein bairisches Heer die Macht auch in Moravia 37 . Damit vereinigte Sventopulk zwei benachbarte, wohl auch ethnisch verwandte südslawische Territorien, was offenbar deshalb akzeptiert wurde, weil er eben einer Dynastie angehörte, die in beiden Reichen als herrschaftsfähig angesehen wurde. Auf Grund 31 Letopis Popa Dukljanina. Hg. v. F. Sisic, 1928. 32 Vgl. Letopis, 6 (wie Anm. 31), 298-299 mit Annales Iuvavenses maximi ad 838. Hg. v. H. BRESSLAU, in: MGH SS 30/2,1934, 740 und der Conversio Bagoarioruin et Carantanorum, 10. Hg. v. F. LOSEK, Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg, 1997, 122-123. 33 Letopis 10 (wie Anm. 31), 309. 34 Zu dieser Diskussion s. EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1); 182 ff.
35 Annales Fuldenses ad 869, 870 (wie Anm. 27), 67-70; Hermanni Augiensis Chronicon. Hg. v. G. H. PERTZ, in: MGH SS 5,1844,106. 3 6 Erhalten in der Methodvita 8. Hg. v. F. GRIEVEC - F. TOMSIC, Constantinus et Methodius Thessalonicenses: Fontes, 1960, 157-158. 3 7 Annales Fuldenses ad 871 (wie Anm. 2 7 ) , 7 3 - 7 4 ; Annales Bertiniani ad 871. Hg. v. G. WAITZ (MGH S S rer. Germ. 5), 1883, 117; Annales Xantenses ad 871. Hg. v. B. von SIMSON (MGH S S rer. Germ. 12), 1909, 3 0 - 3 1 .
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dieser verdoppelten Machtbasis konnte er den Ostfranken wesentlich effizienter als seine Vorgänger Widerstand leisten; der Friede von Forchheim 874 sicherte ihm den "Status quo" und damit eine relative Unabhängigkeit38. In den Jahren des Friedens mit den Ostfranken breitete Sventopulk seine Macht in alle Richtungen aus, so in die Slowakei, wo um Nitra ein noch heidnischer Bulgarenstamm saß39. Aus der Methodvita ist ein Vorgehen gegen die südpolnischen Wislanen zu erschließen40. 879 griff Sventopulk in innerkroatische Wirren ein41. Schließlich ließe sich aufgrund von Andeutungen der Methodvita auch an Unternehmungen gegen die awarischen Restgruppen in Siebenbürgen denken. Als das Ostfrankenreich durch Erbteilungen und innere Zwistigkeiten geschwächt war, ging Sventopulk nach 882 sogar auf dessen Territorium zur Offensive über und erzwang 884 die Abtretung Pannoniens, 890 auch die Überlassung der Lehnshoheit über Böhmen42. Schon 885 war er auf einem Reichstag, von dem in der Chronik von Dioclea berichtet wird, durch einen päpstlichen Legaten zum rex gekrönt worden43. Der damalige Herrscher Serbiens, Mutimir, war ausweislich des Fragmentes eines Papstbriefes mit ihm verwandt44. Doch aus der Auffassung von Moravia als Teil eines südslawischen Blocks lassen sich noch weitere, bisher übersehene oder falsch interpretierte Interaktionen erklären, etwa die Bündniskonstellation des Jahres 864, als Franken und Bulgaren auf der einen Seite, Byzanz und besagter südslawischer Block auf der anderen Seite gegeneinander standen. Es bestand also nach 890, wenn auch nur fur vier kurze Jahre, ein Großreich, das alle slawischen Nachbarn des Frankenreiches zwischen Adria und Böhmen vereinte und natürlich eine immense Gefahr für Arnulf von Kärnten darstellte45. Um diese Zeit hatten die ostfränkischen Karolinger alle von ihrem großen Ahnherren im Südosten gemachten Eroberungen an Sventopulk verloren; dessen Reich konnte sich an Größe mit dem ihren messen. Böhmen darf nun in jeder Hinsicht als Testfall für die Gültigkeit der alten oder neuen Theorie über die Lage des sog. "Großmähren" gelten. Seit Karl dem Großen waren die Böhmen den Franken tributpflichtig, eine Verpflichtung, der sie allerdings in Zeiten fränkischer Schwäche nicht nachkamen, so etwa 846, 856/57, 869, 871-874 und 88046. Trotzdem erhielten die Karolinger den Anspruch einer Oberhoheit während des gesamten 9. Jahrhunderts aufrecht, abgesehen von der kurzen Unterbrechung zwischen 890 und 894, als sie an Sventopulk abgetreten war. Böhmen stand unter einer Vielzahl von
38 Annales Fuldenses ad 874 (wie Anrn. 27), 82-83. 39 Zu erschließen aus dem Brief des Salzburger Erzbischofs Theotmar vom Jahr 900; vgl. Conversio (wie Anm. 32), 144-145 und aus dem "Bairischen Geographen" (wie Anm. 17), 2. 40 Methodvita 11 (wie Anm. 36), 161. 41 Dazu EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 223 ff. und DERS., Erzbistum (wie Anm. 1), 52 ff. 42 Zu Pannonien BOWLUS (wie Anm. 1), 208 ff.; EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 256-257. Zu Böhmen Reginonis Chromcon ad 890. Hg. v. F . KURZE (MGH SS rer. Germ. 50), 1890,134. 43 Letopis 9 (wie Anm. 31), 302 ff. 44 MGH Epp. VII. Hg. v. P. KEHR, 1928, Fragmenta registri Johannis VIII papae, Nr. 18. 45 Zu Sventopulks Reich um diese Zeit s. EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1), Karte 18. 46 F. PRINZ, Die Stellung Böhmens im mittelalterlichen Deutschen Reich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 28, 1965, 99-113.
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Teilfursten, welche kleinere Teilstämme repräsentiert haben können, aber nicht müssen. 845 ist die Rede von 14 "duces", die erstaunlich mit den 15 civitates der Böhmen beim "Bairischen Geographen" korrespondieren47. Im Jahre 872 gab es immerhin noch 5 oder 6 duces der Böhmen, je nach Rezension der Fuldaer Annalen, darunter einen Goriwei vielleicht der Premyslide Borivoj48. 895 wird immer noch eine Vielzahl von böhmischen duces genannt, unter denen allerdings nunmehr zwei eine hervorgehobene Position einnahmen, darunter der Premyslide Spitignewo oder Spytihnev49. Angesichts dieser Vielzahl böhmischer Machthaber wäre es nun äußerst erstaunlich, wenn ein im benachbarten Mähren angesiedeltes "Großmähren" nicht schon frühzeitig nach Böhmen hinübergegriffen hätte; wissen wir doch, daß spätestens seit Moimir dieses Reich unter einem einzigen Herrscher geeint war. Aber es ist erst Sventopulk, der Böhmen unter seine Herrschaft bringt, und zwar als letztes von ihm gewonnenes Gebiet im Jahre 89050 - und auch das erst, nachdem er das für die Franken viel wichtigere Pannonien schon 884 erworben hatte. Es war offensichtlich als territoriales Bindeglied zwischen Moravia und Böhmen, das für Moravia peripher lag, erforderlich51. Das heutige Mähren war offensichtlich schon zu einem früheren Zeitpunkt mit Böhmen vereinigt worden, sei es auf kriegerische, sei es auf dynastischem Wege; dies läßt sich auch archäologisch nachweisen. Der Fall Böhmen zeigt also deutlich, daß wir den Reichskern Moravias unter Moimir, Rastislav und Sventopulk nicht in Mähren, sondern tatsächlich in Ostungarn zu suchen haben, und dafür spricht auch, daß Böhmen nur bis 894 gehalten werden konnte52. Das Ende Moravias kam mit den nach 892 verstärkt einsetzenden ostfränkischen Feldzügen sowie mit einer Erbteilung unter den Söhnen des 894 verstorbenen Sventopulk, Moimir II. (der offensichtlich das eigentliche Moravia im Norden erhielt) und Sventopulk II. (dem der Südteil in Bosnien-Slawonien zugewiesen wurde)53. Auf diese Verteilung verweisen u. a. die geradezu programmatischen Namen, sodann die Bezeichnung Moimirs als Herrscher Moravias in fränkischen Quellen, aber auch die alleinige Nennung Sventopulks II. in der Chronik von Dioclea, die sich nur für Vorgänge südlich von Donau und Drau interessiert. Zwischen den Brüdern brach 898 ein Bürgerkrieg aus, in den sich die Franken einmischten und der beide Reichshälften zusätzlich schwächte54. Parallelen zu früheren Vorgängen im Frankenreich sind evident. Den Ausschlag gab aber die ungarische Invasion im Karpatenbecken. Schon lange haben Historiker vermutet, daß sich erste ungarische Scharen bereits bei ihrem Streif-
47 Annales Fuldenses ad 845 (wie Anm. 27), 35; vgl. dazu Descriptio civitatum (wie Anm. 17). 48 Annales Fuldenses ad 872 (wie Anm. 27), 76. 49 Annales Fuldenses, Continuatio Ratisbonensis ad 895 (wie Anm. 27), 126. 50 Das ist festzuhalten gegen die "traditionelle", v. a. tschechische und slowakische Geschichtsschreibung mit ihrer Behauptung, daß Böhmen bereits seit Rastislavs Zeiten unter der Hoheit "Großmährens" stand. 51 Vgl. die Karte 18 bei EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1). 52 53
EGGERS, Großmähren (wie A n m . 1). EGGERS, Großmähren (wie A n m . 1), 300 ff.; BOWLUS, Franks (wie Anm. 1), 242 ff.
54 Annales Fuldenses, Continuatio Altahensis ad 898, 899 (wie Anm. 27), 131 ff.
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zug von 862/63 in Teilen des Karpatenbeckens angesiedelt haben könnten 55 . Nunmehr hat die Archäologie den Nachweis erbracht, daß Spuren einer ersten, deutlich von späteren zu unterscheidende Generation von Einwanderern mit noch rein asiatischer Tracht und Ausrüstung an zwei Punkten des Karpatenbeckens zu finden sind, nämlich an der oberen Theiß und am Donauabschnitt der südlichen Slowakei 56 . Offenbar waren sie hier von Rastislav und Sventopulk als zunächst willkommene Hilfsvölker angesiedelt worden. Das Blatt wendete sich, als kurz nach dem Tode Sventopulks I., nämlich im Jahre 895, die Ungarn von einem anderen Reitervolk, den Petschenegen, aus Südrußland vertrieben wurden. Sie suchten Zuflucht im Karpatenbecken und brauchten nun natürlich mehr Land, das ihnen die Moravljanen aber nicht zugestehen konnten und wollten57. Auch so erklärt sich der Bündniswechsel der Ungarn hin zu den Ostfranken Arnulfs. Der Ablauf der ungarischen Eroberung 58 ging so vor sich, daß erst das zwischen den beiden ungarischen Siedlungsinseln liegende Gebiet besetzt wurde; damit war Moravia von Böhmen abgeschnitten. Der Zeitpunkt dieses Vorstoßes liegt nach 897, denn damals gab es noch Konflikte zwischen Moravljanen und Böhmen (wobei letztere die Franken zu Hilfe riefen), was territoriale Kontakte impliziert 59 . Dann führten die Ungarn im Auftrag Arnulfs bis 899 einige Feldzüge, v. a. nach Oberitalien durch. Währenddessen bekriegten die ostfränkischen Markgrafen Liutpold und Aribo die Moravljanen Moimirs II. Nach dem Tode Arnulfs, an dessen Person sie den Vertrag gebunden sahen, besetzten die Ungarn "Pannonien", das zuvor Brazlav in fränkischem Auftrag verwaltete hatte, etwa zwischen 900 und 902. Damit war Moravia auch vom Ostfrankenreich abgeschnitten. 902 drang eine letzte, undeutliche Nachricht über einen Kampf mit ungewissem Ausgang zwischen den Moravljanen und Ungarn zu den Baiern 60 . Als Regino von Prüm 908 seine Chronik abschloß, war die ungarische Eroberung Moravias eine vollzogene Tatsache 61 . Derartige Unklarheiten über das Ende Moravias wären übrigens undenkbar, hätte es im heutigen nördlichen Mähren gelegen, das ja der bairischen Ostmark an der Donau direkt benachbart war. Byzantinische und altslawische Quellen wissen dagegen von einer Flucht der Moravljanen zu den Kroaten, Serben und Bulgaren, also nach Süden, was nur im Fall eines südslawischen Moravia Sinn ergibt62. Gleichzeitig hatten 900 bzw. 901 ungarische Überfälle auf die Ostmark und auf Karantanien begonnen, ein Vorspiel der bis 955 dauernden Ungarnzüge nach Westen.
Landnahme (wie Anm. 1). Untersuchungen zur Herkunft der Ungarn und zum Beginn ihrer Landnahme im Karpatenbecken, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 35, 1988, 55
EGGERS,
56
M.
SCHULZE-DÖRRLAMM,
373-478.
Stammesbildung (wie Anm. 1 ) ; B O W L U S , Franks (wie Anm. 1), 2 3 6 FF. Landnahme (wie Anm. 1). 59 Armales Fuldenses, Continuatio Altahensis ad 897 (wie Anm. 27), 131. 60 Armales Fuldenses, Continuatio Altahensis ad 902 (wie Anm. 27), 135; Annales Alamanmci ad 57
EGGERS,
58
EGGERS,
9 0 2 . H g . v . G . H . PERTZ, i n : M G H S S 1, 1 8 2 6 , 5 4 .
61
Reginoms Chronicon (wie Anm. 42) ad 894 Letzterwähnung Moravias; Abschluß ad 908.
62
Vgl. F.GGERS, Großmähren (wie Anm. 1), 321 ff.
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Somit hatte sich im Karpatenbecken wieder eine nichtslawische Reichsbildung vollzogen, und im Grunde war der machtpolitische und ethnische Zustand vor den Awarenkriegen Karls des Großen wiederhergestellt - zumal die Ungarn über eine starke turkobulgarische Komponente als Herrscherschicht verfügten, welche die zahlenmäßig überwiegenden fmno-ungarischen HilfsVölker dominierte63. Allerdings verblieb ebenso eine starke slawische Unterschicht, die sich hauptsächlich aus den unterworfenen Moravljanen rekrutierte. Sie hebt sich archäologisch als Bjelo-Brdo-Kultur von der altmagyarischen Kultur ab; auch in der ungarischen Sprache und im Ortsnamenmaterial haben diese Slawen Spuren hinterlassen64. Anders verlief die Entwicklung südlich von Donau und Drau. In Bosnien-Slawonien herrschte nach Auskunft der Chronik von Dioclea Sventopulks gleichnamiger Sohn zwölf Jahre, das hieße bis 90665. Auf ihn soll nach einem kurzen Intermezzo eines älteren Sohnes sein angeblicher Sohn Tomislav gefolgt sein, den man in verläßlichen Quellen freilich als ersten König von Kroatien kennt und dessen Herkunft man auf ein kroatisches Adelsgeschlecht zurückführt66. Wie immer seine Abstammung auch gewesen sein mag, Tomislav vereinigte bis zum Jahr 925, in welchem er spätestens zum rex Crouatorum gekrönt worden war67, alle Territorien der heutigen Staaten Kroatien und Bosnien. Das auf diese Weise entstandene Königreich blieb bis zu seiner Vereinigung mit Ungarn 1089 südlichster Nachbar des Ostfranken, dann des Deutschen Reiches .
63 EGGERS, Stammesbildung (wie Anm. 1); DERS., Landnahme (wie Anm. 1). 64
EGGERS, A w a r e n ( w i e A n m . 1).
65 Letopis 10 (wie Anm.), 309. 66
EGGERS, G r o ß m ä h r e n ( w i e A n m . 1), 3 4 3 ff.
67 Codex diplomaticus Croatiae, Bd. 1. Hg. V. M. KOSTRENCIC U. a., 1967, Nr. 24. 68 Zur Situation im Südosten nach der ungarischen Landnahme vgl. Karte 22 bei EGGERS, Großmähren (wie Anm. 1).
Wilhelm G. Busse Die 'karolingische' Reform König Alfreds
Die Engländer liebten und lieben ihren westsächsischen König Alfred mit ähnlich romantischer Verklärung wie wir unseren Karl oder unseren Barbarossa. Von solch patriotischer Verklärung zeugt im Falle Alfreds nicht nur das schauerlich monströse Denkmal von Hämo Thorneycroft, das zur Tausendjahrfeier des vorgeblichen Todesjahres von Alfred 1901 in Winchester aufgestellt wurde; davon zeugen auch die rund zwanzig wissenschaftlichen, aber vornehmlich pseudowissenschaftlichen Publikationen allein im Umfeld jenes Jubiläumsjahres. Zusammen mit den Theaterstücken, die aufgeführt wurden und werden, mit Liedern, die gesungen, Lobreden, die gehalten wurden und werden, sowie den wissenschaftlichen Publikationen, die in schöner Regelmäßigkeit erschienen sind und erscheinen, zusammen mit den Historienmalereien der Viktorianer oder ihren neogotischen Alfred-Fenstern belegen sie allesamt eine bereits Jahrhunderte andauernde Verehrung. Diese moderne und patriotische Einschätzung des Königs bestätigt sich in seiner Aufnahme in die Publikationsreihe "Heroes of the Nation" ebenso wie in einem ihm gewidmeten Band der Reihe der "Ladybird Books", die Geschichte für Kinder aufbereiten will; sie bestätigt sich auch in den regelmäßig aktualisierten "Teacher's Notes" für die Schulen aller Bildungsstufen. Ganz nebenbei will ich auch noch daran erinnern, daß Jahr für Jahr mit Inbrunst - wenn auch wohl selten zur Erinnerung an König Alfred - in der "Last Night of the Proms" die heimliche Nationalhymne Englands intoniert wird, "Rule Britannia, Britannia rule the waves!"; 1740 wurde diese Hymne als Schlußchor in James Thomsons und David Mallets Theaterstück "Alfred: A Masque" zur Musik von Thomas Arne uraufgeführt. Schon im Prolog der Version von 1751 heißt es "In arms renown'd, for arts of peace ador'd, Alfred, the nation's father, more than a lord ..." Noch heute kann man im vorgeblichen Geburtsort Alfreds in Wantage an der dort aufgestellten Alfred-Statue nachlesen, wie dann die Viktorianer um 1880 ihrer Bewunderung für Alfred Ausdruck gaben:
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Wilhelm G. Busse "Alfred found learning dead - and he restored it; education neglected - and he revived it; the laws powerless - and he gave them force; the Church debased - and he raised it; the land ravaged by a fearful enemy - from which he delivered it" '.
Nun könnte man mit Recht sagen, daß solche romantisch-patriotische Verklärung wohl Sache von Festrednern und damit die der populären Aneignung von Vergangenheit sein kann, aber nicht Sache der Wissenschaft sein d a r f 2 . Dem will ich entgegenhalten, daß gerade die Figur des Königs Alfred immer wieder Anlaß zu wissenschaftlichen Kontroversen gegeben hat und gibt; so jüngst in der Auseinandersetzung über die Frage, ob denn des Königs Biograph, Bischof Asser, die ihm zugeschriebene Vita des Königs überhaupt verfaßt habe. Das "Times Higher Educational Supplement" titelte dazu im Dezember 1995 treffend "Alf, the Cinder Fella". Treffend ist der Titel des Beitrags von Simon Targett nämlich insofern, als er die Pole angibt, zwischen denen das wissenschaftliche Bild des Königs auch heute noch zu schwanken pflegt. Den wenigen Skeptikern ist er ein redlicher Nachahmer Karls, Förderer einer Bildungsreform nach karolingischem Muster und Vater der englischen Prosa; den glühenden Verehrern ist er Erlöser der Nation, Vater der englischen Prosa, Initiator der englischen Gesetzgebung, Reformator der Kirche, Staatstheoretiker und Philosoph zugleich, in allem den karolingischen Vorgänger übertreffend. Oder, treffend, kurz und griffig in der Formulierung des englischen Historikers Alfred P. Smyth: Alfred ist ein "scholar-king" 3 . In meinem Beitrag will ich dem changierenden Bild ein wenig auf den Grund gehen und fragen, was denn dran ist an diesem Bild von Alfred und dem Vergleich mit Karl. Ich tute das angesichts der auferlegten Begrenzung eher holzschnittartig; der Holzschnitt hat aber den Vorteil größerer Plastizität. Mein Argumentationsziel ist, das Sockelfundament des Monumentes Alfred ein wenig zurechtzurücken; ich weiß, daß ich damit nur ein anderes Alfred-Bild konstruiere. Mein Ziel will ich in drei Schritten erreichen: ich werde im ersten, unstrittigen und daher kürzesten Teil das karolingische Element an der englischen Reform im späten 9. Jahrhundert in Erinnerung rufen; im zweiten Teil skizziere ich das Alfred-Bild, das man heute in der historischen wie literarhistorischen Forschung vorfindet. Im dritten Teil frage ich nach der Plausibilität dieses Bildes und versuche, meine klare Absage an die vorherrschende Konstruktion mit vier Argumenten zu stützen. 1. Zunächst also erstens: 'the Carolingian connection'. Es ist heute wohl unumstritten, daß vieles von dem, was die englische Reform Alfreds ausmacht, ein vorbildhaftes Muster in den Reformbemühungen Karls des Großen und seiner Ratgeber fand, obwohl sich jedenfalls nach meinem W i s s e n - kein einziger, expliziter Hinweis auf die karolingischen Quellen in den englischen Reformwerken findet. Die Parallelen sind aber 1 D. STURDY, Alfred the Great, London 1995,240. 2 Zum romantischen Alfred-Bild vgl. L. PRATT, Anglo-Saxon attitudes? Alfred the Great and the romantic national epic, in: Literary appropriations of the Anglo-Saxons from the thirteenth to the twentieth century. Hg. v. D. Scragg u. C. Weinberg, Cambridge 2000, 138-156. 3 A. P. SMYTH, King Alfred the Great, Oxford 1995, 583 u. Ö.
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deutlich genug 4 . Man nehme das Beispiel der Gesetzgebung: wie Karl läßt Alfred frühere Gesetze sammeln und zusammenstellen, wie in der karolingischen Gesetzgebung wird auch in die erste alfredische mosaisches und neutestamentliches Gesetz integriert und zur Grundlage für englisches Recht gemacht. So wie in der karolingischen Bildungsreform wird auch in England der Versuch initiiert, den Söhnen des Kriegeradels zunächst eine Schulgrundausbildung zu vermitteln, bevor die Entscheidung über ihren weiteren Lebensweg sie zu Spezialisten entweder des scharfen Schwertes oder der spitzen Feder macht. Um nur noch ein drittes Beispiel zu nennen: Auch die Biographie Alfreds von Bischof Asser wäre ohne die Vita Caroli Einhards kaum denkbar; der Waliser folgt dem Franken in vielen Mustern, ja sogar bis in einzelne Formulierungen seiner Lebensschilderung 5 . Neben den Parallelen zwischen den Grundmustern und den Inhalten der jeweiligen Reformpläne haben wir auch ausreichende Information über denkbare Vermittlungswege, auf denen Wissen über die karolingische Renaissance nach England gelangt sein kann. Ich will nur einen einzigen aus vielen belegten und weiteren denkbaren Wegen skizzieren am Beispiel des Klosters Ferneres. Der Angelsachse Alkuin, Hoflehrer Karls und später Abt von Tours, war ebenfalls Abt dieses Klosters; ihm folgte sein Schüler Sigewulf und später Lupus, der wiederum Schüler von Alkuins Schüler Hrabanus Maurus gewesen ist. Lupus fuhrt um die Mitte des 9. Jahrhunderts angeregte Korrespondenz mit England, unter anderen mit Alfreds Vater ^Ethelwulf, der als König der Westsachsen einen fränkischen Sekretär (Felix) hatte. Man erkennt an solchen 'social networks', daß die Verbindungen zwischen England und dem Frankenreich nicht abreißen; über solche Verbindungswege werden leicht Wissensbestände ebenso wie die nötigen Bücher für Planung und Inhalte der Reform nach England gelangt sein. Dies sind also die Einflußlinien: Der Karolinger liefert das Muster; wie im Reich Karls des Großen findet auch bei Alfred 'dem Großen' die Reform königliche Unterstützung. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf, denn die Reform selbst soll in England in einem wesentlichen Punkt doch ganz anders gewesen sein - nämlich in der Beteiligung des Königs selbst an den Reformbemühungen. Anders als Karl habe Alfred - und ich überspitze jetzt das traditionelle Bild von ihm ganz bewußt - anders als Karl habe Alfred fast alles allein
4 Vgl. aus der Fülle der Verweise ζ. B. P. WORMALD, The uses of literacy in Anglo-Saxon England, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 27, 1977, 95-114, bes. 106-108; J. L. NELSON, A king across the sea. Alfred in continental perspective, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 36, 1986, 45-68; J. L. NELSON, Wealth and wisdom: the politics of Alfred the Great, in: Kings and kingship. Hg. v. J. Rosenthal (= Acta XI), Binghamton 1986, 31-52, hier 35-37; P. STAFFORD, Unification and conquest: a political and social history of England in the tenth and eleventh centuries, London 1989, 184-186; P. WORMALD, Anglo-Saxon society and its literature, in: The Cambridge companion to Old English literature. Hg. v. M. Godden und Μ. Lapidge, Cambridge 1991, 1-22, hier 16-17; etc. etc. 5 M. SCHÜTT, The literary form of Asser's 'Vita Alfredi', in: English Historical Review 72, 1957, 209-220; D. A. BULLOUGH, The educational tradition in England from Alfred to Aelfric: teaching utriusque linguae, in: Settimane Spoleto 19, 1972, 453^194, hier 458, Anm. 11; Alfred the Great: Asser's Life of King Alfred and other contemporary sources. Übers, v. S. KEYNES und Μ. LAPIDGE. H a r m o n d s w o r t h 1 9 8 3 , 2 5 4 , A n m . 139; SMYTH ( w i e A n m . 2 ) , 2 2 2 - 2 2 9 .
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gemacht. Ich komme damit zu meinem zweiten Teil, der Skizze des Alfred-Bildes aus historischer und literarhistorischer Forschung. 2. Der Grund für das moderne Alfred-Bild ist programmatisch im sogenannten Vorwort zur altenglischen Version der Regula Pastoralis Gregors des Großen gelegt; es ist dies jener Brief Alfreds an die Bischöfe seines Reiches, der den Abschriften der altenglischen Version beigegeben wurde. Dort berichtet Alfred über den Bildungsverfall, behauptet, daß es in England zur Zeit seines Regierungsantritts nur wenige Lateinkundige gegeben habe und daß deshalb sinnvoll sei, diejenigen Bücher, die jedermann kennen solle und deren Kenntnis notwendig sei, ins Englische zu übersetzen. Ich zitiere aus dem altenglischen Text mit meiner eigenen Übersetzung: Da ic da gemunde hu sio lar Leedengediodes cer öissum afeallen wees giond Angelcynn, & deah monige cuöon Englisc gewrit arcedan, da ongan ic ongemang odrum mislicum & manigfealdum bisgum disses kynerices da boc wendan on Englisc de is genemned on Leeden Pastoralis, A on Englisc Hierdeboc, hwilum word be worde, hwilum andgit of angi[e]te, swee swee ic hie geliornode cet Plegmunde minum cercebiscepe & cet Assere minum biseepe & cet Grimbolde minum meesseprioste & cet Iohanne minum meessepreoste. Siddan ic hie da geliornod heefde, swee swee ic hie forstod, & swee ic hie andgitfullicost areccean meahte, ic hie on Englisc awende; ond to eelcum biscepstole on minum rice wille ane onsendan ...6 "Als ich mich erinnerte, aufweiche Weise Lateinbildung in ganz England zuvor verfallen war, und daß doch manche immerhin Englisch geschriebene Texte lesen konnten, da begann ich mitten zwischen den verschiedenen und vielgestalten Bedrohungen dieses Königreiches, das Buch ins Englische zu übersetzen, das in Latein Pastoralis heißt und in Englisch 'Hirtenbuch', manchmal Wort für Wort, manchmal nach dem Sinn, wie ich es von meinem Erzbischof Plegmund lernte und von meinem Bischof Asser sowie meinen Messpriestern Grimbold und John. Nachdem ich es verstanden hatte, übersetzte ich es nach meinem besten Verständnis und so, wie ich ihm den meisten Sinn geben konnte; ich beabsichtige, eine Abschrift an jede Diözese meines Reiches zu senden..." Alfred hat also, mit der Hilfe seiner Lehrer, die Regula Pastoralis Gregors in eine verständliche altenglische Version übertragen - aber nicht nur dieses Werk . Denn dieselbe Reklamation der Autorschaft finden wir auch in weiteren altenglischen Versionen der Reformtexte. Asser zufolge fand dieser Wandel Alfreds zum gebildeten König 877 statt, als der König divino instinetu legere et interpretari simul uno eodemque die primitus
6 King Alfred's West Saxon version of Gregory's Pastoral Care. Hg. v. Η. SWEET, 2 Bände (= Early English Text Society OS 45, 50), Oxford 1871 [ND Oxford 1958], 7-9 (Hatton MS). 7 An der Deutung des Vorwortes als Quelle für angelsächsische Geschichte und als Beleg für die Geschichte der altenglischen Literatur bin ich hier nicht interessiert; siehe dazu generell ζ. B. J. MORRISH, King Alfred's letter as a source on learning in England, in: Studies in earlier Old English prose. Hg. v. P. E. Szarmach, Albany 1986, 87-107; S. C. HAGEDORN, Received wisdom: the reception history of Alfred's Preface to the Pastoral Care, in: Anglo-Saxonism and the construction of social identity. Hg. v. A. J. Frentzen und J. Niles, Gainesville 1997, 86-107.
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inchoavit, durch göttliche Inspiration begann, Latein zu lesen und es zugleich zu übersetzen - alles an ein und demselben Tag 8 . Solchermaßen im 28. oder 29. Jahr seines Lebens (geb. 849) plötzlich mit ausreichenden Lateinkenntnissen versehen, übersetzte Alfred den Quellen zufolge nicht nur, erstens, die Regula Pastoralis Gregors, sondern auch, zweitens, die Consolatio philosophiae des Boethius; drittens, die Soliloquia des Augustinus von Hippo, das ist ein Dialog zwischen Augustinus und seiner ratio über die Unsterblichkeit der Seele; und viertens die ersten fünfzig Psalmen der Bibel. "König Alfred war der Übersetzer dieses Buches", heißt es im Prosa-Vorwort zum altenglischen Boethius, "er brachte es aus dem Lateinischen ins Englische" 9 . Und weiter - man lese genau, da die Formulierungen schon jetzt bekannt sein müßten: "Manchmal übersetzte er es Wort für Wort, manchmal nach dem Sinn, um es so klar und verständlich zu übersetzen, wie es ihm möglich war angesichts der verschiedenen und vielgestalten weltlichen Ablenkungen, die ihn oft in Gedanken oder physisch beschäftigten. Solche Beschäftigungen, die ihn während seiner Zeit auf dem Thron, den er akzeptiert hatte, bedrängten, sind unzählige; und dennoch: nachdem er dieses Buch verstanden und vom Lateinischen ins Englische übersetzt hatte, da wendet er es anschließend in Verse, wie es jetzt geschehen ist"70.
Ich muß auf die wörtlichen Parallelen zum Vorwort der Pastoral Care nicht besonders hinweisen und will nur hinzufugen, daß es auch noch wörtliche Entsprechungen zwischen den beiden altenglischen Vorworten und Assers Lateinisch geschriebener Biographie Alfreds gibt. Es kristallisiert sich somit das Bild eines Königs heraus, der als litteratus auf dem westsächsischen Thron mit der Boethius-Übertragung auch noch zum 'Staatstheoretiker' wird. Denn in dieser Übertragung findet sich auch der berühmte Abschnitt über jene drei Ordnungen des Königreiches, die rund einhundert Jahre später in der englischen Benediktinerreform und dann auch bei Adalbero von Laon wieder auftauchen: das sind die bellatores, die oratores und die laboratores, die als quasi gleichberechtigte Gruppen das Königreich tragen 11 . Wird Alfred mit der Übersetzung der Regula Pastoralis für moderne Literarhistoriker zum 'Vater englischer Prosa', so macht ihn dieselbe Forschung mit der Boethius-Übersetzung zum Philosophen und Theoretiker der angelsächsischen Gesellschaft. Endgültig zum Wissenschaftler wird er - glaubt man dem englischen Historiker Alfred P. Smyth 12 - durch die Übersetzung der Soliloquia des Augustinus. Der Dialog handelt von philosophischen Fragen wie der Unsterblichkeit der Seele, ihrer Möglichkeit der Gotteserkenntnis und ihrer Gottesschau nach dem Tod. Zum Wissenschaftler wird König Alfred für Smyth deswegen, weil er für diesen Traktat nur den ersten beiden 8 Asser's Life of King Alfred together with the Annals of Saint Neots erroneously ascribed to Asser. New impression with article on recent work on Asser's Life of Alfred by Dorothy Whitelock. Hg. v. W. H. STEVENSON, Oxford 1959 [ursprüngl. 1904], Kap. 87. 9 King Alfred's Old English version of Boethius De Consolatione Philosophiae. Hg. v. W. J. SEDGEFIELD, Oxford 1899 [ND. Darmstadt 1968], 1. 10 Ebd. 11 Vgl. G. DUB Γ. Die drei Ordnungen: Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt 1981, 151-167 und die nötigen Modifikationen von Τ. E. POWELL, The 'Three Orders' of society in Anglo-Saxon England, in: Anglo-Saxon England 23, 1994, 103-32. 12 SMYTH (wie Anm. 3), 577-583.
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Büchern des Augustinus folgt, in den letzten drei Büchern seine Quelle aber erheblich verändert und erweitert; wie ein hochgebildeter Kleriker zitiert er in diesen Büchern nicht nur Augustinus selbst, sondern ζ. B. Boethius, des Augustinus Brief De vivendo Deo, die Dialoge Gregors des Großen, die Regula Pastoralis und eine Homilia in evangelia Gregors, oder des Hieronymus Expositio quattuor evangeliorum, und das sind nicht einmal alle Quellen der altenglischen Version, die moderne Forschung ausgemacht hat. Auch hier gibt es keinen Zweifel: es ist " A l f r e d ' s version of the Soliloquies", mit der wir es zu tun haben, schreiben Simon Keynes und Michael Lapidge ; "it was A l f r e d ' s habit to expand his original", so schreibt Dorothy Whitelock die gelehrten Änderungen an der Vorlage dem König zu14. Und so wie in solcher Rezeption der Quellenbehauptungen, Alfred habe diese Texte übersetzt, der König zum hochgebildeten litteratus, zum philosophischen Denker, ja zum Kleriker stilisiert wird, so wird er mit der Quellenzuschreibung der Prosa-Psalmenübersetzung auch noch ein tief religiöser Herrscher. Anders als Karl, über den Einhard behauptet, er habe sich lediglich der Verbesserung des liturgischen Lesens und des Psalmengesangs gewidmet, aber in der Öffentlichkeit nie vorgelesen und im Chor nur leise mitgesungen 15 , anders als Karl also hat sein insularer Nachahmer die Psalmen gleich selbst übersetzt. Daß er dabei nur bis zum 50. Psalm gelangte, auch dafür gibt es eine naheliegende Erklärung: "Der Tod", so ist nicht nur in einer deutschen Geschichte der altenglischen Literatur zu lesen, "der Tod ereilte ihn während einer Übersetzimg der Psalmen'" 0 . Und man glaube bitte nicht, daß dies ausschließlich moderne, literarhistorische Spekulation sei: denn so steht es schon bei William of Malmesbury, einem englischen Historiographen des frühen 12. Jahrhunderts, und William hatte noch Quellen über Alfred zur Verfugung, die heute verloren sind. Wenn ich versuche, die Aspekte des modernen Alfred-Bildes und des Königs Reform zu bilanzieren, so sieht mein Fazit folgendermaßen aus. Ausgehend von eher theoretischen Modellen der karolingischen Renaissance und Bildungsreform sind am Westsachsenhof Alfreds unmittelbar praktische Konsequenzen gezogen und grundlegende lateinische Werke ins Englische übertragen worden. Die altenglische Version der Regula Pastoralis diente der Kirchenreform, weil sie Handbuch für den guten Hirten ist und seine Qualifikation wie seine Verhaltensnormen beschreibt und definiert. Die altenglische Version des Boethius entwirft ein auf angelsächsische Verhältnisse zugeschnittenes Weltbild über menschliches Glück und Unglück, das gebildeten Klerikern
13 KEYNES - LAPIDGE (wie Anm. 5), 138 [Hervorhebung von mir], 14 English historical documents I, c. 500-1042. Hg. v. D. WHITELOCK, London 21979, 917 [Hervorhebung von mir]. 15 Einhardi Vita Karoli Magni. Hg. v. O. HOLDER-EGGER, MGH SS rer. Germ. [25], Hannover 1911, Kap. 26. 16 Κ. Η. GÖLLER (unter Mitarbeit von U. BÖKER), Geschichte der altenglischen Literatur, Berlin 1971, 202. Die Behauptung beruft sich auf die Edition der Psalmen von J. W. BRIGHT und R. L. RAMSAY, The West-Saxon Psalms, Boston und London 1908; ihre Quelle ist William of Malmesbury (ca. 1080- ca. 1142) und dessen Erwähnung in C. L. WRENN, Α study of Old English literature, London 1967, 209 ("...we also learn from William of Malmesbury ... that King Alfred died leaving an unfinished translation of the Psalter.").
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als philosophisch-theologische Definition und Begründung christlicher Einstellungen zur Welt dienen und zu entsprechender Vermittlung hergenommen werden konnte. Die Soliloquia des Augustinus sind Anleitung und Handbuch fiir Meditation und waren am ehesten für die Belehrung über die monastische Lebensform geeignet. Die Übersetzung der Psalmen schließlich ist grundlegend für den Gebetsgesang der Kleriker und paßte zu der bildungsbeschreibenden Aussage im Vorwort zur "Pastoral Care", daß viele Kleriker die liturgischen Texte nicht mehr kannten. Das sind diejenigen Texte, deren altenglische Versionen in den Quellen Alfred zugeschrieben sind; ich muß sie noch ergänzen um solche, für die Alfreds Autorschaft nicht reklamiert ist, deren Produktion aber von ihm angeregt worden sei - ich habe über sie bisher nur aus Platzgründen geschwiegen. Wir haben schon vier Werke; da ist dann noch fünftens die altenglische Version der Dialogi Gregors des Großen: sie liefern als Ergänzimg zur "Pastoral Care" eine Fülle von Beispielen zur Illustration der eher theoretischen Lehren der "Care", illustrierende Beispiele, die in der Instruktion der Laien verwandt werden konnten - also ein weiterer Text zur Kirchenreform. Da ist sechstens die altenglische Version von Bedas "Kirchengeschichte Englands": sie gab den nicht mehr lateinkundigen Klerikern ihre historische Identität zurück und ließ sie somit teilhaben an der glorreichen Vergangenheit der englischen Kirche. Weiter ist da siebtens die altenglische Version der Weltgeschichte des Orosius; gründlich überarbeitet, lieferte sie die historisch-empirischen Belege für die Richtigkeit der theoretischen Prämissen des altenglischen Boethius-Textes und illustrierte am Handeln der Herrscher und ihrer Krieger, wie die richtige, christliche Einstellung zu glücklichem Gelingen und die falschen Einstellungen zu Mißlingen von Herrschaft fuhren. Achtens ist anzuführen die Angelsachsenchronik, die den Orosius als Weltgeschichte und Beda als Kirchengeschichte ergänzt mit einer an weltlichen Interessen orientierten Geschichtsschreibung, die bis in Alfreds Gegenwart reicht und dann in ihr fortgeführt wurde; sie bewahrt angelsächsische Geschichte fur die Kriegerkaste17. Die Gesetze schließlich bildeten, neuntens, den rechtlichen Rahmen für Konfliktregulierungen vielfaltigster Art. Selbst dieser rasante Überblick kann noch erhellen, daß die am Westsachsenhof produzierten Texte einem wohldurchdachten und in allen Einzelteilen aufeinander abgestimmten Plan entspringen, den sich nur hochgebildete 'master minds' erdacht haben können. Wir müssen uns demnach wohl einen klerikalen 'think tank' vorstellen, aus dem uns immerhin Bischof Asser aus Wales, Bischof Werferth von Worcester, Erzbischof Plegmund und die kontinentalen Priester Johann aus dem Sachsenland sowie Grimbald aus dem Land der Franken namentlich bekannt sind; ihnen werden noch andere zugearbeitet haben, von deren Existenz die Quellen keinen Laut geben. Es ergibt sich, daß die Muster der karolingischen Renaissance in England aufgegriffen, aber entschieden weiterentwickelt wurden, in der konsequenten Verwendung der Volkssprache ebenso wie in einem allumfassenden Bildungsprogramm, das mit seinen grundlegenden Texten zwei wesentliche gesellschaftliche Gruppen erreichen will, nämlich eine reformbedürftige Kirche und eine Kriegerkaste, die neu auf christliche Verhaltensmuster 17 Meine Aussage bezieht sich auf die Hofberichterstattung der Parker-Chronik bis 892; es versteht sich, daß in der weiteren Rezeption und Fortführung der Chronik andere (auch klerikale) Interessen gelegentlich oder stärker in den Vordergrund treten konnten.
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eingeschworen werden sollte18. Wenn somit Gemeinsames und Differentes zwischen Karolinger- und Westsachsen-Reform beschreiben werden können, dann bleibt aber immer noch zu fragen und als Frage zu beantworten, welchen Anteil der König selbst an dieser Reform hatte, und in Sonderheit, ob Alfred selbst an sozusagen vorderster Linie als Übersetzer tätig war. Das bringt mich zum dritten Teil meines Beitrags, in dem ich dem vorhin skizzierten Alfred-Bild eine entschiedene Absage erteilen will. 3. Wohin auch immer man schaut, unter Historikern wie Literarhistorikern wird man fast niemanden finden, die oder der nicht an den Quellenaussagen festhielte und Alfred die Übersetzung von mindestens vier Texten aus dem gesamten Reformwerk zuschreibt19. Ich will erst gar nicht auf das Problem der Manuskriptdatierungen eingehen und als Beispiel auch nur en passant erwähnen, daß das einzige erhaltene Manuskript der Soliloquia aus dem 12. Jahrhundert stammt. Es sollten uns nämlich schon die Wiederholungen und Parallelen in den Zuschreibungstexten davor warnen, den Behauptungen der Quellen unbesehen Glauben zu schenken; zu sehr scheinen durch die Zuschreibungen stereotype Muster hindurch, die beliebig auf jeden Text vom Westsachsenhof applikabel und damit nicht mehr aussagekräftig sind. Ich will mich statt dessen auf vier Argumente gegen die Autorschaft Alfreds beschränken, die ich folgendermaßen skizziere. Da ist erstens der Zeitfaktor; in eine banale Frage umgesetzt, lautet er: Hatte der König gemong oörum ond mcmigfealdigum bisgum öisses kynerices überhaupt Zeit zur als zeitaufwendig beschriebenen Übersetzung, wann sollte er sie mitten "zwischen den verschiedenen und vielgestalten Beschäftigungen" der Königsherrschaft überhaupt leisten? Zweitens wird der Ausnahmecharakter seiner Bildung zum Argument, drittens die im Mittelalter gebräuchlichen Topoi des Herrscher- und Mäzenatenlobs einschließlich des hagiographischen Motivs, die das moderne AlfredBild prägen; viertens und letztens will ich in meinem dritten Beitragsteil noch ein Argument über die Motivationen zur Reform gegen die Reklamation der Autorschaft Alfreds anfuhren. Jedes dieser Argumente kann ich hier nur in Thesenform vorbringen und begründen, für ausfuhrlichere Darstellung und Diskussion fehlt der Platz. 3. 1 D e r Z e i t f a k t o r . Für den Faktor des Zeitbedarfs als Argument gegen Alfreds Autorschaft will ich mich hier lediglich auf Angaben aus Assers Biographie des Königs und aus der Angelsachsenchronik beziehen. Ausgangspunkt soll mir die Beschreibung der Übersetzertätigkeit in den Vorworten sein, daraus ergibt sich folgendes Bild: Der lateinische Text wird von Helfern erklärt, die Erklärungen münden in einen Verstehensprozeß, dem dann die Übersetzung folgt, manchmal "Wort für Wort, 18 Dieses Interessenspektrum ergänzt NELSON, Wealth (wie Anm. 4), um das alfredische Konzept von "weal ond wisdom", materiellen Gütern, die 'Weisheit', verstanden als Befolgung christlicher Lehre, als ihren Ursprung haben. 19 Nur vier Beispiele aus einer langen Traditionskette: KEYNES/LAPIDGE (wie Anm. 4), 32; SMYTH (wie Anm. 3)217-248; H. SAUER, König Alfreds Boethius und seine Rhetorik, in: Anglistik 7/2, 1996, 57-89, hier 61-62; R. ABELS, Alfred the Great: war, kingship and culture in Anglo-Saxon England, London 1998,219-257.
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manchmal nach dem Sinn" 20 ; in diesem Prozeß müssen auch nötige Diskussionen noch berücksichtigt werden, die jede Änderung gegenüber den Quellen begleitet haben werden. Die Nähe solcher Quellenbehauptung zur Darstellung Bedas über Casdmons Dichtungsproduktion braucht nicht eigens betont zu werden, sie ist zu offensichtlich: Visumque est omnibus caelestem ei α Domino concessam esse gratiam, exponebantque illi quendam sacrae historiae siue doctrinae sermonem. praecipientes eum, si posset, hunc in modulationem carminis transferre. At ille suscepto negotio abiit, et mane rediens optimo carmine, quod iubebatur, conpositum reddidit. ... iussitque illum Seriem sacrae historiae doceri. At ipse cuncta, quae audiendo discere poterat, rememorando secum et quasi mundum animal ruminando, in carmen dulcissimum conuertebat... "Und allen wurde klar, daß ihm die himmlische Gnade vom Herrn gewährt worden war, und sie [i. e. viele gelehrte Männer] lasen ihm eine Erzählung der heiligen Geschichte oder Lehre vor und wiesen ihn an, sie in Liedgesang zu übertragen, wenn er könne. Nach dem Empfang des Auftrags ging er weg und lieferte bei der Rückkehr am Morgen das, was ihm aufgetragen worden war, in einem hervorragenden Lied verfaßt ab ... und [Äbtissin Hild] befahl, ihn im Ablauf der heiligen Geschichte zu unterrichten. Alles, was er durch Hören lernen konnte, verwandelte er in ein sehr schönes Lied ,.." n
Abgesehen von der memorialen Leistung Caedmons sind die Berichte in ihrer Struktur der Erklärung (Auslegung und Umsetzung ins Englische) auch deswegen vergleichbar, weil Asser zufolge Alfred nämlich erst 877 mit dem (ebenso ohne Zweifel legendenhaften) Erwerb seiner Lateinkenntnisse und mit ersten Übersetzungen begonnen hat. Dieser Zeitpunkt fällt aber mitten in die Periode wikingischer Bedrohung und beständiger Kriegführung. Nach Ausweis der Angelsachsenchronik mußte Alfred vom Regierungsantritt 871 bis mindestens 878 um das Überleben seines Reiches als des letzten englischen Königreiches auf der Insel kämpfen, bis auf Wessex hatten die Wikinger alle anderen Königreiche überrannt. Zwischen 878 und 892 war Wessex dann frei von Angriffen 22 , so daß beiden Daten so etwas wie 'termini post' und 'ante quem' fur die Übersetzungs- und Reformbemühungen des Königs darstellen. Jedoch muß auch diese Zeitspanne noch weiter eingegrenzt werden. Denn im Vorwort zur "Pastoral Care" - die gemeinhin als erstes Werk der Übersetzungen angesetzt wird - ist ja Grimbald als einer deijenigen Berater Alfreds genannt, die ihm bei der Erklärung des lateinischen Textes halfen; Grimbald kam jedoch erst 886-887 nach Wessex 23 . Und wenn auch das Vorwort selbst sicher erst nach der Übersetzung des Textes geschrieben wurde und man daher mit dem Rang Plegmunds nicht wirklich als 'terminus post quem' argumentieren kann,
20
SEDGEFIELD ( w i e A n m . 9 ) , 1; SWEET ( w i e A n m . 6 ) , 7 .
Beda der Ehrwürdige: Kirchengeschichte des englischen Volkes. Hg. v. G . SPITZBART, Darmstadt 2 1997, 399-401. 22 Wenn auch nicht - und das darf nicht vergessen werden - frei von Kämpfen gegen Wikinger: siehe ζ. B. die Eroberung Londons durch Alfred im Jahr 886; vgl. zum Bild von Alfred als Kriegerfürst u. a. S. K E Y N E S , A tale of two kings: Alfred the Great and ^ithelred the Unready, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 36, 1986, 195-217, bes. 196-201. 23 P. GRIERSON, Grimbald of St Bertin's, in: English Historical Review 55, 1940, 529-561; J. B A T E L Y , Grimbald of St Bertin's, in: Medium £ v u m 35, 1966, 1-10; SMYTH (wie Anm. 3), 255-259. 21
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so muß dennoch auch dies ins Kalkül gezogen werden: Plegmund wird erst 890 Erzbischof. Rein rechnerisch blieben demnach nur rund zwei bis fünf Jahre für die vorgebliche Übersetzungstätigkeit des Königs, die er - ich wiederhole das - "mitten unter verschiedenen und vielfaltigen Beschäftigungen in diesem Königreich" ausgeübt haben soll. Zu den Reformbemühungen in der Zeit von 878 bis 892 gehörten unter anderem: die Reform des Rechtswesens, in der Alfred seine Vasallen zu brauchbaren Richtern in Hundred und Shire Courts erziehen lassen wollte24; der Festungsbau nach dem Muster des Burghai Hidage, dem zufolge Alfred sein Reich an allen Grenzen mit teils neu erbauten, teils wiederaufgebauten und teils völlig neu geplanten, befestigten Orten umgeben ließ, so daß im Falle eines erneuten Angriffs der Wikinger kein Bewohner im Grenzgebiet weiter als rund 30 Meilen von einem befestigten Ort entfernt war25; zu den Reformanstrengungen gehörte offenbar auch die Notwendigkeit, reformunwillige Untertanen entsprechend zu disziplinieren26. Von den üblichen Geschäften der Herrschaft, den Ratsversammlungen, den Gerichtssitzungen, den Reisen von Residenz zu Residenz und anderen Alltäglichkeiten will ich erst gar nicht reden. Ich will Ihnen und mir auch die Mühe ersparen, wenigstens annähernd zu kalkulieren, wie viele Tage oder Monate ein nur wenig oder gar ungeübter Lateiner - selbst mit Beratung - zur Übersetzung von Texten des Schwierigkeitsgrades etwa der Soliloquia gebraucht hätte. Mir will es scheinen, daß angesichts seiner übrigen Aufgaben der Behauptung der Quellen von einer umfangreichen Übersetzertätigkeit des Königs wenig Glaubwürdigkeit zukommt; zu sehr klingt das nach absichtsvoll konstruierter Legende, zu sehr folgt es vorgegebenen hagiographischen Mustern hoher Bildung bei heiligen Kirchenmännern. Wie auch immer man die fur die behauptete rege Übersetzertätigkeit des Königs benötigte Zeit kalkuliert27: Es wird zu wenig gewesen sein, um auf der einen Seite das Bild eines hochgebildeten und lateinkundigen Königs, der wie ein Mönch in der Studierstube Quellen kompilieren läßt, sie quasi mundum animal ruminando revidiert und ins Englische überträgt, und auf der anderen Seite das des kriegführenden und quasi allgegenwärtigen Herrschers in einem plausiblen Miteinander zu harmonisieren. Wer argumentiert, daß Alfred nicht nur übersetzt, sondern seine Vorlage gleich auch modifiziert und sogar mit Bezug auf Aspekte der Doktrin verändert habe, verkennt den Zeitaufwand an Kompilation, Textvergleichen oder -exzerpten, der erforderlich ist, um solche Leistung zu erbringen; er macht den König zum hochgebildeten Kleriker, der er
24
STEVENSON ( w i e A n m . 8 ) , 106.
25 D. HILL, The Burghai Hidage: the establishment of a text, in: Medieval Archaeology 13, 1969, 84-92; P. WORMALD, The ninth century, in: The Anglo-Saxons. Hg. J. Campbell, Oxford 1982, 132159, hier 152-153; KEYNES - LAPIDGE (wie Anm. 5), 193-194; ABELS (wie Anm. 19), 194-207. 26
STEVENSON ( w i e A n m . 8), K a p . 9 1 .
27 Solche Kalkulationen sind - wie natürlich auch meine - immer interessierte Interpretationen der Zeitangaben; üblich ist die angesetzte Zeitspanne von 890-899 für alle vier Werke; vgl. u. a. D. WHITELOCK, The prose of Alfred's reign, in: Continuations and beginnings: studies in Old English literature. Hg. v. Eric Gerald Stanley, London 1966,67-103, hier 75-77; SAUER (wie Anm. 19), 61, die SMYTH (wie Anm. 3), 240-248 gem auf die Zeitspanne von 885-892 und 896-899 (Psalmen) verschoben sähe.
Die 'karolingische' Reform König Alfreds
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sicher nicht war28. Wiewohl ganz anders motiviert und Teil klerikaler Propaganda des späten 10. Jahrhunderts zur Definition eines neuen Königsbildes, mag ^lfrics Behauptung als Korrektiv dienen: Wyrdwriteras us secgad, da de awritan be cyningum, ptzt pa ealdan cyningas on dam cerran timan hogodon hu hi mihton heora byrdena alihtan, for pan de an man ne mSelbstrühmung