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German Pages 220 [224] Year 2012
BAND 7 Franz Steiner Verlag
VILL A VIGONI IM GESPRÄCH
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CENTRO ITALO-TEDESCO PER L‘ECCELLENZ A EUROPEA DEUTSCH-ITALIENISCHES ZENTRUM FÜR EUROPÄISCHE EXZELLENZ
Impulse – Villa Vigoni im Gespräch Band 7 Gegründet von GREGOR VOGT-SPIR A
ab Band 7 herausgegeben von IMMACOLATA AMODEO
Kultur des Wettbewerbs Wettbewerb der Kulturen Herausgegeben von Joachim Starbatty, Gregor Vogt-Spira und Jürgen Wertheimer
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2012
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10171-4 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2012 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Lektorat: Käte Wohltmann Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
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Vorwort der Herausgeber K ÄTE WOHLTMANN
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Kultur des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen. Ein Konferenzbericht GREGOR VOGT-SPIR A
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Die ersten europäischen Wettbewerbskulturen. Griechenland und Rom – zwei unterschiedliche Modelle HERMANN LÜBBE
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Wettbewerb und sonstige Kulturen des Umgangs mit Unterschieden MICHAEL WOHLGEMUTH
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Dimensionen des Wettbewerbs. Thesen, Theorien, Trugschlüsse ELMAR NASS
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Eine Kultur des normativen Humanismus. Was »Liebe in Wahrheit« dazu beiträgt HELMUT DIGEL
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Kulturen des Wettbewerbs im Sport JÜRGEN WERTHEIMER
101
Wir wollen um die Wette leben ANDREA BEYER
107
Wettbewerb in den Medien ANIL BHAT TI
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Indien im Spannungsfeld von dynamischer Diversität und fundamentalistischen Tendenzen STEFAN KRAMER
125
Diskurse von Harmonie und Wettbewerb und die postnationale Konstruktion eines »Cultural China« RAINER HANK
143
Geist und Stil. Warum Ökonomen etwas von Kultur verstehen müssen RAINER TREPTOW
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Kulturelle Evolution und pädagogische Einwirkung. Erziehung zwischen Wettbewerb und Solidarität
Inhalt
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Inhalt
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ROLF OERTER 167
Wettbewerb und Kooperation – von der biologischen zur kulturellen Evolution WOLF SCHÄFER
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Europa, Wettbewerb und Haydn GÖTZ WERNER UND ANDRÉ PRESSE
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Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen JOACHIM STARBAT T Y
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Geld, Gier und Wettbewerb. Wie es zu den Exzessen in der Welt des Geldes gekommen ist
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Zu den Autoren
Vorwort der Herausgeber Weltweit ist Wettbewerb ein beherrschender, wenn nicht der beherrschende Faktor. Die Vorstellungen von dem, was Wettbewerb bedeutet, sind aber nicht nur von Kultur zu Kultur verschieden; sie unterscheiden sich auch durch die Schauplätze, auf denen Wettbewerb herrscht: Sport, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur. Um einen Begriff von den unterschiedlichen Kulturen des Wettbewerbs zu gewinnen, bedurfte es, besonders in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und der Globalisierung, einer ebenso offenen wie kontrovers geführten Diskussion. Die über dem Comer See gelegene Villa Vigoni – eingerahmt von Hügeln und Bergen – war genau der rechte Ort für wissenschaft liche Auseinandersetzung und freundschaft liche Begegnung. Entsprechend der Komplexität des Themas haben wir versucht, möglichst viele Ansätze philosophischer, kulturwissenschaft licher und wirtschaftswissenschaftlicher Art zu erörtern. Nicht von ungefähr ist das Wettbewerbsprinzip im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft Ausdruck von Freiheit und Verantwortung, also ein gesamtgesellschaft liches und kulturelles Phänomen erster Ordnung. In diesem Band sind die Beiträge der Konferenz versammelt. Sie stellen entsprechend der Komplexität des Themas unterschiedliche Ansätze zur Disposition und bieten ein breites Panorama des Verhältnisses von Wirtschaft und Kultur. Viele Köpfe und Hände haben diese Konferenz vorbereitet. Wir danken den freundlichen, aufgeschlossenen und kompetenten Mitarbeitern der Villa Vigoni sowie Sylvia Bytow, Mauricio Vargas und besonders Käte Wohltmann von der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, die von Tübingen aus die Konferenz vorbereitet haben. Großer Dank gebührt weiter Käte Wohltmann, die den Tagungsband für den Druck vorbereitet hat und dies mit großer Sorgfalt, Energie und Ausdauer getan hat. Sie hat auch den zusammenfassenden Bericht der Tagung geschrieben. Gern danken wir der Heinz Nixdorf Stift ung, die diese Konferenz möglich gemacht hat, und der Villa Vigoni für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe.
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Vorwort der Herausgeber
J O A C H IM S TA R B AT T Y, G R E G O R V O G T-S P I R A UND JÜRGEN WERTHEIMER
Kultur des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen Ein Konferenzbericht Die interdisziplinäre Konferenz Kultur des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen, die vom 26. bis 29. Juli 2009 in der Villa Vigoni in Menaggio am Comer See stattfand, stellte zum vierten Mal die erfolgreiche Zusammenarbeit des Wirtschaftswissenschaft lers Joachim Starbatty und des Literaturwissenschaft lers Jürgen Wertheimer unter Beweis, die in der anregenden Atmosphäre dieses besonderen Tagungsortes mit Wissenschaft lern aus unterschiedlichen Disziplinen das Zusammenspiel von Kultur, Ökonomie und Wettbewerb mit Mut und Offenheit für eine positive Streitkultur diskutierten. Besonders in Zeiten der Globalisierung und der Weltwirtschaftskrise war das erklärte Ziel der Konferenz, ein reflektiertes Gefühl für den Wettbewerb als aktuell beherrschenden Faktor zu gewinnen, weshalb entsprechend der Komplexität des Themas unterschiedliche Ansätze zur Disposition standen. Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Kultur waren dabei stets ein zentraler Bestandteil der regen Diskussionen. Den Auftakt bildeten grundlegende Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Wettbewerb, bevor konkrete Wettbewerbsformen in den Blick rückten. Den Auftakt machte Gregor Vogt-Spira, Klassischer Philologe und als Generalsekretär der Villa Vigoni Gastgeber der Konferenz. Er nahm in seinem Beitrag »Die Geburt der abendländischen Kultur aus dem Geiste des Wettbewerbs« den Erfinder des Begriffs »agonal«, Jakob Burckhardt, und seine bis heute nachwirkende Konzeption Griechenlands als erster Wettbewerbskultur zum Ausgangspunkt. Der Umgang mit dem Phänomen in der griechischen ebenso wie in der römischen Kultur, an dem sich exemplarisch einige Regulative von »Wettbewerb« aufzeigen ließen, zeige zugleich ein unterschiedliches Verhältnis zu anderen Kulturen, womit sich die doppelte thematische Perspektive der Tagung Kulturen des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen als hellsichtig bestätige. Ihm folgte Hermann Lübbe, emeritierter Professor für Philosophie und Politische Theorie der Universität Zürich, der die drastische Zuspitzung des Prinzips Wettbewerb in den vergangenen Jahrzehnten thematisierte. Grund sei die zunehmende Globalisierung, welche zu gegenseitigen Abhängigkeiten führe und Wettbewerb erzwinge. Gleichwohl sei nach Hermann Lübbe komplementär zur Vereinheitlichung der Weltzivilisation der rasche Anstieg kultureller Unterschiede zu verzeichnen. Indizien seien die permanent steigende Zahl der Nationalstaaten seit den 80er Jahren sowie die zunehmende Bedeutung religiöser Unterschiede. Er plädierte für eine Wettbewerbsordnung mit effektiver Chancengleichheit, damit das Wettbewerbsprinzip soziale Anerkennung gewinne. Auch der Wirtschaftswissenschaft ler Michael Wohlgemuth trat dafür ein, Wettbewerb zwar als unvermeidliches, jedoch nicht unveränderliches Schicksal des mensch-
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K ÄTE ANTONIA WOHLTMANN
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lichen Lebens zu betrachten. Ganz im Sinne Hermann Lübbes sah er die Aufgabe des Rechts und des Staates darin, eine Wettbewerbsordnung zu etablieren und durchzusetzen, die sicher stelle, dass Wettbewerb als (allokativ) ideale Marktform sowie als Entmachtungsinstrument und Entdeckungsverfahren im Politischen und Ökonomischen positiv wirksam werden könne. Die theologische Position brachte Elmar Nass, Domvikar des Bistums Aachen und Lehrstuhlvertreter für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Bonn, ein. Er zeigte, dass sich der Papst in der Enzyklika Caritas in veritate zu Markt, Wettbewerb und Globalisierung bekannte, und plädierte insbesondere dafür, dass die Ökonomie zusätzlicher weltanschaulicher Paradigmen bedürfe, um Fragen wie beispielsweise der Ressourcenverteilung auch aus moralischer Sicht begegnen zu können. Da sich die Vorstellungen von Wettbewerb durch die Schauplätze, auf denen dieser ausgetragen wird, maßgeblich unterscheiden, wurden im Anschluss an diese ersten grundlegenden Überlegungen und Perspektiven auf das Phänomen Wettbewerb einzelne Formen des Wettbewerbs in den Blick genommen. Zunächst wurde die »Kulturelle Dimension des Wettbewerbs im Sport« von Helmut Digel, Professor am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen, beleuchtet: Coubertins Olympismus habe den Wettbewerbsgedanken im modernen Sport kulturell überhöht. Damit gehe die Internationalisierung des sportlichen Wettbewerbs einher, so dass Sport zum universellen Kulturmuster geworden sei. Inzwischen sei im Sport allerdings eine derart drastische Zunahme sowohl des Dopings, der Korruption und der Regelmanipulation als auch der psychischen und physischen Gewalt zu verzeichnen, dass die These gewagt werden könne, der Sport befinde sich auf dem Weg zur Selbstzerstörung. Parallelen zu anderen Wettbewerbsformen wurden im Anschluss an die kritische Analyse Helmut Digels gesehen: Der Journalist und Wirtschaft swissenschaft ler Philip Plickert wies auf die Entwicklung auf den Finanzmärkten hin, auf denen es analog zum Doping im Sport toxische Papiere gebe. Sogar der menschliche Körper stellt nach dem Pharmakologen Albrecht Wendel einen weiteren Austragungsort von Wettbewerb dar: Der Körper sei durch Selbstregulation und Selbstzerstörung gekennzeichnet – Vorgänge, die nach Albrecht Wendel als Wettbewerb interpretiert werden könnten. Nach dieser multiperspektivischen Annäherung an das Thema betonte Jürgen Wertheimer, Professor für Komparatistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen, im Anschluss an diese Diskussion die gefährliche Idealisierung und Ideologisierung des Wettbewerbs. Der Konkurrenzgedanke werde dadurch überhöht und Opfer würden übersehen, so dass Schuld und Verantwortung ausgeblendet würden. Dabei sei es wichtig, Wettbewerb nicht als mythische Erlöserfigur zu betrachten, sondern vielmehr das Wettbewerbsmodell des survival of the fittest entschieden in Frage zu stellen. Der Wirtschaftswissenschaft ler Joachim Zweynert nannte den Wettbewerb in Europa ein Ergebnis menschlichen Handelns, welches jedoch von einer bewussten politischen Entscheidung abzugrenzen sei. Problematisch sei allerdings, dass die Ökonomik inzwischen die Rolle von Akteuren ausblende, sobald Kultur ins Spiel
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komme. Joachim Zweynert und Jürgen Wertheimer stimmten darin überein, dass die Wirtschaftswissenschaft immer dominanter werde; sie operiere mit einem anachronistischen Kulturbegriff, da es weder homogene Kulturen noch eine unabhängige Entwicklung dieser Kulturen gebe. Nur so könne entgegen des historischen Wissens entsprechend dem viel beschworenen clash of civilisations eine kulturelle Feindschaft suggeriert werden. Ein zentrales Thema der sich anschließenden Diskussionen war die Frage, ob die politisierten Wahrheitsansprüche, welche die europäischen Massenverbrechen zu verantworten hätten, allein durch das Wettbewerbsmodell hätten verhindert werden können, wie Hermann Lübbe argumentierte, oder auch auf anderem Wege wie beispielsweise über das Konzept der Transkulturalität hätten ausgeschlossen werden können, wie Jürgen Wertheimer annahm. Diese Diskussion – paradigmatisch für die gesamte Konferenz – wurde dadurch bereichert, dass die Interdisziplinarität nicht zur plakativen Formel verkam, sondern die Perspektive der Wirtschaftswissenschaft ler auch auf Probleme des Wettbewerbsmodells gelenkt wurde, die keine genuin ökonomischen Aspekte darstellen, während die Teilnehmer aus anderen Disziplinen sich zunehmend mit den vielfältigen ökonomischen Facetten des Themas vertraut machten. Folgerichtig ließen sich neben bereichernden Kontroversen auch immer wieder konsensuelle Zwischenergebnisse festhalten. So waren sich Helmut Digel und Joachim Starbatty einig, dass unabhängig von einer elementaren Bewertung des Wettbewerbs zu konstatieren sei, dass dieser inzwischen auch in Lebenswelten hineingetragen werde, die wettbewerbsfrei bleiben sollten. Diese Ergebnisse waren zudem das Produkt einer differenzierten Betrachtung des Themas. Während der Verleger Wolfgang Ferchl und der Schrift steller Peter Prange den Wettbewerb in der Buchbranche durchaus ambivalent beurteilten, stelle der ökonomische Wettbewerb in den Medien nach Andrea Beyer, Professorin für Betriebswirtschaft und Medienökonomie an der Fachhochschule Mainz, gute Voraussetzungen für eine publizistische Vielfalt dar, obgleich sie einräumte, dass qualitative Inhaltsanalysen nicht ausreichend berücksichtigt würden, um diese Aussage zu belegen. Auch Andreas Rumbler, Geschäftsführer von Christie‘s Deutschland, zeigte die positiven Wirkungen des Wettbewerbsprinzips auf. Er erläuterte, dass es ohne Wettbewerb keinen Kunstmarkt gebe, dessen Entwicklung er zudem als äußert positiv beurteilte. Der Wirtschaft swissenschaft ler Bruno Frey ergänzte, dass sich – aus kunsthistorischer Perspektive – gute Kunst auf diesem Markt langfristig durchsetze. Eine kritische Sichtweise auf die Auswirkungen des Wettbewerbs lieferte Rainer Treptow, Professor am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik, an der Universität Tübingen: Die alltägliche Bewältigung von Wettbewerbsnachteilen und die Suche nach Wettbewerbsvorteilen, die durch das Wirtschafts- und Beschäft igungssystem, durch Markt und Staat vorgegeben seien, drohe vor allem Jüngere aufzureiben. Rainer Treptow betonte, dass die Konkurrenzgesellschaft durchaus auch Verlierer hervorbringe, denen zu helfen die Gewinner nicht verpfl ichtet seien. Die Sozialpädagogik setze sich für die Anerkennung und Integration dieser
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Wettbewerbsverlierer ein, welche den gesellschaft lich dominanten Erwartungen an Perfektion und Perfektibilität ihrer Lebensführung nicht entsprechen können oder wollen. Dem Menschenbild des homo concurrens der Individualpädagogik stehe der homo solidaris der Sozialpädagogik gegenüber, der bei Betrachtung der kulturellen Evolution eine ebenso große Rolle spiele. Auch Rolf Oerter, emeritierter Professor für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, betonte, dass Wettbewerb zwar eine Leistungsmotivation sei und damit ein wichtiger Motor für kulturelle Entwicklung; Kreativität und Innovation jedoch oft im Zwischenraum von zwei Wettbewerbssituationen entstünden und zudem von Kooperation und Rückhalt in einer Gruppe begünstigt würden. Wir bräuchten dringend derartige Wettbewerbspausen, um neue Ideen zu entwickeln. In Zukunft sei vermehrt Kooperation nötig, um die bestehenden Weltprobleme wie den Klimawandel zu lösen. Im Folgenden wandte sich der Blick in den fernen Osten. Anil Bhatti, emeritierter Professor des Centre of German Studies an der Jawaharlal Nehru University, New Delhi, erläuterte, dass in einer polyzentrischen Welt, Grenzen porös seien; Indien sei ein historisches Beispiel dafür, mit einer Form der Unschärfe (fuzziness-Konzept) zu operieren, welche nicht von der irreführenden Annahme homogener Kulturen ausgehe. Es müsse insofern das Ziel sein, sich in Richtung eines Universalismus zu bewegen, ohne auf eine Hermeneutik der Differenzen zu bestehen, sondern vielmehr Ähnlichkeiten, Vergleiche und Überlappungen festzustellen, die auch eine Ausweitung des »Wir-Begriffs« und die Schaff ung von Solidaritätslinien ermöglichten. Stefan Kramer, Professor am Ostasiatischen Institut im Fachbereich Sinologie an der Universität Leipzig, präsentierte das chinesische Regierungskonzept der Harmonischen Gesellschaft des Staatspräsidenten Hu Jintao. China sei mit dieser Strategie, die Identität der Volksrepublik zu wahren und gleichzeitig als Global Player zu agieren, erfolgreich auf den Weltmarkt zurückgekehrt. Für Hermann Lübbe sei China gleichwohl ein Gegenstand der Besorgnis, da die Volksrepublik kleinere Kulturen wie die der Uiguren oder Tibeter nicht anerkenne. Der Wirtschaftswissenschaft ler Nils Goldschmidt hob diesen Zusammenhang auf eine allgemeine Ebene, indem er zu bedenken gab, dass in der historischen Perspektive die Entstehung ökonomischer Systeme und der Prozess gesellschaft licher Entwicklung untrennbar miteinander verwoben und Teil unseres »kulturellen Rucksacks« seien. Entsprechend waren sich Rainer Hank, Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, und Nils Goldschmidt einig, dass »Ökonomen etwas von Kultur verstehen müssen«. Die kulturökonomische Methode sehe Ökonomik demnach als Kulturwissenschaft an. Jürgen Wertheimer gab zu bedenken, dass der Begriff der »Rucksackhaft igkeit« suggeriere, Kultur stelle einen Ballast dar: Man müsse die Frage, was Kultur für die Ökonomie leisten könne, jedoch gerade umdrehen und danach fragen, was die Ökonomie für die Kultur leisten könne. Auch Rolf Oerter kritisierte, dass der Kulturbegriff zu eng gefasst sei. Götz Werner, Professor für Entrepreneurship am Interfakultativen Institut der Universität Karlsruhe (TH), plädierte dafür, dass sich die Ökonomie sozialen Fragen unterordnen müsse.
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In seiner Dinner Speech betonte Wolf Schäfer, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, dass Wettbewerb ein »kultureller Mechanismus« und eine der ältesten Institutionen des Menschen sei, die sich endogen entwickelt habe. Der Wettbewerb der Vielfalt und die Exit-Option seien im Gegensatz zu den großen einheitlichen Systemen erfolgreicher, da Einheitlichkeit zum »Einschlafen« verleite. Europa habe seine innere Dynamik durch den Wettbewerb gewonnen. Götz Werner hob hervor, dass der sinnvolle Wettbewerb zwischen Unternehmen von anderen deformierten Formen des Wettbewerbs, die als Rivalität bezeichnet werden müssten, differenziert betrachtet werden sollte. Erst in deformierter Form werde der Wettbewerb problematisch und ergreife alle Lebensbereiche der Menschen, was mit dem von Jürgen Wertheimer eingebrachten Begriff des »Wettbewerbsfetischismus« bezeichnet werden könne. Auch innerhalb eines Unternehmens sei Wettbewerb nicht geeignet, erläuterte Götz Werner aus eigener Erfahrung als Unternehmer; vielmehr müsse die sinnstiftende Zielsetzung und Leistung sowie die Wertschätzung des Einzelnen im Vordergrund stehen. Ergänzend betonte Joachim Starbatty, dass Wettbewerb als Machtbegrenzungsinstrument und Innovationsanreiz wirksam sei und Leistungsreserven mobilisieren könne. Allerdings habe die Weltwirtschaftskrise gezeigt, dass das Prinzip der Haftung, d. h. die Rückwirkung von Entscheidungen, gesichert sein müsse; ohne Haftung auf der Entscheidungsebene werde moral hazard, also leichtfertige Verantwortungslosigkeit, begünstigt. Moral hazard habe es im Immobiliensektor der USA auf verschiedenen Ebenen gegeben: Sowohl bei der Kreditvergabe durch Geschäft sbanken als auch in Rating-Agenturen. Die Hereinnahme solcher toxischer Papiere in Portfolios sei aufgrund der damit verbundenen Gewinne und ohne Blick auf mögliche negative Folgen durchgeführt worden. Jürgen Wertheimer gab zu bedenken, dass sich der Mensch entsprechend verhalte, wenn ihm ein auf Wettbewerb basierendes System geboten werde. Man müsse daher zwischen zwei Dimensionen von Wettbewerb unterscheiden: Wettbewerb als idealtypisches Modell und realem Wettbewerb mit tatsächlichen Menschen. Joachim Zweynert nahm die beiden Wettbewerbsdimensionen auf und wies darauf hin, dass die neoliberale Theorie unreflektiert in die Praxis übernommen worden sei. Rainer Treptow ergänzte, dass die Ökonomie als Wissenschaftssystem ihre eigene Irritierbarkeit erkennen müsse. Bei der abschließenden Podiumsdiskussion zeigten sich die herausgearbeiteten neuralgischen Punkte des Themas sowie die entscheidenden Schnittstellen zwischen den Positionen der Teilnehmer. Jürgen Wertheimer vertrat die Meinung, dass wir uns inzwischen Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche) befänden. Der Erfolg als Doktrin des Neoliberalismus und erklärtes Ziel des Wettbewerbs habe die alten guten Tugenden abgelöst und dazu geführt, dass sich jeder permanent als Wettbewerber sehe, was menschenverachtend sei. Daher müsse die Ökonomie, die als Heilsweg proklamiert worden sei, ins Zeitalter der Selbstreflexivität treten. Der Historiker Frank Kolb betonte, dass die Wirtschaft ein Bestandteil der Kultur sei, weshalb die zentrale Frage lauten müsse, wie man kulturelle Prinzipien in die Markt-
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entwicklung einbringen könne. Der Wirtschaftswissenschaft ler Heinz Rieter wies darauf hin, dass der Definition von Kultur als einem vom Menschen geschaffenen Umfeld auch die Ökonomen zustimmen würden. Zudem seien die Selbstreflexion der Wirtschaftswissenschaft und eine Ideologiekritik notwendig, da eine Verherrlichung des Wettbewerbs fatal wäre. Rolf Hasse, Wirtschaftswissenschaft ler, gab zudem zu bedenken, dass ganz unterschiedliche Märkte existieren, auf denen entsprechend zu differenzierender Wettbewerb herrsche. Von den Ökonomen werde oft mals Eindeutigkeit erwartet, die sie nicht leisten könnten. Jürgen Wertheimer betonte abschließend, dass Anil Bhatti ein Modell skizziert habe, was weiter gedacht werden könne. Es gebe nicht nur poröse Identitäten, sondern auch poröse Wissenschaften, so dass das Modell der Überlappungsphilosophie auch auf Wissenschaften angewendet werden könne. Auf diesem Weg könne ein neues Wissenschaftsklima entstehen. Diese Diskussion betrachte er als Vorstufe dazu. Der vorliegende Band vereint einen Großteil der hier zusammenfassend dargestellten, nach wie vor hochaktuellen polyphonen Beiträge der Teilnehmer der Konferenz.
Die ersten europäischen Wettbewerbskulturen Griechenland und Rom – zwei unterschiedliche Modelle I. Wettbewerb und Kultur: zweimal Griechenland In der komplexen Beziehung zwischen Wettbewerb und Kultur kann es ungeplante und schwer steuerbare Rück- und Wechselwirkungen geben. Dass die Praxis des Wettbewerbs in verschiedenen Ländern in ein größeres Umfeld von Verhaltensgewohnheiten und -erwartungen eingebunden ist, bedarf keines näheren Nachweises. Dies lässt sich an der Krise erkennen, die den Euroraum seit zwei Jahren erfasst hat; das heutige Griechenland ist dafür nur ein besonders deutliches Beispiel. Bei der Konstruktion des einheitlichen Währungsraumes, in dem das Korrektiv entfiel, Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Volkswirtschaften durch Aufoder Abwertung auszugleichen, war ein normativ wohlbegründetes Wettbewerbsverhalten angesetzt worden. In der Praxis hingegen wird die strenge Regel durch eine Berücksichtigung individueller Befindlichkeiten der Wettbewerbsteilnehmer wieder aufgeweicht. Ein solches Verständnis für kulturelle Diversität führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass inzwischen die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum als Wettbewerb von Kulturen interpretiert werden kann, und dabei nicht einfach nur als Wettbewerb, sondern als Hegemoniestreben einer über andere Kulturen.1 Damit nähert sich »Wettbewerb« aufgrund der dabei aufgerührten Emotionen einem Modus, den Europa eigentlich durch ihn gebändigt und überwunden zu haben glaubte: einem Konfl ikt, der die Grundlagen zu berühren droht. Die gegenläufige Bewegungsrichtung weist ein zweites Beispiel auf. In der außerordentlichen Prosperität, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte, begann man sich auch für die Ursprünge jenes Prinzips zu interessieren, das man als Motor einer solchen wirtschaft lichen Dynamik erkannt hatte: eben des Wettbewerbs. Man glaubte, die historische Wurzel bei den Griechen zu fi nden, in jener Kultur also, auf die die europäische Kultur zu erheblichen Teilen ihre Grundlagen zurückführte. Dabei entdeckte man indes weit mehr als eine Verhaltensweise, die allein im Feld der Ökonomie zur Geltung gekommen wäre: »Wettbewerb« wurde vielmehr als ein übergreifender Verhaltensmodus entworfen, der eine ganze Kultur prägte und ihr zu einer produktiven Entwicklung verhalf, die alle Bereiche umfasste. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang. Denn das Grundprinzip der Marktwirtschaft wurde damit nicht einfach auf andere Lebensbereiche ausgedehnt; es wurde im Gegenteil in einer höheren Komplexität wahrgenommen und im Geflecht reicherer Bezüge beschrieben, wobei solche Verankerung in einer kulturellen Tiefenschicht auch eine Aufwertung bedeutet haben mag. Jedenfalls entwickelte sich die These von den Griechen als erster Wettbewerbskultur in der Folge zu einem ungewöhnlich erfolgreichen Stereotyp und ist eine heute noch weitverbreitete Anschauung.
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Die ersten europäischen Wettbewerbskulturen Griechenland und Rom – zwei unterschiedliche Modelle
GREGOR VOGT-SPIR A
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II. Die Erfindung Griechenlands als Wettbewerbsnation par excellence Der Gedanke, bei den Griechen das Grundmuster eines durch und durch von Wettbewerb geprägten Lebens zu finden, ist von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zu beobachten; ein früher Protagonist ist der Archäologe Ernst Curtius, Ausgräber von Olympia.2 Nicht geringen Anteil an der Stilisierung des antiken Griechenland zur Wettbewerbsnation hat Friedrich Nietzsche. Er sah im Wettkampf den »edelsten hellenischen Grundgedanken«, 3 der die gesamte griechische Geschichte durchzogen habe, und erkannte ihm ein zivilisierendes Element zu, ohne das nur Hass und Vernichtungstrieb geblieben wären. Der eigentliche Schöpfer indes ist Jakob Burckhardt. Eine Anekdote berichtet, wie der junge Nietzsche den älteren Kollegen, der zum Thema »Griechische Kulturgeschichte« las, nach Vorlesungsende an der Basler Universitätspforte erwartete und sich auf dem gemeinsamen Heimweg zum jeweiligen Inhalt eine lebhafte Diskussion entspann.4 In den allgemeinen Sprachschatz ist Jakob Burckhardts Erfindung des Begriffs »agonal« eingegangen. Schlüsselwerk ist seine postum erschienene Griechische Kulturgeschichte, in der er ein Kapitel dem »kolonialen und agonalen Menschen« widmet. Nachdem zunächst die griechische Wanderungsbewegung dargestellt wird, lautet die zentrale Passage: Und nun das Agonale. Während die Polis einerseits das Individuum mit Gewalt emportreibt und entwickelt, kommt es als eine zweite Triebfeder, die kein anderes Volk kennt, ebenso mächtig hinzu, und der Agon ist das allgemeine Gärungselement, welches jegliches Wollen und Können, sobald die nötige Freiheit da ist, in Fermentation bringt. In dieser Beziehung stehen die Griechen einzig da.5
Wettbewerb als »Gärungselement«, aus dem durch »Fermentation« die ganze Kultur hervorgeht: Das Besondere dieses Ansatzes besteht also darin, dass Wettbewerb als ein kulturelles Grundmuster begriffen wird. Bei den Griechen sei schließlich alles höhere Leben, das äußere wie das geistige, zum Agon geworden, von dem man nicht mehr abgekommen sei. Dieses Bild steht im größeren Zusammenhang eines komplexen und durchaus ambivalenten Bildes des antiken Griechenland. 6 Burckhardt sieht die griechische Geschichte von Unglück durchzogen, das er auf Faktoren wie Rachsucht, unbegrenztes Vergnügen am Verderben des anderen und notorische Unzuverlässigkeit im Umgang untereinander zurückführt und zu den spezifischen Organisationsformen des politischen Lebens in Beziehung setzt. Indes begreift er dies nur als Kehrseite einer frühen Individualisierung, die den einzelnen keinem dumpfen »Müssen« unterworfen, sondern außerordentliche Freiheitsräume geschaffen und damit auf der anderen Seite einzigartige kulturelle Leistungen ermöglicht habe. In diesem von Gegenstrebigkeiten bestimmten Bild kommt dem Agonalen zentrale dynamisierende Bedeutung zu; denn das Individuum habe sich dadurch entwickelt, »daß man sich unaufhörlich untereinander maß und verglich und zwar durch Übungen, bei denen es auf einen direkten praktischen Nutzen nicht abgesehen war.«7 Dieses Prinzip leistungstreibender Konkurrenz wird zunächst in der Adelskultur verortet, die als eine spätere Phase entschieden von der heroischen Welt abgegrenzt wird, wie
III. Wettbewerb als Grundmuster einer Kultur: Griechenland Die griechische Adelskultur hat zwei zentrale soziale Praktiken entwickelt: die Symposien und die sportlichen Wettkämpfe. Diese umfassten athletische und hippische Disziplinen, in denen mit Pferden und Rennwagen um den Sieg gestritten wurde. Die Angehörigen der Führungsschicht treten hierin selbst gegeneinander an; was sie gewinnen konnten, war zunächst einmal Ehre und Ruhm – ein Sieg bei den wichtigsten Wettspielen galt als das Höchste, was überhaupt zu erringen war. Diese Praxis von sportlichen Agonen führte zur Entstehung einer Fülle von Spielen,
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sie der griechische Mythos und namentlich die homerischen Epen bieten. Allerdings habe jene Welt des Kampfs und des Sich-Messens unter Gleichen zugleich ein Idealbild geliefert, auf das alle spätere griechische Zeit bezogen geblieben sei und das sie dann auf die Fülle anderer Lebensbereiche und Tätigkeitsfelder ausgedehnt habe. In seiner Wirkungsgeschichte ist dieses komplexe Bild, das Faktoren wie Ehre, Konkurrenz und soziale Organisationsform in Zusammenhang setzt, vereinfacht worden. Insbesondere das homerische Epos wird dann als Beleg für eine solche »agonale« Kultur vereinnahmt. Nachgerade zum Klassiker hat es ein Vers aus Homers Ilias gebracht, der die griechische Disposition zum Wettbewerb auf den Begriff zu bringen scheint: »immer der erste zu sein und ausgezeichnet vor andern«.8 Losgelöst von seinem Kontext eignet sich dieser Vers zum Motto jeglicher Leistungskultur; so ziert er beispielsweise den Eingang des Hauptgebäudes der Albert Ludwigs-Universität Freiburg, das wenige Jahre nach dem Erscheinen von Jakob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte erbaut worden ist. Die Kritik erfolgte erst verhältnismäßig spät. Zu Recht wurde gefragt, inwieweit es sich dabei um spezifisch griechische Züge handele. Viele Phänomene seien durch die Ethnologie auch andernorts beobachtet worden; nicht alles, was in Griechenland vorkomme, müsse deshalb schon »typisch griechisch« sein. Die Einwände kamen zunächst aus der Sportgeschichtsschreibung und haben sich in der Forschung weitgehend durchgesetzt,9 ohne dass allerdings der überragende Stellenwert der Wettbewerbskultur für Griechenland selbst in Zweifel stünde; außerhalb der Altertumswissenschaft sind solch differenzierte Positionen jedoch wenig durchgedrungen. Das mag nicht zuletzt daher rühren, dass das Stereotyp von den Griechen als agonaler Kultur zugleich innerhalb eines alten dichotomischen Schemas »Griechenland versus Rom« steht und damit tiefer verankerten Bildern entspricht. Rom liefert das Gegenbild einer primär auf Nützliches ausgerichteten Kultur, die von daher nicht zweckfrei ist und insofern als Antipode zur agonalen Kultur dienen kann. Auch dies allerdings ist korrekturbedürft ig. Im Folgenden soll nun der spezifische Umgang mit dem Phänomen des Wettbewerbs in der griechischen ebenso wie in der römischen Kultur ins Auge gefasst werden, im Sinne zweier exemplarischer Wettbewerbskulturen, die dabei ihre eigenen Regulative ausgebildet haben: Sie werden sich in erstaunlicher Weise als komplementär erweisen. Das kann hier nur in großen Zügen geschehen, wobei sich die doppelte thematische Perspektive »Kulturen des Wettbewerbs – Wettbewerb der Kulturen« als hellsichtig herausstellen wird.
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die Griechenland wie ein Netz überzogen und turnusmäßig nach einem Festkalender abliefen. Neben zahllosen regionalen bildeten sich dabei vor allem gesamtgriechische, die »Panhellenischen« Spiele heraus, zu denen man aus allen Städten Griechenlands zusammenkam: angesichts der zersplitterten politischen Struktur eine für die Kommunikation kaum zu überschätzende Einrichtung. Unter den berühmtesten Agonalstätten – Olympia, Delphi, Nemea und Korinth – entbrannte dabei selbst wiederum ein Konkurrenzkampf. Der Wert eines Festspielorts bemaß sich einerseits nach Zahl und Rang der auft retenden Athleten; für diese auf der anderen Seite war ein Sieg desto wertvoller, je höher das Prestige der Spiele war. In diesem Mechanismus, der für jegliche Form von Festspielen typisch geworden ist, konnten sich schließlich Olympia und Delphi durchsetzen. Indikator ist der Umstand, dass die Sieger sich mit einem Kranz begnügen mussten, während die lokalen Spiele zu wertvollen Prämien greifen mussten, um die Athleten anzulocken. Tatsächlich ging es für die Festspielorte nicht nur um Prestige, sondern auch um viel Geld; denn der Aufenthalt der Teilnehmer und Zuschauer war eine beträchtliche Einkunftsquelle. Noch ein weiteres Konkurrenzschema etablierte sich im Zuge der Spiele: Der Glanz des Sieges fiel nicht nur auf die kämpfenden Athleten; auch die Herkunftsstädte beanspruchten den Ruhm für sich. Daher schmückten sich die Städte im Zuge ihrer Rivalität mit siegreichen Bürgern und entwickelten regelrechte Gratifikationssysteme wie etwa das Recht auf lebenslange Speisung oder Steuerfreiheit.10 Die Agone nun blieben nicht auf den sportlichen Bereich begrenzt. Eine Besonderheit, die die griechische Kultur ausgebildet hat, sind die Musischen Agone: Wettkämpfe in künstlerischen Leistungen auf den Gebieten der Musik, der Dichtung und des Tanzes. Oft mals standen sie sogar in direkter Nachbarschaft zu den sportlichen Wettbewerben und waren wie diese in den religiösen Rahmen von Kultfesten eingebunden, ja stellten geradezu einen zentralen Inhalt solcher Feste dar. Es gab Wettbewerbe in einer Fülle von musikalischen Disziplinen, in den verschiedensten Instrumentengruppen ebenso wie im Gesang, vor allem im Chor. Auf diesem Wege hat sich auch eine zentrale literarische Gattung ausgebildet: Denn in Athen entstanden im Rahmen solcher Agone, bei denen jeweils dramatische Stücke aufgeführt und prämiert wurden, die Tragödie und die Komödie. Die griechische Wettbewerbskultur reicht indes noch weit über den kultischreligiösen Bereich und über einzelne Großereignisse hinaus tief in das Alltagsleben hinein. So spielt der Agon in der Rhetorik eine große Rolle, die sich vielfach der Form einer Inszenierung von Redewettkämpfen bedient; selbst der Prozess vor Gericht wird mit demselben Wort »Agon« belegt, was darauf deutet, wie fl ießend die Wahrnehmungen von »Kampf« und »Wettkampf« ineinander übergehen. Auch im Drama erhält der Agon einen festen Stellenwert. Nicht anders entwickelt die Philosophie mit der Eristik eine dialogische Streitkultur als spezifische Form des Erkenntnisgewinns. Gewiss ist Wortwettstreit ein genuiner Modus, der in allen oralen und semioralen Kulturen zu beobachten ist; doch charakteristisch ist das Ausmaß, in dem ein solcher Wettkampft ypus in Griechenland kulturell geformt und bis in die Sphäre der Literatur hinein entwickelt wird. Eine Fülle von Zeugnis-
Was würdest du erst sagen, wenn du unsere Wachteln- und Hahnengefechte sähest und den Ernst, womit wir uns für dieselben verwenden? Du würdest ohne Zweifel laut auflachen, zumal wenn du hörtest, daß wir ein Gesetz haben, das allen erwachsenen Personen befiehlt, dabei zugegen zu sein und zuzusehen, wie diese Vögel solange miteinander kämpfen, bis sie sich vor Kraftlosigkeit nicht mehr rühren können. Und doch ist auch darin nichts Lächerliches. Denn dieses Schauspiel erregt unvermerkt in den Gemütern den Trieb, jeder Gefahr zu trotzen, um sich nicht an Edelmut und Kühnheit von Wachteln und Hähnen übertreffen zu lassen, und sich, wie sie, nicht eher als mit dem letzten Atem durch Wunden oder Anstrengung oder jeder andern Schwierigkeit mürbe machen zu lassen.11
Das ist eine klare pädagogische Interpretation: der Hahnenkampf als Vorbild und Spiegel. Im besonderen liefert Anlass der Brauch, einmal im Jahr einen rituellen Hahnenkampf im Dionysostheater in Athen zu veranstalten. Seine Einrichtung wird auf die Zeit der Perserkriege zurückgeführt, als der Feldherr Themistokles zufällig zwei Hähne habe kämpfen sehen und daraufh in seinen Leuten erklärt habe, die Tiere würden nicht für Vaterland, Götter, Ahnen oder Freiheit kämpfen, sondern bloß weil keiner weichen und schlechter sein wolle als der andere; diese Worte hätten den Mut der Athener gestärkt.12 Allerdings sind dies nachträgliche Interpretationen, die mehr als ein halbes Jahrtausend von der Einrichtung des Brauchs entfernt sind und selbst mit der Perspektive einer Spätzeit kokettieren. Gleichwohl gibt es eine Diskussion um die militärische Komponente der griechischen Agonalkultur. In jedem Fall ist bezeichnend, dass die Unversehrtheit des Körpers keine Norm darstellt; die Züge von undomestizierter Gewalt, die die griechische Kultur weit über die Sphäre des Mythos hinaus bewahrt, kommen auch hier zum Vorschein. Wagenrennen waren eine hochgefährliche Angelegenheit, oft mit schwersten Verletzungen der Rennfahrer verbunden. Das Fehlen von Körpergrenzen zeigt im Extremfall das Pankration, ein mit Ringen verbundener Faustkampf, bei dem nahezu alles erlaubt ist, angefangen vom Würgen, Zähneeinschlagen und Brechen der Finger, und bei dem der Besiegte den Kampfplatz als Krüppel verlässt, wenn er ihn denn noch verlässt. Dass Jakob Burckhardt die griechische Kultur als agonal charakterisieren und dies anhand einer Unzahl von Zeugnissen entfalten konnte, kommt nicht von ungefähr: Denn wettbewerbliches Verhalten entspricht dem Bild, das die Griechen von sich selbst gezeichnet haben; das Agonale ist zuallererst Faktor einer sehr erfolgreichen Selbstdarstellung. Das hat zugleich einen kulturtypologischen Hintergrund. Wir hatten als charakteristisches Merkmal gesehen, dass die Bürger selbst in den Wett-
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sen für die Wettbewerbsfreude liefert schließlich die Alltagskultur, z.B. zur Unterhaltung beim Symposium. Bisweilen lässt sich allerdings fragen, ob es wirklich nur um Unterhaltung geht. Dies gilt etwa für den – in Griechenland wie andernorts – beliebten Brauch von Hahnenkämpfen. In einer witzigen Schrift des Lukian, in der die griechische Agonalkultur einem staunenden Fremden aus Skythien vorgestellt wird, findet sich folgende Erklärung:
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bewerb eintreten: Der Agon beruht auf dem Grundsatz eines Wettbewerbs unter Gleichen. Daher jedoch steht die Teilnahme ausschließlich freigeborenen männlichen Griechen offen; Fremde sind nicht zugelassen – eine Begrenzung, die sich erst in hellenistisch-römischer Zeit etwas lockert. Dahinter steht eine Zweiteilung der Welt in Hellenen und Barbaren. Die außerordentlich ausgefaltete Wettbewerbskultur der griechischen Welt erfüllt deshalb nicht zuletzt die Funktion eines Kohäsionsprinzips, indem sie eine exklusive Gruppe schafft. Griechenland liefert somit das Exempel einer »Kultur des Wettbewerbs«, die einen »Wettbewerb der Kulturen« ausschließt. Betrachtet man abschließend die Felder, auf denen in den bisher betrachteten Beispielen Wettbewerb entfaltet wird, zeigt sich ein Bereich nicht berührt: jener der materiellen Güter. Bislang ging es um Ruhm, Ehre und Prestige oder auch Unterhaltung; als dynamisierende Produktivkraft erwies sich Wettbewerb speziell für künstlerische Werke. Zu fragen bleibt daher, wie es um das engere Feld der Ökonomie bestellt ist. Ein frühes Zeugnis zeigt Konkurrenz in der Tat als dynamisches Prinzip des Wirtschaftslebens. Es stammt von dem böotischen Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.): Nicht nur eine Sippe der Eris (»Streit, Wettstreit«) gibt es; auf Erden Walten ja zwei. Die eine mag gern der Kundige loben, Aber die andere tadeln. Sie sind ja verschiedenen Sinnes. Eine von ihnen erweckt nur Hader und häßliche Feindschaft Grausam; es liebt sie darum kein Sterblicher, aber gezwungen Muß man nach göttlichem Ratschluß die lästige Eris verehren. Aber die finstere Nacht gebar schon früher die andre, Und es setzte der hohe, im Äther behauste Kronion Sie im Schoße der Erde den Menschen zu größerem Heile; Denn sie ermuntert sogar die lässigen Männer zur Arbeit. Schaut ein solcher auf andre, die reicher, so möchte er stärker Schaffen, er sputet sich dann, den Acker zu pflügen, zu säen, Gut zu richten das Haus. So eifert Nachbar mit Nachbar Um den bessern Ertrag. Die Eris ist Sterblichen nützlich; Eifert doch Töpfer mit Töpfer, der Zimmermann mit dem Zimmrer, Und es neidet der Bettler dem Bettler, der Sänger dem Sänger.13
Konkurrenz steigere den landwirtschaft lichen Ertrag, er führe die Handwerkskultur in die Höhe – und nicht nur diese; der Dichter bezieht auch sein eigenes Metier, nicht ohne Ironie, mit ein. Bemerkenswert ist die Doppelgesichtigkeit, die zu Anfang festgehalten wird, hier in den Ausdrucksformen einer archaischen Kultur aufgespalten auf zwei Figuren: Auf der einen Seite steht der »gute« Wettbewerb, dort hingegen seine böse Schwester, die Zank und Krieg bringe. In den praktischen Beispielen der beiden Schlussverse wird diese klare Scheidung in »guten« und »schlechten« Streit allerdings wieder in Zweifel gezogen. Dies ist die früheste literarische Quelle für den Gedanken, dass Wettbewerb wirtschaft liche Dynamik auslöse. Jakob Burckhardt wollte diesen »Agon, wie er sich im ländlichen und bürgerlichen Leben offenbart«, als »Parallele zum vorneh-
IV. Wettbewerb und Konsens: Rom Nicht minder als die griechische ist auch die römische Kultur vielfältig von Wettbewerb durchzogen, doch in anderer Weise. Das gibt schon der Sport zu erkennen, den sie gleichfalls als elementaren Teil ihrer selbst begreift. Sportliche Spiele existieren lange, bevor es Literatur und Künste gibt. Sport ist Teil der Erziehung der Oberschicht. Sportereignisse prägen die römische Lebenswelt von jeher und vermehrt mit der Wende zur Kaiserzeit, als sie ein Massenphänomen mit gigantischen Zuschauerzahlen werden; der Circus Maximus am Fuße des Palatin in Rom, eine Rennbahn von ca. einer Viertelmeile Länge, fasste ca. 150.000 Zuschauer. Komplementär tritt dem Spitzensport ein Breitensport zur Seite: Sport wird Bestandteil der Lebensführung jedermanns; bevorzugter Ort sind die öffentlichen Bäder, die zugleich verschiedene Sportplätze umfassen und von Trier bis Nordafrika, von Byzanz bis zum Hadrianswall über das ausgedehnte Imperium Romanum verbreitet sind. Indes, indem sich Sport dabei zur Wellness wandelt, tritt er völlig unter
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men und idealen Agon« verstehen.14 Indes wird ein solcher Ansatz, Wettbewerb als ökonomische Produktivkraft aufzufassen, in der griechischen Kultur nicht weiterverfolgt, die den Wettbewerb normativ nie aus dem Kosmos einer Adelskultur herauslöst. Das im Kontext einer bäuerlichen Kultur stehende Werk Hesiods bleibt ein erratischer Block. Ein repräsentatives Beispiel ist die Wirtschaftslehre des Aristoteles, die ganz ohne den Faktor Wettbewerb auskommt.15 Das wurzelt letztlich darin, dass sie den Primat dem Menschen und nicht den Gütern zuerkennt: Ziel der Ökonomik ist nicht, unbegrenzten Reichtum zu gewinnen. Daher bedarf es auch des Wettbewerbs als leistungstreibendes Werkzeug nicht, da der »für vollkommenes Leben ausreichende Besitz nicht ins Grenzenlose geht«. Bezeichnend für den Blickwinkel ist die bekannte Geschichte von Thales. Zum Beweis, dass auch ein Philosoph, wenn er will, reich werden kann, nutzt er den Umstand, dass er dank seiner astronomischen Kunst eine große Olivenernte vorausberechnet hatte, um für wenig Geld alle verfügbaren Ölmühlen zu mieten, da niemand ein höheres Angebot gemacht hatte. Als dann später zur Erntezeit große Nachfrage eintritt, vermietet er die Mühlen zu den Bedingungen weiter, die ihm gefallen. Diese Struktur, als Paradigma für Reichtumserwerb vorgeführt, wird von Aristoteles ausdrücklich als Monopol bezeichnet und noch an einem anderen Beispiel demonstriert: Gewinnakkumulation erfolgt mithin gerade durch Ausschaltung von Wettbewerb. Den größeren Kontext für die Einschätzung von Wettbewerb im materiellen Bereich bildet eine moralische Sichtweise: »Mehrhabenwollen« (pleonexia) ist in klassischer Zeit ein weitverbreitetes Schlagwort – was darauf weist, dass es in der Praxis hinreichend Anlass gab! Es wird jedoch nicht als Produktivkraft, sondern als zu domestizierende Fehlsteuerung begriffen. Das beginnt sich allmählich erst im Zeitalter des Hellenismus im Rahmen der Philosophie der Stoa zu ändern: einer Philosophenschule, bei der dann später Adam Smith entscheidende Anknüpfungspunkte für seine Theorie des freien Marktes gefunden hat.
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den Oberbegriff der Gesundheit und hat keinerlei wettbewerbliche Komponente mehr. All das deutet bereits auf tief greifende Unterschiede zur griechischen Agonistik. Nicht nur dass der Bereich des Theaters und der Literatur zunächst nicht wettbewerblich organisiert ist – in Rom fehlt also das Komplement des musischen Agons. Ein entscheidender Umstand besteht vielmehr darin, dass bei den Sportwettkämpfen und im musisch-literarischen Bereich die Nobilität und überhaupt der römische Bürger nicht Akteur, sondern ausschließlich Zuschauer ist. Denn es verträgt sich nicht mit der Würde eines Römers, sich in einer Schaustellung zum Vergnügen anderer zu exponieren. Daher erfolgt im Sportwesen schon früh eine Professionalisierung, die eine zunehmende Überlagerung mit der Funktion der Unterhaltung nach sich zieht. So lässt sich festhalten: Sport mit seiner wettbewerblichen Struktur ist zwar auch in der römischen Welt allgegenwärtig, doch der römische Bürger nimmt im Gegensatz zum griechischen nicht selbst am Wettbewerb teil. Gleichwohl fehlt Wettbewerb unter den Bürgern keineswegs. Begeben wir uns dazu vom körperlichen Wettkampf auf das soziale Feld und betrachten die Verhaltensmechanismen, die sich für die Nobilität ausgebildet haben. Da sich der Rang der Familien aus der Anzahl der Spitzenämter herleitet – je mehr Konsuln eine Familie aufzuweisen hat, desto höher steht sie – und jedes Jahr neu gewählt wird, herrscht eine hohe Dynamik, zumal immer das Risiko eines Abstiegs besteht. Denn eine Familie, die 100 Jahre lang keinen hohen Magistraten stellt, verliert an Bedeutung; in extremen Fällen kann ihr die Zugehörigkeit zur Nobilität aberkannt werden. Das sind mithin hochkompetitive Rahmenbedingungen. Bemerkenswert ist nun die Praxis, die entwickelt worden ist, um den Wettbewerb zu kanalisieren.16 Die allgegenwärtige scharfe Konkurrenz um die Positionierung der Familien in der politisch-sozialen Hierarchie wirkt potentiell zentrifugal und gefährdet die soziale Kohärenz nicht nur der Nobilität, sondern des gesamten römischen Volkes. Als Gegenmittel dient daher eine Konsenskultur. Doch beides ist so raffiniert ineinander verschränkt, dass vermittels der Konkurrenz eine permanente Bestätigung des Konsenses selber geleistet wird. So erfolgt in der intensiven Kommunikation, die zwischen politischen Akteuren und Volk betrieben wird, eine dauernde Verständigung auf das übergeordnete Regelwerk, das erst den Wettbewerb unter Gleichen ermöglicht: auf die Sitten der Vorfahren, auf die Exempel aus der römischen Geschichte oder auf die römischen Leittugenden. Solcher Konsens über die Regeln und Bedingungen ist zwar unverzichtbare Grundlage für das Funktionieren jeglichen Wettbewerbs, doch die römische Republik rückt in ihrer Selbstdarstellung in nachgerade extensiver Weise eine solche performative Bestätigung ihrer normativen Basis ins Zentrum. Anders formuliert: Nicht der Wettbewerb und der Sieg, sondern die Wettbewerbsregeln und damit seine Begrenzung stehen im Zentrum der Selbstdarstellung, die von den Wettbewerbsteilnehmern gefordert wird. Auf diesem Hintergrund wird vollends deutlich, warum in Rom Angehörige der Nobilität auf gar keinen Fall in Sportwettbewerben oder anderen Agonen auft reten können: Denn eine Niederlage könnte honos, ihre Zugehörigkeit zur gemeinsamen Norm und deren Erfüllung, damit ihre soziale Geltung gefährden. Aus dem römischen Sozialsystem erklärt sich also, warum ein potentieller politischer Akteur sich
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außerhalb der Politik nicht auf einen öffentlichen Wettbewerb einlassen, sondern nur Zuschauer sein kann. Das gilt allerdings im strengen Sinne nur für die Zeit der Republik und ändert sich mit dem Systemwandel in der Kaiserzeit. Indes, das Verhältnis von Konsens und Kompetition, das im Innenverhältnis gilt, kann sich im Außenverhältnis auch verkehren. Dies wird im Verhältnis Roms zur griechischen Kultur deutlich: Militärisch überlegen, ließ es sich kulturell erobern, um eine bekannte Formel aufzunehmen: eine Ambivalenz, die als Herausforderung das Selbstverständnis prägt.17 Indes lässt sich Rom auf die Auseinandersetzung ein und entwickelt Strategien, sich in den Vollbesitz des von den Griechen Geschaffenen zu setzen, es zu sich »herüberzuholen«. Schon in der Antike ist darin ein Grund für den römischen Aufstieg zur Führungsmacht gesehen worden: Das Rezept des Erfolgs bestehe darin, bei anderen für gut Befundenes zu übernehmen und durch weitere Verbesserung Überlegenheit zu gewinnen. Das ist eine klar wettbewerblich orientierte Analyse, die in Hinblick auf den Akteur ein Zweifaches bedeutet: Zum einen Akzeptanz der vorgefundenen Norm und zum zweiten innerhalb dieser vorgegebenen Rahmenbedingung Aufnahme des Wettbewerbs. Das Feld, auf dem nun nach Maßgabe griechischer Vorgaben eine regelrechte Wettbewerbskultur entfaltet wird, ist die kulturelle Produktion, vor allem das Verfassen von Literatur. Der Schwerpunkt der Selbstdarstellung wird dabei auf die Konkurrenz gelegt. Hier spielen Konsens und Kompetition also in ganz anderer Weise als im eben betrachteten innenpolitischen Feld ineinander: Denn mit der Akzeptanz der Norm ist unlösbar der Anspruch verbunden, das griechische Vorbild zu erreichen oder nach Möglichkeit zu übertreffen. Das wird vielfach programmatisch formuliert; Cicero ist davon überzeugt, dass es ihm gelungen sei. Ein vergleichender Blick auf die griechische Wettbewerbskultur zeigt damit: Anders als dort wird in Rom der »Wettbewerb der Kulturen« nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil mit Nachdruck aufgenommen. Dieser kulturelle Wettbewerb hat eine bemerkenswerte Produktivität entfaltet. Zum einen legt er die Basis für einen »Wettkampf der Nationen«, wie er später die europäische Geschichte bestimmen wird.18 Zum andern ist daraus eine richtiggehende wettbewerbsorientierte Strategie kultureller Produktion hervorgegangen – überhaupt ist das Feld der Künste jener Bereich, in dem in der europäischen Kultur Fragen des Wettbewerbs am umfänglichsten und differenziertesten bis zum 18. Jahrhundert verhandelt worden sind. Paradebeispiel ist das Verfassen von Literatur, zumal von Dichtung. In Griechenland hatte man bereits Ranglisten der Werke in den einzelnen Gattungen erstellt und dabei das Verfahren der Nachahmung, der literarischen mimesis, entwickelt. Zunächst im Bereich der Rhetorik praktiziert, erlaubte die Benutzung musterhafter Vorlagen sich darauf zu konzentrieren, die eigene Darstellung möglichst wirkungsvoll auszufeilen. Unter Einwirkung der kulturellen Konkurrenz Roms mit Griechenland wird dieses Prinzip dynamisiert und zu einer umfassenden Doktrin weiterentwickelt. Die Aufgabe lautet, sich an als vorbildlich erkannte Gestaltungen anzuschließen und mit ihnen in Wettstreit zu treten, um sie nach Möglichkeit zu übertreffen. Der Terminus technicus dafür fasst das Prinzip: aemulatio – »Wetteifer, Wettstreit«, der integral mit der Nachahmungspraxis verbunden ist.
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Die Übertragung dieses Ansatzes auf den Gesamtbereich der Literatur hatte zur Folge, dass ein immer größeres – wenn auch im Laufe der Zeit sich wandelndes – Repertoire solcher musterhafter Gestaltungen aufgebaut worden ist. So sah sich jeder literarisch Tätige grundsätzlich in einer Wettbewerbssituation nicht nur mit Zeitgenossen, sondern ebenso mit Früheren, und entsprechend diesem Konkurrenzsystem hat sich auch ein feines Instrumentarium eines ständigen Messens und Vergleichens ausgebildet: Zeugnis einer ausgebildeten Wettbewerbskultur, die erstaunlich lange produktiv wirkte. Der Erfolg beruhte auf einem bestimmten Mechanismus: Die Akteure entwickelten sich durch das Lernen der Regeln und wurden dadurch wettbewerbsfähig, zu »Gleichen«. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich zwar die normativen Bezüge gewandelt, doch strukturell bleibt dies ein Musterbeispiel dafür, wie Wettbewerb integrierende Kraft entfalten kann. Voraussetzung war, dass die Wettbewerbsteilnehmer sich zuvor über die kulturellen Regeln geeinigt hatten.
V. Ausblick Mit der Globalisierung, die den Kreis der Wettbewerbsteilnehmer sprunghaft erweitert, hat auch die Zahl der Akteure mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen nochmals zugenommen: Das macht die Anforderung, Wettbewerb in den Kontext verschiedener Verhaltensweisen und -traditionen zu stellen, aktueller denn je. Auf solchem Hintergrund ist die offensichtliche Ratlosigkeit, die derzeit im praktischen Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Mustern in der Krise des Euroraums zu beobachten ist, durchaus überraschend. Dass die Akteure selbst nicht auf die eingeschlagenen Lösungswege vertrauen, ist ein Indikator dafür, dass es umfassenderer Betrachtung bedarf; und es scheint nicht ausgeschlossen, dass die Krise einen Anstoß dazu gibt. Ein unerschöpfliches Repertoire, um Kriterien und analytische Kategorien zu schärfen, stellt die Geschichte dar; und zumal die Antike hat für die europäische Kultur immer als Reservoire, Folie der Auseinandersetzung und damit nicht zuletzt Zukunftspotential gedient. In der Tat ist die agonale Praxis der Griechen exemplarisch für eine reich ausgefaltete und überaus gut funktionierende Wettbewerbskultur. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Exklusivität des Teilnehmerkreises: Es ist ein Wettbewerb unter Gleichen. Diese Gleichheit muss dabei nicht durch Entscheidung hergestellt werden, sondern ist durch den Umstand gegeben, Grieche zu sein und damit in einem gemeinsamen, normativ wirkenden kulturellen Horizont zu stehen. Es handelt sich um eine Wettbewerbskultur, die ihre hohe Produktivität in einem geschützten Binnenraum entfaltet. Anders die Römer. In Hinblick auf den Binnenraum sind signifi kant die Mechanismen, durch die eine dynamische, potentiell sprengende Wettbewerbssituation gebändigt wird: Die Teilnehmer konkurrieren vermittels Konsensbekräft igung, mithin über eine möglichst überzeugende Bestätigung der Grundlagen und Rahmenbedingungen, die den Wettbewerb organisieren. Darüber hinaus ist der römische Fall aufschlussreich als Modell für eine Wettbewerbssituation, bei der der Teilnehmerkreis nicht exklusiv, sondern offen ist, Ausgangsvoraussetzungen und
Literaturverzeichnis
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Entwicklungsstand mithin unterschiedlich sind. Der Wettbewerb wirkt hier als Faktor der Angleichung, der Augenhöhe und Ebenbürtigkeit erzeugt: ein Muster, das in der europäischen Kultur lange produktiv gewirkt hat. Seine Voraussetzung ist einerseits Akzeptanz, andererseits Adaptierbarkeit der Normen des Modells, um überhaupt auf den Stand zu kommen und wettbewerbsfähig zu werden. Wettbewerb funktioniert somit unter den Ausgangsbedingungen anfänglicher Ungleichheit, solange Konsens über seine normativen Grundlagen besteht; Nutzung seiner Dynamik und gleichzeitiges Unterlaufen der zugrundeliegenden Normen gehen nicht zusammen. Das heißt ein Doppeltes: Die Normen müssen praktisch realisierbar sein, und der Konsens stellt einen aktiven Prozess dar. Er nimmt gegebenenfalls Zeit in Anspruch, und es kann sich dabei um einen spannungsvollen Vorgang handeln: Bis sich Rom auf die griechischen Normvorgaben einließ, dauerte lange und war mit mancherlei Gegenbewegung verbunden; der alte Cato ist der bekannteste Repräsentant, der dagegen hielt! Ein wesentliches Element der antiken Wettbewerbskulturen ist somit eine pragmatische Verankerung des Konsenses über Rahmenbedingungen und Regeln, der tiefer reichte als partikularer Nutzen oder kulturelle Besonderheit und der damit auch nicht einfach zur Disposition zu stellen war. Dies konnte durch den Bezug auf eine gemeinsame ideale Identität geschehen, oder durch Strategien öffentlicher Kommunikation, die auf die Grundlagen dieses Konsenses ausgerichtet waren und ihn damit bekräft igten, oder auch als ein aktiver Prozess der Balancefindung in einem Spannungsfeld. Die ersten europäischen Wettbewerbskulturen Griechenland und Rom könnten so vielleicht den analytischen Blick dafür schärfen, welchen Weg das vereinte Europa vor sich hat.
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G. Vogt-Spira, »Die Kulturbegegnung Roms mit den Griechen«, in: M. Schuster (Hrsg.), Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen (Colloquium Rauricum Bd. 4), Stuttgart 1996, S. 11–33. I. Weiler, Der Agon im Mythos, Darmstadt 1974. I. Weiler, »AIEN ARISTEUEIN. Ideologiekritische Bemerkungen zu einem vielzitierten Homerwort«, Stadion 1 (1975), S. 199–227. 1
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Dass man sich bei der Konstruktion der europäischen Währungsunion durchaus bewusst war, dass der Fortfall des Instruments der Wechselkursanpassung eine Verschärfung von Wettbewerbsungleichgewichten nach sich ziehen könne, machte Hans Tietmeyer auf einem Forum zum Euro in der Villa Vigoni im Spätherbst 2010 klar; deutlich wurde dabei ebenso, dass die Väter der Währungsunion den politischen Umgang mit den unterschiedlichen Wettbewerbskulturen nicht als ihre Aufgabe betrachteten. Das Forum ließ im übrigen die Unterschiede deutscher und italienischer Positionen klar hervortreten. Zahlreiche Beiträge sind veröffentlicht in: Vigonianae. Deutsch-italienische Halbjahresschrift / Rivista semestrale italo-tedesca, hrsg. v. G. Vogt-Spira, Band 1, 2010, Heft 2. Vgl. I. Weiler, »AIEN ARISTEUEIN. Ideologiekritische Bemerkungen zu einem vielzitierten Homerwort«, Stadion 1 (1975), S. 199–227, hier S. 203–205. F. Nietzsche, Der Homerische Wettkampf, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. K. Schlechta, München 1969, Bd. 3, S. 299. Vgl. I. Weiler 1975, S. 206 Anm. 17. J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Vierter Band, in: Ders., Gesammelte Werke Bd. 8, Darmstadt 1957, S. 84. Eine knappe Skizze bei L. Burckhardt, »Jakob Burckhardts Culturgeschichte – der hellenische Mensch als Gesamtkunstwerk«, in: E. Stein-Hölkeskamp, K.-J. Hölkeskamp (Hgg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010, S. 549–560. J. Burckhardt 1957, S. 90. Hom. Il. 6, 208 = 11, 784: »aièn aristeúein kaì hypeírochon émmenai állon«. Vgl. dazu die Arbeiten von I. Weiler, »AIEN ARISTEUEIN« und Der Agon im Mythos, Darmstadt 1974; ein jüngerer Überblick bei C. Brüggenbrock, Die Ehre in den Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit, Göttingen 2006, S. 64–81. Einen knappen strukturierten Einblick gibt E. Flaig, »Olympiaden und andere Spiele – ›immer der beste sein‹«, in: E. Stein-Hölkeskamp, K.-J. Hölkeskamp (Hgg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010, S. 353–369. Lukian, Anacharsis 37 (Übersetzung Chr. M. Wieland). Vgl. Aelian, Varia historia 2, 28. Vgl. zu den Hahnenkämpfen auch C. Brüggenbrock 2006, S. 127–139. Hesiod, Werke und Tage 11–26 (Übersetzung Th. v. Scheffer). J. Burckhardt 1957, S. 89. Vgl. Aristoteles, Politik 1, 8–13; das folgende Zitat Kap. 8, 1256 b 31 f. (Übersetzung E. Schütrumpf), die Thalesgeschichte Kap. 11, 1259 a 6–33. Dazu unter Rückgriff auf analytische Überlegungen von Georg Simmel K.-J. Hölkeskamp, »Konsens und Konkurrenz. Die politische Kultur der römischen Republik in neuer Sicht«, Klio 88 (2006), S. 360–396. Dazu G. Vogt-Spira, »Die Kulturbegegnung Roms mit den Griechen«, in: M. Schuster (Hrsg.), Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen (Colloquium Rauricum Bd. 4), Stuttgart 1996, S. 11–33. Dazu C. Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005.
Wettbewerb und sonstige Kulturen des Umgangs mit Unterschieden Philosophen dürfen gelegentlich eine Lizenz für riskante Verallgemeinerungen in Anspruch nehmen. Verallgemeinerungen reduzieren Komplexität durch günstigenfalls erfolgreiche Suche nach Eigenschaften, die Heterogenes unter einen zusammenbindenden Begriff subsumptionsfähig macht. Unzweckmäßigkeiten solcher Verallgemeinerungen gewinnen darüber zugleich an Auff älligkeit und werden korrigierbar. Entsprechend hält sich bei solchen Verallgemeinerungen auch das mit ihrer Lizenz verbundene Risiko in vertretbaren Grenzen und lässt sich mit den Vorzügen verrechnen, die es mit sich bringt, den Blick über Vereinfachungen zu weiten. So riskiere ich also, die zivilisatorische Evolution generalisierend durch die Expansion unserer wechselseitigen Abhängigkeiten zu charakterisieren – regional, räumlich also, und sozial. Technisch ließe sich diese Expansion wechselseitiger Verbundenheiten eindrucksvoll im Blick auf Netzverdichtungen anschaulich machen. Makrohistorisch, so scheint es, verläuft diese Netzverdichtung kontinuierlich, mikrohistorisch betrachtet hingegen in Schüben – die mittelalterliche Verdichtung des Verkehrswegenetzes zum Beispiel, die sich komplementär zur rasch wachsenden Zahl der Siedlungsgründungen und der damit verbundenen Gütertransportzwänge vollzog. Das wichtigste neuzeitliche Exempel für einen Verdichtungsschub wäre bei den Landwegen natürlich der Eisenbahnbau und nichts hat bald darauf die Netzverdichtung stärker zu dynamisieren vermocht als der Vorgang der technischen Ablösung der Informationsnetze von den Verkehrsnetzen. Noch zur Goethe-Zeit musste ja jeder Brief, jedes Poetenmanuskript, jede kaufmännische Bestellung und Rechnung, jeder militärische Befehl auf Landwegen transferiert werden. Mit den Überseekabeln in den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann dann die verkehrswegeunabhängige Installation von Informationsnetzen. Auch die institutionelle Seite der zivilisationsevolutionär fortschreitenden wechselseitigen Abhängigkeiten sei noch erwähnt. Ein Blick in ein beliebiges Handbuch des Völkerrechts genügt, um sie sich anschaulich zu machen – im Umfang der Abkürzungsverzeichnisse für völkerrechtsvertraglich konstituierte Einrichtungen nämlich, der von Auflage zu Auflage wächst. Weit über fünftausend international zuständige Regierungsorganisationen gibt es inzwischen. Die Namen der wichtigsten unter ihnen kennt heute jeder Medienkonsument – von der UNO bis zur EU und von der OECD bis zur NATO. Die allermeisten verbleiben gerade in ihrer unspektakulären Funktionstüchtigkeit Expertensache. Für die allermeisten NichtRegierungsorganisationen gilt analoges. Globalisierungssoziologen beziffern ihre derzeitige Anzahl mit weit über 25 000. Die Konsequenzen dieser technischen und institutionellen Verdichtung wechselseitiger Abhängigkeiten prägen jedermanns Alltag – von der Mail- und Spam-
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HERMANN LÜBBE
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Flut bis zur Präsenz exotischer Früchte in jeder akademischen Mensa und von der Abhängigkeit unserer Energieversorgung von funktionstüchtigen Systemen verkehrsfreien Gütertransfers (»Leitungen«) bis zur migrationsabhängigen Pluralisierung sozialmanifester religiöser Kultur. Selbstverständlich sind mit dieser insoweit skizzierten Expansion unserer wechselseitigen Abhängigkeiten soziale und kulturelle Angleichungsvorgänge verbunden. Aus sprachsoziologisch kaum erläuterungsbedürft igen Gründen hat sich ein rudimentäres Englisch als neue lingua franca etabliert. Touristen wie Wissenschaft ler sprechen es. Auch die Engländer verstehen es und hören zugleich, dass ihnen ein von Fremden perfekt gesproches Englisch sehr selten begegnet. Eben das bedeutet: Genau komplementär zu den kulturellen und sozialen Angleichungsvorgängen, die aus der Verdichtung unserer wechselseitigen Abhängigkeiten resultieren, gewinnt zugleich an Auff älligkeit, was darüber verschieden bleibt. Dabei kann es sich um Reste handeln, mit deren Verschwinden sich rechnen lässt. In anderen Fällen hingegen steigert sich mit der Erfahrung, unter anderen ein anderer zu sein, die Intensität des Willens, es zu bleiben, ohne dass es Gründe gäbe zu finden, dass es sich dabei um Akte modernitätsverweigernder Regression handelte. Pluralisierungsvorgänge sind als solche ihrerseits modernitätsspezifisch und nicht zuletzt im politischen Lebenszusammenhang ist das manifest. Ich skizziere es am Beispiel der unverändert aktuellen Pluralisierung der Staatenwelt. In den knappen achtzig Jahren zwischen den Pariser Vorortverträgen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Europa hat sich im östlichen und südöstlichen Teil dieses Kontinents, in der Kaukasus-Region, im Nahen Osten sowie im kaspisnahen Asien die Zahl der souveränen Nationalstaaten verneunfacht, nämlich im Vergleich mit den drei transnationalen Herrschaftsgebilden, die hier zuvor dominierten. Dieser Prozess der Pluralisierung der Staatenwelt, der ja überdies auch noch in anderen Kontinenten, in Afrika zumal, zu registrieren ist, scheint noch nicht einmal abgeschlossen zu sein. Ausnahmslos handelt es sich bei den neuen Nationalstaaten in den umrissenen riesigen Räumen um Mitglieder der UNO und damit um Subjekte völkerrechtlich anerkannter Souveränität. Um »postnationale Konstellationen« handelt es sich hier also ersichtlich nicht, vielmehr um das Resultat einer politischen Emanzipation selbstbestimmungsgewiss gewordener Nationen. Im Widerspruch zu den völkerrechtlich institutionalisierten Formen der Organisation unserer großräumigen wechselseitigen Abhängigkeiten mit ihren zwingenden technischen und ökonomischen, militärisch-sicherheitspolitischen und ökologischen Zwecken steht der skizzierte Nationalisierungsprozess auch nicht. Großraumorganisationen mit ihren Zuständigkeiten von kontinentaler, ja globaler Reichweite einerseits und die Pluralisierung der Subjekte nationaler und föderal-regionaler politischer Selbstbestimmung andererseits finden gleichzeitig statt und bedingen einander. Mit dem Prädikator »postnational« lässt sich diese Konstellation nicht beschreiben. Dieser Prädikator müsste in estnischen, polnischen oder tschechischen Ohren befremdlich klingen und wie eine Zumutung, sich ein Problem zu machen, das mit sich selbst zu haben vorzugsweise unter deutschen Intellektuellen vorkommt.
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Die Frage, worauf sich der nationale Selbstbestimmungswille, nämlich in Unterscheidung vom analogen Willen anderer Nationen jeweils bezieht, wäre mit Rekurs auf Kontingentes zu beantworten. Generell haben zum Beispiel Sprachregime nationalpolitisch an Bedeutung gewonnen – auch hier in der spezifisch modernen Tendenz, dass sich mit unserer Angewiesenheit auf eine transnational verbreitete lingua franca ein intensiviertes sprachpolitisches Interesse verbindet, den Rechtsstatus und sonstige Erhaltungsbedingungen kleiner Regionalsprachen zu verbessern. Ein Indikator dieser Tendenz wäre zum Beispiel die Zunahme zweisprachiger Ortstafeln in Europa – vom niederländischen Friesland bis zum slowenisch geprägten Nordrand der Karawanken und von der sorbischen Lausitz bis nach Südtirol. Auch Religionskulturen sind in den Grenzverläufen politischer Selbstbestimmungsansprüche manifest – zum Beispiel im Luthertum der beiden nördlichen baltischen Länder gegen die Orthodoxie einerseits und gegen den Katholizismus der Litauer und Polen andererseits. In der Kaukasusregion grenzen die altkirchlichchristlich geprägten Kulturräume Georgiens und Armeniens an die Orthodoxie und an den Islam. Auf dem westlichen Balkan richtete sich die Gewalt im Zerfall des scheiternden Transnationalismus Groß-Jugoslawiens signifi kant nicht zuletzt gegen Sakralbauten – gegen den Barock der katholischen Kirchen Vukovars zum Beispiel oder auch, politisch ungleich folgenreicher, gegen die größte und älteste Moschee in Sarajevo. Die berühmt-berüchtigte Kennzeichnung »clash of civilization« will darauf passen. Samuel Huntington hat sich dafür scharfe Kritik gefallen lassen müssen, vom katholischen Theologen Hans Küng zum Beispiel. Aber Huntington hat doch die neue Gewaltsamkeit in religionskulturell mitgeprägten politischen Konflikten weder für wünschenswert erklärt noch begrüßt, vielmehr lediglich beschrieben. Gesamthaft ist der skizzierte Prozess der Pluralisierung der Staatenwelt überraschend friedlich verlaufen. Nie zuvor gab es historisch Staatsgrenzenneubildungen dieses Umfangs – statt in Friedensverträgen nach Kriegen oder als Resultat der Selbstermächtigung zu nationaler Selbstbestimmung im Zerfall von Großherrschaftsräumen. Die nichtsdestoweniger diesen Vorgang in etlichen Religionen begleitenden Konflikte machen immerhin evident, wie unzweckmäßig es wäre, die Interaktionen, die sich aus den neuen pluralisierten nationalen und regionalen Selbstbestimmungsansprüchen ergeben, als wettbewerbsmotiviert und wettbewerbsfördernd zu beschreiben. Umfang und Grenzen von politischen Selbstbestimmungsansprüchen werden nicht als Resultate der Konkurrenz solcher Ansprüche festgestellt. Sie werden vielmehr durch Bindung an Regeln, die sie koexistenzfähig machen, als politisch indisponibel anerkannt. Erst im Akt dieser Anerkennung, die wechselseitig Anspruchsgleichheit konstituiert, werden koexistierende Selbstbestimmungsansprüche friedensfähig. Alsdann erst wird auch Wettbewerb möglich – über vergleichbare Wirkungen des unterschiedlichen Gebrauchs, wechselseitig anerkannter Selbstbestimmungsrechte, ökonomisch und kulturell, exportwirtschaft lich zum Beispiel oder stift ungsrechtlich, migrationspolitisch und nach den Unterschieden im Ausmaß der Integration in internationale oder gar supranationale Körperschaften.
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Erst Rechtssysteme also, die wechselseitig Gleichheit in der Selbstbestimmung zur Teilnahme an interaktiven Tätigkeiten freisetzen, machen Wettbewerb und Anerkennung seiner sich ungleich verteilenden Resultate möglich. Das gilt dann freilich nicht nur ökonomisch, vielmehr auch kulturell und schließlich sogar für die Koexistenzbeziehungen zwischen Konfessionen und Religionen. Ihre in etlichen Regionen, wie erwähnt, erneut scharf gewordenen Konflikte sollten durch eine »Dialogkultur« abgelöst werden – so hören und lesen wir. Gewiss: Reden ist besser als schießen – und das ist trivial. Nicht trivial ist die Beantwortung der Frage, worüber man denn in religiös mitgeprägten Konflikten in friedensfestigender Absicht miteinander reden solle. Schon der Verlauf nicht aller, aber etlicher Religionsgespräche, die mit Dauerwirkungen verbunden waren, lehrt: Dialoge mit dem Ziel, in divergierenden, existentiell relevanten Überzeugungen zu einem Konsens zu gelangen, sind nicht aussichtsreich. Stattdessen beschweigt man besser, was einen existentiell trennt und thematisiert Regeln der Koexistenz defi nitiv Getrennter. Religionsfreiheit ist bekanntlich in der langen Geschichte der Erfi ndung solcher Koexistenzregeln die wichtigste gewesen und geblieben. Ihre Quintessenz ist, noch einmal, das Dahingestelltbleibenlassen dessen, worüber Konsens zu erlangen aussichtslos ist, und somit die wechselseitige Anerkennung des Rechts, ein anderer bleiben zu dürfen. Erst das setzt dann auch Möglichkeiten der Erfahrung mit Unterschieden frei, die Nutzen und Nachteil vergleichbar machen und sogar Angleichungsvorgänge auslösen können – wahrscheinlicher aber Akzeptanz der Unvermeidlichkeit solcher Unterschiede. Das Wort »Wettbewerb« drängt sich in seiner sprachlich dominanten ökonomischen Tönung zur Beschreibung der geregelten Konkurrenz von Subjekten mit unaufhebbar divergierenden Gewissheiten, Überzeugungen, Könnerschaften und Interessen nicht auf. Näher liegt es, sich in kulturtheoretischer Universalisierung des Wortes »Wettbewerb« von sportlichen Assoziationen leiten zu lassen. Dazu legitimiert uns in der Reihe der kanonischen Schrift en unserer kulturellen Tradition sogar die Bibel, näherhin der Apostel Paulus im neunten Kapitel seines ersten Briefes an die Korinther. Die Menge populärer Sport-Events nimmt ja heute rasch zu, zu deren gehobener Eröff nung auch geistlicher Segen erbeten wird – bei Bikertreffen zum Beispiel oder auch bei den beliebten Wettkämpfen in archaischen Regionalsportarten, bei Inselausflügen von Schwimmern in Nutzung der Gezeitenströme und vor allem bei zahllosen Volksläufen. »Lauft so, dass ihr ihn gewinnt«, den »Siegespreis« nämlich – dieses Apostelwort wird alsdann vom Pastor den Startbereiten zugerufen. Selbstverständlich meinte der Apostel sein Sportwort metaphorisch und dachte an den »unvergänglichen Siegeskranz« des ewigen Lebens. Aber auch dieses setzt ja Bemühung voraus und wie nur wenige andere kulturelle Aktivitäten vergegenwärtigt der sportliche Wettlauf den Zusammenhang von Bemühung und Gewinn unmittelbar. Seine existentielle Bedeutung reicht sogar noch weiter. Startlinie und Startkommando definieren die Gleichheitsbedingung aller fairen Wettbewerbe. Am Ziel handelt es sich aber um die Manifestation der Unterschiede und die Fairness kraft der Gleichheit der Startbedingungen verlangt und bewirkt neidlose Akzeptanz der unterschiedlichen Resultate. Tatsächlich erwartet das Publikum, dass die drei
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ersten Sieger auf dem Treppchen sich in der Freude über ihr jeweiliges Plätzchen verbunden zeigen. Verstöße wider diese Erwartung werden hart sanktioniert, was bedeutet, dass der Dauersinn des veranstalteten Wettbewerbs nicht die kontingenten Siege und Niederlagen, vielmehr die Erhaltung und Förderung der Bereitschaft ist, teilzunehmen und mitzumachen. Der Kindergartensport demonstriert das in der hier sinnvollen und verbreiteten Praxis, alle Wettläufer – ob Sieger oder nicht – mit einem Preis zu beglücken. Unter Vorschulkindern könnte es sonst vielleicht Tränen geben. Erwachsen zu werden bedeutet insoweit, mit indisponiblen Unterschieden, die, statt als Folgen einer Gleichheitsverweigerung ein Klagegrund, vielmehr die Folge gewährleisteter Gleichheit sind, gut, nämlich einvernehmlich zu leben. Aber auch den ökonomischen Aspekt des Wettbewerbs verschmäht bekanntlich die Bibel keineswegs. Dafür steht das Gleichnis vom anvertrauten Geld, das wir im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums fi nden. Hier handelt es sich um Vermögensverwaltungsauft räge mit der Erwartung guter Verzinsung durch einschlägig geeignete Anlage. Der Vermögenseigner übergibt reisehalber seinem talentiertesten Diener fünf Talente und dieser hat daraus nach Rückkehr seines Herrn tatsächlich zehn gemacht. Der Diener des zweiten Kompetenzrangs erhielt den Auft rag, aus zwei Talenten das Beste zu machen und auch ihm gelang eine Verdoppelung des Anlagebestandes. Ihrer gleichen Leistung wegen wurden entsprechend beide Verwalter in gleicher Weise vom Herrn gelobt. Zur Enttäuschung hingegen wurde das Verhalten des dritten Vermögensverwalters, der ein Talent hätte mehren sollen, stattdessen aber am Ende lediglich dieses Talent dem Herrn zurückgeben konnte. Ihn trifft der Vorwurf: »Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten«. Die Strafe lautet: »Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!«. Als Quintessenz für den Umgang mit Talenten ergibt sich die Lehre: »Wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss leben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat«. Wettbewerbstheoretisch heißt das: Unsere Talentnutzungschancen sind privilegienfrei gleich verteilt. Die Talente selbst indessen sind es nicht, und das uneinklagbar. Bewertet wird nicht das Endvermögen, vielmehr die Verwertung der ungleich verteilten Talente, die Leistung also, so könnte man sagen, die gleich ist bei allen, die aus ihren indisponibel ungleich zugeteilten Möglichkeiten das jeweils Beste gemacht haben. Wettbewerbsordnungen, so könnte man in wettbewerbstheoretischer Nutzung der zitierten biblischen Exempel sagen, sind Ordnungen, die es möglich und damit zugleich nötig machen, im Vergleich unseres Tuns und Lassens Unterschiede anzuerkennen, die sich in der Konsequenz wohlgenutzter unterschiedlicher Voraussetzungen ergeben, die in ihrer Unterschiedlichkeit ihrerseits ihrer privilegienfrei gleichverteilten Indisponibilität wegen Gegenstand von Unfairnessrügen sinnvoller Weise nicht werden können. Krasser noch lehrt uns für unseren Umgang mit unverfügbaren Unterschieden das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Analoges. Wir finden es im 20. Kapitel desselben Evangeliums, in welchem der Herr Tagelöhner anwirbt – einen schon frühmorgens für einen zwölfstündigen Arbeitstag, einen weiteren drei Stunden
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später, sechs Stunden später auch noch einen und schließlich eine Stunde vor Ende des zwölfstündigen Arbeitstages den letzten. Zur keineswegs allseitigen freudigen Überraschung erhalten alle denselben Lohn, einen Denar nämlich. Murren erhebt sich. Die Antwort des Herrn lautet: »Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?« Gewiss: vor einem Arbeitsgericht hielte dieser Fall buchstäblich verstandener ungleicher Entlohnung nicht stand. Aber für eine Klage über die ungleiche Verteilung der Mühen, die uns für die Fristung des Lebens abverlangt sind, gibt es keine Klageadresse mit Instanzenzug. Wir bleiben insoweit aufs jüngste Gericht verwiesen und haben bis dahin hinzunehmen, dass wir es nicht eo ipso stets so gut haben wie wir zu sein vermeinen. Am Ende können sogar »die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten«. Aber die Erfahrung, dass das so ist, machen wir in unbeherrschbar kontingenzabhängiger Weise immer wieder einmal jetzt schon und wir würden lebensunfähig, wenn wir nicht lernten, uns darauf einzustellen. Auch für die beste Wettbewerbsordnung gilt das und wiederum ist der Sport eine besonders effi ziente Schule des Umgangs mit dem Faktum, dass nicht der altbewährte Favorit, vielmehr irgendwer triumphiert. Anders gesagt: Der Ausgang von Wettbewerben ist nicht eo ipso gerecht, vielmehr risikobelastet und eben deswegen lassen sich darauf wie beim Pferderennsport sogar Wetten abschließen, die ihrerseits kulturell Gelegenheiten der Einübung in das unaufhebbare Faktum sind, dass Wettbewerbsordnungen die Regeln der Fairness institutionalisieren, ohne die Wettbewerbsresultate nicht akzeptabel wären, während gleichzeitig aber diese Resultate von Faktoren mitbestimmt sind, wider deren Zufallsverteilung sich nicht klagen lässt. Wie schwer es uns gelegentlich fällt, auch das noch in unserem Umgang mit Unterschieden zu berücksichtigen, lehrt ein Werbespot, der mit dem Behindertensport argumentiert. Vor drei Jahren noch warb eine Organisation der Behindertenhilfe für Spenden unter dem Namen »Aktion Sorgenkind«. Inzwischen gibt es das »Sorgenkind« nicht mehr, nämlich verbal, und eben dieselbe Organisation sammelt neuerdings Spenden unter dem frohgemuten Aufruf »Es lebe der Unterschied!« In der Tat: Man hat inzwischen gelernt, dass sportlicher Wettbewerb nicht nur Gesunden gut tut, vielmehr Behinderten, sogar Schwerbehinderten auch noch. So sieht man sie denn also im Behindertenwettkampf mittels eigens dafür konstruierter Rollstühle eine Parkhausrampe hinunterrasen. Man zweifelt nicht an der Freude des Siegers und der Grad der Behinderung der Behinderten nimmt über die Teilnahme an solchen Wettkämpfen auch noch ab. Nichtsdestoweniger ist aber doch damit die Sorgenkindeigenschaft eines behinderten Kindes nicht getilgt. Man vergegenwärtige sich: Der Arzt hatte pränatal die Geburt eines gesunden Kindes verheißen und stattdessen lag dann – in einem seltenen, aber doch vorkommenden Fall – ein Krüppelkind, wie man in weniger unterschiedstilgungsbeflissenen Zeiten noch sagen durfte, in der Wiege. Wie will dazu nun der gut gemeinte Sympathiewerbespruch »Es lebe der Unterschied!« passen? Nur die angestrengte Weigerung, Unterschiede, die wir lieber nicht hätten, in ihrer letztinstanzlichen Indisponibilität hinzunehmen, könnte, was der fragliche Werbespruch sagt, fi nden. Gleichheit ist tatsächlich ein konstitutives Prinzip fair geregelter Lebensordnung einschließlich der Ordnung des Wettbewerbs. Aber erfüllbare Gleichheitsansprüche setzen die
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Anerkennung von Unterschieden voraus, auf die sie sich gar nicht erstrecken können, und in wohlbestimmter Hinsicht trifft das auch auf den Unterschied zu, den es macht, behindert oder nicht behindert zu sein. Einzig deswegen gibt es doch neben der gemeinen Olympiade auch noch eine Behindertenolympiade. An dieser Stelle ist es zweckmäßig, zu den politischen Voraussetzungen moderner Lebensverbringung zurückzukehren. Von der mächtigen Tendenz der Pluralisierung der Staatenwelt war anfangs bereits die Rede und vom Komplementärphänomen völkerrechtlich sanktionierter Institutionalisierung unserer großräumig expandierenden wechselseitigen Abhängigkeiten gleichfalls. Es versteht sich von selbst, dass über die geregelte Interaktion selbstbestimmungskompetenter Körperschaften auch Wettbewerb stimuliert wird und in wichtigen Fällen gehört das sogar zum Zweck völkerrechtlicher Regelungswerke – von der WTO bis zur Entgrenzung des Güter- oder Kapitalverkehrs innerhalb der Europäischen Union. Andere staatenbindende Regeln, überaus wichtige überdies, sind in ihrem Primärzweck auf wichtigere Zwecke als auf den der Wettbewerbsförderung bezogen – vom Sklavereiverbot bis zu den mannigfachen Abkommen bestandserhaltungsdienlicher Schranken der Ausbeutung biotischer Meeresressourcen. Aber ohne gewährleisteten Schutz der Menschenrechte wie der naturalen Bedingungen unserer Existenz fände auch ein als fair anerkennungsfähiger Wettbewerb gar nicht statt. Generalisiert heißt das: Egalisierung von Partizipationschancen durch Abbau faktischer oder förmlicher Vorrechte mehrt Freiheit und damit auch die Freiheit des Wettbewerbs, wo immer er in der sozialen Interaktion vom Sport bis zum Handeln auf Märkten eine Rolle spielt. Zugespitzt formuliert heißt das: Gleichheit macht frei. Entsprechend beruht auch die bis heute bei etlichen Staatsrechtslehrern geschätzte These, Gleichheit und Freiheit schränkten sich wechselseitig ein, auf einem Missverstand und die Verfassungsrhetorik gleichfalls, gerade ihres Spannungsverhältnisses wegen gebühre der Freiheit der Vorrang vor der Gleichheit. Wahr ist, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das Grundrecht der Freiheit vor dem Grundrecht der Gleichheit nennt. Aber andere Staatsverfassungen, speziell die von Monarchien zum Beispiel, konstituieren die Gleichheit vor der Freiheit und das hat seine Sinnevidenz: Erst vollständiger Vorrechteabbau macht die zuvor durch ständisch beschränkte Rechte benachteiligt gewesenen Bürger frei. Das gilt für die Entkoppelung der Bürgerrechte von Steuerkraft oder Grundbesitz und schließlich auch für die Emanzipation des Kaminkehrerhandwerks von den regionalen Betätigungsgrenzen des alten Konzessionswesens. Für das Verständnis der Gleichheit als konstitutiver Voraussetzung fairen Wettbewerbs ist es entscheidend zu erkennen, dass rechtlich gewährleistete Gleichheit nun gerade nicht materielle Egalität, vielmehr zuvor durch Vorrechte gefesselt gewesene Unterschiede freisetzt. Exakt aus diesem Grund beruhte ja auch die im vergangenen Jahrhundert in der Zwischenkriegszeit populäre Gesellschaft stheorie, die die sogenannte Vermassung für eine Normierungsfolge der Gleichheit hielt, auf einem grundlegenden Irrtum, nämlich auf der Verkennung der sozialen, wirtschaft lichen und kulturellen Differenzierungsfolgen der Entprivilegierung, wie sie Georg Simmel in seiner berühmten Frühschrift gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben hatte.
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Einen politischen Konsens in der Anerkennungsbedürftigkeit der Differenzierungsfolgen gewährleisteter Rechtsgleichheit hat es bekanntlich nie gegeben, vielmehr stattdessen – bis hin zum inzwischen freilich historisch gewordenen totalitären Extremfall des Kommunismus – eine unüberschaubare Fülle von Politiken in der Bemühung, die Differenzierungsfolgen rechtlicher Entprivilegierung zu moderieren, Unterschiede auszugleichen, tunlichst unsichtbar zu machen und über die Egalisierung der Partizipationsrechte hinaus materielle Teilhabegleichheit zur Zukunft svision einer menschlichen Solidargemeinschaft zu erheben. Das hat seinen Grund keineswegs eo ipso in einem Missverstand und zwar auch dann nicht, wenn die Vorstellungen davon, was denn insoweit erreichbar sei, von anthropologischen und soziologischen, ökonomischen und pädagogischen Illusionen durchherrscht sind. Das erkennt man am besten vor dem Hintergrund der bereits genannten Fälle, wo Unterschiede, egalitär freigesetzt und über Wettbewerbseffekte noch verstärkt, gerade nicht Neid und Missgunst, vielmehr Respekt, ja Bewunderung auslösen und überdies niemandes soziales Gewissen schlagen lassen. Der Sport und die Popkunst, auch die Hochkultur einschließlich der Forschung bieten dafür Exempel und von der Nebenfunktion des Sports war schon die Rede, die Kultur des Umgangs mit Unterschieden realistischer und reicher zu machen. Das gelingt überall dort mühelos, wo die Faktoren, die hier jeweils den Unterschied machen, prinzipiell oder nach aktuell unabwendbarer Lage der Dinge indisponibel an die Individualität der ausgezeichneten Individuen oder auch Gruppen gebunden sind. Genau komplementär verhält sich dazu der Anstoß, den wir spontan an Unterschieden nehmen oder auch zu nehmen uns politisch, gar moralisch verpflichtet sehen, die sich auch ändern ließen und somit den Charakter von Vorzugslagen haben, die zwar nicht förmlich eingeräumt, aber doch faktisch fördernd oder belastend und schlimmstenfalls sogar zu Lasten anderer begünstigend wirken. Wie nie zuvor hat die allgemeine Pflichtschule, als Schule für alle, Unterschiede der »Begabung«, wie man früher sagte, freigesetzt und sichtbar gemacht. Zugleich hatte es seine Evidenz, dass der disproportional große Anteil von Schülern aus Oberschichtenmilieus, der an den zur Matura führenden freiwilligen Schulen auff ällig war, nicht einfach die in diesen Milieus ohnehin präsenten sogenannten Begabungsreserven abbildete. Auch die ungleiche Verteilung gegebener Möglichkeiten zur Aufbringung der Kosten qualifizierterer Bildung spielte trivialerweise ihre Rolle. Dass insoweit erst über die Abräumung von Kostenschranken auf Bildungswegen Gleichheit der Chancen, hier voranzukommen, gegeben sein könne, ist gleichfalls trivial und seit langem politisch unbestritten. Ob hingegen in der bildungspolitischen Praxis der Sicherung der ökonomischen Voraussetzung der Bildungschancengleichheit elterneinkommensabhängige Stipendien ausreichen könnten oder zusätzliche allgemeine Kostenfreiheit des Besuchs öffentlicher Schulen und Hochschulen wünschenswert sei – dergleichen ist bekanntlich umstritten. Was sich gegebenenfalls tun ließe den Unterschied auszugleichen, den es macht, aus einem Elternhaus mit Bücherwänden oder aus einem Milieu permanenten Massenmedienkonsums zu stammen, ist diesseits der Pseudogewissheiten totalitärer Einheitserziehungssysteme ohnehin schwer zu sagen. Der Unterschied, auf den es
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hier ankommt, ist dieser: Gleichheitsgewährleistung und Unterlassen ständischer oder sonstiger Bevorzugungen einerseits und aktive Leistungen zum Ausgleich begrenzt disponibler Unterschiede andererseits. Als Pflichten des staatlichen oder sonstigen Hüters der bildungspolitischen Teilnahme- und Wettbewerbsordnung aufgefasst heißt das: Die Pfl icht zur Unterlassung der Privilegiengewährung ist, eben als Unterlassung, eine vollkommene Pflicht, während die ergänzende Pflicht, aktiv für Ausgleich sonstiger Unterschiede von Teilhabe- und Teilnahmechancen zu sorgen, eine stets nur unvollkommen erfüllbare Pflicht ist – in ihren Mitteln begrenzt, in ihren Wirkungen und Nebenfolgen bestritten und am Ende defi nitiv wirkungslos, nämlich dort, wo man schließlich auf die schlechterdings indisponiblen Faktoren des Unterschieds stößt, dass der eine eben leichter lernt als der andere, gar irreversibel behindert oder durch eine chronische Erkrankung belastet ist. Der Rest also sind indisponible Unterschiede, die uns individuell wie in Ordnungen wettbewerbsträchtiger Teilhabe bei Gelegenheiten Akzeptanz abverlangen. Exemplarisch heißt das: Der eifrige Gesamtschüler könnte nicht leben lernen, wenn er unter dem Druck der Erfahrung, wie schwer ihm fällt zu leisten, was seinem Bankgenossen mühelos gelingt, von seinen Lehrern wie von den Bildungspolitikern fortdauernd mit dem Satz kommentiert fände, er sei eben das Opfer ungerechter sozialer Herkunftslasten, die erst in der nächsten Generation defi nitiv würden abgearbeitet sein können. Für die Ordnungen des ökonomischen Wettbewerbs gilt dasselbe. Auch hier haben die allerwichtigsten Hindernisse des Zugangs zu freien Märkten die schöne Eigenschaft, durch vollkommen erfüllbare Leistungen des Unterlassens beseitigt werden zu können – durch Abschaff ung der Zölle zum Beispiel im Binnenhandel der Europäischen Union. Nicht ebenso leicht lassen sich bekanntlich nicht-tarifäre Hemmnisse des Marktzugangs technisch anspruchsvoller Güter beseitigen und nicht wenige der immer wieder einmal spöttisch kommentierten EU-Produkteigenschaftsnormierungen haben darin ihre Unvermeidlichkeit. Während sich in der Union die Preise für Wirtschaftsgüter auf Märkten frei bilden können, gilt dasselbe nicht für die Löhne grenzüberschreitend mobiler Arbeitskräfte und man erkennt spontan die Argumente einschließlich ihrer irresistiblen politischen Wirkung, die hier durch aktive Eingriffe Folgen freien Wettbewerbs, die als schädigend gelten, einzudämmen sucht. Generell ist heute in den hochentwickelten Zivilisationen nach dem Untergang des real existent gewesenen Sozialismus der Vorzug wettbewerbsfördernder freier Märkte vor den zentralisierten Planungs- und Lenkungswirtschaft en unbestritten. Dass sich das Bessere in seiner Abhängigkeit von Faktoren durchsetzt, die durch politische Manipulation gehemmt, aber vorzugsweise durch Unterlassung wirksam werden – diese Erfahrung hat den Status einer Gemeinerfahrung und ist, auf ordnungspolitische Grundsätze gebracht, mehrheitsfähig geblieben. Hingegen intensiviert sich der Streit um das Für und Wider aktiven Handelns in der Absicht politisch erwünschter Wettbewerbseffekte. Wieso verhindern die Banken mit Hilfe der Notenbanken zinspolitisch die Verknappung von Krediten, die doch die Folge einer sozialpolitisch erwünschten und grundsätzlich ja auch erfreulichen Massennachfrage nach Wohnimmobilien sein müsste? Wieso verfügt die Finanzdienst-
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leistungsaufsicht nicht über die Fähigkeiten und Kompetenzen zur Steuerung des Handels mit Schuldverschreibungen mit schlechterdings undurchschaubar riskant gewordener Deckung? Wieso sind die Chancen, Dritte für Schadensfolgen ihres wirtschaft lichen Handelns haftbar zu machen, so grotesk hinter dem Ausmaß der angerichteten Schäden zurückgeblieben? Handelt es sich um Marktversagen oder um Folgen der Missachtung von Regeln des Marktes einschließlich der Ordnungen fairen Wettbewerbs? Unsere Erfahrungen mit den Vorzügen des Wettbewerbs geben Anlass zur Annahme, dass die Finanzmärkte sich rascher als die Wettbewerbsordnung entwickelt haben, die ihre Fairness zu garantieren gehabt hätte. Das ist nicht moralistisch gemeint, vielmehr als ein Hinweis auf einen spektakulären Fall einer Entwicklung, die sich ihrer beispiellosen Dynamik und Komplexität wegen als ordnungspolitisch unbeherrschbar erwiesen hat. Moralische Folgeschäden sind damit dann natürlich gleichfalls verbunden – von den historisch beispiellosen Schäden, die in diesem Kontext schlichte Betrüger anrichten konnten, bis hin zur Dreistigkeit der Einforderung von Boni für unternehmerische Entscheidungen, deren Schadensfolgen sich in Dimensionen bewegten, die die Regierungen zwangen, für ihren Ausgleich die Steuerzahler zu mobilisieren. Es empfiehlt sich, in dieser Lage die Klassiker der Sozialen Marktwirtschaft neu zu lesen. Selbstverständlich wird man bei dieser Lektüre den Entwurf eines neuen Ordnungsrahmens der globalisierten Marktwirtschaft nicht finden, wohl aber die Gewissheit, dass sich komplementär zu unseren wachsenden weltwirtschaft lichen Abhängigkeiten auch der Ordnungsrahmen unserer marktwirtschaft lichen Interaktionen festigen muss.
Dimensionen des Wettbewerbs: Thesen, Theorien, Trugschlüsse 1. Einführung Wettbewerb ist irgendwie überall – und überall irgendwie anders. Mehr noch: Alternative Wettbewerbstheorien und Wettbewerbsdimensionen rivalisieren untereinander – um Anerkennung und Dominanz. In diesem Beitrag versucht ein Ökonom, mit seinen ökonomischen also knappen Mitteln, verschiedene Dimensionen des Wettbewerbs zu beleuchten. Somit konkurrieren alle möglichen Interpretationen und Manifestationen von Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Autors. Aber die ist ebenso knapp wie seine Kompetenz. Die Chance interdisziplinärer Seminare wie diesem dürfte deshalb darin liegen, Spezialisierung und damit Arbeits- und Wissensteilung zu nutzen, da Kompetenz notwendig ungleich verteilt ist. Ich versuche zunächst in Teil 2 eine reichlich abstrakte, aber vielleicht auch multidimensional nutzbare Definition von Wettbewerb als unvermeidliches, aber nicht unabänderliches Resultat des Zusammentreffens von Knappheit und gleichzeitig auft retendem überlappendem Interesse herauszuarbeiten. In Teil 3 wird das damit jedem Wettbewerb anhaftende »ökonomische Problem« in wiederum konkurrierenden Dimensionen beschrieben: als Bedingung der Möglichkeit effizienter Allokation knapper Ressourcen, gegenseitiger Gewinne freiwilligen Tauschs oder der Schaff ung, Entdeckung und Nutzung von Wissen. In Teil 4 werden diese Dimensionen für den Bereich ökonomischen Wettbewerbs knapp illustriert; hervorgehoben wird dabei vor allem die Rolle des Wettbewerbs als Entmachtungsinstrument und als Entdeckungsverfahren. Diese Funktionen wettbewerblicher Ordnung des sozialen Lebens sollen sich in Teil 5 auch für den politischen Wettbewerb (Demokratie) als relevant erweisen – auch wenn sich die praktischen Möglichkeiten und normativen Ansprüche beider Wettbewerbssysteme deutlich unterscheiden. In Teil 6 wird kurz das Zusammenspiel von politischem und ökonomischem Wettbewerb anhand der Besonderheiten des durch Abwanderung initiierten Wettbewerbs der Jurisdiktionen thematisiert. In Teil 7 begebe ich mich auf heikles – aber für die Tagung relevantes – Terrain: den Wettbewerb der Kulturen oder eine (Hayekianische) Theorie kultureller Evolution. Teil 8 wiederum versucht, die Idee des Wettbewerbs als diskursiven Entdeckungs-, Kommunikations- und Lernprozess in den angesprochenen Dimensionen aufzugreifen, um kurz darzulegen, dass jeweils unterschiedliche Arten von Wissen entdeckt, kommuniziert und erlernt werden können. Teil 9 bietet mögliche Anknüpfungspunkte für das Korreferat von Elmar Nass und eine knappe Zusammenfassung. Die Teile 3 und 7 können auch als Exkurse verstanden und vom Leser mit knappen Zeitressourcen ohne arge Verluste übersprungen werden, sofern er / sie sich
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MICHAEL WOHLGEMUTH
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für konkurrierende Definitionen des ökonomischen Problems bzw. eine evolutorisch / wettbewerbliche Erklärung der Entwicklung freiheitlicher Zivilisation nicht sonderlich interessiert. Es dürfte bessere, konkurrierende Zeitaufwendungen geben als die Lektüre ausgerechnet dieses Beitrags. Ich kann es nicht ermessen. Sie, der Leser, können es jetzt – im Moment – auch noch nicht.
2. Wettbewerb als Schicksal? Wo Knappheit und überlappendes Interesse herrschen, herrscht auch Rivalität, Konkurrenz, Wettbewerb. Knappheit folgt aus der Kombination von Interesse, Mangel und Interdependenz. Knappheit bedeutet, dass (a) nicht jeder all das bekommen kann, was er / sie gerne hätte (Interesse) – (b) weil es nicht genug davon für alle gibt (Mangel) und (c) weil andere dasselbe oder desgleichen bereits haben oder haben wollen (Interdependenz). Knapp sind unter diesen Bedingungen etwa individuell oder kollektiv beanspruchbare Güter und Ressourcen, aber auch etwa Positionen (Lehrstühle, Parlamentssitze, Bischofsämter), Prämien (Goldmedaillen, Orden, Schönheitspreise) oder sonstige wie auch immer unter Knappheitsbedingungen verdiente oder erlangte Vorteile oder Annehmlichkeiten (Zimmer mit Seeblick, echte Freundschaften, attraktive Ehepartner, Einladungen zu Konferenzen in Menaggio u.v.m.). Konkurriert wird deshalb in mehreren (oft überlappenden) Dimensionen nicht nur um knappe Güter i.e.S., wie das Geld von Kunden oder die (Vor-)Leistungen von Lieferanten, sondern auch um knappe Werte, Belohnungen oder Güter i.w.S. wie Aufmerksamkeit, Macht, Zustimmung, Zuneigung, Anerkennung. Selbst wer all dies zur persönlich bescheiden empfundenen Genüge hätte (»wunschlos glücklich«1), wäre dem Umstand ausgeliefert, dass die Zeit und das Wissen, all dies genießen und zum eigenen Wohl oder zum Wohl anderer nutzen zu können, eben vor allem eines ist: knapp und damit rivalisierend mit alternativen Verwendungen. Rivalisierende Nutzungsmöglichkeiten der eigenen Zeit, des eigenen Wissens und der eigenen Talente konkurrieren deshalb schon in einem selbst (ökonomisch steht hierfür der Begriff der Opportunitätskosten, der Verzicht auf nächstbeste alternative Verwendungen). In diesem Sinne steht auch der einsame Robinson auf der Insel im Wettbewerb. Kommen Freitag und andere hinzu, dann konkurrieren eigene rivalisierende Nutzungsmöglichkeiten nun auch mit den Möglichkeiten der anderen, die um dieselben knappen Güter und Belohnungen i. w. S. mit einem selbst in Konkurrenz stehen. Gleichzeitig erweitert sich für Robinson aber auch der Möglichkeitsraum, indem durch Arbeitsteilung und Tausch Knappheit gemildert werden kann. Zur allseitig vorteilhaften Dynamisierung und Zähmung von ökonomischem Wettbewerb muss nun im politischen Wettbewerb die Vereinbarung allseitig vorteilhafter Spielregeln treten.2 In beiden doppelten Dimensionen (ökonomisch / politisch, individuell / kollektiv) ist Wettbewerb ein Grundtatbestand menschlichen Lebens seit der Ur-Sünde und folgerichtigen Vertreibung aus dem Paradies. Einzelne und Kollektive in Ökonomie und Politik (aber auch etwa in Bereichen von Wissenschaft, Kultur, Sport, Liebe) haben seither kaum wirklich die Wahl, ob, sondern nur wie sie sich dem
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Wettbewerb stellen möchten bzw. diesen (wiederum unter Bedingungen knappen Wissens, knapper Zustimmung, knapper Moral) gestalten wollen und können.3 Einzelne (Eremiten, Milliardäre oder Potentaten) mögen sich dem Wettbewerb um soziale Kontakte, ökonomische Prämien oder politische Zustimmung entziehen wollen und können; der Knappheit in anderen Dimensionen des Wettbewerbs bleiben auch sie ausgeliefert. Das Gleiche gilt für Kollektive: Zentralverwaltungswirtschaften etwa können (ja: müssen) die unternehmerisch-innovative Rivalität der Produzenten um die Gunst von Konsumenten unterbinden – nicht aber die Knappheit überwinden. Sozialismus befreit nicht vom »Reich der Notwendigkeit«. Sozialismus erhöht vielmehr die Knappheit an Freiheit, an Wissen und an Gütern – und damit den potentiellen Wettbewerb auf der Nachfrageseite. Dieser zeigt sich dann in der oft verzweifelten Rivalität etwa um Ausreisegenehmigungen, verlässliche Nachrichten oder knappe Konsumgüter (bzw. um vordere Plätze in der Warteschlange oder um die Gunst der Verkäufer von Backwaren). Wettbewerb ist in diesem Sinne ein unvermeidliches, aber kein unveränderliches Schicksal sozialen Lebens unter Knappheitsbedingungen. Relative Knappheiten / Saturierungsgrade ändern sich (bzw. lassen sich ändern) und damit auch die relative Intensität von kollektiven Wettbewerbsprozessen und individuellen Wettbewerbsanstrengungen in unterschiedlichen sozialen Dimensionen. Die Milderung von Rivalität in der einen Dimension kann zur Verschärfung des Wettbewerbs in einer anderen führen. Auch die Fähigkeit und Bereitschaft zu konkurrieren, ist letztlich knapp, wodurch ebenfalls eine Art Wettbewerb zwischen Wettbewerbsdimensionen steht. Ähnlich einer Maslowschen Bedürfnispyramide könnte man auch für Gesellschaften (genauer: für bestimmte Gruppen in bestimmten Gesellschaften zu bestimmten Zeiten) einen Übergang der Rivalitätsintensitäten von physiologischen Defi zitbedürfnissen hin zum Wettbewerb um Positionsgüter, soziale Wertschätzung u.ä. unterstellen oder beobachten.4 Dieser Übergang der Rivalitätsintensitäten spielt sich auch innerhalb der gleichen grundsätzlichen Bedürfniskategorie ab (von der Stillung des Hungers zum Genuss von Delikatessen oder Bestehen auf ökologischem Anbau, von der Bedeckung der Blöße zur Distinktion über Modelabels oder dem Bestehen auf »kinderarbeitslosen« Textilien …). Der Mensch scheint immer wieder genau das als wertvoll zu empfi nden, was relativ knapp ist. So sucht und schafft er immer wieder: den Wettbewerb. Generell eine »Ära des Überflusses«5 zu postulieren oder zu erwarten, gehört deshalb zur Welt des »Nirvana«6. Wohl aber dürfte sich durch die Änderung relativer Knappheiten die Rivalität unter den Nachfragern von den reichlich vorhandenen zu den knapperen Gütern verlagern. Während der Wettbewerb um weniger knappe Güter seitens der Nachfrager gelassener abläuft, muss er seitens der Anbieter angestrengter und raffinierter geführt werden. Produktdifferenzierung, Werbung (aber auch: rent-seeking auf dem Umweg politischen Wettbewerbs) werden im Wettbewerb der Anbieter relativ überflüssig vorhandener Güter (etwa: angesichts der aktuellen Überproduktionen im Automobilsektor) wichtiger, um die knappe Aufmerksamkeit und Kaufk raft relativ gesättigter Nachfrager zu gewinnen.
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3. Dimensionen des Wettbewerbs und des »ökonomischen Problems« Weil letztlich fast alles subjektiv als wertvoll Erachtete dazu tendiert, auch objektiv knapp zu werden – im Verhältnis zu dem, was wir und andere gerne, lieber und mehr als andere hätten –, ist in gewisser Weise auch alles Ökonomie. Dies allein rechtfertigt zwar noch keinen »Imperialismus« der herrschenden Ökonomik. Dennoch: Die politische Ökonomik (klassisch wie neoklassisch, keynesianisch, österreichisch oder institutionalistisch) hat sich nie ausschließlich mit dem Gegenstand Wirtschaft beschäft igt. Es geht ihr um all das, was man in verschiedenen sozialen Zusammenhängen als das ökonomische Problem verstehen und in Form »ökonomischer Metaphern« oder »Lesarten«7 präsentieren kann. Und hieran, an möglichen Anwendungen einer Ökonomik des Knappheitsumgangs, besteht kein Mangel, wohl aber an Übereinstimmung darüber, worauf es der Ökonomik dabei letztlich ankommt. Tatsächlich herrscht noch heute unter Ökonomen (jenseits der Lehrbuchliteratur) keine rechte Einigkeit darüber, was denn nun das ökonomische Problem im Kern sei. Relevant sind hier vor allem drei konkurrierende Definitionen, die in der ökonomischen Ideengeschichte in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen stets vorhanden oder doch zumindest angelegt waren. Anders gesagt: Es gibt drei verschiedene Auffassungen des ökonomischen Problems; man kann auch sagen drei Basiswerturteile8 darüber, auf welche Aspekte sozialen Handelns sich Ökonomen konzentrieren sollten: a) Effiziente Allokation knapper Ressourcen durch rationale Wahlhandlungen (mainstream, textbook economics) b) Wechselseitige Kooperationsgewinne durch freiwillige Tauschhandlungen (constitutional economics) c) Schaff ung, Entdeckung und Nutzung von Wissen durch dezentrale Koordinationssysteme (Austrian economics) Ad (a). Die noch heute als paradigmatischer Kern ökonomischen Denkens geltende Definition von economics hat Lionel Robbins geliefert: »Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses.«9 Knappe Mittel, unendliche Wünsche, damit: Opportunitätskosten, und deshalb: Wettbewerb – diese Grundannahmen wurden schon in Teil 2 als zeitlos zutreffend und dimensionsübergreifend unterstellt. Ebenso zeit- und dimensionsübergreifend zwingend folgt für den Ökonomen, es gelte, diese knappen Mittel durch rationale Wahl wohlüberlegt einzusetzen, was für den Akteur bedeutet: Nutzenmaximierung unter Restriktionen; und für eine Volkswirtschaft: effiziente Allokation knapper Ressourcen. Dies ist das ökonomische Problem, wie es noch heute in fast allen gängigen Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre jedem Erstsemester präsentiert wird. So findet sich im wohl meistgenutzten Lehrbuch Folgendes: Volkswirtschaftslehre ist die Wissenschaft von der Bewirtschaftung der knappen gesellschaftlichen Ressourcen. […] Wie ein Haushalt, so muss sich auch eine Gesellschaft zahlreichen Entscheidungen stellen. Eine Gesellschaft muss darüber entscheiden, welche Arbeiten von wem getan werden. […] Sie muss entscheiden, wer einen Porsche fährt und wer den Bus nimmt.10
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Dimensionen des Wettbewerbs: Thesen, Theorien, Trugschlüsse
Die »Gesellschaft« des ökonomischen mainstream in Lehre und Forschung hat sich auf einem pfadabhängig schwer angreifbaren Markt der Ideen bisher dafür entschlossen, Mankiw den Porsche fahren zu lassen. Sein repräsentativer Mikro-Makro-Marxismus (»eine Gesellschaft muss darüber entscheiden«) weist einer Ökonomik im Sinne Buchanans oder Hayeks (siehe unten) nur noch den Stehplatz im Kleinbus zu. Dennoch (oder deshalb) muss sich der Ökonom entscheiden, was er denn nun genau wie untersuchen möchte. Seinen knappen Mitteln stehen unendlich viele alternative Verwendungen gegenüber. Das war schon Robbins bewusst: »There are no limitations of the subject matter«.11 In der Tat: Eine Ökonomik, welche die Wahl zwischen Alternativen unter Knappheitsbedingungen und damit einen notwendigen Aspekt jeder absichtsvollen Handlung zum analytischen Ausgangspunkt macht, gewinnt weniger trotz, sondern vielmehr wegen der Restriktion ihrer analytischen Ausgangsbedingungen (Knappheit und Wahl) Terrain auf jedem sozialen Themengebiet. Einer der wenigen heute lebenden Ökonomen, der Robbins explizit widersprach und Mankiw widersprechen würde, ist der Nobelpreisträger James Buchanan. Ad (b): Buchanan liefert eine andere Definition von Wirtschaftswissenschaft. Er definiert: »Economics is the study of the whole system of exchange relationships«.12 Das Robbins-Programm, so Buchanan, habe ökonomischen Erkenntnisfortschritt mehr gehemmt als befördert. Das Problem rationaler Wahl und effizienter Allokation sei kein sonderlich sozialwissenschaft lich ergiebiges. Sobald die mathematisch darstellbaren notwendigen Maximierungsbedingungen einmal so oder anders spezifiziert wurden, könne man es ebenso gut (oder besser) Computern oder Ingenieuren überlassen. Ökonomen hätten die klassischen Fragen des Adam Smith und Thomas Hobbes aus dem Blick verloren: Wie sind Wohlstand und Ordnung möglich? Das Problem der effizienten Nutzung knapper Ressourcen stellt sich auch für Robinson auf der Insel; einer Gesellschaft freier Menschen stellt sich ein grundlegend anderes Problem. Es gibt keine Gesellschaft, die »wählt«, wer den Porsche fährt und wer den Bus nimmt. Aber auch auf der individuellen Ebene gilt: Die reine Logik der Wahl ist – als Rationalitätspostulat – empirisch gehaltlos. Individuen wählen immer das, was sie jeweils momentan für subjektiv höherwertig halten müssen. Als Rationalitätshypothese, angereichert mit Annahmen über Präferenzordnungen, Kenntnisstände und Möglichkeitsräume der Akteure, wird die Maximierung des Erwartungsnutzens empirisch gehaltvoll, aber oft genug empirisch widerlegt.13 Wenn Ökonomik auf eine reine science of choice reduziert werde, so Buchanan, bleibe ihr selbst nur die unbequeme Wahl zwischen Tautologien und notwendig anmaßenden Annahmen über menschliches Wollen (Präferenzen), Können und Wissen. Freilich lehnt Buchanan das rational choice Modell nicht rundherum ab. Auch er nutzt Varianten des Maximierungsverhaltens als Mustervoraussagen erlaubende Heuristik im Rahmen einer Situationslogik im Sinne Poppers. Sozialwissenschaft lich relevant würden solche Mustervoraussagen aber erst, wenn sie sich auf Interaktionsprozesse beziehen, konkret: auf soziale Bedingungen der Möglichkeit gegenseitig vorteilhafter Tauschhandlungen. Kurz: Ökonomik soll nach Buchanan Katallaktik sein, die Lehre vom Tauschprozess, von der Schaff ung und
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gegenseitig vorteilhaften Nutzung der gains from trade. Diese Idee der Kooperationsgewinne durch Tausch, die zudem in einem System permanenter Generierung alternativer Tauschmöglichkeiten, also unternehmerischem Wettbewerb, bedeutend gesteigert werden, definiert Buchanan als Grundgedanken einer Ökonomik, die auch in anderen Dimensionen sozialen Handelns Anwendung finden könne und solle. Ad (c) Auch Hayek bevorzugte den eher sperrigen Begriff Katallaktik. Dieser leitet sich aus dem Griechischen ab, vom Verb kattalatein, das eine reizvolle Doppelbedeutung hat: zum einen »tauschen«, zum anderen »vom Feind zum Freund machen«. Und für Hayek ist das besondere Rätsel, das Ökonomen zu lösen und zu erklären haben, nicht, wie gegebene Mittel etwa des Vorstehers eines Haushalts (oikos) effizient eingesetzt werden sollen, sondern vielmehr wie Millionen von Menschen ihre Pläne mit Millionen anderer Menschen erfolgreich koordinieren können – mit Menschen, die sie nicht einmal kennen, die nicht ihre Freunde sind, aber die wie sie dennoch zu Handlungen bewogen werden, die unbekannten anderen nutzen und ungeplant zu sozialen Ergebnissen führen, die bestenfalls ein allwissender (und wohlwollender) Planer hätte hervorbringen können. Erklärungsbedürftig sei somit die erstaunlicherweise oft erfolgreiche Koordination verschiedenster individueller Pläne in einer ungeplanten, spontanen Ordnung. Das »zentrale Problem der Volkswirtschaftslehre als einer Sozialwissenschaft« sei deshalb: Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewusst vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann? 14
In seiner Ablehnung einer reinen Logik der Wahl als sozialwissenschaft liches Erkenntnisprogramm ähnelt Hayek Buchanan. Ihn interessiert aber nicht nur die Frage, wie Tauschgewinne realisiert werden können. Hayek interessiert vor allem, wie hierbei verstreutes, ephemeres, implizites Wissen, das nur in den Individuen vor Ort und oft nur unbewusst (als »Talent«) vorhanden ist, kommuniziert und sozial nutzbar gemacht werden kann. Zum ökonomischen Problem erfolgreicher Arbeitsteilung tritt notwendig das Problem erfolgreicher Wissensteilung. Alle drei Dimensionen des ökonomischen Problems – effiziente Wahl, vorteilhafter Tausch, gelingende Kommunikation – lassen sich auch auf andere Gegenstände als reine Marktphänomene beziehen. Sie liefern unterschiedliche Referenzfolien für die Betrachtungen von Wettbewerb in den unterschiedlichen Gegenstands-Dimensionen. Keine kann aber für sich beanspruchen, die allein und stets relevante Frage zu sein. Sie sind Alternativen, aber keine vollständigen Substitute. Dies soll nun (ansatzweise) anhand der Gegenstands-Dimensionen ökonomischer Wettbewerb, politischer Wettbewerb (und am Ende ansatzweise auch: wissenschaft licher Wettbewerb) gezeigt werden.15 Jeweils kann man von Wettbewerb um knappe Verfügungsrechte (property rights i.w.S.)16 reden. Freilich gibt es auch im Hinblick auf die Chancen, die drei Arten von »ökonomischen« (letztlich: generell sozialen) Problemen zu lösen, Unterschiede. Wer konkurriert mit wem mit welchen (erlaubten) Mitteln worum? Und was kann dabei herauskommen? Wettbewerb ist überall – anders.
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4. Ökonomischer / katallaktischer Wettbewerb Wettbewerb auf Märkten für private Handlungsrechte kombiniert die freiwillige Zustimmung zu den jeweiligen Tauschakten mit der unfreiwilligen Zumutung der Konkurrenz durch Dritte. Dritte können einem dieselben Tauschpartner durch attraktivere Tauschangebote wegschnappen. Wettbewerb auf Märkten beruht also auf der Möglichkeit der Wahl zwischen Alternativen von Dritten (und Vierten … und n-ten) bereitgestellten Handlungsoptionen. Was daraus folgt, kann schon innerhalb der Ökonomik nach konkurrierenden Kriterien betrachtet und bewertet werden. Auch hierzu eine knappheitsbedingt subjektive Auswahl. (a) Wettbewerb als (allokativ) effizienteste Marktform. In der mainstream economics bezeichnet Wettbewerb vor allem eine Marktform, die sich von Monopol, Oligopol u.a. dadurch unterscheidet, wie viele Dritte auf den beiden Marktseiten aktiv sind bzw. aktiv werden könnten (solange der Markt angreifbar ist). Dem wohlfahrtsökonomischen Ideal (pareto-effi zienter) bestmöglicher Allokation knapper Ressourcen entspricht der Typ vollkommene Konkurrenz (perfect competition). Dieses Modell beschreibt freilich einen Gleichgewichtszustand, in dem alles ökonomische Leben, jede Wettbewerbshandlung, zum Erliegen gekommen ist. Schließlich verlangt dieser Idealtyp nicht nur völlig freien Marktzutritt, sondern u.a. auch, dass vollkommen rationale Präferenzordnungen, vollkommen homogene Güter und vollkommenes Wissen über Güter und Präferenzen gegeben sind. Innovation und Unternehmertum geraten hier zu externen Schocks, die ebenso wie Individualität und Neugier den Wettbewerb unvollkommen machen müssen. (b) Wettbewerb als (ordo-liberales) Entmachtungsinstrument. Auch die Urväter der Freiburger Schule dachten (faute de mieux) noch weitgehend im neoklassischen Marktformenschema. Eine Annäherung an eine polypolistische Marktform mit freiem Marktzutritt interessierte sie aber weniger im Hinblick auf Effizienzoptima, sondern als entscheidender Beitrag zur Lösung der »neuen sozialen Frage«17. Diese Frage war die nach den privaten Machtkörpern (Monopole, Kartelle, Trusts, Kammern, Industrieverbände, Gewerkschaften), die – oft unter Duldung oder gar Förderung staatlicher Macht – Marktpreise und Konditionen zum Schaden der Außenseiter festlegen. Gerade im Interesse der ärmeren Konsumenten und der Arbeitssuchenden galt es, diese Formen der Vermachtung in der Wirtschaft aufzubrechen. »Wettbewerb ist das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte«.18 Entmachtung durch Wettbewerb ist aber kein natürlicher Prozess oder gegebener Umstand, an dem die unmittelbar rivalisierenden Wettbewerber selbst ein Interesse haben können. Deshalb ist es (wieder: faute de mieux) Aufgabe der sichtbaren Hand des Rechts und des Staates, eine Wettbewerbsordnung zu etablieren und durchzusetzen, die Privilegien verbietet und freien Marktzugang ermöglicht. (c) Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Hayek äußert die radikalste (und noch immer weitgehend unbeantwortete) Herausforderung an die neoklassisch-preistheoretische Wettbewerbstheorie. Wenn die Annahmen vollkommenen Wettbewerbs (Wissen, Präferenzen, Güter, Alternativen als Datum) tatsächlich zuträfen, wäre Wettbewerb eine »höchst verschwenderische Methode zur Herbeiführung einer Anpassung an diese Tatsachen«19. Wenn wir schon wüssten, was Nachfrager wollen und
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Anbieter können, dann ergäbe die Zumutung des Wettbewerbs mitsamt seiner Versuche und Irrtümer keinen Sinn. Es wäre besser, einer zentralen Instanz die Planung zu überlassen. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie gäbe dieser alles Rüstzeug, das sie brauche. So wurde tatsächlich in den 1930er Jahren argumentiert. Seither galt die Kalkulationsdebatte contra Hayek als erledigt und der Nobelpreisträger Arrow vertrat noch 1974 die Auffassung, dass mit der Entwicklung von Hochleistungscomputern Wettbewerb auf Märkten durch zentrale Planung ersetzt werden könne.20 Diesem Laplaceschen Dämon hält Hayek einen gesunden Menschenverstand entgegen, der jenseits der ökonomischen Lehrbucharithmetik unbestritten sein dürfte. Wettbewerb ist demnach ein »Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen […], die ohne sein Bestehen entweder unbekannt blieben oder zumindest nicht genutzt werden könnten«21. Wettbewerb ist ein Verfahren, um etwas herauszufinden, was man noch nicht weiß. Eine Theorie, die annimmt, dass Wettbewerb erst dann vollkommen ist, wenn schon jeder alles weiß, ist absurd. Gäbe es nichts Unbekanntes oder Neues unter der Sonne, gäbe (oder bräuchte) es auch keinen Wettbewerb. Würde man auf Märkten, aber auch etwa im Sport, bei Berufsverfahren oder Ausschreibungen, Wettbewerb inszenieren, obwohl das Ergebnis schon vorab bekannt oder festgelegt ist, machte man sich entweder der Anmaßung von Wissen, der Zeitverschwendung oder des Betrugs schuldig.22
5. Politischer Wettbewerb Auch im Bereich der Politik herrscht Wettbewerb. Es geht um knappe Ämter und Machtpositionen, die andere auch haben möchten. Politische Systeme unterscheiden sich nur darin, in welcher Form dieser Wettbewerb entschieden werden soll. Auto-, Aristo-, Merito- oder Plutokratie unterscheiden sich vom Ideal der Demokratie nicht darin, ob, sondern nur wie es Wettbewerb um politische Herrschaft gibt und geben soll. Der Vorteil der Demokratie wie wir sie kennen liegt zunächst wohl vor allem darin, dass sie bessere Chancen bietet, »eine verwerfliche oder auch nur inkompetente Regierung […] ohne Blutvergießen loswerden zu können«23. Dies geschieht dadurch, dass im Prinzip jedermann potentiellen Zugang zum Wettbewerb um politische Macht erhält, die danach zugeteilt wird, ob er / sie im Vergleich zu konkurrierenden Rivalen größere Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen in freien und gleichen Wahlen erhält. Demokratie bedeutet deshalb aber nicht etwa »Herrschaft des Volkes« oder eine volonté générale, wie es die klassisch-idealistische Theorie der Demokratie noch heute gerne verkündet. Vielmehr gilt Schumpeters schlicht technische Definition von Demokratie als »Methode […] zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben«.24 Der Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes kann (wie der um das Geld der Kunden) sowohl nachfrage- als auch angebotsgetrieben sein. Die aprioristische Marktapologetik, wonach Produzenten auf freien Märkten letztlich nur Diener der Konsumenten sein könnten, 25 ist ebenso realitätsfremd und fortschrittsfeindlich wie die neoklassische public choiceAnnahme, Politiker seien letztlich nur Bediener einer gegebenen Präferenz des Medianwählers.26
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Wettbewerb heißt doch in beiden Fällen gerade, dass Angebote und Präferenzen sowie Wissen und Meinungen hierüber zunächst einmal unternehmerisch geschaffen, unter Bedingungen knapper Aufmerksamkeit kommuniziert und als Alternativen entdeckt, verglichen und letztlich bewertet werden – müssen. Wettbewerb ist in der Dimension des Ökonomischen wie des Politischen (und auch der Wissenschaft) zunächst und vor allem ein Prozess der durchaus diskursiven (s.u.) »Meinungsbildung«27 und nicht der banalen Konfrontation von gegebenen und bekannten Präferenzen der Nachfrager mit gegebenen und bekannten Alternativen der Anbieter. Politischer Wettbewerb im Rahmen einer demokratisch-rechtsstaatlichen Wettbewerbsordnung erfüllt unter den genannten Bedingungen eine dem ökonomischen Wettbewerb vergleichbare (und vor allem: realisierbaren konkurrierenden Formen des Wettbewerbs um politische Herrschaft überlegene) Funktion sowohl als Entmachtungsinstrument als auch als Entdeckungsverfahren. Das bedeutet aber nicht, dass der Wettbewerb in der Demokratie funktionsanalog zu dem auf Märkten abliefe – und ablaufen sollte. Erich Hoppmann unterteilt Wettbewerbsprozesse in eine rückgekoppelte Beziehung zwischen Austauschprozess und Parallelprozess.28 Im Austauschprozess stehen sich beide Marktseiten gegenüber: Nachfrager prämieren in Transaktionen die ihnen attraktiver erscheinenden Anbieter und Anbieter buhlen um die Gunst der Nachfrager. Dieses »Buhlen« geschieht freilich in Konkurrenz zu gleichzeitig (oder potentiell) aktiven Akteuren auf der gleichen Marktseite.29 Diese Art der Rückkopplung gilt für alle möglichen Arten sozialer Wettbewerbsprozesse. Sie ist aber jeweils anders organisiert. Und das ist auch oft gut so. Politischer Wettbewerb in einer Demokratie weist noch am ehesten Parallelen zum ökonomischen Parallelprozess auf: Ähnlich wie Firmen buhlen politische Parteien und Programme um die Gunst der Verbraucher (Wähler). Gleichzeitig erhalten sie aber auch, wenn sie die Wahlen gewonnen haben, das Monopol legitimer Zwangsanwendung auf vorgegebene Zeit. Mit anderen Worten: In der Demokratie geht es um die wettbewerbliche Vergabe einer zeitlich (und in einem Rechtsstaat zudem: inhaltlich) beschränkten Lizenz für die Ausübung eines Monopols. Dieses Monopol ist freilich ein natürliches; es basiert nicht auf Willkür, sondern auf dem Umstand, dass es schlecht gleichzeitig mehrere Parallelregierungen mit jeweils legitimer Zwangsautorität für dieselbe Jurisdiktion geben kann. Demokratie bedeutet somit eine Art Lizenzauktionsverfahren für Monopolstellungen auf Zeit.30 Wenn schon sinnvollerweise kein competition within the field (auf dem Feld hoheitlicher Herrschaftsausübung) möglich ist, so doch competition for the field (Wahlwettbewerb im Vorfeld). Und dieser Wettbewerb um die Gunst der Wähler im Vorfeld, der nach Ablauf der Wahlperiode wiederholt werden muss, kann und soll die Wettbewerber zu Versprechen und die Regierungen zu einem Verhalten anhalten, das ähnlich vorausschauend wählerfreundlich wäre, als ob dauerhaft Wettbewerb und nicht jahrelang Monopol herrschte. 31 Politischer Wettbewerb kann deshalb (und selbst dies nur in Grenzen) mit einer Variante ökonomischen Wettbewerbs metaphorisch adäquat verglichen werden, die schon recht unüblich ist: der auf unverbindlichen Versprechen beruhenden Vergabe jahrelanger Monopolmacht.
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Im Hinblick auf den Austauschprozess bricht die Analogie – aus guten Gründen – nahezu völlig zusammen. Auf ökonomischen Märkten kann sich jeder seinen Anbieter aussuchen und die entsprechenden alternativen Leistungen auch nach Maßgabe seiner Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit und damit im Verhältnis zu seiner verabredeten Gegenleistung in Anspruch nehmen. Auf politischen »Märkten« ist diese Form der Reziprozität zu Recht unter Hinweis auf Demokratie- und Rechtsstaatsgebot verboten. Der Wähler (anders als der Konsument oder Vorprodukte nachfragende Anbieter) erhält aufgrund seiner Wahl oder Entscheidung nichts Verbindliches oder irgendwie selbst zu Verantwortendes. Er / sie mag gewählt haben oder nicht; er / sie mag sich für einen Gewinner (eine sich oft erst nach Koalitionsverhandlungen als regierungsrelevant herausstellende Partei) oder für die unterlegene Partei entschieden haben: Der Wähler der Mehrheit hat am Ende ebenso wie der Wähler der Minderheit und der Nichtwähler exakt das selbe Ergebnis kollektiver politischer Entscheidungen der Regierung zu genießen oder zu ertragen. An dieser Art Zwangskonsum (und -fi nanzierung) politischer Leistungen ändert auch Demokratie, politischer Wettbewerb, nichts – und dies letztlich durchaus zu Recht! In der Politik geht es um kollektiv verbindliche Entscheidungen. Ein Austauschprozess, wie er auf Märkten für private Güter im Wettbewerb auch und vor allem Anstrengungen der Anbieter zugunsten der Nachfrager – in all ihrer Vielfalt19 – provoziert, wäre in der Politik unredlich. Je deutlicher der politische Austauschprozess in dieser Hinsicht dem des Marktes ähnelte, desto mehr wäre er zu Recht als undemokratisch und rechtsstaatswidrig disqualifiziert. Do ut des, Reziprozität, ist das Geheimnis der unbeabsichtigt gemeinwohlfördernden »unsichtbaren Hand« des Wettbewerbs auf Märkten. Im Rahmen politischen Wettbewerbs und damit kollektiv verbindlicher Herrschaft bedeutet Reziprozität gegenüber Einzelnen oder spezifi schen Gruppen schlicht Korruption, Nepotismus und Vorteilsnahme auf Kosten der Allgemeinheit. Je mehr sich hier Einzelne entgegen kommen, desto mehr stellen sie sich der Allgemeinheit in den Weg. Albert Hirschman unterscheidet als (wettbewerbliche) Reaktionen der Nachfrager oder Prinzipale i.w.S. gegenüber relativ nachlassender Leistung der Anbieter oder Agenten drei Arten: Abwanderung, Widerspruch und Treue (exit, voice, loyalty).33 Abwanderung ist das typische Reaktionsmuster unzufriedener Kunden auf dem Markt: Man sucht sich eben einen Anbieter mit besserem Preis-LeistungsVerhältnis je nach subjektivem Empfi nden und bekommt sofort das, was man im Moment individuell als besser erachtet (ohne erst eine Mehrheit Gleichgesinnter von der Vorteilhaftigkeit der eigenen Wahl überzeugen oder auch nur in Kenntnis setzen zu müssen). Diese Sanktion kann für die konkurrierenden Anbieter, auch wenn nur eine merkliche Minderheit abwandert, bereits existenzbedrohend oder (als Zuwanderung) existenzbegründend werden. Das ist Wettbewerb auf anonymen Märkten. Im politischen Wettbewerb geht es, so Hirschman, weniger um Abwanderung (exit), sondern um Widerspruch (voice): Man protestiert mit Argumenten gegen eine Politik, der man sich nicht einfach zugunsten eines subjektiv präferierten Angebots durch Abwanderung
6. Politischer / ökonomischer Standortwettbewerb Auch politische Wettbewerber sind nicht nur voice (oder weitaus wortkarger: vote), dem politischen (Wieder-)Wahlwettbewerb in legislaturperiodischen Abschnitten ausgesetzt, sondern (vor allem als Regierung) auch exit, der Abwanderung mobiler Ressourcen in alternative kollektive Systeme mit womöglich insgesamt attraktiveren Preis-Leistungs-Angeboten an fiskalischer, institutioneller (oder auch kultureller) Infrastruktur. Damit gerät der politische Wettbewerb zwischen zwei Fronten: zwischen den Wettbewerb um die Stimmen der einheimischen Bürger und den Wettbewerb um die mobilen Ressourcen einheimischer und ausländischer Standortbenutzer. Das ist nun nichts schrecklich Neues oder Schlimmes. Standortwettbewerb gab es schon im Mittelalter und hat seitdem die Fürsten oft genug dazu bewegt oder genötigt, ihren Bürgern, aber auch Fremden (Händlern, Künstlern), mehr Freiheiten und Annehmlichkeiten zu gewähren als sie es im geschlossenen Handelsstaat zu eigenen Gunsten hätten tun wollen und können.34 Die gleiche Logik gilt auch heute: Wenn Politiker nicht nur um gegebene Wähler, sondern auch um fremde Investoren, Steuerzahler, Facharbeiter, Ingenieure u.s.f. mit Politikern anderer Staaten konkurrieren, entfaltet Wettbewerb sowohl als Entmachtungsinstrument als auch als Entdeckungsverfahren eine neue Dimension. Als Entmachtungsinstrument dürfte exit auf zweierlei Weise wirken: Die Möglichkeit der Abwanderung relativiert das Zwangsmonopol des »Leviathan«; und die Drohung der Abwanderung mobiler Ressourcen (und damit der Steuerbasis, und damit der Möglichkeiten, Wähler zu »kaufen«) verstärkt die Stimme (voice) der Abwanderungsbereiten. Hieraus kann sich freilich auch ein Erpressungspotential ergeben, das der Stimme der Besitzer mobiler Faktoren mehr politisches Gewicht (und leichtere Steuerlast) verleiht als der der Besitzer immobiler Faktoren.35 Als Entdeckungsverfahren wirkt der Wettbewerb zwischen Jurisdiktionen vor allem dadurch, dass nun ein echter politischer »Parallelprozess« entsteht: die Rivalität gleichzeitig mit konkreten Leistungen konkurrierender Anbieter politischer Preis-Leistungs-Bündel. Geschlossene Volkswirtschaften (oder »harmonisierte« Integrationsgebilde) sind auf konsekutives Lernen aus Versuch und Irrtum beschränkt. Erst Systemwettbewerb erlaubt paralleles Lernen aus direktem Vergleich der Problemlösungsqualitäten gleichzeitig erprobter und zu erprobender politischer Hypothesenbündel. Damit empfiehlt sich Systemwettbewerb als chancenreicheres und risikoärmeres Verfahren zur Entdeckung und Korrektur politischer Fehlentwicklungen und zur Reaktion auf eine sich laufend ändernde Vielfalt von Präferenzen und Problemlagen.36
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entziehen kann (oder aus Gründen der loyalty auch nicht plump entziehen will). Widerspruch wiederum kommuniziert (im besten Fall) anders als schlichte Konsumentenabwanderung auch Gründe, Argumente, die dem (politisch konkurrierenden) Produzenten hilfreich sein können. In jedem Fall wird – je mehr Wettbewerb desto intensiver – kommuniziert. Worüber jeweils, das wird in Teil 8 kurz behandelt werden.
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7. Wettbewerb der Kulturen, kulturelle Evolution Die Theorie des Systemwettbewerbs überträgt bereits (unter durchaus begrenzten Bedingungen fruchtbarer Analogiebildung)37 Grundmuster des Wettbewerbs auf der ökonomischen Handlungsebene (choices within rules) auf die politische Handlungsebene und damit die von dieser selbst gesteuerten Regelebene (choices of rules). Ich denke, man kann mit Gewinn diese Übertragung weiter dehnen und die Herausbildung einer freiheitlichen Zivilisation oder Kultur ebenfalls einer Art evolutorischem Lernprozess unter Wettbewerbsbedingungen zuschreiben. Dies war einst noch überaus üblich unter Vertretern der schottischen Aufk lärung (Adam Ferguson, Adam Smith, David Hume). Im letzten Jahrhundert wurde diese evolutorisch-wettbewerbliche (im Gegensatz zur rationalistisch-konstruktivistischen) Theorie der Entstehung der civil society vor allem von Hayek (wieder-)entdeckt und propagiert. Hayek spricht in diesem Zusammenhang auch von den »Zwillingsideen der spontanen Ordnung und der kulturellen Evolution«38. Dabei ist Hayek zunächst einmal nur ontologisch konsequent: Am Anfang seiner Markt-/Wettbewerbstheorie wie auch seiner Staats-/Kulturtheorie steht die unabweisbare Tatsache, dass menschliche Vernunft begrenzt ist, auf unvollständigem, oft unartikulierbarem und fehlerhaftem, über (Gruppen von) Individuen verteiltem Wissen von Ort und Zeit beruht, sich aber nicht als kollektive Vernunft aus diesen Wissensstücken additiv zusammensetzen kann. Auch die heute als vernünft ig und erfolgreich geltenden und genutzten Institutionen i.w.S. wie Sprache, Geld, Privateigentum, Handel sowie die informellen (auch religiösen) Normen und das (vor allem: Gewohnheits-)Recht können sich keiner kollektiven, planend voraussehenden Vernunft bedient haben. Sie müssen selbst Ergebnisse einer spontanen Ordnung sein, eines Wettbewerbs als Verfahren zur Entdeckung von Problemlösungen, die »ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder zumindest nicht genutzt werden könnten«39. Diese Praktiken und Institutionen verdanken sich einer Entdeckungsreise ins Unbekannte unter Wettbewerbsbedingungen. Sie sind weit weniger als von Intellektuellen gedacht oder gewünscht das Ergebnis revolutionärer Aufk lärung im Sinne umfassend neuer, zweckorientiert bewusst erfundener Gesellschaftsentwürfe. Sie sind viel eher die Ergebnisse konkurrierender Versuche und Irrtümer – wobei zu diesen Versuchen auch revolutionäre Variationen, Tabubrüche innovativer Regelbrecher gehört haben müssen.40 Hayeks Wettbewerbstheorie kultureller Evolution behält die abstrakte Logik der Darwin zugeschriebenen Erklärungselemente – Variation, Selektion, Restabilisierung – bei, grenzt sich aber nachdrücklich von einem biologistischen Sozialdarwinismus ab.41 Hayek nennt seine Erklärung kultureller Evolution daher auch »lamarkistisch«, denn »sie beruht völlig auf der Übertragung erworbener Eigenschaften«.42 Wobei diese Übertragung eben nicht genetisch geschieht, sondern durch Nachahmung, (bewusstes wie unbewusstes) Lernen erworbener Fähigkeiten und Praktiken auf eher dezentralen Experimentierfeldern zwischen (bewusst wie unbewusst) konkurrierenden Individuen und Gruppen. Dabei geht es in der Evolution infolge kulturellen Wettbewerbs aber nicht um die Selektion von Individuen aufgrund der Anpassungsfähigkeit ihrer genetischen Ausstattung (survival of the fittest), sondern die
Kultur ist weder natürlich noch künstlich, weder genetisch übertragen noch rational geplant. Sie ist eine Tradition erlernter Verhaltensregeln, die niemals erfunden wurden und deren Funktionen die handelnden Personen für gewöhnlich nicht verstehen. 44
Nun weisen diese im Wettbewerb der Kulturen entdeckten Verhaltensregeln, die sich für die Entwicklung der erweiterten Ordnung als nützlich erwiesen, spezifische Eigenschaften auf, die, wenngleich sie nicht auf den Zweck der Herstellung einer solchen Ordnung hin vorausplanend entworfen wurden, diesen gleichwohl erfüllen. Es sind dies vor allem die anfänglich als unsolidarisch oder gar gotteslästerlich tabuisierten Praktiken des Sondereigentums, des Handels (zudem: mit Fremden) oder des Verleihens gegen Zins. Generell bedeutet die kulturelle Evolution der erweiterten Gesellschaft aus der Kleingruppe heraus, dass für die Regelung der Beziehungen zwischen immer mehr Individuen mit immer unterschiedlicheren Interessen und Werthaltungen immer abstraktere moralische Einstellungen und akzeptierte Regeln notwendig wurden – und sich als nützlich erwiesen. Diese Regeln näherten sich immer mehr dem nomos an, dem Recht, das Hayek durchaus kantianisch als »universalisierbare Regeln gerechten Verhaltens«45 beschreibt. Diese Regeln bedeuten auf dreifache Weise die Abkehr von der Moral und Organisationslogik der solidarischen Kleingruppe: Sie sind unabhängig von konkreten, gemeinsamen Zwecken, gelten für jedermann ohne Ansehen von Rang oder Verdienst der Person gleichermaßen und nehmen fast ausschließlich die Form von Verboten an, nicht von Pflichten, Geboten oder Befehlen. So ermöglichen sie die Verfolgung zunehmend pluralistischer (friedlich konkurrierender) Interessen und Zwecke und gleichzeitig die Entwicklung zunehmend innovativer (friedlich, wenn auch notwendig »kreativ zerstörerischer«46) Handlungsweisen. Diese Entwicklung hin zu immer abstrakteren Ordnungen der großen Gesellschaft ist zwar nach Hayek nicht geplant worden und wäre, zumindest anfangs, von einem Großteil der Individuen wohl weder emotional ersehnt noch rational gewählt worden. Gleichwohl ist Hayek überzeugt, dass es erst durch die Verbreitung von Privateigentum, Märkten und abstrakten Verhaltensregeln möglich wurde, nicht nur »negative Freiheit« zu gewähren, sondern auch eine wachsende Bevölkerung zu ernähren und wachsende Ansprüche an einen sich anfangs stets nur Wenigen eröff nenden Lebensstandard zu befriedigen. 47 Hayek geht so weit, zu vermuten, dass der Mensch in diesem überaus wettbewerblichen Prozess kultureller Evolution und Anpassung letztlich »durchaus seinen Wünschen zum Trotz zivilisiert« worden sei und widmet einen guten Teil
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Dimensionen des Wettbewerbs: Thesen, Theorien, Trugschlüsse
Bewährung von Handlungsweisen, Traditionen oder eines Repertoires an erlernten Regeln aufgrund ihrer Nützlichkeit für die Gruppe, die ihr Zusammenleben unter diesen Regeln ordnet. Hayeks conjectural history der kulturellen Evolution lässt viele Fragen offen und naheliegende Kritik zu, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können.43 Wichtig für seine Theorie der Entstehung der modernen Zivilisation und für die hierin erkennbaren Spannungen ist ihre Lokalisierung zwischen, besser: jenseits, von »Instinkt und Vernunft«. Hierfür nutzt Hayek den Begriff der Kultur:
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seiner Analyse den psychologischen Zumutungen der Moderne. 48 Die abstrakte Großgesellschaft, die kapitalistische Kultur des Westens, bringe es mit sich, dass »atavistische Instinkte« – vor allem die Sehnsucht nach Solidarität und »sozialer, austeilender Gerechtigkeit« – keinen verantwortlichen Adressaten mehr finden und nicht mehr ohne Verlust an Freiheit und Wohlstand bedient und erzwungen werden können. Auch das ist die Konstellation der Moderne, wie sie Hayek in gewisser Weise ähnlich zu Freuds Diagnose des »Unbehagens in der Kultur«49 beschreibt. »Unsere gegenwärtige Schwierigkeit« bestehe, so von Hayek darin, daß wir unser Leben, unsere Gedanken und Gefühle unentwegt anpassen müssen, um gleichzeitig in verschiedenen Ordnungen und nach verschiedenen Regeln leben zu können. Wollten wir die Regeln des Mikrokosmos (d.h. die Regeln der kleinen Horde oder Gruppe oder beispielsweise unserer Familien) auf den Makrokosmos (die Zivilisation im Großen) anwenden, wie unsere Instinkte und Gefühle es uns oft wünschen lassen, so würden wir ihn zerstören. Würden wir aber umgekehrt immer die Regeln der erweiterten Ordnung auf unsere kleineren Gruppierungen anwenden, so würden wir diese zermalmen.50
Es stehen somit für den modernen Menschen auch verschiedene Rollen und Regeln, Gefühle und Gedanken im permanenten Wettbewerb. Zur »Schwierigkeit« der Moderne gehört es, emotional höchst anspruchsvolle Unterscheidungen zu treffen, die es erst erlauben, gleichzeitig Marktakteur, Bürger und Mitmensch zu sein. Die moderne Zivilisation oder Kultur verlangt eine intellektuell wie auch politisch anspruchsvolle Sensibilität im Umgang mit der letztlich fl ießenden Unterscheidung zwischen Makro und Mikro – um weder die große, abstrakte Gesellschaft zu zerstören noch die kleinen, konkreten Gemeinschaften zu zermalmen. Beide Dimensionen unseres Emotionshaushalts und unserer Handlungsoptionen stehen also im Wettbewerb. Das Problem ist übrigens nicht wirklich neu. Es wird auch als »das Adam Smith Problem« diskutiert.51 Bekanntlich hat Adam Smith sowohl eine Theorie der ethischen Gefühle als auch eine Untersuchung über den Wohlstand der Nationen verfasst. Das erste, moralphilosophische Werk wurde vor genau 250 Jahren, 1759, erstveröffentlicht. Das zweite – die wohl wichtigste Abhandlung klassischer, liberaler Ökonomik 17 Jahre später: 1776. Wer beide Werke nicht wirklich gelesen hat, hat das Adam Smith Problem schnell zur Hand: In der Theory of Moral Sentiments geht es um individuelle, aber sozial konditionierte Gefühle, noch dazu um ethisch / moralische. Im Wealth of Nations geht es um den Marktmechanismus, um kollektiv nützliche, aber individuell eher ungewollt erbrachte Leistungen an unbekannte andere; um die sozialen Vorteile der Arbeitsteilung und des Freihandels. Aber auch hier geht es um Anerkennung, Rückkopplung, Erwartungen. Auf Märkten handeln dieselben Menschen wie in der Theorie der ethischen Gefühle – aber in einem anderen Wettbewerbskontext. Der fürsorgliche Familienvater und der ehrbare Kaufmann sind ein und derselbe – auch als Mutter und Kauff rau. Unsere Fähigkeit zur Empathie ist aber – wie alle wertvollen Ressourcen – knapp und abnutzbar. Und auch unsere Gefühlsaufwendungen erwarten ein gewisses Maß an Anerkennung, Gegenseitigkeit oder return on investment.
8. Wettbewerb in drei »Diskurs«-Dimensionen Es ließe sich darlegen, dass Wettbewerb auf offenen Märkten mithilfe seines spontanen Kommunikationssystems relativer Preise und seiner dynamischen Prozesse simultaner Erprobung und Entdeckung weitaus besser in der Lage ist, Komplexität und Unwissenheit zu verkraften, als dies politische Systeme deliberativer Demokratie je könnten.52 Dies konstituiert freilich noch keinen Fall vermeidbaren Politikversagens, der sich schlicht durch die Verdrängung politischen Wettbewerbs durch Marktprozesse (Ökonomisierung) beheben ließe. Dies liegt an fundamentalen Unterschieden zwischen individuellem und kollektivem Handeln und dem Umstand, dass Politik – sofern sie sich auf ihre notwendig hoheitlichen Aufgaben begrenzt – andersartige Probleme zu lösen und andersartiges Wissen zu nutzen hat. Wie schon Hayek ausführte, handelt es sich bei dem Wissen, das am ehesten im marktvermittelten Wettbewerb entdeckt und kommuniziert werden kann, um »besondere vorübergehende Umstände«, die den Individuen insofern von Bedeutung sind, als sie ihnen helfen, selbst gewählte Ziele mit Gewinn und in eigener Verantwortung zu verfolgen.53 Hierin liegt bereits ein wichtiger Unterschied zu der Art von Wissen, die in wissenschaft lichen Entdeckungsverfahren zu generieren versucht wird. Die wissenschaft liche Methode (durchaus im Sinne von Poppers (1963) Conjectures and Refutations verstanden) zielt auf die Nutzung des Wettbewerbs der
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Je umfassender und abstrakter der soziale Zusammenhang, desto fremder sind die Menschen, denen wir begegnen – und desto hinderlicher wären die Zumutungen, ihnen gegenüber erst ein hohes Maß ethischer Gefühle entwickeln zu müssen, ehe man sich auf sie einlässt. Nächstenliebe, echte Freundschaft ist (auch in Zeiten von Facebook) mit abnehmenden Skalenerträgen versehen: Ich kann nicht mit jedermann gleichermaßen solidarisch und aufopferungsvoll freundschaft lich verbunden sein. So fällt es auch zum Glück vielen schwer, mehrere Partner gleichermaßen zu lieben – oder beim Versuch, dies zu tun, von den jeweiligen Geliebten gleichermaßen Anerkennung zu erwarten. Es würde jetzt zu weit (und vielleicht später zu einer weiteren Menaggio-Konferenz) führen, dieses Problem weiter zu diskutieren. Es scheint mir aber wichtig, eines festzuhalten: Der von Hayek (Smith, Hume oder Ferguson) skizzierte Prozess eines Wettbewerbs kultureller Entdeckungen, Nachahmungen und Anpassungen verlangt, um erfolgreich weitergeführt werden zu können, scheinbar Ungeheuerliches: einen privilegienfrei stets angreifbaren, wettbewerblichen Markt (a) für politisch-verbindliche Programme, (b) für ökonomisch frei wählbare Produkte und (c) für weder politisch noch ökonomisch durch Monopole dominierte Kultur im engeren Sinne der persönlich erlebten Gemeinschaft (Freundschaft) oder der individuell entfalteten Kunst. Ein weites Feld, das nicht so ganz meines ist. Und doch neige ich der Meinung zu, dass wir dank des Abbaus von Privilegien und damit dank des Wettbewerbs (unter Chiff ren wie kapitalistische Marktwirtschaft oder parlamentarische Demokratie) – hier und heute – doch wohl freier (und zudem besser und länger) leben als wohl jedes beliebig herausgegriffene Individuum vorangegangener Generationen.
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Theorien zum Zweck der Entdeckung allgemeingültiger Regelmäßigkeiten externer Ereignisse basierend auf dauerhaft wirkenden Verursachungsmustern. Das Wissen, das im politischen Wettbewerb und Diskurs am ehesten und zweckmäßigsten zu entdecken und zu kommunizieren wäre, dürfte im Hinblick auf Allgemeinheit und Dauerhaft igkeit von Ursache-Wirkungs-Beziehungen eine Zwischenstellung einnehmen zwischen der raum-zeitlich ephemeren Vermittlung laufender Änderungen von Knappheiten und Opportunitätskosten (wie sie durch das Preissystem auf Märkten erleichtert wird) und der Verständigung über raum-zeitlich unabhängig empirisch belastbare »Gesetze« (wie sie die Wissenschaft sucht). Politischer Wettbewerb zielt auf die Entdeckung gemeinsamer Meinungen (Präferenzen und Theorien, Vorlieben und Vorstellungen) hinsichtlich gemeinsamer Ziele und diesbezüglich geeigneter Mittel (Politiken und Institutionen) ab. Reichlich grob, aber in der Tendenz vielleicht grob illustrativ könnte man sagen: Der Marktdiskurs hilft, vorübergehende Änderungen ökonomischer Umstände, vor allem der Erwünschtheit und Verfügbarkeit individuell nutzbarer Problemlösungen zu entdecken (what is new, best practice); der wissenschaft liche Diskurs zielt auf die Entdeckung dauerhafter Ursachen beobachtbarer Phänomene (what is true, best evidence) ab; und der politische Diskurs hofft auf die Entdeckung semipermanenter Konsensbedingungen für alternative kollektiv verbindliche Problemlösungshypothesen (what is right, best reasons). Alle drei Diskurse haben ihre Stärken und Schwächen. Alle drei Diskurse in den drei Dimensionen des Wettbewerbs – der ökonomische, der wissenschaft liche und der politische – haben meines Erachtens bei allen Unterschieden dieselbe Berechtigung: den Fallibilismus menschlicher Erkenntnis. Ein »konsequenter Fallibilismus«54 fordert genau deshalb auch freien, offenen Wettbewerb in allen drei Arenen, um jeweils die kreative Formulierung alternativer Problemlösungshypothesen und eine kritisch-rationale, möglichst privilegien- und herrschaftsfreie Wahl zu ermöglichen. Weitgehend analog dürfte man wohl auch in anderen Dimensionen des Wettbewerbs (Sport, Kunst, Liebe usw.) argumentieren können.
9. Schluss und offene Fragen Ich habe für weitere Diskussionen nun wohl schon mehr als genug Thesen, Theorien und Trugschlüsse hoffentlich hinreichend provokativ präsentiert und vertreten. Gerade auch zur Ethik des Wettbewerbs gäbe es noch viel auszuleuchten. Als Gegenmodelle zu Wettbewerb oder Rivalität kann man entweder Monopol (Oligopol, Kartell usf.) oder auch Kooperation und Caritas (in veritate) anführen. Damit ändert sich auch das framing für eine wirtschaftsethische Bewertung des Wettbewerbs sofort.55 Es stellt sich aber auch ebenso die oben kurz diskutierte Frage nach der Dimension im Hinblick auf Gemeinschaft oder Gesellschaft, wie es schon das sogenannte Adam Smith Problem vor rund 250 Jahren anzudeuten begann. Auch kann man Wettbewerb als die schlichte (vielleicht naturrechtliche) Konsequenz aus Handlungs-, Meinungs-, Vertrags- oder Eigentumsfreiheit deuten – oder aber (durchaus ordo-liberal) als letztlich politisch zu justierendes Instrument zur Erreichung höherwertiger Güter wie die einer »funktionsfähigen und
Vielleicht ergibt sich als Schlussfolgerung dies: a Wettbewerb ist überall, aber auch überall und jederzeit anderes – weil sich die Knappheit an begehrten Gütern und Belohnungen zwar überall äußert, sich aber auch immer wieder durch Anstrengungen der Wettbewerber ändert. b Wettbewerb äußert sich deshalb in verschiedenen Dimensionen notwendig jeweils anders, weil sich die spezifischen Funktionalitätsanforderungen der gesellschaft lichen Subsysteme unterscheiden. c Wettbewerb ist eben auch mehr als eine polypolistische Marktform – Wettbewerb ist eine polydimensionale Charakteristik von Gesellschaft und Kultur im allerweitesten Sinne. d Wettbewerb, verstanden als Rivalität um knappe Ressourcen und Belohnungen, mag per se unausweichlich (ökonomisch) sein; das macht ihn aber noch nicht per se gut oder erstrebenswert. e Wettbewerb, verstanden als eine Ordnung, in der Privilegien nicht mehr akzeptiert werden, in der die Wahl freier Menschen über den Erfolg ebenso freier Menschen entscheidet, beruht zunächst auf der freien Wahl aller Bürger über die kollektiv verbindlichen, also politisch vereinbarten, Wettbewerbsregeln. f Wieweit eine solche Ordnung des freiheitlich-marktwirtschaft lichen Wettbewerbs sich als Entmachtungs- und Entdeckungsverfahren wird weiter beweisen können, wird sich wiederum im (kulturellen) Wettbewerb der Wettbewerbsordnungen zu erweisen haben.
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menschenwürdigen« Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechts und des Staates.56 Hierbei geht es aber nicht um sich einander ausschließende Gegensätze. Wettbewerb, zumindest auf Märkten, setzt zunächst einmal Kooperation im Sinne »einvernehmlicher Gemeinsamkeitserschließung«57 in dem Sinne voraus, dass er auf freiwilligen Verträgen unter Rechtsgleichen und damit (formal) gleich freien Akteuren beruht. Die Garantie gleicher Freiheit und die Definition dessen, welche Handlungsrechte rechtmäßig zum Gegenstand von Tausch werden dürfen und welche Wettbewerbshandlungen (nicht) erlaubt sind, bedarf wiederum der Kooperation auf der Regelebene: »Die Konkurrenz muss einem Regime moralischer und politischer, das heißt handlungseinschränkender und ordnungsermöglichender Regeln unterworfen werden«.58 Wettbewerb und Kooperation sind somit keine gegensätzlichen Alternativen, Wettbewerb ist vielmehr in diesem doppelten Sinne »in hohem Maße kooperationsabhängig«59.
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Kann man, mit anderen / gegen andere auch um das knappe und begehrte Gut »Glück« konkurrieren? Das käme wohl auf eine Defi nition von Glück an – die auch etwas über die möglichen individuellen Dispositionen und die sozialen Interdependenzen aussagen müsste. In Adam Smiths (1759 / 1994) Theorie der ethischen Gefühle jedenfalls erlaubt es die natürliche Veranlagung der »Sympathie«, dass das Glück anderer auch den eigenen Genuss steigert, selbst wenn man »keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein« (ebd., S. 1). In Adam Smiths (1776 / 2005) Der Wohlstand der Nationen handeln auf wettbewerblichen Märkten die gleichermaßen veranlagten Menschen. Sie treiben aber Handel mit Fremden um knappe Güter. Hier wird nicht an das Wohlwollen, die Sympathie des Metzgers oder Bäckers appelliert, sondern an ihre Eigenliebe, ihren eigenen Vorteil. Hier bewirken Wettbewerb und die anonyme Sanktion von Gewinn und Verlust, dass Menschen möglichst viel dessen anbieten, was möglichst viele Fremde möglichst dringend benötigen. Im ersten Fall bewirkt Zuneigung (die empirisch anspruchsvolle Annahme der Abwesenheit von Neid), dass das Glück anderer uns selbst glücklicher macht. Im zweiten Fall bewirkt die Verfolgung unseres eigenen Vorteils (unter Wettbewerbsbedingungen) die Schaff ung möglichst attraktiver Vorteile für unbekannte andere.
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2 Vgl. J. M. Buchanan, The Limits of Liberty, Chicago 1975. 3 »As there will always be positions which men value more highly than others, people will strive for them and try to outdo rivals – Social competition is consequently present in every conceivable mode of social organization« [L. von Mises, Human Action – A Treatise on Economics, 3. überarb. Aufl., San Francisco 1966 (zuerst: 1949)]. 4 Vgl. hierzu eine mannigfaltige Literatur etwa von und im Anschluss an T. Veblen, The theory of the leisure class, New York 1899 oder N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Basel 1939. 5 J. R. Commons, »Marx Today Capitalism and Socialism«, Atlantic Monthly 136 (1925), S. 682–693; J. M. Keynes, »Am I a Liberal?«, in: Ders., Essays in Persuasion, New York 1991 (zuerst: 1929), S. 323–338. 6 H. Demsetz, »Information and Efficiency: Another Viewpoint«, The Journal of Law and Economics 12 (1969), S. 1–22. 7 D. McCloskey, »The Rhetoric of Economics«, Journal of Economic Literature XXI (1983), S. 481–517. 8 Vgl. H. Albert, »Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität«, in: Ders., Konstruktion und Kritik; Hamburg 1976, S. 41–73. 9 L. Robbins, Essay on the Nature and Significance of Economic Science, London 1932, S. 15. 10 N. G. Mankiw, Grundzüge der Volkswirtschaft slehre, Stuttgart 2004, S. 3f. 11 L. Robbins 1932, S. 16. 12 J. M. Buchanan, What Should Economists Do?, Indianapolis 1979, S. 34. 13 Vgl. V. J. Vanberg, »Bürgersouveränität und wettbewerblicher Föderalismus: das Beispiel der EU«, in: Ders., Wettbewerb und Regelordnung, Tübingen 2008, S. 117–151. 14 F. A. von Hayek, Wirtschaft stheorie und Wissen, in: Ders., Individualismus und wirtschaft liche Ordnung, 2. erw. Aufl., Salzburg 1976, S. 49–77 (zuerst: 1937), S. 75. 15 Zu den überaus interessanten anderen Dimensionen des Wettbewerbs (Sport, Kunst, Kultur …) vgl. die anderen Beiträge in diesem Band. 16 Zur ökonomischen Theorie der property rights, der Handlungs- oder Verfügungsrechte vgl. A. Schüller, »Einführung«, in: Ders. (Hrsg.), Property Rights und ökonomische Th eorie, München 1983, S. I–XXI. 17 Vgl. W. Eucken, Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, ORDO 2 (1949), S. 1–99. 18 F. Böhm, »Demokratie und ökonomische Macht«, in: »Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht« (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht, Karlsruhe 1961, S. 1–24, hier S. 22. 19 F. A. von Hayek, »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«, in: Ders., Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969 (zuerst: 1968), S. 249–265, hier S. 249. 20 Vgl. K. J. Arrow, »Limited Knowledge and Economic Analysis«, American Economic Review 64 (1974), S. 1–10. 21 F. A. von Hayek, 1968 / 1969. 22 Vgl. M. Wohlgemuth, »Neuheit und Wettbewerb. Über das Neue in Hayeks Entdeckungsverfahren«, in: B. P. Priddat und P. Seele (Hgg.), Das Neue in Ökonomie und Management, Wiesbaden 2008d, S. 5–48. 23 K. R. Popper, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, Zürich 1988, S. 12f. 24 J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. erw. deutsche Aufl., Bern 1950 (zuerst: 1942), S. 428. 25 Vgl. L. von Mises 1949 / 1966, S. 269ff. 26 Kritisch hierzu aus Schumpeterscher Perspektive: M. Wohlgemuth, »Schumpeterian political economy and Downsian public choice: alternative economic theories of democracy«, in: A. Marciano und J.-M. Josselin (Hgg.), Law and the State. A Political Economy Approach, Cheltenham (UK) 2005, S. 21–57. 27 Vgl. F. A. von Hayek, »Der Sinn des Wettbewerbs«, in: Ders., Individualismus und wirtschaft liche Ordnung, 2., erw. Aufl., Salzburg 1976, S. 122-140 (zuerst: 1946), S. 139f.: »Der Wettbewerb ist im wesentlichen ein Prozeß der Meinungsbildung. […] Er schafft die Ansichten, die die Leute darüber
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haben, was am besten und am billigsten ist; Was die Menschen über Möglichkeiten und Gelegenheiten wissen, erfahren sie durch ihn.« Über Unterschiede zwischen den Diskursen auf Märkten und in der Politik (sowohl der real existierenden als auch der diskursethisch geforderten) vgl. M. Wohlgemuth, »Markt als Diskurs«, in: A. Kabalak, B. P. Priddat und E. Smirnova (Hgg.), Ökonomie, Sprache, Kommunikation, Marburg 2008c, S. 53–84. Vgl. E. Hoppmann, »Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik«, ORDO 18 (1967), S. 77–94. Das Ganze lässt sich auch umkehren. Es gibt Nachfragermärkte und Anbietermärkte – je nachdem, wo die größere Knappheit oder Verzweiflung herrscht. Möglich (wenn auch jenseits sozialistischer Mangelwirtschaft eher seltener) ist diese Situation: Anbieter prämieren in Transaktionen die ihnen attraktiver erscheinenden Nachfrager; und Nachfrager buhlen um die Gunst der Anbieter. Dieses Buhlen tun sie freilich in Konkurrenz zu gleichzeitig (oder potentiell) aktiven Nachfragern auf der gleichen Marktseite. Kunstauktionen mit Liebhaberstücken etwa dürften oft als solche Nachfragermärkte funktionieren. Vgl. G. Tullock, »Entry Barriers in Politics«, American Economic Review 55 (1965), S. 458–466; M. Wohlgemuth, »Political Entrepreneurship and Bidding for Political Monopoly«, Journal of Evolutionary Economics 10 (2000), S. 273–296. Dass dieses »als ob« Wettbewerbsargument schon bei der Versteigerung / Privatisierung natürlicher Monopole, etwa im Bereich der Energieversorgung oder Telekommunikation nicht reibungslos funktionieren kann (unvollständige Verträge, Opportunismus, Investitionsanreize etc.) hat O. E. Williamson, »Franchise Bidding for Natural Monopolies – In General and with Respect to CATV«, Bell Journal of Economics VII (1976), S. 73–104 gezeigt. Sehr ähnliche, aber letztlich noch schwerwiegendere Probleme betreffen die demokratische Lizenzauktion [vgl. M. Wohlgemuth 2005]. Auf Märkten fi ndet jeder Kenner oder Snob als Nachfrager / Anbieter von Raritäten auch Angebot / Nachfrage an Dingen, von denen keine Mehrheit eine Ahnung oder an denen sie auch kein Interesse hat. Warum gerade Intellektuelle oder Snobs ausgerechnet und systematisch den Markt oder Kapitalismus anfeinden, der ihnen all die Freiheiten gibt und stattdessen (zumindest bisher) oft genug im Sozialismus oder demokratischer Mehrheitsherrschaft ihr Heil suchten, bleibt mir einigermaßen unerfi ndlich. Scheinbar leiden sie mehr an dem Massenkonsum, der durch Märkte ebenso bedient wird und hoffen, auf die Vorauswahl des kollektiven Zwangskonsums in Sozialismus und Demokratie vikarisch heilsamen Einfluss nehmen zu sollen. A. O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty – Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge 1970. Vgl. etwa schon David Humes Essay »Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences«, in: E. F. Miller (Hrsg.), David Hume: Essays, Moral, Political and Literary, Indianapolis 1985, S. 111–137 (zuerst: 1742), hier S. 119f.: »Nothing is more favourable to the rise of politeness and learning than a number of neighbouring and independent states connected together by commerce and policy. [...] Where a number of neighbouring states have a great intercourse of arts and commerce, their mutual jealousy keeps them from receiving too lightly the law from each other in matters of taste and reasoning and makes them examine every work of art with the greatest care and accuracy«. Die Geschichte gerade Oberitaliens, aber auch der viel geschmähten Vielstaaterei auf deutschem Boden vor der bismarckschen Reichsgründung lässt sich sowohl in kultureller als auch rechtlicher und ökonomischer Hinsicht durchaus als Erfolgsgeschichte rekonstruieren (vgl. etwa O. Volckart, Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung im vormodernen Deutschland, 1000 bis 1800, Tübingen 2002). Generell hierzu: V. J. Vanberg, »Bürgersouveränität und wettbewerblicher Föderalismus: das Beispiel der EU«, in: Ders., Wettbewerb und Regelordnung, Tübingen 2008, S. 117–151. Vgl. M. Wohlgemuth, »Learning through institutional competition«, in: A. Bergh und R. Höijer (Hgg.), Institutional Competition, Cheltenham 2008b, S. 67–89. Vgl. M. Wohlgemuth, »Institutional Competition – Notes on an Unfi nished Agenda«, Journal des Economistes et des Etudes Humaines 6 (1995), S. 277–299. Vgl. M. Wohlgemuth 1995.
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38 F. A. von Hayek, »Dr. Bernard Mandeville«, in: Ders., Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969 (zuerst: 1966), S. 126–143, hier S. 128. 39 F. A. von Hayek 1968 / 1969, S. 249. 40 Hierzu vor allem F. A. von Hayek, Die fatale Anmaßung, Tübingen 1996 (zuerst 1988). Von Hayek argumentiert ähnlich, »daß die moderne Zivilisation weitgehend dadurch möglich wurde, daß man den darüber empörten Moralisten kein Gehör schenkte«, sie sogar »ihre ersten Anstöße und ihre praktischen Voraussetzungen der politischen Anarchie» verdankte [F. A. von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003 (zuerst 1973–1979), S. 473]. 41 Von Hayek betont gerne, dass Darwin selbst diese Logik aus der Sozialphilosophie von Smith, Hume, Mandeville oder Ferguson entliehen habe [F. A. von Hayek, »Die überschätzte Vernunft«, in: Rupert J. Riedl und Franz Kreuzer (Hgg.), Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 164–192]. Damit wäre die Evolutionsidee selbst eine originär sozialwissenschaft liche und nicht eine biologische, die erst vom »Sozialdarwinismus« hätte auf das soziale Leben übertragen werden müssen (und noch dazu in falsch biologistischer Analogiebildung, so ausdrücklich und beharrlich: von Hayek 1973–79 / 2003, S. 25 und S. 461; von Hayek 1983, S. 173f.). 42 F. A. von Hayek 1983, S. 174. 43 Vgl. V. J. Vanberg, Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Tübingen 1994. 44 F. A. von Hayek 1973–1979 / 2003, S. 462. 45 Ebd., S. 178ff. 46 Zu diesem schon jenseits von Fachkreisen geflügelt zitierten Wort als Attribut von Wettbewerb, Innovation oder Kapitalismus bekanntlich Schumpeter 1942 / 1950, Teil II, Kap. 7. 47 Vgl. F. A. von Hayek 1983. 48 F. A. von Hayek 1973–1979 / 2003, S. 475. 49 S. Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt 1961 (zuerst: 1927), S. 419–506. 50 F. A. von Hayek 1988 / 1996, S. 15. 51 Vgl. M. P. Paganelli, »The Adam Smith Problem in Reverse: Self-Interest in the Wealth of Nations and The Theory of Moral Sentiments«, History of Political Economy 40 (2) 2008, S. 365–382. 52 Vgl. M Wohlgemuth 2008c. 53 F. A. von Hayek 1968 / 1969, S. 251. 54 H. Albert, Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer off enen Gesellschaft , Tübingen 1986, S. 40ff. 55 Vgl. M. Wohlgemuth, »A European model of state-market relations. The ethics of competition from a ›neoliberal‹ perspective«, Zeitschrift für Wirtschaft s- und Unternehmensethik / Journal for Business, Economics and Ethics (zfwu) 9 / 1 (2008a), S. 69–87. 56 W. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Aufl., Berlin 1989 (zuerst: 1940), S. 239. 57 W. Kersting, Verteidigung des Liberalismus, Hamburg 2009, S. 51. 58 Ebd., S. 50. 59 Ebd.
Eine Kultur des normativen Humanismus. Was »Liebe in Wahrheit« dazu beiträgt Normative Wahrheit(en) über den Menschen Aus der Wahrheit über den Menschen folgt das Maß einer legitimen Ordnung. Konkurrierende Menschenbilder bestimmen normativ Ordnung, Rechtsprechung, Politik und Wirtschaft und damit die jeweilige Materialisierung dessen, was sie unter Menschenwürde verstehen können. Im weltanschaulichen Wettstreit stehen subjektive und objektive, säkulare und religiöse Auslegungen der Menschenwürde, die sich in demokratischen oder totalitären Gesellschaftsordnungen realisieren. Die Enzyklika Caritas in veritate bringt programmatisch das kirchliche Verständnis zur Wahrheit über den Menschen mit deren normativer Kraft in diesen sozialethischen Dialog der Gegenwart ein. Die Enzyklika sieht sich im Dienst an der Wahrheit, die befreit. Offen für die Wahrheit, gleichgültig aus welcher Wissensrichtung sie kommt, nimmt die Soziallehre der Kirche sie auf, setzt die Bruchstücke, in der sie sie häufig vorfindet, zu einer Einheit zusammen und vermittelt sie in die immer neue Lebenspraxis der Gesellschaft (CiV 9).1 Die Enzyklika leistet einen solchen integrierenden Beitrag und steht dabei in der Tradition der Katholischen Soziallehre, die sich als normativer Humanismus versteht. »[E]ine neue humanistische Synthese« (CiV 21) ist der Weg aus den Krisen der Gegenwart: nicht allein Regeln, nicht Anreize, nicht politische Programme. Eine neue Kultur ist das notwendige Ziel, um mit der Menschenwürde in dieser Welt ernst zu machen. Natur und Norm: Eine theologische Begründung Die Katholische Soziallehre bekennt sich in ihrem normativen Profi l zu einem objektiven Verständnis der Menschenwürde. Ihr normativer Humanismus leitet jede legitime Normativität aus der Selbstzwecklichkeit des Menschen ab: Jeder Mensch besitzt unabhängig von individuellen oder gesellschaft lichen Nutzenerwägungen allein aufgrund seines Menschseins einen unveräußerlichen Wert. Diese unbedingte Egalität kann nicht von Menschen bzw. Verfassungen legitim zu- oder abgesprochen werden. Die inhaltliche Bestimmung der Menschenwürde wie die Materialisierung der Menschenrechte und -pflichten entzieht sich damit einer Ableitung aus weltanschaulichen Vorgaben jenseits des Humanums. Die normative Kraft des Humanums muss hierzu gut begründet sein. Benedikt XVI. wählt in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate zur Begründung wie zur inhaltlichen Bestimmung menschlicher Würde einen theologischen Zugang zum Humanismus mit dem Postulat einer menschlichen Naturgegebenheit: »Nur jener Humanismus […] ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öff net« (CiV 16). Aus dieser christlichen Sicht ist die unantastbare Menschenwürde von Gott vorgegeben und deshalb zeitlos, objektiv wie universal gültig. Daraus leiten
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sich vom Nutzen und Kollektiv unabhängige Rechte und Pflichten jedes Menschen ab. Die Menschenwürde ist damit aus einer unverfügbar vorgegebenen Objektivität abgeleitet. Ihre Begründung wie ihre inhaltliche Ausgestaltung erschließt die Katholische Soziallehre aus ihrem Postulat von der Existenz Gottes. Die Kirche vertritt damit einen normativen Humanismus, der die Menschenrechte mit einem in Gott begründeten (theonomen) normativen Fundament ausstattet. In diesem Sinne versteht sich die Katholische Soziallehre als »Humanismus im Vollsinn des Wortes« (PP 42)2 . »Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist« (DCE 28). 3 Mit Hilfe des Naturrechts kann zwar nicht die allein gottgewollte irdische Ordnung bestimmt werden, wohl aber können die am christlichen Menschenbild orientierten Legitimationskriterien für Recht und Ordnung erschlossen werden. Das Naturrecht folgt dazu in seiner normativ humanistischen Begründung objektiver Menschenwürde einer Metaphysik, wie sie bei Platon und Aristoteles grundgelegt und durch Thomas von Aquin in einen christlichen Kontext integriert wurde. Es unterstellt die Gegebenheit von objektiven Wahrheiten jenseits ihrer physikalischen Erklärbarkeit ebenso wie die Erkennbarkeit einer Natur des Menschen, aus der sich normative Schlüsse für die Durchsetzung der Menschenwürde ziehen lassen. Ausgangspunkt des naturrechtlichen Ansatzes ist die Vorstellung von einem geordneten Weltganzen, das seinen Ursprung in einem unbewegten Beweger des Universums hat.4 Damit ist ein absolutes Prinzip angenommen, das durch Thomas von Aquin christlich als personale Gottheit interpretiert wird. Gott bedarf selbst keiner weiteren Begründung, so dass sich das Problem des infi niten Regresses nicht stellt. Er ist ja der absolute Grund in allem so wie er auch das absolute Sein in allem geschaffenen Sein ist.5 Es liegt in der Natur des geschaffenen Seins, seinen tiefsten Grund im ungeschaffenen Sein Gottes zu haben. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass alle Kreatur in einen göttlichen Plan eingefügt ist und von diesem ewigen Naturgesetz (lex aeterna) seinen Bedeutungszusammenhang erhält. Bezugspunkt für die Bewahrung der Schöpfung ist dabei immer der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott. Dies ist der Kern des theonomen normativen Humanismus, der Benedikt XVI. auch von einer »Humanökologie« (CiV 51) sprechen lässt. Die Wertschätzung der Schöpfung ist nicht denkbar ohne die Erfahrung des Menschseins in seiner normativen Dimension. Menschenwürde wird aus einem Menschenbild erschlossen, das als göttlich gegebene Wahrheit gilt, so dass die Aufgabe darin besteht, mit Vernunft und einer Grundhaltung der Liebe die menschliche Natur zu erkennen, um daran Recht und Ethik auszurichten, nicht aber die Menschenwürde den eigenen Neigungen entsprechend zu konstruieren. Der Mensch ist auf die zunehmende Übereinstimmung seiner konkreten Existenz mit dieser vorgegebenen Bestimmung hin ausgerichtet. Für die Natur des Menschen gilt: Das Sein soll! Die fi nale Bestimmung ist dem Menschen zueigen. Sie wird nicht etwa aus anderen Allgemeinheiten deduziert. Der tätige menschliche Verstand kann durch seine Teilhabe am göttlichen Geist mit Hilfe der Abstraktion die göttlich gegebene Bestimmung erkennen. Er bedient
Kein naturalistischer Fehlschluss Der in Caritas in veritate im Zusammenhang mit der Menschenwürde betonte Naturbegriff hat schon in der Vergangenheit zu mancherlei Verwirrung und Verirrung geführt. Der Vorwurf lautet: Die Erfahrungen der Geschichte zeigten, dass naturrechtliche Begründungen von Ordnungen und Regeln sich als verfehlt erwiesen haben. Beispiele dafür sind mit Verweis auf die menschliche Natur legitimierte despotische Monarchien oder Ungleichbehandlungen von Mann und Frau. Solche überholten Auslegungen könnten den Anspruch des Naturrechts falsifi zieren, Menschenwürde als objektive Normativität in unbedingten Imperativen zu formulieren. Denn sie beruhten auf einem naturalistischen Fehlschluss, wenn aus der Faktizität einer Monarchie oder aus der konkreten Vormachtstellung eines Geschlechts auf die normative Legitimation solcher Gegebenheiten geschlossen wird. Die Antwort darauf ist: Die Trennung von Naturgesetz und Naturrecht ist auf eine zeitgemäße Auslegung des ewigen Gesetzes angewiesen. Das Naturrecht als analoges Sein kann nicht ein ins Einzelne gehende Normensystem oder ein für alle Zeiten gültiges Rechtssystem begründen und deshalb keine ewig gültigen, materiell sittlichen Normen vorgeben. Ohne diese wesentliche Trennung von Naturgesetz und Naturrecht kam es in der sogenannten Spät- (Wilhelm von Ockham) und Neuscholastik (Victor Cathrein) zu zahlreichen Verfremdungen des ursprünglichen Naturrechtsgedankens. Hierfür ist vor allem die Vermischung mit dem Nominalismus verantwortlich, der das Naturgesetz – statt mit Abstraktion – allein anhand der vorfindbaren konkreten Natur von Individuum oder Ordnung auslegt, während die für Aristoteles und Thomas von Aquin maßgebliche Einsicht in das allgemeine menschliche Wesen geleugnet wird. Eine nominalistische Deutung geht davon aus, dass allein Gott das Innere der Dinge erkennen kann. Eine allgemeine Wesenheit bleibt dem Menschen verborgen, so dass ihre vermeintlichen Bestimmungen lediglich als austauschbare Leerformeln gelten. Begriffe sind dann nicht Erhellung einer zeitlos gültigen Wahrheit, sondern bloße Namen.7 Ausgehend von einer solchen Vorstellung kann die menschliche Finalität
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sich dazu des ihm innewohnenden Wegweisers der ratio recta.6 Sie erkennt dem Gewissen folgend das, was dem Naturgesetz und damit der Menschenwürde entspricht, berührt die natürliche menschliche Bestimmung erkenntnismäßig, kann sie aber nie ganz erfassen. Denn auch die rechte Vernunft hat nur Teil an der göttlichen Vernunft, sie ist nicht mit ihr identisch. Es bleibt uns für die Bestimmung der Regeln eine analoge Übersetzung in die reale Welt: das Naturrecht. Das mit Hilfe der ratio recta bestimmte Naturrecht legt das dem ewigen Gesetz verpflichtete Naturgesetz aus, indem es versucht, eine Ordnung zu bestimmen, die dazu beiträgt, den konkreten Ist-Zustand menschlicher Existenz dem göttlich vorgegebenen Soll-Zustand anzunähern. Das Naturrecht ist zugleich offen für eine dynamisch sich weiter entwickelnde Auslegung. Wenn die rechte Vernunft über einen Analogieschluss die göttlich vorgegebene Normativität in ein konkretes Sollen übersetzt, ist dies eine Gottesschau, die dem Menschen einen Einblick in die Wahrheit über sich und die Welt eröff net.
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(und damit das Sollen) nicht als Teil der allgemeinen Wesenheit bestimmt werden. Menschenwürde wird dann aus der konkreten Individualität abgeleitet, so dass es tatsächlich zu einem naturalistischen Fehlschluss kommt, weil aus dem konkreten Sein auf das ethische Sollen geschlossen wird. Dieser Einwand trifft aber grade nicht auf das recht verstandene Naturrechtsdenken zu, sondern auf seine verfremdende Vermengung mit dem Nominalismus. Die Natur des Menschen im Sinne des normativ humanistischen Naturrechts meint die allgemeine (im Sinne von Thomas von Aquin die zweite) Substanz, die allen Menschen als Menschen zueigen ist, nicht aber die individuelle Eigenheit der Subjekte, die nach Thomas von Aquin die erste Substanz ausmacht.
Humanismus als Personalismus Soziale Gerechtigkeit im Sinne normativ humanistisch verstandener Menschenwürde liegt dann vor, wenn die gesellschaft lichen Regeln es allen Menschen ermöglichen, ihrer gottgegebenen Bestimmung entsprechend leben zu können. Oder anders gewendet: Die Ordnung muss den Menschen die Entfaltung ihrer Personalität ermöglichen. Das Personalitätsprinzip ist für die Katholische Soziallehre das oberste Ordnungsprinzip. Für Josef Höff ner ging es bei der Frage nach der Gerechtigkeit im Letzten um das gesellschaft liche Ordnungsbild, das vom Menschenbild bestimmt ist, so dass der Mensch in seiner personalen Würde und in seiner sozialen Wesensanlage die Norm für den Aufbau der Gesellschaft sein muss.8 Inhaltliche Idee ist die Personalisierung aller Menschen! Eine Gesellschaft, die das ermöglicht und dazu befähigt, ist gerecht. Tut sie es nicht, ist sie ungerecht, weil sie den Menschen unfrei macht und ihn damit depersonalisiert. Der Mensch als Freiheitswesen hat im Sinne dieses normativen Humanismus in seiner Bestimmung zum Personsein das absolute Recht wie die absolute Pflicht auf die Entfaltung von Eigenverantwortung wie das abgeleitete Recht auf den Schutz des Privateigentums. Deshalb besteht ein Schutz der Individuen vor willkürlichen hoheitlichen Eingriffen in die sich am Markt einstellenden Eigentumsverhältnisse. Dieses liberale Grundverständnis negativer Freiheit unterstellt zum einen das Leistungsprinzip am Markt, so dass sich sozialpolitische Eingriffe in den Markt im Sinne der Personalität stets daran messen lassen müssen, ob und wenn dann wie weitgehend sie die Leistungsanreize hemmen. So begründet ein solches Abwehrrecht das Prinzip der Subsidiarität. Erst wenn die kleinere Einheit (Individuum, Familie) überfordert ist, dürfen die übergeordneten Einheiten helfend eingreifen (wie etwa Betriebe, Gemeinde, Staat). Ein solcher Eingriff von oben nach unten ist stets eine Hilfe zur Selbsthilfe, also nicht eine bedingungslose Alimentierung, die eine Versorgungsmentalität fördert und so letztlich wieder den Leistungsgedanken untergräbt. Und so begründet die Subsidiarität das absolute Recht (auf die Hilfe zur Selbsthilfe) und die absolute Pfl icht (sein Eigenes selbständig zu leisten) der Einzelnen zugleich. Der Mensch ist zoon politikon und hat das ebenso in seiner Bestimmung zum Personsein begründete Recht und die Pflicht auf die Entfaltung von Sozialverantwortung wie auch die Pflicht, gut begründete Eingriffe in sein Privateigentum
Recht nicht ohne Liebe Die in Caritas in veritate betonte Forderung nach einer umfassenden humanistischen Synthese ist nicht neu. Die Katholische Soziallehre setzt für die Implementierbarkeit ihrer Ordnungsideen schon immer einen normativ humanistischen Wertkonsens voraus, ohne den es zu einer Verzweckung von Menschen kommt, die die Betroffenen von ihrer Natur entfremdet (etwa durch eine Haltung von Gier und Egoismus). Die Bestimmungen, auf deren Entfaltung der Mensch einen unbedingten Anspruch hat, verbieten eine individualistische Übertreibung der Subsidiarität ebenso wie eine kollektivistische Übertreibung der Solidarität (vor allem im Sinne der umfassenden Versorgung). Wird die Subsidiarität in einem radikal liberalen Sinn fehlinterpretiert, erstickt dies die soziale Hilfsbereitschaft. Das Verhältnis der Stärkeren zu den Schwächeren wird tendenziell auf ein Gegeneinander hinauslaufen, so dass auch der soziale Friede langfristig in Gefahr gerät. Es fehlt damit auch die Basis für das identitätsstiftende Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das einende Band einer Wir-Identität, ohne das eine Sozialordnung in die Anarchie abgleitet. Eine überzogene Auslegung der Solidarität führt zu einer uferlosen Nivellierung mit entsprechend negativen Anreizeffekten für die Leistungsbereitschaft und für das die Ordnung stabilisierende Bewusstsein eines nicht allein anonymen (Klassen-, Herkunfts- und Generationen-) Miteinanders. Entgegen der erklärten Absicht ist eine fremdbestimmte Desolidarisierung das Resultat (etwa schlechte Steuermoral, Ausnutzung der sozialen Sicherungssysteme, Trittbrettfahrer- oder Versorgungsmentalität, Misstrauen gegeneinander oder gar Kampf untereinander). Soziale Gerechtigkeit wird durch die Rechtsprinzipien geschaffen. Nach Auffassung der Katholischen Soziallehre muss aber etwas hinzutreten: ein einender Geist. Sie fordert deshalb beides, »soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe« (QA 88).11 Benedikt XVI. geht noch einen Schritt weiter: »Caritas in veritate ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist« (CiV 6). »Notwendig ist ein tatsächlicher Gesinnungswandel« (CiV 51). Diese besondere Betonung einer Gesinnung der Liebe knüpft an katholische Sozialtraditionen an. So ließe sich das folgende Zitat von Wilhelm von Ketteler aus dem Jahr 1848 – nach sprachlicher Glättung – gut in die Enzyklika einfügen:
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zuzulassen. »In necessitate sunt omnia communia«.9 Das Einstehen füreinander kann moralisch oder juristisch verstanden werden. Anders als die moralische Brüderlichkeit ist die Solidarität – wie auch die Subsidiarität – ein Rechtsprinzip.10 Der Begriff solidus (ganz) drückt aus, dass ein Schuldverhältnis, das mehrere Schuldner gemeinsam eingegangen sind, durch die Leistung eines oder mehrerer Schuldner im Ganzen getilgt werden kann. Solidarität bezeichnet damit seinem Ursprung nach ein bestimmtes Rechtsverhältnis der betroffenen Schuldner untereinander. Jeder haftet für jeden. Solidarität übt also, wer für die Verbindlichkeit eines leistungsunfähigen Mitschuldners einsteht oder einstehen muss. Sie defi niert einen gesellschaft lichen Zusammenhalt aufgrund einer personal begründeten, gegenseitigen juristischen Verpflichtung.
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Die beiden gewaltigen Seelenübel, an denen unsere geselligen Beziehungen krank darniederliegen, sind teils die unersättliche Genuss- und Habgier, teils die Selbstsucht, welche die Nächstenliebe zerstört hat. Diese Krankheit hat die Reichen und Armen ergriffen. Was vermögen die Steuerverteilungen und Sparkassen, solange diese Gesinnung fortbesteht? Diesem inneren Verhältnis gegenüber ist die Welt mit allen ihren Lehren gänzlich ohnmächtig, während das Christentum die ganze Macht seiner Lehre eben auf die Gesinnung, die innere Beseelung der Menschen richtet.12
Ohne soziale Liebe bleiben die Rechtsprinzipien stumpf. Soziale Liebe ist dabei kein neues juristisches Sozialprinzip, sondern der Geist, der die Menschen und damit auch Ordnung und Recht beseelt.
Liebe erkennt »Die Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche« (CiV 2), aber nicht, weil damit die bisherige Soziallehre mit ihren Rechtsprinzipien auf den Kopf gestellt wird. Ganz im Gegenteil: Die Liebe ist neben der Vernunft eine grundlegende Quelle zur Erkenntnis von Wahrheit. Sie begründet die Soziallehre mit ihren Prinzipien. Das Ziel der Menschen muss es ja nach theologischem Verständnis sein, die gottgegebene Bestimmung zu erkennen, um daraus die Prinzipien abzuleiten. Die rechte Vernunft leistet eine bloß analoge Erkenntnis. Damit bleiben folgende Fragen: Wie kann die Vernunft auf Gott hin ausgerichtet werden? Und selbst eine ratio recta bleibt menschlich. Wie kann sie dann etwas Absolutes (das menschliche Sein als Sollen von was?) auch nur analog erkennen? Genau diese Erkenntnislücke schließt die Grundhaltung der Liebe: Es geht darum, die Vernunft auszuweiten und sie fähig zu machen, jene eindrucksvollen Dynamiken zu erkennen und auszurichten, indem man sie im Sinn jener »Kultur der Liebe« beseelt, deren Samen Gott in jedes Volk und in jede Kultur gelegt hat (CiV 33).
Die Liebe ist also neben der Vernunft ein unbedingt notwendiges Vehikel für die Erkenntnis der Wahrheit. Damit ist sie Möglichkeitsbedingung der normativen humanistischen Ethik. Anders gesagt: Um die von Gott gegebene Bestimmung des Menschen mit Hilfe der Vernunft zu erkennen, bedarf es einer Grundhaltung der Liebe. Sie befreit die Vernunft auf die Liebe Gottes hin.
Liebe vereint Als Hauptweg der Katholischen Soziallehre ist die Liebe zugleich Konsequenz der erkannten humanistischen Norm. Schon im biblischen Schöpfungsbericht erkennen wir uns als Abbild Gottes, als von Gott zuerst geliebt und zur Liebe berufen. Die Einsicht in die gemeinsame personale Bestimmung bildet einen die Menschen verbindenden Geist und ebnet den Weg zu einem auch emotionalen Wir-Bewusstsein einer Menschheitsfamilie im »Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit als Glieder einer großen Familie, als Kinder eines und desselben himmlischen Vaters« (QA 137). Antwortende soziale Liebe erwächst dem Bewusstsein, gemeinsam von Gott geliebt
Die Weltautorität Die Betonung der Tugend als Grundlage des Rechts verbindet Papst Benedikt XVI. mit der viel diskutierten Forderung nach einer politischen Weltautorität, die einen entsprechenden humanistischen Kulturwandel garantieren soll: Wenn das Handeln des Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert und unterstützt wird, trägt es zum Aufbau jener universalen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt (CiV 7).
Es fehlt aber bislang eine universal anerkannte Weltautorität, deren Entscheidungen unbedingt bindend sind und deren Sanktionsmöglichkeiten tatsächlichen Erfolg versprechen. Eine solche Institution aber ist notwendig, wenn die UN-Charta der Menschenrechte nicht ein zahnloser Tiger sein soll. Sie scheint zugleich eine Fiktion, weil sie nur dann ihren Auft rag erfüllen kann, wenn sie sich auf eine sie legitimierende normative Synthese der Weltgemeinschaft berufen kann. Die letzte Begründung der Menschenrechte und Menschenwürde denken die Religionen und Weltanschauungen unterschiedlich. Wenn aber die Durchsetzung der unantastbaren Menschenwürde das Ziel der Weltgemeinschaft ist, so können diese Positionen nicht einfach gleich gültig nebeneinander gestellt werden. Denn sie müssen sich normativ am absoluten Anspruch der Menschenrechte messen lassen. Unvereinbarkeiten mit bestimmten Menschenbildern müssen deutlich benannt werden. Eine integrierende Synthese im Sinne der Menschenrechtscharta fordert nicht das universale Bekenntnis zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, wohl
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zu sein. Diese nicht allein deontologisch-neigungsfreie, sondern emotionale Nähe fordert auch die Feindesliebe (Phil 2,5; Röm 15,5). Die Menschen sollen sich als von Gottes Liebe gemeinsam Beschenkte und deshalb als zur Liebe Berufene verstehen und danach handeln. Das Ziel ist dann »die Einheit des Menschengeschlechts, eine brüderliche Gemeinschaft jenseits jedweder Teilung« (CiV 34). Mit der sozialen Liebe fordert Benedikt XVI. so auch heute den Geist eines emotionalen gesellschaft lichen Zusammenhalts der Menschen. »Es ist das Wohl, jenes »Wir alle«, das aus Einzelnen, Familien und kleinen Gruppen gebildet wird« (CiV 7). Die soziale Liebe fordert damit ein integrierendes Ethos und grenzt sich von den kollektivistischen Gemeinschaftstugenden ab. Jene versprechen eine Überwindung gesellschaft licher Anonymität durch eine emotionale Binnensolidarität, die nach außen desintegrierend wirken muss, um so ihre affektive Identität zu bewahren. Wer dazugehört, dem gilt die emotionale Verbundenheit, dem wird gerne geholfen. Wer nicht dazugehört, kann etwa aufgrund nationalistischer, klassenkämpferischer oder anderer Gründe depersonalisiert, bekämpft , unterdrückt oder missachtet werden. Kollektivistische soziale Tugend ist einer bloß relativen Würde verpflichtet und überwindet soziale Anonymität zum Preis eines emotionalen Gegeneinanders. Die soziale Liebe ist dagegen der absoluten Idee einer Entfaltung der Personalität aller Menschen verpflichtet und überwindet soziale Anonymität durch ein emotionales Miteinander. Solche verbindende Verantwortung ist auch die Loyalitätsidee der Sozialen Marktwirtschaft. Sie schenkt wahre Freiheit und soll die Welt durchdringen.
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aber das Bekenntnis zu einer nicht bloß formalen, sondern auch materiell durchzusetzenden universalen Norm. Diese nennt der Papst die humanistische Synthese. Die Festlegung einer objektiv begründeten universal gültigen Verfassungsidee, die auch Grundlage für juristische Sanktionen gegen Verstöße (etwa von Regierungen) beinhaltet, muss auf internationaler Ebene verbindlich festgelegt und mit Entschlossenheit umgesetzt werden. Ein normativer Relativismus individualistischer oder kollektivistischer Natur ist verworfen: »Wenn aber die Effi zienz und der Nutzen die einzigen Kriterien der Wahrheit sind, wird automatisch die Entwicklung geleugnet« (CiV 70). Das von Benedikt XVI. stattdessen geforderte universale Bekenntnis zum normativen Humanismus lässt unterschiedliche weltanschauliche Zugänge zu. Alle Menschen guten Willens, das heißt alle Humanisten dieser Welt, sollen im gemeinsamen Bekenntnis dieser Wahrheit eine Weltautorität mit Sanktionsgewalten ausstatten, um diese Idee auch wirksam zu materialisieren. Und eine solche humanistische Koalition ist offen für alle weltanschaulichen Zugänge, welche den normativen Humanismus (auch bei alternativen Begründungen) materiell teilen.13 Die Weltreligionen haben dazu eine wichtige Vorarbeit zu leisten, damit sich die universalen Verfassungsgeber auf eine weltumspannende Idee des normativen Humanismus einigen, der für alle Menschen guten Willens akzeptierbar und auch durchsetzbar ist. Vor allem wird viel davon abhängen, ob sich einflussreiche geistliche Führer des Islam in Anknüpfung an die eigene aristotelische Tradition oder auf anderem Wege gegenüber der normativ humanistischen Menschenrechtsidee öffnen werden. Dann ist der Weg frei, sich mit einiger Erfolgsaussicht gemeinsam an eine entsprechende Kodifizierung zu begeben. Nicht zu unterschätzen sind darüber hinaus die Hindernisse, die der Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen bringen kann: etwa mit dem Buddhismus, dem Hinduismus, dem Konfuzianismus und besonders den ausdrücklich nicht humanistischen Diktaturen. Dennoch ist die Notwendigkeit der humanistischen Synthese keine bloße Fiktion. Die Weltgemeinschaft steht auf dem Weg zu dieser Installierung einer starken politischen Weltautorität auf humanistischem Fundament keineswegs vor dem Nichts. Die Menschenrechts-Charta verlangt geradezu nach einer solchen Institution, um das formal Beschlossene zu materialisieren. Der nächste Schritt wird also sein, mit Verweis auf die Charta auf deren evidente Durchsetzung zu drängen, um so eine universale Synthese zu erzielen, die eine starke Weltautorität legitimiert. Ist diese dann einmal installiert und mit den entsprechenden Sanktions- und Interventionsmöglichkeiten ausgestattet, dann ist sie tatsächlich eine Autorität, die diesen Namen verdient.
Literaturverzeichnis
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Aristoteles, »Metaphysik XII«, Kapitel 6–7, in: A. I. Bekker (Hrsg.), Aristoles. Opera, Berlin 1888. T. von Aquin, »II Sententiae«, 16, in: Albertus-Magnus-Akademie Walberberg (Hrsg.), Deutsche Th omasAusgabe, Heidelberg, Graz 1933–1962. T. von Aquin, »STh« 1.II, 91,2, a.a.O. T. von Aquin, »STh« II. II., 66,7, a.a.O. Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est, Vatikan 2006 (DCE). Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, Vatikan 2009 (CiV). W. Euchner et al. (Hgg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Wiesbaden 2005. J. Höff ner, Der Start zu einer neuen Sozialpolitik, Köln 1956. E. Nass, »Sozialpolitik vor dem Paradigmenwechsel«, Sozialer Fortschritt 57 (2008), S. 176–182. O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1985. W. von Ockham, »I. Sententiae« D.2, q.8, in: Institutum Franciscanum (Hrsg.), Opera philosophica, New York 1974. Paul VI., Enzyklika Populorum Progressio, Vatikan 1967 (PP). Pius XI., Enzyklika Quadragesimo Anno, Vatikan, 1931 (QA).
Eine Kultur des normativen Humanismus. Was »Liebe in Wahrheit« dazu beiträgt
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Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, Vatikan 2009 (CiV). Enzykliken werden textimmanent mit den gängigen Buchstaben abgekürzt und unter der Nummer des Abschnitts zitiert. Paul VI., Enzyklika Populorum Progressio, Vatikan 1967 (PP). Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est, Vatikan 2006. (DCE). Vgl. Aristoteles, »Metaphysik XII«, Kapitel 6–7, in: A. I. Bekker (Hrsg.), Aristoles. Opera, Berlin 1888. Vgl. T. von Aquin, , »II Sententiae«, 16, in: Albertus-Magnus-Akademie Walberberg (Hrsg.), Deutsche Thomas-Ausgabe, Heidelberg, Graz 1933-1962. T. von Aquin, , »STh« 1.II, 91,2, a.a.O. Vgl. W. von Ockham, »I. Sententiae« D.2, q.8, in: Institutum Franciscanum (Hrsg.), Opera philosophica, New York 1974. Vgl. J. Höff ner, Der Start zu einer neuen Sozialpolitik, Köln 1956, S. 12. T. von Aquin, »STh« II. II., 66,7, a.a.O. Vgl. O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1985, S. 116. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo Anno, Vatikan, 1931 (QA). W. Euchner et al. (Hgg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 622. Vgl. E. Nass, »Sozialpolitik vor dem Paradigmenwechsel«, Sozialer Fortschritt 57 (2008), S. 176–182.
Kultur des Wettbewerbs im Sport 1. Zu den Anfängen des modernen Sports in England Der moderne Sport hat seinen Ursprung in England. Viele Sportarten, die heute in der ganzen Welt verbreitet sind, entstanden in England in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben sind dabei Fußball, Pferderennen, Ringen, Boxen, Tennis, Rudern, Kricket und Leichtathletik. Auch den englischen Ausdruck sport übernahmen viele Sprachen als passenden Begriff für diesen unverwechselbaren Zeitvertreib. Die Ausbreitung des modernen Sports ist zunächst an das Verhalten der feinen Gesellschaft gebunden. Sie gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Begriff Sport in England seinen Inhalt. Auch in anderen Ländern wurde der Sport zunächst von den Oberschichten übernommen. Dies gilt für die aristokratische Oberschicht Frankreichs in besonderer Weise. Die volkstümlichen Arten der Körperkultur, wie z.B. der Fußball, entwickelten ihre Merkmale eines Sports erst später und wurden auch erst später als Sport anerkannt. Sehr schnell setzten sich die englischen Sportarten aber weltweit als Zeitvertreib der Mittel- und Unterschichten durch. Die Umwandlung eines in zahlreichen lokalen Variationen überlieferten englischen Volksspiels zum Sportspiel Fußball mit einem einheitlichen und umfangreichen Regelwerk vollzog sich in einem Prozess über mehrere hundert Jahre. Einen gewissen Abschluss fand diese Entwicklung 1863, als zum ersten Mal für ganz England Regeln festgelegt wurden. Gleichzeitig kam es dabei zur reinlichen Scheidung zwischen dem association football und dem Rugby. Beide Sportarten haben sich bis heute als weltweit verbreitete Sportarten mit höchster Zuschauerresonanz bewährt. Mit der Festlegung der Regeln im Jahr 1863 konnte sich der englische Fußballsport sehr schnell verbreiten; 1878 wurde in Hannover der erste Fußballclub nach englischen Regeln gegründet, in den Niederlanden ein Jahr später und in Italien 1880. 1892 fand das erste Fußballspiel zwischen einer französischen (Stade Francais) und einer englischen (Rosaleen Parc) Mannschaft in Paris unter der Schirmherrschaft des englischen Botschafters Lord Dufferin statt. Die ersten nationalen Fußballverbände wurden 1889 in den Niederlanden und Dänemark, 1895 in der Schweiz, 1898 in Italien, 1900 in Deutschland und 1901 in Ungarn gegründet. Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass eine in England entstandene Form des Zeitvertreibs zum Vorbild einer weltweiten Freizeitbewegung werden konnte? Offenbar entsprach der Sport den spezifischen Freizeitbedürfnissen, wie sie sich damals in vielen Ländern zeigten. Interessant ist auch die Frage, warum gerade in England Freizeitaktivitäten mit unverwechselbaren Merkmalen entstanden, die wir heute als Sport bezeichnen. Eine Antwort auf diese Fragen zu finden bereitet Schwierigkeiten, denn das, was den modernen englischen Sport auszeichnet, kann auf viele Wegbereiter in der Geschichte verweisen. Die Höflinge Ludwigs des XVI.
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HELMUT DIGEL
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hatten ihre Tennisplätze und erfreuten sich beim jeu de paume. In der Antike gab es schon leichtathletische Wettkämpfe. Auch andere Sportarten wurden damals bereits betrieben und nationale und zwischenstaatliche Vergleichswettkämpfe waren üblich. Zudem kann die Wiederbelebung der Olympischen Spiele in unserer Zeit als Beweis dienen, dass der Sport der Neuzeit nichts Neues ist. Norbert Elias war es, der uns in Bezug auf diese Fragen eine hilfreiche begriffliche Unterscheidung an die Hand gegeben hat. Er meint, dass der Begriff »Sport« sich ähnlich wie der Begriff »Industrie« in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwenden lässt. Im weiteren Sinne bezieht sich der Sportbegriff wie auch der Begriff »Industrie« auf spezifische Figurationen in vorstaatlichen Stammesgesellschaften und vorindustriellen Staatsgesellschaften ebenso wie auf vergleichbare Erscheinungen in industrialisierten Nationalstaaten. Selbst wenn man den Begriff »Industrie« so allgemein verwendet, ist man sich doch seiner Bedeutung im engeren Sinne bewusst. Man weiß, dass der Industrialisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts als etwas völlig Neues anzusehen ist, und dass die spezifischen Produktionsweisen und Arbeitsformen, die sich unter der Bezeichnung »Industrie« entwickelten, bestimmte einzigartige Strukturen aufweisen, die sich soziologisch genau bestimmen und klar von anderen Produktionsformen unterscheiden lassen.1 Ähnlich verhält es sich bei der Verwendung des Begriffs »Sport«. Man kann ihn in seiner weiten Form verwenden und bezieht sich dabei auf die Wettkampfspiele und körperlichen Ertüchtigungen aller Gesellschaften. Im engeren Sinne verwendet, verweist der Begriff auf eine besondere Art des Wettkampfs, die in England entstand und sich von dort aus verbreitete. Elias spricht in diesem Zusammenhang von der Versportung der Wettkämpfe in England. Die Industrialisierung ebenso wie die Entstehung des modernen Sports stellen dabei interdependente Teilentwicklungen einer umfassenden Veränderung der Staatsgesellschaften der Neuzeit dar.2 Für Elias liegt der grundlegende Unterschied zwischen den antiken Wettkampfspielen und dem modernen Sport des 19. und 20. Jahrhunderts in den Regeln. In der Antike ließen die traditionellen Regeln der athletischen Übungen ein weitaus höheres Maß an physischer Gewalt zu, als dass die Regeln der vergleichbaren Sportarten im modernen Sport erlauben. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen der Menschen, die sich in einem Wettkampf gegenseitig zum Ergötzen der Zuschauer verwundeten oder gar umbrachten, lagen wesentlich niedriger als in der modernen Gesellschaft. Die Regeln des modernen Sports sind auch viel genauer. An die Stelle mündlich überlieferter sind schrift lich fi xierte Regeln getreten, die eine Überprüfung und Veränderung leichter zugänglich machen. Ein weiterer Unterschied zu den antiken Vorläufern ist im Prinzip der Fairness zu erkennen. Fairness kann man bei den griechischen Spielen vergeblich suchen. Das englische Fairness-Ethos beruht nicht auf kriegerischen Traditionen. Das Postulat der Fairness ist Teil einer Wandlung im Verhalten und Erleben der Menschen. Zum modernen Fairness-Prinzip gehört, dass die Erregung und das Vergnügen, welche ein Wettkampf vermitteln, nicht nur auf den kurzen Augenblick der endgültigen Entscheidung ausgerichtet sind, sondern sich auf den gesamten Verlauf des Wettkampfs beziehen. Die Dauer des Wettkampfs vermittelt eine eigene Span-
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nung und wird nicht nur als eine Art Vorspiel für den Endpunkt, den Sieg oder die Niederlage erlebt. Im modernen englischen Sport werden Wettkämpfe auf eine neue Art spannend.3 Damit kommt ein weiterer Erklärungsaspekt in den Blick, der für die Verbreitung des englischen Sports ausgesprochen bedeutsam werden sollte. Die Entwicklung des modernen Sports steht in engem Zusammenhang mit einer aufkommenden Wettleidenschaft. Das Wetten spielt in England eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Veränderung roher Wettkampfarten in zivilisiertere Formen. Für englische Gentlemen war es eine besondere Qualität ihrer Freizeit, Geld auf eine Mannschaft, einen Läufer oder Boxer (Boxkämpfe dauerten dabei mehrere Stunden) zu setzen, um so die Spannung des Wettkampfs, der bereits in zivilisiertere Bahnen gelenkt war, zu erhöhen. Das Wetten konnte aber nur dann Spannung erzeugen, wenn die Gewinnchancen fair verteilt waren. Der Ausgang musste deshalb ungewiss bleiben. Hierzu war erforderlich, dass die Wettkämpfe sehr viel genauer reguliert werden mussten, als dies in den Stadtstaaten der griechischen Antike der Fall war. So waren in der griechischen Antike beispielsweise Gewichtsklassen für Ring- oder Faustkämpfer nicht üblich. Der antike Wettkampf war von der agonalen Kampfweise geprägt: Sieg oder Niederlage standen im Mittelpunkt und nicht der Verlauf des Wettkampfs. Es ging um Ausdauer, Muskelkraft und Geschicklichkeit. Ernsthafte Verletzungen der Augen, Ohren und des Schädels waren an der Tagesordnung. Es existieren Berichte von Boxern, in denen der Sieger, als der Gegner seine Deckung fallen ließ, diesem die Finger der gestreckten Hand unter den Rippenbogen stieß und mit seinen harten Nägeln die Bauchdecke öff nete, seine Eingeweide herausriss und ihn dabei tötete.4 Die Studien von Elias zeigen uns auf eindrucksvolle Weise, dass man den modernen Sport nur dann angemessen erfassen kann, wenn man den Sport nicht unabhängig von anderen Bereichen der Gesellschaft betrachtet. Wie Arbeit, Industrie, Wissenschaft und eine Vielzahl anderer Bereiche hat auch der Sport einen bestimmten Grad an Autonomie. In der Realität gibt es aber immer nur eine relative Autonomie bezogen auf andere gesellschaft liche Bereiche. Will man die Beziehungen zwischen der Struktur und den sozialen Funktionen des Sports sowie den anderen Aspekten einer Gesellschaft ans Licht bringen, muss man den Sport in seiner prozessualen Entwicklung beobachten. Wer den Sport lediglich als ein Faktum behandelt, dessen Existenz nicht weiter erklärt zu werden braucht, kann dessen mittlerweile erreichten Qualität nicht gerecht werden. Der englische Sport mit seiner Wertestruktur, seinem Prinzip des Fair Play, seinem Regelkonzept, seiner Organisationsstruktur und seiner kommerziellen Ausrichtung, die sich vor allem an der Idee des Wettens ausrichtet, ist mittlerweile zu einem globalen Kulturmuster geworden.
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Tab. 1: Entwicklung der Spitzenverbände Spitzenverband
Mitgliedsverbände
Mitglieds-
Gründungsjahr
verbände 2009
IAAF
International Association of Athletics Federations
17 (1912)
213
FIFA
Fédération Internationale de Football Association
8 (1904)
208
FINA
Fédération Internationale de Natation Amateur
8 (1908)
183
FEI
Fédération Équestre Internationale
8 (1921)
134
UCI
Union Cycliste Internationale
5 (1900)
170
IOC
International Olympic Committee
11 (1894)
205
Quelle: Eigendarstellungen der Internationalen Sportverbände
Der internationale Fußballverband kann ebenso wie der internationale Leichtathletikverband mehr als 200 Nationen bzw. territoriale Gebilde als seine Mitglieder ausweisen (siehe TABELLE 1). Sämtliche olympische Sportarten können mittlerweile den Nachweis erbringen, dass sie auf allen Kontinenten betrieben werden. Der Wettbewerb des Sports ist deshalb im wahrsten Sinne des Wortes internationalisiert, und weltweit werden die Sportarten nach standardisierten Regeln betrieben, die von den internationalen Fachverbänden zu verantworten sind (siehe ABBILDUNG 1). Sie haben dabei die volle Hoheit über das Regelwerk. Selbst der Schulsport der Bundesländer einer Bundesrepublik muss mit den Auswirkungen dieser hoheitlichen Macht leben. Dies zeigt sich vor allem bei der Verwendung von Sportgeräten und beim Bau von Sportanlagen. So zertifiziert beispielsweise der internationale Leichtathletikverband (IAAF) weltweit die Leichtathletikanlagen. Er legt fest, mit welchen Geräten geworfen oder gesprungen wird und welches Ausmaß die jeweiligen Anlagen für die einzelnen Disziplinen haben müssen. Technische Regeländerungen können dabei folgenreiche ökonomische Wirkungen haben. Sorgfältig muss dabei überwacht werden, welche technologischen Errungenschaften der Weiterentwicklung der Sportart nützlich sein können und welche eher als eine Gefahr zu deuten sind. Abb. 1: Sport als globales Kulturgut Kultur I
Kultur II Religion
Politik
Militär
Religion
Wirtschaft
Sport
Bildung
Wissenschaft Massenmedien
Gleiche Idee Kodifizierte Regeln Gleiche Moral Ideal des Fair Play
Politik
Militär
Wirtschaft
Sport
Bildung
Wissenschaft Massenmedien
Am 18. Januar erbot sich der Taglöhner Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau, auf Veranlassung einer Wette, zwischen mehreren hiesigen Bürgern in 5 Stunden aus einem Gasthause zu Kastel nach Frankfurt und zurück (16 Stunden) zu gehen oder zu laufen. Um ein Viertel nach 9 Uhr des Morgens begann der Schnellfüßler seinen Trab. Aus den von Herrn Depré, Zöllner am Bockenheimer Thor in Frankfurt, ausgestellten Scheine geht hervor, daß Stolz in 2 Std. 15 Min. nach Frankfurt gelaufen war, und wenn er erst kurz vor 3 Uhr in Kastel wieder in dem Gasthause anlangte, so waren wohl mehrere Zufälle daran schuld, als: ein bedeutender Aufenthalt in Frankfurt, schlechte, unvorteilhafte Bekleidung, so wie der Mangel an Vorsicht, sich ein wenig Brot in die Tasche zu stecken, wodurch er veranlaßt wurde, um sich welches zu kaufen, abermals 15 Min. zu verwenden.
In der gleichen Zeitung wird berichtet, dass Peter Bajus über 10.000 m Zeiten von 31 Minuten gelaufen ist.7 Ein besonderer Ort für die neue sich herausbildende europäische Bewegungskultur war der Prater in Wien. 1766 ließ ihn Josef II. für die gesamte Bevölkerung öff nen, nachdem er zuvor lediglich kaiserliches Jagdrevier war. In einer Erklärung
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2. Wetten und Fair Play als konstitutive Grundlage des modernen Sports Im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen Sports spricht man in England vom »Goldenen Zeitalter des Wettens«5. Exemplarisch für die Wettkultur des Sports kann dabei Captain Barclay erwähnt werden. Peter Radford machte 2009 mit seinem Buch The Celebrated Captain Barclay: Sport, money and fame in regency Britain auf dessen außergewöhnliche Sporterfolge aufmerksam. Bereits im Jahr 1802, nachdem er sich systematisch auf das Langstreckengehen vorbereitet hatte, gelang es Barclay, 103 km in zehn Stunden zu gehen. 1805 legte er zwischen dem Frühstück und dem Abendessen 116 km zurück und 1806 konnte er 161 km auf schlechten Straßen in 19 Stunden absolvieren. 1807 benötigte er für 125 km in hügeligem Gelände 14 Stunden. Bei all diesen Läufen ging er Wetten ein und konnte sich dabei selbst als Profiathlet beweisen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildete eine Wette im Jahr 1809. Im Zeitraum zwischen dem 1. Juni und 12. Juli lief er 1.000 Stunden und hatte dabei das Wettangebot gemacht, dass er pro Stunde eine Meile zurücklegen wird. Captain Barclay gewann diese Wette und konnte ein Äquivalent von 320 Jahreseinkommen eines Durchschnittsbriten mit nach Hause nehmen. Die Adeligen, die dabei auf Sieg und Niederlage von Captain Barclay setzten, boten Wetteinsätze in einer Größenordnung von 100.000 Pfund. Das ganze Wettvolumen für diese Wette würde nach heutiger Währung 40 Millionen britische Pfund betragen. Auch der Prinz von Wales gehörte dabei zu jenen, die ihren Einsatz in diese Wette eingebracht hatten.6 Leichtathletische Laufhelden wie Barclay gab es auch in Deutschland. Hier ist z.B. ein Taglöhner namens Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau zu erwähnen. Als Läufer nannte er sich selbst Peter Bajus. Auch er machte durch außergewöhnliche Laufleistungen auf sich aufmerksam. So lief er unter anderem in fünf Stunden 45 Minuten von Kastel nach Frankfurt über eine Strecke von 80 km. Im Darmstädter Tagblatt vom 25. Januar 1824 konnte dabei folgender Bericht nachgelesen werden:
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weist Josef II. ausdrücklich darauf hin, dass nunmehr »Ballenschlagen«, »Kegelscheiben« und andere Unterhaltungen erlaubt seien. 8 Der Prater wurde danach sehr schnell zu einem Freiraum für Schaustellerei, Spiele und sportliche Wettkämpfe. Es wurde gekegelt und Federball gespielt. Es gab mechanische Schlittenfahrten, Glückshäfen, Wachsfigurenkabinette, Theaterbuden und viele andere Formen der Zerstreuung. Veranstaltungen mit explizit sportlichem Charakter kamen hinzu. 1851 wurde ein spezielles Gebäude für Ring- und Sportkämpfe erstellt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden bereits Wettläufe organisiert. Ab 1822 kam es beim traditionellen Maifest zum wichtigen »Wiener Wettlauf«. Zehn bis zwölf herrschaft liche Läufer mussten in ihrer prunkvollen Livree auf der Hauptallee bis zum Lusthaus um die Wette laufen, dort eine Trophäe entgegennehmen und dann umdrehen. Dabei wurden sie von Pferdewagen begleitet. Nicht selten brach ein Läufer vor Erschöpfung zusammen. Mit dem sogenannten »Wiener Laufer« war der erste professionelle Beruf im Sport entstanden. Zuvor war es die Aufgabe der »Wiener Laufer« vor den Karossen der Herrschaften herzulaufen, um für ein zügiges Vorankommen zu sorgen. Im Dunkeln trugen sie Fackeln oder Windlichter. Gelegentlich hatten sie auch die Aufgabe, Botschaften zu überbringen. Die »Wiener Laufer« bildeten eine eigene Zunft und verfolgten eine eigenständige Ausbildung. Mit den besseren Straßen- und Postverhältnissen wurde der Beruf jedoch sehr schnell in Frage gestellt. 1847 fand dann der letzte Lauf im Prater statt. Parallel zu diesen Berufsläufern kamen neue Schauläufe hinzu, bei denen Schnell- und Dauerläufer eine besondere Rolle spielten. Es gab dabei artistische und sportliche Merkmale: So traten z.B. einige Läufer als Stelzenläufer auf, andere liefen schon gemäß der Merkmale der modernen Leichtathletik. Zunehmend setzten sich Zeitmessung und genauer Leistungsvergleich durch. Der entstehende Wettkampfsport war dabei auch immer Zuschauersport. Er sollte die Unterhaltungsbedürfnisse der Massen befriedigen.9 Die englischen, deutschen und österreichischen »Wettläufe« können als Ausgangspunkte für den Siegeszug des modernen Sports bezeichnet werden. Für die Ausrichtung sportlicher Wettkämpfe war es dabei wichtig, dass das Fair Play Prinzip über verbindliche Vereinbarungen gesichert wurde, um gerechte Wetten zu ermöglichen. In der weiteren Entwicklung der Wettkämpfe führte dies zur Kodifi zierung der Regeln. Erste schrift lich niedergelegte Regeln lassen sich um das Jahr 1800 für mehrere Sportarten beobachten. Neben den Regeln kam es zu einer ganzen Reihe von weiteren institutionellen Absicherungen des Fair Play Prinzips. Für die Vergleichbarkeit der Wettkämpfe war von herausragender Bedeutung, dass man die Leistungen der Wettkämpfer möglichst genau messen konnte. Mit dieser Aufgabe war die Institution des Timekeepers betraut, der Timekeeper wurde in England deshalb sehr schnell zum Beruf. Mit der Erfindung der Stoppuhr durch Adolphe Nicole im Jahr 1862 war es möglich, die Laufzeiten sehr viel genauer zu messen. Eine Messung in Fünftelsekunden setzte sich zunächst durch und hatte bis zum Jahr 1930 Gültigkeit. 1970 wurde dann die elektronische Zeitmessung eingeführt. Die Zeitmessung wurde bereits in den Anfängen des modernen Sports sehr ernst genommen. Deswegen mussten alle Messsysteme Tauglichkeitszertifi kate aufweisen, und es gab ein Observation Board, dem die Überwachung aller Zeitnahmeaktionen oblag.10
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Kultur des Wettbewerbs im Sport
In der Person des Handicapmasters kann eine weitere Institution gesehen werden, die in erster Linie auf die Garantie fairer Wetten ausgerichtet war. Handicaprennen waren in England und in den USA im 19. Jahrhundert sehr beliebt. Die teilnehmenden Athleten mussten dem Veranstalter ihre vier letzten Leistungen mit Ort und Datum übermitteln. Diese Daten wurden vom Handicapmaster überprüft. Er führte Buch über Athleten und Resultate. Die Aufgabe des Handicapmasters bestand darin, aus der Leistungsdifferenz der Aspiranten zum favorisierten Scratchman die zu teilenden Vorgaben zu errechnen. Drei Tage vor einem Wettkampf wurden die Namen der Begünstigten in der Presse veröffentlicht. Der schlechteste Teilnehmer war der so genannte Limitman. In jedem Rennen gab es auf diese Weise Cracks und Crocks. Das Publikum war dabei vor allem an den Positionskämpfen und der Aufholjagd des Favoriten interessiert. Alle Handicaps waren so bemessen, dass theoretisch alle Konkurrenten auf gleicher Höhe im Ziel einlaufen konnten. Nachteilig bei dieser Regelung war, dass viele hervorragende Leistungen verloren gingen, da der Scratchman oft mals als dritter im Ziel einlief, dennoch aber eine Bestzeit gelaufen war. Doch zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht üblich, die weiteren Zeiten nach dem Einlauf des Ersten zu messen. Neben Entfernungsvorgaben gab es auch Zeithandicaps. Der schwächere Läufer wurde mit einem Zeitbonus früher losgelassen und der favorisierte Scratchman startete zuletzt. Es gab aber auch Rennen, bei denen alle gemeinsam starteten; und nach dem Zieleinlauf den einzelnen Läufern vorher zugestandene Zeitvergünstigungen von ihrer tatsächlich erzielten Zeit abgezogen wurden.11 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die bei diesen Rennen angewandte Fehlstartregel. In England und in den USA wurde ein Konkurrent beim dritten Fehlstart ausgeschlossen. Beim ersten und zweiten Fehlstart verhängte man Penalties, die eine Zurücksetzung des Läufers hinter die Startlinie zur Folge hatten. Hierbei unterscheiden sich allerdings beide Länder. Bei Läufen bis 200 Yards musste man bei einem Fehlstart in England 1 Yard zurück, in den Vereinigten Staaten galt diese Regel bis 125 Yards, bei Strecken über 800 m musste man 5 Yard zurück; in den Vereinigten Staaten galt diese Regel erst ab einer Meile. Das wohl schwierigste Problem zur Gewährung fairer Ausgangsbedingungen bei Wettläufen war die Frage nach der geeigneten Wettkampfanlage. In England fanden die Läufe anfangs nur auf Landstraßen und Pferdegeläufen statt. Auch gesprungen wurde nur im freien Gelände. Erst im 18. Jahrhundert begann die Einrichtung sogenannter temporary tracks. Ein geeignetes Terrain wurde dabei mit Fähnchen oder Kreidestrichen abgegrenzt. Am Ausgang wurden Zelte mit Sitzbänken und einfachen Waschschüsseln aufgestellt. Ein herausragender Ort für die englische Leichtathletik wurde das in Südengland gelegene Newmarket. Es wurde vor allem durch die von Captain Barclay an diesem Ort erreichten Leistungen über England hinaus berühmt. In Newmarket fanden 1664 bereits Laufwettbewerbe statt und ab 1680 wurde über herausragende Laufresultate berichtet. Nach 1750 breitete sich die Leichtathletikbewegung in England sehr schnell aus. In Schottland wurden dabei neben kurzen und langen Laufdistanzen vor allem auch Sprünge und Würfe angeboten. In London wurde 1837 die erste Laufpiste erwähnt, angelegt auf dem
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Lord Cricketground. Das rechteckige Kricketfeld war dabei nicht nur in London der geeignete Ausgangspunkt für viele Leichtathletikanlagen. Die Piste verlief in Rechteckform mit vier Geraden und vier Wendepunkten von jeweils 90 Grad. Auf einem Vorläufer der Londoner Bahn lief Captain Barclay 1805 in 56 Sekunden einen Rekord über 440 Yards. Vergleichbare Bahnen gab es in Eton, Exeter und Harrow. Die Schulen und Universitäten hatten dabei eine wegweisende Bedeutung. Eine wichtige Leichtathletikanlage war der Fenner`s Cricket Ground der Cambridge University. Dort gab es eine Quadratbahn, bestehend aus vier Geraden. Die Schule von Rugby war z.B. der Ort, an dem die ersten schrift lichen Fußballregeln vereinbart wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die bis dahin üblichen Graspisten durch einen Aschebelag ersetzt. Aschepisten galten als besonders schnell. Ein Problem in dieser Zeit war jedoch, dass die einzelnen Laufpisten unterschiedliche Längen und unterschiedliche Formen aufwiesen. Im Laufduell zwischen Oxford und Cambridge im Greensclub im Jahr 1868 maß beispielsweise die Aschebahnrunde eine Drittelmeile. Die fortschrittlichste Anlage gab es in West Brompton im Stadion Stamford Bridge. Dieses Stadion besaß eine 400 Yard lange Aschebahn mit zwei 120 Yard langen Geraden, die durch zwei 100 Yard Kurven verbunden waren. Damit war in gewisser Weise der Weg zur 400 m Bahn vorgegeben so wie wir sie heute kennen. Aus Sicht der damaligen Leichtathletik war diese Bahn jedoch umstritten. Die Vorstellungen, was einen fairen Wettkampf auszuzeichnen hat, waren dabei sehr unterschiedlich. So wurden Kurvenbahnen als weniger fair erachtet im Vergleich zu den Rechteckbahnen. Monteque Shermann, der wichtigste Leichtathletiktheoretiker dieser Zeit, vertrat zum Beispiel in seinem Buch 1887 folgende Auffassung: Wir sind der festen Überzeugung, dass jede Laufbahn über ein Höchstmaß an Gerade und so wenig Kurve wie möglich verfügen sollte, oder mit anderen Worten, die Piste sollte viereckig mit abgerundeten Ecken sein und nicht oval mit zwei seitlichen Geraden […]. Lange Kurven sind äußerst unfair bei Handicaprennen und im Übrigen bei jedem Lauf in einem großen Feld, wenn ein Konkurrent beim Überholen eines anderen gezwungen ist von innen nach außen auszuscheren, um anschließend wieder nach innen zu kommen, um nicht weiteren Boden zu verlieren. Außerdem zwingt das ständige Laufen in der Kurve unvermeidlich zu einem verkürzten Schritt, wobei mehr Boden verloren geht, als auf einer kurzen, wenn auch schärferen Kurve.12
Der Grund, warum sich am Ende die Kurvenbahn durchsetzen konnte, hängt deshalb vermutlich auch damit zusammen, dass die Leichtathleten ihre Bahnen mit den Radsportlern zu teilen hatten. Für Radsportler ist die ausladende Kurve weit günstiger; hingegen sind Pisten mit abrupten Abbiegungen wenig geeignet. So kamen wohl gegen den Willen der meisten Leichtathleten die Kurvenbahnen in die Leichtathletikarenen. Auch in den USA legte man die ersten Leichathletikanlagen um bestehende Sportspielfelder an. Bezugspunkte waren dabei vor allem das Baseballspiel und der Polosport. Auch in den USA gab es zunächst vier Geraden mit kurzen Kurven; erst später kam es zur Angleichung hin zum ovalen Leichathletikstadion. Mit dem Siegeszug des Fußballspiels und der Kodifizierung der Fußball-
3. Zur Situation des Sports in England im 19. Jahrhundert Die Hinweise auf die Wettkultur Englands, die damit einhergehenden Wettkämpfe und die mit diesen Wettkämpfen verbundene Motivstruktur des Wetteiferns verweisen auf einen Paradigmenwechsel in der englischen Körperkultur. Aus Volksspielen wurde moderner Sport, aus diff user informeller Organisation wurden spezifische formale Organisationen, die von der lokalen über die regionale, nationale bis zur internationalen Ebene reichen. Einfache unbeschriebene Gewohnheitsregeln, die über Traditionen legitimiert wurden, sind zu formellen kodifizierten Regeln geworden, die zunehmend durch rationale Prozesse einer Legitimation unterliegen. Es kam zu präzisen Begrenzungen von Raum, Zeit und Teilnehmerzahl. Gleichheit wurde zu einer besonderen Maxime. Der Einfluss natürlicher und sozialer Unterschiede auf die Spielmuster wurde kontinuierlich verringert, informelle soziale Selbstkontrolle während des Spielvorgangs wurde durch externe Kontrolle ersetzt. Schieds- und Kampfrichter wurden durch eine zentrale Organisation eingesetzt und erhielten weitreichende Befugnisse. Der Grad sozial tolerierter, physischer Gewalt wurde ganz wesentlich zurückgenommen, es kam zur Kontrolle der Emotionalität. Zurückhaltung war geboten. Die Partizipation am modernen Sport beruht auf individueller Entscheidung. Die ehemals dominante Gruppenidentität wird zurückgenommen, individuelle Identität und persönliche Leistungsfähigkeit erhalten hohe Bedeutung.13 Für den Siegeszug des modernen Sports war dabei besonders bedeutsam, dass die englischen public schools sehr schnell die sportlichen Wettkämpfe als einen geeigneten Erziehungsinhalt in das Schulwesen integrieren konnten. Dies galt vor allem für das Fußballspiel, das bereits im 19. Jahrhundert in das Curriculum der public schools aufgenommen wurde. Ihm folgten weitere Sportarten. Auf diese Weise wurde der moderne Sport im englischen Erziehungswesen verankert. Die Popularität des Sports führte in Verbindung mit dieser pädagogischen Grundlegung des Sports zur Gründung von Sportvereinen und -verbänden. Der Sport wurde zu einer gesamtgesellschaft lichen Angelegenheit. Sozialstrukturelle Unterschiede waren dabei jedoch evident. Der Fußballsport wurde zunehmend zum Sport der unteren sozialen Schichten; Bourgeoisie und Adel spielten hingegen Tennis, Kricket, Polo, Golf und betrieben Pferdesport. 4. Turnen als deutsche Alternative In ganz anderer Weise verlief die Entwicklung in Deutschland. War zunächst noch eine pädagogische Reflexion über die Bedeutung von Wettspielen auf der Grundlage der pädagogischen Ideen von Rousseau an der Tagesordnung und konnte man noch in den sogenannten Philanthropinen ein umfassendes Bewegungs-, Spiel-,
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regeln wurde die Kombination des Fußballfelds mit einer Leichtathletiklaufanlage zum standardisierten Modell einer modernen Sportarena. Diese Konzeption der Raumnutzung konnte über mehr als 100 Jahre erhalten werden. Mit dem Bau eines reinen Fußballstadions wurde diese Konzeption zunächst in England, mittlerweile auch in vielen anderen europäischen Ländern überwunden, so dass die Zukunft der Leichtathletikanlage heute als offen zu bezeichnen ist.
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Turn- und Gymnastikprogramm als wichtiges erzieherisches und vor allem auf Nützlichkeit ausgerichtetes Medium beobachten, wurde in den Folgejahren auf Grundlage der Initiativen von Friedrich Ludwig Jahn mit dem Turnen eine Körperkultur gepflegt, in der Gesellschaftsübungen im Mittelpunkt standen, die im Gegensatz zum englischen Sport auf die Gemeinschaftsleistung ausgerichtet waren. Im deutschen Turnen ging es nicht um die Hervorhebung der Individualleistung. Auch das Prinzip der Überbietung spielte so gut wie keine Rolle. Die damit verbundene Wertestruktur war auch für das pädagogische Turnen prägend, so wie es sich seit dem Schulerlass von 1850 unter Anleitung von Adolf Spieß im öffentlichen Schulwesen entwickeln konnte. Eine kommerzielle Ausrichtung war bei dieser Art von Körperkultur noch nicht zu erkennen. Sie beruhte im Wesentlichen auf einer medizinischen und integrationspolitischen Legitimation. Das Prinzip des Fair Play, auch die Idee kodifizierter Regeln und das dazugehörige organisatorische Konzept konnten im deutschen Turnen nicht in gleicher Weise beobachtet werden wie dies für den englischen Sport der Fall war, wenngleich die Gründung der Turngesellschaften und die Ausrichtung der deutschen Turnfeste den institutionalen Charakter des Turnens in dessen weiterer Entwicklung prägen sollten. Vergleicht man die konkurrierenden weltlichen Wertestrukturen des deutschen Turnens und des englischen Sports, so wird deutlich, dass ein kultureller Konfl ikt bei der Begegnung zwischen Turnen und Sport vorhersehbar war. Bemühungen, die sich gegen die Versportlichung der deutschen Gesellschaft gerichtet haben, waren zum Ende des 19. Jahrhunderts deshalb kaum noch überraschend, nachdem der englische Sport vermehrt das Interesse sowohl der höheren Schichten als auch der Jugend zunächst in Norddeutschland, später in allen deutschen Städten, fi nden konnte. Als ein ausdrucksvolles Dokument für jene Initiativen, die gegen den englischen Sport gerichtet waren, kann das Buch des Stuttgarter Studienprofessors Karl Planck bezeichnet werden. Mit dem Titel Fußlümmelei und dem Untertitel Über Stauchballspiel und englische Krankheit (siehe ABBILDUNG 2) versuchte er 1898 mit dieser Kampfschrift gegen den englischen Sport das angeblich so gefährliche Fußballspiel von seinen Schülern fern zu halten.14 Der weitere Siegeszug des englischen Sports und damit des modernen Sports war mit solchen Initiativen jedoch nicht aufzuhalten. Abb. 2: Fußlümmelei – Über Stauchballspiel und englische Krankheit
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5. Kulturelle Überhöhung des Sports durch Coubertins Olympismus Unter kulturellen Gesichtspunkten ist dem modernen Sport der Durchbruch vor allem durch die kulturelle Überhöhung des Sports und die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit gelungen. Coubertins Idee des Olympismus, seine Vorstellung einer religio athletae, der mit den Olympischen Spielen verbundene Bildungsauft rag und die Verknüpfung des modernen Sports mit Kunst, Literatur, Architektur, Theater und Film wertete den modernen Sport zu einem Kulturmuster auf, das sich seiner massenhaften Anerkennung auch heute noch sicher sein kann. Dabei gäbe es die modernen Olympischen Spiele nicht, wenn es nicht zuvor 1.000 Jahre lang die griechischen Olympischen Spiele gegeben hätte. Es ist allerdings zu vermuten, dass der Weltsport sich auch ohne die Olympische Bewegung zu einer unverzichtbaren Sportkultur entwickelt hätte. Allerdings würde dem Weltsport ein entscheidender Referenzpunkt fehlen. Der im 19. Jahrhundert beginnende Siegeszug des modernen englischen Sports erreichte seinen ersten Höhepunkt mit der Wiederbegründung der modernen Olympischen Spiele im Jahr 1896. Coubertins Leistung ist vorrangig darin zu sehen, dass er die antiken Olympischen Spiele in eine neue Konzeption überführte. Der Sport sollte dabei zentraler Inhalt zu Gunsten einer Reform des französischen Erziehungswesens sein. Coubertins Bemühungen waren damit vorrangig auf die Lösung von Erziehungsproblemen ausgerichtet, wie er sie in der französischen Gesellschaft beobachten konnte. Seine pädagogischen Studien führten ihn dabei unter anderem nach England, wo er den modernen Sport im englischen Schulwesen beobachten konnte. Im 19. Jahrhundert war eine Erneuerung der Olympischen Spiele vor allem auch deshalb möglich, weil in Europa eine umfassende Griechenverehrung zu beobachten war. Schiller, Hölderlin, Rousseau, Curtius und eine Reihe weiterer Philosophen, Schriftsteller und Intellektuelle haben mit ihren Ideen Coubertins Konzeption der modernen Olympischen Spiele vorbereitet und teilweise auch vorweggenommen. So gab es verschiedene Versuche, die Olympischen Spiele in Griechenland oder aber auch an anderen Orten in Europa durchzuführen. Die Ausgrabungen der antiken Stätten taten ein Übriges, um in Frankreich, aber auch in Deutschland und in den übrigen europäischen Staaten eine Aufwertung des Hellenismus zu bewirken.15 In diesem ideellen Umfeld entwickelte Coubertin seine Leitgedanken zu einem modernen Olympismus. Im Mittelpunkt sollte dabei der Athlet stehen. Der faire Wettkampf des Athleten, der seine Leistung um seiner Selbstwillen erbringt, sollte dabei eine religiöse Erhöhung erhalten (religio athletae). Im Wettkampf sollten Adel und Auslese durch körperliche Überlegenheit hergestellt werden. Der Wettkampf selbst sollte dem Gebot des Friedens folgen und die sportlichen Wettkämpfe in ein Kulturereignis eingebunden sein, das sich durch eine eigene Ästhetik und Schönheit auszuzeichnen hat. Für Coubertin war es deshalb wünschenswert, dass neben dem sportlichen Wettkampf auch Wettbewerbe um den besten Literaten, Künstler, Musiker und Wissenschaft ler stattzufinden haben. Das Ideal des Wettbewerbs hat sich dabei durch die gegenseitige Achtung der Wettkämpfer auszuzeichnen. Zu achten sind die Überzeugungen und Lebensbedingungen des anderen. Besonders zu beachten sind die Regeln, aber auch die Persönlichkeit des Gegners und alle Beteiligten
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haben sich ihrem Gewissen zu verpflichten.16 Für Coubertin war es dabei folgerichtig, diese Idee des modernen Olympismus mit einem Symbolismus anzureichern, durch den die eigentliche Erhöhung bei den Spielen selbst zum Ausdruck gebracht werden soll. Hierzu gehören der olympische Eid, die olympische Fackel, später die olympische Hymne und ab 1936 der olympische Fackellauf. Hierzu gehören auch die olympischen Ringe und eine nach festen Regeln abzuhaltende Eröff nungs- und Schlussfeier. Dem modernen Olympismus gelang es dabei, die Literaten und Künstler der Welt ebenso wie die herausragenden Musiker, Filmregisseure und Architekten an sich zu binden. Bis zu den Olympischen Spielen 1948 fanden Kunstwettbewerbe in der Baukunst, in der Literatur, in der Musik, in der Malerei und in der Bildhauerei statt. Bei den olympischen Kunstwettbewerben 1936 wurden noch Medaillen für städtebauliche und architektonische Entwürfe, für Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Gebrauchsgrafi k, Rundplastik, Reliefplastik, lyrische Werke, epische Werke, Solo- und Chorgesang und Erstbesteigungen (z.B. Eigernordwand) vergeben. Als ein Höhepunkt in dieser Entwicklung können die Olympischen Spiele von 1972 in München gelten, wo es dank des damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume gelang, herausragende Designer, Architekten und Städteplaner, aber auch Schriftsteller und Musiker an das Münchner Projekt zu binden. Der Münchner Olympiapark gilt unter diesem Gesichtspunkt bis heute als eine künstlerische Besonderheit, wie sie zuvor im Olympismus noch nicht anzutreffen war.
6. Internationalisierung des sportlichen Wettbewerbs – Sport wird zum universellen Kulturmuster Aus heutiger Sicht betrachtet ist der moderne Sport zu einem universellen Kulturmuster geworden.17 Diese Annahme vertreten auch die Repräsentanten des Weltsports. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Merkmale einer kulturellen Relativität gerade auch im modernen Sport nur unzureichend beachtet werden. Auch wird übersehen, dass der moderne Sport keineswegs in gleicher Weise in den verschiedenen Gesellschaften dieser Welt Anerkennung fi nden konnte und nach wie vor unter dem Aspekt der jeweiligen Sozialisationsbedingungen erhebliche Unterschiede aufweist. Der Sport ist in seiner Entwicklung vorrangig ein bürgerliches, großstädtisches Phänomen. Dies lässt sich auch heute noch in Entwicklungs- und Schwellenländern beobachten. Sport wird vorrangig durch städtische Eliten getragen; meist sind sie Angehörige des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, aber auch die Angestellten sind dabei zu beachten, die mittels des Sports am bürgerlichen Leben teilhaben. Die von Nielsen vorgelegten Befunde zur Entwicklung des Verhältnisses der Großstadt zum Sport zwischen 1870 bis 1930 gelten auch heute noch. Es ist vor allem die Mittelschicht, die auf eine gesundheitsbewusste Lebensweise und auf die Geselligkeit im Verein ausgerichtet ist.18 Will sich der moderne Sport durchsetzen, so müssen in den jeweiligen Gesellschaften ganz bestimmte Voraussetzungen anzutreffen sein. Dazu gehört unter anderem, dass akzeptiert wird, dass der menschliche Körper als manipulierbares Objekt betrachtet werden kann. Es muss in der Gesellschaft als legitim angesehen
81 —
Kultur des Wettbewerbs im Sport
werden, dass Triebe und Affekte zu kontrollieren sind. Es muss ein Regelbewusstsein anzutreffen sein, d.h. es müssen gesellschaft lich anerkannte Formen sozialer Kontrolle existieren. Damit eng verbunden ist auch die Idee von Planung und Training in Bezug auf leistungsorientierte Handlungsmuster. Zum modernen Sport gehört auch die Idee des Überbietens, die sich ja aus einer vergleichenden kulturellen Perspektive keineswegs als universell erweist, wie dies vielfach aus europäischer Sicht fälschlicherweise angenommen wird. Auch das Phänomen der Zeit-Nutzenmaximierung, der Zeit-Minimierung und des ökonomischen Einsatzes von Zeit muss als grundlegend für den modernen Sport bezeichnet werden. Im modernen Sport geht es auch um die Möglichkeit des Bedürfnisaufschubs zu Gunsten einer zeitlich entfernten Zielerreichung. Sporttreibende Menschen müssen ihre Lebensführung optimieren, Lebensaskese und Gefühlsdisziplinführung müssen als sinnvoll erachtet werden. Rhythmisierter Tages- und Jahresablauf, die Gliederung in soziale Räume, eine Normierung und Spezifi kation der Lebenswelten müssen akzeptiert sein. Besonders beachtlich ist dabei der gesellschaft liche Wunsch nach prinzipieller Chancengleichheit, die man im Sport zur Darstellung bringen möchte. Der moderne Sport ist dabei vor allem Ausdruck einer gesellschaftlichen Kultur, die sich dadurch auszeichnet, dass etwas prinzipiell Folgenloses von den Menschen mit Sinn verknüpft wird. Die Idee des »Überflüssigen« und des »Spielerischen« prägt den modernen Sport. Wo immer Gesellschaften diese grundlegenden Merkmale aufzuweisen hatten und über einen Modernisierungsprozess an diese Merkmale herangeführt wurden, konnte man in der weiteren Entwicklung des Weltsports erkennen, dass die verschiedenen Sportarten sehr schnell ihre Anhängerschaft finden konnten. Sportarten wie Leichtathletik und Fußball sind mittlerweile weltweit verbreitet. Aber auch olympische Sportarten, die zunächst nur auf Europa beschränkt waren, können mittlerweile alle Kontinente erreichen. Dies gilt für den internationalen Radsportverband gleichermaßen wie für den internationalen Reitsportverband. Und betrachten wir das Internationale Olympische Komitee, so kann es im Jahr 2009 auf 205 nationale Olympische Komitees verweisen (siehe TABELLE 1). Die Tendenz zur Universalität wird bei den Olympischen Spielen auch über die Vervielfältigung der Wettbewerbe deutlich. Vermehrt ist man bemüht, aus den einzelnen Kontinenten bedeutsame bewegungskulturelle Muster, wenn sie sich als Sportarten eignen, in das olympische Programm aufzunehmen. Die sportlichen Großereignisse wie z.B. eine Fußballweltmeisterschaft, eine Leichtathletikweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele sind auf diese Weise zu globalen Veranstaltungen geworden (siehe TABELLE 2).
Tab. 2: Die Entwicklung der Olympischen Sommerspiele Jahr
Vertretene Nationen
Zahl der
Zahl der
Wettbewerbe
Teilnehmer
1896
13
43
280
1904
12
87
681
1912
28
108
2.490
1924
44
140
3.070
1932
37
128
1.328
1948
59
151
4.064
1956
67
153
3.258
1964
93
167
5.081
1972
122
205
7.173
1980
81
204
5.217
1988
159
260
8.465
1996
179
271
10.320
2004
202
301
10.625
2008
204
302
11.126
Quelle: IOC (Internationale Olympic Committee)
Die Reichweite dieser internationalen Sportwettkämpfe betrifft nicht nur die Athletinnen und Athleten und die beteiligten Sportfunktionäre der jeweiligen Nationen, sie erfasst nahezu alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Besonders deutlich wird dies an der internationalen Bekanntheit der olympischen Ringe (siehe ABBILDUNG 3).
94%
93%
98%
95%
97%
99%
81%
99%
95%
96%
95%
95%
80%
nur 12-19Jahre
Frankreich
Deutschland
Italien
Russland
Brasilien
Kanada
Mexiko
USA
China
Japan
Südafrika
Abb. 3: Internationale Bekanntheit der olympischen Ringe
alle Länder
82 —
Quelle: IOC research, 2004
7. Steigerung, Vervielfältigung und funktionale Differenzierung des modernen Sports Die olympische Überhöhung des modernen Sports durch Pierre de Coubertin hat ohne Zweifel den Siegeszug des modernen Sports bis hinein in das 21. Jahrhundert ganz wesentlich beeinflussen können. Die Olympischen Spiele sind heute das größte Sportereignis und dem Olympismus gelingt es bis heute, 28 Sommersportarten und 15 Wintersportarten trotz vieler Gegensätze und Widersprüche alle vier Jahre in Olympische Spiele einzubinden, die sich vor allem unter wirtschaft lichen Gesichtspunkten als eine besondere Wachstumsbranche darstellen. Besonders eindrucksvoll kann dies über die Vermarktung der Fernsehrechte gezeigt werden (siehe ABBILDUNG 4).
Abb. 4: Einnahmen aus Fernsehrechten der Olympischen Sommerspiele (in Mio. Euro)
Peking 2008
1715
Athen 2004
1497
Sydney 2000
1331
Atlanta 1996
898
Barcelona 1992
636
Seoul 1988
403
Los Angeles 1984 Moskau 1980
287 101
Quelle: IOC Marketing Fact File
In der Überhöhung der Spiele ist jedoch auch die eigentliche Gefahr zu sehen, die in der weiteren Entwicklung des modernen Sports genauer zu beobachten ist. Diese Gefahr wird vor allem durch den Steigerungsimperativ »höher, schneller, weiter« und durch den »Sieg-Niederlage-Code« des modernen Sports ausgelöst. Der Steigerungsimperativ hat dabei in relativ kurzer Zeit zu außergewöhnlichen Leistungssteigerungen im olympischen Sport führen können. Lag der Weltrekord im Frauen-Hochsprung 1912 noch bei 1,44 m, so hält heute die Hochspringerin Kostadinowa den Weltrekord mit 2,09 m. Der Weitsprung der Männer lag 1896 bei 7,20 m und heute gilt die Marke von 8,95 m als Weltrekordweite. Der Weitsprung
83 —
Kultur des Wettbewerbs im Sport
1920 wurde zum ersten Mal das Logo der Olympischen Spiele auf einer Fahne bei den Olympischen Spielen in Antwerpen gezeigt. Die fünf Ringe, welche die fünf Erdteile der Welt repräsentieren, sind heute das weltweit bekannteste Logo. Es wird allenfalls vom Logo der Firma Coca Cola übertroffen.
84 —
der Frauen hatte 1912 bei 4,65 m seine Weltrekordmarke, heute liegt der Weltrekord bei 7,52 m (siehe TABELLE 3). Tab. 3: Weltrekordentwicklung leichtathletischer Disziplinen bei Männern und Frauen Frauen
Männer
Disziplin
WR 1912
WR 2009
WR 1912
WR 2009
100m
10,6
9,58
13,5
10,49
200m
21,4
19,19
30,3
21,34
400m
47,8
43,18
67,1
47,60
10.000m
30:58,8
26:17,53
38:06,4
29:31,78
110mH
15,0
12,87
14,3
12,21
3.000m Hi.
10:03,0
7:53,63
9:55,28
8:58,81
4x100m
42,3
37,10
58,8
41,37
Hoch
2,00
2,45
1,44
2,09
Stab
4,02
6,14
1,72
5,06
Weit
7,61
8,95
4,65
7,52
Kugel
15,54
23,12
6,50
22,63
Diskus
47,58
74,08
16,64
76,80
10-Kampf
5.966
9.026
–
–
5.617
7.291
7-Kampf Quelle: IAAF-Statistics
Vergleichbare Rekordentwicklungen finden sich auch in der Sportart Schwimmen wieder. Im Jahr 2009 kam es durch die Verwendung neuer Schwimmanzüge zu einer regelrechten Rekordflut (siehe TABELLE 4).
Tab. 4: Weltrekordentwicklung der Schwimmdisziplinen bei Männern und Frauen Frauen
Disziplin
WR (Jahr)
WR 2009
WR (Jahr)
WR 2009
100m Freistil
(1912) 01:01,6
00:46,91
(1912) 01:20,6
00:52,07
800m Freistil
(1924) 10:43,6
07:32,12
(1919) 13:19,0
08:14,10
100m Rücken
(1912) 01:15,6
00:51,94
(1923) 01:36,7
00:58,12
200m Rücken
(1912) 02:48,4
01:51,92
(1922) 03:06,8
02:04,81
100m Brust
(1912) 01:17,8
00:58,58
(1921) 01:37,6
01:04,45
200m Brust
(1912) 03:00,8
02:07,31
(1921) 03:38,2
02:20,12
100m Schmetterling
(1953) 01:04,3
00:49,82
(1954) 01:16,6
00:56,06
200m Schmetterling
(1954) 02:21,6
01:51,51
(1956) 02:42,3
02:03,41
200m Lagen
(1966) 02:12,4
01:54,10
(1966) 02:27,8
02:06,15
400m Lagen
(1953) 05:48,5
04:03,84
(1953) 05:50,4
04:29,45
4x100m Freistil
(1937) 04:10,2
03:08,24
(1912) 05:52,8
03:31,72
4x100m Lagen
(1953) 04:39,2
03:27,28
(1953) 05:10,8
03:52,19
Quelle: FINA-Statistics
Betrachtet man dabei die Weltrekordentwicklung in den verschiedenen olympischen Sportarten etwas genauer, so muss man erkennen, dass in vielen CGS-Sportarten mittlerweile Leistungsgrenzen erreicht wurden, die nur noch selten überboten werden. Experten vertreten die Auffassung, dass viele Leistungen nur noch mit medikamentöser Manipulation gesteigert werden können. Die aufgedeckten Dopingfälle in Verbindung mit Weltrekordleistungen sprechen diesbezüglich eine relativ eindeutige Sprache. Der Steigerungsimperativ ist auf diese Weise für die Weiterentwicklung des modernen Hochleistungssports zur Falle geworden.19 Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports lässt sich auch über eine Vervielfältigung der Sportarten und über eine Steigerung der aktiv Sporttreibenden nachzeichnen. Gab es im Jahr 1950 24 Sportarten, die mit ihren Fachverbänden den Deutschen Sportbund gründeten, so sind heute in Deutschland 60 Sportfachverbände zu unterscheiden (siehe TABELLE 5). Darüber hinaus gibt es immer mehr regelgeleitete Sportaktivitäten, deren Zahl mittlerweile bei über 100 angelangt ist. In der Sportstättenplanung und beim -bau werden von Architekten heute bereits mehr als 200 Bewegungs- und Sportaktivitäten unterschieden. Diese Vervielfältigung lässt sich auch in den Mitgliedschaften der Vereine beobachten. 1950 gab es in Deutschland 19.874 Vereine, im Jahr 2008 kann eine Vervierfachung diagnostiziert werden; es wurde die Zahl von 90.775 Vereinen erreicht. Der in Sportvereinen organisierte Bevölkerungsanteil, der noch im Jahr 1950 bei 6,7 lag, hat mittlerweile einen Wert
Kultur des Wettbewerbs im Sport
Männer
85 —
86 —
von 33,4 erreicht. In das System des Sports ist somit ein Drittel der Gesamtbevölkerung inkludiert. Betrachten wir in diesem Zusammenhang freiwillige Vereinigungen und Non-Governmental Organizations, so lässt sich für keinen anderen kulturellen Sektor ein vergleichbares Wachstum in den vergangenen 50 Jahren beobachten (siehe TABELLE 5) Tab. 5: Sportentwicklung in Deutschland 1950
2001
2008
Sportvereine
19.874
87.717
90.775
Mitgliedschaften
3,2 Mio.
26, 8 Mio.
27,4 Mio.
Bevölkerungsanteil
6,7%
32,7%
33,4%
Sportfachverbände
24
55
60
Quellen: DSB/DOSB-Statistik
Neben der Vermehrung der Sportarten kann eine intensive Beeinflussung der globalen Sportkultur durch die nordamerikanische Sportkultur beobachtet werden. Mountainbiking, bodyshaping, bungee-jumping, carving, snakeboard, robe-skipping, free-climbimg, go-kart oder auch inline-skating sind Beispiele für Sportaktivitäten, die häufig in Subkulturen der USA ihren Ursprung hatten, heute jedoch nicht nur unter sprachlichen Gesichtspunkten globale Nachahmung erreichen. Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten ist in erster Linie auf die Kreativität jener zurückzuführen, die eine Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse über sportliche Aktivitäten suchen. Der Erfi ndung neuer Sportarten scheinen dabei keine Grenzen gesetzt zu sein. Aber auch einzelne Techniken können in überraschender Weise weiterentwickelt werden. So wurde zum Beispiel im Hochsprung der Schersprung durch den Rollsprung, später durch den straddle und schließlich durch den fosbury flop abgelöst (siehe ABBILDUNG 5).
Abb. 5: Die Entwicklung der Hochsprungtechniken
2
4
3
5
1-2 Schersprung, 3 Rolltechnik, 4 Straddle, 5 Fosbury-Flop
Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten hängt aber auch mit neuen Technologien zusammen, die meist zu Gunsten des industriellen Sektors entwickelt wurden, jedoch sehr direkte und oft auch sehr überraschende Auswirkungen auf die Entwicklung des Hochleistungssports haben konnten. Dies sieht man vor allem über einen Vergleich der Sportgeräteentwicklung, wenn z.B. aus einem Holz- ein Bambusstock wird. Dieser wird von einem Stahlstab, einem Aluminiumstab und schließlich von einem Carbonfaserstab abgelöst. Auf ähnliche Weise entwickelten sich Hochräder zu Rennmaschinen, einfache Laufschuhe zu federleichten Spikes, Fußballstiefel zu WM-Modellen aus der Hightechmanufaktur und aus den Badehosen wurden Schwimmanzüge, die angeblich Wunderleistungen bewirken (siehe ABBILDUNG 6). Abb. 6: Sportgeräteentwicklung aus historischer Perspektive
Kultur des Wettbewerbs im Sport
1
87 —
88 —
Aber auch die Sportstätten wurden Dank dieser Technologien optimiert. Das Startschäufelchen, das Jesse Owens noch 1936 bei seinem Olympiasieg benötigte, ist museal geworden. An dessen Stelle traten Startmaschinen. Elektronische Zeitmessung, Fotofinish und die neue Kunststoffbahn bewirken über entsprechende Innovationen nahezu jährlich eine erneute Beschleunigung (siehe ABBILDUNG 7). Abb. 7: Von der Startschaufel zur hochmodernen Starteranlage
Doch nicht nur die Sportanlagen und die Sportgeräte haben sich verändert. Verändert hat sich auch das Menschenbild des Athleten. Aus relativ normal gewachsenen schlanken Athleten sind teilweise athletische »Monster« geworden und der Einfluss der Wissenschaft tut ein Übriges, um eine Weiterentwicklung des Menschenbilds im Hochleistungssport zu beeinflussen (siehe ABBILDUNG 8), an deren Ende vermutlich der genmanipulierte Athlet steht. Abb. 8: Sieger des olympischen 100m-Wettbewerbs 1896 und 2000
Medizin- und Trainingswissenschaft beeinflussen die Kraft- und Ausdauerentwicklung und steuern Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit. Die Sportpsychologie ist auf die Optimierung der menschlichen Psyche ausgerichtet. Dank der pharmakologischen und biochemischen Erkenntnisse haben Athleten die Möglichkeit, ihre sportliche Leistung mittels Medikamenten zu steigern und dabei ihre Gegner zu betrügen. Bereits in den ersten Anfängen des modernen Olympismus ist diese Art von Manipulation vieler Athleten zur Alltagsroutine geworden. Heute hat das Dopingproblem ein Ausmaß angenommen, das in seinem weiteren Wachstum ganz offensichtlich nicht aufzuhalten ist. Die Anzahl der verbotenen Substanzen muss angesichts des wachsenden Missbrauchs ständig erhöht werden. Immer mehr Athleten sind heute in der Lage, eingebunden in kriminelle wissenschaft liche Beratungsnetzwerke, das bestehende Kontrollsystem zu unterlaufen. Auf diese Weise gelingt es diesen Athleten, ihre Gegner oft über viele Jahre hinweg zu betrügen. Am
89 —
Kultur des Wettbewerbs im Sport
Beispiel der Tour de France kann dabei gezeigt werden, dass der Betrug zur Normalität werden kann. Die Idee der Wettbewerbskultur, durch die sich der moderne Sport auszuzeichnen vorgibt, wird dabei in ihr Gegenteil verkehrt. Das Prinzip des Fair Play ist außer Kraft gesetzt.20 Aus einer soziologischen Perspektive kann der Prozess, in dem sich in den vergangenen 100 Jahren der moderne Sport befunden hat, als ein Prozess funktionaler Ausdifferenzierung rekonstruiert werden. Strukturen mit relativ schwach ausgeprägter Differenzierung werden von komplexen Strukturen abgelöst, die sich durch fortgesetzte Differenzierung auszeichnen. Aus einem einfachen Angebot mit wenigen Sportarten wurden viele Spiele-Bewegungsmuster und viele Regelsportarten. War der Sport zunächst vorrangig eine Angelegenheit junger Männer und war er überwiegend ehrenamtlich organisiert, so sind heute nahezu alle Menschen in das System des Sports inkludiert und Hauptamtlichkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. War früher der Sport eine Angelegenheit, die sich vorrangig in urbanen Sportstätten abgespielt hat, so kann der Sport heute in allen ökologischen Varianten beobachtet werden. Er fi ndet zu Land, zu Wasser, in der Luft statt und längst hat er ein eigenes Umweltproblem aufzuweisen.21 Die Angebote an Land umfassen Mountainbiketouren, Klettersteige, Hochseilgarten und Trekkingtouren. In der Luft sind Fallschirmspringen, Bungeesprünge, Paragliding und Ballonfahrten zu beobachten. Im Wasser reichen die Aktivitäten von Raft ing, Wasserklettern, Canyoningtouren, Kajak, Kanu- und Wildwasserfahrten bis hin zum Rudern. Im Winter sind Schlittenhunderennen, Skisafaris, Schneeschuhtrekking, Iglubau und Langlaufen angesagt. Auch unter dem Aspekt der zeitlichen Positionierung hat sich dabei Entscheidendes verändert. Noch vor 50 Jahren war der Sport ausschließlich eine Angelegenheit, die sich abends nach der getanen Arbeit und dabei nur bis zur Dämmerung ereignen konnte und sich auf das Wochenende beschränkte. Heute fi ndet der Sport zu jeder Zeit statt. Der flexible Mensch sucht dabei flexible Zeiträume zur Befriedigung seiner sich ständig verändernden Bedürfnisse. Auch die Finanzierung des Sports hat sich dabei erheblich verändert. Eigenleistungen als Fundament der freiwilligen Vereinigung, d.h. der Mitgliedsbeitrag der Vereine, war zunächst das tragende Element. Diese Finanzierungsform wurde mittlerweile durch variable Finanzmittel ergänzt. Besonders auff ällig ist die Vervielfältigung der Motivstrukturen. War zunächst das Wetteifermotiv zentral und die Ausrichtung am Leistungsprinzip kennzeichnend für den jugendlich-orientierten Sport, so kann heute eine Vielfalt von Motiven unterschieden werden. Gleiches gilt für die Institutionen und Organisationen, die den Sport anbieten und bei denen Sport getrieben wird. Neben Verein und Schule sind längst zahlreiche private und staatliche Anbieter sowie viele weitere Organisationen getreten, die sich des Sports bedienen. In ideologischen Reflexionen über den modernen Sport, insbesondere in politischen Reden, die der Legitimation der Sportpolitik dienen, wird noch immer sehr einstimmig ein Zusammenhang zwischen Spitzensport und Breitensport betont. Es wird dabei die Annahme vertreten, dass ein aktiv gelebter Breitensport die notwendige Basis für Erfolge im Spitzensport ist. Dieser Zusammenhang wurde spätestens
90 —
durch die Erfolge der sozialistischen Sportsysteme widerlegt. Betrachtet man die Organisationsmuster, die dem modernen Hochleistungssport zu Grunde liegen, kann man erkennen, dass sich das System des Hochleistungssports längst als ein eigenständiges Subsystem des Gesamtsystems Sport darstellen lässt, das sich durch spezifische Merkmale auszeichnet. Deshalb ist es angebracht, den modernen Sport mit seinen verschiedenen Bereichen neu zu modellieren. Eine Unterscheidung in organisierten Wettkampfsport, Sport ohne organisierten Wettbewerb, instrumentellen Sport, Alternativsport und Berufssport könnte dabei ein geeignetes Angebot sein (siehe ABBILDUNG 9).22 Abb. 9: Säulenmodell der Erscheinungsweisen des Sports nach Digel – Folge funktionaler Ausdifferenzierung
Organisierter Wettkampfsport
Sport ohne organisierten Wettbewerb
Wettkampf
Spaß
Spannung
Freude
»Amateur«
Mitmachen
Vereinsmitgliedschaft
Selbstwert Offene Organisation
Instrumenteller Sport Soziale Dienstleistung Soziales Erziehungsinstrument Rehabilitationsinstrument Präventionsinstrument
Alternativsport
Berufssport
Subkultur
Kommerz
Körperkultur
Medien
Entspannung
Wettkampf
Offene Organisation
Profi Arbeitsertrag
8. Kommerzialisierung des modernen Sports Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports und die dabei zum Ausdruck kommenden Veränderungen der Wettbewerbskultur im modernen Sport können nicht nur positiv gedeutet werden. Der Steigerungsimperativ, die Einflüsse durch neue Technologien und die Beeinflussung der Sportentwicklung durch die Wissenschaft haben Gefahren sichtbar gemacht, deren Wahrnehmung, Behandlung und Abwehr immer größere Schwierigkeiten bereitet. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Entwicklung des modernen Sports aus einer System-Umwelt-Perspektive betrachtet und dabei die Wirkungen beobachtet, welche die Interaktionen des Sports mit dem Wirtschaftssystem, mit dem System der Massenmedien und dem System der Politik zur Folge haben. Besonders nachdrücklich wurde der Sport durch die Inanspruchnahme der Wirtschaft verändert. Für Deutschland kann dabei als entscheidender Ausgangspunkt das Jahr 1973 bezeichnet werden, als die Firma Jägermeister mit ihrem Besitzer Günther Mast, der gleichzeitig der Präsident der Braunschweiger Eintracht war, für 300.000 DM die Brust der Fußballspieler von Eintracht Braunschweig als Werbefläche einkaufte (siehe ABBILDUNG 10).
91 —
Kultur des Wettbewerbs im Sport
Abb. 10: Beginn des Trikotsponsorings in der Fußballbundesliga 1973
Ab diesem Zeitpunkt war die Werbung am Mann nicht mehr aufzuhalten und hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das selbst aus der Perspektive der Wirtschaft als kritisch bezeichnet wird. Doch nicht nur die Brust des Athleten wurde dabei zum Verkauf angeboten. Der Sport hat einen Weg bestritten, in dem alles, was sich als marktfähig erweisen könnte, zum Marktobjekt verändert wurde. Spieler wurden im Jahr 2009 zum Wert von 94 Millionen Euro transferiert, Preisgelder und Antrittsprämien in einer Größenordnung von 60.000 US $ bzw. 300.000 US $ für einen Olympiasieger des 100 m-Laufs sind üblich geworden. Dieser neue Marktwert, den der Sport damit hat erreichen können, hängt vor allem mit seiner massenmedialen Präsenz zusammen. Dem Sport ist es gelungen, seine Übertragungszeiten im Fernsehen bis zur Unermesslichkeit zu steigern und die Berichterstattung über den Sport ist in einer Weise attraktiv, dass mittlerweile bei Fußballweltmeisterschaften 215 Territorien erreicht werden und mehr als 500 TV-Anstalten von diesem Wettkampf berichten. 26 Milliarden kumulierte Zuschauer betrachten vor ihren Bildschirmen die Fußballspiele einer Weltmeisterschaft (siehe TABELLE 6).
92 —
Tab. 6: Einschaltquoten der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Land
Höchste Einschaltquote
Einschaltquoten kumuliert
Brasilien
60,5 Mio.
1.140 Mio.
China
71,5 Mio.
1.820 Mio.
Deutschland
29,7 Mio.
658 Mio.
England
18,8 Mio.
362 Mio.
Frankreich
22,2 Mio.
388 Mio.
Indonesien
23,5 Mio.
589 Mio.
Italien
23,9 Mio.
278 Mio.
Japan
42,3 Mio.
289 Mio.
Russland
12,9 Mio.
369 Mio.
USA
9,4 Mio.
235 Mio.
Vietnam
29,8 Mio.
650 Mio.
Quelle: FIFA-Statistik
Vergleichbare Übertragungsdauern, Reichweiten und kumulierte Zuschauer erreichen die Olympischen Spiele (siehe TABELLE 7). Tab. 7: Nettoreichweiten ausgewählter Live-Übertragungen bei den Olympischen Spielen 2008 Nettoreichweiten der Olympischen Spiele 2008 Zuschauer in Mio.
Marktanteil in %
Zuschauer gesamt
48,04
65,8
Westdeutschland
39,71
65,9
Ostdeutschland
8,86
65,3
Männer
21,70
68,4
Frauen
23,05
68,1
Meistgesehene Live-Übertragungen der Olympischen Spiele 2008 Zuschauer in Mio.
Marktanteil in %
Eröffnungsfeier (ARD)
7,71
52,4
Schlussfeier (ZDF)
4,64
28,8
Rudern: Doppelvierer Damen und
4,33
35,1
Turnen: Boden-Finale Männer (ARD)
4,33
36,6
Gewichtheben Frauen bis 53kg (ZDF)
4,22
34,7
Herren (ZDF)
Quelle: Media Perspektiven 10/2008
Abb. 11: Einnahmen der FIFA Weltmeisterschaften in Milliarden Euro (nach Weltmeisterschaftszyklen) 3,2 1,9
2,3
0,3 1995-1998
1999-2002
2003-2006
2007-2010
Quelle: FIFA-Statistik
Sportarten werden auf diese Weise zu Marken; sie werden Produkte mit bestimmten Produkteigenschaften. Verkaufspsychologische Kernwerte werden unterschieden und die Emotionen werden benannt, die über ihre Präsentation auszulösen sind, um die entsprechenden Marketingerfolge zu erreichen. Immer mehr betritt dabei der Sport den öffentlichen Raum und benutzt diesen für Großauft ritte. Werbung im XXL-Format, auf Autobahnen, in Flughäfen, in internationalen Bahnhöfen und an historischen Plätzen wird zur Normalität (siehe ABBILDUNG 12). Abb. 12: XXL-Werbung bei der Fußball-WM 2006 und der Euro 2008 in Zürich, München und Wien
Die neuen elektronischen Medien tun dabei ein Übriges. Der Sport entwickelt seine eigene e-community und wird dabei besonders attraktiv und anschlussfähig für die Werbewirtschaft. Die Zuschauer, die an der modernen Kultur des Wettbewerbs des Sports teilnehmen, haben dabei nicht selten den Charakter des modernen Globetrotters, wenngleich die Vermarktung der Zuschauer vor allem auf die Schaff ung von Unterschieden ausgerichtet ist. Die eigens dafür geschaffene Konzeption des Hospitality-Marketings hat dabei eine vielfältige Hospitality-Kultur hervor gebracht.23 Sie ist ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen, sich durch Konsum und Luxus von anderen zu unterscheiden. Die Idee der feinen Unterschiede wird dabei in besonderer Weise kultiviert (siehe TABELLE 8).
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Kultur des Wettbewerbs im Sport
Die FIFA und das IOC können über den Verkauf ihrer Fernsehrechte Milliardengewinne erzielen. Gleiches gilt für den Verkauf ihrer Sponsoren- und Lizenzrechte. Die größten Wirtschaftsunternehmen der Welt lassen sich in die Kooperation mit dem Sport einbinden und der Sport erweist sich dabei als eine Wachstumsbranche erster Ordnung. Die FIFA konnte beispielsweise ihre Marketingeinnahmen seit dem Jahr 1998 von 0,3 Milliarden auf 3,2 Milliarden Euro steigern (siehe ABBILDUNG 11).
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Tab. 8: Die Typologie der Hospitality-Kulturen nach Digel
Art der
Red carpet
Royal British
Male
öffentlich, elitär
traditionell, elitär
Männer-dominiert
ausgewählte High Society
sehr begrenzt,
indirekt, begrenzt
Veranstaltung
Zugänglichkeit
privilegiert
Garderobe
---
fest-geschrieben
---
Anzahl an Gästen
begrenzt,
begrenzt
gewöhnlich
hoch
gewöhnlich
privilegiert Preis
nicht käuflich zu erwerben
Exklusivität
allerhöchste
hoch
gewöhnlich
Häufigkeit
einmalig
jährlich, regelmäßig
regelmäßig
Räumlichkeit
exklusiver Bereich
exklusiver Bereich
exklusiver Bereich
Ticket centered
Adrenalin
Well-being
Business centered
traditionell, global
nach Abenteuer
catering-fixiert
Unternehmensfixiert
suchend
indirekt, begrenzt
nur Ausgewählte
hoch
nur Ausgewählte
---
---
---
---
zahlreich,
minimal
zahlreich
begrenzt, privilegiert
sehr hoch
nur schwer bezahlbar
bezahlbar
hoch
sehr hoch
allerhöchste
niedrig
hoch
alle 4 Jahre
einmalig
regelmäßig
regelmäßig
direkt am Geschehen/
exklusiver
exklusiver Bereich, spezielle
an die Veranstaltung
Bereich
räumliche Arrangements /
aber privilegiert
exklusiver Bereich
angrenzend
Angebote für Unternehmen
Kultur des Wettbewerbs im Sport
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9. Der Sport auf dem Weg der Selbstzerstörung Die bisherigen Ausführungen waren darauf ausgerichtet, die Entwicklung des modernen Sports und seiner Kultur des Wettbewerbs ausgehend von England bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen. Besonders beachtlich ist dabei der mittlerweile erreichte Stand der Universalität. Die Omnipräsenz des Sports ist eines seiner markantesten Merkmale und ist gleichzeitig eines der markantesten Phänomene der Moderne. Interessant ist sicher auch die intensive Austauschbeziehung, die das moderne Sportsystem zu anderen gesellschaft lichen Systemen eingegangen ist. Die Beeinflussung durch Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Massenmedien konnte vielfältige Dimensionen der Wettbewerbskultur des Sports offenlegen. Bei der Darstellung der dimensionalen Vielfalt der Wettbewerbskultur des Sports wurde jedoch bereits mehrfach deutlich, dass der Prozess der Vervielfältigung, die funktionale Ausdifferenzierung des Sportsystems und nicht zuletzt dessen Kommerzialisierung auch Gefahren in sich bergen können, deren Bewältigung dem Sport zunehmend Schwierigkeiten bereitet. Betrachtet man die jüngsten Entwicklungen des modernen Sports, so kann durchaus von der Gefahr gesprochen werden, dass sich der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung befindet. Dies wird vor allem über den umfassenden Dopingbetrug sichtbar, dessen Beherrschung derzeit nicht zu erkennen ist. Weder gelingt es den Organisationen des Sports, den Betrug ausreichend zu erfassen, noch kann von einer ausreichenden Sanktionierung des Betrugs gesprochen werden. Die mittlerweile angemahnte Hilfe zum Schutz des »Kulturgutes Sport« durch den Staat ist nur in ersten Anfängen zu erkennen. Ihre Wirksamkeit ist umstritten und der Sport befindet sich dabei in der Gefahr, sich in eine vermehrte Abhängigkeit zum Politiksystem zu begeben, was einen Autonomieverlust zur Folge hätte. Völlig unzureichend sind die präventiven Maßnahmen. Erfolgreiche Präventionsbemühungen, die verhindern, dass Athleten in die Dopingfalle geraten, sind weltweit nicht zu erkennen. Einzelne nationale Bemühungen können wohl als redlich bezeichnet werden, leben allerdings vorwiegend von einer pädagogischen Illusion, die angesichts des Dilemmas, in dem sich die Hochleistungssportler heute befinden, kaum als weiterführend bezeichnet werden kann.24 Mit der Kommerzialisierung hat nicht nur der Dopingbetrug ein flächendeckendes Ausmaß erreicht. Die Kommerzialisierung hat vielmehr auch Korruption und vielfältige Formen von Regelmanipulationen begünstigt. Ge- und verkaufte Spiele werden immer häufiger beklagt, bestochene Schieds- und Kampfrichter sind angesichts der Gewinne, die mit sportlichen Leistungen erzielt werden können, eine naheliegende Konsequenz. Angesichts einer umfassenden Ökonomisierung aller Lebenswelten ist auch der Sport kein Schonraum. Es geht auch in ihm vorrangig um Möglichkeiten der Bereicherung und um die Steigerung von Gewinnen. Dass dabei auch der Einsatz von Gewalt eine Rolle spielen kann, überrascht angesichts dieser Entwicklung nicht. Gezielt eingesetzte Foulhandlungen haben zugenommen; es ist sogar wieder möglich geworden, dass exzessive Gewalt zum zentralen Unterhaltungsinhalt wird, so bei der neu geschaffenen Sportart ultimate fighting. All diese neuen Varianten der sportbezogenen Unterhaltungsbranche zeichnen
10. Ausblick Sloterdijk, der noch in seinem Werk Sphären Coubertin und dem olympischen Sport ein »sozialdarwinistisches« und »faschistisches« Menschenbild unterstellte, 26 hat in seinem neuesten Buch Du musst dein Leben ändern von dieser kaum gerechtfertigten These Abstand genommen. Vielmehr sieht er nun im Sport die erfolgreichste Anthropotechnik der Moderne. Der Sport ist für ihn eine moderne bzw. postmoderne Konkretion des Somatismus. Der Somatismus ist für ihn die einzige große Idee des 19. Jahrhunderts, die bis heute übrig und noch lebendig geblieben ist. Sloterdijks Buch ist ein Lob der Disziplin und Askese im Sport. Für Sloterdijk kam es seit 1900 zu einem explodierenden Sportkult, der eine »überragende geistesgeschichtliche« – besser ethik- und askesegeschichtliche – Bedeutung aufweist, weil sich im Sport ein epochaler Akzentwandel im Übungsverhalten manifestiert. Es kommt zu einer »Entspiritualisierung der Askesen«. Vergleicht er die großen Ideen des 19. Jahrhunderts, den Sozialismus und den Somatismus, so ist es nur der letztere, der sich seiner Meinung nach hat durchsetzen können und er geht davon aus, dass das 21. Jahrhundert von diesem Somatismus intensiver denn je geprägt sein wird. Sloterdijk vertritt die Auffassung, dass Coubertin in Bezug auf seine religiöse Idee des Olympismus gescheitert sei.27 Der Olympismus ist seiner Auffassung nach keine Religion, sondern die umfassendste Organisationsform für menschliches Anstrengungs- und Übungsverhalten. Für Sloterdijk wurde mit dem Olympismus ein moderner und äußerst erfolgreicher asketischer Kult gegründet.28 Die
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Kultur des Wettbewerbs im Sport
sich dadurch aus, dass diese Sportereignisse meist manipulierte Ereignisse sind und nicht selten auch die Sieger bestimmten Absprachen unterliegen. Doch nicht nur die sportliche Leistung selbst und der Wettbewerb und damit die Kultur des Wettbewerbs werden manipuliert und unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten in Frage gestellt. Manipulation fi ndet sich auch in den Organisationen des Sports, wenn die Frage zu beantworten ist, wer in den Organisationen des Sports über Macht verfügt, und welche Vorteile diese Macht den Beteiligten bringen wird. Angesichts der umfassenden Aufwertung des internationalen Wettkampfsports konnte und kann es nicht überraschen, dass vermehrt Repräsentanten außerhalb des Sports ihr Interesse für die Machtpositionen innerhalb des Systems des Sports artikulieren. Genau diese Art von Machtübernahme durch Externe ist schon seit längerer Zeit in immer mehr internationalen Sportverbänden zu beobachten. Ausgelöst wurde dieser Prozess durch machtbewusste europäische Sportführer, die im eigenen Interesse das angeblich demokratische Prinzip one vote, one country in die Wahlverfahren der internationalen Sportorganisationen eingeführt haben, um auf diese Weise die vielen jungen Nationen mit ihren Stimmen an sich zu binden.25 Dieser Prozess der Entdemokratisierung ist derzeit voll im Gange. Die Wettbewerbskultur des Sports wird dabei zukünft ig von einem neuen Führungspersonal geprägt sein, das vermutlich unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten weit weniger zuverlässig sein wird, als dies bereits in der Vergangenheit zumindest in einigen Situationen der Fall war.
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Olympische Bewegung ist für ihn eine »Organisation zur Stimulierung, Lenkung, Betreuung und Bewirtschaftung primär stolz und ergeizhafter, an zweiter Stelle erotischer, gierhafter, libidinöser Energien«. Zu diesem Apparat gehören auch die Funktionäre. Sie sieht er als die unentbehrlichen Parasiten des Sports. Sie tragen mit dazu bei, dass ein »goldenes Zeitalter« anbrechen konnte, weil die Olympische Bewegung das wichtigste aller Organisationsgeheimnisse beachtet: »So viele Funktionen und Ehrenämter schaffen wie möglich, um die thymotische Mobilisierung und pragmatische Bindung der Mitglieder an die erhabene Sache zu garantieren«. Für Sloterdijk ist die Moderne die Ära der Neureichen und Neuwichtigen und genau dies hat seiner Meinung nach Coubertin begriffen. Der Sport steht dabei im Mittelpunkt einer »Lebensübungslehre«. Dabei geht es ihm aus naheliegenden Gründen nicht nur um den Sport. Der Sport steht als modernes Symbol für eine Kultur des Übens, Trainierens, der Anstrengung und Leistung. Die damit verbundenen Werte möchte Sloterdijk neu legitimieren und rehabilitieren. Jene, die den Sport als Religion betrachten möchten, haben dabei mit seiner bissigen Kritik zu rechnen. Doch nicht nur jene Ideologen verstellen den Blick auf die von ihm geforderte Lebensübungslehre. Er sieht eine Barbarei der Popularkultur und meint dabei vor allem die Massenmedien mit ihrem »Messianismus der Unbildung«. Er zielt damit aber auch auf die Leistungskritik der sechziger und siebziger Jahre. Für Sloterdijk gehören Sport und Philosophie eng zusammen. Philosophen und Athleten sind »Freunde der Belastung«. Seine Apologetik zu Gunsten des Sports gipfelt im Entwurf einer neuen Universität, die sich in 13 Disziplinen zu gliedern hätte. Die beiden ersten und wichtigsten Disziplinen sind dabei die »Akrobatik und Ästhetik sowie die Athletik (allgemeine Sportartenkunde)«.29 Aus der Sicht eines Sportwissenschaft lers kann man sich vielleicht darüber freuen; realistisch und angemessen scheint diese Prioritätensetzung jedoch nicht zu sein. Zu Gunsten von Sloterdijk sei jedoch erwähnt, dass er den Sport durchaus auch in seinem derzeit vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung erkennt. Das folgende Zitat bringt dies eindrucksvoll zum Ausdruck: Entweder fungiert der Sportler weiterhin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze zum Unmöglichen Schritte nach vorne zu tun – mit unabsehbaren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schöne Schauspiel einlassen – oder er geht den schon jetzt vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten überschütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt. 30 Immerhin ist damit Sloterdijks »Lob des Sports« etwas provokanter als die literaturwissenschaft lichen Versuche von Hans-Ulrich Gumbrecht, dem es in seinem populistisch vorgetragenen Essay ausschließlich um dessen ideologische Erhöhung über den Sport gegangen ist. Dem Sport ist es ohne Zweifel gelungen, ein bedeutsamer Inhalt unserer Alltagskultur zu sein. Dabei ist sein Bereich, den er in unserer Kultur für sich beanspruchen kann, zunehmend unübersehbar geworden. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten zur Kultur, Musik, Kunst und nicht zuletzt auch zur Wirtschaft skultur. Dennoch ist der Sport gerade unter kulturellen Gesichtspunkten etwas Besonderes. Das was er sein möchte, ist in expliziten Regeln festgelegt und für das, was in der Kultur des
Literaturverzeichnis
H. Bausinger, Sportkultur, Tübingen 2006. R. Bertsch, Peter Bajus – der Schnellläufer, Darmstadt o. J. P. de Coubertin, L´éducation des adolescents au xxe siècle. III: Éducation morale. Le respect mutuel, Paris 1915. H. Digel, »Über den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit und Sport«, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.), Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress »Menschen im Sport 2000«, Schorndorf 1986, S. 14–43. H. Digel, »Die Versportlichung unserer Kultur und deren Folgen für den Sport – ein Beitrag zur Uneinheitlichkeit des Sports«, in: H. Gabler, U. Göhner (Hgg.), Für einen besseren Sport. Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaft . Ommo Gruppe zum 60. Geburtstag, Schorndorf 1990, S. 73–96. H. Digel, »Warum Doping niemals erlaubt sein darf«, Olympisches Feuer 46 (1996), S. 28–31. H. Digel, »Der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung«, Olympisches Feuer 57 (2007), S. 2–13. H. Digel, M. Fahrner, »Hospitality Marketing im Sport«, in: G. Nufer, A. Bühler (Hgg.), Management und Marketing im Sport. Betriebswirtschaft liche Grundlagen und Anwendungen der Sportökonomie, Berlin 2008, S. 443–465. H. Digel, »Mit dem Ideal der Demokratie wird in den Weltsportorganisationen oft Schindluder betrieben«, Olympisches Feuer 59 (2009), S. 12–14. N. Elias, E. Dunning, Sport im Zivilisationsprozess, Berlin u.a. 1982. A. Fleig, Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin / New York 2008. H. Hamacher, Leichtathletik im 19. Jahrhundert. Geschichte und Statistik, Bd. , o.O. 2007. M. Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert. Sport für alle, Schorndorf 1993. S. Nielsen, Sport und Großstadt 1870 und 1930: komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern u.a. 2002. K. Planck, Fußlümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheit, Berlin u.a. 1898. P. Radford, The Celebrated Captain Barclay. Sport, Money and Fame in Regency Britain, London 2001. P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 1: Mikrosphäre: Blasen, Frankfurt a. M. 1998. P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 2: Makrosphäre: Globen, Frankfurt a. M. 1999. P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 3: Plurale Sphärologie: Schäume, Frankfurt a. M. 2004. P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009.
1 2 3 4 5
Vgl. N. Elias, E. Dunning, Sport im Zivilisationsprozess, Berlin u.a. 1982, S. 13. Vgl ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 9–46. Vgl. ebd., S. 20–27. P. Radford, The Celebrated Captain Barclay. Sport, Money and Fame in Regency Britain, London 2001, S. 16. 6 Vgl. ebd., S. 2f. 7 Vgl. R. Bertsch, Peter Bajus – der Schnellläufer, Darmstadt o. J, S. 8–12.
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Kultur des Wettbewerbs im Sport
Sports als unerlaubt gilt, gibt es über Regeln definierte Sanktionen. Die Kodifizierung und die Qualität der schrift lich niedergelegten Vereinbarung können deshalb gerade unter kulturellen Gesichtspunkten als das besondere Merkmal des Sports herausgestellt werden.
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8 Vgl. A. Fleig, Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin / New York 2008, S. 8. 9 Vgl. ebd., S. 8–15. 10 Vgl. H. Hamacher, Leichtathletik im 19. Jahrhundert. Geschichte und Statistik, Bd. II, o. O. 2007, S. 26f. 11 Vgl. ebd., S. 43. 12 Zitiert nach H. Hamacher 2007, S. 34. 13 Vgl. N. Elias, E. Dunning 1982, S. 110–111. 14 Vgl. K. Planck, Fußlümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheit, Berlin u.a. 1898. 15 Vgl. M. Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert. Sport für alle, Schorndorf 1993, S. 60–67. 16 Vgl. P. de Coubertin, L´éducation des adolescents au xxe siècle. III: Éducation morale. Le respect mutuel, Paris 1915. 17 Vgl. H. Bausinger, Sportkultur, Tübingen 2006. 18 Vgl. S. Nielsen, Sport und Großstadt 1870 und 1930: komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern u.a. 2002. 19 Vgl. H. Digel, »Warum Doping niemals erlaubt sein darf«, Olympisches Feuer 46 (1996), S. 28–31. 20 Vgl. H. Digel 1996. 21 Vgl. H. Digel, »Die Versportlichung unserer Kultur und deren Folgen für den Sport – ein Beitrag zur Uneinheitlichkeit des Sports«, in H. Gabler, U. Göhner (Hgg.), Für einen besseren Sport. Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaft . Ommo Gruppe zum 60. Geburtstag, Schorndorf 1990, S. 73–96. 22 Vgl. H. Digel, »Über den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit und Sport«, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.), Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress »Menschen im Sport 2000«, Schorndorf 1986, S. 14–43, hier S. 39. 23 Vgl. H. Digel, M. Fahrner, »Hospitality Marketing im Sport«, in: G. Nufer, A. Bühler (Hgg.), Management und Marketing im Sport. Betriebswirtschaft liche Grundlagen und Anwendungen der Sportökonomie, Berlin 2008, S. 443–465. 24 Vgl. H. Digel, »Der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung«, Olympisches Feuer 57 (2007), S. 2–13, hier S. 12f. 25 Vgl. H. Digel, »Mit dem Ideal der Demokratie wird in den Weltsportorganisationen oft Schindluder betrieben«, Olympisches Feuer 59 (2009), S. 12–14. 26 Vgl. P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 1: Mikrosphäre: Blasen, Frankfurt a. M. 1998; P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 2: Makrosphäre: Globen, Frankfurt a. M. 1999; P. Sloterdijk, Sphären, Bd. 3: Plurale Sphärologie: Schäume, Frankfurt a. M. 2004. 27 Vgl. P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 133–151. 28 Vgl. ebd., S. 49–51. 29 Vgl. ebd., S. 246–249. 30 Ebd., S. 660.
Wir wollen um die Wette leben Wettbewerb ist eine Ar t Totschlagargument, dachte ich mir während der vergangenen Tagung – auf der Reichenau, als gegen Ende »Wettbewerb«, der »freie Wettbewerb«, von ein paar Teilnehmern nachgerade parasakral als Allheilmittel zukunftsweisend beschworen wurde. Die Frage, was das eigentlich ist, Wettbewerb, was man genau darunter verstehe, ob wir wirklich alle mehr oder weniger das Gleiche darunter verstehen, blieb damals unbeantwortet: deshalb die Tagung 2009, in der Villa Vigoni. Wettbewerb: Eine schöne Sache. Mehrere Individuen oder Institutionen tun dasselbe und konkurrieren miteinander. Konkurrenz ist Vergleich. Und Vergleich ist Orientierung. Ohne Vergleiche irren wir orientierungslos im All der Möglichkeiten. Aber ist das schon Wettbewerb? Meinen wir dasselbe? Wirklich? Ich denke: Nein. Vergleich ist per se zunächst wertfrei, geschieht um seiner selbst willen. Wettbewerb ist per definitionem nie zweckfrei. Zwecklos vielleicht, zweckfrei nie. Oft ist der Zweck: Spaß. Meist steckt mehr dahinter. Ist das, was die hysteroiden Bieter und Broker auf dem Parkett der Börsen vollführen, »Wettbewerb«? Oder nicht vielmehr eine staatlich legitimierte Form des Irrsinns im rationalen Gewand? Vermutlich. Wahrscheinlich. Seit das Dauervorführen von gestylten Wettbewerbs-Hypes und -Ritualen zum Ersatz kritischen Denkens verkommen ist, und so massiv ins Alltagsleben eingreift, wie dies gegenwärtig der Fall ist, ist es nicht nur legitim, als »Außenstehender« darüber zu urteilen. Es ist sogar notwendig. Im sich ständig in Bewegung befindlichen System der Werte, der Leitwerte, ist es gelungen, die Fetischierung des Wettbewerbs so voranzutreiben und in die Gehirne zu implantieren, dass sie wettbewerbs-süchtig geworden sind. Symptome der damit verbundenen Paranoia sind: O das Ranking-Syndrom O die Exzellenz-Wahnvorstellung O das Top-Down-Symptom als Synonym für die Kopplung von steiler Hierarchie und flachem Denken. Auch im eigenen Bereich, dem der Universität: Man lacht und macht mit. Was ist »Ranking«? Trophäensaal oder Abstellkammer? Eins, zwei, drei – die Infantilisierung des Denkens aus dem Geist der Punktvergabe – ein Armutszeugnis. Jeder weiß, im Regelfall sagt es so gut wie nichts über die Wirklichkeit des jeweiligen Phänomens aus – doch kaum einer wird zögern, die neuesten »Daten«, wenn es hart auf hart geht, auf den Tisch zu legen. Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich gibt und gab es seit je Datenerhebungen und Statistiken mehr oder weniger sinnvoller Art. Mir geht es um etwas Anderes: die Verwandlung von Zahlenspielerei in Magie. Von Quantifizierung in Idolatrie.
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Wir wollen um die Wette leben
JÜRGEN WERTHEIMER
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Am Anfang der Kultur steht das Wort. Am Anfang ihrer Preisgabe steht sein Verlust in Gestalt eines universellen »Multiple Choice«-Analphabetismus als PC-tauglicher »Sprache«. Nein, dies ist nicht der Beginn einer Klagerede über den Verlust des Abendlands… Und ich bin mir der Gefahr bewusst, mich hier als hoff nungslos weltfremder Traditionalist zu outen. Ich weiß, man wird abwinken und sagen, kruder Zahlenfetischismus sei mit »Wettbewerb« nicht gemeint. Wettbewerb sei hoch differenziertes freies Spiel der Kräfte, sei ausdifferenzierte Profi lierung von Individualität im gesellschaft lichen Kontext. Ich bin sicher, man wird nicht zögern, sogar das Florenz der Renaissance als Beleg für den mit dem Prinzip des Wettbewerbs, der durch Verdichtung entstehenden Konkurrenz anzuführen: Michelangelo an sich sei gut. Michelangelo im Wettbewerb mit Leonardo, Raffael und auf dem Hintergrund von Giotto, Dante etc. führe zu einer Explosion an Kreativität, schaffe aus der Dynamik der wechselseitigen Konkurrenz ästhetischen Mehrwert. Ein Blick genügt, um die Unhaltbarkeit, jedenfalls Begrenztheit dieser Vorstellung nachzuweisen. Beziehungsweise einzusehen, dass die schlichte Vorstellung des »Wettbewerbs« für ein Szenarium dieser Art weitgehend überfordert ist. Braunfels nennt folgende Faktoren für das »Phänomen Florenz« – und diese haben zunächst viel mit Politik, wenig mit Konkurrenz zu tun. O Kommunale Verdichtung O Ökonomische Autonomie O Urbane Kommunikation O Symbolische Repräsentation O Politische Abgrenzung Abgrenzung gegen wen? Gegen andere mächtige Kommunen – also doch: Am Anfang der Höchstleistung steht die Konkurrenz? Am Anfang der Leistung steht die Deckelung, die Gleichmacherei? Sie sehen mich auch ohne Respondenten bereits im Kampf »Ich gegen Ich«. Und der Ausgang ist ungewiss. Noch. Die Argumentation verwirrend. Führt nicht gerade der freie, auf Vergleichbarkeit der Produkte angelegte Markt zur nivellierenden Standardisierung? Logischerweise ja. Doch die Ideologie der Gerechtigkeit, wenn man so will, die Ideologie der Demokratie, tut das auch. Jede gesellschaft liche Vereinbarung bewirkt eine solche Angleichung kulturspezifi scher Art. Entsteht Markt aus der wettbewerbsorientierten, ja determinierten Natur des biologischen Programms »Mensch« oder entsteht Wettbewerb aus soziologischen Konstellationen dessen, was man Markt nennt? Ist Wettbewerb nur die ins Humane übertragene Variante der reflexartigen, verhaltensdeterministisch grundierten biologischen Konstante der Hierarchiebildung, des artspezifischen Dominanzverhaltens? Vieles spricht dafür. Aus Menschenopfer wurde »Drama«. Aus Brunftkämpfen wurde »Markt«, getarnt als urbane Kultur. Nein, ich will nicht die hehre Idee der »Kultur« vom grausamen Zugriff gieriger Marktmechanismen retten. Ich suche vielmehr nach dem Muster, das es erlaubt, im »Wettbewerb« selbst jene Leistung zu entdecken, die es erlaubt, von einer »Kultur« zu sprechen.
Es schlug ein Uhr, die Glocke kündigte die Eröff nung des Börsenmarktes an. Es sollte eine denkwürdige Börse werden, einer dieser großen schwarzen Tage, einer der seltenen durch die Hausse verursachten Börsenkrachs legendären Angedenkens. In der drückenden Hitze fielen die Kurse anfänglich noch weiter. Gleich dem leichten Vorgeplänkel am Beginn einer Schlacht gab es dann aber vereinzelte Käufe, die Staunen erregten. Aber bei dem allgemeinen Mißtrauen wollten die Geschäfte trotzdem nicht recht in Gang kommen. […] Da ging ein Beben, ein Aufbranden durch die Menge, ohne daß sich in der Verwirrung dieses unerklärlichen Umschwungs jemand herausgewagt hätte. Die Kurse waren leicht gestiegen; […] Und in dieser Minute, Viertel vor zwei, schlug es wie der Blitz mitten in die Börse ein: Österreich trat Venetien an den Kaiser ab, der Krieg war zu Ende. Woher stammte diese Nachricht? Niemand wußte es, sie kam aus jedem Munde zugleich, selbst aus den Pflastersteinen. Irgend jemand hatte sie mitgebracht, und alle wiederholten sie in einem Geschrei, das wie eine Sturmflut brausend anschwoll. In rasenden Sprüngen kletterten die Kurse nach oben. […] Es gab ein unvorstellbares Kampfgetümmel, eine dieser verworrenen Schlachten, in denen alle, Soldaten und Hauptleute, drauflosschlagen, um ihre Haut zu retten, betäubt und geblendet, ohne ein klares Bild von der Lage zu haben. Von den Stirnen rann der Schweiß; die unbarmherzige Sonne, die auf die Stufen niederbrannte, tauchte die Börse in den Flammenschein einer Feuersbrunst. Und als man bei der Liquidation das Unheil abschätzen konnte, schien es unermeßlich. Das Schlachtfeld war mit Verwundeten und Ruinen übersät. […] Und vor allem die Hochfinanz, die jüdischen Bankiers hatten eine schreckliche Niederlage erlitten, ein wahres Massaker. […] Da waren außergewöhnliche Umstände im Spiel gewesen, die in ihrem Zusammenwirken die großen Schicksalsschläge hervorrufen. Ein unvorhergesehener, unsinniger Zusammenbruch, der außerhalb jeder Vernunft und Logik lag. Indessen wurde die Geschichte ruchbar, Saccard avancierte zum großen Mann. Und wie ein Croupier hatte er mit einem einzigen Zug seines Rechens fast das gesamte, von den Baissiers verlorene Geld zusammengerafft.1
Nebenschauplätze werden zur Hauptsache. Aus dem Mehrwert, dem Erwerb wird das Credo. Sex und Geld werden zu den treibenden Triebkräften der Gesellschaft. Der Bürger als Jäger wird zur karikaturreifen Signatur einer Epoche, als deren Endmoräne auch wir noch weiterdümpeln. Sei es in Gestalt eines Wettbewerbs der Klassen, sei es als Schauplatz eines Wettspiels, in dem ein Ich auf sich selbst wettet. Im 19. Jahrhundert war alles noch so übersichtlich geordnet. Es gab einen Ort für kleine oder auch keine, jedenfalls im Keim erstickte Gefühle: den Raum der Familie, das dedans. Und es gab die öffentlichen Räume, in denen die großen Gefühle statt-
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Wir wollen um die Wette leben
Nehmen wir also an, im Konzept des Wettbewerbs sei die sublimierte Form des Kräftemessens, der Überwindung des Rivalen mit dem Zweck des survivals gespeichert. Suchen wir nach Belegen hierfür, fi nden wir konzeptionell wenig im 16. und 17. Jahrhundert: Vasari, der Klassizismus – ein Nebeneinander. Ein Sich-Abarbeiten in Nachahmung. Ebenso wenig im 18. Jahrhundert: System, Prozess, Netzwerk dominieren das Denken. Viel jedoch im 19. Jahrhundert, wobei Darwin, Balzac und Zola als Repräsentanten einer kulturellen Stufe zu sehen sind.
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fanden und inszeniert wurden. Nicht mehr die Kirchen, sondern die Börse. Nicht die Ehe, sondern das Bordell. Nicht die Natur, sondern die Oper. Alexander Kluge spricht von »Kraft werken der Gefühle« und meint damit das auff ällige Phänomen der Etablierung, der Institutionalisierung, des Transfers, des »Outsourcing« von Privatgefühlen in sozusagen öffentliche Räume. Im bürgerlichen Kontext des 18. Jahrhunderts war die Repräsentation von Affekten noch genau umgekehrt kodiert gewesen: Nach außen war man kontrolliert, die »Contenance« war Gebot, nicht nur bei Knigge. Im Binnenraum der Seele, der Liebe, der Familie kamen die »großen«, die eigenen, innersten Gefühle zur Entfaltung. Wurde in der Sprache des »eigenen innersten Herzens« gesprochen. Mitte des 19. Jahrhunderts war das genaue Gegenteil eingetreten: Frost und Frust im familiären Kontext, Affekt-Explosion im »Dehors«. Reglosigkeit drinnen, kollektive Gemeinräusche draußen. Aristoteles hätte dieser Gefühlsinversion vermutlich mit gemischten Gefühlen zugesehen. Oder war das die Katharsis, die er gemeint hatte, als er davon sprach, man müsse eleos und phobos »loswerden«? Vielleicht ist ja das Outsourcing in die Arena die einzig zeitgemäße Antwort von heute auf das alte Dilemma. Mein Respondent wird voraussichtlich versuchen, die »Instanz des Wettbewerbers« in die Vision des »interessengeleiteten Akteurs« umzudefi nieren und – um das Bild weiterzuführen – die Vorstellung präferieren, Kultur als einen »heterogenen Werkzeugkasten« zu betrachten, den interessengeleitete Individuen oder Systeme mehr oder weniger geschickt handhaben: etwa in der Art »geregelter Konkurrenzen«, die es nur in der Welt des Spiels – bisweilen – noch gibt. Dennoch: Man sollte das Hantieren mit kulturellen Identitäten nicht allzu spielerisch und nicht allzu konzeptionalistisch betreiben, denn hinter jeder Identitätsmaske steht – ein Individuum. Dieses Individuum sähe ich ungern auf Dauer verwandelt in einen Wettbewerber als mythische Figur. Nicht so sehr aus Gründen der Moral, sondern der Ästhetik. Es muss einfach einmal gesagt werden: Das ewige Miteinander-Konkurrieren ist à la longue doch eine etwas schlichte Angelegenheit, ein recht eindimensionales Verhaltensschema. Ganz abgesehen davon, dass ich die Partei des jeweils Anderen notwendigerweise immer nur als zu Überbietendes, nie aber als etwas Faszinierendes erlebe. Der Wettbewerb als Inspirationsquelle ist so gesehen ein ziemlich trüber Brunnen – und das Wasser schmeckt etwas abgestanden. Insgesamt kann ich nur davor warnen, den Wettbewerb, das »Prinzip Wettbewerb«, als besonders kreatives Verfahren zu betrachten, um Fragen einer globalen Zukunft adäquat anzugehen. Mit einem Rezept aus der Fortschrittsküche des 19. Jahrhunderts wird dies sicher nicht gelingen. Denn es wird und darf nicht darum gehen, primitives Gewinndenken nach dem Schema eines »winning is not everything, it’s the only thing« weiterzumachen. Ökonomische Kämpfe als agonales Geschehen zu betreiben, ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Überwindung, die Übernahme des vermeintlich Schwächeren ist ineffizient wie letztlich sogar unökonomisch, vor allem aber unrealistisch, da viel zu grob strukturiert, um diffizilere Zusammenhänge zu erfassen. Die Welt besteht nicht einfach aus Konkurrenten, sondern aus vielen Gruppen und Kulturen, Ethnien und Milieus, die weder in einem partnerschaft lichen noch
1
É. Zola, Das Geld, (Ins Deutsche übertrag. von Wolfgang Günther nach der von Maurice Le Blond bes. Ges.Ausg.), München 1891 / 1977. 2 G. E. Lessing, Nathan der Weise, Stuttgart 1779 / 1998.
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Wir wollen um die Wette leben
in einem »gegnerschaft lichen« noch agonalen noch auch notwendigerweise konkurrierenden Verhältnis zueinander stehen. Sie sind einander weder gleich noch unbedingt different, sondern allenfalls »ähnlich«. Alle Kulturtheoretiker der Moderne, von Ilja Trojanow bis Anil Bhatti, Amartya Sen bis Homi K. Bhabha sind sich an diesem entscheidenden Punkt einig: Die globale Vernetzung der Diversität führt zu einer kreativen Verunreinigung aller Eindeutigkeit, zu kultureller und ökonomischer Durchmischung, zu ungeregelten Zonen und Rändern, in denen komplexe Interdependenzen verhandelt und gelebt werden. Nicht Wettbewerb, sondern Dialog und »Polylog«, das prozessuale Nebeneinander des Unterschiedlichen bestimmen Gegenwart und Zukunft : Trügerische Ähnlichkeiten gehören ebenso dazu wie verblüffende Gemeinsamkeiten. Übereinkünfte müssen ständig neu ausgehandelt werden. Und wenn schon »Wettbewerb«, dann als Inszenierung, als gekonntes Spielen mit Ritualen des Wettbewerbs. Die Rückeroberung der Sprache als Medium dieses kompetitiv-spielerischen Sich-Miteinander-Verhaltens und Miteinander-Verhandelns findet überall statt: im Alltag, im Geschäftsverkehr, in der Politik, in Deutschland, Europa, der Welt. Die jüngsten Ereignisse in den arabischen Ländern sind hierfür ebenso Beleg wie das zähe Verhandeln um »Stuttgart 21«. Alles ermutigende Versuche, sich endlich aus den archaischen Umklammerungen des Kompetitions-Schemas zu befreien und neue Formen der gesellschaft lichen Interaktion zu erproben. In Lessings Nathan der Weise ist nicht von einem Wettbewerb der Religionen die Rede, sondern davon, dass man ab jetzt »um die Wette leben« wolle. 2 Eine bessere Neudefinition dessen, was als »Wettbewerbskonzept 21« defi niert werden könnte, lässt sich schwerlich finden.
Wettbewerb in den Medien Medienmärkte und Medienprodukte weisen im Vergleich zu anderen Branchen Besonderheiten auf. Ein grundlegendes Spezifi kum hierbei ist ihr Doppelcharakter. Medien sind einerseits Elemente eines ökonomischen Systems, wodurch die Kultur des Wettbewerbs für diesen Sektor ein relevanter Aspekt ist. Je nachdem wie diese Wettbewerbskultur konfiguriert und ausgeprägt ist, beeinflusst sie das Geschehen und den Output im Medienbereich. Medien sind andererseits Institutionen im publizistischen und gesellschaftspolitischen Bereich und damit im Dienste der Öffentlichkeit. Sie spiegeln und prägen die unterschiedlichen Kulturen einer Gesellschaft bzw. die Differenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften. Aus dieser Perspektive gewinnt der Wettbewerb der Kulturen für den Medienbereich als Gestalter und als Ausdruck dessen an Relevanz. Diese beiden Blickpunkte zeigen, dass im Medienbereich zwei unterschiedliche Wissenschaftsbereiche aufeinandertreffen, und implizieren die Frage, wie die Zielsetzungen dieser beiden Wissenschaftskulturen zueinander stehen. Um sich hier einer Antwort zu nähern, ist die Analyse gedanklich in zwei Bereiche aufzusplitten: Einerseits ist zu fragen, ob der Wettbewerb funktioniert und zu welchem Ergebnis die Konfiguration und Ausprägung der Kultur des Wettbewerbs im Medienbereich führt. Dies impliziert, dass hier nur die privatwirtschaft liche Seite der Medienunternehmen analysiert wird. Auf der Basis dieses Teilergebnisses ist dann andererseits zu entscheiden, inwiefern dieses Ergebnis für den publizistischen Bereich akzeptabel ist. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich der Wettbewerb der ökonomischen und publizistischen Kulturen im Medienbereich als ein System gegenläufiger Kräfte, das Prioritäten und unter Umständen Korrekturen des Wettbewerbsergebnisses verlangt, oder als ein sich ergänzendes System begreifen.
1. Medien als Kultur- und Wirtschaftsgut – zwei Systeme im Widerspruch? Der Medienbereich lässt sich im ökonomischen und publizistischen System durch einige wichtige Kriterien (Güterart, Zielgruppe, Sanktionssystem, Ziele, Zielhierarchie und Art des Wettbewerbs) differenziert charakterisieren. Insbesondere die Ziele Effizienz und Rentabilität (Formalziele) stehen den Zielen Information, Aufk lärung, demokratische Kontrolle und Unterhaltung (Sachziele) gegenüber. Sie führen zur Dominanz der Formalziele im ökonomischen sowie zur Dominanz der Sachziele im publizistischen Bereich. Darüber hinaus ist das Sanktionssystem bei Nichtbeachtung der Nachfragebedürfnisse im ökonomischen System stark und schlägt sich bei den Erfolgsfaktoren Effi zienz und Rentabilität deutlich nieder. Hingegen ist im publizistischen Bereich aufgrund von Meinungs- und Pressefreiheit das Sanktionssystem bewusst und zwingend schwach ausgeprägt.
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Wettbewerb in den Medien
ANDREA BEYER
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Abb. 1: Medien im ökonomischen und publizistischen System
Wirtschaft
Publizistik
Sachgüter und Dienstleistungen
Öffentliche Meinung Information, Diskussion
Effizienz, Rentabilität
Aufklärung Demokratische Kontrolle
Rezipient und Werbekunde
Rezipient als Bürger
Starkes Sanktionssystem
Schwaches Sanktionssystem
Dominanz des Formalziels
Dominanz des Sachziels
Ökonomischer Wettbewerb
Publizistischer Wettbewerb
Quelle: In Anlehnung an M. Kiefer, »Ökonomisierung der Medienbranche – Herausforderungen für die Publizistikwissenschaft und die Medienpolitik«, in: E. Schade (Hrsg.), Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation, Konstanz 2005; M. Kiefer, Medienökonomik, 2. Aufl., München, Wien 2005.
Der ökonomische Wettbewerb hat im Vergleich zum publizistischen Wettbewerb folgerichtig ebenfalls andere Ausprägungen: Während es sich im ökonomischen System vor allem um das Rivalisieren um Geschäftsabschlüsse handelt, lässt sich publizistischer Wettbewerb durch die Auswahl der Themen sowie der dazugehörigen Recherche und Aufbereitung charakterisieren. Größen für die Konkretisierung des Wettbewerbs im ökonomischen System sind dabei bspw. Marktanteile, Umsatz oder Absatz, während im publizistischen Sinne Indikatoren wie Ausgewogenheit, Vielfalt und Relevanz zur Analyse herangezogen werden. Die Beziehungen zwischen dem publizistischen und dem ökonomischen Wettbewerb sind nicht eindeutig: Ist die Voraussetzung für publizistischen Wettbewerb einerseits die ökonomische Sicherung des Unternehmens, ist diese aber wiederum von der Nachfrage nach dem Produkt und der Akzeptanz der Leistung im publizistischen Wettbewerb abhängig. So stimmt sowohl, dass der publizistische Erfolg über den wirtschaft lichen Erfolg entscheidet als auch, dass der ökonomische Erfolg zentrale Voraussetzung für den publizistischen ist. Ursache und Wirkung werden unterschiedlich gesehen – ökonomisches und publizistisches System stehen aber in jedem Falle zueinander in einer Wechselbeziehung. Innerhalb dieser Verbindung ist es die Aufgabe der Ökonomie, den Wettbewerb im Medienbereich sicherzustellen bzw. Markt- oder Wettbewerbsversagen durch spezielle Eingriffe zu kompensieren. Inwiefern der Wettbewerb im Medienbereich funktioniert und von ökonomischer Seite erwünschte Voraussetzungen vorliegen, um der Vielfalt im publizistischen Bereich förderlich zu sein,1 ist deshalb Fragestellung der folgenden grundsätzlichen Analyse, der eine empirische Überprüfung folgt.
2.1. Medien und öffentliche Güter Medienprodukte sind nach Meinung vieler Medienökonomen öffentliche Güter.2 Diese sind geprägt durch gleichzeitiges Vorliegen von Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum. Die Nicht-Ausschließbarkeit liegt aber in den seltensten Fällen vor: Dies ist lediglich bei den Informationen selbst der Fall, nicht aber beim Angebot bzw. dem Vertrieb der Informationen durch die Medienunternehmen. Über eine Verschlüsselung von Sendungen, den Verkauf der Zeitung oder der Onlineinhalte lässt sich der Ausschluss vom Konsum und damit ein Marktangebot realisieren. Der Ausschluss ist dadurch technisch möglich, allerdings dann ökonomisch nicht sinnvoll, wenn durch den hohen Fixkostenanteil die damit einhergehenden Grenzkosten gering bzw. Null sind, was bei der Produktion von Mediengütern der Fall ist.3 Rivalität im Konsum lässt sich am ehesten noch bei Printprodukten im engeren Sinne belegen, da das Angebot in der Regel nur zu einer Zeit von einem Leser gelesen wird. Nicht-Rivalität im Konsum besteht hingegen bei digitalisiert vorhandenen Medienangeboten. Durch die kostenlose Reproduktion und die Nicht-Rivalität im Konsum resultiert hieraus das Problem des unerwünschten Sekundärmarktes, indem Informationen weitergeleitet oder eingesetzt werden, ohne dass der Zweitverwerter dafür zahlt. Das alleine führt zwar noch nicht zu Marktversagen, bringt jedoch Wettbewerbsprobleme mit sich. Deshalb ist hier die Ordnungspolitik, vor allem mit einem funktionierenden Urheberschutzrecht gefordert.4 2.2. Medien als Erfahrungs- und Vertrauensgüter Das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt führt zu einem optimalen Ergebnis, wenn beide Bereiche ausreichende und symmetrische Informationen über die Gütereigenschaften besitzen. Im Medienbereich wird oft davon ausgegangen, dass diese Symmetrie nicht vorliegt und deshalb der Markt nicht für ein mögliches Qualitätsangebot sorgt. Die Argumentation, die im Ergebnis zu einem Marktversagen führt, basiert auf folgenden Wirkungsketten: Mediengüter sind insoweit Erfahrungsgüter als der Rezipient vor dem Kauf die Information nicht kennt, da er sie sonst ja nicht erwerben würde. Nach dem Kauf ist für ihn die Qualität des Produktes hingegen nur relativ schwer nachprüfbar (Vertrauensgüter). Diese asymmetrische Informationssituation führt wiederum zu einer adversen Selektion: Die Rezipienten sind nicht bereit, für höhere Qualität mehr zu zahlen, da das Risiko besteht, dafür keine höhere Qualität zu erhalten. Auf der Anbieterseite geschieht das Gleiche. Die Anbieter kommen nicht mit der möglichen Qualität auf den Markt, da das Risiko besteht, dass die
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Wettbewerb in den Medien
2. Besonderheiten der Medienprodukte – Schlechte Voraussetzungen für den Wettbewerb? Abgesehen von dem dualen Charakter der Medien existieren noch eine Reihe anderer wichtiger Besonderheiten. Sie werden herangezogen, um ein mögliches Markt- und damit Wettbewerbsversagen zu prüfen bzw. um denkbare Wettbewerbsprobleme zu identifizieren.
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Rezipienten diese nicht erkennen und nicht entsprechend honorieren. Auf diese Weise verbleiben nur noch Angebote mit niedriger Qualität.5 Allerdings existieren ebenso Argumente gegen diese Wirkungskette: Wiederholte Konsumakte und mögliche Vergleiche zwischen den Medienangeboten führen auf Rezipientenseite zu einer durchaus vorhandenen Einschätzung und Beurteilung der Angebote.6 Das Wissen der Anbieter um die möglichen Informationslücken führt darüber hinaus zu einem signalling, um die Gütereigenschaften darzulegen und den erworbenen Glaubwürdigkeits- und Qualitätsbonus zu sichern. Auch die Konkurrentenkontrolle trägt zu einem Qualitätsstreben bei, wenn Fehler im Lichte der Konkurrenzöffentlichkeit thematisiert werden.7 Preise und Auszeichnungen durch unabhängige Institutionen tragen des Weiteren zu einer verbesserten Qualitätseinschätzung bei.8 Auch die Aktivitäten zur Verbesserung der Medienkompetenz reduzieren die Asymmetrie der Informationssituation. In gleicher Richtung könnte auch der vielfach diskutierte Medientest ähnlich der der Stiftung Warentest wirken.9 Das vorhandene Maß an asymmetrischer Information ist zwar noch weiter zu reduzieren, lässt sich so aber auch in anderen Branchen finden und ist nicht groß genug, um damit ein Markt- und Wettbewerbsversagen im Medienbereich zu begründen.
2.3. Medien und externe Effekte Allgemein handelt es sich bei externen Effekten um Einflüsse einer Wirtschaftseinheit auf andere, die nicht über den Markt ausgeglichen werden. Da die Kosten nicht von dem Verursacher getragen und die Vorteile nicht von dem Nutznießer bezahlt werden, ist die optimale Allokation und damit das Funktionieren des Marktmechanismus nicht gewährleistet. Die Argumentation, die aufgrund externer Effekte in einem Markt- und Wettbewerbsversagen im Medienbereich mündet, basiert auf folgenden Wirkungsannahmen: Medienunternehmen produzieren positive externe Effekte, indem sie die demokratische Kultur fördern und im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe Bildung und Informationsstand verbessern. Diese Effekte beziehen Rezipienten nicht bei ihren Konsumentscheidungen ein, so dass sie nicht über den Markt vergütet werden und damit die optimale Allokation verhindern. Ebenso verhält es sich bei den negativen externen Effekten. Die möglichen schädlichen Wirkungen auf Gesundheit, Gewaltbereitschaft oder die ökonomischen und persönlichen Auswirkungen der Berichterstattung oder Filminhalte werden nicht den Medienunternehmen zugerechnet.10 Zu dieser Argumentation existieren aber auch Einwände: Die positiven Effekte durch das Medienangebot werden zu einem Teil von den Rezipienten honoriert bzw. internalisiert. Das lässt sich insbesondere dadurch begründen, dass mit qualitativ guten Informationen bessere Einkommensmöglichkeiten bestehen und ein generelles Wohlbefinden in der gesellschaft lichen Position und Aktion vorhanden ist.11 Darüber hinaus besitzen Medienunternehmen nicht nur besondere Pflichten aufgrund ihrer öffentlichen Aufgabe, sondern auch besondere Rechte. Diese Sonderbehandlungen / Vergünstigungen können wiederum als eine Teilkompensation
2.4. Medien und Größenvorteile In mehrfacher Hinsicht bestehen bei Medienproduktion und Medienangebot Größenvorteile, die eine Konzentration und damit das Entstehen marktbeherrschender Unternehmen begünstigen bzw. den Wettbewerb einschränken können: Bei der Medienproduktion entsteht ein hoher Anteil von Fixkosten. Das sind jene Kosten, die unabhängig von der Auflage, der Zuschauerzahl oder den pageimpressions sind. Hierbei handelt es sich vor allem um die personelle und materielle Infrastruktur in Medienunternehmen, die einen hohen Anteil an den Kosten der Urkopie / first copy costs ausmachen. Diese Situation führt zu einem Anreiz, die Produktion stark auszuweiten, um damit in den Genuss der Fixkostendegression zu kommen: Bei steigender Produktion sinken die Stückkosten und lassen damit geringere Preise zu. Im Extremfall führt dies zu einem Monopol, da ein Anbieter den Markt am kostengünstigsten versorgen kann. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man durch die Betrachtung der Grenzkosten, den zusätzlichen Kosten, die bei einem weiteren Rezipienten entstehen. Sie sind bei hohen Fixkosten gering und stellen damit einen Anreiz zur Mehrfachverwertung dar.12 Eine Tendenz zur Konzentration ergibt sich auch durch die Spiralwirkung bei einer einmal in Gang gesetzten Reichweitenerhöhung: Durch die Reichweitensteigerung erhöht sich die Attraktivität des Mediums als Werbeträger. Dadurch ergibt sich eine Werbeerlössteigerung durch den Mengen- oder Preiseffekt, die wiederum in eine verbesserte materielle oder personelle Infrastruktur investiert werden kann. Die positiven Effekte hieraus schlagen sich in einem verbesserten Angebot und damit in einer weiteren Attraktivitätssteigerung des Werbeträgers nieder.13 Auf diese Weise besteht die Gefahr zur Entwicklung großer marktbeherrschender Unternehmen. Zusätzlich zu den Größenvorteilen auf der Angebotsseite treten diese bei Netzwerkprodukten auch auf der Nachfragerseite auf und begünstigen durch Netzwerkeffekte wiederum die Konzentration auf der Angebotsseite. Bei direkten Netzeffekten steigt der Wert eines Netzwerkes mit der Zahl seiner Nutzer (z.B. Telefon, Internet und Auktionsplattformen) exponentiell.14 Daraus resultiert das unternehmerische Bestreben bei Netzwerkprodukten, schnell eine hohe Nachfrage aufzubauen: Das Produkt gewinnt damit immer mehr an Attraktivität und die Skaleneffekte auf der Kostenseite können zusätzlich wirken. Schädlich für das Marktergebnis kann darüber hinaus auch die Tatsache sein, dass sich nicht immer das technisch und ökonomisch beste Konzept durchsetzt. Der Argumentation für eine spezifische Konzentrationstendenz im Medienbereich stehen aber wiederum einige abschwächende Begründungen entgegen: Technischer Fortschritt vermindert den Anteil der Fixkosten und damit die Effekte der Fixkostendegression. Die Fragmentarisierung auf dem Rezipientenmarkt, ausgelöst durch ein verbreitertes Medienangebot im Zuge der Digitalisierung, führt zu einer differenzierten
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für ihre externen Effekte angesehen werden. Die möglichen negativen Effekte sollten durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen wie bspw. das Jugendschutzgesetz oder die Persönlichkeitsrechte begrenzt sein.
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Bearbeitung der Absatzsegmente und damit zu einem differenzierten Medienangebot, wodurch wiederum zusätzliche Kosten für die entsprechende Bearbeitung anfallen und sich die Größenvorteile relativieren.15 »Auf dem Medienmarkt ist Produktdifferenzierung allgegenwärtig«.16 Allerdings kann der Wettbewerb auf Konzernebene beeinträchtigt sein, indem durch spezielle Angebote unter einem Dach die einzelnen Segmente differenziert bearbeitet werden (Senderfamilien, Multimediakonzerne, Printkonzerne), sich damit aber die publizistische Vielfalt vermindert.17 Darüber hinaus müssen sich große Unternehmen an der Mitte orientieren18 und eröff nen damit an den Rändern Möglichkeiten für Nischenanbieter. Dies zeigt, dass es nicht nur auf die quantitative, sondern auch auf die qualitative Reichweite ankommt, die nicht die Menge, sondern die Verringerung der Streuverluste bezüglich der Zielgruppe in den Vordergrund stellt.19 Bei journalistischen Angeboten besitzen Netzeffekte kaum Relevanz. Dies gilt höchstens für Rubrikenanzeigen im Printbereich.
3. Marktanalyse – Wettbewerb trotz Konzentration? Die allgemeine Analyse zum Wettbewerb im Medienbereich kam zwar zu dem Ergebnis, dass kein Marktversagen vorliegt, dass aber durch einige Besonderheiten Wettbewerbsprobleme vorhanden sind. Sie sind vor allem durch den hohen Fixkostenanteil und die Werbevolumen-Reichweite gegeben, begünstigen Konzentrationstendenzen und das Entstehen marktbeherrschender Unternehmen. Das Gleiche gilt insbesondere für zielgruppenspezifische Angebote im Konzernverbund. Die NichtRivalität im Konsum bei digitalisiert vorhandenen Medienprodukten führt darüber hinaus zu Problemen im Hinblick auf einen unerwünschten Sekundärmarkt und die Umgehung des Urheberschutzes. Bei Existenz von Netzwerkprodukten besteht ebenfalls die Gefahr von marktbeherrschenden Unternehmen. Die nachfolgende Analyse soll nun zeigen, welche Indikatoren für den ökonomischen und publizistischen Wettbewerb vorhanden sind und zu welchen Ergebnissen die empirische Überprüfung dieser Indikatoren hinsichtlich Konzentration und Wettbewerb führt. 3.1. Marktstruktur und Wettbewerb im Fernsehbereich Kriterium für die ökonomische Konzentration / Vielfalt auf dem Fernsehmarkt sind die Zuschauermarktanteile; um die publizistische Konzentration / Vielfalt zu erfassen, wäre eine Inhaltsanalyse der Angebote notwendig. Aufgrund der verschiedenen Genres und der Menge der Angebote ist dies jedoch kaum leistbar. Als second-best-Lösung wird daher ebenfalls der Zuschauermarktanteil herangezogen. Dieser Maßstab beruht auf dem Gedanken, dass bei Erreichen vieler Zuschauer durch die einem Veranstalter zurechenbaren Programme gleiche oder ähnliche Inhalte verbreitet werden.20
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Wettbewerb in den Medien
Abb. 2: Zuschauermarktanteile im Fernsehmarkt für 2011
Quelle: Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich, AGF / GfK-Fernsehforschung, kek-online.de
Wie ABBILDUNG 2 zeigt, ist die Konzentration im Fernsehmarkt relativ hoch. Es ergeben sich nach Zuordnung der Programme zu den einzelnen Veranstaltern drei große Gruppen, die faktisch den Fernsehmarkt unter sich aufteilen (öffentlich-rechtliche Veranstalter, RTL-Gruppe und Pro7Sat1-Gruppe). Die Größenvorteile dieser etablierten Anbieter und deren vertikale Verflechtungen sowie die Lizenzvergabe als institutionelle Eintrittsbarriere ergeben deshalb auf den ersten Blick wenig Anhaltspunkte für einen intensiven Wettbewerb. Trotz der Konzentration ist der ökonomische Wettbewerb jedoch relativ hoch. Hierfür sind vor allem das gesättigte Zeitbudget der Nachfrager, die veränderten Mediennutzungsmuster sowie neue Anbieter durch Handy- und Internet-TV verantwortlich, die zu einem Verdrängungswettbewerb führen.21 Hinzu kommen gesunkene Eintrittsbarrieren durch steigende Kapazitäten im Kabel- und Satellitenbereich. Dieses Ergebnis gilt zum Teil auch für den publizistischen Wettbewerb, der allerdings durch die Imitationen von Formaten im massenattraktiven Bereich etwas niedriger einzustufen ist.
3.2. Marktstruktur und Wettbewerb im Tageszeitungsbereich Kriterium für die ökonomische Konzentration im Tageszeitungsbereich sind einerseits die Marktanteile und andererseits die Ein- und Mehrzeitungskreise. Maßstab für die publizistische Konzentration / Vielfalt sind die publizistischen Einheiten (Vollredaktionen). Einer publizistischen Einheit werden alle Verlage als Herausgeber und Ausgaben zugeordnet, die in ihrem Mantel, d.h. in der Regel im allgemeinen politischen Teil, in wesentlichen Teilen übereinstimmen.
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Abb. 3: Konzentrationsgrad des Tageszeitungsmarktes (anteilige Auflage in %)
Tageszeitungen gesamt Marktanteil
2010
2008
2006
2004
43,7
44,8
41,3
41,6
32,3
33,9
29,0
28,8
98,0
96,1
97,3
95,1
der 5 größten Verlagsgruppen Abonnementzeitungen Marktanteil der 5 größten Verlagsgruppen Kaufzeitungen Marktanteil der 5 größten Verlagsgruppen
Quelle: H. Röper, »Zeitungen 2010: Rangverschiebungen unter den größten Verlagen«, MediaPerspektiven 5 (2010), S. 222. Abb. 4: Zeitungsdichte Jahr
Kreisfreie
Davon mit Zeitungsdichte
Städte / Kreise gesamt, abs. 1 abs.
in %
2 abs.
in %
3 abs.
in %
2004
439
256
58,3
154
35,1
18
2006
439
261
59,4
150
34,2
17
3,9
2008
413
239
57,9
145
35,1
19
4,6
Quelle: W. J. Schütz, »Deutsche Tagespresse 2008«, MediaPerspektiven 9 (2009), S. 475.
Im Tageszeitungsbereich lässt sich eine hohe ökonomische und publizistische Konzentration feststellen, die jedoch differenziert zu betrachten ist: Gemessen an den Marktanteilen ist die Konzentration im Bereich der Kaufzeitungen sehr hoch. Das erklärt sich durch die dominierende Stellung des Springerverlages mit der Kaufzeitung »Bild«. Bei den Tageszeitungen insgesamt und bei den Abonnementzeitungen ist die Konzentration 2008 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich angestiegen. Die Analyse der sogenannten Ein-Zeitungskreise zeigt für den Regionalzeitungsbereich eine deutliche Konzentration, da über die Hälfte der Kreise und kreisfreien Städte nur durch eine Zeitung versorgt wird. Die publizistische Konzentration lässt sich mit der Höhe der publizistischen Einheiten belegen, die im Vergleich der Jahre 2004, 2006 und 2008 kontinuierlich zugenommen hat, da die Zahl der publizistischen Einheiten abgenommen hat. Die aus dieser konzentrierten Marktstruktur resultierende Wettbewerbsintensität im ökonomischen und publizistischen Bereich ist ebenfalls differenziert zu sehen: Aufgrund der konjunkturellen und strukturellen Probleme bzw. der Sättigung des Marktes ist der Wettbewerb bei den überregionalen Tageszeitungen intensiv. Sie ist vergleichbar mit der Situation auf dem Fernsehmarkt, wenngleich die strukturellen Probleme der Tageszeitungen aufgrund des geänderten Mediennutzungsverhaltens noch höher sind als im Fernsehbereich. Der Wettbewerb bei den Regionalzeitungen
Abb. 5: Publizistische Marktanalyse des Zeitungsmarktes Jahr
Publizistische Einheiten
Verlage als Herausgeber
Ausgaben
2004
138
359
1538
2006
136
352
1524
2008
135
353
1515
2009
134
351
1511
2011
133
347
1509
Quelle: W. J. Schütz 2009, S. 455 und BDZV.
3.3. Marktstruktur und Wettbewerb im Internet Die ökonomische und publizistische Konzentration für den Internetbereich ist aufgrund der Angebotsvielfalt unübersichtlich und deshalb schwierig zu ermitteln. Datengrundlagen finden sich bei den Erhebungen der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V. (IVW) in Form von Visits und pageimpressions oder durch die Reichweitenberechnungen der Arbeitsgemeinschaft Onlineforschung e.V. (AGOF) sowie bei den Online-Panels von Nielsen und NetRatings. Abb. 6: Onlineabrufe von Nachrichten-Websites
In der zweiten Hälfte der MEEDIATop-50 gibt es immerhin vier weitere Visits-Gewinner: Die Westfälischen Nachrichten, der General-Anzeiger, die Hannoversche Allgemeine und die Schwäbische Zeitung legten allesamt immerhin um 0,8 bis 2,7 zu. Quelle: BDZV (Hrsg.): Zeitungen 2011/12, Berlin 2011, S. 500.
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Wettbewerb in den Medien
hingegen ist relativ niedrig bis gar nicht vorhanden. Das lässt sich durch die Monopolsituation in dem großen Anteil der Ein-Zeitungskreise begründen.
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Bezüglich der ökonomischen und publizistischen Vielfalt lassen die Aufrufe von Nachrichten-Websites erkennen, dass hier die etablierten Anbieter aus den »alten Medien« fast ausschließlich unter sich sind. Damit überträgt sich der festgestellte ökonomische Wettbewerb aus den klassischen Bereichen auch auf den Internetbereich, verstärkt sich jedoch noch durch die wettbewerbsfördernden Bedingungen im Internet. Hierzu zählen vor allem der leichte Marktzutritt und das Hinzutreten neuer Wettbewerber, die reagible Nachfrageseite aufgrund geringer Transaktionskosten, das große Angebot mit weltweiter Verfügbarkeit sowie das hohe Innovationstempo und die dadurch kürzeren Vorsprungsgewinne für Pioniere. Die publizistische Wettbewerbsintensität ist ebenfalls relativ hoch, da die medienspezifischen Möglichkeiten im Internet bezüglich Umfang und Präsentation den größten Spielraum bieten.22
4. Ökonomischer Wettbewerb – ausreichend für kulturelle Ansprüche? Die vorangegangene ökonomische Analyse hat gezeigt, dass es in der Medienbranche zwar einige Wettbewerbsprobleme gibt, dass aber der Markt insgesamt keinen Ausnahmebereich darstellt. Die empirische Analyse hat darüber hinaus gezeigt, dass zwar in fast allen Medienteilbereichen eine relativ konzentrierte Marktstruktur vorzufinden ist, dass aber die Wettbewerbsintensität wenig darunter leidet. Ob der ökonomisch vorhandene Wettbewerb aber die publizistische Vielfalt erbringt, die als wünschenswert angesehen wird, ist eine normative Frage, die die Diskussion in den Bereich der meritorischen Güter bewegt. Abb. 7: Medien im ökonomischen und publizistischen System
Ökonomische Analyse
Kulturelle Analyse
Ausreichender ökonomischer Wettbewerb in der Medienbranche liefert die nachgefragten Inhalte
Reichen die nachgefragten Inhalte auf dem Medienmarkt für kulturelle Ansprüche aus? – eine normative Diskussion!
G. A. Akerlof, »The Market for ›Lemons‹: Quality Uncertainty and the Market Mechanism«, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), S. 488–500. H. Beck, »Medienökonomie – Märkte, Besonderheiten und Wettbewerb«, in: C. Scholz (Hrsg.), Handbuch Medienmanagement, Berlin / Heidelberg 2006, S. 221–237. H. Beck, A. Beyer, »Brauchen wir öffentlich-rechtliche Medien?«, in: D. Wentzel (Hrsg.), Medienökonomik – Theoretische Grundlagen und ordnungspolitische Gestaltungsalternativen, Stuttgart 2009, S. 75–99. A. Beyer, P. Carl, Einführung in die Medienökonomie, 2. Aufl., Konstanz 2008. T. Breyer-Mayländer, A.Werner, Handbuch der Medienbetriebslehre, München / Wien 2003. D. Detering, Ökonomie der Medieninhalte, Münster 2001. M. Dietrich, Wettbewerb in Gegenwart von Netzwerkeff ekten, Frankfurt a. M. 2006. R. Dewenter, »Two-sided markets«, MedienWirtschaft 2 (2006), S. 57–62. K. Hickethier, »Spartenprogramme als Reaktion auf Publikumsfragmentarisierung?«, in: C.-M. Ridder et al. (Hgg.), Bausteine einer Theorie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Wiesbaden 2005, S. 311–322. E. Kettering, L. Köhler, »Die duale Rundfunkordnung als passende Regulierungsoption zur Korrektur des Marktversagens im Rundfunk«, MedienWirtschaft 3 (2009), S. 16–26. M. Kiefer, »Ökonomisierung der Medienbranche – Herausforderungen für die Publizistikwissenschaft und die Medienpolitik«, in: E. Schade (Hrsg.): Publizistikwissenschaft und öffentliche Kommunikation, Konstanz 2005. M. Kiefer, Medienökonomik, 2. Aufl., München, Wien 2005. Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich: kek-online.de., aufgerufen am 7.6.2011. M. Kops, »Brauchen wir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk?«, in: J. Kruse (Hrsg.), Ökonomische Perspektiven des Fernsehens, München 2000, S. 71–88. Monopolkommission, Hauptgutachten 2004 / 2005, Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor, Baden-Baden 2006. H. Röper, »Zeitungen 2010: Rangverschiebungen unter den größten Verlagen«, MediaPerspektiven 5 (2010), S. 218–234. Rundfunk und Fernsehen, 44. Jahrgang, Heft 2 (1996). W. J. Schütz, »Deutsche Tagespresse 2008«, MediaPerspektiven 9 (2009), S. 454–483. M. Schumann, A. Tzouvaras, »Qualitätsunsicherheit in der Medienindustrie«, WISU 2 (2004), S. 197–202. I. Sjurts, »Der Markt wird’s schon richten!?«, in: K.-D. Altmeppen, M. Karmasin (Hgg.), Medien und Ökonomie (Bd. 2: Problemfelder der Medienökonomie), Wiesbaden 2004, S. 159–181. I. Sjurts, Strategien in der Medienbranche, 3. Aufl., Wiesbaden 2005. B. W. Wirtz, Medien- und Internetmanagement, 5. Aufl., Wiesbaden 2006. Wissenschaft licher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Gutachten vom 18.11.1999, »Offene Medienordnung«, Medienspiegel 48 (1999), Dokumentation, S. 1–24.
1
Vgl. Wissenschaft licher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Gutachten vom 18.11.1999, »Offene Medienordnung«, Medienspiegel 48 (1999), S. 10. 2 Vgl. E. Kettering, L. Köhler, »Die duale Rundfunkordnung als passende Regulierungsoption zur Korrektur des Marktversagens im Rundfunk«, MedienWirtschaft 3 (2009), S. 17f. 3 Vgl. H. Beck, »Medienökonomie – Märkte, Besonderheiten und Wettbewerb«, in: C. Scholz (Hrsg.), Handbuch Medienmanagement, Berlin / Heidelberg 2006, S. 225f. 4 Vgl. A. Beyer, P. Carl, Einführung in die Medienökonomie, 2. Aufl., Konstanz 2008, S. 18; T. BreyerMayländer, A. Werner, Handbuch der Medienbetriebslehre, München / Wien 2003, S. 33.
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Literaturverzeichnis
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Vgl. G. A. Akerlof, »The Market for ›Lemons‹: Quality Uncertainty and the Market Mechanism«, Quarterly Journal of Economics 84 (1970), S. 488ff. 6 Vgl. H. Beck, A. Beyer, »Brauchen wir öffentlich-rechtliche Medien?«, in: D. Wentzel (Hrsg.), Medienökonomik – Theoretische Grundlagen und ordnungspolitische Gestaltungsalternativen, Stuttgart 2009, S. 79; Breyer-Mayländer, Werner, S. 35. 7 Vgl. Monopolkommission, Hauptgutachten 2004 / 2005, Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor, Baden-Baden 2006, S. 344. 8 Vgl. D. Detering, Ökonomie der Medieninhalte, Münster 2001, S. 18f.; M. Schumann, A. Tzouvaras, »Qualitätsunsicherheit in der Medienindustrie«, WISU 2 (2004), S. 199f. 9 Vgl. hierzu die Diskussion durch verschiedene Beiträge in: Rundfunk und Fernsehen, 44. Jahrgang, Heft 2 (1996). 10 Vgl. M. Kops, »Brauchen wir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk?«, in: J. Kruse (Hrsg.), Ökonomische Perspektiven des Fernsehens, München 2000, S. 73ff; E. Kettering, L. Köhler 2009, S. 19f; Monopolkommission 2006, S. 344. 11 Vgl. H. Beck, A. Beyer 2009, S. 79. 12 Vgl. A. Beyer, P. Carl 2008, S. 15; H. Beck 2006, S. 224ff . 13 Vgl. R. Dewenter, »Two-sided markets«, MedienWirtschaft 2 (2006), S. 58f. 14 Vgl. M. Dietrich, Wettbewerb in Gegenwart von Netzwerkeff ekten, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 22f. 15 Vgl. H. Beck, A. Beyer 2009, S. 82f. 16 Wissenschaft licher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 1999, S. 16. 17 Vgl. H. Beck, A. Beyer 2009, S. 85. 18 Vgl. I. Sjurts, »Der Markt wird’s schon richten!?«, in: K.-D. Altmeppen, M. Karmasin (Hgg), Medien und Ökonomie, Problemfelder der Medienökonomie (Bd. 2), Wiesbaden 2004, S. 174. 19 Vgl. K. Hickethier, »Spartenprogramme als Reaktion auf Publikumsfragmentarisierung?«, in: C.-M. Ridder u. a. (Hgg.), Bausteine einer Theorie des öff entlich-rechtlichen Rundfunks, Wiesbaden 2005, S. 312ff. 20 Vgl. die Regelungen im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag, §§ 25 ff. 21 Vgl. I. Sjurts, Strategien in der Medienbranche, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 297 f.; B. W. Wirtz, Medien- und Internetmanagement, 5. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 319. 22 Vgl. H. Beck, A. Beyer 2009, S. 91.
Indien im Spannungsfeld von dynamischer Diversität und fundamentalistischen Tendenzen 1 Die Komplexität Indiens ist nach Prof. Dr. Anil Bhatti aus mehreren Geschichtslinien und kulturellen Formationen entstanden, so dass dieser große Nationalstaat keine geschlossene Einheit bilde. Dieser Gedanke – Indien als Resultat historischer Überlagerungen –, stelle ein Gegenkonzept zur Homogenisierung dar und stünde der Idee der Gleichzeitigkeit nahe, welche der indische Denker Damodar Dharmananda Kosambi (1907–1966) in der Formulierung ausgedrückt habe, Indien sei »a country where contemporary society is composed of elements that preserve the indelible marks of almost every historical stage«2 . Indien sei a country of long survivals. People of the atomic age rub elbows with those of the chalcolithic. The vast majority of countryside gods are still daubed with a red pigment that is a palpable substitute for long-vanished blood sacrifices – which also survive in a few cases, although the very idea of blood sacrifices would now come as a shock to many devotees.3
Die koloniale Geschichtsschreibung habe dies jedoch als eine lineare Entwicklung zu erfassen versucht, da die Wissenschaft spolitik des Kolonialismus nicht zuletzt in dem Versuch bestanden habe, eine Interpretationsmacht zu erlangen. Die Komplexität Indiens sei zum Beispiel im Rahmen der Wissensaneignung durch den Kolonialismus als Chaos empfunden worden. Die »Beherrschung des Chaos« sei durch eine beispiellose Entfaltung klassifi katorischer und taxonomischer Energie im Rahmen einer kolonialen Epistemologie erfolgt. Dies habe dem Anliegen des britischen Kolonialismus entsprochen, im Zusammenhang mit der Entwicklung einer kolonialen Kompetenz eine systematische Kodifizierung – auch der indischen Geschichte – vorzunehmen. Seit James Mills‘ (1773–1836) Darstellung der indischen Geschichte in seiner History of British India4 sei die indische Geschichte in hinduistische, islamische und britische Abschnitte periodisiert worden. Es sei behauptet worden, dass ein monolithisches Hindukollektiv durch muslimische Eroberungszüge und Tempelzerstörungen gedemütigt und traumatisiert worden sei. Der islamische Ikonoklasmus und der Bau von Moscheen seien Vorgänge gewesen, die im hinduistischen Indien rückgängig gemacht werden müssten. Diese Lesart der Geschichte bilde auch die Grundlage des fundamentalistisch beeinflussten Revisionsarguments in der indischen Politik, welches die Hindu-Majorität in Indien zum Opfer der islamischen Herrschaftsperiode stilisiere, obgleich die differenzierte Auswertung der Geschichtsquellen eine andere Sprache spreche. Bei der Besetzung von Gedächtnisorten komme es jedoch auf den groben Pinselstrich an, während Quellenvergleiche und Rekurse auf orale Traditionen und soziale Praxis keine Rolle spielen. Somit
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sei auch die dramatische Inszenierung eines kulturellen Restitutionsvorgangs entscheidend, was zudem ausschlaggebend dafür sei, dass Monumente zu Zentren des orthodoxen Zugriffs geworden seien. Die kolonialistische Geschichtsschreibung habe einen wesentlich Einfluss auf die Ideologie des religiösen Nationalismus ausgeübt, indem dieser die kolonialistische Lesart der indischen Geschichte übernommen habe, die von einem Gegensatz zwischen Hindus und Muslims ausgegangen sei. Es sei eine Ideologie der altindischen (sprich althinduistischen) Glanzzeit, islamischer Knechtschaft und britischer Dominanz auf einer höheren Zivilisationsstufe entstanden. Der Hindunationalismus habe daraus eine essentielle kulturelle Differenz konstruiert, die Jahrhunderte islamischer Herrschaft zur Fremdherrschaft schlechthin stigmatisierte und damit die überlappenden Formen politischer Interessenbildungen und sozioreligiöser Praxis durch religiöse Grenzziehungen ausgelöscht habe. Die Teilung Indiens (partition) sei in der Wahrnehmung dieses Postulats einer essentiellen Differenz zwischen Hindus und Moslems vorprogrammiert gewesen. Auf kultureller Ebene bedeute die Teilung eine Weigerung, die nationalstaatliche koloniale Befreiung in der Doppelbewegung als antifeudalistische und antikoloniale Bewegung aufzufassen und einen säkularen Staat in Gesamtindien zu errichten. Sowohl hindu- wie moslem-fundamentalistische Haltungen verabsolutieren nach Bhatti den Religionsunterschied zum Kulturunterschied und verweigern ihre Zustimmung hinsichtlich der Entwicklung einer säkularen Öffentlichkeit. Das Resultat sei ein islamischer Staat Pakistan und ein formal säkularer Staat Indien, dessen Verfassung die Distanz zwischen Religion und Staat verankere. Der Widerspruch zwischen Verfassungsutopie und gesellschaft licher Wirklichkeit in der Epoche postkolonialer Staatsformation sei in Indien jedoch ursächlich für die Spannung in Bereichen der Kultur und Politik. Kultur als System der Signifi kation, das eine oft verwirrende Skala der Diversität umfasse, sei dann nicht ein zusammenhängendes Ganzes, das als way of life charakterisiert werden könne, sondern eher als ways of struggle zu verstehen. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru (1989–1964, Amtszeit: 1947– 1964) habe die sprachliche und kulturelle Komplexität des Landes, seine Diversität und die Einheit in der Diversität mit dem Bild des Palimpsests zu erfassen versucht, dessen Gültigkeit in seiner Ganzheit liege und nicht in irgendeiner Schicht, zu der man durch einen Akt der Reinigung oder Wegradierung gelange: Indien sei ein ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed, and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written previously. All of these exist together in our conscious or subconscious selves, though we may not be aware of them, and they had gone to build up the complex and mysterious personality of India.5
Die von Nehru positiv konnotierte Metapher des Palimpsests für das kulturelle Bewusstsein, bedeute Fülle und Reichtum im historischen Prozess. Erst wenn die Schichtung als Authentizitätsverlust wahrgenommen werde, komme es zu einer Auffassung der indischen Geschichte als Entfernung von einer vermeintlichen
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Ursprungswahrheit. Indien sei nach Bhatti jedoch nicht in einer Urschicht verankert, sondern in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit des mehrschichtigen Prozesses zu finden. Indien sei zu jedem Zeitpunkt als Resultat des gesamten Prozesses seiner Entwicklung zu begreifen. Homogenisierungsversuche seien hingegen Formen der kulturellen Besitzergreifung, die eben jene Gesamtheit und Komplexität negieren, um lediglich einer historischen Schicht Authentizität zuzusprechen. Der heutige Blick auf Indien könne aufgrund dieser dynamischen Diversität sehr unterschiedlich ausfallen: Es gebe zum Einen die Strategie, ein Moment herauszuschneiden und die anderen zu ignorieren und zum Anderen diejenige, die fortschreitende Entwicklung in Richtung Komplexität als etwas zu betrachten, was immer überschrieben werden könne – als ein Palimpsest. Den Kolonialismus entsprechend der ersten Strategie als Bruch zu beurteilen und die postkoloniale Situation als Rückkehr zu einer Identität, die vorher existiert habe, könne jedoch zu Fundamentalismus führen. Bhatti vertrat daher die Ansicht, dass man von der einseitigen Betonung der nationalen Geschichte und Kultur zur Einsicht gelangen müsse, dass es eher komplexe Vernetzungen in einer polyzentrischen Welt gebe, die zu erkenntnisreichen Entwicklungen zwischen überlappenden Kulturen führen. Daher sei auch der Kolonialismus als ein Teil der Geschichte Indiens zu betrachten, die sich aus verschiedenen Formen der Überlappung zusammensetze. Der Begriff confluence (Zusammenfluss) sei geeignet, um diese dynamische Diversität abzubilden – auch im Hinblick auf die Idee der Toleranz. Während sich das mehrsprachige und diversifi zierte Europa aus homogenen Nationalstaaten entwickelt habe, bestehe in Indien die Gefahr, dass sich durch fundamentalistische Tendenzen die historisch entstandene Heterogenität in Richtung einer erzwungenen Homogenität transformiere. Dieser religiös fundamentalen Tendenz stehe zwar eine säkulare Entwicklung entgegen; dies dürfe jedoch nicht zu einer Verharmlosung der genannten gefährlichen Politisierung, Instrumentalisierung und Ideologisierung verleiten. Gleichwohl werde die Heterogenität in Indien nach wie vor als wichtig empfunden: »Identität« – ein Zustand der nicht klar definiert werden könne – habe in Indien nicht die substanzielle Bedeutung wie im Westen. Heterogenität lebe gerade von reduzierten Möglichkeiten der Definition, was mit dem Gedanken einhergehe, dass Grenzen in einer polyzentrischen Welt nicht definitiv, sondern porös seien. Im Gegensatz dazu könnten harte Identitäten mit Homogenität verknüpft werden. Indien sei jedoch ein historisches Beispiel, so dass es möglich sei, mit einer Form der Unklarheit – »Fuzziness-Konzept« (fuzziness: Unschärfe, Verschwommenheit) – zu operieren, die sich weiterentwickeln könne. Bhatti griff Gedanken von Samir Amin5 und Ludwig Wittgenstein7 auf, um darauf hinzuweisen, dass in jeder Gesellschaft verschiedene Logiken operieren: zum Beispiel die Logik der Religion, der Kultur, der Institutionen und der Wirtschaft. Wenn eine der Logiken die dominante werde und die anderen Logiken dadurch abwerte, entstehe eine diktatorische Gesellschaft. Es müsse daher die Bereitschaft vorhanden sein, verschiedene Logiken zu akzeptieren und operative Ähnlichkeiten zwischen den Logiken zu erkennen. Dabei sei Ähnlichkeit nicht im Sinne von Gleichartigkeit, sondern in Form von Überlappungen zu verstehen. Aufgrund der
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Plurikulturalität seien in Indien diese Ähnlichkeitsfaktoren wichtig. In Indien bestehe daher ein universalistisches Prinzip für die plurikulturelle Gesellschaft: die säkulare Verfassung. Der säkulare indische Staat sei jedoch als utopisches und damit fragiles Konstrukt aufzufassen, das in hohem Maße vom intakten Funktionieren demokratischer Institutionen abhängig sei. Die grundlegende Maxime des säkularen Staates sei die symmetrische Distanz zu institutionalisierten Religionsansprüchen im offiziellen Bereich, das heißt eine gleichförmige Behandlung der Religionen, die allerdings auch als Prinzip der Gleichbegünstigung mit negativen Folgen ausgelegt werden könne. Die Suche nach Ähnlichkeiten könne jedoch als strategisches Prinzip genutzt werden, um Solidaritätslinien zu bilden, wobei der homo solidaris ein bisher uneingelöstes Ideal der Zukunft sei. Es müsse insofern eine Bewegung in Richtung eines Universalismus angestrebt werden, anstatt auf einer Hermeneutik der Differenzen zu bestehen. Das Ähnlichkeitsdenken sei ein politisches Denken: Das Differenzdenken habe zu Zerstörung geführt, das den Preis der Präzision, welcher mit dem Ähnlichkeitsdenken einhergehe, rechtfertige. Das Ähnlichkeitsdenken sei durch ein universalistisches Denken und der Skepsis gegenüber Grenzziehungen historisch begründet. Es entspreche einem nicht-hermeneutischen Zugang zu Differenz, der zwar keineswegs neu, jedoch unterbelichtet sei und insofern wiederbelebt werden müsse. Dies sei auch im Zuge der Globalisierung, die eine zunehmende Vernetzung bedeute, wichtig. Die Annahme, es gebe homogene Kulturen, sei nach Bhatti generell nicht richtig, da vielmehr Heterogenität vorzufinden sei. In der polyzentrischen Welt müssen daher nach Bhatti Prinzipien der Vergleichbarkeit entwickelt werden, die auch eine Ausweitung des »Wir-Begriffs« ermöglichen; Solidarität stelle dabei das System der »Wir-Erweiterung« dar. Eine in der globalisierten Welt anzustrebende unverzerrte Kommunikation sei allerdings nur möglich, wenn die Frage der Macht gelöst werde. Zur Beantwortung dieser Frage gebe es zwei Entwürfe. Der erste gehe von kooperierenden, gleichberechtigten, homogenen Kulturen und Nationen mit klaren Grenzen aus, während der zweite Entwurf eine Weltkultur anstrebe, dessen Ausgangspunkt der Polyzentrismus sei. Formen der Nationalkultur, die nicht auf Homogenität basieren, entwickeln sich in diesem Entwurf in Richtung Heterogenität. Abschließend wies Bhatti darauf hin, dass alte indische Schriften gegen Wettbewerb und für Harmonie plädieren. Die Welt des Wettbewerbs sei nach dieser alten indischen Vorstellung in die diesseitige Welt verstrickt, was mit dem Begriff »Maya« ausgedrückt werde. Das wahre Ziel des Lebens liege in der Befreiung. Dieser Gedanke sei jedoch nicht im Fokus seines Vortrags gewesen. Vielmehr habe er dafür plädieren wollen, dass in Indien auf der geeigneten Grundlage eines säkularen Staates die Traditionen von kultureller Toleranz, Mehrsprachigkeit und religiösem Synkretismus im Sinne eines Ähnlichkeitsdenkens wieder an Bedeutung gewinnen sollten, nachdem – initiiert durch den Kolonialismus – Grenzziehungen Homogenisierung als identitätsstiftenden Wert installiert haben. In der anschließenden Diskussion, die sowohl den Vortrag Bhattis als auch Stefan Kramers betraf, betonte jener, dass die Heterogenität in China weniger offenkun-
Literaturverzeichnis S. Amin, Spectres of Capitalism: A Critique of Current Intellectual Fashions, New Delhi 1999. D. D. Kosambi, An Introduction to the Study of Indian History, Bombay 1956. D. D. Kosambi, Myths and Reality: Studies in the Formation of Indian Culture, Bombay 1962. J. Mill, The History of British India, 3 Bde., London 1817–1823. J. Nehru, The discovery of India, Oxford 1946. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1975.
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Autorisiertes Protokoll des Beitrags von Anil Bhatti und der anschließenden Diskussion, verfasst von Käte Wohltmann. D. D. Kosambi, Myths and Reality: Studies in the Formation of Indian Culture, Bombay 1962, S. 2. D. D. Kosambi, An Introduction to the Study of Indian History, Bombay 1956, S. 8. J. Mill, The History of British India, 3 Bde., London 1817–1823. J. Nehru, The Discovery of India, Oxford 1946, S. 47. Vgl. S. Amin, Spectres of Capitalism: A Critique of Current Intellectual Fashions, New Delhi 1999, S. 42. Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, Nr. 67, S. 58.
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dig zutage trete als in Indien. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, woher man in großen Gesellschaften wisse, was solidarisch sei, da bei den Solidaritätslinien ein Informationsproblem vorhanden sei, woraufhin Bhatti präzisierte, dass es sich um überwindende Kooperation handle, die sich nicht auf alte Linien berufe, sondern neue Solidaritätslinien schaffe. Des Weiteren wurde betont, dass das Ähnlichkeitsprinzip auch in Europa anzufi nden sei und zudem für das Prinzip der Mimesis gelte, was literarisch als imitatio bezeichnet werde. Daraufhin bemerkte Bhatti abschließend, dass Ähnlichkeit gleichwohl ein vernachlässigtes Prinzip sei: Während Essentialisierung vermieden werden sollte, sei es nach Bhatti wichtig über das Ähnlichkeitsdenken Vergleiche und Überlappungen festzustellen.
Diskurse von Harmonie und Wettbewerb und die postnationale Konstruktion eines Cultural China Die Begrifflichkeiten von Wettbewerb und Kultur bilden, epistemologisch betrachtet, ein untrennbares Paar. Das trifft insbesondere dann zu, wenn man auf die mit diesen Begriffen verbundenen Konzepte blickt und diesen einen über denjenigen des Idealismus hinaus erweiterten und die Alltagspraktiken von privaten und institutionellen Akteuren mit einbeziehenden Kulturbegriff zugrunde legt. Dieser umfasst jegliches menschliche Handeln, welches sozial geprägt ist und sich damit notwendigerweise auf die eine oder andere Weise gegenüber der Gesellschaft und ihren Werten, Normen, ihrem Regelsystem sowie ihren Symbolen und semantischen wie syntagmatischen Festlegungen verortet. Demnach, so wird hier angenommen, generiert Kultur nicht notwendigerweise auch Wettbewerb, obgleich es zu diesem Punkt, so insbesondere in den liberaleren Wirtschaftsmodellen, durchaus auch andere Ansichten gibt. Dagegen lässt sich rasch ein breiter Konsens darüber erzielen, dass Wettbewerb sich immer als eine Form des kulturellen Denkens und Handelns innerhalb sozialer Systeme, also zwischen Gruppen und Individuen wie nicht zuletzt auch zwischen miteinander konkurrierenden sozialen Systemen, versteht. Wettbewerb ist mithin immer Kultur. Ist er aber auch ein unabdingbarer Teil derselben? Lässt er sich als eine anthropologische Konstante verstehen, die allen Menschen in allen Zeiten und unabhängig von ihren sozialen Bedingungen und Umweltbedingungen eingegeben ist und sich demnach historisch und geopolitisch nur graduell unterschiedlich ausagieren würde, ohne dabei die einer vermeintlichen menschlichen Natur eingegebene Wesenhaftigkeit grundsätzlich infrage zu stellen? Bei der Frage nach einer Ontologie des Wettbewerbs handelt es sich zweifellos seit jeher um eine der Kernproblematiken der Kultur- und Sozialwissenschaften. Von ihr leiten sich zahllose disziplinäre Grundsatz- und Detailüberlegungen ab, so etwa diejenige nach Märkten und deren Funktionsmechanismen in den Sozialwissenschaften und der ihnen untergeordneten Ökonomik. Sie motiviert die Frage nach dem Herkommen von Staatssystemen und deren Miteinander und auch diejenige nach innerstaatlichen Institutionen und deren Kommunikationsstrukturen und Hierarchien, wie sie die Politikwissenschaften untersuchen. Nicht zuletzt betrifft sie die Frage nach der Definition des Individuums und nach dessen Selbstverständnis zwischen individueller und kollektiver Identität sowie nach deren Differenzen und Alteritäten. Dies ist zweifellos eine der Kernfragen, mit welcher sich die Soziologie auseinanderzusetzen hat. Sie bildet zugleich die Grundbedingung für das Herstellen von und für das Nachdenken über ökonomische Systeme, wenn man diese nicht, wie es allerdings tatsächlich nicht wenige Ökonomen handhaben, gänzlich jenseits des Menschen ansiedeln will. Dieselben Parameter stehen aber auch im Zentrum von grundlegenden Überlegungen der Psychologie, der Pädagogik, der Sportwissen-
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schaft und nicht zuletzt einer vergleichenden Kulturforschung. Zumeist berufen sich diese Disziplinen bei ihren Bemühungen um eine Ontologisierung ihrer jeweiligen Standpunkte, wenn sie den Wettbewerb legitimieren und freigeben wollen, auf die biologischen Wissenschaften und evolutionistischen Modelle vom Menschen und seinen Umweltbedingungen; oder aber sie verneinen deren ontologischen Charakter und beziehen sich mit ihren ethischen Modellen von einer Überwindung der scheinbar naturgegebenen Vorbedingungen auf philosophische oder moraltheologische Vorstellungen von intuitiven oder rationalen menschlichen Eigenschaften, wie wir sie bereits aus dem Idealismus kennen. Wie aber lässt sich jenseits dieser interessengeleiteten Diskurse eine Annäherung an die Frage nach dem Wechselverhältnis von Kultur und Wettbewerb erzielen? Während miteinander konkurrierende Systeme und Individuen bekannterweise innerhalb aller Lebensformen existieren, die um begrenzte Ressourcen und damit nicht selten schlichtweg um das eigene Überleben und das Überleben von Gattungen und Arten zu kämpfen haben, zeichnet sich die menschliche Spezies, auf die hier geblickt werden soll, jenseits dieser auch anthropologischen Konstante durch zwei für die Frage nach dem Verhältnis von Wettbewerb und Kultur besonders relevante Merkmale aus, die sie von anderen Gattungen unterscheidet. Dabei handelt es sich zum einen um die (freilich leider nicht uneingeschränkte) Fähigkeit zu einem vernunftgeleiteten Handeln. Mit diesem sind Menschen in der Lage, Entscheidungsprozesse zu kontextualisieren und unter Einbeziehung eines Denkens von Zukunft, also der Wahrnehmung eines in materieller Hinsicht Nicht-Seins, zu begründen, von dem sich aber das mögliche Erscheinen eines (künft igen) Seins antizipieren lässt. Zum anderen handelt es sich um die für die Antizipation von Zukunft und um die für das Denken eines Nicht-Seins unabdingbare Fähigkeit zu einem symbolischen Handeln. Dieses impliziert die Herausbildung von abstrakten Zeichensystemen und das Speichern und Repräsentieren von Informationen mit Hilfe von Kulturtechniken, die wiederum, aus kulturellem Handeln hervorgegangen, die Dispositionen für weiteres kulturelles Handeln einschließlich derer Möglichkeiten und Grenzen bereitstellen. Die von dem Kommunikationswissenschaft ler Michael Giesecke für die Beschreibung kultureller Prozesse vorgeschlagene »Innovationsspirale«1 aus der Generierung von neuem Wissen über die Umwelt, neuen Wahrnehmungsprogrammen, neuen Kommunikationsformen und Kulturtechniken (Medien) sowie neuen Weltbildern und Identitätskonzepten, die zugleich immer wieder neues Wissen über die Umwelt bereitstellen, verweist zugleich auf die Differenz zwischen dem instinktiven Handeln anderer Gattungen und dem symbolhaften Handeln des Menschen. Diese Differenz hatte eindringlich bereits vor einem Jahrhundert der französische Philosoph und Nobelpreisträger Henri Bergson in seinem Konzept des élan vital als alles Leben von der unbelebten Materie unterscheidende, dabei aber den Menschen durch seinen hohen Grad an Intuition und schöpferischen Fähigkeiten zusätzlich gegenüber anderen Gattungen auszeichnende Lebenskraft beschrieben.2 Sowohl in Bergsons als auch in Gieseckes Modellen werden die anthropologischen Konstanten eines rationalen, in die Zukunft verweisenden intuitiven und symbolischen
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Handelns, dem im Hinblick auf die Mensch-Umwelt-Beziehung und die Beziehung von Menschen untereinander auch die grundsätzliche Anlage zum kompetitiven Vergleich als Grundlage für die Formierung von (individueller und kollektiver) Identität zugrunde liegt, in gleicher Weise beschrieben. Während Bergson allerdings vor allem auf die Unterscheidung von unbelebter und belebter Materie und auf der zweiten Ebene zwischen einer Wesenheit des Menschlichen im Vergleich mit anderen Gattungen abzielt, verweisen dessen Ausführungen sowie Gieseckes Innovationsspirale zugleich bereits auf eine Ausdifferenzierung dieses Handelns innerhalb der menschlichen Gattung. Kultur, unter deren Verständnis die Frage nach dem Wettbewerb zu verhandeln ist, versteht sich hier also nicht ausschließlich als ein Prädikativum des Menschlichen in seiner Abgrenzung gegenüber anderen Lebensformen. Darüber hinaus versteht sie sich auch als eine das Menschliche auf einer nachgeordneten Ebene partikularisierende Form des symbolischen Handelns. Und dieses fi ndet bekanntlich immer unter spezifischen Bedingungen des historisch gewachsenen und aktuell fundierten Verhältnisses des Einzelnen und der – unter eben diesen Bedingungen formierten und formulierten – Gemeinschaft mit deren materieller und sozialer Umwelt statt und bildet eine unabdingbare Wechselwirkung mit jener. Von dieser Erkenntnis ausgehend versteht Kultur sich notwendigerweise auch als ein Beschreibungsfeld eines jeden einzelnen Menschen in seiner Beziehung zu seiner Umwelt, also zu anderen Menschen, wie auch der Gemeinschaft in ihrer Beziehung zu anderen Gemeinschaften. Kultur in ihrem mimetischen Verständnis des Nachahmens und Überwindens definiert sich in diesem Sinne immer auch als eine identitätsbildende Kategorie der Erzeugung von Differenz (gegenüber der Natur, gegenüber anderen Menschen und Gruppen, nicht zuletzt aber auch gegenüber dem eigenen vergangenen oder auch zukünft igen Ich), durch welche sich das individuelle und kollektive gegenwärtige Eigene als solches behauptet. In dieser Behauptung, in der Auszeichnung des Eigenen in seiner Abgrenzung gegenüber seinem Anderen, welches im Konstruktionsprozess von Identität immer auch zu seinem Anderen, also zu einem bestimmenden Teil des Eigenen, generiert, scheint der Vergleich, der Wettbewerb, von vorne herein angelegt. Diese Erkenntnis hat die hegemonialen Modelle der industriellen Kultur in der europäischen Neuzeit und Moderne und deren Konzepte einer kapitalistischen Marktwirtschaft genauso wie ihre Gegenmodelle maßgeblich geprägt. Sie gibt allerdings noch keine Auskunft darüber, inwieweit es sich bei ihr um eine anthropologische Konstante oder um eine kulturhistorisch ausdifferenzierte und ausdifferenzierende Spezifi k handelt, die ihrerseits in enger kausaler Verbindung zu den Begrifflichkeiten und Kategorien steht, welche diese sprachlich herausgebildet haben, unter deren Dispositionen sie sich formiert und in die sie auch ihrerseits struktur- und bedeutungsbildend hineingewirkt hat. Diese Frage lässt sich nicht allgemein und abstrakt beantworten. Es ist allenfalls möglich, sich ihr durch den Blick auf tatsächliche Räume von Kultur (und Wettbewerb) anzunähern, um diese nach Spezifi ka einer kulturellen Ausdifferenzierung bzw. nach dem Grad anthropologischer Konstanten und deren Grenzen zu befragen. Die Frage nach einer »Kultur des Wettbewerbs« lässt sich hinsichtlich ihres
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chinesischen Kontextes, der hierzu exemplarisch herangezogen werden soll – nicht um diese Diskussion endgültig zu klären, sondern um ihr weitere Gegenstände und Inhalte zum Vergleich und hinsichtlich einer angezeigten Überwindung von universalistischen und essentialisierenden Standpunkten zur Frage des Wettbewerbs anzubieten –, nicht sinnvoll ohne einen Blick auf die Begriffsbildung der hier beteiligten Kategorien verhandeln. Das Wort für den Wettbewerb, Jingsai䵭忪, welches allen chinesischen Überlegungen hinsichtlich des Wettbewerbs zugrunde liegt, setzt sich in der modernen chinesischen Sprache, wie bei vielen von deren Substantiven, aus zwei Einzelzeichen zusammen, die, jedes für sich, auf dieselbe Bedeutung verweisen. In diesem Falle handelt es sich um die Zeichen Jing 䵭 und Sai 忪, die jeweils für den Wettbewerb einstehen, dabei aber in der vormodernen Schrift sprache, aus der sie hergeleitet worden sind, unterschiedliche Konnotationen aufweisen. Blickt man zunächst auf das Zeichen Jing 䵭, dann stellt man fest, dass dieses bereits eine Halbierung seiner traditionellen Langform darstellt. Und diese war bereits als Dopplung ihrer Bedeutung zu verstehen. Dabei hatte sich das hier zugrunde gelegte Zeichen seinerseits aus dem ursprünglichen Schriftzeichen 岐岐entwickelt, welches wiederum eine Verdopplung des für das Sprechen einstehenden Begriffs Yan 罘 darstellt, und somit als ein gegenseitiges Argumentieren zweier Menschen zu verstehen ist. Dabei steht der untere Teil des Zeichens Jing 䵭 bzw. zugleich ein für das Wort Xiong ⏓, das im modernen Sinne den älteren Bruder bezeichnet. Es gilt aber auch als Anredeform unter Männern. Dabei setzt es sich seinerseits aus den Zeichen für Mensch (Ren ⅉ) und Mund (Kou ♲) zusammen. Es bezeichnet also einen Mann, der mit einer Autorität des Sprechens ausgestattet ist, wie sie im konfuzianischen Verständnis der gesellschaftlichen Beziehungen dem älteren gegenüber dem jüngeren Bruder zusteht. Dabei unterstreicht der obere Teil dieses Zeichens, Yin檂, welcher den Laut, den Ton, bezeichnet, diese Autorität zusätzlich. Das dem Zeichen Jing 䵭 hinzugefügte Zeichen Sai 忪 indes, das ursprünglich den Akt der Bestimmung eines Besseren gegenüber dem Schlechteren bezeichnet und gleichzeitig auf das vergleichende Spiel zwischen zwei Menschen hinweist, beinhaltet in seinem unteren Teil das Zeichen 徬, traditionell . Dieses steht ein für das Schaltier und die Kaurischnecke, zudem für die Muschel. Zugleich bezeichnet es aber auch den (symbolischen) Wert, das Geld, als welches im chinesischen Altertum die Muscheln fungierten. Damit verweist es unmittelbar auf den Preis, der im Wettbewerb um das Bessere oder Schlechtere für das Bessere oder auch für den Besseren, nämlich für den Sieger in einem somit bezeichneten Wettbewerb, ausgelobt wird. Vergleicht man die sich in ihren Etymologien und Zusammensetzungen ergebenden Konnotationsebenen der als Kompositum für das moderne Wort »Wettbewerb« einstehenden Zeichen Jing 䵭 und Sai 忪 miteinander, dann verweisen beide zwar auf ein und dieselbe Bedeutungsebene, nämlich auf den Vergleich zweier Menschen miteinander, allerdings hinsichtlich gänzlich unterschiedlicher Kontexte und mit erheblich voneinander abweichenden Intentionen. Während Jing auf den Dialog und den Austausch abzielt, welcher nach streng festgelegten gesellschaft lichen Regeln stattzufinden hat, geht es bei Sai um das Ergebnis desselben, nämlich um das Herausfinden einer bestmöglichen Lösung oder um die Benennung
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bzw. Auszeichnung einer bestmöglichen Personalie für die Lösung einer wie auch immer gelagerten Problemstellung. Beide Zeichen und Bedeutungsebenen sind in diesem Sinne nicht voneinander getrennt, sondern ausschließlich in einer unabdingbaren Verknüpfung miteinander und Bezugnahme aufeinander zu verstehen. In Wirklichkeit handelt es sich bei ihnen damit überhaupt nicht um zwei unterschiedliche Konzepte. Vielmehr handelt es sich bei ihnen, wie es sich ja auch in ihrer Kombination zu einem Wort in der modernen chinesischen Sprache bestätigt, um zwei miteinander verwobene Elemente ein und desselben Prozesses, welcher sich als das Ringen um die bestmögliche Strategie für die Lösung konkreter Probleme darstellt. Wichtig ist dabei vor allem, dass es sich bei alledem nicht um den Vergleich zweier unterschiedlicher Systeme handelt, bei dem das eine das andere besiegen und eine Vorherrschaft über dasselbe erringen will, die es ihm ermöglicht, es zu dominieren, es zu demütigen oder auch zu vernichten. Stattdessen geht es darum, innerhalb eines Systems das für dieses Selbstverständnis prägende Prinzip der Wirksamkeit zu verwirklichen. Dieses System verstand sich als Staat und Kultur im vormodernen China mit dem Titel des Tianxia 犕芚 (unter dem Himmel) nicht differierend oder alternierend, sondern als (nach dem damaligen chinesischen Selbstverständnis) globale Einheit nicht unterschiedlicher Völker und Systeme, sondern einer alles in sich aufsaugenden Zivilisation. Die Wirksamkeit innerhalb dessen begreift sich nicht konkurrierend, sondern hinsichtlich einer universellen Einheit, welche das makrokosmische Prinzip und die allem übergeordnete Struktur (der Zivilisation, der Gesellschaft…) genauso beinhaltet wie jedes einzelne Element derselben, also den im Diskurs und Wettstreit Ausgewählten genauso wie den nicht Ausgewählten, den Sieger genauso wie den Verlierer, die es ja beide in dieser Differenzkategorisierung dann nicht mehr geben kann. Denn genauso wie die Zeichen Jing und Sai erst in dieser Kombination eine sinnvolle Einheit ergeben, sind auch Sieger und Unterlegene im Sinne der Wirksamkeit für die allem übergeordnete Struktur gleichermaßen unabdingbar. Das verworfene Konzept ist ebenso bedeutsam wie das sich durchsetzende, da das verworfene Konzept und die dialektische Auseinandersetzung ja unentbehrlich sind, um die bestmögliche Lösung zu erkennen und zu formulieren. Diese Überlegungen zu Spezifi ka eines chinesischen Verständnisses von Wettbewerb führen uns hinsichtlich der Frage nach einem »Wettbewerb von Kulturen« beim Blick auf die Gegenwart chinesischer Diskurse, welche sich ja nach mehreren Globalisierungsschüben, nach kolonialer Demütigung, postkolonialer Selbstfindung und der unabwendbaren Wiedergewinnung seiner Rolle als Global Player längst nicht mehr der Anerkenntnis des Vorhandenseins eines Anderen und von konkurrierenden Systemen und Weltanschauungen entziehen kann, zu dem Konzept der Héxié Shèhuì ✛废箸芽, der Harmonischen Gesellschaft. Vor allem unter diesem Motto beschreibt China seine derzeitige und zukünft ige Position in der Weltgemeinschaft und im Wettstreit der Diskurse. Mit ihm knüpft der derzeitige Staatspräsident der Volksrepublik China, Hu Jintao, an das von Deng Xiaoping Anfang der 1980er Jahre eingeführte Konzept der Xiaokang Shehui ⺞薁箸芽(ein Begriff aus dem chinesischen Buch der Lieder von vor ca. 3.000 Jahren) an, mit der dieser damals
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eine sozial ausgewogene, gesunde Gesellschaft der Mittelschichten als postrevolutionäres Ziel vorgegeben hatte. Drei Jahrzehnte nach der Einführung von Dengs Reformpolitik haben sich die politischen und wirtschaftspolitischen Vorzeichen in China sichtbar verändert. Es ist nicht mehr von einem nur postrevolutionären, sondern mittlerweile – im Sinne einer zunehmenden freiwilligen Abgabe seiner property rights in die Hände von in- und ausländischen sowie transnationalen privaten und öffentlichen Akteuren – zugleich auch von einem postnationalen China auszugehen, was die Perspektiven auf die Anordnungen Chinas oder dessen, was wir als China wahrnehmen, nochmals parallaktisch verschiebt. Unter den neuen Dispositionen des Labels China sowie seines Schlachtrufes einer Harmonischen Gesellschaft begründet Hu seine eigene Staatspolitik nunmehr als Vermischung von importierten marktwirtschaft lichen und liberal-demokratischen Elementen mit dem Herrschaftsanspruch der Partei in nicht mehr internationalen Beziehungen souveräner Staatseinheiten, sondern vor allem in trans- und hypernationalen Kontexten sich zusehends fragmentierender, deterritorialisierter und unaufhörlich neu montierender Bedeutungs- und Identitätseinheiten. In diesem Sinne handelt es sich bei der Konzeption der Harmonischen Gesellschaft um eine nicht mehr ideologische, sondern um eine das traditionelle Selbstverständnis des Tianxia bis zu einem gewissen Grade wiederbelebende und in die Kontexte der derzeitigen Weltgemeinschaft übersetzende kulturalistische Wettbewerbsstrategie auf dem Markt der globalen Bedeutungen und der globalen Märkte von Kapital, Gütern und politischer Einflussnahme. China sucht in einer postnationalen Perspektive globaler Bündnisse und Dispositionen der Erzeugung von Bedeutung und Ordnung sowie lokaler Reproduktion als »glokaler« Struktur seine eigene, durch Kolonialismus und Postkolonialismus verlustig gegangene Rolle in der Weltgemeinschaft konkurrierend wiederzuerlangen. Dazu hat Hu Jintao mit der Harmonischen Gesellschaft den postnationalen Mythos eines deterritorialisierten, sich eher als Wertegemeinschaft denn als institutionalisierte Staatsgemeinschaft verstehenden Cultural China begründet, welches eher ein zum Mythos aufgewertetes Zeichen und Label denn eine institutionelle Größe ist. Nur scheinbar paradoxerweise ist Hu und ist mit ihm China, das sich als Staat hegemonial letzten Endes doch noch immer als geistig-kulturelles Zentrum und Ursprung dieses Mythos begreift, damit recht erfolgreich auf die Weltbühne zurückgekehrt. Er hat mit dieser Strategie der Rücknahme von Rechten im Inneren wie der strategischen Einsetzung einer sich aggressiv gegen die hard power, mit welcher die USA auf dem globalen Parkett agiert, abgrenzenden soft power im Äußeren gleichzeitig den eigenen, durch die wirtschaftspolitischen Umwälzungen genauso wie durch das nach der Kulturrevolution zurückgebliebene Wertevakuum bedrohten Nationalstaat wieder zu stärken vermocht. China hat dem Missionarismus der USA mit der Harmonischen Gesellschaft damit ein wirksames eigenes Konzept entgegengestellt, ohne dabei selbst vordergründig aggressiv aufzutreten und damit die Strategien seines maßgeblichen Gegners im globalen Wettstreit zu seinen eigenen zu machen. Dieser Mythos einer Harmonischen Gesellschaft verortet inzwischen im Zusammenhang mit Chinas Strategien der soft power als Wettbe-
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werbsstrategie – hinsichtlich eines gegenwärtigen chinesischen Selbstverständnisses und dessen Repräsentationsstrategien – seine Bedeutungsräume und ihre Wirksamkeit nicht mehr in fundamental-ideologischen nationalistischen Einschreibungen einer zentralen Hegemonialmacht. Vielmehr verortet er sie in einer offenen und mehr und mehr dezentral angeordneten Diskurssituation – nämlich in derjenigen eines harmonischen Wettbewerbs. In dieser Hinsicht lässt sich durchaus ein Bruch im chinesischen Selbstverständnis konstatieren, das seit dem frühen 21. Jahrhundert und unter dessen global homogenisierten wie zugleich extrem fragmentierten Kommunikationsdispositionen zu neuen Formen der Selbstpositionierung gelangt ist. Die gegenwärtige Diskurssituation verknüpft die institutionelle Stabilisierung des chinesischen Nationalstaates mit dessen weiterer Öff nung für die Globalisierungsprozesse, welche notwendigerweise eine gegenüber den zentralen Hegemonien zunehmende Diversifi zierung seiner Akteure beinhaltet. Darunter versteht sich deren Privatisierung und Deterritorialisierung in supranationale Kontexte wie zugleich in neue lokale Räume. An die Stelle einer Konkurrenzsituation zwischen den modernen Nationalstaaten tritt – wie die chinesischen Entscheidungsträger mehr und mehr begreifen und in ihre Entscheidungen einbeziehen – unter den Fragmentierungs- wie zugleich Homogenisierungstendenzen im Zuge der spätmodernen Globalisierung von Kapitalmärkten und Kulturen eine untrennbare Verflechtung und wechselseitige Kausalität national abgeschlossener wie transnational offener Ströme von Bildern und Bedeutungen, Institutionen, Autoritäten und property rights sowie von Kapital und Gütern untereinander, wie sie das Idealbild eines harmonischen Wettbewerbs bilden. China ist mit diesem Konzept nach eineinhalb Jahrhunderten einer gewissen Marginalisierung infolge des Niedergangs des Kaiserreichs, des Kolonialismus, Kommunismus und Nationalismus erst in den späten 1990er Jahren auf die globale Bühne zurückgekehrt. Das war exakt der Moment, in dem das bis dahin vorherrschende nationalstaatlich begründete Bretton-Woods-System – also internationale Gemeinschaften und expandierende transnationale Märkte, deren Ordnungsmechanismen vor allem das Ziel hatten, die nationalen Interessen weniger industrialisierter Hegemonialmächte zu schützen – durch Ordnungsmuster neuer öffentlicher, zusehends aber auch privater Autoritäten abgelöst wurde. Im Zuge einer beschleunigten Auflösung der eineinhalb Jahrhunderte gültigen globalen Normativität nationaler und internationaler Institutionen dienen die Komponenten des Nationalstaats nun immer sichtbarer als Heimstatt für neue Deterritorialisierungsdynamiken des globalen Kapitals und in deren Folge auch der globalen Kultur. Die Soziologin Saskia Sassen hat hierfür den Begriff der Assemblage geprägt.3 Damit hat sie die Struktur einer globalisierten Neuanordnung von Kommunikation und Institutionen beschrieben, deren Anordnung zugleich elektronisch, nämlich virtuell – wie etwa auf den Kapitalmärkten, aber auch bei global kommunizierten Medienereignissen – als auch territorial ist. Dabei bezieht sich Letzteres auf einen spezifischen, politisch und rechtlich definierten Raum wie etwa bei der Anordnung von Staatsterritorien. Es geht ihr nicht um die Ablösung des Nationalen durch das Internationale als Brücke zwischen zwei institutionalisierten territorialen Einhei-
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ten oder des Internationalen durch das Trans- und schließlich Hyper- oder Supranationale. Vielmehr tritt das, was sich in diesem Prozess das Label China verleiht, gleichzeitig supra- als auch inter- und subnational auf. Die Nationalstaaten haben ihre Aktivitäten weithin auf diese neuen Wahrnehmungsbedingungen einer äußeren und global-gesellschaft lichen Wirklichkeit ausrichten müssen, was China – ohne die Lasten einer durch den starken Nationalstaat und eine typographische Kultur geprägten Vorgeschichte – in gewissem Sinne leichter fällt als den europäischen Staaten. Damit ist eine Situation entstanden, in der das Globale und das bis dahin vorherrschende Nationale sich durch die rasch ansteigende Zahl extrem fragmentierter öffentlicher und privater Akteure in unaufhörlichen Destabilisierungs- und Neumontierungsprozessen gegenseitig zu stärken in die Lage geraten. Die dabei entstandene Struktur, die weder ausschließlich als national noch ausschließlich als postnational zu bezeichnen ist, sondern eine Gleichzeitigkeit und gegenseitige Bedingtheit beider hervorbringt, lässt neben den historischen zugleich auch immer mehrere Arten territorialer Verflechtung erkennen, die parallel nebeneinander existieren und miteinander verknüpft sind. Diese rhizomatischen Verflechtungen des chinesischen Selbstverständnisses befinden sich im unaufhörlichen Wandel und ständiger Neumontage. Sie aktualisieren aus alten Versatzstücken eine immer neue Organisationslogik. Dies betrifft sowohl die Sprache und die Repräsentationsstrategien von Diskursen und der Gesellschaft wie auch das Handeln ihrer einzelnen Akteure einschließlich ihrer wechselseitigen Kommunikations- und Organisationsprozesse. Wenn man diese komplexe Situation einmal zur Veranschaulichung auf ein paar wenige – in unser Repräsentationssystem übertragene und in unsere Wahrnehmungswirklichkeit übersetzte – Schlagworte herunterbrechen will, dann wären das die Spuren des importierten, auf einem ausdifferenzierten Rechtsverständnis basierenden Modells eines Nationalstaates der europäischen Moderne. Hinzu kommen die aus der eigenen Geschichte angeeigneten Formen eines konfuzianisch-autoritären, eher auf Moral denn auf Recht setzenden Hierarchiemodells von Güte und Pietät, Pflicht und Autorität. Aus diesen begrifflichen Elementen, die im sprachlich bedingten Dualismus unseres kulturellen Systems die chinesischen Wirklichkeitsräume allerdings kaum angemessen zu beschreiben vermögen, soll nun mit Hilfe des Konzeptes einer Harmonischen Gesellschaft eine Zukunft montiert werden, in der China seine Identität bewahrt und zugleich als Global Player an inter- und trans- wie auch an supranationalen Prozessen aktiv mitwirken können soll. Hinzu kommen die Spuren eines mit dem Nationalstaat verbundenen kulturellen Modells von Identität und Differenz (etwa zwischen dem einen und dem anderen Nationalstaat). Diese wiederum vermischen sich wahrnehmungstechnisch immer wieder mit dem ausschließlich zwischen Nei 茫 (zivilisiertes Innen) und Wai 盶 (barbarisches Außen) unterscheidenden und damit das kulturell Andere zunächst negierenden Universalismus eines chinesischen Zivilisationsmodells des Tianxia 犕芚 und mit dessen buddhistischen und daoistischen Grundlagen bzw. der Übersetzung dieser Grundlagen und deren Aktualisierung in die gegenwärtige Wahrnehmungswirklichkeit. Aus alledem entsteht unter sich wandelnden Dispositionen von Gesellschaft, Kultur
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und Kommunikation eine jeweils neue Organisationslogik mit ihren ganz eigenen sprachlichen und ästhetischen Strukturen, welche in ihrer Summe, vor allem aber in der Dynamik ihrer Montagen, das ausmachen, was wir heute als Cultural China bezeichnen und aus dem heraus sich das Konzept der Harmonischen Gesellschaft selbstreferentiell konstituiert. Mit diesem Masterplan für Chinas kulturellen und politisch-ökonomischen Weg in die globalisierte Weltgemeinschaft soll das deterritoriale Cultural China in Form unendlich fragmentierter privater und öffentlicher Akteure, welche sich über jenes kulturelle Label miteinander verknüpfen, seine ihm gebührende Führungsposition wieder besetzen. Und gerade aus dieser Loskopplung von Territorium und Kultur gewinnt China zugleich auch seine Legitimation für die Fortsetzung eines weiterhin stark bleibenden territorialen Nationalstaates unter teilweiser Beibehaltung der zentralisierten property rights und für die Fortsetzung einer zentralstaatlichen Regulationspolitik und eines – nationalökonomisch wie machtpolitisch motivierten – Protektionismus im Hinblick auf den Import fremder Einflussnahme und Produkte – das alles, ohne dass dies einen Widerspruch ergeben würde. Mit dem nicht in der – erst von uns sprachlich erzeugten – Dialektik, sondern in einer offenen Multiperspektivität und Polysemie gefestigten Einheitsgedanken, einer Univozität im unaufhörlichen Werden, erscheint China für die Herausforderungen einer von immer schnelleren Remontagen (Reassemblagen) geprägten Welt und in deren mannigfacher Wettbewerbssituation fast besser gerüstet als die nach wie vor in Binärdifferenzen und linearen, auf die Substanz des Seins ausgerichteten Weltbildern gefangenen aufk lärerisch und typographisch geprägten Kulturen Europas. Dies gilt zumindest solange, bis Europa nichts anderes als die Einheit von Konfrontation und Wettbewerb, kaum aber diejenige von Wettbewerb und Harmonie kennt, welche China aus seinen konfuzianisch-daoistischen Traditionen begründet, wieder einführt und der Weltgemeinschaft als eigenes Globalisierungsmodell dasjenige einer »harmonischen Weltgesellschaft des Wettbewerbs« konfrontativ vorschlägt. Darin agieren dann verschiedene Typen von Rechtssubjekten mit ihren eigenen (Teil-)Diskursen nebeneinander und verknüpfen sich zugleich mit der moralischen Komponente von Güte und Pietät sowie eines universalistischen Einheitsgedankens chinesischer Prägung. Es entsteht eine deterritorialisierende Globalisierungsordnung als »glokales« Gemenge aus dem Globalen und Lokalen. Diese Ordnung kann allerdings nur unter gleichzeitiger Beibehaltung eines Bewusstseins von der Territorialität des Nationalstaates und seinen Rechtsanordnungen und Machtverhältnissen erfolgreich sein. Bei der medialen Produktion von Bedeutung, über welche sich die »chinesische Nation« und ein sich neu formierendes Cultural China verorten und der Welt in Form von Wettbewerbsstrategien wie derjenigen einer Harmonischen Gesellschaft kommunizieren, bestimmt allerdings nicht die Realität einer chinesischen Kultur oder Gesellschaft deren Wahrnehmung. An die Seite eines auf vermeintlich »realen« Schlachtfeldern ausgetragenen Kampfes um Marktanteile, strategische Vorteile und die politisch-moralische Führungsrolle in der Weltgemeinschaft tritt mehr und mehr die Mediatisierung und Repräsentation oder gar Simulation. Durch diese
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werden alle Ereignisse, über welche China sein Selbstverständnis errichtet und der Welt konfrontativ oder harmonisch entgegenhält, auf eine symbolische Ebene gehoben und avancieren im Prozess der Wahrnehmung durch chinesische und globale Mediennutzer zu einem Werkzeug des im Wettbewerb stehenden Diskurses der chinesischen Nation und des Cultural China. Dieses kommuniziert und konstruiert mit dem visuellen und dispositiven Potential der weltweit präsenten Medien Mythen, welche ihrerseits zum Inhalt einer nationalen und kulturellen Identität aufsteigen. Dabei können die materielle Medialität und die Dispositivität der Bedeutung bildenden Medien in der spätmodernen Informationsgesellschaft nicht mehr ausgeschlossen und das einzelne Medium damit auf die Rolle eines Kommunikators von Bedeutung reduziert werden. Vielmehr werden sie selbst zum Teil dieser Bedeutung und Identität. Wenn Andrew Plaks 4 herausstellt, dass Historiographie und Narrativität in China seit der frühen Geschichtsschreibung niemals streng voneinander getrennt wurden, dann geht diese in den Schrift texten der Historiker bereits angedeutete intramediale Einheit der Erzählformen erst in der Verdichtung der medialen Kommunikation auf ihre visuelle Symbolik durch die gegenwärtigen, sich vor allem durch ihre multimediale Zitat- und Verweisstruktur auszeichnenden Medien, mit ihren nicht nur intra- sondern vor allem auch intermedialen Strukturen und zahlreichen Kontextualisierungsebenen zwischen medialer und vor- bzw. außermedialer Realität gänzlich auf. Dadurch rücken die Anordnungen der Medien in der Informationsgesellschaft gegenüber deren Texten in den Vordergrund der Betrachtung – und längst auch gegenüber einer außermedialen Wirklichkeit. In ihrer symbolischen (Re-)Konstruktion werden die Ereignisse der Gegenwart wie auch der Vergangenheit zu Gegenständen wie im gleichen Zuge auch zu Methoden im Wettbewerb. Sie werden in ihrer medialen Visualisierung und Narrativierung beliebig gestalt- und austauschbar. Im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit, Repräsentation und einer schließlich spätestens mit den neuen Bildschirmmedien mehr und mehr in den Vordergrund rückenden Simulation entsteht ein symbolischimaginärer dritter Raum. Dieser besetzt die Leerstellen der Bedeutungsbildung. Dies ist unabdingbare Voraussetzung für die Konstitution von Mythen wie vor allem auch für deren Transformation in die Metaphorik des kulturellen Metadiskurses, der die chinesische Position im globalen Wettbewerb markiert. Indem die Medien der Informationsgesellschaft aus tatsächlichen oder auch fi ktiven Ereignissen Texte gestalten und diese Texte im Zuge ihrer medialen Kommunikation in der Wahrnehmung der Rezipienten quasi wieder in Ereignisse zurückverwandeln, die angesichts ihrer Symbolhaft igkeit den realen Ereignissen in ihrer Wirksamkeit zudem weit überlegen sind, werden sie zum wichtigsten Konstrukteur von Bedeutung, Kultur und Identität in China und zur wirksamsten Waffe im globalen Wettstreit. Als jüngstes Masterereignis der chinesischen Positionierung im globalen Wettbewerb gelten zweifellos die Pekinger Olympischen Sommerspiele 2008 sowie insbesondere deren Eröff nungszeremonie.5 Vier Jahre lang unter der Regie des Filmregisseurs Zhang Yimou vorbereitet, lässt diese sich als eine in sich abgeschlossene Erzählung und als eine umfassende Selbstbeschreibung Chinas im Sinne des von Roland Barthes formulierten Mythenbegriffs einer sich unaufhörlich aktualisieren-
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den und neu montierenden Aussage beschreiben. 6 So wie der Terminus der »Konnotation« die persönliche Bedeutung bezeichnet, die jemand aus der Begegnung mit einem Zeichen gewinnt, bezeichnet der »Mythos« nach Barthes die unbewusste, kollektive Bedeutung, die eine Gesellschaft von einem semiotischen Prozess ableitet. Das semiotische Dreieck, welches Barthes dazu konstruiert, zeigt die Interaktion zwischen Zeichen, Konzept und Objekt beim einzelnen Individuum. Es handelt sich um eine Kette von semiotischen Ereignissen, denen die Mitglieder einer Gesellschaft begegnen und die eine Bedeutung tragen, welche zwar geteilt wird, aber unterhalb der Ebene des bewussten Verstehens angesiedelt ist. Somit wird der semiotische Prozess, welcher zu einem Mythos generiert, selbst zu einem Zeichen zweiter Ordnung. Barthes‘ Modell legt nahe, dass der Prozess, durch den diese Bedeutungen eingeführt wurden, für sich selbst ein Zeichen ist, dessen Bedeutung von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt wird. Über die Bandbreite der Gesellschaft hinweg, die im Falle der olympischen Eröff nungsfeier absichtsvoll eine Symbiose aus einer (wenn auch virtuellen) nationalen chinesischen Partizipientenschaft wie einer globalen Zuschauerschaft bildet, entstehen gemeinsam getragene Bedeutungen, die sich in diesem Falle insbesondere um das Prinzip einer von China ausgehenden, aber global wirksamen harmonischen Weltgemeinschaft herum bewegen, um China somit zugleich in das Zentrum von deren Bedeutungsbildung zu versetzen. Dieses Prinzip wie seine Strategien bilden sich exakt in der olympischen Eröffnungsfeier ab. In ihr spiegelt sich das in den europäischen Kulturwissenschaften eigentlich wieder verworfene, von dem Pekinger Philosophen und Kommunikationswissenschaft ler Zhong Danian7 aber für den chinesischen Diskurs jüngst wiederbelebte Modell von Kulturkreisen (磷荩皽 Wenhua quan) wider. Zhong hat dieses Konzept hegemonial auf die chinesische Gegenwart bezogen und für deren Strategien im globalen Wettbewerb fruchtbar gemacht. Zum einen geht er dabei von einer Hierarchie zwischen einem aus drei dominanten Kreisen (dem europäisch-amerikanischen, dem ostasiatischen und dem indisch-orientalischen) bestehenden Weltsystem aus, dann von einem System der Nationalkulturen sowie von zahlreichen Regional- und Lokalkulturen als integralen Bestandteilen der jeweiligen Nationalkulturen. Auf der anderen Seite beinhaltet sein Entwurf eine kulturelle Zentrierung auf das Modell des Cultural China. Dessen ursprünglich räumlichsymbolisch gedachte Dreiteilung in das kulturelle Zentrum Festlandchinas, Taiwans, Hongkongs und Singapurs, die weit verteilten Überseechinesengemeinden sowie in eine – von der Territorialität der ersteren losgelöste – Gruppe der Intellektuellen überträgt Zhong von der traditionellen Schrift- auf die längst globalisierte Medien- und Populärkultur der Gegenwart – und damit unmittelbar auf die diesjährige olympische Eröff nungsfeier in Peking. Die für Chinas Weg zum Global Player unabdingbare kulturelle Übersetzung fremder und angeeigneter Modelle setzt, wenn man Zhong Danian folgen möchte, in China bei einem Kulturschock ein. Dieser wird durch den Kontakt mit der Semantik und den Erzählungen des Fremden ausgelöst, welche durch Kolonialismus, Moderne und eine postindustrielle Spätmoderne nach China gelangt sind. Er äußert sich in einem ersten Schritt in der Verwirrung des Eigenen, aber auch in der Faszination für das Fremde, wel-
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che wiederum mit der Infragestellung des Eigenen einhergeht. Über seine Verwirrung und Faszination betritt der chinesische Akteur das gegenwärtig unübersehbar noch von westlichen Dominanzen geprägte Minenfeld transnationaler medialer (also vor allem deterritorialer, virtueller) Kontaktzonen und gerät dabei zunächst in die Isolation. Sie folgt nach Zhong zwangsläufig auf das graduelle Verlassen des angestammten Raums, solange dieser keine Ersetzung durch einen neuen Raum gefunden hat, also im post- und antikolonialen in-between-space verharrt. Die Möglichkeit einer Nutzbarmachung dieser Dynamik, die Chinas Zukunft eben nicht, wie so oft beschworen, in Nationalismus, sondern gerade in einem Ausweg aus demselben hinein in ein unabhängiges und den Staat dadurch stärkendes Cultural China erkennt, sieht Zhong in einem Sechs-Punkte-Programm. Mit ihm soll das eigene Selbstverständnis zurückgewonnen und durch den selbstverständlichen Umgang mit den Chancen und Risiken des Kontaktraums sogar gestärkt werden. Es sieht erstens eine Bewusstmachung der Differenzen sowie zweitens der Risiken eines Verlustes des Eigenen vor und fordert drittens ein Erlernen der Sprache, also der Kodierungen des Fremden, um dessen kulturelle Tradition und Gegenwart zu begreifen und diese viertens als Differenz anzuerkennen. Auf dieser Grundlage sollen schließlich fünftens das eigene Selbstverständnis stabilisiert und sechstens in der Erfahrung des Fremden sowie in der Abwehr von dessen wirtschaftlicher und ideologisch-kultureller Dominanz die Möglichkeiten des Eigenen sogar bereichert werden. Mit diesem Masterplan für Chinas kulturellen und politisch-ökonomischen Weg in die globalisierte Weltgemeinschaft soll das deterritoriale Cultural China in Form unendlich fragmentierter privater und öffentlicher Akteure, welche sich über jenes kulturelle Label »China« miteinander verknüpfen, seine ihm gebührende Führungsposition wieder besetzen. Aus dieser Loskoppelung von Territorium und Kultur gewinnt Zhong seine Legitimation für die Fortsetzung eines weiterhin stark bleibenden territorialen Nationalstaates unter Beibehaltung der zentralisierten property rights und für die zentralstaatliche Regulationspolitik in China sowie für dessen – nationalökonomisch wie machtpolitisch motivierten – Protektionismus in Hinblick auf den Import fremder Einflussnahme und Produkte. Zugleich wird sie aber auch zur Grundlage für die Positionierung des Prinzips einer »harmonischen Weltgemeinschaft« als wirkungsmächtige Wettbewerbsstrategie in der globalen Politik, Kultur und Ökonomie. Das spiegelt sich exakt in der Pekinger Eröff nungsfeier. Diese ist ihrerseits dazu angetreten, das neue national-globalisierte chinesische Selbst- und Weltbild in die Welt hinauszutragen. Konkreter formuliert, besteht die Absicht dabei, wie es das Motto der Spiele »One world, one dream« (⚛₹疯䟛⚛ ₹㬵㎂ Tong yige shijie, tong yige mengxiang) und nicht zuletzt auch der IOCPräsident Jacques Rogge in seiner Eröff nungsrede mit den Worten: »Peking ist der Gastgeber der Gegenwart und das Tor zur Zukunft«, willfährig zum Ausdruck gebracht haben, in der Positionierung Chinas als ein zentral regierter Rechtsstaat innerhalb eines ansonsten offenen Gefüges des globalen flows. Der martialische Beginn der Feier, deren Einleitung am 8.8.2008 um 8 Uhr 8 durch 2008 Trommler das chinesische Element mit dem Machtanspruch von deren
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Veranstaltern verband, knüpft den roten Faden sowohl zu der daraufh in inszenierten Kulturgeschichte Chinas wie auch zu deren aktueller und zukunftsweisender Aussagekraft. Der hegemoniale chinesische Patriotismus, der hier martialisch zum Ausdruck gebracht wird, versteht sich kulturell zwar nach wie vor als Differenz gegenüber seinem kolonialistischen Anderen, er will aber gleichzeitig kommunizieren, dass die Membrane seiner geopolitischen und auch kulturell-ästhetischen Grenzen gegenüber der Außenwelt durchlässig geworden ist. Aus den kaum übersehbaren inneren Fragmentierungs- und Deterritorisierungstendenzen will China zu einer immer neuen Einheit und Stärke gelangen, mit der es sich als kulturelle Großmacht im globalen Wettbewerb zu behaupten und der Weltgemeinschaft aus der chinesischen Vergangenheit in die Gegenwart übersetzte und auf deren Bedingungen hin aktualisierte Impulse zu geben imstande ist. Dabei agieren unter dem Label China verschiedene Typen von Rechtssubjekten mit ihren eigenen (Teil-)Diskursen nebeneinander. Sie verknüpfen sich zudem mit der moralischen Komponente von Güte und Pietät sowie eines universalistischen Einheitsgedankens chinesischer Prägung. Es entsteht eine deterritoriale und deterritorialisierende Globalisierungsordnung als ein »glokales« Gemenge aus dem Globalen und Lokalen. Dieses nennt sich Cultural China. Es kann aber nur unter Beibehaltung eines Bewusstseins von der Territorialität des Nationalstaates und seinen Rechtsanordnungen und Machtverhältnissen erfolgreich sein, auf welche sich der mit ihm verbundene Mythos bezieht. Die Begründung für die neue Rolle Chinas findet sich, so die Kernaussage der Eröff nungsfeier, in der auf die Zukunft verweisenden Rekonstruktion der von zahlreichen individuellen Akteuren erzählenden Geschichte seiner fünftausendjährigen Kultur und damit in der historischen Begründung für Chinas herausragende Bedeutung für die Welt als Summe der Einzelleistungen seiner Akteure und deren Verknüpfung mit einer in die Zukunft gerichteten Utopie, die sich an das Label und die semantische Größe China anbindet und dessen Gegenwart damit zu einem Mythos gestaltet. Als Ereignis der chinesischen Gegenwartskultur, in welcher der Mythos China vor allem wirksam werden soll, verdichtet sich diese Feier vollständig auf die Fernsehbildschirme der mehr als zwei Milliarden weltweiten Zuschauer an jenem Abend. Damit stellt sie bereits von ihrem dispositiven und von ihrem narrativen Ausgangspunkt her eine vollständige mythenbildende Symbolik für die Wiederinbesitznahme von Chinas Rolle in der Weltgemeinschaft dar. Die kontinuierliche Inbildsetzung des Staatspräsidenten und höchsten Vertreters nationaler Einheit, Hu Jintao, an der Seite des IOC-Präsidenten Jacques Rogge als an diesem Abend höchsten Repräsentanten einer friedlichen und harmonischen Globalkultur, steht in diesem Sinne für die Kommunikation Chinas mit der Weltgemeinschaft und für die inter- wie zugleich supranationale Bedeutung dieser Feier und Chinas ein. Während noch bei der – nur – von Filmkameras aufgezeichneten Staatsgründung am 1. Oktober 1949 das unmittelbar teilnehmende Publikum auf dem TiananmenPlatz die privilegierte Adressaten- und Multiplikatorenmasse war, muss im Jahre 2008 unter dem Eindruck der Fernsehkameras das Publikum im Stadion endgültig der unendlich größeren und bedeutenderen Masse vor den globalen und zugleich in das Private hinein fragmentierten Bildschirmen weichen. Dabei wird es selbst
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zur Kulisse für deren Wahrnehmung. Und diese ist nicht mehr wie 1949 territorial und national, sondern, so geben es die Dispositionen der globalen Mediengesellschaft und ihrer Aufmerksamkeitskultur vor, deterritorial und global. Allerdings, und das ist der wichtigere Unterschied, sind die Akteure der Geschichtsschreibung wie auch das Publikum längst nicht mehr passiv, sondern unter den neumontierten Anordnungen und den polysemischen Bedeutungsangeboten der Aufmerksamkeitskultur aktiv und damit kaum noch hegemonial vereinnahmbar. Diesem Umstand und Ziel trägt auch die Inszenierung der Feier Rechnung, wenn sie eben nicht auf der Ebene des Massenereignisses verharrt, sondern von diesem her mit Hilfe von Kamerafahrten und Zooms wie nicht zuletzt durch die Inszenierung selbst immer wieder auf das Singuläre von Ereignissen und Charakteren verweist, durch welche diese Leistungen zustande gekommen seien. Als eine geschlossene Einheit unterschiedlichster Individuen werden Akteure und Publikum nichtsdestoweniger – oder vielmehr gerade dadurch – zu einem Element des Gesamtmythos dieser Inszenierung und ihrer Verweisstrukturen. Es geht den Autoren dieser Feier um die Mediatisierung der Kultur in der für die Malerei, Kalligraphie und Schrift gleichsam wirksamen Medien Tusche und Papier. Deren Inszenierung als Errungenschaft einzelner Akteure verknüpft in der Narration der olympischen Eröffnungsfeier auf der Ebene gleich mehrerer intermedialer Verweisstrukturen die Anfänge der Geschichte wechselwirksam mit der Wahrnehmungsgegenwart dieses Ereignisses. Dabei wird am Ende auch das gegenwärtige, hier zur Selbstreferenz generierende Fernsehbild als ein in das Stadiongeschehen eingebettetes mediales Zitat wieder in die Ereignishaftigkeit des aktuellen Anlasses und somit in die Ursprünge der chinesischen Kultur integriert – dies allerdings nicht, ohne in jedem Moment auf jene Utopie einer Harmonischen Gesellschaft zu verweisen, für deren Realisierung das gegenwärtige Cultural China einstehe. So lässt sich diese kurze Sequenz der Feier durchaus auch als eine Chinas Gegenwart mythisierende Rekonstruktion jenes im 3. vorchristlichen Jahrhundert von Zhou Yan entwickelten Prinzips des Wude zhongshi ℣藆兗眑, des Ende-Anfangs der fünf Lagen von Tugend, lesen. Daran zeigt sich, dass der Selbstinszenierung Chinas als Cultural China an diesem Abend eine vollständige mythische Verweisstruktur der kulturellen Errungenschaften zugrunde lag. Diese hätten die in den Bildern visualisierten und in das globale wie zugleich auch nationale Gedächtnis eingeschriebenen – chinesischen – Akteure der Welt geschenkt: »Die Essenz der reichen Kultur Chinas, sein Konzept und seine Vision der Welt« zu repräsentieren, lautete in diesem Sinne das offizielle Motto der Feier, über das sich der territoriale Nationalstaat und das deterritoriale und globalisierte Cultural China als Summe und Verweisstruktur seiner Akteure gleichermaßen legitimieren und im Hinblick auf die Anforderungen der globalen Kultur, supranationalen Institutionen und globalen Märkte stabilisieren. Dazu stellt die Gesamtchoreographie der Olympiafeier eine unmittelbare Repräsentation oder Simulation von Gegenwart in der kollektiven Wahrnehmung her. In ihr scheinen sich alle vergangenen Großereignisse an diesem einzigen Abend zu wiederholen und vom nationalen zu einem globalen Ausmaß auszudehnen, während
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sie aber zugleich am Fernsehbildschirm individuell wahrgenommen werden und in dieser Reterritorialisierung im privaten Raum zum Teil des Lebensalltags eines jeden Einzelnen werden. So haben sie letzten Endes auch auf die Zuschauer selbst als Akteure des globalisierten Cultural China verwiesen und diese mit ihren Aussagen direkt angesprochen. In diesem Sinne kontrastiert der martialische Auftakt konsequent mit der von sanften Klängen begleiteten Inszenierung des chinesischen Ursprungsmythos und der Auferstehung des Fabelvogels Phönix in einer imaginären Vergangenheit. Von diesem kulturellen Ursprungsmythos her wird anschließend, angeleitet vom Gesang eines kleinen Mädchens, die gesamte vorgeblich »fünftausendjährige Geschichte der chinesischen Kulturnation« mythisch wie zugleich metaphorisch rekonstruiert. Auf diese Weise wird eine mediale Welt erschaffen, die nicht dazu angetreten ist, abzubilden und ein binäroppositionelles Verhältnis zwischen dem Signifi kat und dem Signifi kanten zu imaginieren. Vielmehr steht sie vor allem für sich selbst wie für ihre eigene Medialität ein. In diesem Sinne spielt es für die chinesischen Choreographen auch keinerlei Rolle, ob die Minderheiten-Kinder, welche, die Einheit des Vielvölkerstaates symbolisierend und damit zugleich auch auf die weltweiten Tibet-Debatten reagierend, die Nationalflagge ins Stadionrund tragen, nun »echt« oder, wie sich schließlich herausstellte, kostümierte Angehörige der vorherrschenden Han-Nationalität sind. Viel wichtiger erscheint hier das dominante Ordnungssystem, welches (in einer postnationalen, die Informations- von der Wissensgesellschaft ablösenden Abwandlung von Roland Barthes bekanntem Beispiel eines vor der Trikolore salutierenden farbigen Soldaten vom Titelbild einer Ausgabe der Zeitschrift Paris Match aus dem Jahre 1956) die chinesische Nationalflagge in Händen dieser Kinder wie auch der nationalen Volksbefreiungsarmee mit derjenigen der Olympischen Spiele zu einem neuen Globalmythos verschmelzen lässt, ohne das Nationale des Chinesischen dabei auszumerzen. Auf den Ursprungsmythos des Fabelvogels Phönix und die eine universelle Harmonie zwischen Kultur und Natur beschreibende Einführung der Shuimohua, der Tuschmalerei und -schrift auf Papier, folgen in der Eröff nungsfeier nach demselben Muster einer Neumontage des Cultural China und seiner Positionierung im globalen Wettbewerb nach dem Motto einer Harmonischen Gesellschaft die Ausdifferenzierung der Schrift, die Diaoban-Drucktechnik mit fi xen Stempeln, der Huoban-Druck mit beweglichen Stempeln, das Schatten- und Puppenspiel und schließlich die Dramen, die chinesischen Opern. Von der Bedeutung der Seidenstraße als erstem weitreichenden Globalisierungsschritt (der nämlich nicht von Europa, sondern lange vorher von China ausging, und eben nicht wie im Kolonialismus kriegerisch und missionarisch, sondern friedlich und tolerant gewesen sei, so die Argumentation der Verantwortlichen hinsichtlich ihrer Narration von einer harmonischen Weltgemeinschaft unter chinesischer Anleitung) wird schließlich ein Bogen gespannt in die globalisierte Gegenwart. In ihr gedenkt China an seine mit der Seidenstraße begründete Rolle anzuknüpfen. Die spätestens jetzt nach China gelangte, von China angeeignete, zu einem Eigenen montierte und, versetzt mit den Spuren des chinesischen Eigenen, zurück in die Welt getragene Medien- und Populärkultur wird in den nachfolgenden Inszenierungen der Feier evident: Taiji
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und Kampfkünste, die nicht nur zu Elementen des postindustriellen westlichen Exotismus geworden sind, sondern auch als erfolgreiches Kinogenre von China her Hollywood und damit die globale Semantik erobert haben, und schließlich die Popmusik, die sich als deterritoriale Kultur begreifen lässt, über welche die Kinder die Zukunft der Welt zu definieren beginnen. Dass China selbst längst zu einem deterritorialen Label wie zugleich zu einer funktionierenden territorialen Einheit und einem Moral- und Rechtssystem geworden ist und in Form seiner individuellen privaten und öffentlichen Akteure aktiv und erfolgreich gestaltend an trans- und hypernationalen Prozessen partizipiert und sich erfolgreich am globalen Wettbewerb beteiligt, unterstreicht nicht zuletzt die Auswahl des ehemaligen Sportlers und nunmehr erfolgreichen Sportartikelherstellers Li Ning für die Entzündung des olympischen Feuers. Bemerkenswert ist hierbei, dass die Veranstalter zugunsten dieses Unternehmers auf die nationalistisch interpretierbare Geste verzichtet haben, diese Ehre einem der Aushängeschilder des gegenwärtigen Sports zukommen zu lassen. Und nicht weniger bemerkenswert ist, dass die chinesischen Organisatoren gleichzeitig darauf verzichtet haben, die Firma Li Ning (wie es noch bei den Asienspielen einige Jahre zuvor der Fall gewesen war) zum Hauptausrüster der Olympiade zu bestimmen, um stattdessen das ökonomisch attraktivere Angebot von Adidas vorzuziehen, ohne damit einen Verlust nationaler Integrität verbunden zu haben. Zwar hält China, so wie ja auch die anderen Staaten, nach wie vor am institutionellen Ordnungssystem seiner Staatlichkeit fest. Allerdings hat es die Inbildsetzung eines deterritorialen Cultural China mit dieser Feier eindrucksvoll einzuleiten vermocht und der Welt dabei nicht, wie etwa Hollywood, ein starres und entwicklungsunfähiges System einer in sich abgeschlossenen Ikonographie, sondern vielmehr eine mythologische Struktur im Barthes‘schen Sinne präsentiert, an die sich beliebig anknüpfen und die sich in viele Richtungen weiterentwickeln lässt. Das Cultural China aber, und das ist das Fazit, welches die Veranstalter der Welt mitgeteilt haben, wird in allen folgenden Prozessen als Spur und Impulsgeber stets präsent sein und sich mit seinem Globalisierungskonzept einer Harmonischen Gesellschaft mehr und mehr im globalen Wettbewerb zu behaupten verstehen. Die Mythen generierende Semantik dieses Konzeptes vermag dabei die teilweise aggressiven Wirklichkeiten der Behauptung chinesischer Unternehmen und Institutionen im weltweiten Miteinander, in China ohnehin, aber auch in Afrika und anderen Teilen der Welt in zunehmendem Maße, immer mehr in das kulturelle Vergessen zu verdrängen. Literaturverzeichnis R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1981. H. Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), Hamburg 1991. H. Bergson, Schöpferische Entwicklung (1907), Hanau 1969. M. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt a. M. 2002.
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M. Giesecke, Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. H. Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (1896), Hamburg 1991. Vgl. S. Sassen, Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. A. Plaks, Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays. Princeton, 1977; vgl. auch Kramer, Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in China, Bielefeld 2004. Die nachfolgenden Überlegungen zur Eröff nungsfeier der Pekinger Olympischen Sommerspiele 2008 beziehen sich auf umfangreichere Analysen aus dem Band S. Kramer und P. Ludes (Hgg.), Networks of Culture, Münster / London 2010. Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. D. Zhong, 朮⮶ et. al. (Hgg.), Dianshi kuaguo chuanbo yu minzu wenhua 䟄展耞⦌↯蚩疭 秫礊磷荩 (Die Internationalisierung des Fernsehens und die Nationalkultur), Peking 1998. Vgl. hierzu auch die weiterführenden Ausführungen zu diesem Punkt in Stefan Kramer, Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in China, Bielefeld 2006.
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Diskurse von Harmonie und Wettbewerb und die postnationale Konstruktion eines Cultural China
S. Kramer, Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in China, Bielefeld 2004. S. Kramer, S. P. Ludes (Hgg.), Networks of Culture, Münster / London 2010. A. Plaks, Chinese Narrative. Critical and Theoretical Essays, Princeton 1977. S. Sassen, Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2008. D. Zhong, 朮⮶ et. al. (Hgg.), Dianshi kuaguo chuanbo yu minzu wenhua 䟄展耞⦌↯蚩疭秫礊磷荩 (Die Internationalisierung des Fernsehens und die Nationalkultur), Peking 1998.
Geist und Stil. Warum Ökonomen etwas von Kultur verstehen müssen Als John Maynard Keynes seinen Anforderungskatalog für gute Ökonomen aufstellte, hatte er dabei seinen Lehrer Alfred Marshall als Vorbild im Sinn. Doch wer ihm posthum schmeicheln will, vergisst seither nicht, darin auch ein Selbstbild zu erkennen. Ein »Meisterökonom«, schreibt Keynes, müsse einen hohen Standard in mehreren verschiedenen Richtungen erreichen und Talente miteinander kombinieren, die man nicht oft zusammen findet. Er muss Mathematiker, Historiker, Staatsmann, Philosoph sein – bis zu einem gewissen Grad. Er muss Symbole verstehen und in Worten sprechen. Er muss das Besondere im Zusammenhang mit dem Allgemeinen begreifen und Abstraktes wie Konkretes im selben Gedankengang ertasten. Er muss die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit studieren für die Zwecke der Zukunft. Kein Teil der menschlichen Natur oder seiner Institutionen darf sich völlig außerhalb seines Blicks befinden.1
Keynes‘ Porträt des ökonomischen Universalgenies ist im Zuge der szientifischen Spezialisierung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts außer Mode gekommen. Schritt für Schritt isolierte sich die Ökonomie zunächst von den Geistes-, dann von den Staats- und zuletzt von den Sozialwissenschaften, als Ziel stets die exakte und reine Mathematik vor Augen und die Überlegenheit des eigenen Fachs im enzyklopädischen Kosmos von Akademia stillschweigend aber mit gebotener Arroganz voraussetzend. Diese eng geführte Exzellenz der Ökonomik hat inzwischen ordentliche Macken bekommen. Es bedurfte nur noch eines letzten Anstoßes der Blamage in der großen Wirtschafts- und Finanzkrise (gewiss nicht alle Vertreter des Fachs haben sich blamiert), um neu über die wissenschaftstheoretische Positionierung der Ökonomik nachzudenken. Mag auf die mathematisierte Gewissheitsform der Neoklassik der »Markt« der Ökonomiken in den vergangenen Jahrzehnten dominiert haben, so zeigt sich doch rasch, dass dies nicht das einzige und ausschließliche Angebot darstellt: Dahinter oder daneben regen sich längst Ideen und Forschungen, welche mit großem Erkenntnisgewinn die Ökonomie in einen Dialog mit ihrer kulturellen Umwelt zu bringen verstehen, von der sie selbst doch auch ein Teil ist. Während die neue Verhaltensökonomik zeigt, wie unberechenbar die menschliche Natur ist, die das wirtschaft liche Verhalten der Menschen beeinflusst, öff net die ökonomische Glücksforschung den Blick auf Werte und Haltungen, die den Wahlhandlungen zugrunde liegen. Die Soziologie der Märkte schließlich vermag zu zeigen, warum alle Handlungen und Entscheidungen auf Märkten eingebettet sind in soziale Welten. Allemal sind es Welten »jenseits von Angebot und Nachfrage« (Wilhelm Röpke), die – sei es positiv oder negativ – direkten Einfluss auf wirtschaft lichen Output haben, mithin auf Wachstum und Wohlstand der Nationen.
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RAINER HANK
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Zu sagen, dass culture matters, ist somit überraschend und zugleich ein bisschen trivial: In diesem Sinn verstehen sich die nachfolgenden Überlegungen als Bausteine für eine künft ige kulturtheoretische Grundlegungen der Ökonomie.
1. Culture matters Ideengeschichtlich hat der Kapitalismus seine Wurzeln in der bürgerlichen Aufk lärung des 18. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution, Grundlage unseres heutigen Wohlstands, setzte sich durch, weil es der von christlicher Haltung getragenen Klasse des europäischen Bürgertums gelungen war, mit neuen Werten die Aristokratie moralisch in die Enge zu treiben und weil die christlich-bürgerlichen Haltungen sparsamer Askese und nachhaltiger Arbeitsethik für die auf Humankapital angewiesene Logik des Kapitalismus ziemlich förderlich war. Die industrielle Revolution war nämlich mehr als nur eine Revolution von Kapitalakkumulation und Wachstum. Sie bedeutete zugleich eine politische und soziale Transformation der gesamten westlichen Welt, welche ihre Werte und Hierarchien in der Gesellschaft neu definierte und die Verteilung von Wohlstand und Einkommen radikal veränderte. Die industrielle Revolution war nicht nur eine Revolution der Produktionsbedingungen; sie war auch eine Klassenrevolution. Voraussetzung für diese Veränderungen war der Aufstieg eines neuen Wirtschaft sbürgertums, welches seine eigenen Werte zur Durchsetzung der neuzeitlichen naturwissenschaft lich-technischen Erfindungen und der modernen Produktionsweisen offensiv zu nutzen wusste. Die bürgerlichen Einstellungen reüssierten, die aristokratischen Werte gerieten ins Hintertreffen. Während die herrschenden Landbesitzer – unwillig zu sparen, schlecht gerüstet für den Handel und unfähig, Geld als ein Mittel anzusehen, welches profitabel investiert werden konnte – vom sozialen und materiellen Abstieg bedroht wurden, verstand das aufstrebende Bürgertum es glänzend, seine Werte des Maßes, der Bescheidenheit, der Sparsamkeit und der harten Arbeit als Promotor des gesellschaft lichen Aufstiegs zu nutzen und zugleich – Erfolg der unsichtbaren Hand – den Wohlstand des ganzen Volkes zu mehren. Eltern, die davon ausgehen, dass ihre Kinder künftig zu weiten Teilen von ihrem Arbeitseinkommen werden leben müssen, werden ihnen in der Erziehung eine strenge Arbeitsdisziplin nahe bringen und sie zu Sparsamkeit, Fleiß und Ausdauer anhalten. Das waren die Werte des aufstrebenden Bürgertums. Eltern hingegen, die erwarten, dass ihre Kinder später einmal als Rentiers die Früchte ihres Landeigentums genießen werden, lehren ihre Kinder die Kulturtechniken der gepflegten Muße: Denn Jagen, Spielen, musizieren oder die feine Konversation sind Werte, die in den Schlössern und Ballsälen der Aristokratie den »feinen Unterschied« heraus streichen und der Unterscheidung und Reputation der Oberschicht dienen. Damit war aber seit der Französischen Revolution bekanntlich kein Staat, aber auch kein Markt mehr zu machen. Listig hatte das Bürgertum mit seiner Tugend Politik gemacht und die Geburt des modernen Kapitalismus beherzt vorangetrieben. Die Standardantwort der Ökonomen auf die Frage nach den außerökonomischen Voraussetzungen der Märkte in der Nachfolge von Friedrich Hayek, Douglas North oder James Buchanan lautet: Märkte brauchen gute Institutionen. Demnach ist es
Noch vor ein paar Jahren hätte ich nicht gewusst, ob ich an die Bedeutung von Kultur glauben sollte oder nicht. Doch seit kurzem habe ich in vielen Untersuchungen heraus gefunden, dass unterschiedliche kulturelle Werte (der Wert des Wettbewerbs, der Wert der Arbeit) und insbesondere unterschiedliche Einstellungen zum Arbeitsplatz (hinsichtlich der Übernahme eigener Initiativen, des Befehlens und Gehorchens, der Akzeptanz von Verantwortung etc.) überraschend signifikant sind für die Erklärung der Unterschiede ökonomischer Leistungsfähigkeit der OECD-Länder.3
Neben den formalen Rahmenbedingungen sind offenbar eben auch informelle Voraussetzungen (Gebräuche, Tabus, Glauben, Normen etc.) ausschlaggebend für das wirtschaft liche Wachstum und die langfristigen Entwicklungschancen einer Gesellschaft. Mit anderen Worten: Es ist die Kultur, welche die Ökonomie treibt. Eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang die Forschungen des Ökonomen Guido Tabellini über kulturell bedingte ökonomische Entwicklungen in Italien. Seit der nationalen Einigung, also seit 150 Jahren, existieren von Sizilien bis zur Lombardei die gleichen rechtlichen Institutionen und es gibt zugleich eine einheitliche Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Gleichwohl zeigt das sogenannte MezzogiornoProblem bis heute eklatante Unterschiede hinsichtlich des wirtschaft lichen Erfolgs zwischen reichem Norden und armem Süden. Wenn also die formellen Institutionen überall gleich sind, liegt der Verdacht auf der Hand, dass informelle Institutionen und Traditionen eine mehr als akzidentelle Rolle spielen. So arbeitet etwa das Rechtssystem in Süditalien nach anderen »unausgesprochenen« Gesetzen als im Norden: Juristische Prozesse dauern einfach viel länger; Richter und Staatsanwälte brauchen – aus welchen Gründen auch immer – viel mehr Zeit, bis sie ihre
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der rechtliche Ordnungsrahmen, von dem entsprechende Anreize für die unternehmerische Dynamik und langfristige Innovationen ausgehen. Vertragsfreiheit, stabile Eigentumsrechte, dezentrale Entscheidungen oder niedrige Steuern bringen das Wirtschaften in Fahrt; so hieß lange Zeit der liberale Konsens: Wo eine stabile rule of law gegeben ist, da erwachen Unternehmergeist, Innovation und Handel wie von alleine. Oder anders gesprochen: Sofern eine Wirtschaftsordnung entscheidende Freiheitsrechte seiner Bürger garantiert, wird sich diese Erfahrung alsbald in Unternehmergeist niederschlagen. Ein setting der Märkte, das den auf Angebot und Nachfrage basierenden Preismechanismus innerhalb einer stabilen rule of law als hinreichenden Treiber wirtschaft lichen Fortschritts beschreibt, kann allenfalls als heuristische Engführung gelten, die sich selbst um die Erkenntnis der Vielfalt kulturell-wirtschaft licher Wechselwirkungen bringt. In Wirklichkeit hat es eine solch radikale Engführung immer nur in der Karikatur gegeben. Denn spätestens seit den Arbeiten von David Landes und Eric Jones gilt es nicht mehr als häretisch, neben der Bedeutung des Rechts auch die Rolle der Kultur (Haltungen und Werte) für den wirtschaft lichen Erfolg herauszustreichen. »Wenn wir irgendetwas lernen können aus der Geschichte der wirtschaft lichen Entwicklung, dann das: Culture makes all the difference«, schrieb David Landes in seinem Bestseller über den Wohlstand und die Armut der Nationen (1998).2 Und Nobelpreisträger Edmund Phelps bekennt:
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Untersuchungen abgeschlossen haben. Ähnliches gilt für das Funktionieren der Spitäler, der Schulen und der öffentlichen Verwaltung. Im Norden klapp es (eher) gut, im Süden (eher) schlecht. Es sind historisch gewachsene kulturelle Erfahrungen, die diese Unterschiede erklären, behauptet Tabellini: geringeres Vertrauen ineinander, weniger gegenseitiger Respekt, aber auch eine unterschiedliche Wertschätzung, welche der Bildung zugeschrieben wird, die den bleibenden Abstand des Südens zum Norden erklären. »Sozialkapital« (Robert Putnam) hat man diesen »Kitt« genannt, der dem Familienkapitalismus Norditaliens spektakuläre Wohlstandserfolge brachte, während in Ermangelung vergleichbarer Ligaturen der Süden seine Armutsdistanz trotz gigantischer finanzieller Entwicklungsprogramme (Casa per il Mezzogiorno) in 150 Jahren einheitlicher Politik- und Rechtsgeschichte nicht einzuholen vermochte. Soziologen wissen seit Emile Durckheim, dass Marktakteure nicht nur abstrakt Verträge abschließen und Tauschhandlungen vornehmen, sondern untereinander soziale Beziehungen eingehen: Die Beziehungen basieren auf Vertrauen, Freundschaft, Macht und gegenseitiger Abhängigkeit. Diese Interdependenzen gilt es wieder verstärkt in den Blick zu bekommen. Längst hat es sich doch herumgesprochen, dass eine Firma nicht wirklich angemessen beschrieben wäre, wollte man sie nur als Principal-Agent-Veranstaltung ansehen, die nichts anderes im Sinn hat, als den Shareholder-Value zu steigern. Es sei deshalb nicht sehr sinnvoll, ein Unternehmen nur als renditesteigerndes Vertragsverhältnis seiner Eigentümer zu analysieren, sagt der Bonner Ökonom Martin Hellwig. Das ist allein deshalb einleuchtend, weil eine solche Beschreibung mit den alltäglichen Erfahrungen der Menschen nicht mehr sonderlich viel zu tun hat: Hier nämlich herrscht der Eindruck vor, dass die Manager (und nicht die Shareholder) die Macht haben, dass das Vertrauen der Kunden und Zulieferer wichtig ist, dass die Gewerkschaften oder die örtlichen Politiker gepflegt und geschmiert werden wollen. Auch Ort und Herkunft eines Unternehmens spielen eine Rolle, wird doch das Know-how der Ingenieure oder Facharbeiter über Generationen vererbt. Früher hat man diese Kulturtheorie als »Stakeholder-Theorie« bezeichnet. Heute spricht man in der Nachfolge von Karl Polanyi (The Great Transformation) von »Einbettung« (embeddedness): Die institutionalisierten Werte von Brauchtum, Sitte oder Recht spielen eine viel größere Rolle als der nackte Marktbegriff der rationalen Preistheorie schneidende Angebots- und Nachfragekurven anzuerkennen bereit ist. In Marktbeziehungen geht es eben auch – selbst wenn es ein wenig kulturkonservativ klingt – um Anerkennung des Anderen, um Handeln aus Dankbarkeit oder um das Gefühl reziproker Gerechtigkeit, dem Auftrag, miteinander zu teilen. Kultur ist mithin den Märkten alles andere als äußerlich.
2. Ökonomie als Geisteswissenschaft Mit der provozierenden These, dass Ökonomen Geschichten erzählen und Gedichte schreiben, hat die amerikanische Wirtschaftswissenschaft lerin Deidre McCloskey vor fünfundzwanzig Jahren auf sich aufmerksam gemacht (The Rhetoric of Eco-
1. Geschichten. Nehmen wir den Mindestlohn. Juristen (und viele Politiker, Gewerkschafter und andere Zeitgenossen) erzählen, wenn sie für den Mindestlohn optieren, die Geschichte von der menschenwürdigen Arbeit. »Man muss von seinem Lohn auch leben können.« Eine gesetzliche Untergrenze, so geht diese Geschichte, schützt die Menschen vor Ausbeutung. Ein Mindestlohngesetz hat somit einen positiven Effekt: Der Mindestlohn schützt Arbeiter vor Ausbeutung und garantiert ein anständiges Leben. Ökonomen sehen dagegen Effekte, erzählen deshalb auch ganz andere Geschichten: Verursacht ein Arbeiter mehr Kosten als er dem Unternehmer Geld einbringt, wird er entlassen. Das Mindestlohngesetz, sofern der Mindestlohn höher als der Marktlohn ist, macht den Arbeiter somit arbeitslos. Die ökonomische »Story« erzählt die »unbeabsichtigten Effekte«, die juristische Story erzählt die »intendierten Effekte«. Welche Geschichte stimmt? Der New Economic Criticism plädiert dafür, die unterschiedlichen Deutungen auszuhalten und die Spannung gerade nicht aufzulösen. Der New Economic Criticism wendet sich gegen den Economic Imperialism. 2. Metaphern. Metaphern sind nicht uneigentliche Rede, wie man häufig meint. Im Gegenteil: Sie erweitern die Sprache und ihre Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten. »Metaphorische Rede präzisiert, indem sie mit der Dialektik von Vertrautheit und Verfremdung arbeitet« (Eberhard Jüngel).4 Durch die verfremdete Benennung erweitert sich die Bedeutung eines Sachverhalts. Das Standardbeispiel seit Aristoteles heißt: Achill ist ein Löwe. Natürlich ist Achill nicht wirklich ein Löwe. Aber er ist wie ein Löwe. McCloskeys Metapherntheorie wendet diesen Gedanken auf ökonomische Beispiele an: Die »unsichtbare Hand«, der »Zyklus« oder das »Humankapital« sind solche Metaphern. Als Metapher gelesen, lässt sich die gezielte Provokation der Begriffe besser verstehen. Natürlich gibt es im Markt keine unsichtbare Hand. Aber das Bild veranschaulicht, wie sich Eigennutz in Gemeinnutz verwandelt. Metaphern zu bilden ist ein sprachschöpferischer Prozess. Sie können gelingen oder misslingen.
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nomics). McCloskeys Konsequenz lautet: Ökonomie ist Fiktion, Belletristik, nicht (nur) Spiegelung und schon gar nicht mathematisch exaktes Abbild der sozialen Welt, sondern (auch) Konstruktion dieser Wirklichkeit und von vergleichbarem Wahrheitsgehalt wie die Literatur. Ökonomie ist eine hermeneutische Wissenschaft vergleichbar der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaft. Ja radikaler noch: Ökonomie ist auch eine Art Kunst: Die Grenzen zwischen diskursiven und poetischen Texten verschwimmen. McCloskey stammt aus der Chicago-Schule, ist Schülerin Milton Friedmans, versteht sich bis heute als Liberale im europäischen Sinn, hat aber ihr stupendes kulturhistorisches und literarisches Wissen dazu genutzt, die Ökonomie als eine hermeneutische Wissenschaft zu entwerfen: Die Welt muss gedeutet werden, und Deutung ist immer Vielfalt und nicht (naiv) Einfalt. Diese Deutung vollzieht sich entweder in Geschichten oder in Metaphern. Zur Veranschaulichung dieser ökonomischen Literaturtheorie aus Geschichten und Metaphern hier zwei Beispiele:
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Es war eine Umwertung der Werte, ein rhetorischer Tsunami, welcher dem Kapitalismus zum Erfolg verhalf. Neugier (und Gier) gehören zur menschlichen Natur. Aber bis in die frühe Neuzeit waren sie negativ besetzt. Als daraus positive Metaphern wurden, gab das der europäischen Wachstumsgeschichte ihren entscheidenden Schub. Die Menschen mussten Sparsamkeit, Sorgfalt, Fleiß erst lernen, damit Unternehmertum als Ziel menschlichen Strebens lohnenswert werden konnte. Sie mussten aber auch lernen, dass der Eigennutz des Bäckers sich nicht nur für den Bäcker, sondern auch für die gesamte Gesellschaft auszahlt. Mit anderen Worten: Präferenzen sind nicht gottgegeben. Das ist dann doch eine nicht ganz triviale Provokation der ökonomischen Hermeneutik. Denn üblicherweise gelten für Ökonomen menschliche Präferenzen als unhinterfragbar und einer Offenbarung gleich (revealed). Nicht nur die psychologische Ökonomie, auch die ökonomische Hermeneutik gibt sich damit nicht zufrieden. Sie wollen aufk lären über die exogenen Quellen der wirtschaft lichen Entwicklung. Es geht nicht mehr nur darum, endogen zu zeigen, dass wirtschaft liches Wachstum positive Effekte hat auf das kulturelle und soziale Leben. Es geht umgekehrt auch darum, den Beweis zu führen, wie und warum kulturelle Einstellungen unterschiedliche wirtschaftliche Folgen haben. Könnte es sein, dass der szientifische Zwang zur Eindeutigkeit und die Suggestion mathematisch kontrollierbarer Wissenschaft lichkeit der sozialen und geschichtlichen Welt nicht angemessen sind? So lange zwei Storys einander widersprechen und die Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise erzählen, zwingt dieser Widerspruch auch die Ökonomen, auf der Hut zu sein. Wenn aber Ambivalenzen und Ambiguitäten aus einer Wissenschaft verbannt werden, kann sich rasch Sorglosigkeit einnisten: Wo wird denn noch ein Risiko sein, wenn die Mathematiker alles im Griff haben? Weil Ökonomie eine Art von Sozialgeschichte oder Kulturwissenschaft ist, taugt sie zwar zur kontroversen Deutung der Vergangenheit, nicht aber zur Prophetie, die die künft ige wirtschaft liche Entwicklung vorherzusagen wüsste. McCloskey hat das aber aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen schon vor zwanzig Jahren gesagt: Viele halten die Ökonomen für eine Art Vorhersager des sozialen Wetters. Und unglückseligerweise nehmen Ökonomen für ihre Prognosen auch noch Geld. Aber genau so wenig, wie es in die Kompetenz von Seismographen fällt, ein Erdbeben vorher zu sagen, und genauso wenig wie Politologen einen Wahlausgang kennen, können die Ökonomen etwas vorher wissen.
McCloskey ergänzt: »If You’re so Smart, Why Ain’t You Rich.«5
3. Stil und Haltung Die historische Schule der Nationalökonomie (Gustav von Schmoller) hatte für die Ambivalenzen und Ambiguitäten unterschiedlicher Deutungen das Konzept der »Wirtschaftsstile« entwickelt: Stil sei die in verschiedenen Lebensgebieten einer Zeit sichtbare Einheit des Ausdrucks und der Haltung, meint Alfred Müller-Armack in seiner Genealogie der Wirtschaftsstile (1940).
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Der Wirtschaftsstil abstrahiert also – in Absetzung von Wirtschaftssystemen und Wirtschaftsordnungen – vom absoluten Geltungsanspruch der Ökonomie und zwar in der Absicht historischen Verstehens und mit dem Versprechen, die Gründe und historischen Bedingtheiten unterschiedlicher ökonomischer Präferenzen zu deuten. Der Stilbegriff weiß, dass auch »die Theorien der Nationalökonomie immer durch ihre zeitlichen oder geographischen Umstände gezeichnet« sind (Arthur Spiethoff )6 und kritisiert das Konzept einer allgemeingültigen und immer wahren Volkswirtschaftslehre. Es war nicht zuletzt John Maynard Keynes, der den Einfluss kulturell bedingter »irrationaler« Momente auf das Wirtschaft sleben betont hat: Dies beeinflusst Investitionsbereitschaft, Sparverhalten, Spekulations-Thrill und vieles mehr. Entlehnt haben die Ökonomen den Stilbegriff erkennbar aus der Kunst- und Architekturgeschichte. Dort bezeichnet er »charakteristische Ausprägungen« unterschiedlich gestalteter Räume oder Kunstwerke. Stile sind großzügig und dulden Widersprüche: Um 1900 koexistierten Jugendstil, Impressionismus und Naturalismus. Analog konnten in den 70er Jahren Kommunismus und Kapitalismus in Ost- und Westdeutschland und kommunistische und marktwirtschaftliche Ideen im selben Universitätsseminar nebeneinander bestehen. Heute ist der kommunistische Stil (außer in Kuba und Nordkorea) außer Mode gekommen. Daraus freilich zu schließen, es gäbe nur noch einen Wirtschaftsstil, wäre ein Fehlschluss. Ein Stil verkörpert den Geist einer Zeit, das ist mehr als nur eine bloße Mode: Es geht um historisch sich wandelnde wirtschaft liche Weltanschauungen, um kollektive Überzeugungen oder, wenn man so will, die politische Ökonomie von Lehrmeinungen. Mit anderen Worten: Analyse und Kritik der Wirtschaftsstile fördern die verdeckten, kulturell bedingten Grundüberzeugungen wirtschaft licher Theorien zu Tage. Die Freiburger Schule der Ökonomie war sich uneins, was sie vom Stilbegriff halten sollte. Dass Müller-Armack das Konzept des Wirtschaft sstils gut fand, ist kein Wunder, lässt sich doch die Soziale Marktwirtschaft selbst als ambivalentes Amalgam zweier Wirtschaftsstile interpretieren: Das Leistungsprinzip vereint sich mit dem Prinzip der Umverteilung (»Sozialausgleich«) im (vermeintlichen) Interesse sozialer Gerechtigkeit. Rein ökonomisch (oder philosophisch) ist der Widerspruch zwischen den beiden Prinzipien, zwischen equity and equality (Arthur Okun) schwer auszuhalten. Historisch ist das fragile Verhältnis der beiden Prinzipien aber das Geheimnis (und die Krux) des deutschen Wohlfahrtsstaates seit Gründung der Bundesrepublik. Was als Prinzipienstreit betrachtet nur als Widerspruch darstellbar ist, erscheint dem Stilkritiker als Symbiose unterschiedlicher kulturell bedingter Präferenzen: einem auf Wohlstandsmehrung und einem auf Sicherheit gerichteten. Das Konzept der Wirtschaftsstile beschreibt eine Welt, die auf systemische und systematische Wahrheit und Klarheit pfeift. Das ist seine Leistung und seine Schwäche zugleich. Walter Eucken schmähte deshalb den Stilbegriff: Ganz offensichtlich war er ihm zu wischiwaschi. Es fehle ihm die Theorie, weil das Ordnungsgefüge der Wirtschaft nicht herausgearbeitet werde, also die je historische Verteilung der Eigentumsrechte und Lenkungsbefugnisse, kritisiert Eucken. Damit hat er gewiss recht. Es kommt
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aber darauf an, was man will. Der Stilbegriff will nicht Theorie, sondern kulturelle Unterschiede sichtbar machen. Er will zeigen und verstehen, warum sich Epochen und Ökonomen so und nicht anders verhalten haben, auch wenn das aus heutiger Sicht unklug, ineffizient oder widersprüchlich erscheinen mag. Als »anschauliche Theorie« hat der Basler Ökonom Edgar Salin (1892–1974) das Konzept der Wirtschaftsstile charakterisiert. Danach verdankt sich die Ökonomik dem Erbe der antiken Philosophie und der scholastischen Theologie. Ursprünglich verstand sie sich als Geistes- und nicht als Naturwissenschaft. Die Ökonomik wäre dann Bestandteil der Kulturwissenschaften im weiteren Sinn; zu ihren Ausdrucksformen gehört die Mathematik als eine Sprache der Geisteswissenschaften, aber eben nicht als die privilegierte Sprache der Ökonomie. Das entließe die Ökonomik aus der Falle der Mathematisierung, relativierte ihren Unfehlbarkeitsanspruch und brächte sie zurück in die reale und historische Welt.
4. Schlussbemerkungen Wenn Ökonomen wieder etwas von Kultur verstehen, dann erkennen sie, dass auch Märkte nichts anderes sind als soziale Konstrukte. Sie interpretieren die Welt von den Akteuren her und achten darauf, wie Koordinationsprobleme gelöst werden in der Absicht, Märkte als erfolgreiche Institutionen für Wohlstandserfolge zu installieren. Der kulturelle Weitblick befreit von der Engführung auf den Preismechanismus von Angebot und Nachfrage und seinen institutionellen Rahmen. Er zeigt, dass und warum Präferenzen nicht gottgegeben sind, sondern dem historischen und geographischen Wandel unterliegen und kann daraus Schlüsse für das Design von Märkten ziehen. Eine Ökonomik, die sich als Geisteswissenschaft begreift, wird damit zugleich sensibel für die Soziologie der Märkte: Sie erforscht, was dem Marktmechanismus zugrunde liegt, damit er überhaupt zustande kommt: Vertrauen, Respekt, ein optimistischer Glaube an die Zukunft und vieles mehr. Ökonomik achtet dann nicht nur auf die formellen, sondern auch auf die informellen Institutionen, die die Märkte begründen. Eine seriöse Zukunft wird die kulturelle Ökonomik freilich nur haben, wenn sie sich auf empirische und quantitative Ergebnisse stützt. Darauf hat Bruno Frey in Menaggio zu Recht hingewiesen. Mustergültig sind die Untersuchungen von Alberto Alesina, Guido Tabellini oder Fabricio Zilibotti. Wenn Präferenzen nicht mehr als gottgegeben hingenommen werden, dann muss man die Menschen fragen, warum und wie sie wählen. Es braucht Umfragen wie den World Values Survey, der zum Beispiel Aufschluss darüber gibt, warum Europäer der Freizeit einen höheren Rang zumessen als Amerikaner oder warum Amerikaner eher daran glauben, jeder sei seines Glückes Schmied, wohingegen die Europäer die Verteilungsergebnisse des Schicksals stets korrigieren wollen. Mit solchen kulturellen Einstellungsunterschieden munitioniert kann die Suche nach der Genese Geist und Stil in der Geschichte beginnen. Die Ergebnisse lassen sich allemal als Geschichten erzählen.
E. Jüngel, »Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie«, in: Evangelische Theologie (Hrsg.), Sonderheft Metapher (1974), S. 71–122. J. M. Keynes, »Alfred Marshall: 1842–1924« (1924), in: Geoff rey Keynes (Hrsg.), Essays in Biography, 1933. D. Landes, »Culture Makes Almost All the Difference«, in: L. E. Harrison, S. P. Huntington (Hgg.), Culture Matters, New York 2000, S. 2–13. D. McCloskey, »The Limits of Expertise. If You’re so Smart, Why Ain’t You Rich?«, The American Scholar 393 (Summer 1988), S. 393–406. A. Spiethoff, »Die allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie. Die Wirtschaftsstile«, Schmollers Jahrbuch 56 (1932), S. 51–84. Weiterführende Literatur
J. Beckert, »The Social Order of Markets«, in: Max Planck Institut für Gesellschaft swissenschaft (Hrsg.), Discussion Paper 07 / 15 (2007). D. McCloskey, The Rhetoric of Economics, Madison / Wisconsin 1985. M. Döpke, F. Zilibotti, »Occupational Choice and the Spirit of Capitalism«, Quarterly Journal of Economics 123 (2008), S. 747–793. N. Fligstein, L. Dauter: »The Sociology of Markets«, Annual review of sociology 33 (2007), S. 105–128. K. Polanyi, The Great Transformation, Boston 2001. B. Schefold, Wirtschaft sstile. Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur, Frankfurt a. M. 1994. B. Schefold, »Nationalökonomie als Geisteswissenschaft – Edgar Salins Konzept einer Anschaulichen Theorie«, List Forum 18 (1992), S. 303–324. G. Tabellini, »Culture and Institutions: Economic Development in the Regions of Europe«, CesIfo Working Paper 1492, 2005.
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J. M. Keynes, »Alfred Marshall: 1842-1924« (1924), in: Geoffrey Keynes (Hrsg.), Essays in Biography, 1933, S. 170. 2 D. Landes, »Culture Makes Almost All the Difference«, in: L. E. Harrison, S. P. Huntington (Hgg.), Culture Matters, New York 2000, S. 2–13. 3 Unveröffentlichtes Gespräch des Vf. mit E. Phelps im November 2007 in Berlin. 4 E. Jüngel, »Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie«, in: Evangelische Theologie (Hrsg.), Sonderheft Metapher (1974), S. 71–122, hier S. 119. 5 D. McCloskey, »The Limits of Expertise. If You’re so Smart, Why Ain’t You Rich?«, The American Scholar 393 (Summer 1988), S. 393–406. 6 A. Spiethoff, »Die allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie. Die Wirtschaftsstile«, Schmollers Jahrbuch 56 (1932), S. 51–84.
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Geist und Stil. Warum Ökonomen etwas von Kultur verstehen müssen
Literaturverzeichnis
Kulturelle Evolution und pädagogische Einwirkung. Erziehung zwischen Wettbewerb und Solidarität Der Begriff kulturelle Evolution bezeichnet die Entwicklung erlernter Verhaltensund Handlungsweisen. Folgt man der kulturanthropologischen Forschung,1 so handelt es sich bei diesem Strang der Evolution weniger um die von Generation zu Generation stattfindende Weitergabe von Informationen über die Gene, sondern um Informationen, die über Lehr- und Lernprozesse tradiert und jeweils von den »Kulturneulingen«2 interpretiert und modifiziert werden. Die Evolution des Menschen und sein Verhältnis zu sich selbst, zu Kultur und Natur hängen mit seiner Lernfähigkeit auf das Engste zusammen.3 Lernen ist die kulturelle Voraussetzung für soziales Überleben, auch weil es zu riskant wäre, sich auf die Ungewissheiten des Daseins ohne Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft, ohne Gestaltung seiner Umwelten einzulassen. Neben den Bildungs- und Lernorten Familie, Verwandtschaftssystem und Gleichaltrigengruppe gehört zur kulturellen Evolution die Ausdifferenzierung von Handlungsfeldern der Pädagogik, also z.B. der Kindertageseinrichtungen, Schulen, Hilfen zur Erziehung, Beratung, Ausbildung u.a. wie wir sie heute in westlichen Gesellschaften vorfinden, aber selbstverständlich nicht nur in diesen. Auf die Entwicklung des lernenden Selbst als Teil der Evolution in der Generationenabfolge richten sich Pädagogik und Generationenpolitik. 4
1. Die pädagogische Frage nach der Einwirkung auf kulturelle Evolution und die Vorstrukturierung des Sozialen Mit Beginn der Neuzeit stehen die Bildungs- und Lernorte ebenso wie die Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, einschließlich ihrer Lehrer, zunehmend im Fokus beginnender Erziehungsforschung. Entdeckt wird die Gesellschaft als Lernende Gesellschaft. Seit den »Benimmbüchern« von Erasmus von Rotterdam (De civilitate morum puerilium, 1530)5 über Comenius’ Forderung, Wissen an alle zu verteilen (»alle Alles ganz zu lehren«: »Orbis pictus sensualium«, 1658 / 1997) zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschleunigt und erweitert sich das Nachdenken über Erziehung und Bildung. Martin Luthers starker Wille, dem Volk das Wort Gottes verfügbar zu machen, indem er ihm »aufs Maul« schaut und das esoterische Bibellatein ins Deutsche übersetzt, 6 zehrt von der Vision einer Lernenden Gesellschaft: Die Menschen sollen sich selbst ein Urteil aus der Schrift bilden; dazu müssen sie lernen, um die Texte verstehen können. Immanuel Kants Frage, wie sich kritische Vernunft gegen dogmatische Befangenheit des Denkens behaupten und gegen die Willkür der Feudalherren argumentieren lässt, steuert den Gedanken bei, dass Aufk lärung, Selbstbestimmung, eigene Urteilsbildung und Mündigkeit ohne Lernen nicht zu erreichen sind – aber auch nicht ohne Erziehung.7 Deren handlungsrelevante Ergebnisse fädeln sich im Kontext von Bildung in kulturelle
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RAINER TREPTOW
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Umwelten ein und wirken so auf den symbolisch-strukturellen Lernrahmen der Gesellschaftsmitglieder zurück. Zu berichten ist von Johann Heinrich Pestalozzis nicht nachlassender Leidenschaft, gerade auch den Armen und den Kindern der Ärmsten den Zugang zu einem methodisch organisierten Lernen zu ermöglichen, um so wenigstens über die elementaren Fähigkeiten des Lesens und Schreibens zu verfügen, damit sie weder von ihresgleichen noch von den Reichen und Mächtigen ein X für ein U vorgemacht bekommen und übers Ohr gehauen würden. 8 Von Rousseau über Kant, Pestalozzi, Trapp und Fröbel bis hin zu Schleiermacher wird die Frage nach der Gestaltung dieser von Generation zu Generation verlaufenden Weitergabe von Wissen und Haltungen, wird die Frage nach dem Eingreifen in den Prozess kultureller Evolution durch Erziehung zu einem grundlegenden Thema. Im Hintergrund steht das Interesse an Perfektionierung der Lernumgebungen und an Perfektibilität der Lebensführung der Heranwachsenden. »Was will denn die ältere Generation mit der Jüngeren?« fragt Schleiermacher in seinen pädagogischen Vorlesungen von 1826 und gibt die Antwort, »dass die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzutreten.«9 Das alles reicht bis hin zu den Anstrengungen der Arbeiter- und der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich u.a. dem von Francis Bacon formulierten und von Karl Liebknecht und August Bebel aufgegriffenen Motto »Wissen ist Macht« verpfl ichteten. Bis hinein in die jüngsten Programme der Europäischen Gemeinschaft, der UNESCO und der OECD, Gesellschaften rund um den Globus als knowledge societies zu begreifen, Regionen und Städte als learning regions und learning cities, ja als »Bildungslandschaften« zu konzipieren, reicht dieser lange Arm, welcher der kulturellen Evolution gar in weltgesellschaft licher Perspektive Richtung geben und immer auch die Folgen der eigenen Einflussnahme bearbeiten will.10 Mit anderen Worten: Kulturelle Evolution wird zu sich selbst reflexiv, indem sie nach Optimierungsbedingungen der Informationsweitergabe fragt und diese zu organisieren versucht. Das Reflexionssystem, das sich auf dieses Problem spezialisiert, wurde zunächst in der Pädagogik selbst verankert und im 20. Jahrhundert zur Erziehungswissenschaft ausgebaut;11 es kam zur Unterscheidung zwischen dem Eigensinn der Reflexionsformen praktischen Handelns und denen der Erziehungswissenschaft.12 Dabei wird deutlich, dass die Anstrengung, kulturelle Evolution durch die Organisation von Bildungs- und Lernverhältnissen zu beeinflussen, und wie Schleiermacher sagte, »Einwirkung auf die jüngere Generation« zu nehmen, auf eine Umgebung trifft, die sozial bereits erheblich vorstrukturiert ist, trägt diese doch – bis in die Lebensführung jedes Einzelnen hinein – die Merkmale kompetitiver Prinzipien und strategischer Nutzenkalküle. Ein wesentliches Moment der pädagogischen Einwirkung auf kulturelle Evolution findet sich in der Strukturierung von Zeit.
2. Kulturelle Evolution, pädagogische Zeitökonomie und Wettbewerb In der Periode der Reformation und der Renaissance wurde eine pädagogische Zeitökonomie begründet, welche die Vertagung des gegenwärtigen Erlebens Her-
Kaum eine Schulordnung des 16. Jahrhunderts verzichtet […] auf diese Argumentationsfigur: daß es Pflicht sei, die Kinder zur Schule zu schicken. Von Anfang an ist deutlich, daß es sich bei diesen Schulen um ein institutionalisiertes Verhaltensarrangement handelt, das tief in die Lebensformen eingreift, und zwar vor allem über ZeitRegulierungen. Die Geschwindigkeit, in der hier ein europäischer Konsens entstand, ist erstaunlich. Innerhalb weniger Jahrzehnte bildet sich ein Zeitschema, das in allen Schulordnungen wiederkehrt, unabhängig davon, in wessen Trägerschaft eine Schule errichtet wird oder in welcher Region sie liegt. […] Fortan wird das europäische Bildungswesen sich mit dieser Schwierigkeit abquälen: wie bringt man die Zeitrhythmen des individuellen Erfahrens und die Zeitrhythmen des institutionellen Lernens in eine Konkordanz, und zwar so, daß weder das Individuum mit seinem Interesse an persönlich artikuliertem Lebenssinn darunter leidet noch das Interesse an der Produktivität des ganzen Gemeinwesens zu kurz kommt? 14
Pädagogisch Einfluss auf kulturelle Evolution, Einfluss auf Ontogenese zu nehmen, verlangte die Veränderung von Zeitstrukturen und entsprechende Anpassungen im Lebensentwurf der jungen Generation zu sichern. Bereits hier wurde der Wettbewerbsfaktor Zeit erkannt und seine effi ziente Ausnutzung zum Lernziel gemacht. Seine Beobachtung durch den Lehrer wurde zur pädagogischen Tugend; Sanktionen setzen ein für diejenigen, die zu spät zum Unterricht kommen oder ihn zu früh verlassen. Wer in die Schule geht, muss lernen mit Zeit hauszuhalten, effektiv zu sein und effizient zugleich. »Bedenke, dass Zeit Geld ist« zitierte Max Weber den Imperativ der protestantischen Ethik bei Benjamin Franklin.15 Die lebensweltlich strukturierte Zeit der Zöglinge ist mit der institutionalisierten Zeitordnung der Schule abgeglichen worden. Der Schulzeit gerecht zu werden verlangt, Zeitdisziplin in den Lebensentwurf hinein zu nehmen, heißt, alle Bedürfnisse zurückzustellen, die nicht zu genau denjenigen Zeit-»Punkten« für legitim erachtet werden, welche die Schule setzt. Erzogen werden heißt auch, mit Zeit-Disziplin umzugehen: Pünktlich sein heißt, die institutionellen Zeitrhythmen den eigenen überzuordnen. Die Arbeitsdisziplin, welche die aufkommende Industrialisierung verlangte, und die Zeitdisziplin der Schule sollten einander entsprechen. Dazu wurde die eigene Gegenwart mit der von der pädagogischen Anstalt gesetzten Abfolge der Inhalte synchronisiert; Didaktik als überlegte Abgleichung inhaltlicher Einsichtsvermittlung mit dem Zeitkontingent wurde zum Merkmal schulpädagogischer Professionalität. Zwischen den »Momenten« einer institutionellen Gegenwart des pädagogischen Zeitzusammenhangs und den subjektiven Gegenwartsmomenten der Schüler soll es zu einer 1:1-Relation kommen, zu einer »Simultanpräsenz«, die in genau jenem Augenblick Leistungs- und Aufnahmebereitschaft erwartbar machen soll, der von der Schule gesetzt wird: für Mathematik dann aufnahmebereit zu sein, wenn sie im Stundenplan »dran« ist, für Literatur, wenn sie »dran« ist; zugleich soll ein Zukunft s-
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anwachsender in den Dienst langfristiger Nutzenkalküle stellt. Der Anteil pädagogischer Disziplinierung verlangt Gratifi kationsaufschub und Selbststeuerung der Emotion: zivilisatorische »Affektmodellierung«13. Im 16. Jahrhundert wurde Zeit zum elementaren Bestandteil der Bildungsplanung:
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horizont ausgebildet werden, der auf den eigenen Qualifi kationsabschluss hinführt, der nicht zuletzt auch eine Markierung, wenn nicht Festlegung des sozialen Herkunftsstatus bedeutet. Es gilt also eigene Lernbedürfnisse zurückzustellen und auf die freie Zeit zu verlagern und eine Synchronisationsgeschichte aufzubauen, die die Institutionalisierung des Lebenslaufs16 als Schülersein ausformt.
3. Kulturelle Ausprägungen der Bewältigung von Wettbewerbsnachteilen: Armut In den durch ständische und Klassenbeschränkungen geprägten Lebenswelten geht es um die alltägliche Bewältigung von Wettbewerbsnachteilen und um die Suche nach Wettbewerbsvorteilen, die durch das Wirtschaft s- und Beschäft igungssystem, durch Markt und Staat vorgegeben sind. In diese Lebenswelten werden die Kohorten der jüngeren Generation hineingeboren – und einige drohen, darin aufgerieben zu werden. Bettina von Arnim schrieb etwa 1844 in ihrem Armenbuch, dass die Not zum Betteln zwinge. Sie argumentiert in deutlich verbittertem Tone, »daß der Mann, der mit Frau und Kind will leben, die Woche drei Groschen sechs Pfennige verdient und 3 Groschen 9 Pfennige Abgaben hat, daß dieser um die Wette mit den Seinen betteln geht, um den fehlenden Dreier noch hinzuzutun […]«.17 Besonders krass wurde dies unter den Wettbewerbsbedingungen der Frühindustrialisierung deutlich. In den Industriezweigen des frühen 19. Jahrhunderts betrug der Anteil der arbeitenden Kinder im Alter vom fünften Lebensjahr aufwärts bis zu 15 . Ein Geheimer Regierungsrat namens Keller übergab einen Bericht über seine Inspektionen, die er in rheinischen Textilfabriken durchgeführt hatte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler fasste diesen Bericht zusammen: Zwölf bis fünfzehnstündige Kinderarbeit von fünf Uhr morgens bis spät abends sei keine Seltenheit, der Schulunterricht falle durchweg aus, klagte der seit längerem mit solchen Exzessen vertraute Keller und beschrieb voll gerechter Empörung die kleinen Gestalten, die er als »wahre Gebilde des Jammers, hohläugig und bleich wie der Tod« in den Betrieben angetroffen hatte.18
Der Bericht war ein Beitrag, der Erfolg hatte – allerdings erst nach einer Reihe anderer Eingaben und Petitionen, vor allem durch die um den Gesundheitszustand zukünft iger Rekruten besorgten Militärbehörden. Es vergingen aber noch fünf Jahre bis der preußische König in Berlin ein Gesetz erließ, das »Regulativ über die Beschäft igung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken«: Ihm zufolge war erst nach dem Minimalalter von neun Jahren Fabrikarbeit erlaubt […]. Neun- bis Sechzehnjährige sollten höchstens zehn Stunden lang arbeiten, vorund nachmittags stand ihnen eine viertelstündige, mittags eine einstündige Pause, »Bewegung in freier Luft«, sowie Zeit für Schul- und Konfirmationsunterricht zu. Arbeit vor fünf Uhr morgens und nach neun Uhr abends wurde ebenso wie Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit generell untersagt. Verstöße wurden allerdings mit nur geringen Geldbußen geahndet, auf Antrag konnte auch ein längeres tägliches Arbeitspensum wieder bewilligt werden.19
4. Zur pädagogischen Kritik kompetitiv orientierter Zeitstrukturen Und hier trat die Pädagogik auf den Plan, die die Folgen einer lebensgefährlichen Wettbewerbslogik erkannte und deren Begrenzung einforderte: Friedrich Schleiermacher, Rousseau folgend, wandte sich 1826 in seinen Vorlesungen gegen eine rücksichtslose Indienstnahme des kindlichen Zeiterlebens durch die Zeitordnungen der pädagogischen Einrichtungen. Er formulierte ein pädagogisches Ethos, das – später bei Janusz Korczak – als das »Recht des Kindes auf den heutigen Tag« weiterentwickelt wurde. Dieses Ethos kann als eine auf kompetitive Zeitoptimierung angelegte Kritik an Erziehung verstanden werden, die als Art schwarze Pädagogik die Gegenwart des Kindes den Vorstellungen des Erziehers von dessen Zukunft opfert. Hatte bereits Rousseau gemahnt, es komme bei der Erziehung der Kinder nicht darauf an, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren, so schreibt Schleiermacher: Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist. […] Wollten wir sagen, daß die pädagogische Tätigkeit auch bei dem widerstrebenden Kinde rein und allein durchzusetzen sei, so daß das Kind um der Zukunft willen auf die Befriedigung des gerade gegenwärtigen Moments zu verzichten habe: so wäre die Erziehung als sittliche Tätigkeit unvollkommen und sittlich schädlich.22
Damit wendet er sich an den Wettbewerber als Citoyen – und eben nicht als Bourgeois. Mit anderen Worten: Der Wettbewerbslogik von Markt und Produktion wird eine entschleunigte Logik des pädagogisch – und nicht des wirtschaft lich – angemessenen Umgangs mit Kindern entgegengehalten. Hier ist der Ort, an dem das Moratorium für Heranwachsende und auch die pädagogische Provinz die noch anderen Rhythmen als die des raschen Zielerreichens kennt. Zwar leugnet sie den lernstimulierenden Effekt von Wettbewerb nicht, aber sie legt viel darein, ihn nach den Regeln der Fairness zu gestalten. Ein Beispiel ist die Erlebnispädagogik, die vom Leiter des Salemer Elite-Internats Kurt Hahn entwickelt wurde: Statt die Lust Jugendlicher auf intensive Erlebnisse, auf das Abenteuer einer hypertrophen Wettbewerbsemotion, der Kriegsbegeisterung, zu suchen, setzt er auf das Abenteuer des Rettens, statt auf bloß kognitive Wissensvermittlung zu vertrauen, sucht er die wirkliche Erfahrung im Naturerleben und in Freundschaftsbeziehungen, die sich als Erfahrung von Achtsamkeit, Verlässlichkeit und Sorgfalt in den Bildungsverlauf der
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Und Wehler fügt hinzu: »Dieses preußische Regulativ bedeutete einen unbestreitbaren Fortschritt«20 – nämlich dann, wenn man es mit Standpunkten vergleicht, die jahrzehntelang von höheren Stellen in Staat und Industrie eingenommen wurden, ein Verbot der Kinderarbeit in Fabriken komme überhaupt nicht in Frage. Im Gegenteil besäßen diese doch etwas moralisch Gutes, einen erzieherischen Wert dadurch, »daß Kinder durch die Fabrikarbeit besonders effektiv zu Pünktlichkeit, Ordnung, Ausdauer, Geschicklichkeit und Arbeitsmoral – zum ›Arbeitsfleiß‹, zur ›Industrie‹ im alten Wortsinn erzogen würden […].«21
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Schüler einschreiben.23 Kulturell dominant blieb jedoch das Modell der Auslese im Wettbewerb. Ist es nicht bis heute so, dass der langsame Schüler als der »schlechte« Schüler gilt? Langsamkeit des Lernens – ist es im Zuge der »Beschleunigung« der Moderne24 nicht ein Zeichen von Unterlegensein in einem das Wettbewerbsprinzip reproduzierenden Schulsystem?
5. Der Januskopf kultureller Evolution: das kompetitive und das solidarische Selbst Wir haben gesehen: Pädagogik ist eine Facette reflexiver kultureller Evolution. Sie organisiert Bedingungen der Möglichkeit, Heranwachsende im Erwerb von Wettbewerbsfähigkeit zu unterstützen. Dabei begünstigt sie die Formierung von Selbstbildern, welche die persönliche und soziale Identität der Heranwachsenden als Wettbewerber festigen. Sie arbeitet einer Persönlichkeitsstruktur zu, der Gewinnen allemal lieber ist als Verlieren. Homo competivus wäre ein schöner Begriff für dieses Menschenbild, wenn er nicht gegen die lateinische Grammatik spräche, homo concurrens scheint angemessener; gänzlich en vogue ist zwar homo oeconomicus, dieser aber wohl eher im Sinne eines sehr abstrakten Konstrukts. Für homo concurrens also sind die gesellschaft lichen Handlungsräume als Felder strategischwettbewerbsförmigen Handelns vordefi niert; er selbst ordnet sich ein und erlebt sich, wie er mit ihren Aufgaben wächst, aber auch, dass er Situationen, die nur als Niederlagen und Verlorenhaben gedeutet werden, bewältigen muss. Demgegenüber stehen nun Handlungsräume, die auf strategische Nutzenkalküle verzichten müssen und stattdessen als Felder verständigungsorientiert-solidarischen Handelns zu begreifen sind. Sie haben das Ziel, eben jene »Eigenzeit«25 von Heranwachsenden zu respektieren und ihr gerecht zu werden, und zwar durchaus nicht, um die Wettbewerbsfähigkeit zu schwächen, sondern um die Passung individueller Neigungen und Kompetenzen zu Handlungsfeldern zu entwickeln, in denen sie wirkliche Chancen haben, nach den dort geltenden Wettbewerbsregeln mitzuhalten. Dazu gehört erstens die Vorstellung, dass die Berufswahl auf Berufung, und damit auf individuelle Profi le des Leistungsinteresses und der Leistungsfähigkeit zurückgeführt werden kann. Dazu zählen zweitens die Felder sozialer Hilfe (care), und zwar über die Spanne des Lebenslaufs von der Frühpädagogik über die erzieherischen Hilfen für Kinder und Jugendliche bis hin zu Familien- und Altenhilfe bzw. Pflege.26 6. Ausdifferenzierung des Solidarischen Wie Niklas Luhmann in seiner Untersuchung zu den evolutionären Veränderungen der »Formen des Helfens« zeigt,27 sind ohne eine auf »Erwartbarkeit« von Hilfe angelegte Strukturbildung weder die archaischen Stammesgesellschaften noch die hochkultivierten Gesellschaften des Mittelalters und der Neuzeit, noch die moderne Weltgesellschaft überlebensfähig. Der Einfluss auf kulturelle Evolution durch entschleunigte, von Konkurrenz und dem Gewinner-Verlierer-Prinzip entlastete, auf Verständigung und Anerkennung angelegte Kultur des Sozialen ist einer ihrer Kerne, von dem manche sogar behaupten, gerade in ihm läge die Bedingung für die Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Moderne, also im Evolutionstyp der Sozialen
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Marktwirtschaft, in der Zivilgesellschaft. Folgt man neueren Untersuchungen zur Rolle nicht-wettbewerbsorientierten Handelns in der kulturellen Evolution, 28 so ist eben dieses eine konstitutive Bedingung für alles Andere. Competition und care, Wettbewerb und Hilfe, stehen teils in einem Ergänzungsverhältnis, teils im Gegensatz zueinander: a) in Ergänzung, weil die Unterstützung des Wettbewerbers vor, während und nach dem Wettstreit die Handlungsfähigkeit vorbereitet, erhält und wiederherstellt; b) im Gegensatz, weil der Gewinner nicht verpflichtet ist, sich um den Verlierer zu kümmern. An ihnen, den sogenannten »Modernisierungsverlierern«, 29 setzt Pädagogik – insbesondere Sozialpädagogik – an und spiegelt der Konkurrenzgesellschaft ihre teils beabsichtigten, teils unbeabsichtigten Nebenfolgen wider. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sie Konzepte zur Unterstützung von Wettbewerbsbenachteiligten. Indem sie auf private wie öffentliche Verantwortung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Armuts- und Ausgrenzungsverhältnissen insistiert, misst sie die bürgerlichen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (soziale Gerechtigkeit) an empirisch vorgefunden Sozialen Lagen und erstattet Bericht über die Diskrepanz.30 Vor dem Hintergrund der Sozialgesetzgebung seit Bismarck wurde mit Paul Natorp (1899) die Aufgabe einer »gemeinschaft liche« Solidarität schaffenden Sozialpädagogik entworfen: Ihm geht es um Klärung der »Sozialen Bedingungen der Bildung und der Bildungsbedingungen des Sozialen Lebens«31. Sozialpädagogen wie Johannes Falk und Hinrich Wichern 32 später Siegfried Bernfeld, Herman Nohl oder Hans Thiersch arbeiten an den Folgen eines Wettbewerbsprinzips, das für die soziale Destruktion blind ist und »strukturelle Rücksichtslosigkeit« erzeugt.33 Im Sinne einer »advokatorischen Ethik«34 tritt Sozialpädagogik für die Anerkennung und Integration derer ein, die zu den Wettbewerbsverlieren gehören, auch derer, die gesellschaft lich dominanten Erwartungen an Perfektion und Perfektibilität ihrer Lebensführung nicht entsprechen können oder wollen, etwa hochbegabte Jugendliche. Zugleich sieht sich Sozialpädagogik in der Pfl icht, solidarische Formen der Bewältigung von Lebenskrisen zu entwickeln, die auf einen gelingenderen Alltag der Kinder und Jugendlichen gerichtet sind, also Perfektibilität an individuellen, nicht selten eingeschränkten Ressourcen zu orientieren. Sie untersucht auch, welche Bedeutung Perfektions- bzw. Perfektibilitätserwartungen bei der Entstehung von Krisen im Lebenslauf einnehmen und welche sozialpädagogischen Unterstützungsformen zwischen Krisenbewältigung und Neuaneignung von Wettbewerbsfähigkeit entwickelt werden.35 Kulturelle Evolution besteht auch in der Ausdifferenzierung einer Kultur der Hilfe. Es geht um Anspruchsrechte und Leistungspflichten für diejenigen, die dem Wettbewerbsprinzip nicht folgen können oder wollen, diejenigen, die ihm folgen, aber unterliegen, oder diejenigen, die ihr Vertrauen in die humane Qualität des Prinzips von Siegen und Verlieren beschädigt sehen, auch für die, die wenig Chancen sehen, einen wettbewerbsfähigen eigenen Binnenraum zu organisieren. Homo oeconomicus bekam einen Gegenspieler durch den homo culturalis eines Walter Eucken.36 Dem homo concurrens der Individualpädagogik steht der homo solidaris gegenüber: der Mensch, der dem Menschen ein Helfer ist.
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7. Genetische und kulturelle Informationsweitergabe Gegenwärtig ist zu beobachten, dass die kulturanthropologische Unterscheidung von genetischer und kultureller Informationsweitergabe als Doppellinie der Evolution unter dem Primat kultureller Einwirkung auf eine bislang so nicht bekannte Weise miteinander vermittelt werden sollen: Hirnforschung und Lernumgebung werden neu justiert, 37 doch auch diese Absicht der Effizienzsteigerung wird sich daran messen lassen, ob und welche Exklusionen sie hervorruft. Seit einigen Jahren stehen alle Lebensphasen – Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – gleichsam auf dem Prüfstand: Auf den Prüfstand gestellt werden die Lernprozesse der Kindheit und die mit ihnen befassten Institutionen, um herauszubekommen, wie gleichsam mehr Bildung in die Lebenszeit gepackt werden kann. Begleitet von der Neurobiologie wird eine sogenannte wissensbasierte Bildungsdiskussion geführt. Sie ist an der Optimierung und Perfektionierung jedes einzelnen Tages im jungen Leben interessiert. Auf dem Prüfstand stehen die Lernprozesse der Jugend, weil sie der lebensgeschichtlich nächste Markstein für die Nachhaltigkeit von Optimierungsstrategien in der Kindheit sind, und zwar besonders auch auf Zumutungen, die sich durch den Wandel des Bildungs- und Beschäft igungssystems und den Ungewissheiten der Erwerbsarbeit ergeben; auf dem Prüfstand die Lernprozesse des Erwachsenenalters, weil es als Zeitraum der selbstverantwortlichen Lebensgestaltung mit vollen Rechten und Pflichten die Zumutung zu meistern hat, erworbene Erfahrungen mit neuem Wissen abzugleichen und die damit entstehende Entwertung biographischer Wissensbestände zu verkraften. Auf dem Prüfstand steht schließlich das Alter, weil sich die Gestaltungsvielfalt der Altersphase – keineswegs für alle, aber doch im Durchschnitt – erweitert hat und das Lernen nicht aufhört. 8. When will they ever learn? Grenzen und Reichweiten der Lernenden Gesellschaft Der Optimismus, der aus der Einsicht entsteht, dass Gesellschaften und Gruppen – bei Strafe ihrer Stagnation – zu lernen verpflichtet – um nicht zu sagen »verdammt« sind –, sollte sich nicht in ein Wunschdenken verflüchtigen, das die doch ebenfalls erkennbare Tatsache übersieht, wie erstaunlich wenig die Menschen doch gelernt haben. Wenn es nämlich für die einen nahe liegt, von der Unausweichlichkeit des Lernens als einer anthropologischen, biologischen, kulturellen und sozialen Tatsache auszugehen, auf welcher der Bestand und der Wandel von Gesellschaften beruht; wenn der schier grenzenlose Optimismus – insbesondere des 19. Jahrhunderts – wenn der Optimismus in die Machbarkeit der Verhältnisse mit Hilfe der Verbesserung von Lernbedingungen sich bis in die heutige Zeit fortsetzt, so haben andere die skeptische Anfrage, warum die Menschen sich als eben nicht lernfähig erweisen. Bereits die Forderung des Club of Rome, »aus Katastrophen [zu] lernen«38 beruht auf ebenso guten Gründen: Sind nicht sämtliche von Menschen herbeigeführte, katastrophale Entwicklungen Ausdruck eines einzigen grandiosen Lernversagens? Zeugen Kriege und Massenvernichtungen nicht davon, wie Menschen Widerstände gegen Lernzumutungen aufbauen, wie sie sogenannten unbequemen Wahrheiten ausweichen, dass der Friede machbar ist? »[…] when will
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they ever learn?« heißt es in einem Protestlied der Antikriegsbewegung Anfang der sechziger Jahre.39 Dabei muss man gar nicht nur an die Borniertheit eines dumpfen Alltagsverstandes denken, der in anhaltender Ignoranz zu sich selber kommt, auch nicht nur an die Hartnäckigkeit, Frieden zu verhindern.40 Es hat mehrere Jahrhunderte gedauert bis die katholische Kirche das Lernangebot Galileo Galileis annahm und ihn rehabilitierte; es dauerte Jahrzehnte, bis sich die – bis auf den heutigen Tag ständig gefährdete – Einsicht durchsetzte, dass Kalte Kriege in der Ost-West-Konfrontation das Ende allen Lebens auf dem Planeten bedeuten könnten. Dies sind Zeichen, die doch immerhin für die Lernfähigkeit von Gesellschaften zu sprechen scheinen – diese Lernfähigkeit wurde aber erst genutzt, nachdem unsägliche Tragödien stattfanden. Und so ist die Liste der – letztlich doch auch an Verbesserung durch Lernen glaubenden – Skeptiker mindestens ebenso lang wie die der pädagogischen Optimisten. Günther Anders spricht von der Antiquiertheit des Menschen, die er in der Einseitigkeit des Lernens zum Zwecke der Optimierung technischen Wissens erkennt, die Formen der Massenvernichtung ermöglicht, aber zugleich mit einer Rückständigkeit ethisch-moralischen Lernens versehen ist, die doch ihre Entwicklung und vor allem ihre Anwendung zu verhindern hätte.41 Künden die immer wiederkehrenden Wege in die Barbarei nicht von einer ebenso grundlegenden Resistenz gegen das Lernen, während doch andererseits die schier grenzenlose Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes, der uns das Penicillin und die Mondfahrt, das Internet und die DNA-Analyse beschert hat, einen Beweis für gesellschaft liche Lernfähigkeit bildet? Die Nicht-Vollendung »des Projekts der Moderne«, wie der Sozialphilosoph Jürgen Habermas es ausdrückt, 42 ein Projekt, das die enge Verbindung von technisch-instrumenteller Vernunft mit Ethik und Verständigung anstrebte – scheint dieses Anhalten auf halbem Wege nicht die Grenzen der Lernfähigkeit von Gesellschaften zu belegen? Es ist nicht ganz abwegig, den Begriff der Lernenden Gesellschaft mit einem Fragezeichen zu versehen und ihn auf seine Grenzen hin zu untersuchen. Wäre es nämlich für Gesellschaften selbstverständlich, sich selbst als Lernende Gesellschaft , als Wissensgesellschaft zu definieren, so wären die wiederholten Anstrengungen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien kaum nötig, ihr die Dringlichkeit von Lernen immer wieder vor Augen zu führen. Sie reicht von der bildungspolitischen Programmatik sogenannter Bildungsoffensiven bis hin zu den Trends der Unterhaltungsmedien, über Wissens-Shows und Pisa-Quiz-Veranstaltungen dem Publikum die Identifi kation mit Lernen, Wissensaneignung und Wissenspräsentation schmackhaft zu machen. Das alles scheint notwendig zu sein, wenn der Bestand einer auf sogenannten humanen Ressourcen beruhenden Gesellschaft im härter werdenden internationalen Wettbewerb gesichert und aktualisiert werden soll. Dennoch scheint es für manche Menschen – und nicht nur für Philosophen – Gründe zu geben, diesem Angebot, Mitglied einer Wissensgesellschaft zu sein, nicht ohne Weiteres zuzustimmen, ja sich ihm vielleicht zu verweigern. Denn die damit verbundene Herausforderung, den eigenen Lebenslauf in das Konzept des lebenslangen Lernens einzupassen, lässt nicht nur Hoff nung entstehen; der andauernde Zwang zum Erwerb neuer Einsichten und Qualifi kationschancen kann auch
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Ängste hervorrufen. Die Ängste bestehen vor der Möglichkeit einer Entwertung der eigenen Lernerfahrungen in einem Modernisierungsprozess der Gesellschaft , der durch wachsende Beschleunigung43 gekennzeichnet ist. In der Wettbewerbsgesellschaft muss das Ich immer schneller werden im Aufnehmen und Umlernen. Mit anderen Worten: Wenn das Ich immer wieder »umlernen« muss, wenn das Gelernte von heute schon Morgen veraltet ist und nichts mehr gilt – kann es nicht sein, dass dieses Ich dann schon nicht mehr zu derjenigen Wissensgesellschaft gezählt wird, in die hineinzukommen es sich vielen Anstrengungen unterzogen hat? Mehr noch: Ist es nicht so, dass es zwar gutes Wissen und Lernverhalten, neugierige Lernbereitschaft und Freude an Veränderung zeigt, doch dieses nicht mit entsprechender beruflicher Tätigkeit und Anerkennung belohnt wird, weil dieses Wissen zwar noch nicht veraltet, aber gerade nicht zum erforderlichen Qualifi kationsbedarf am Arbeitsmarkt passt? Und schließlich: Gerät es nicht angesichts eines sich beschleunigenden Wandels durch Globalisierung und Entgrenzung von Wissensbeständen und durch eine historisch nie da gewesene Ausweitung von Information durch Medien und Internet in einen Zustand bleibender Überforderung, der es schwer, wenn nicht unmöglich macht, Überblick zu bekommen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, mit der Vielfalt zurecht zu kommen, die sich nicht zuletzt durch Migration und Mobilität ergibt? Der in einer – auf Wettbewerbsgesellschaft geschrumpften – Gesellschaft geforderte »flexible Mensch« wie der Soziologe Richard Sennett ihn bezeichnet,44 ist also nicht nur ein attraktives Angebot. Zwar soll der flexible Mensch Eigeninitiative und Folgebereitschaft, Mobilität und Bodenständigkeit, Interesse an Neuem und Interesse an Bewahrung des Alten, an Familie und Beruf, ja am Lernen und am Vergessen haben – das aber sind höchst widersprüchliche Anforderungen, ein durchaus sehr anspruchsvolles und anstrengendes Bündel von Erwartungen. Sie können zu Frustrationen führen, wenn die Versprechungen der Lernenden Gesellschaft nicht gehalten werden, wenn die Lernanstrengungen nicht belohnt und die Zugehörigkeit zur Wissensgesellschaft nicht gerade dann gesichert ist, wenn angeeignetes Wissen nicht mehr gefragt und neues Wissen noch nicht angeeignet ist – dies alles könnten Gründe für eine nicht gerade überbordende Haltung zum Angebot sein, sich mit der Lernenden Gesellschaft anzufreunden. Die Reaktion auf diese Anforderungen, die bekanntlich durch die Politik des Forderns und Förderns begleitet wird, könnte sich dann als Wunsch nach Vereinfachung der Vielfalt niederschlagen: Anziehend sind dann nicht die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Welt, nicht die Anerkennung und friedliche Austragung von Konflikten, nicht die Bereitschaft, andere Perspektiven zuzulassen; attraktiv wird dann die Ausgrenzung des Andersartigen, von dem nichts gelernt werden soll, das Ausweichen vor neuen Einsichten, die Ignoranz des Fremden und Unbekannten, die Beschränkung auf das Einfältige, in der das Lernen zur Suche nach Bestätigung einmal gefasster Urteile und Vorurteile verkümmert, der Reichtum kultureller Interessen auf dogmatische Einseitigkeit schrumpft – bis hin zu radikalen Ausgrenzungen und zum Aufbau von Lernwiderständen, für die es nicht nur gesellschaftsgeschichtliche, sondern auch lebensgeschichtliche Beispiele gibt, die gelernte Hilflosigkeit eingeschlossen.
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Kulturelle Evolution und pädagogische Einwirkung. Erziehung zwischen Wettbewerb und Solidarität
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Vgl. N. J. Conard, Die Entstehung der kulturellen Modernität, in: Ders., a. a. O. 2006, S. 197–228; N. J. Conard, »Die Evolution der menschlichen Kultur«, in: O. Betz, H. R. Köhler (Hgg.), Die Evolution des Lebendigen, Tübingen 2008, S. 213–235. 2 K. Mannheim, »Das Problem der Generationen«, in: K. H. Wolff (Hrsg.), Karl Mannheim. Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Berlin 1928 / 1964, S. 509–565.
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Vgl. J. B. Asendorpf, »Evolutionspsychologie und Genetik der Entwicklung«, in: R. Oerter, L. Montada (Hgg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim 2008, S. 49–66. Vgl. K. Lüscher, L. Liegle, Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, München 2003. Vgl. A. Gail (Hrsg.), Ausgewählte pädagogische Schriften des Erasmus von Rotterdam, Paderborn 1963. Vgl. M. Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: K. Bischoff (Hrsg.), Tübingen 1530 / 1965. Vgl. I. Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufk lärung?«, in: W. Weischedel (Hrsg.), Schrift en zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 (Werkausgabe, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1784 / 1977, S. 53–61.; I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1785 / 1984.; I. Kant, »Über Pädagogik«, in: W. Weischedel (Hrsg.), Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2 (Werkausgabe mit Gesamtregister, Bd. XII), Frankfurt a. M. 1803 / 2000, S. 697–761. Vgl. J. H. Pestalozzi, »Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts«, in: Ders. (Hrsg.), Auswahl aus seinen Schrift en (Bd. 1), Bern 1797 / 1977, S. 113–279; J. H. Pestalozzi, »Über den Aufenthalt in Stans. Brief Pestalozzis an einen Freund«, in: A. Buchenau (Hrsg.), Pestalozzi, Sämtliche Werke (Schriften aus der Zeit von 1799–1801, 13. Bd., bearb. v. H. Schönbaum u. K. Schreinert), Berlin / Leipzig 1799 / 1932, S. 3–32; M. Liedtke, Johann Heinrich Pestalozzi. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 14. Aufl. Reinbeck bei Hamburg 1996; P. Natorp, »Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu Akademischen Vorlesungen«, in: Ders. (Hrsg.), Pädagogik und Philosophie. Zwei pädagogische Abhandlungen, Paderborn 1905 / 1985. F. D. E. Schleiermacher, »Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826«, in: E. Weniger (Hrsg.), Pädagogische Schriften (Bd. 1), Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1826 / 1983, S. 31. Vgl. UNESCO, Towards knowledge societies: UNESCO world report, Paris 2005; W. B. Korte et al., Advancement of the knowledge society: Comparing Europe, the US and Japan, 2005; OECD, Tertiary Education for the Knowledge Society, 2 Bde., Paris 2008. Vgl. N. Luhmann, K. E. Schorr, Refl exionsprobleme im Erziehungssystem, 3. Aufl, Frankfurt a. M. 2006. Vgl. R. Treptow, »Sozialpädagogisches Handeln«, in: G. Mertens, U. Frost, W. Böhm, V. Ladenthin (Hgg.), Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 3, Paderborn 2009, S. 621–638. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (2 Bde.), 17. Aufl., Frankfurt a. M. 1939 / 1992. K. Mollenhauer, Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion, München / Weinheim 1986, S. 77 f. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1947. Vgl. M. Kohli (Hrsg.), Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt / Neuwied 1978. B. v. Arnim, Armenbuch, Frankfurt a. M. 1844 / 1981, S. 98. H. U. Wehler, Deutsche Gesellschaft sgeschichte, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845 / 49, Bd. 2 , München 1987, S. 256. Ebd., S. 257. Ebd., S. 257. Ebd., S. 254. F. D. E. Schleiermacher 1826 / 1983, S. 48. Vgl. K. Hahn, Erziehung zur Verantwortung. Reden und Aufsätze, Stuttgart 1959. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2008. H. Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. C. Sachße, F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Bd. 2., Stuttgart 1988; H. U. Otto, H. Th iersch (Hgg.), Handbuch Sozialarbeit / Sozialpädagogik, München 2005. N. Luhmann, »Formen des Helfens im Wandel gesellschaft licher Bedingungen«, in: H.-U. Otto, S. Schneider (Hgg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit (Bd. 1), Neuwied 1972, S. 21–44.
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28 Vgl. A. Diekmann, »Der Mensch – Altruist oder homo oeconomicus? Ergebnisse experimenteller Spieltheorie zum Altruismus«, Forschung und Lehre 8 (2009), S. 558–559; E. Voland, »Tue Gutes und rede darüber!« Philanthropie – ein evolutionäres Projekt?, Forschung und Lehre 8 (2009), S. 556–557. 29 Vgl. U. Beck, P. Sopp (Hgg.), Individualisierung und Integration: Neue Konfliktlinien und neuer Integrationsmodus?, Opladen 1997. 30 J. H. Wichern, »Die öffentliche Begründung des Rauhen Hauses«, in: V. P. Meinhold (Hrsg.), Schriften zur Sozialpädagogik (Bd. 4, Teil 1), Berlin 1833 / 1958, S. 96–114; J. H. Wichern, »Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder«, in: V. P. Meinhold (Hrsg.), Schriften zur Sozialpädagogik (Bd. 4, Teil 1), Berlin 1833 / 1958, S. 47–95; U. Herrmann, »Armut-Armenversorgung-Armenerziehung an der Wende zum 19. Jahrhundert«, in: Ders. (Hrsg.), Das Pädagogische Jahrhundert. Volksaufklärung und Erziehung zur Armut im 18. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim 1981, S. 194–218; W. Schröer, Sozialpädagogik und die soziale Frage. Der Mensch im Zeitalter des Kapitalismus um 1900, München / Weinheim 1999; R. Treptow, »Darstellungsformen des Sozialen. Sozialpädagogische Struktur- und Prozeßreflexivität«, in: Ders. (Hrsg.), Kultur und Soziale Arbeit. Gesammelte Aufsätze, Münster 2001, S. 14–33. 31 P. Natorp 1905 / 1985, S. 24; vgl. P. Natorp, Sozialpädagogik. Th eorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft, 7. Aufl., Paderborn 1899 / 1992. 32 J. H. Wichern, 1833 / 1958. 33 Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren (Hrsg.), Familie und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, 5. Familienbericht. Bundesdrucksache 12 / 7560, Bonn 1994. 34 M. Brumlik, Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, Bielefeld 1992. 35 Vgl. W. Schefold, T. Giernalczyk, H. J. Glinka, Krisenerleben und Krisenintervention. Ein narrativer Zugang, Tübingen 2008. 36 Vgl. H. Nutzinger, S. Panther, »Homo oeconomicus vs. Homo culturalis: Kultur als Herausforderung der Ökonomik«, in: G. lümle u.a. (Hgg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster 2004, S. 287–309. 37 Vgl. N. Becker, Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik, Bad Heilbrunn 2006. 38 Club of Rome: Das menschliche Dilemma, Zukunft und Lernen, von J. W. Botkin, M. Elmandjra, M. Malitza, mit dem Vorwort von Aurelio Peccei, Wien u.a. 1979. 39 Pete Seeger 1960. 40 Vgl. E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg 1977; P. Gay, Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996. 41 Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 / 2, München 1956 / 1980. 42 J. Habermas, Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990. 43 Vgl. H. Rosa 2008. 44 R. Sennett, Der fl exible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.
Wettbewerb und Kooperation – von der biologischen zur kulturellen Evolution Die Aufgabe dieses Beitrags besteht darin, Wettbewerb und Kooperation von ihrer Entstehungsgeschichte her zu beleuchten. Dabei sind biologische und kulturelle Evolution gleichermaßen beteiligt. Schließlich tragen auch die individuellen psychischen Prozesse zu den spezifischen Ausformungen von Kooperation und Wettbewerb bei. Das Zusammenspiel dieser drei Komponenten soll im Folgenden näher beschrieben werden.
Evolution Sucht man nach den evolutionären Wurzeln von Wettbewerb und Kooperation, dann gilt es, drei Komponenten des Homo sapiens näher in Augenschein zu nehmen: kognitive / motorische Fähigkeiten, Aggression und Altruismus. Die kognitiven und motorischen Fähigkeiten sind die Basis für Leistungen, mit denen man erst in Wettbewerb treten kann. Aggression bildet die Wurzel für die Lust am Wettkampf und altruistisches Verhalten die Basis für Kooperation. Beginnen wir mit einigen motorischen und kognitiven Leistungen des Homo sapiens. Neben der Vergrößerung des Gehirns als Basis für Intelligenz ist vor allem das Freiwerden der Hände durch den aufrechten Gang zu nennen. Werkzeuge können nun mit Händen und Fingern hergestellt werden, und der Umgang mit den Werkzeugen geschieht wiederum durch die Hände. Hinzu kommt die Zeittiefe, die sich im Vergleich zu anderen Primaten enorm vergrößert hat. Sie erlaubt Planungen über lange Zeitstrecken, die Vorwegnahme späterer Ereignisse und die Beibehaltung von Werkzeugen sogar über Generationen hinweg. Schon der Homo heidelbergensis fertigte Speere an, deren Herstellung mindestens eine Woche dauerte.1 In seinem Buch Das sogenannte Böse von 1963 (neuere Aufl. 1974) überträgt Konrad Lorenz die Hauptelemente seiner Instinkttheorie auf den Menschen.2 Demnach hat der Mensch im Wesentlichen vier Triebe, die Lorenz als Nahrungs-, Fortpflanzungs-, Flucht- und Aggressionstrieb bezeichnet. Laut Lorenz sind diese Triebe wichtige Schutzmechanismen, die das Überleben des Individuums und den Fortbestand der Art sichern. Bei vielen Tierarten und auch beim Menschen gibt es laut Lorenz eine Tötungshemmung Artgenossen gegenüber. Diese natürliche Tötungshemmung fällt bei Waffen, die aus der Ferne wirken, weg. Die individuelle Selbstverteidigung, die Verteidigung von Nahrungsrevieren und die Ausbildung von Hierarchien bezeichnet Lorenz als Funktionen des Aggressionstriebs. Er deutet Aggression also als »Urinstinkt«, der sich naturwüchsig seine Bahn breche und allenfalls durch geeignete kulturelle Rahmenbedingungen in bestimmte – ungefährliche und gesellschaft lich akzeptierte – Bahnen gelenkt werden könne. Lorenz empfiehlt zum Abreagieren (Ausagieren) des Aggressionstriebs unter anderem
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Wettbewerb und Kooperation – von der biologischen zur kulturellen Evolution
ROLF OERTER
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die Teilnahme an sportlichen Großveranstaltungen. Obwohl Lorenz häufig kritisiert wurde und neuere archäologische Funde ein differenzierteres Bild ergeben, sind auch heute die meisten Forscher der Meinung, dass die Hominiden aggressives Verhalten entwickelt haben. Carrier z.B. ist überzeugt, dass aggressives Verhalten in Arten entsteht, in denen es die Chancen des Überlebens und der Reproduktion erhöht.3 Carrier zählt den Homo sapiens zu den aggressivsten Arten überhaupt, betont aber auch, dass der Mensch zugleich zu den Arten mit dem höchsten Maß an Altruismus und Empathie gehört. Experimente mit Mäusen zeigen, dass Aggression Lustzentren aktiviert.4 Nach Kennedy sind die Belohnungspfade in den Gehirnen von Mäusen und Menschen sehr ähnlich.5 Aggression ist in Wirbeltieren und besonders in Säugetieren als evolutionäres Merkmal verankert. Sie spielt in der Evolution eine nützliche Rolle, da sie die Verteidigung des eigenen Reviers, der Partnerin (oder des Partners) und des Nachwuchses ermöglicht. Altruismus auf der anderen Seite dient ebenfalls der Arterhaltung, wobei auch hier die individuelle Weitergabe der eigenen Gene und damit der Schutz der eigenen und nicht der fremden Nachkommen im Vordergrund stehen. Hamilton hat bereits 1964 die nach ihm benannte Ungleichung aufgestellt:6 K < rN K: Kosten des altruistischen Aktes r: Verwandtschaftsgrad zwischen Helfer und Empfänger N: Nutzen auf Seiten des Empfängers Ein Individuum verhält sich danach altruistisch, wenn die Kosten K des Verhaltens geringer sind als der Nutzen N für den Empfänger gewichtet mit dem Verwandtschaftsgrad r. Als fördernde Bedingungen für Altruismus aus evolutionärer Sicht können gelten: Verwandtschaftsgrad, soziale Anerkennung durch die Gruppe und Empathie. Der Verwandtschaftsgrad geht in die Hamilton-Ungleichung als Gewichtungsfaktor ein. Je näher die Verwandtschaftsbeziehung, desto größer der Altruismus-Beitrag. Die soziale Anerkennung in der Gruppe verleiht Status und ist damit attraktiv. Neurophysiologische Untersuchungen belegen, dass Statushöhere mehr Beachtung auf sich ziehen, ohne dass dies den Beteiligten bewusst wird. In einem festgefügten hierarchischen System führt allein schon der Anblick einer ranghöheren Person zu erhöhter Aktivierung von Hirnregionen, die an der Bewertung von Wichtigkeit, Handlungssteuerung und visueller Aufmerksamkeit beteiligt sind: okzipitaler / parietaler Kortex und Parahippocampus. Bei instabilen Hierarchien kommen zusätzliche Regionen ins Spiel: präfrontaler Kortex, ventrales Striatum. Bei der Wahrnehmung von statusniederen und statusgleichen Personen treten diese Aktivierungen nicht auf.7 Empathie schließlich entsteht beim Anblick des Leidens anderer und hängt vermutlich mit den Spiegelneuronen zusammen, die bereits beim Beobachten von Leid (und anderen Emotionen und Verhaltensweisen) ähnliche Impulse senden wie bei eigenen Emotionen und Reaktionen. Das heißt, dass wir beim Anblick
Kultur Die Definition von Kultur gestaltet sich sehr schwierig, da unterschiedliche Disziplinen verschiedene Konzeptionen von Kultur haben. Herskovits hat bereits 1948 über fünfzig Definitionen gesammelt und seine eigene noch dazu gefügt.9 Sie eignet sich für unsere Zwecke besonders gut, da bei dem Versuch, das Zusammenwirken von Kultur und Evolution zu beschreiben, nur ein sehr allgemeiner Kulturbegriff sinnvoll ist. Kultur, so Herskovits, ist die vom Menschen gemachte Umwelt. Zweierlei wird in diesem Kulturbegriff unterstellt, nämlich erstens, dass Kultur immer schon zum Menschen gehört und nicht nachträglich entstanden ist, und zweitens, dass Kultur ein Erzeugnis menschlichen Handelns ist. ABBILDUNG 1 verdeutlicht die Stellung von Kultur im menschlichen Ökosystem. Wie andere Lebewesen ist auch der Homo sapiens Teil eines natürlichen Ökosystems, ohne das er biologisch nicht existieren könnte. Die moderne Raumfahrt, in welcher der Versuch unternommen wird, das natürliche Ökosystem zu verlassen, zeigt eindrucksvoll, wie schwierig es ist, im Weltall Bedingungen zu schaffen, die dem natürlichen Ökosystem nahe kommen. Der Verlust der Schwerkraft und die harte Strahlung im Weltall beispielsweise bewirken auf Dauer schwere gesundheitliche Schädigungen. Die natürlichen Bedingungen des Ökosystems sind in ABBILDUNG 1 als äußerer Ring gekennzeichnet. Dieses natürliche System reicht für den Menschen aber nicht aus; er bedarf von Anfang an kultureller Hilfsmittel wie Behausung, Kleidung (in kälteren Regionen) und Werkzeuge. Das Zusammenleben in Gruppen erfordert die Aufstellung sozialer Verhaltensregeln, und das Bewusstsein des Endes der eigenen Existenz führt zur Konstruktion religiöser Sinndeutungen. So nimmt es nicht Wunder, dass schon vor ca. 40.000 Jahren religiöse Symbolik auftaucht (Fund der Venus in der Höhle Hohle Fels in der Schwäbischen Alb). Abb. 1: Kultur im Ökosystem des Menschen Ökosystem:
Mensch
Natur Kultur
Kultur ist die vom Menschen gemachte Umwelt
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Wettbewerb und Kooperation – von der biologischen zur kulturellen Evolution
des Leids anderer selbst leiden. Altruistisches Verhalten reduziert daher nicht nur fremdes sondern auch eigenes Leid. Empathie tritt bereits beim Kleinkind mit etwa 18 Monaten auf.8 Unter evolutionärer Perspektive dienen Aggression und Altruismus der Erhaltung der Art und sind egoistische Verhaltenstendenzen. Dabei spielt das Verhältnis von ingroup und outgroup eine entscheidende Rolle. In der eigenen Gruppe sind Altruismus und prosoziales Verhalten notwendig. Gegenüber der outgroup geht es um die Verteidigung der eigenen und die Vernichtung der anderen Gruppe, hier ist die Aggression verortet. Man vermutet, je höher der Altruismus in der eigenen Gruppe, desto höher die Aggression gegenüber fremden Gruppen.
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Die Handlungsstruktur in menschlichen Kulturen lässt sich auf eine einfache Formel reduzieren, den gemeinsamen Gegenstandsbezug (siehe ABBILDUNG 2). Das Objekt als Bezugspunkt für gemeinsames Handeln ist der Fokus des Handelns. Seine Klassifizierung kann mit Hilfe der Drei-Welten-Theorie Poppers vorgenommen werden: materielle Objekte, ideelle Objekte (begriffliches Wissen, soziale und moralische Regeln) und psychische Objekte (Welt der Gefühle, Motive und Gedanken).10 Damit wird die Kultur zum Universum der vom Menschen konstruierten Gegenstände. Menschliche Interaktion verläuft nun immer über den gemeinsamen Objektbezug. Der Werkzeugnutzer steht durch das Werkzeug in Kommunikation mit dem Werkzeughersteller und dessen Ideen. Bei gemeinsamem Handeln wird der Gegenstand kooperativ (z.B. Bedienung durch Mehrere, gemeinsames Tragen etc.) oder kompetitiv (Kampf um den Gegenstand) genutzt. Jede Kommunikation bezieht sich auf Objekte. Wir reden immer über etwas und beziehen uns auf etwas. Sobald das Kommunikationsobjekt nicht das gleiche ist, nicht die gleiche sprachliche Bedeutung hat, gibt es Störungen in der Verständigung. Die dem Menschen eigene Zeittiefe ermöglicht den Fortbestand des Objekts über den aktuellen Gebrauch hinaus. Ein Werkzeug kann über Generationen hinweg genutzt werden und sein Gebrauch ist nicht räumlich an einen Ort fi xiert. Die Diff usion einer Kultur ist immer mit der Verbreitung von Objekten (Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Wissen, Religion) verbunden. Abb. 2: Grundschema menschlicher Interaktion
Überdauernd: Zeittiefe
S1
Objekt
S2
Kultur: Universum von Gegenständen
Eine Grundform des gemeinsamen Gegenstandsbezugs ist Geben und Nehmen – eine Handlungsstruktur, die bereits bei einjährigen Kindern auft aucht. Sie spielt auch bei Kooperation und Wettbewerb eine entscheidende Rolle. Geben und Nehmen sind reziprok, wenn die Beteiligten ihre Rolle beim Tauschen wechseln. Beim Wettbewerb ist dies anders. Im sportlichen oder musikalischen Wettstreit übernimmt der Sieger den Status vom Konkurrenten und gibt ihn sich selbst. Im Marktwettbewerb nimmt er vom Konkurrenten Marktanteile und gibt dem Kunden stattdessen seine eigenen Produkte. Es gibt große Unterschiede zwischen den Kulturen hinsichtlich des Stellenwertes von Wettbewerb und Konkurrenz. Bekanntlich prägten sie sich vor allem in westlichen Kulturen aus und waren im östlichen Kulturkreis eher verpönt. In den Mythen östlicher Kulturen spielt aber der Wettbewerb in Form von Kampf um eine Prinzessin oder um die Lösung von Rätseln (Turandot, der Turm von Hanoi) eine
Die individuelle Komponente Individuell gründet Wettbewerb neben dem Streben nach Status (Selbsterhöhung) auf der Leistungsmotivation. Sie bildet ein System, in dem das Individuum danach trachtet, selbstgesetzte Leistungsziele zu erreichen. Der Gütestandard dieser Ziele wird so gesetzt, dass sich die Motive Hoff nung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg die Waage halten.11 Zu leichte und zu schwere Aufgaben lösen die Leistungsmotivation nicht aus. Das System der Leistungsmotivation etabliert sich im Alter von vier bis fünf Jahren und wird zunächst im Wettbewerb mit anderen erfahren: Um die Wette bauen, rennen, hüpfen. Hier dient Wettbewerb in erster Linie zur Einschätzung und Verortung der eigenen Leistungsfähigkeit. Das Kind setzt sich bald darauf oder gleichzeitig ipsative (mit sich selbst vergleichende) Leistungsnormen. Diese bewirken auch in der Schule im Gegensatz zur gruppenorientierten Normsetzung eine hohe Lernmotivation. Spätestens im Jugendalter positioniert man sich jedoch innerhalb der Bezugsgruppe bzw. im Vergleich zu anderen Gruppen (z.B. Hauptschüler gegen Gymnasiast). Obwohl also Wetteifer am Anfang nicht per se die Niederlage des anderen im Visier hat, dient der Sieg dennoch bereits der Statuserhöhung (ich bin der / die Beste). Ist die Leistungsmotivation am Anfang der Entwicklung noch als universelles kulturübergreifendes Phänomen anzusehen, so treten allmählich kulturspezifische Formen von Konkurrenz und Wettbewerb in den Vordergrund. So ist unser Schulsystem, mehr noch aber das japanische, durch Konkurrenz gekennzeichnet, was intrinsische Motivation und Freude am Lernen hemmt. Die Kooperation auf der anderen Seite hat ihre entwicklungspsychologischen Wurzeln in der früh auft retenden Empathie des Kindes, im Bedürfnis nach Bindung (Anschlussmotiv) und in Bündnissen gegenüber Außengruppen. Die Empathie dürfte, wie schon erwähnt, zu unserer evolutionären Ausstattung gehören, zumal sie auch bei anderen Primaten auft ritt. Die Bindung ist ein Verhaltenssystem, das ebenfalls universell in menschlichen Kulturen ist, und sich gegen Ende des ersten und Anfang des zweiten Lebensjahres herausbildet.12 Kinder sind dabei nur an bestimmte Personen gebunden, vorzugsweise an die Mutter. Später entwickelt sich aus der Bindung die soziale Verbundenheit zu vertrauten Personen in Form von Freundschaft, Zugehörigkeit zu Gruppen und schließlich die sexuelle intime Partnerschaft. Innerhalb dieses Zirkels an Personen wird Kooperation nicht nur bereitwillig angeboten, sondern sogar gesucht. Schließlich entwickelt sich Kooperation auch aus der Gruppendynamik. Die eigene Gruppe benötigt Kooperation gegenüber der Außengruppe, so dass sich hier Wettbewerb und Kooperation aus der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit ergeben: Kooperation in der eigenen Gruppe, Wettbewerb gegenüber der Außengruppe. Dies gilt für nationale, regionale und Firmenkonkurrenz gleichermaßen. Auf der Ebene des Individuums ist noch ein weiterer Mechanismus interessant, der von Allport als Autonomie der Motive bezeichnet wurde.13 Handlungen, die
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wichtige Rolle. Aber auch heute noch gilt es in östlichen Kulturen als ungehörig, mit der eigenen Leistung zu prahlen.
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ursprünglich in einen größeren Zusammenhang eingebettet waren, werden motivational autonom; man führt sie mit der Zeit auch unabhängig von ihrem ursprünglichen Zweck aus. So wird etwa Arbeit für viele Selbstzweck; sie wird beibehalten, auch wenn sie nicht nötig ist und andere interessante Tätigkeiten an ihre Stelle treten könnten. Nicht umsonst sprechen wir vom Workoholic. Ähnliches gilt für den Wettbewerb. Man tritt, sofern der Wettbewerb ein autonomes Motiv geworden ist, auch dann in Konkurrenz, wenn dies gar nicht nötig ist. Im Einzelfall lässt sich allerdings schwer entscheiden, ob ein Verhalten der Verselbständigung eines Motivs oder anderen motivationalen Gründen, in unserem Falle etwa dem Statusgewinn oder der Lust an Aggression geschuldet ist. Hilfreich ist es in jedem Falle, sich die Gründe des eigenen Verhaltens, also auch die Gründe für Wettbewerb, bewusst zu machen.
Der Weg von Wettbewerb und Kooperation durch die Instanzen. Evolution – Kultur – Individuum Nun sind wir in der Lage, den Weg von Wettbewerb und Kooperation genauer zu verfolgen. ABBILDUNG 3 verdeutlicht die Entwicklungslinien. Wettbewerb hat seinen evolutionären Ursprung im Kampf ums Dasein, der auch Aggression beinhaltet. Die Aggression führt innerhalb der eigenen Gruppe zu Wettbewerb und Status. Sie sichert die Rangposition der Mitglieder. Auf der individuellen Ebene werden Wettbewerb und Kampf durch die Leistungsmotivation getragen, deren Hauptmotiv im Erwachsenenalter Statusgewinn ist. Leistungsmotivation und Kampfgeist führen zu Kampf (im engeren Sinn der Verletzung oder Tötung des anderen) und in sublimierter Form zu Wettbewerb. Die Kooperation beginnt mit der Notwendigkeit, innerhalb der Gruppe im Ökosystem altruistisch zu handeln. Nur durch Kooperation und wechselseitige Hilfe vermögen die Individuen zu überleben. Auf Seiten des Individuums sorgen Empathie, Bindung bzw. Anschlussmotiv und kulturelle moralische Handlungsvorschriften für Kooperation. Daraus resultiert entweder Kooperation als strategisches Verhalten (Kooperation zum eigenen Vorteil mit dem Ziel der Statuserhöhung) oder Kooperation als prosoziales Verhalten. Die jeweilige Kultur bestimmt dann auf der Basis von Evolution, vorausgegangener kultureller Entwicklung und individueller psychischer Potenziale Form und Inhalt von Wettbewerb und Kooperation. In den westlichen Gesellschaften, die individualistische Kulturen repräsentieren, spielen individuelle Gewinnchancen und Entscheidungsmöglichkeiten eine große Rolle, während sie in traditionellen kollektivistischen Kulturen weniger wichtig sind.
Evolution Kampf ums Dasein
Lebensgemeinschaft
Aggression
Altruismus
Kultur
Wettbewerb: Rangposition
Leistungsmotivation und Kampfgeist
Kooperation: Jagd, Sammeln
Anschlussmotiv, Empathie, Moral Individuum
sublimierter Wettbewerb
Kampf
Strategische Kooperation
Prosoziales Verhalten, Kooperation
Kultur Motiv: Status
bestimmt Form und Inhalt
Motiv: Geborgenheit, Zugehörigkeit
An dieser Stelle lohnt es sich auch, Kampf und Wettbewerb einander gegenüber zu stellen, da auch in der modernen Wirtschaft beide manchmal ineinander übergehen. Kampf kann als Ursprung des Wettbewerbs angesehen werden, denn ursprünglich bedeutete Wettbewerb um einen Status in der Gruppe zugleich Kampf. Sieg im Kampf bedeutet die physische Vernichtung des Gegners und führt zu einer realen Selbsterhöhung. In manchen Kulturen wurde Kampf verherrlicht, wie bei den Spartanern, den Germanen und im mittelalterlichen Rittertum. Turnierkämpfe gingen oft tödlich aus, auch wenn die Kämpfenden befreundet waren. Der Wettbewerb ist demgegenüber ein sublimierter Kampf. Es geht nicht mehr um die physische, sondern eine symbolische Vernichtung des Gegners, die aber wie beim Kampf mit einer realen Selbsterhöhung verbunden ist. Wenn der Sieg im Wettbewerb zugleich die wirtschaft liche Vernichtung des Gegners zur Folge hat, kann dies bekanntlich zur Selbstvernichtung in Form des Suizids führen. Sowohl beim Kampf als auch beim Wettbewerb ist das tragende Motiv die eigene Statuserhöhung. Sie bezieht sich nicht nur auf eine einzelne Person, sondern auch auf die Gruppe (Firma, Verein), mit der sich der Einzelne identifi ziert.
Die Rolle des Spiels bei Kooperation und Wettbewerb Spiel als zweckfreie Tätigkeit, die sich in fi ktiven Welten bewegt, eröffnet ein weites Feld für Wettbewerb und Kooperation. Spiel hat den Vorteil, dass es ohne Folgen für die soziale Realität bleibt.14 Sieg und Niederlage, Gewinn und Verlust haben mit Ausnahme des Glücksspiels keine realen Auswirkungen. Im Spiel lassen sich daher auch reale Situationen simulieren und diese auf Realisationsmöglichkeiten überprüfen. Es gibt bezüglich unserer Fragestellung drei Formen des Spiels: Spiele
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Abb. 3: Die Entwicklung von Wettbewerb und Kooperation als Weg durch die Instanzen Evolution, Kultur und Individuum
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mit Wettbewerbscharakter, solche, die Kooperation verlangen und solche, die ohne Wettbewerb und Kooperation ablaufen. Die weitaus meisten Spiele sind kompetitiv. Zu ihnen gehören Strategiespiele (wie Schach), Gesellschaftsspiele und sportliche Wettkämpfe. Spiele, die Kooperation erfordern, sind beispielsweise gemeinsames Musizieren (wer hier in Konkurrenz zu seinen Mitspielern auft ritt, zerstört das Spiel) und Rollenspiele, bei denen die Rollen aufeinander abgestimmt werden müssen. Eine Kombination von Wettbewerb und Kooperation haben wir in Spielen vor uns, in denen die Spielparteien aus mehreren Personen bestehen, wie beim Skat oder Schafkopf. Eine Reihe von Gesellschaftsspielen ist ebenfalls so strukturiert, dass Kooperationsbündnisse gegen einen gemeinsamen Gegner geschlossen werden müssen. Schließlich gibt es noch Spiele, in denen weder Kooperation noch Wettbewerb beteiligt sind. Dies ist der Fall beim Symbolspiel (Als-ob-Spiel) des Kindes, das für sich in einer fi ktiven Realität seine Wünsche imaginativ realisiert. Auch die Phantasie-Vorstellungen, Wunschträume und Gedankenspiele der Erwachsenen gehören hierher. Die Fähigkeit, sich in fi ktiven Realitäten gedanklich zu bewegen, bildet die Basis wissenschaft licher Erkenntnis. Dies soll im nächsten Abschnitt näher erläutert werden. Zunächst möchte ich aber noch auf die Funktion von kompetitiven Spielen im gesellschaft lich-kulturellen Kontext hinweisen. In kompetitiven Gesellschaften wie der unsrigen entstehen Konflikte, die dem Gemeinwesen gefährlich werden können. So gibt es Konkurrenz zwischen Nationen, zwischen sozialen Schichten und es gibt ungerechte Verteilungssysteme. Wettkampfspiele dienen nach Meinung mancher Soziologen der Entschärfung solcher Konfl ikte.15 Bei sportlichen Wettkämpfen (Ländervergleich, Weltmeisterschaft, Olympiade) werden Konflikte im Spiel ausgetragen. Sieg und Niederlage sind meist anders verteilt als die realen wirtschaft lichen Machtverhältnisse und bleiben ohne negative Folgen. Ganz anders verhält es sich mit der Anwendung der strategischen Spieltheorie in Wirtschaft, Politik und beim Militär. Hier werden Konkurrenz- und Kampfsituationen durchgespielt und in ihren möglichen Konsequenzen analysiert. Es handelt sich also um Simulationen der Realität, deren Verwirklichung gravierende Folgen haben kann. Grundlage für solche Spielsimulationen ist die nicht bewiesene Annahme, dass sich die soziale, wirtschaft liche und politische Realität spieltheoretisch darstellen lässt. Am Beispiel des Nicht-Nullsummen-Spiels Prisoner’s Dilemma soll die Nutzung von Spieltheorie für die Praxis demonstriert werden. ABBILDUNG 4 zeigt die ursprüngliche Dilemma-Situation. Zwei Gefangene, die eines gemeinsamen Verbrechens angeklagt sind, haben die Möglichkeit zu kooperieren oder in Konkurrenz zueinander zu treten. Wenn beide leugnen, erhalten sie beide zwölf Monate Gefängnis. Gestehen beide, so kommen sie mit drei Monaten Haft davon. Leugnet ein Partner, während der andere gesteht, so erhält der Gestehende Freispruch und der Leugnende fünf Monate Haft. Rational gespielt würden beide gestehen und mit einer geringen Strafe davonkommen. Da aber der nicht kooperierende Partner noch besser wegkommt, vorausgesetzt, dass der andere leugnet, könnte der Konkurrierende den größten Gewinn herausschlagen.
Abb. 4: Kooperation und Wettbewerb als Nicht-Nullsummen-Spiel
12 Monate Haft Häftling 2
5 Monate Haft
5 Monate Haft
gesteht
Prisoner‘s Dilemma
3 Monate Haft
Freispruch
3 Monate Haft
leugnet
Häftling 1
gesteht
Transformiert man das Spiel in ein Gewinn-Verlust-Spiel mit Geldbeträgen, so bleibt es bei den gleichen Chancen. Rational wäre ein Spiel, in dem beide kooperieren, weil sie auf Dauer mit Sicherheit den größeren Gewinn einfahren. Es ist jedoch verlockend, auf Kosten des Kooperationswilligen in Wettbewerb zu treten und dadurch die Gewinn-Verlust-Bilanz für sich zu erhöhen. In ABBILDUNG 5 sind zwei Beispiele aufgeführt, wobei im ersten Spiel die Chancen für beide Partner gleich, im zweiten Spiel verschieden sind. In beiden Spielen lohnt es sich jedoch auf Dauer, zu kooperieren. Abb. 5: Zwei Beispiele von Gewinn- und Verlustverteilung im Prisoner’s Dilemma-Spiel K
W
P1
K
W
P1
K: Kooperation W: Wettbewerb +9
+ 10
10
15 P 1: Spieler 1 P 2: Spieler 2
K +9
10
- 10
0
P2 - 10
-9
10
15
W + 10
-9
15
5
Zunächst erweist sich als generelle Tendenz: nicht kooperieren, um so die Differenz zwischen Gewinn und Verlust zu maximieren. Kinder kooperieren stärker, übernehmen aber mit zunehmendem Alter die Strategie der Erwachsenen. Bei ausführlicher Instruktion steigt jedoch die Kooperationsbereitschaft, d.h. dass eine genauere Kenntnis des Spiels vonnöten ist, um kooperationswillig zu werden. Wenn man die Spielbedingungen dahingehend ändert, dass sich die Spieler verständigen können, tendieren sie bei kooperativer Rückmeldung ebenfalls zur Kooperation. Es gibt Evidenz dafür, dass sich die folgende Gesetzmäßigkeit generalisieren lässt: Signalisiert der Partner (ein Staat, ein Konzern, eine Bank, ein einzelner Mensch) Kooperationsbereitschaft und wird diese Haltung geglaubt, so tendiert auch der andere Partner zur Kooperation.16
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Freispruch
12 Monate Haft leugnet
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Kreativität im Spannungsfeld von Wettbewerb und Kooperation Kreativität richtet sich auf das Problem und befreit das »Feld« von irrelevanten und störenden Einflüssen wie sachfremden Bedürfnissen, Ängsten und Wettbewerb. In den wirtschaft lichen Wettbewerbssituationen unserer Gesellschaft ist Kreativität von ausschlaggebender Bedeutung. Wie aber lassen sich die notwendigen Rahmenbedingungen der Freisetzung von Zwängen für kreative Leistungen mit dem Wettbewerbsdruck vereinbaren? ABBILDUNG 6 verdeutlicht, wie sich Kreativität im Freiraum zwischen zwei Konkurrenzsituationen entfalten kann. Der Wettbewerb führt zunächst zu der Notwendigkeit, Neues zu kreieren, innovative Wege zu beschreiten. Existiert ein Freiraum für Forschung ohne unmittelbaren Zeit- und Konkurrenzdruck, kann Neues gefunden werden. Sobald das Neue in Technik, Wissenschaft und Ökonomie etabliert ist, kommt es zu neuem Wettbewerb. Andere Firmen, Institute und dergleichen versuchen, die Innovation zu übernehmen und zu verbessern. Abb. 6: Kreativität zwischen zwei Wettbewerbssituationen
Konkurrenz in Wirtschaft und Wissenschaft
Atempause, Ringen mit dem Neuen; Suche nach Lösungen
Innovation: führt zu neuer Konkurrenz
Neues Ergebnis
Die Phase zwischen zwei Wettbewerbssituationen ist heute für den menschlichen Erkenntnisfortschritt entscheidend: Kreativität und Innovation entwickeln sich oft im Freiraum zwischen zwei Wettbewerbssituationen. Nicht dem Wettbewerb, sondern dem menschlichen Wissensdrang sind unsere Fortschritte in Wissenschaft und Technik zu verdanken. Am Beispiel der Entstehung der abstrakten axiomatischen Mathematik in Griechenland soll dieser Sachverhalt verdeutlicht werden. In Mesopotamien und Ägypten entstand Mathematik aus gesellschaft lich-kulturellen Problemen. Jährlich mussten neu Land aufgeteilt und Steuern berechnet werden. Der Pyramiden- und Tempelbau erforderte ebenfalls mathematische Kenntnisse. In Griechenland entstand jedoch Mathematik losgelöst von praktischen Fragen als abstrakte axiomatische Mathematik. Wie war das möglich? Zwei Bedingungen scheinen vor allem die Entwicklung der Mathematik gefördert zu haben: logisches Denken und Spiel. In Griechenland zählte unter freien Bürgern nicht das Wort von Autoritäten (Königen, Religionen), sondern das logisch abgeleitete Argument. In dieser Kultur des Austausches von Argumenten und logischen Beweisführungen konnte sich nicht nur die Philosophie, sondern auch, und zwar schon vorher, die Mathematik entwickeln. Die zweite Bedingung kann in der spielerischen Haltung der Griechen gesehen werden. Sie organisierten die olympischen Spiele und liebten das Spiel im Alltag. Darüber hinaus aber führte die Freisetzung von lebenserhal-
Kreative Kooperation im Team Für die Entwicklung des Neuen gilt heute, dass nur die Kooperation zwischen vielen kompetenten Wissenschaft lern, Technikern und Organisatoren eine Weiterentwicklung gewährleistet. Die Zeiten, in denen ein Einzelner durch seine Erfindung oder Entdeckung die Welt veränderte, sind vorbei. An der Entwicklung des Handys sind Tausende von Ingenieuren beteiligt. Selbst kleine Produkte wie die Zahnbürste erfordern das Zusammenspiel von vielen. Sawyer beschreibt unter anderem die kreativen Beiträge bei der Entstehung eines Filmes und belegt, dass 50 Personen kreative Leistungen einbrachten. Am Bau und der Nutzung des Large Hadron Collider bei Genf sind ca. 2500 Forscher und Ingenieure beteiligt. Die Aufstellung des Teleskop-Verbundes (Very Large Telescope) in der Atacama-Wüste in Chile erforderte die Zusammenarbeit von Tausenden von Wissenschaft lern, Technikern, Ingenieuren und Logistik-Organisatoren. Analog dazu können die großen Weltprobleme, seien sie technischer, bevölkerungspolitischer oder klimatischer Natur nur durch die Kooperation aller Nationen gelöst werden. Kehren wir zurück zur Kreativität in kleinen Gruppen. Eine Vielzahl von Untersuchungen führte dazu, dass wir heute wissen, unter welchen Bedingungen eine kooperierende Gruppe Neues zustande bringen kann. Ein Untersuchungsbeispiel mag einige dieser Faktoren beleuchten. Scholl stellte einer größeren Zahl von Gruppen eine schwer lösbare betriebliche Aufgabe und verglich die vier erfolgreichsten Gruppen mit den vier erfolglosesten Gruppen.18 Das Ergebnis ist in TABELLE 1 dargestellt. Die Erfolgreichen brachten mehr innovative Vorschläge ein, während die Erfolglosen harmonisierend interagierten. Die Erfolgreichen waren stärker zielorientiert, die Erfolglosen stärker lageorientiert, d.h., sie beschäft igten sich mit der aktuellen, scheinbar ungünstigen Aufgabensituation und beklagten ihre Lage. Die Erfolgreichen durchliefen die Schleife von Lösungsversuch, Bewertung und Entwicklung neuer Lösungen, während die Erfolglosen bei der Planung verharrten und lange erfolglose Schleifen durchführten. Die Emotionen waren bei den Erfolgreichen von Anfang an positiv-optimistisch, bei den Erfolglosen negativ.
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tenden Tätigkeiten zum spielerischen Umgang mit Denkmöglichkeiten. Da Spiel sich von der Realität lösen kann und beliebige Fiktionen konstruiert, vermochte sich die Mathematik als »Spiel« ebenfalls von der Realität zu lösen und »weiterzudenken«. So gelten bereits die Aussagen der griechischen Mathematik unabhängig von einem Realitätsbezug zu geometrischen Formen in der Alltagswelt. Die Kreativitätsforschung belegt andererseits die Bedeutung der Kooperation für das Ergebnis. So sagen viele herausragende Forscher: »Ich habe einfach Glück gehabt, zur rechten Zeit am rechten Ort mit den richtigen Leuten zusammen gekommen zu sein.« Wer anders denkt, ist oft sehr einsam. Die Gruppe Gleichgesinnter kann wesentlich zur Entstehung des Neuen beitragen. Wiederum zeigt sich dies schon bei den philosophischen Schulen im alten Griechenland, setzt sich fort in den späteren philosophischen Schulen und wird heute in den Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt systematisch genutzt. Damit sind wir bei der Bedeutung von Kooperation für den wissenschaft lichen und technischen Fortschritt angelangt.
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Tab. 1: Bedingungen kreativer Gruppenprozesse 21 Gruppen, davon die 4 erfolgreichsten und die 4 erfolglosesten erfolgreich
erfolglos
konstruktiv
harmonisierend
innovative Vorschläge
sich wechselseitig bestätigend
zielorientiert
lageorientiert
erst planungsdann produktorientiert
bei Planung verharrend
Lösungssuche – Bewertung neue Lösungssuche
lange Schleifen, emotionale Diskussion
positive Emotionen
Klagen, die sich später noch steigerten
Quelle: Scholl 2004.
Eine Synthese von Kooperation und Wettbewerb Wettbewerb und Kooperation scheinen per Definition im Widerspruch zueinander zu stehen. Sie sind häufig nur dann verträglich und ergänzen einander, wenn die Kooperation in der ingroup stattfindet und die Konkurrenz nur gegenüber der outgroup eingesetzt wird. In der (hoffentlich) zusammenwachsenden Weltgemeinschaft kann aber das Ziel des Wettbewerbs nicht in der Schädigung oder Vernichtung des Konkurrenten bestehen, denn wünschenswerterweise sollte die ganze Menschheit zur ingroup werden. Wie lassen sich aber dann Kooperation und Wettbewerb miteinander vereinbaren? Schließlich befi nden sie sich in einem dialektischen Widerspruch. Abb. 7: Synthese von Wettbewerb und Kooperation als dialektische Lösung
Konkurrent
Rezipient, Kunde Kooperation
wünschenswertes ehtisches Prinzip: Fairness
wünschenswertes ehtisches Prinzip: Schutz vor Abhängigkeit Wettbewerb im Dienste des Rezipienten (Kunden)
Motiv: sozialer Vergleich. Am Konkurrenten kann die eigene Leistung gemessen werden. Konkurrent als nötiger Partner: wechselseitige Ergänzung
Kooperation
Motiv: Verbesserung der Lebensqualität, Herstellung von Vertrauen
Marktsituation. Der Konkurrent versucht mit dem Kunden in Kooperation zu treten, indem er ein Angebot (Dienstleistung, Ware) macht, das dem Kunden Vorteile gegenüber bisherigen Angeboten bietet. Gleichzeitig tritt der Anbieter in Konkurrenz zu anderen Anbietern. Im Optimalfall steht der Wettbewerb im Dienste des Kunden (Rezipienten). Dieser profitiert von konkurrierenden Angeboten – eine Konstellation, die häufig der Realität entspricht. Das wünschenswerte ethische Prinzip, das die Beziehungen zwischen den Konkurrenten reguliert, ist die Fairness. Wir wissen alle, dass es mit der Fairness in vielen Fällen nicht weit her ist. Das ethische Prinzip, das die Beziehung zum Rezipienten (Kunden) regulieren sollte, ist der Schutz vor Abhängigkeit. Viele Angebote streben leider die Abhängigkeit des Kunden von der Ware bzw. von der Dienstleistung an, was zu Suchtverhalten führen kann, von Alkoholika bis zu Computerspielen. Das Motiv gegenüber dem Kunden muss also die Verbesserung seiner Lebensqualität und die Herstellung von Vertrauen sein. In der Tat gibt es eine riesige Zahl von Erfindungen, die uns das Leben erleichtert haben; und es gibt immer noch viele Firmen, die Wert darauf legen, das ihnen geschenkte Vertrauen zu erhalten. Gegenüber dem Konkurrenten sollte das Motiv nicht dessen Niederlage sein, sondern der soziale Vergleich und die wechselseitige Ergänzung. Durch den sozialen Vergleich kann die eigene Leistung erst gemessen werden. Sie wäre ohne die Gegenwart der Konkurrenz kaum fassbar. Der Vergleich und die Analyse der Bedarfslage des Kunden kann zur Erkenntnis von Möglichkeiten führen, wie sich Konkurrenten wechselseitig ergänzen können. In diesem Falle stehen die Konkurrenten nicht nur im Wettbewerb, sondern kooperieren gleichzeitig. Wiederum gibt es zahlreiche Beispiele, bei denen genau dies geschieht. Insgesamt lässt sich also zeigen, dass Wettbewerb und Kooperation sich sehr wohl vereinen lassen und nicht in unversöhnlichem Widerspruch zueinander stehen müssen.
Schlussfolgerungen Kooperation und Wettbewerb leiten sich aus unserer Evolution ab. Wettbewerb hat seine Wurzel in der Aggression, die einstmals lebensnotwendig war, und im Bestreben nach Status. Kooperation entspringt aus dem evolutionär grundgelegten Altruismus, der die Individuen der ingroup schützte und die Fortpflanzung sicherte. Die Kultur als die vom Menschen gemachte Umwelt formt Kooperation und Wettbewerb, wobei kollektivistische Kulturen anders mit ihnen umgehen als individualistische. Dennoch dürfte generell gelten: Wettbewerb beflügelt, spornt an, sorgt für Dynamik und Leistungsmotivation. Er ist ein wichtiger (aber nicht der einzige) Motor für kulturelle Entwicklung. Das Neue entsteht in einem kognitivemotionalen Freiraum, der problemzentriert und frei von störenden Einflüssen (z.B. vom Wettbewerbsdruck) ist. Aber das Neue entsteht häufig nur, wenn Wettbewerb und Konkurrenz als Auslöser wirksam waren. Kooperation und Rückhalt in einer Gruppe begünstigen kreative Prozesse. Die Dynamik von Kooperation und Wettbewerb ist auch heute meist durch Widerspruch und Unvereinbarkeit geprägt. Als Lösung wird gegenwärtig meist
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ABBILDUNG 7 zeigt den Versuch einer Synthese dieses Widerspruchs, bezogen auf die
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Kooperation nach innen und Wettbewerb nach außen praktiziert. Aber auch innerhalb einer Gruppe (in der ingroup) lassen sich Kooperation und Wettbewerb zusammenführen, wenn das Wohlergehen des Rezipienten auf der einen Seite und der soziale Vergleich sowie die wechselseitige Ergänzung von Konkurrenten auf der anderen Seite angestrebt werden. In Zukunft wird Kooperation im großen Stil nötig sein, um die anstehenden Weltprobleme zu lösen. Dazu sind als Bedingungen Kommunikation und Vertrauen innerhalb der gesamten Weltgemeinschaft nötig. Wird die Menschheit, die bislang in konkurrierende Untergruppen zerfällt, es schaffen, im großen Stil zu kooperieren? Literaturverzeichnis G. W. Allport, Personality. A psychological interpretation, London 1938. D. Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathie, Bern 1989. J. Bowlby, Bindung, Frankfurt a. M. 1984. D. R. Carrier, »The running-fighting dichotomy and the evolution of aggression in hominids«, in: J. Melrum, C. Hilton (Hgg.), From Biped to Strider: The Emergence of Modern Human Walking, Running, and Resource Transport, New York 2004. M. H. Couppis, C. H. Kennedy, »The rewarding effect of aggression is reduced by nucleus accumbens dopamine receptor antagonism in mice«, Psychopharmacology (2007), S. 1432–2072. M. Csikszentmihalyi, Creativity. Flow and the psychology of discovery and invention, New York 1997. M. Deutsch, »Trust and suspicion«, Journal of conflict resolution (1958), S. 2265–2279. M. N. Haidle, »Kognitive und kulturelle Evolution«, Erwägen – Wissen – Ethik 19, 2 (2008), S. 149–159. W. D. Hamilton, »The genetical evolution of social behaviour I and II«, Journal of Th eoretical Biology 7 (1964), S. 1–52. H. Heckhausen, Motivation und Handeln (Bd. 2.), Berlin 1989. M. J. Herskovits, Man and his works: The science of cultural anthropology, New York 1948. Kennedy, »C. Maler aggression and reward in the brain«, Psychopharmacology (2008), S. 840–881. K. Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München 1974. R. Oerter, Psychologie des Spiels, Weinheim 1999. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973. R. K. Sawyer, Explaining creativity. Th e science of human innovation, New York, Oxford 2006. W. Scholl, Innovation und Information. Wie in Unternehmen neues Wissen produziert wird (Unter Mitarbeit von Lutz Hoff mann und Hans-Christof Gierschner), Göttingen 2004. B. Sutton-Smith, »The metaphor of games in social science research«, in: R. van der Kooij, J. Hellendoorn (Hgg.), Play, Play Therapy, Play Research, Berwyn 1986, S. 35–65. B. Sutton-Smith, J. M. Roberts, R. M. Kozelka, »Game involvement in adults«, The Journal of Social Psychology 60 (1963), S. 15–30. C. F. Zink, Y. Tong, G. Chen, D. S. Bassett, J. L. Stein, A. Meyer-Lindenberg, »Know Your Place: Neural Processing of Social Hierarchy in Humans«, Neuron 58 (2008), S. 273–283. 1
Vgl. M. N. Haidle, »Kognitive und kulturelle Evolution«, Erwägen–Wissen–Ethik 19, 2 (2008), S. 149–159. 2 Vgl. K. Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München 1974. 3 Vgl. D. R. Carrier, »The running-fighting dichotomy and the evolution of aggression in hominids«, in: J. Melrum, C. Hilton (Hgg.), From Biped to Strider: The Emergence of Modern Human Walking, Running, and Resource Transport, New York 2004.
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Wettbewerb und Kooperation – von der biologischen zur kulturellen Evolution
4 Vgl. M. H. Couppis, C. H. Kennedy, »The rewarding effect of aggression is reduced by nucleus accumbens dopamine receptor antagonism in mice«, Psychopharmacology (2007), S. 1432–2072. 5 Vgl. Kennedy, »C. Maler aggression and reward in the brain«, Psychopharmacology (2008), S. 840–881. 6 Vgl. W. D. Hamilton, »The genetical evolution of social behaviour I and II«, Journal of Th eoretical Biology 7 (1964), S. 1–52. 7 Vgl. C. F. Zink, Y. Tong, G. Chen, D. S. Bassett, J. L. Stein, A. Meyer-Lindenberg, »Know Your Place: Neural Processing of Social Hierarchy in Humans«, Neuron 58 (2008), S. 273–283. 8 Vgl. D. Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathie, Bern 1989. 9 Vgl. M. J. Herskovits, Man and his works: The science of cultural anthropology, New York 1948. 10 Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973. 11 Vgl. H. Heckhausen, Motivation und Handeln (2. Aufl.), Berlin 1989. 12 Vgl. J. Bowlby, Bindung, Frankfurt a. M. 1984. 13 Vgl. G. W. Allport, Personality. A psychological interpretation, London 1938. 14 Vgl. R. Oerter, Psychologie des Spiels, Weinheim 1999. 15 Vgl. B. Sutton-Smith, »The metaphor of games in social science research«, in: R. van der Kooij, J. Hellendoorn (Hgg.), Play, Play Therapy, Play Research, Berwyn 1986, S. 35–65; B. Sutton-Smith, J. M. Roberts, R. M. Kozelka, »Game involvement in adults«, The Journal of Social Psychology 60 (1963), S. 15–30. 16 Vgl. M. Deutsch, »Trust and suspicion«, Journal of conflict resolution (1958), S. 2265–2279. 17 M. Csikszentmihalyi, Creativity. Flow and the psychology of discovery and invention, New York 1997; R. K. Sawyer, Explaining creativity. Th e science of human innovation, New York, Oxford 2006. 18 Vgl. W. Scholl, Innovation und Information. Wie in Unternehmen neues Wissen produziert wird (Unter Mitarbeit von Lutz Hoff mann und Hans-Christof Gierschner), Göttingen 2004.
Europa, Wettbewerb und Haydn In diesem Jahr 2009 gedenken wir des 250. Todesjahres Joseph Haydns, des Begründers der sinfonia, der modernen Sinfonie. Im Haydnjahr kann man die Frage stellen: Warum gedenken wir gerade in Deutschland, in Österreich gar, und jedenfalls in Europa dieses Haydnjahrs und feiern den Meister? Hätte Haydn nicht auch Inder, Chinese oder Türke sein können? Meine Antwort ist: Nein, denn das ökonomische Räsonnieren, das in diesem Zusammenhang zunächst befremdlich erscheinen mag, lässt eigentlich keine andere Antwort zu. Was hat also der erste Genius der Sinfonie speziell mit Europa zu tun und warum nichts mit Indien, China oder der Türkei? Meine wiederum ökonomische Antwort ist: Er hat sehr viel und alles mit Europa zu tun, denn die gedankliche Klammer zwischen der sinfonischen Polyphonie und der Kultur Europas heißt Wettbewerb: Wettbewerb der Kulturen, Wettbewerb der Systeme. Diese herausfordernde These bedarf natürlich einer eingehenden analytischen Begründung, die ich im Folgenden geben möchte. Sie führt mich auf die Spur von Eric Jones, dem originellen australischen Wirtschaftshistoriker, der bekanntlich über das »European Miracle«, über »Das Wunder Europa« ein bahnbrechendes Werk geschrieben hat. Worin besteht das Wunder Europa? Es besteht zunächst darin, dass sich Europa nun schon seit mehr als zweitausend Jahren – mit zeitlichen Schwankungen zwar, aber doch im Trend – in dieser Welt dominant behauptet. Aufk lärung, moderne Wissenschaft und Technik und nicht zuletzt die industrielle Revolution entstanden in Europa – und nicht etwa im chinesischen Kaiserreich, unter den indischen Großmoguln oder im osmanischen Sultanat. Und was ist die Erklärung dafür? Anders als in den Großräumen China, Indien und osmanisches Reich fand im kleinräumigen Europa stets ein intensiver Wettbewerb statt, ein Wettbewerb zwischen den Herrschern: also ein Wettbewerb zwischen den Fürsten, den Königen, Kaisern und wiederum zwischen diesen und den Päpsten um Menschen, Religion und Kapital. Europa war politisch und religiös fragmentiert und es gab keine europäische Herrschaftszentrale – und natürlich auch keine Agenda setzende europäische Fürstenkommission und keinen europäischen Fürstenrat, kein europäisches Untertanenparlament, geschweige denn einen europäischen Fürstengerichtshof –, die diese Fragmentierung zu überwinden suchte oder überwinden konnte. Die Herrscher konnten ihre Untertanen – allen voran die wirtschaft lichen, intellektuellen und kulturellen Eliten, zu denen die Kaufleute, die Juden, die Protestanten, die Hugenotten, die Künstler und andere Minderheiten gehörten – nicht beliebig unterdrücken und ausbeuten, weil es diesen ohne besondere Schwierigkeiten möglich war, in andere Fürstentümer oder Länder abzuwandern. Doch weil die Abwanderung dieser Leistungsträger sich auf die Steuerkraft des Landes und damit auf die Einnahmen der Obrigkeit negativ auswirkte, waren die klugen Herr-
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scher bemüht, ihre Untertanen pfleglich zu behandeln. Eigentlich muss man es gar nicht erwähnen, dass erfolgreiche Fürsten keine Kompensationszahlungen an die weniger erfolgreichen europäischen Fürstenkollegen zahlten oder zahlen mussten. In der heutigen Sprache der Ökonomen würde man sagen, dass die politische Fragmentierung Europas, die in den Geschichtsbüchern zumeist spöttisch als »Kleinstaaterei« abgetan wird, durchaus viel bewirkte, weil sie die privaten Exit-Optionen vermehrt hat, wodurch die Hierarchiemacht der Herrscher domestiziert wurde. Und je kleiner die Staaten waren und je mehr Staaten es gab – möglicherweise sogar innerhalb desselben Sprachgebiets –, desto vielfältiger waren die Exit-Optionen und desto geringer waren die Kosten des Ausweichens für die mobilen Leistungsträger. Deshalb mussten die Fürstentümer offen sein und attraktiv genug, um Menschen und Kapital, Wissen und Kunst von außen hereinzuholen. Zwar gab es im damaligen Europa durchaus mancherlei Beschränkungen im interfürstlichen Handel mit Gütern und Diensten, aber kluge Herrscher erkannten auch, dass ihr Reichtum – anders als in den Hochzeiten des Merkantilismus – nicht allein von der Exportausweitung abhing, sondern auch vom Import ausländischer Waren, weil dies die Untertanen in ihrem Versorgungs- und Wohlstandsstreben zufriedenstellte, die dann weniger zu Exit-Optionen in andere Herrscherregionen neigten und demnach die Loyalitäts-Option zu ihren Fürsten wählten. Dies entsprach dann im Übrigen ganz dem Gedankengut des Haydnschen Zeitgenossen Adam Smith, des bekanntlich umfassend gebildeten Moralphilosophen aus Glasgow, des Begründers der modernen Ökonomie: Es ist die internationale Arbeitsteilung und als deren Komplement der freie internationale Austausch von Gütern, Diensten, Kapital, Kultur und Wissen, die den Reichtum der Nationen schaffen. Abschottung und Protektion führen zu Armut. So war Adam Smith damals schon die Inkarnation dessen, was wir heute die Globalisierung nennen. Und aus dieser Ideenwelt des Adam Smith, vor allem bereichert um die seines Schülers David Ricardo, kann man heute konstatieren, dass die Globalisierung allokativ ein gigantisches Weltwohlstandsprogramm ist. Wäre es anders, müsste man lieber heute als morgen die WTO abschaffen. In diesem Sinne repräsentierte die Zeit der Fürsten eine Welt, die wir heute als Staatenwettbewerb, Systemwettbewerb, Regierungswettbewerb, Standortwettbewerb, Institutionenwettbewerb oder auch als Kulturwettbewerb bezeichnen. Elementarer Humus dieses Wettbewerbs ist die Vielfalt der Lebensbereiche und ganz und gar nicht deren Einheitlichkeit: die politische, wirtschaft liche, kulturelle und religiöse Polyphonie. Sie war die schöpferische Quelle des »Wunders Europa«. Und auf die Musik bezogen begann dieses polyphone Wunder bereits mit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in dem die Mehrstimmigkeit entstand und Musik sich damit zum ersten Mal nicht nur im Nacheinander, sondern auch im Neben- und Übereinander der Töne und durchaus auch im Kontrapunkt ausprägte, wobei dieser Vorgang auf die abendländische Musik beschränkt geblieben ist. In den anderen Weltkulturen China, Indien und Islam lagen die Dinge diametral anders: Sie zeichneten sich durch das Gegenteil von Fragmentierung, nämlich durch politische, kulturelle und religiöse Zentralisierung der riesigen Reiche aus.
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Zentralisierung unterbindet Vielfalt, sie schafft erzwungene Einheitlichkeit und zerstört damit jegliche Möglichkeit des privaten Exits. Das stärkt dann die Allmacht der Herrscher über ihre Untertanen. In den Großräumen dieser Weltreiche konnte also – anders als im kleinräumigen Europa – ein innerstaatlicher Systemwettbewerb der politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Vielfalt gar nicht entstehen. Die Stagnation der asiatischen Zentralisierung stand damit in kompetitivem Kontrast zur Dynamik des innereuropäischen Systemwettbewerbs. Und weil jegliche historische Erfahrung zeigt, dass Wettbewerbsgesellschaften allen zentral verwalteten Gesellschaften dauerhaft überlegen sind, liegt in diesem europäischasiatischen Systemkontrast die Wiege des »Wunders Europa«, das den innerstaatlich wettbewerbslosen Holismus der Großreiche des alten China, der Großmogule und der Osmanen, die ja alle zerfallen sind, überlebt hat. Und in die jüngste Geschichte übertragen gilt dies ja auch für den Untergang des zentralgesteuerten Sowjetreiches. Warum ist der Wettbewerb, der Systemwettbewerb innerhalb eines Integrationsraumes, der Zentralisierung grundsätzlich überlegen? Aus vielen Gründen, von denen ich hier nur denjenigen hervorheben möchte, den Hayek – vor ihm auch schon Gustav Schmoller – aus evolutorischer Sicht bekanntlich als herausragend benannte: Wettbewerb ist das beste Verfahren zur Entdeckung von Neuem. Ohne Wettbewerb schläft alles ein, gibt es keinen Fortschritt, keine Innovationen, keine Kreativität. Zentralisierung tötet die Entwicklungsdynamik, indem sie u.a. in einem staatlichen Prozess der Wissenskompetenz vorgibt, das dezentral vorhandene unerschöpfliche Wissen der Menschen zentral bündeln zu können, was grundsätzlich ohne signifikanten Wissensverlust unmöglich ist. Und der Wettbewerb der Unterschiede lässt Vergleiche zu, die das Wahrnehmen von überlegenen Lösungen ermöglichen, von denen man durch best practice-Vergleiche lernen kann. Über all dies hinaus ist der Wettbewerb zudem das bekanntlich beste Verfahren zur Kontrolle wirtschaft licher und politischer Macht und damit zum Schutz der persönlichen Freiheit der Bürger. Es war der britische Ökonom David Hume, der bereits 1742 in seinem Traktat On the Rise and Progress of the Arts and Sciences das Erfolgsgeheimnis für den Fortschritt in Wissenschaft und Kunst in der Rivalität der Staaten und in der Freiheit, die sie gewähren, gesehen hat. Emanuel Kant, der sich von Hume inspirieren ließ, erkannte dabei – wie übrigens später auch Max Weber –, dass diese Freiheit eine unmittelbare Folge der Staatenrivalität ist, dass es also der freiheitsfördernde Staatenwettbewerb mit seiner Vielfalt der Vergleichsmöglichkeiten und der ExitOptionen ist, der Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Künste gedeihen lässt. Und das führt uns wieder zu Haydn. Zu seiner Zeit, aber auch schon davor in der Zeit des musikalischen Barock, zeigte sich, wie der Mannheimer Ökonom Roland Vaubel aufzeigt, dass die bedeutendsten Komponisten, also auch Haydn selbst, aus denjenigen Ländern stammten, die die größte Zahl an unabhängigen Fürstentümern und die größte politische und kulturelle Vielfalt repräsentierten: Italien und Deutschland. Dagegen spielten Frankreich und England – beides hochzentralisierte Staaten mit entsprechend zentralisierter Kunstpflege – nicht recht mit in der Champions League der europäischen Musik. In Deutschland und Italien war – und das demonstriert etwas von der kompetitiven musikalischen Vielfalt dieser Länder –
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die Mobilität der Komponisten, gemessen an deren Verweildauer pro Anstellung, signifi kant höher als in den anderen Ländern Europas. Es war der Standortwettbewerb unter den Fürsten – also den Musiknachfragern –, der die Verhandlungsposition sowie die pekuniäre und soziale Stellung der Komponisten – also der Musikanbieter – verbesserte. Das widerspricht nicht der Tatsache, dass es manchen Komponisten – so bekanntlich auch Haydn, Mozart, Bach, Beethoven und vielen anderen – zeitweise materiell außerordentlich schlecht ging. Das traf erst recht für die einfachen Musiker zu: So hat Haydn zum Beispiel deren schlechte Urlaubsregelung beim Fürsten Esterházy in seiner berühmten »Abschiedssinfonie« konzertant und witzig dokumentiert, indem einer nach dem anderen der Kapellmitglieder mitten im Stück den Saal verließ, bis nur noch zwei Streicher zurückblieben. Esterházy verstand den ernstgemeinten Musikscherz und gewährte Urlaub. Die Fürsten der damaligen Zeit wollten ihr Sozialprestige verbessern, indem sie sich mit dem Kunstprestige großer Komponisten und Künstler schmückten. Und Letzteres war wiederum eine Funktion deren kompositorischen Innovationen bezüglich neuer Stilrichtungen, denen viele Fürsten offen gegenüberstanden. So hat besonders Haydn die Ansätze zu neuen Linien in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts aufgenommen: zum Beispiel die Sonatenform der norddeutschen Meister mit Philipp Emanuel Bach an ihrer Spitze, welche die Grundlage für die großen Sinfoniesätze bildete. Die Mannheimer unter Führung des genialen Stamitz hatten eine neue Orchestersprache erfunden. Die Wiener Sinfoniker nahmen volkstümliche Elemente in ihre sonst nach strengen Regeln gebauten Sätze auf. Mit der Zweiteiligkeit der französischen Ouvertüre lieferte die französische Musik ihren Beitrag zu neuen Formen. Und die italienischen Sinfoniker, ganz unter dem Einfluss der Oper stehend, bauten eine gesangsmäßige Melodiebildung auch in die sinfonische Thematik ein. Das alles stand im starken Gegensatz zur katholischen Kirche, die gegenüber der zunehmend polyphonen Musikwelt, insbesondere der Chormusik – und darüber hinaus gegenüber der Orgel als Kircheninstrument mit dem wohl größten Polyphoniepotential – große Vorbehalte hatte, weil sie die Verständlichkeit der liturgischen Texte für die Gläubigen in Gefahr sah. Es mag eine Überhöhung des Wettbewerbsgedankens sein, aber vielleicht auch eine kreative Variante, wenn man die Entwicklung zur Polyphonie und zur Kontrapunktik, die allerdings längst vor Haydns Zeiten begann, die Haydn aber – natürlich neben und nach den anderen Giganten wie Johann Sebastian Bach, dem wohl größten Meister des kontrapunktischen Stils – perfektionierte, als Resultat eines speziell europäischen Wettbewerbsumfeldes des Pluralismus begreift . Denn Polyphonie, Vielstimmigkeit hat keine Wurzeln in der unisonen Ausprägung des Zentralismus der asiatischen Großreiche, geschweige denn, dass es im Musikalischen wie im Politischen in diesem Zentralismus einen Kontrapunkt, eine Ausprägung von Opposition geben durfte. Kommen wir zurück zum »Wunder Europa«. Existiert das skizzierte »Wunder« eigentlich heute noch und wenn ja: Wird es von Dauer sein? Natürlich haben wir alle kein Zukunftswissen, aber die gegenwärtige Entwicklung Europas, wie sie sich
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institutionell in der EU manifestiert, gibt – wie ich glaube – Anlass zu großer Skepsis. Ich will dies begründen. Der Weg von den Römischen Verträgen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 bis zur heutigen Europäischen Union wird durch einen sichtbaren Trend zur Zentralisierung gekennzeichnet, der insbesondere ab Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts steil zugenommen hat. Diese Zentralisierung wird in der offiziellen Sprache der EU-Repräsentanten mit dem Terminus »Vertiefung« der EU in ein gewollt positives Licht gesetzt, weil in deren Hinterkopf vielleicht die visionäre Finalität der EU als ein europäisches Großstaatsgebilde zur abermaligen Überwindung der europäischen Kleinstaaterei steht, außer Acht lassend, dass es gerade die Großstaaterei der skizzierten asiatischen Zentralreiche ebenso wie die des Sowjetreiches war, die den Keim ihres Zerfalls darstellte. Wie die Verträge von Maastricht über Amsterdam, Nizza bis Lissabon dokumentieren, bemächtigt sich die EU immer neuer Aktivitätsfelder in Politikbereichen, die bisher ausschließlich oder überwiegend und mit gutem Grund den Mitgliedstaaten vorbehalten waren, weil sie keine genuin europäisch-öffentlichen Güter repräsentieren. So postuliert die EU immer mehr Gemeinschaftszuständigkeiten in der Außen-, Sicherheits-, Sozial-, Struktur-, Umwelt-, Beschäft igungs-, Gesundheits-, Industrie-, Technologie-, Verkehrs-, Forschungs- und Bildungspolitik. Dieser Zentralisierungstrend wird durch die im Lissabon-Vertrag kodifizierte Relativierung des Einstimmigkeits- zugunsten der Ausdehnung des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungen im Rat verstärkt. Zur Zentralisierungsstrategie passt auch die sogenannte offene Methode der Koordinierung in der EU, die deshalb zentralistisch wirkt, weil sie methodisch auf das vom EU-Gipfel in Lissabon beschlossene zentralstaatliche Ziel ausgerichtet ist, bis zum Jahre 2010 der – wie es heißt – wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Abgesehen davon, dass dieser Beschluss bereits terminlich und quantitativ relativiert wurde, liegt ihm der Irrglaube an eine zentralisierte Planbarkeit des ökonomischen Fortschritts zugrunde, der fatal an viele ähnliche Beschlüsse der Zentralkomitees vieler Staaten des ehemaligen Ostblocks erinnert, einzelne Länder des Westens zu einem bestimmten Zeitpunkt einholen oder gar überholen zu wollen. Wir wissen ja alle, was daraus geworden ist. Und dennoch wiederholt sich dieser systemische Zentralirrtum der Regierenden immer wieder neu. Was sind die Gründe für diesen Zentralisierungstrend? Der wichtigste liegt wohl in einer polit-ökonomischen Erklärung: Die Funktionsträger der Gemeinschaft sorgane der EU (Kommission, Parlament, Europäischer Gerichtshof) streben nach Stärkung ihrer Macht durch Erweiterung ihrer zentralen Aktivitätsfelder. Sie haben deshalb auch ein Interesse an politischer Kartellbildung in Form zunehmender Harmonisierung nationaler Politikfelder, weil sie damit die Funktion der Überwachung der Einhaltung der nationalen Kartelldisziplin gewinnen. Aber auch die Regierungen der Mitgliedstaaten haben oft genug ein Interesse an Zentralisierung und an der EU-Harmonisierung ihrer eigenen Politikbereiche, weil sie sich damit dem zwischenstaatlichen Wettbewerb entziehen wollen, der durch die Wahrneh-
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mung von Exit-Optionen durch die Bürger, Unternehmen, Kapitaldisponenten und andere Leistungsträger ihrer Staaten ausgelöst wird. Vor diesem Hintergrund ist die zunehmende Striktheit der Harmonisierung zum Beispiel im Bereich der Steuern zu sehen, die den Steuerwettbewerb innerhalb der EU weitgehend unterbinden soll, ebenso wie die Entsenderichtlinie für den Arbeitsmarkt, die Suspension des Ursprungslandprinzips bei den Dienstleistungen, der Impetus zur Einführung von EU-weit geltenden sozialen Mindeststandards und nicht zuletzt die unter der Überschrift des Bologna-Prozesses politisch europaweit verordnete Gleichschaltung aller Hochschulabschlüsse in (fast) allen Disziplinen unabhängig davon, ob und in welcher Weise die Hochschulen und Fakultäten mit den neuen und/oder den alten Abschlüssen sich individuell im internationalen Kultur- und Wissenswettbewerb bewähren können und wollen. Alle diese Maßnahmen der politisch verordneten Vereinheitlichung unterbinden also genau den Systemwettbewerb, dessen kompetitiver Pluralismus die entscheidende Ursache für das »Wunder Europa« war. Der schleichende Zentralismus in der EU wird ebenso wie die Harmonisierung oft genug auch ökonomisch mit dem Argument zu untermauern versucht, ohne sie gäbe es im Staatenwettbewerb einen ruinösen politischen Regulierungswettlauf, einen race to the bottom also, der die Errungenschaften der umverteilenden Wohlfahrtsstaaten von heute zerstöre. Und zudem sei es widersinnig, Regierungen unter internationalen Wettbewerbsdruck zu stellen, sie also wie private Unternehmen den Marktkräften auszusetzen, wo sie doch gar keine privaten Güter anböten, sondern öffentliche Güter selektierten (Selektionsprinzip), die sich dem Ausschlussprinzip des Marktes bekanntlich entziehen. Zu beiden Argumenten lässt sich hier nur kurz anmerken, dass das race-to-thebottom-Argument eine in sehr spezifischer Weise theorieabgeleitete Hypothese ist, die von der Empirie in überhaupt keinem Fall bestätigt wird. Ganz im Gegenteil wirkt der Regierungswettbewerb nicht ruinös, sondern effizienzstimulierend in dem Sinne, dass sich die Regierungen – wie im damaligen Fürstenwettbewerb – anstrengen müssen, um die mobilen Leistungsträger im Lande zu halten. Und das heißt, dass die Regierenden die Äquivalenz zwischen dem, was sie den Bürgern an Steuern und Abgaben nehmen, und dem, was sie den Bürgern dafür an Gegenleistung zurückgeben, nicht beliebig so verzerren dürfen, dass die Bürger das Gefühl haben, von der Regierung weniger zurückzubekommen als sie ihr geben müssen. Im Systemwettbewerb gibt es deshalb eine Tendenz hin zur Äquivalenzbeziehung und weg von der Hierarchiebeziehung zwischen Staat und Bürger. Und das Selektionsprinzip als Gegenargument zum Regierungswettbewerb unterstellt die Optimalität staatlichen Handelns. Aber weil Regierungen dies genau nicht tun, weil sie gar nicht wissen, was denn optimal sei, oder jedenfalls geprüft werden muss, ob sie es wissen und also tatsächlich ausschließlich öffentliche und nicht auch private Güter in effi zienter Weise anbieten, müssen sie immer wieder unter den Druck des Suchmechanismus Wettbewerb gestellt werden, damit sie sich gegenüber ihren eigenen Bürgern und Unternehmen im Vergleich zu anderen Regierungen anderer Länder bewähren, die für Exit-Optionen ja offen stehen.
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Ein Regierungswettbewerb in Europa soll mithin – durchaus in gewisser Analogie zum ökonomischen Wettbewerb – der durch die zunehmende Zentralisierung geförderten Bildung politischer Monopole und Kartelle entgegenwirken. Deshalb brauchen wir wohl – wiederum ähnlich wie beim ökonomischen Wettbewerb – eine Wettbewerbsaufsicht für Regierungen in Europa. Regierungen müssen unter politische Kartellaufsicht gestellt werden! Diese Idee ist ungewohnt und sicher deshalb auch noch unpopulär. Aber eine Wettbewerbsaufsicht für Regierungen könnte die Aufgabe haben, das Zentralisierungsgebaren in der EU an der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu spiegeln, das ja im EU-Vertragswerk explizit als allgemeines Handlungsprinzip der Gemeinschaft verankert ist. Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, durch das ja die Kompetenzbereiche zwischen nationalem Handeln und Gemeinschaftshandeln abgegrenzt werden mit einer Zuständigkeitsvermutung primär zugunsten privaten Handelns und sekundär zugunsten der jeweils unteren staatlichen Handlungsebenen, müssten dann untersagt werden können. Man mag das Klagerecht der nationalen Parlamente gegen Verstöße bei der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, wie es im Lissabon-Vertrag vorgesehen ist, begrüßen. Letztendlich wird es aber keine wesentliche Durchsetzung dieses Prinzips bewirken, weil die letzte Entscheidungsinstanz die Kommission – also ein Gemeinschaftsorgan – ist. Die Zentralisierungspolitik der EU ist nicht zuletzt aus Gründen zu problematisieren, die aus der neueren Forschung zur Theorie der optimalen Größe von Staaten resultieren. Diese Forschung befasst sich mit der Frage: Gibt es eine optimale Staatengröße? Und was bestimmt die optimale Größe eines Staates bzw. eines Integrationsraumes? War das Europa der Fürstentümer zu Zeiten Haydns optimal geschnitten, ist Deutschland heute zu groß, ist die EU noch zu klein und also immer noch erweiterungsfähig? In Relation zu China mit rund 1,3 Milliarden und Indien mit etwa einer Milliarde Einwohnern ist die große Mehrheit der Staaten dieser Welt mit weniger als sechs Millionen Einwohnern klein. Für die Nachkriegsperiode erkennen wir einen ausgeprägten Trend zur Bildung neuer Staaten: Gab es 1945 nur 74 unabhängige Staaten, so sind es gegenwärtig knapp 200, und der Prozess der Staatenbildung scheint noch längst nicht zu Ende zu sein. Parallel zu dieser Staatenvermehrung und zum Teil ursächlich damit verbunden verläuft der Trend zur Regionalisierung oder gar Sezessionalisierung, also zur Bildung und Abspaltung kleinerer Jurisdiktionen. Diese Entwicklung hat nichts zu tun mit dem Ungeist aggressiver nationalistischer Traditionen, sondern vielmehr mit Agenden politischer Selbstbefreiung aus inakzeptabel gewordenen Abhängigkeiten. Demgegenüber steht zugleich aber auch die Bildung größerer Integrationsräume, wie dies zum Beispiel für die EU – sowie NAFTA, ASEAN, MERCOSUR usw. – zutrifft. Die EU-Erweiterungsrunden sind in ihren Grenzen noch nicht absehbar, gleichzeitig – und hier entsteht das Problem – verfolgt die EU aber eine Zentralisierungspolitik, die sie als Vertiefung der institutionellen Infrastruktur der Gemeinschaft bezeichnet. Erweiterung und Vertiefung werden also als strategische Komplemente gesehen. Die Theorie optimaler Staatsräume zeigt aber, dass dies grundsätzlich eher Substitute sind, und das bedeutet vom Grundsatz her: Wenn Erweiterung der EU,
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dann keine Vertiefung, und wenn Vertiefung, dann keine Erweiterung, also ein trade-off zwischen Erweiterung und Vertiefung, nicht Erweiterung cum Vertiefung, sondern Erweiterung versus Vertiefung. Wieso das? Je größer ein Staat, ein Integrationsraum ist, desto geringer sind viele Kosten der zentralen Bereitstellung von öffentlichen Gütern, die pro Kopf von den Steuerzahlern bezahlt werden müssen. Das sind die Güter mit hohen Fixkosten wie u. a. etwa die Verteidigung, das Rechtssystem, der diplomatische Dienst, die Geld- und Fiskalpolitik. Und große Länder haben große Binnenmärkte mit protektionsfreiem Binnenhandel, die zu Produktivitätssprüngen gegenüber kleinen Ländern führen können. Dies stimmt aber dann nicht, wenn kleine Länder sich dem Weltmarkt öff nen, so dass die Landesgrenzen nicht mehr die relevante Marktgröße bestimmen. Dem entgegen wirkt, dass große Staaten höhere Heterogenitätskosten haben als kleine, die darin bestehen, dass große Bevölkerungen ausgeprägt vielfältigere Präferenzen der Bürger repräsentieren als kleine, weil man davon ausgehen kann, dass die Verschiedenheit der Bürgerpräferenzen – inklusive der Sprachen, Kulturen usw. – mit zunehmender Population ansteigt. Dies führt dazu, dass die zentralisierte Produktion von Staatsleistungen in großen Ländern den Wünschen von relativ weniger Bürgern entspricht als in kleinen Ländern. Deshalb ist auch die Zahl der mit ihren Regierungen unzufriedenen Bürger in großen Ländern relativ größer als in kleinen. Die dadurch vielfach ausgelösten Kompensationszahlungen – wie sie zum Beispiel in der EU über die vielen Struktur-, Sozial- und Kohäsionsfonds erfolgen – konkretisieren dann annähernd die Heterogenitätskosten eines Integrationsraumes. Wir sehen ja, dass mit zunehmender Erweiterung der EU die ökonomischen, politischen und kulturellen Heterogenitäten innerhalb der Gemeinschaft zunehmen mit der Folge, dass die innergemeinschaft lichen Kompensationszahlungen entsprechend ansteigen. Die EU wird dadurch ineffi zienter und die Funktionsfähigkeit der Institutionen erodiert mit desintegrativen Folgen. Im Übrigen zeigen empirische Studien, dass mit zunehmenden Heterogenitäten innerhalb eines Integrationsraumes – gemessen zum Beispiel am regionalen Pro-Kopf-Einkommen – die Neigung zu Sezession und opting-out der Mitglieder einer Jurisdiktion größer wird. Und dies ist zudem um so mehr der Fall, je mehr Freihandel es außerhalb des Integrationsraumes gibt, denn dann sind die Vorteile des innergemeinschaft lichen Binnenhandels nicht mehr so bedeutsam, die Kosten des exits also nicht mehr so hoch. Deshalb führt Freihandel in der Welt auch zur Erhöhung der Zahl kleinerer Staaten. Freihandel und also eine diesbezüglich erfolgreiche WTO begünstigen deshalb die Entwicklung zu einer größeren Zahl kleiner Staaten in der Welt und die Neigung zu Regionalisierung innerhalb größerer Integrationsräume und zur Sezession aus ihnen heraus. Diese Überlegungen demonstrieren, dass die Zentralisierungspolitik der EU mit ihrer simultan verfolgten Erweiterungsstrategie nicht kompatibel und deshalb nicht zukunftsfähig ist. Mit jeder Erweiterungsrunde sinkt das Zentralisierungspotential, mit jeder weiteren Zentralisierung sinkt das Erweiterungspotential der EU. Mein Eindruck ist, dass diese grundlegenden Zusammenhänge der Theorie
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optimaler Staatengröße im polit-strategischen Alltagsmanagement der politischen Funktionäre in der Gemeinschaft zu wenig Beachtung finden. Gelingt es Europa also nicht, den Zentralisierungstrend zu stoppen, so wird sein »Wunder« wohl zerfließen. Ob das jüngste Bundesverfassungsgerichtsurteil ein entscheidendes Bollwerk dagegen darstellt? Das erscheint eher fraglich. Wir erkennen jedenfalls in den ehemaligen hochzentralisierten Großreichen China und Indien – nicht allerdings in den Nachfolgeländern des Osmanischen Reiches – eine dramatische Umkehr ihrer Entwicklungsphilosophie: Dezentralisierung, ökonomischer Wettbewerb und ein unaufhaltsames Drängen dieser Wirtschaftsräume in die weltwirtschaft liche Arbeitsteilung. Ein zunehmend zentralisiertes, den innereuropäischen Staatenwettbewerb einschränkendes Europa steht also in Konkurrenz zu einem zunehmend dezentralisierten, den innerasiatischen Wettbewerb stimulierenden Asien. Das ist die Vorzeichenumkehr des skizzierten Wettbewerbsumfelds des Vielstaateneuropas. Es scheint, als könne die neue Vielfalt, die Vielstimmigkeit, die Polyphonie der Lebensbereiche nunmehr – weit über Japan und Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong hinaus – von Asien kommend fruchtbar nach Europa hinein diff undieren. Den Genius Haydn durch die besten Künstler der Welt zu offenbaren, bedeutet für uns Zeitgenossen zu erleben, dass in den Orchestern und auf den Bühnen Deutschlands und Europas die sichtbar steigende Zahl asiatischer Mitspieler die Polyphonie, die Vielstimmigkeit, den Kontrapunkt – also die Domäne des alten Europa – zunehmend ebenso kreativ beherrschen wie die europäischen Künstler. Das europäisch-asiatische Kreativitätsgefälle ebnet sich ein: In Wirtschaft und Technik wechselt es zunehmend seine Vorzeichen, in vielen Bereichen zulasten Europas, das mit seinem schweren Sozialmodell umverteilender Vereinheitlichung unter sichtbaren Atemschwierigkeiten leidet. Man sollte diese Atemnot des europäischen – und vor allem auch des deutschen – Sozialmodells nicht, wie es mehr als genug von politischer Seite suggeriert wird, als Ausdruck besonderer internationaler Attraktivität preisen, sondern im Gegenteil als zunehmend schwere Hypothek für die Wettbewerbsfähigkeit Europas in der globalen Weltwirtschaft begreifen, in die mit China und Indien fast die Hälfte der Arbeitskräfte dieser Welt neu auf die Weltarbeitsmärkte drängen und sich in die internationale Arbeitsteilung integrieren – und damit die Arbeitskosten, Güterpreise, Produktivitäten, Sozialstandards und alles andere als zuletzt die vielfältigen Kreativitätspotentiale in Europa mächtig unter Wettbewerbsdruck stellen. Vielleicht stehen wir vor der Dämmerung des »Wunders Europa« und vor der Geburt des »Wunders Asien«. Aber wenn wir die Fundamente des europäischen Wunders recht verstanden haben und sie wieder mächtig beleben wollen, indem wir unsere Europa-Vision nicht auf das Streben nach zentralisierter Einheitlichkeit unter einem großeuropäischen Dach, auf das europäische Unisono also, ausrichten, sondern auf den Wettbewerb, die Kontrapunktik offener Systeme der Differenzierung, der Vielfalt und also der Polyphonie unter vielen europäischen Dächern, dann können wir doch in der Lage sein, das »Wunder Europa« nicht zu verlieren und zugleich das »Wunder Asien« hinzuzugewinnen.
Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen Es gibt in unserer Gesellschaft eine Polarität mit zwei »Arten« von Menschen: Die einen wissen ganz genau, was andere tun sollen und in ihrer Beurteilung dessen, was die anderen zu machen haben, sind sie sehr streng, während sie mit dem, was sie selbst machen, sehr gütig und nachsichtig sind. Und es gibt die anderen, die sehr dynamisch und aktiv sind und mit ihrem Willen in der Gesellschaft wirken, aber überhaupt kein Verständnis dafür haben, wenn andere es nicht so machen wollen wie sie. Zwischen diesen beiden »Arten« von Menschen sind wir in unserem Leben eingespannt. Beide gönnen uns nicht den Freiraum, den wir brauchen. Als Antipoden sind sie wie Danton und Robespierre. Dies waren die beiden, die sozusagen die Zielsetzung der Französischen Revolution mit Erfolg abgewürgt haben. Ihretwegen ist genau das nicht daraus entstanden, was hätte entstehen sollen. Wir leben heute noch immer in der gefühlten Verpfl ichtung, die Ziele der Aufklärung zu verwirklichen und für den Einzelnen erlebbar zu machen – und nicht nur als Überschriften zu pflegen oder sie auf unsere Münzen zu prägen. Dies ist auch der Grund, warum der Beitrag in Anlehnung an die Forderung der Französischen Revolution mit »Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen« betitelt ist. So wird das Motiv verständlich: Ohne Grundeinkommen wird Brüderlichkeit für die einzelne Mitbürgerin und den einzelnen Mitbürger nicht lebenspraktisch. Heute wird sehr viel von Freiheit gesprochen. Ich würde gerne eine kleine Nuance richtig stellen, weil immer davon gesprochen wird, dass man Freiheit schenken könne: Freiheit kann man nicht schenken. Wie wollen Sie jemandem Freiheit schenken? Sie können nur behilfl ich sein, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass der Einzelne sich die Freiheit nehmen kann, die er auf Grund seiner persönlichen Situation und aus seinem persönlichen Kontext heraus in Anspruch nehmen will. Es geht also in der gesellschaft lichen Gestaltung darum, dass wir Freiräume schaffen – Räume, in die der Einzelne sich dann hinein entwickeln kann oder aus denen er sich heraus entwickeln kann, um so seine persönliche Biografie schreiben zu können. Denn darum geht es letzten Endes bei der Beurteilung einer Gesellschaft und bei der Frage nach der Gerechtigkeit einer Gesellschaft: Gerecht ist die Gesellschaft, die den einzelnen Individuen die Möglichkeiten eröffnet, dass sie ihren Entwicklungsweg gehen, dass sie sozusagen ihren biografischen Ariadnefaden finden. Man sollte sich immer fragen: Warum lebe ich in dieser Zeit, in dieser Welt, an diesem Ort mit diesen Menschen zusammen? Die Lebensaufgabe besteht darin, möglichst früh zu erkennen, dass es darauf ankommt, dass man diesen Ariadnefaden wiederfindet. Bildung, Erziehung und die Fürsorge der Familie müssen sich an dem Ziel ausrichten: Wie kann ich dem heranwachsenden Menschen helfen, dass er seinen Lebensfaden fi ndet? In dem Moment, in dem man von der Erziehungsphase in die Selbsterziehungsphase kommt, muss man sich fragen: Was ist denn jetzt meine Aufgabe? Dann wird es für viele
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spannend und es ist bedauerlich, wenn man mit Menschen zu tun hat – und dies sind gar nicht so wenig –, die diese Aufgabe der Selbsterziehung noch gar nicht ins Visier genommen haben. Es fängt immer bei einem selbst an. Es ist schon eine Ablenkung, wenn man sich immer wieder überlegt, was andere tun müssten, und sich zu wenig fragt: Was ist eigentlich meine eigene Aufgabe? Bei der Behandlung der Frage des bedingungslosen Grundeinkommens geschieht es oft, dass Menschen sagen: »Die anderen tun dann nichts mehr.« Ich habe mir angewöhnt, immer sofort zu fragen: »Was machen Sie dann?« Darauf hat noch nie einer gesagt: »Ich mach’ dann nichts mehr.« Aber man meint trotzdem, man müsste die anderen unter Druck setzen; denen muss man ans Schienbein treten und Beine machen; die muss man wach treten, sonst kommen die morgens nicht aus dem Bett. Daran wird deutlich, dass es bei der Frage nach dem Grundeinkommen eigentlich nicht darum geht, wie wir Armut verhindern. Es geht beim Grundeinkommen nicht um ein wirtschaftswissenschaft liches Problem, sondern um ein Kulturproblem, ein gesellschaft liches. Die Unart ist, dass sich viele Menschen gar nicht bewusst machen, dass sie zwei Menschenbilder in sich tragen, nämlich eines von sich – sozusagen das edle – und eines von ihren Mitmenschen. Man könnte auch sagen: Es ist sehr verbreitet, dass die Menschen von sich das Bild eines ergebnisoffenen Entwicklungswesens haben, eines sich selbst bestimmenden Wesens, das genau weiß, worauf es ankommt. Doch im Blick auf ihre Mitmenschen haben sie ein Tierbild, bei dem der Mensch ein determiniertes Reiz-Reaktionswesen ist. Ich sage immer zu meinen Studierenden: »Nehmen Sie doch eine x-beliebige Illustrierte, in der viel Werbung enthalten ist. Blättern Sie diese einmal durch und untersuchen Sie die Werbebotschaften, die wir so untereinander verbreiten, um zu merken, was für ein Menschenbild dahinter steckt.« Es stellt sich dann schnell heraus – Sie können es einmal ausprobieren –, dass 95 Prozent dieser Botschaften deutlich machen, dass wir dieses determinierte Reiz-Reaktionswesen vor Augen haben, wenn wir uns werbend bemühen. Die große Gefahr liegt darin, Dinge ungeprüft zu konsumieren oder aus Opportunismus heraus oder weil man dabei sein will. Diese Eigenart des Menschen ist meines Erachtens sehr problematisch für die einzelnen menschlichen Schicksale und ein Zeichen dafür, dass wir als Gemeinschaft die Aufgabe haben, diese Triebe, die im Menschen angelegt sind, zu ästhetisieren. Deswegen heißt es bei Schiller in seiner Abhandlung in Briefform Über die ästhetische Erziehung des Menschen1: »Wie können wir die Menschen so ansprechen, dass sich die Dinge ästhetisieren.« Das kann man eben nicht dadurch, dass man sie zu verregeln versucht mit Anweisungen und indem man Druck ausübt. Eine Ästhetisierung ist nur möglich, wenn man einen Sog erzeugt. Wenn Schiller sagt, der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er spielt, dann lässt sich dies in der heutigen Sprache so sagen: Der Mensch wird nur dann Mensch, wenn er Initiative ergreift, wenn der Mensch mit seinem willensdurchglühten Denken in der Gesellschaft initiativ wird und mit seinen Talenten in der Gesellschaft wirksam wird. Nun haben Menschen unterschiedliche Talente – intellektuell, gesundheitlich, also physisch und psychisch oder materiell. Solange es Menschen gibt, werden sie
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unterschiedlich sein – übrigens auch in allen Gesellschaften, unabhängig von deren Zielsetzungen. Die Frage ist nicht, warum der Einzelne solche Talente hat. Beim Jüngsten Gericht werden wir nicht gefragt: Warum hast Du so viele Talente gehabt? Sondern die Frage wird lauten: Was hast Du mit Deinen Talenten gemacht? Das ist doch die interessante Frage – und nicht die gesellschaft liche Diskussion über die Talente, die die anderen haben und ich nicht. Es wäre viel interessanter und origineller zu hören, was die Einzelnen mit ihren Talenten machen. Wenn wir dies auf die materielle Ebene übertragen, haben wir die Reichendiskussion, obwohl es eigentlich die Aufgabe der Gesellschaft ist, sich um die Armen zu kümmern. Um die Reichen kümmert sich der liebe Gott. Wer die Bibel kennt, der weiß, wie das mit dem Kamel und dem Nadelöhr ist: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel eingeht. Also brauchen wir uns keine Sorgen um die Reichen zu machen. Wir müssen uns Sorgen machen um die Armen, um den Bruder und die Schwester, die Papierkörbe abklappern, um zu schauen, ob noch etwas Essbares darin ist. Dies ist unser Problem. Man kann sich fragen, ob wir das Armutsproblem wirklich haben müssen. Sind wir nicht in einer gesellschaft lichen Situation, in der wir uns fragen müssten: Müssen wir uns eigentlich Armut leisten? Vor einhundert Jahren hatten wir keine Wahl. Wenn die Ernte knapp ausfiel oder die Mäuse die Ernte aufgefressen hatten, gab es in der Familie nichts mehr zu essen. Man hat dann geschaut, dass man die Stärkeren durchbringt und in Kauf genommen, dass die Schwächeren hungern. Dies war natürlich äußerlich bedingt, sehr tragisch, aber nicht änderbar. Inzwischen sind wir in einer gesellschaftlichen Situation, in der wir uns bewusst machen sollten, dass wir noch nie so reich waren wie heute, und dass wir noch nie so viele konsumfähige Güter hervorgebracht haben wie heute. Da muss man sich die Frage stellen: Warum leisten wir uns dann Kinderarmut, Altersarmut und all die prekären Situationen? Dies ist kein Problem der prekären Situation, auch kein Unterschichtenproblem, sondern ein Oberschichtenproblem. Es ist ein Problem, dass wir nicht in der Lage sind, die gesellschaft lichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das eingehalten wird, was in unserer Verfassung steht, sowie in Paragraph 1 des Sozialhilfegesetzbuches, dass alles, was wir tun, mindestens die Würde des Menschen zu sichern hat. Man muss sich wundern, warum die Sicherung der Würde nicht immer am Anfang steht. Diese Frage müsste sozusagen ein Refrain, das absolute K.O.-Kriterium sein: Wird dadurch die Würde des Menschen unterstützt oder wird sie bedrängt? Dies ist es auch, worauf die Menschen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung übernommen haben, letzten Endes ihren Eid abgelegt haben. Im Vordergrund der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – die kein Konzept, sondern nur eine Idee ist – muss die Sicherung der Würde des Menschen stehen. Dass man sie auch finanzieren und in der Gesellschaft konkret im Einzelfall verwirklichen muss, muss dann folgen. Es ist für jeden eingängig, dass man ohne eine Idee für ein Haus kein Haus bauen kann. Der Geist bewegt die Materie. Deswegen müssen wir die geistige Substanz mit einem Fundament versehen und ein Bewusstsein dafür fördern, was es heißt, ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen zu wollen. Dazu muss man über das bedingungslose Einkommen
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erst einmal träumen können. Alles, was wir heute – bis in die äußeren, physischen Bereiche – als selbstverständlich erleben, hat einmal mit einem Traum davon angefangen. Auch ein Wasserhahn musste erst einmal geträumt werden. Auch das Automobil und das Telefon mussten einmal geträumt werden, ebenso das Flugzeug. Und jene, die das damals geträumt haben, waren die »Spinner«. Der Berliner Volksmund nannte das erste Berliner Telefonbuch das Narrenbuch. Heute würde sich niemand als Narr bezeichnen, nur weil er ein Telefon besitzt. Dieses »Träumen« unterscheidet übrigens den Menschen vom Tier. Der Mensch kann sich die Zukunft ausmalen. Er hat auch die Fähigkeit, die Zukunft zu antizipieren. Eben weil er denken kann. Und deshalb kann er die Welt auch verändern. Tiere können die Welt nicht verändern. Tiere sind absolut determiniert. Wenn Sie eine Tiergattung verstanden haben, wenn sie eine Giraffe verstanden haben, dann haben sie alle Giraffen verstanden. Sie werden nie beobachten, dass ein Tier als Giraffe geboren wurde und als Löwe stirbt. Beim Menschen können sich hingegen dramatische Veränderungen und leider auch Verirrungen ergeben. Dies hat natürlich mit Freiheit zu tun. Freiheit ist auch die Möglichkeit zu irren. Und Freiheit ist auch die Möglichkeit, sich zu zerstören. Dies muss man zulassen. Bedingungsloses Grundeinkommen heißt auch, dass man es auch der bösen Nachbarin gönnen muss und nicht nur sich selbst. Es ist eine tiefe, tiefe menschliche Frage dieser Kultur: Bin ich bereit, meinem Mitmenschen den Freiraum prinzipiell zur Verfügung zu stellen, damit er seinen Intentionen so folgt, wie er dazu in der Lage ist? Bei dieser Frage spielt natürlich die Kultur eine ganz große Rolle. »Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern daß er nicht tun muss, was er nicht will«, soll Jean-Jacques Rousseau gesagt haben. Salopp formuliert und verkürzt könnte man sagen: Freiheit ist die Fähigkeit, Nein zu sagen. Freiheit ist, nicht tun zu müssen, was man soll. Ist es in unserer Gesellschaft nicht so, dass uns ständig Leute sagen wollen, wie wir uns zu verhalten haben? Das Verständnis von Freiheit muss nicht nur mit dem Kopf, also intellektuell, sondern mit den Sinnen und dem Herzen aufgenommen werden. Dies muss sich erst entwickeln. Eine solche Entwicklung findet aber nur dann statt, wenn genügend Menschen in einer Gesellschaft diese auch wollen. Es kommt also auf einen Katalysator an. Ein Katalysator ist eine Substanz, die Prozesse ermöglicht, am Leben erhält und auch abbricht – also steuert und reguliert. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist sozusagen ein »Sozial-Katalysator«, der in unsere Sozialität und in unser soziales Verständnis eingreift und uns sagt, dass wir etwas verändern müssen. Wir müssen unsere Gewohnheit verändern, unsere Gesellschaft unter den Voraussetzungen des Bismarckschen Sozialstaates zu betrachten. Unsere Aufgabe ist es, uns klar zu werden, dass der Bismarcksche Sozialstaat zwar einmal eine geniale gesellschaft liche Innovation war, aber eben war. Einhundertdreißig Jahre sind eine lange Zeit und in dieser Zeit hat sich vieles grundlegend verändert. Damals war diese Innovation ausgesprochen wirksam und sogar vorbildhaft für die ganze Welt; doch man hat auch nicht gesagt, das können wir nur machen, wenn die ganze Welt den Bismarckschen Sozialstaat einführt – übrigens eine prima Methode, um
»Denn alle Kraft« – und dies kann man an den Jugendlichen beobachten – »dringt vorwärts in die Weite / Zu leben und zu wirken hier und dort; / Dagegen engt und hemmt von jeder Seite / Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort: / In diesem innern Sturm und äußern Streite / Vernimmt der Geist ein schwer verstandnes Wort: / Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, / Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.« 2
Je mehr sich eine Gesellschaft so konstituiert, dass sie für jeden bei der Lebensaufgabe, die jeder von uns hat, möglichst förderliche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen schafft, ist sie eine gerechte Gesellschaft – weil sie meinen Lebenszielsetzungen gerecht wird und sie ermöglicht. Von daher ist klar, dass die Einstellung der jungen Menschen – Arbeit ist, was gut bezahlt wird – natürlich ein Irrtum ist. Man sieht es im Wahlkampf auch an den Wahlplakaten, wobei es völlig gleich ist, von wem diese sind, denn Politiker denken alle gleich. Auf diesen heißt es: »Arbeit sichern!« Dabei muss sich jemand
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etwas ad absurdum zu führen wie dies auch einige Grundeinkommensbefürworter machen und damit kontraproduktiv werden, indem sie einfach das Begehren nach dem bedingungslosen Grundeinkommen derart übersteigern, dass es nicht mehr verwirklichbar wird. Auch die unselige Diskussion bezüglich des bedingungslosen Grundeinkommens, wie hoch es nun sein muss, lenkt nur von dem ab, worauf es ankommt. Wenn Sie Dinge ablehnen wollen, dann müssen Sie auf das Unwesentliche aufmerksam machen, um von den wesentlichen Fragen abzulenken. Es ist eine Menschheitsidee, dass man, um tätig werden zu können, erst einmal leben können muss. Wenn wir etwas für andere leisten wollen, setzt dies voraus, dass wir leben. Die Voraussetzung zur Teilnahme ist die Teilhabe. An dieser Stelle wird auch ein Denkirrtum in unserer Gesellschaft deutlich, wenn wir meinen, wir würden für unsere Arbeit bezahlt. Es ist erstaunlich, dass so viele intelligente Menschen und auch intelligent wohlmeinende Menschen felsenfest auf dem Standpunkt stehen, dass Arbeit bezahlt werden müsse und dies auch so an die nachfolgende Generation vermitteln. Dazu erzähle ich Ihnen ein schönes Erlebnis: Ich war eingeladen, Grundschülern ein Märchen vorzulesen. Es war eine Aktion während der Adventszeit in Stuttgart. Ich las in einer Möhringer Grundschule in einer Klasse mit 35 Kindern und einem starken Migrationsanteil. Die Lehrerin sagte nach der Lesung, die Schüler würden gerne noch ein paar Fragen stellen. Nach zwei, drei Fragen sagte ein Junge plötzlich: »Seit wann arbeitest Du eigentlich?« Ich fragte daraufhin zurück: »Was ist denn Arbeit überhaupt?« Da haben die Zehnjährigen gar nicht lange nachdenken müssen, sondern sofort gesagt: »Arbeit ist, was gut bezahlt wird.« Dies fand ich interessant. Jetzt frage ich Sie: »Woher haben sie das?« Mit dieser Idee sind sie ganz sicher nicht auf die Welt gekommen. Daran sehen wir, wie unsere Gesellschaft dazu neigt, den individuellen Antrieb, den der Einzelnen mit auf die Welt bringt, zu verschütten oder zu marginalisieren. Wie sagte Goethe:
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doch etwas gedacht haben – sicherlich hat keiner von denen, die das Plakat formuliert, viel Geld investiert und viel Arbeit aufgewendet haben, um es überall aufzuhängen, gedacht, damit will ich einmal die anderen veralbern. Meine Erfahrung mit Arbeit ist aber, dass es nie darum geht, die Arbeit zu sichern, sondern immer darum, die Arbeit zu erledigen. Und weil wir sie schnell und gut erledigen wollen – und prinzipiell ist es so –, wenden wir Geist auf Arbeit an. Geist auf Arbeit anwenden ist nichts anderes als zu rationalisieren. Wenn wir rationalisieren, kommen wir mit weniger Arbeit, mit weniger Lebenszeit (denn Arbeit ist immer Inanspruchnahme von Lebenszeit) aus und mit weniger Einsatz von natürlichen Ressourcen. Die beiden Dinge kommen im Arbeitsprozess zusammen: Wir arbeiten an der Natur und wenden den Geist auf die Arbeit an. Das Ergebnis ist Rationalisierung und Produktivität. An der Eliteuniversität in Karlsruhe, der ältesten Technischen Hochschule, gegründet 1825, machen die Menschen nichts anderes als den Geist auf Arbeit anzuwenden, um dadurch menschliche Lebenszeit und natürliche Ressourcen einzusparen. Das ist die Idee einer Technischen Hochschule. Dass dies in unserer Gesellschaft auch gut gelungen ist, kann man daran erkennen, dass wir heute mit viel weniger Aufwand von menschlicher Lebenszeit und mit viel, viel weniger Inanspruchnahme von Ressourcen die entsprechend äquivalente Menge von Gütern und Dienstleistungen hervorbringen. Man könnte auch sagen, die Wirtschaft und die Gesellschaft haben die Aufgabe (mit Blick auf die materielle Not), mit Gütern und Dienstleistungen paradiesische Zustände herzustellen. Es ist noch gar nicht lange her, dass wir in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen Mangel hatten. Bei Mitbürgern aus den neuen Bundesländern ist es noch gar nicht so lange her. Bei Menschen aus den alten Bundesländern ist es 40, 50 Jahre her. Stellen Sie sich vor, die Jugendlichen würden heute ein Telefon kaufen und darauf stände: »Halte Dich kurz… !«, wie es früher auf den öffentlichen Telefonzellen stand. Dies ist nicht nur ein Bonmot, sondern ein Ausdruck der Situation, die damals herrschte: Alles war knapp und überall gab es lange Lieferzeiten. Für einen einfachen VW-Käfer, der nun wirklich keine technische Sonderleistung ist, betrug diese 12 bis 15 Monate, was heute undenkbar wäre. Für eine Mercedes S-Klasse, 1970, 1974, betrug die Lieferzeit noch zweieinhalb Jahre. Da konnten Sie mit Ihrem Kaufvertrag einen Handel anfangen. Dies ist alles vorbei. Alles, was wir heute hervorbringen, ist unmittelbar verfügbar. Erinnern Sie sich an das Jahr 1990, als der Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik stattgefunden hat, auf den sich niemand vorbereiten konnte? Die westdeutsche Wirtschaft hat damals sozusagen aus dem Kaltstart heraus und ohne Planung von heute auf morgen zusätzlich 17 Millionen Menschen versorgt, ohne dass es in den alten Bundesländern zu Knappheit kam. Dies ist eine ganz neue Situation. Die Fähigkeit, Überfluss zu produzieren, wäre 25, 30 Jahre früher überhaupt nicht möglich und denkbar gewesen. Das ist die Folge der Anwendung von Geist auf Arbeit. Der Geist kann alles, wenn er will und wenn er sich anstrengt. Dies ist ein ganz neues Phänomen und die Gesellschaft ist noch gar nicht in der Lage, damit umzugehen, weil sich die äußeren, die physischen Verhältnisse schneller ändern als unsere Fähigkeit, diese mit
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Bewusstsein zu durchdringen. Stress, Angst, Verunsicherung treten immer dann auf, wenn zwischen der Veränderungsgeschwindigkeit der äußeren Umgebung, also der Rahmenbedingungen, und dem Bewusstsein, mit dem man diese Veränderungen durchdringt, eine Lücke entsteht. In den vergangenen Jahrzehnten seit der Einführung des Bismarckschen Sozialstaates im vergangenen Jahrhundert hat sich dramatisch viel verändert. Dadurch, dass wir uns dies nicht genug bewusst machen, hängen wir mit unseren Methoden, die Gesellschaft zu strukturieren und Rahmenbedingungen zu schaffen, so dramatisch hinterher. Nehmen Sie zum Beispiel die Steuerfrage, die an sich die einfachste Frage ist, die es aber am schwersten hat, gegen Ideologien, Vorstellungen und liebgewordene Dinge anzukämpfen. Früher haben die Menschen auf dem ihnen zur Verfügung stehenden Land, auf ihrem Grund und Boden zusammen mit ihren Familien gegen die Unbillen der Natur versucht, das dem Boden zu entlocken, was sie zum Überleben brauchten. Sie waren klassische Selbstversorger. Der Selbstversorger sät und erntet, um sich mit der Ernte selbst zu versorgen. Das sich Menschen selbst versorgt haben, ist noch gar nicht so langer her: Vor 130 Jahren lebten noch 60 Prozent der Bevölkerung im Deutschen Reich von der Landwirtschaft . Von der Landwirtschaft leben heißt, sich selbst zu versorgen und die Überschüsse auf den Markt zu bringen. Heute leben weniger als zwei Prozent der Bevölkerung Deutschlands von der Landwirtschaft. Auch wenn Sie heute in der Landwirtschaft leben und nicht gerade einen Biobauernhof haben, dann müssen Sie, wenn Sie ein Ei essen wollen, zu Edeka gehen. Die Selbstversorgung gibt es praktisch nicht mehr. Keiner ist im Entferntesten in der Lage, sich selbst zu versorgen. Wir sind plötzlich darauf angewiesen, dass andere uns versorgen. Als die Menschen sich noch selbst versorgten und von der Ernte, die sie sich erarbeitet hatten – mit Gottes Hilfe, deswegen der Erntedank – lebten, kam dann die Gemeinschaft und sagte: »Hör’ mal zu, ein Zehnt musst Du für die Gemeinschaft abgeben.« Von dem, was sowieso schon zu wenig war, musste man noch ein Zehnt abgeben. Das war natürlich besonders schmerzlich, weil man Produzent und Konsument in einer Person war. Es gab eine völlige Übereinstimmung: Ich bin Produzent, sozusagen im eigenen Auft rag, weil ich gleichzeitig der Konsument bin. Dies hat sich dramatisch verändert. Jetzt leben wir in einer Gesellschaft von Fremdversorgern und Fremdversorgten. Das ist unsere Lebensrealität. Ob Ihnen dies gefällt oder nicht, ist gar nicht die Fragestellung. Es ist die Macht des Faktischen. In der Lebensrealität der Fremdversorgung gibt es eine Trennung zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten. Dies ist Weltwirtschaft, Globalisierung. Sie wissen gar nicht, woher Ihre Kleider kommen, die Sie tragen. Und Sie kennen die Leute überhaupt nicht, die sie hergestellt haben, wie auch die Leute, die sie hergestellt haben, Sie nicht kennen. Wenn man früher in der Selbstversorgungssituation im Winter Kleider gestrickt, gehäkelt oder gewebt hat, dann hat man erstens gewusst, wer dies gemacht hat, und zweitens, für wen die Kleider bestimmt waren. Inzwischen ist es an dieser Stelle zu einer Entfremdung gekommen. Wenn sich etwas im Arbeitsprozess teilt, noch dazu weltwirtschaft lich-global, dann muss man es bewusstseinsmäßig wieder zusammenführen, sonst verliert man
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es aus den Augen, sonst trinkt man tatsächlich eine Tasse Kaffee und vergisst dabei den Kaffeebauer in Ecuador. Auch macht man sich überhaupt nicht klar, dass das, was wir hier konsumieren, meist ein Produkt eines weltumspannenden, hocharbeitsteiligen, komplexen Wertschöpfungsprozesses ist. Es ist in erster Linie eine Bewusstseinsfrage, ob wir das, was tatsächlich passiert, überhaupt in unser Blickfeld und in unsere Vorstellungswelt bekommen. Erst wenn uns dies gelingt, können wir die Regeln für unser Verhalten danach ausrichten und selbst regeln, wie wir damit umgehen. Unser Kulturimpuls kann sich nicht auf die Fragen beschränken, wie hoch ein Grundeinkommen sein muss und wie es fi nanzierbar ist, sondern wir müssen fragen: Aus welchem Gesamtzusammenhang ist es überhaupt anthropologisch ableitbar, dass man heute gar nicht anders leben und an der Gesellschaft teilnehmen kann, solange man nicht die Teilhabe über ein Grundeinkommen hat? Was das Grundeinkommen heute ist, war früher die Verfügung über Grund und Boden. Es gibt heute auch noch Versuche – wie etwa in Brasilien –, der Armut mit Hilfe einer großen Landreform entgegenzuwirken. Das hat dazu geführt, dass die Leute sofort ihr Land verkauft haben. Denn wenn Sie in der heutigen Gesellschaft leben wollen, brauchen Sie kein Stück Land, sondern ein Einkommen. Deshalb ist das Grundeinkommen vergleichbar mit der Verfügung über Grund und Boden. Die Arbeitslosenproblematik können Sie nicht dadurch lösen, dass Sie jedem drei Hektar Land geben. Im Römischen Reich hat man auf diese Weise die Altersversorgung geregelt. Wenn der römische Soldat, Offi zier oder Beamte altersbedingt ausgeschieden ist, hat er ein Stück Land bekommen, damit er auf diesem Land seinen Lebensabend mit seiner Familie verbringen kann. Da Italien nicht nur schmal, sondern auch klein ist, hat man ihnen Land in Germanien, Südfrankreich usw. gegeben, weshalb dort viele römische Siedlungen entstanden sind, die ihren Ursprung der Altersversorgung des Römischen Weltreiches verdanken. Wir können die Arbeitslosenproblematik aber auch nicht mittels des Bismarckschen Sozialstaates lösen, denn der fußte auf zwei Rahmenbedingungen: Erstens, dass man eine stabile, kontinuierliche Berufsbiografie hatte; zweitens, dass die Lebenserwartung irgendwo zwischen 45 und 55 Jahren lag. Beides hat sich dramatisch verändert: Einerseits die Lebenserwartung und andererseits, dass stabile, kontinuierliche Berufsbiografien nicht mehr die Regel sind, sondern die Ausnahme. Diese Tendenz verstärkt sich von Jahr zu Jahr, so dass diese Rahmenbedingung des Bismarckschen Sozialstaates obsolet ist – endgültig obsolet; entweder wir merken es früher oder später. Tatsache ist: Die Zukunft wird geprägt sein von brüchigen, instabilen Berufsbiografien, da wir viel mehr projektbezogen zusammenarbeiten und häufiger etwas Neues lernen müssen, so dass es Pausen in der Erwerbsfähigkeit gibt. Zudem werden wir ständig wechselnde Arbeitssituationen erleben. Die Frage ist, wie sich Menschen unter diesen Umständen so absichern können, dass die Würde des Menschen erhalten bleibt. Und zur Würde des Menschen gehört, dass er keine Zukunftsangst hat. Die Menschen merken es an ihrem Arbeitsplatz, wie ihnen durch die mannigfaltigen Entwicklungen die Arbeit ausgeht. Es ist entscheidend, dass die Gesellschaft Initiative weckende Rahmenbedingungen zur Verfügung stellt, so dass ein Sog entsteht und die Menschen sagen:
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»Jawohl, hier bin ich Mensch, hier steige ich ein und bringe meine Talente zur Wirkung, hier mach ich mit« – dann hat eine Gesellschaft Zukunft. Mit Druck und Angst hingegen entfacht man keine Kreativität, sondern vernichtet sie. Der Mensch braucht, um sich entwickeln zu können, Thermik. Thermik entsteht nur, wenn man den Menschen die Zukunftsangst nimmt. Diese lässt sich nehmen, wenn Sie sicherstellen, dass der Mensch über sein Einkommen verfügen kann – von der Wiege bis zur Bahre. Zu Zeiten der Selbstversorgung haben sich die Menschen gegenseitig dadurch bedroht – und der Dreißigjährige Krieg spricht Bände –, dass man ihre Ernte vernichtet und die Leute von ihrem Grundstück vertrieben hat. Die Griechen haben erst die Ölbäume abgehackt, wenn sie ihre Nachbarn überfallen haben, um die Lebensgrundlagen zu zerstören. Wenn man heute einen alten Menschen unter Druck setzen will, dann sagt man ihm: »Hören Sie mal zu, Ihr Arbeitsplatz ist gefährdet, die Renten sind nicht sicher … « Dies ist eine Methode, die anderen unter Druck zu setzen. Wenn man sich andere gefügig machen will, muss man sie unter Druck setzen. Auch dieses Phänomen kann man bei anderen leichter beobachten als bei sich selbst. Nur – es hat mit der Würde des Menschen nichts zu tun. Ohne Grundeinkommen werden wir unser gesellschaftliches Ziel »Freiheit« nicht realisieren können und für den Einzelnen praktizierbar machen. Für das gesellschaft liche Ziel »Gleichheit« gilt dies genauso. Wir reden vom Arbeitsmarkt, aber in Wirklichkeit haben wir gar keinen Arbeitsmarkt und keine Vertragsfreiheit. Es ist interessant, dass ausgebildete Betriebs- und Volkswirtschaft ler bis in die höchsten Kategorien hinein – auch Mitglieder des Sachverständigenrates – wirklich meinen, es gäbe einen Arbeitsmarkt. Jeder Volkswirt weiß, ein Markt kann nur ein Markt sein, wenn die Beteiligten etwas tun oder lassen können. Wenn Sie in dieser Gesellschaft tätig werden wollen, dann müssen Sie sich am »Arbeitsmarkt«, der gar keiner ist, beteiligen. So können wir nicht leben, da wir zunächst das Einkommen brauchen, um tätig werden zu können. Unser tiefgreifendes Problem ist der gesellschaftliche Denkirrtum, der die Arbeit und das Einkommen verkoppelt. Deshalb muss die gesellschaft liche Zielsetzung die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen sein. Wenn Sie durch die gesamte Berufslandschaft gehen, werden Sie sehen, bei wie vielen Menschen Arbeit und Einkommen entkoppelt sind. Wenn ich jemanden sehe, der beim Deutschen Bundestag angestellt ist, dann verkörpert er eine typische Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Er hat Anspruch auf ein Einkommen, aber was er dafür macht, welche Erfolge er mit seiner Arbeit hat und was für eine Leistung er erzielt, danach wird er gar nicht gefragt. Nehmen Sie die ganze Schar der Richter und Staatsanwälte – ein typischer Fall von Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Nehmen Sie die Schar der Universitätsprofessoren oder der vielen Beamten und Lehrer: Wie wollen Sie etwa bei den Lehrern Arbeit und Einkommen verkoppeln? Dass dies nicht geht, wird überhaupt nicht wahrgenommen; stattdessen reden sie von: »Leistung muss sich wieder lohnen!« Wann hat ein Richter seine Leistung erreicht? Etwa gemessen an der Menge der Gefängnisjahre bei seinen Urteilen? Es ist schon interessant, wie solche Falschheiten mit hoher Überzeugung und hohem Engagement verbreitet werden.
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»Arbeit muss sich wieder lohnen« – ja für wen denn? Doch nicht für mich, sondern immer nur für jemand anderen. Wir arbeiten doch nie für uns selbst. Für den Landwirt auf seiner Scholle, für den muss sich Arbeit lohnen. Wenn dabei keine Ernte herauskommt, dann hat er mit Zitronen gehandelt. Aber wir, die wir für ganz andere Menschen arbeiten, die weit entfernt sind, für uns muss Arbeit sich für den anderen lohnen, aber nicht für einen selbst. Solche Denkirrtümer gilt es aufzuklären. Wenn wir heute unser Steuersystem anschauen, dann gibt es einen riesigen Denkfehler. Wir meinen immer noch: Wer die Steuern zahlt, der trägt sie auch. Bei den Bauern war dies so. Mit der Abgabe des »Zehnten« hat der Einzelne natürlich eine Reduktion der Verfügbarkeit seiner Ernte gehabt. Wer den Zehnten bezahlt, hat dann nur noch 90 Prozent. Wenn Sie heute Steuern zahlen, tragen sie diese nicht. Wenn Sie es bei sich selbst überprüfen: Sie zahlen die Steuern, Sie tragen sie erst, wenn Sie konsumieren. Alle denken, rechnen und kalkulieren netto, ob es um das Einkommen geht, um eine Investition, eine Vermögensanlage. Auch hier zählt, was man für eine Nettoverzinsung, eine Nettorendite, ein Nettoeinkommen hat. Das Andere ist schon immer einkalkuliert worden. Auch als Unternehmer ist mir schnell klar geworden: Wenn das Unternehmen wachsen soll, braucht es dazu Eigenkapital, Gewinnthesaurierung – aber immer den Nettogewinn, nicht den Bruttogewinn. Wenn Sie sich das einfach einmal hypothetisch aneignen: Unternehmen zahlen zwar Steuern, tragen aber keine Steuern. Angestellte zahlen zwar – formal – Steuern, tragen sie aber erst in dem Moment, in dem sie konsumieren. Alle Preise bestehen sozusagen aus der persönlichen Einkommensbildung und aus der gemeinschaft lichen Einkommensbildung, also den Steuern, Gebühren, Beiträge usw. Ansonsten kommt nichts hinzu beim Preis. Der Preis besteht immer aus natürlichen Ressourcen, die wir der Natur entnehmen (der liebe Gott schickt keine Rechnung) und aus dem Geist, den wir auf die Arbeit anwenden. Daraus entsteht dann ein konsumfähiges Produkt, zum Beispiel aus der Kaffeebohne und dem Know-how, wie man Kaffee transportiert, röstet, veredelt usw., dann Kaffeemaschine, Espresso usw. – dann zahlen Sie etwa 1,70 Euro. Wenn Sie nun diese 1,70 Euro auflösen, dann kommen da nur Einkommen heraus und zwar entweder gemeinschaft liche Einkommen oder persönliche. Aus dem gemeinschaft lichen Einkommen werden schließlich auch wieder persönliche Einkommen: Mit den Steuern wird das Einkommen eines Mitarbeiters des Deutschen Bundestags ermöglicht und damit seine Arbeit, wenn er für einen gewählten Abgeordneten für die Gemeinschaft tätig ist. Was er dabei macht, ist eine andere Frage. Was wir also an Steuern tragen, wird erst dort deutlich, wo konsumiert wird. Es ist eben nicht so, dass die, die Steuern zahlen, die Gesellschaft tragen. Jeder in unserer Gesellschaft trägt Steuern, auch der Hartz-IV-Empfänger. Sobald jemand konsumiert, trägt er Steuern. Je mehr Sie konsumieren, desto mehr Steuern tragen Sie. Deshalb kann eben nicht daherschwadroniert werden, dass wir, die Steuerzahler, die Gesellschaft tragen würden. Wir stehen nicht auf eigenen Füßen, sondern immer auf den Schultern der Gemeinschaft. Es muss uns klar werden, dass wir immer aus dem Kulturstrom heraus leben, aus dem wir hervorgingen. Darum
1 F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 2 J. W. von Goethe, Die Geheimnisse.
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ist es so wichtig, dass wir den Ansatz in der Kultur suchen. Die Erneuerung der Gesellschaft kommt immer aus der Kultur. Wir sprechen zwar von der Produktion und diese ist auch wichtig, aber die Voraussetzung für die Produktion ist die Reproduktion. Dies müssen wir ins gesellschaft liche Bewusstsein bringen.
Geld, Gier und Wettbewerb. Wie es zu den Exzessen in der Welt des Geldes gekommen ist I. Gier hat es immer gegeben Die Geldwirtschaft und auch die Weltwirtschaft sind im Jahre 2008 wegen riskanter Bank- und Finanzgeschäfte eingebrochen. Seitdem ist der ehrbare Kaufmann wieder hoch im Kurs, und ein Wort des alten Konsul Johann Buddenbrook ist allgegenwärtig: »Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können.« Mit »wir« meint der Konsul die Familie Buddenbrook, deren Vermögen vom Wohlergehen der Firma abhängt. Bei riskanten Geschäften ist die Nachtruhe der Familie gestört, weil bei Verlust des Vermögens der Absturz in Bedeutungslosigkeit und Armut droht. Offensichtlich haben sich die Bank- und Finanzleute von heute am Tage mit Lust die Taschen mit riskanten Geschäften gefüllt, die uns, die braven Sparer und Anleger, nachts nicht ruhig schlafen lassen; manche werden sogar von Alpträumen einer Währungsreform heimgesucht. Die Finanzleute haben dagegen zuvor ihre Boni einkassieren können. Wurden sie wegen aufgelaufener Verluste entlassen, so sind sie oft generös abgefunden worden, der sogenannte »goldene Handschlag«, also Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste. Edzard Reuter, der Ex-Daimler-Chef, klagt die »raffgierigen Manager« an, die unter dem Deckmantel eines wichtigen Postens zuvörderst an die eigene Bereicherung dächten. »Mich stört«, sagt er, »dass Maß und Anstand verlorengehen – in der Wirtschaft wie in der Gesellschaft insgesamt.« Er erinnert an den ehrbaren Kaufmann: Viele richten sich heute nur nach dem, was sich ziemt. Der ehrbare Kaufmann, wie wir ihn von früher kennen, ist anders: Der richtet sich danach, was man tut und was man nicht tut. Das ist eine ganz andere moralische Kategorie.1
Zwar wirft Reuter den Finanzleuten kein ungesetzliches Verhalten vor, doch gewinnt man aus seiner Einschätzung den Eindruck, dass die Verlockung, rasch reich zu werden, den Charakter verderbe, und dass die finanzielle Welt gesunden würde, wenn die Geldleute nicht mehr so raffgierig wären. Aber wenn er und mit ihm alle Politiker, Publizisten und Philosophen den Schwerpunkt der Therapie auf die moralische Besserung legen und sie dann konkret werden müssten, bleiben sie ganz allgemein; sie schlagen Änderungen von Verhaltensweisen vor, denen jeder zustimmen kann; sie lassen aber den Hebel vermissen, an dem man ansetzen kann. Peter Prange, Tübinger Romancier mit Bodenhaft ung, spottete über die TugendRede eines englischen Bankers: »Wir haben erlebt, wie weit englische Banker uns deutschen Provinzlern voraus sind: dass man donnerstags schon eine Sonntagsrede halten kann.«2
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Wir müssen systematischer an die Entstehung der Finanz- und Wirtschaftskrise herangehen, um zu erkennen, wo wir den Hebel ansetzen sollten. Wir können nicht davon ausgehen, dass alle diejenigen, die mit dem Bank- und Geldgewerbe zu tun haben, mit einem genetischen Defekt zur Welt gekommen wären. Gier ist keine Eigenschaft, die nur im Geldgeschäft angetroffen werden kann. Im antiken Griechenland galt die Pleonexia, das Mehr-Haben-Wollen, also die Raffgier, als die menschliche Verfehlung schlechthin. Sie verleite auch zur Hybris, zur Zügellosigkeit, zur Bedenkenlosigkeit, zum Missbrauch der Macht, zum Hochmut. Daher ist im antiken Griechenland die Sophrosýne, die vernünft ige Besonnenheit, eine der vier Kardinaltugenden. Wir wissen also, dass Gier eine Verhaltensweise ist, gegen die seit jeher angekämpft werden muss. Nur die wenigsten können von sich sagen, dass sie gegen dieses Laster gefeit seien. Wenn aber die Gier der Banker bis zum Ausbruch der jetzigen Weltfinanzkrise kein allgemeines Problem war und wenn früher Bankiers allgemein sogar ein hohes Ansehen genossen – ich denke hier an Carl Fürstenberg, Max M. Warburg, Robert Pferdmenges, Hermann Josef Abs, Jürgen Ponto –, dann muss sich das institutionelle Arrangement, das für dieses Geschäftsfeld gilt, fundamental gewandelt haben. Hierüber wird zu reden sein. Ferner gilt, dass ein solcher Einbruch auf den Finanzmärkten und in der Weltwirtschaft, wie wir ihn derzeit erlebt haben bzw. erleben, bis zum Jahre 2007 allgemein für undenkbar gehalten wurde. Zwar gab es immer wieder nationale und weltweite Einbrüche, doch sind diese immer von nachfolgenden Aufschwüngen abgelöst worden. Wir haben es jetzt mit einer Krise zu tun, die mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 vergleichbar ist; womöglich ist sie noch ernster. Damals hat eine auf Sparen ausgerichtete Geld- und Finanzpolitik die Krise noch verschärft, während sich jetzt Staaten verschulden, um über staatlich geschaffene Nachfrage den Einbruch der Beschäftigung zu kompensieren und über eine hyperexpansive Geldpolitik – mit Zinssätzen von Null oder nahe bei Null – den Banken wieder zu Geschäften und Gewinnen zu verhelfen. Diese zweite Weltwirtschaftskrise der Moderne haben Politiker und auch die meisten Experten nicht vorhergesehen, auch die Ökonomen nicht – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Diese Krise ist durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren ausgelöst worden.
II. Über Ehrlichkeit und Tugendhaftigkeit im Wettbewerb Diese Finanzkrise bringt auch den Kapitalismus und das ihm zugrunde liegende Prinzip des Wettbewerbs in Misskredit. Es wird daher geprüft, ob Betrügereien dem Wettbewerb immanent sind und ob Tugendhaftigkeit in einer nicht-stationären Welt, also eine Welt, deren Lauf wir nicht mit Sicherheit voraussagen können, die erhofften gesamtwirtschaft lichen Segnungen mit sich bringt. Die Abneigung gegen alles, was im Entferntesten etwas mit Markt zu tun hat, bricht sich Bahn in Alltagskonversationen, interdisziplinär zusammengesetzten Diskussionsrunden, in den Feuilletons der großen Zeitungen, in den Medien generell. Dabei schimmert gelegentlich der Wunsch nach neuen Utopien durch, wo die Menschen vereint und friedlich ihren verschiedenen Verrichtungen nachgehen und nicht mehr erbarmungslos dem Wettbewerbskampf ausgesetzt sind, der die einen in die Arbeitslo-
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sigkeit stoße und die anderen in den Burn-out treibe. Wettbewerb wird als erbarmungsloser Konkurrenzkampf aufgefasst oder als Hundert-Meter-Lauf, wo es bloß einen Gewinner gebe (the winner takes it all) und alle anderen Verlierer seien. In Wahrheit ist der ökonomische Wettbewerb ein dynamischer Prozess, in welchem die Verlierer von heute durch Lernprozesse die Sieger von morgen sein können. Wettbewerb und Markt sind letztlich Konsequenzen der zwischenmenschlichen Arbeitsteilung, in der sich der einzelne, um besser überleben zu können, auf die Ausbildung der Spezialität konzentriert, die ihm einen Konkurrenzvorsprung verschafft. Arbeitsteilung zieht Tausch des jeweiligen Überschusses nach sich. Ein solcher Tausch kann sich individuell vollziehen oder von einer Gemeinschaft in Form eines Marktes organisiert werden. Hier erfährt der jeweilige Produzent, ob seine Erzeugnisse Abnehmer finden, was er besser machen kann oder ob er seine Produktion umstellen muss. Andernfalls könnte er sich auf dem Markt nicht behaupten. Die Internalisierung der jeweiligen Marktergebnisse, Gewinne oder Verluste, bewirkt auch, dass Zeit und Ressourcen effizienter ausgeschöpft werden. Der einzelne Produzent steht für sein Produkt ein; er haftet für seine jeweiligen Entscheidungen. Wir können daher sagen: Haftung ist in jeder marktwirtschaft lichen Ordnung konstitutiv. Ohne Haft ung gibt es keine Marktwirtschaft. F.A. v. Hayek hat für den hier skizzierten Sachverhalt die Formel »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren« geprägt.3 Dieses institutionelle Arrangement mag das Ergebnis eines spontanen Prozesses gewesen sein, das im Zeitverlauf standardisierte Formen annahm, was Zeit und Ort anging. Wir können auch vermuten, dass ein solches Arrangement unabhängig von den jeweils ausgeprägten Kulturen entsteht. Wenn Menschen überleben wollen, ist es in einem elementaren Sinne vernünft ig, sich darauf zu verständigen, weil so Informations- und Transaktionskosten gespart werden. Wir können sogar annehmen, dass sich moderne Marktwirtschaften oder kapitalistische Wirtschaft sformen, wie wir sie heute kennen, in vergleichbarer Form entwickeln würden, wenn wir den Menschen in seine Anfänge zurückversetzen würden. Damit ist keineswegs gesagt, dass alles gut ist, was wir heute an real existierendem Kapitalismus vorfi nden. Aber es zeigt doch, dass Bewegungen wie »Empört Euch« oder »Occupy Wall Street« ins Leere laufen, wenn die Akteure nicht genau wissen, wogegen sie sich und vor allem wofür sie sich empören wollen, wenn sie nicht wissen, was sie verbieten oder ändern sollen, nachdem sie Wall Street okkupiert haben. Wenn getauscht wird – und letztlich beruht alles Wirtschaften auf Tauschakten –, kann man nicht ausschließen, dass der eine Tauschpartner den anderen zu übervorteilen sucht. Dieses Gefühl hat jeder Tourist, wenn er über einen ihm fremden und irritierenden Markt geht und die Einladung auf ein Glas Tee wie der Teufel das Weihwasser fürchtet. Er hat Angst, hereingelegt zu werden. Diese Gefahr besteht natürlich, wenn einer der beiden Tauschpartner über einen ausgeprägten Informationsvorsprung verfügt oder wenn es nicht zu einem Kontinuum von Tauschakten kommt. Die Frage lautet also: Gehört Betrug zur Marktwirtschaft? Der Politikwissenschaft ler Robert Axelrod hat ein interessantes Experiment veranstaltet und fundamentale Sätze daraus abgeleitet.4 Er hat alle Spieltheoretiker der
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Welt aufgefordert, strategische Verhaltensweisen zur Gewinnmaximierung einzureichen. Als überlegen hat sich die sogenannte Tit for Tat-Strategie herausgestellt, wonach der Betreffende sich ehrlich verhält – Produktversprechen und tatsächliches Produkt sind deckungsgleich – und weiter tauschte, solange der Tauschpartner ebenfalls ehrlich war. Sobald der Tauschpartner betrog oder den Kontrakt nicht erfüllte, wurde der Kontakt abgebrochen. Tit for Tat: Ich bleibe dein Tauschpartner, solange du ehrlich bleibst; wenn nicht, wird nicht mehr getauscht. Für jede vollzogene Transaktion gibt es eine bestimmte Punktzahl. Gewonnen hat diejenige Strategie, die jeweils nach einer Tauschserie die meisten Punkte auf dem Konto hat. Der Betrüger konnte also bei Betrug auf Kosten des Ehrlichen Punkte machen; doch hatte er damit zukünftige Tauschakte eliminiert, während die Tit for Tat-Strategie die meisten Punkte verbuchen konnte. Es lässt sich daraus sogar ableiten, dass sich eine ehrliche Population gegen eine betrügerische Population durchsetzt bzw. Marktanteile abnimmt. Treffen zwei ehrliche Tauschpartner aufeinander, so werden sie den Kontakt fortsetzen, weil er beiden Vorteile verspricht. Wenn ein Betrüger tauscht, so kann er nur einmal sein Gegenüber übervorteilen; er verbaut sich damit zukünft ige Tauschakte. Treffen zwei Betrüger aufeinander, so weiß niemand von ihnen, auf wessen Seite der Nettovorteil liegt. Sie haben hohe Informations- und Transaktionskosten, um einen möglichen Betrug zu vermeiden. Dies gilt wechselseitig. Wenn sie es dagegen mit einem ehrlichen Tauschpartner zu tun haben, entfallen die Suchkosten. Es ist also im eigenen Interesse von betrügerisch veranlagten Individuen, ehrlich zu werden, weil sie dann im Geschäft bleiben. Ein solches Ergebnis, so elementar es auch scheint, hat folgenreiche Konsequenzen für die Einschätzung der Wirkungsweise von Märkten und ist selbst unter Ordoliberalen nicht unumstritten. So nennt Röpke die Konkurrenzwirtschaft einen »Moralzehrer«, weil die Marktparteien ständig der Versuchung ausgesetzt seien, den Tauschpartner zu übervorteilen. 5 Das gilt aber nur – es sei wiederholt –, wenn die Informationen asymmetrisch verteilt sind oder wenn es sich nicht um ein Kontinuum von Aktionen handelt. Nun gibt es natürlich genügend Tauschsituationen mit asymmetrischer Informationsverteilung und singulärem Charakter. Dann ist es gut, externen Sachverstand einzubeziehen. Oft geben die Tauschpartner mit überlegenem Wissen Garantien, die den Partner schadlos stellen, wenn Produktversprechen und -realität auseinanderklaffen. Wie steht es um die Erfolgsaussichten der Bemühungen, die Akteure von vornherein auf ethische Standards zu verpflichten, wenn man sich auf die disziplinierende Kraft des Marktes nicht verlassen will? Der mit der ökonomischen Dogmengeschichte vertraute Leser wird sich jetzt womöglich an Bernard Mandevilles Bienenfabel erinnern, wo ein Bienenschwarm, der bis dato en miniature genauso lebte und wirkte, wie die zeitgenössische (englische) Gesellschaft , als Kollektiv beschließt, jeglicher Tücke und Betrügerei zu entsagen. Doch erwachse daraus nicht, wie Mandeville spottet, ein blühendes und wohlhabendes Gemeinwesen, sondern ein kultureller und wirtschaft licher Niedergang. Mandevilles Moral lautet: »Mit Tugend bloß kommt man nicht weit; wer wünscht, daß eine goldene Zeit zurückkehrt, sollte nicht vergessen: Man mußte damals Eicheln essen.« 6 Der volle Titel der Fabel lautet daher
Stammt nicht des edlen Weines Saft Von einem garstig dünnen Schaft? Der, wenn man ihn nicht sorgsam pflegt, Bloß nutzlos wuchert und nichts trägt, Doch dessen Frucht uns Lust bereitet, Wenn man ihn bindet und beschneidet. Genauso uns das Laster nutzt, Wenn das Gesetz es kappt und stutzt.8
»Wenn das Gesetz es kappt und stutzt«, dies ist unser Stichwort. Bevor wir uns der Frage zuwenden, was das konkret bedeutet, sei ein Beispiel für ein offensichtlich tugendhaftes Verhalten, das in Wahrheit nur dem eigenen Vorteil dienen sollte, berichtet. Bei Klaus Peter Rippe lesen wir, Henry Ford habe sich bemüht, nach eigenen moralischen Vorstellungen zu handeln; er zahlte seinen Arbeitern mehr als sonst üblich und senkte den Preis für sein Fordmodell, die berühmte Tin Lizzy, von ursprünglich 900 auf 440 Dollar.9 Das kann durchaus ökonomischer Logik entsprechen und den betrieblichen Gewinn steigern, wenn seine Arbeiter deswegen produktiver arbeiten und die Preissenkungen neue Käuferschichten erschließen. Als Henry Ford schließlich den gesamten betrieblichen Gewinn über weitere Preissenkungen an seine Kunden ausschütten wollte, haben zwei Großaktionäre, die Gebrüder Dodge, Ford verklagt, weil er ihnen ihren Anteil am Gewinn vorenthalte. Das Gericht gab ihnen recht. Die Dodge-Brüder konnten nachweisen, dass Fords Großzügigkeit bloß das Ziel habe, sie vom Gewinn auszuschließen, weil sie ein konkurrierendes Automobilunternehmen aufziehen wollten.
III. Wie das Übel in die Welt kam Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, erinnerte nicht bloß an die Weltwirtschaftskrise von 1929; es war eine zweite Weltwirtschaftskrise. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Die großen Zentralbanken dieser Welt haben ihre Schleusen geöff net und fluten Geld- und Kapitalmärkte. Bei Joseph Schumpeter können wir nachlesen, dass Volkswirtschaften so nicht auf einen selbsttragenden Wachs-
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auch: THE FABLE OF THE BEES; OR, Private Vices, Public Benefits (London 1714). Mandeville schildert darin u.a., dass der tugendhafte Landlord, der seine gesamten Pachteinnahmen in eine Truhe packt, um sie seinen Erben zukommen zu lassen, sein Dorf und alle darin wohnenden Handwerker verarmen lässt, während sein prasserischer Nachbar, der Feste über Feste feiert und Jagden und dergleichen veranstaltet, um seinen Gästen zu imponieren, seine Umgebung an seinem Wohlstand teilhaben lässt. Daraus kann man aber nicht, wie F. A. v. Hayek nachweist, ein Lob des Lasters herauslesen, sondern lernen, dass wir in einer arbeitsteiligen dynamischen Welt die Konsequenzen individueller oder kollektiven Handlungen nicht mit hinreichender Sicherheit voraussagen können.7 So können sich gut gemeinte Handlungen als übel und üble als gut herausstellen. Die Abschaff ung des Lasters, so können wir Mandeville verstehen, sei nicht so vorteilhaft wie allgemein erwartet, doch sagt er nicht »freie Bahn« dem Laster:
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tumspfad gelangen, sondern Fehlentwicklungen bloß überlagert werden und Zentralbanken immer wieder aufs Neue die Märkte fluten müssen, wenn die bisher verabreichten Geld- und Finanzspritzen allmählich ihre Wirkungen einbüßen.10 So pumpen sie derzeit Liquidität über Liquidität in das Finanzsystem, Regierungen bürgen für dubiose Vermögenswerte und nehmen sie auf die eigenen Bücher, sozialisieren also das unternehmerische Risiko. Damit haften die Bürger für die Verluste des Banksystems. Das, was wir Finanzkrise nennen, ist auch eine Krise – das muss unumwunden eingeräumt werden – der modernen Volkswirtschaft slehre. Wer von den Nobelpreisträgern der Wirtschaftswissenschaft, wer von den im Fernsehen präsenten Großwissenschaft lern, wer von den Wirtschaftsweisen hat rechtzeitig seine warnende Stimme erhoben? Auf welchen repräsentativen Kongressen ist das Heraufdämmern der Krise diskutiert worden? Es gibt zwei Gründe für dieses Versagen. Ökonomen nehmen immer weniger wahr, was um sie herum vorgeht. Sie reduzieren ökonomische Realität auf statistische Zeitreihen. Diese können uns helfen zu erklären, was passiert ist, nicht aber zu erkennen, was sich zusammenbraut. Was nicht in gerade modischen, mathematisch gefassten Modellen behandelt wird, existiert nicht mehr. Was keine Chancen hat, in US-amerikanischen Journals publiziert zu werden, wird beiseite geschoben. Weil sich die Zunft der Ökonomen nicht mehr um das kümmert, was jenseits von Angebot und Nachfrage liegt, kann sie sich kein umfassendes Bild mehr von Wirtschaft und Gesellschaft machen. Wer die einschlägigen Journale durchblättert oder die von der Europäischen Zentralbank publizierten Aufsätze studiert, wird Wilhelm Röpke recht geben, dass das meiste, was da »unter dem großmäuligen Titel der modernen Ökonomie« getrieben werde, ein »riesenhafter szientistischer Leerlauf« sei.11 Die Hohen Schulen für Ökonomie, diesseits und jenseits des Atlantiks, konzentrieren sich nicht mehr darauf, Ökonomen auszubilden, die mehr können als bloße Ökonomie, sondern züchten Techniker heran, die gezielt auf höchst komplexe Arbitrageprozesse angesetzt werden, für die sie mathematische Lösungswege fi nden, ohne das gesamte ökonomische Geschehen im Bild zu haben. Für diese Aufgabe werden hochspezialisierte Ökonomen sowie Physiker und Mathematiker herangezogen. So war den Experten in den Rating-Agenturen wahrscheinlich nicht das ökonomische Phänomen bekannt, dass auf dem Immobilienmarkt wegen der Inelastizität der Nachfrage und des Angebots die Preise im Aufschwung überproportional stark steigen, umgekehrt aber auch entsprechend einbrechen können. Und diejenigen, die sie angeheuert haben, wissen oft gar nicht mehr, in welcher Hexenküche die geheimnisvollen Rezepte gemischt werden. Der zweite Grund liegt in dem Erbe begründet, das uns der dominierende Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, hinterlassen hat. Keynes hatte bedauert, dass nicht Malthus, sondern Ricardo die Stammwurzel der bis zur Weltwirtschaftskrise herrschenden Ökonomie gewesen sei; Malthus habe den Finger in die kapitalistische Wunde gelegt: das Wegbrechen der Nachfrage und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit.12 Und Keynes hat dann alles getan, um dieses kapitalistische Gebrechen zu heilen: Stimulierung der gesamtwirtschaft lichen Nachfrage
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durch Staatsdefi zite und Billig-Geld-Politik der Zentralbanken. Da der finanzpolitische Spielraum in den meisten modernen Industriestaaten nach dem Platzen der Dotcom-Blase ausgereizt schien – die steigenden Zinsverpfl ichtungen schnürten den staatlichen Ausgabenspielraum immer stärker ein –, sind die Zentralbanken in die Bresche gesprungen. Nach dem Platzen der New Economy-Blase hat die USamerikanische Zentralbank den Zinssatz, zu dem sich die Geschäftsbanken bei ihr refinanzieren konnten, zeitweilig auf 1 gesenkt. Wird die damalige Inflationsrate berücksichtigt, so war der Zinssatz sogar negativ. Die Banken erhielten also noch eine Prämie, wenn sie sich verschuldeten. Und mit diesem billigen Geld haben sie dann Unternehmenskäufe, vor allem aber den Erwerb von Häusern, finanziert. Dies trieb die Immobilienpreise nach oben und lockte Immobilienspekulanten an; die Hauseigentümer rechneten sich reich, beliehen die Wertsteigerungen ihrer Häuser und setzten das in aktuellen Konsum um. Und die US-Zentralbank hat das nicht argwöhnisch gemacht; sie hat vielmehr die hohe Konsumquote als willkommenen Konjunkturtreiber gesehen. Daraus schien sich ein konjunkturelles Perpetuum mobile zu ergeben: Die BilligGeld-Politik treibt die Immobilienpreise; die daraus resultierenden Wertsteigerungen werden in Konsum umgesetzt; die Chinesen stillen mit billigen Verbrauchsgütern den amerikanischen Konsumhunger; sie legen die verdienten Dollars aus den Exportüberschüssen in US-Staatsanleihen an und halten damit ihrerseits das US-Zinsniveau niedrig; die Hauspreise steigen weiter… . Da kann man nur sagen: Ist dies schon Tollheit, so hat es doch Methode. Die weltweite Geldschwemme und ununterbrochen steigende Immobilienpreise ließen die Akteure glauben, sie hätte eine Maschine zur Profitmacherei entdeckt. Kreditmakler und Banken scheffelten Geld, indem sie Hypothekenverträge unter die Leute brachten. Und so machten sie schließlich in den USA Jagd auf alles und jeden, bis sie schließlich bei den »NINJA-Schuldnern« – als Akronym für no income, no job, no assets – angekommen waren. Die Banken hat nicht gestört, dass die Verträge weder mit Eigenkapital noch mit einem stetig fl ießenden Einkommen unterlegt waren; sie haben sie verbrieft und als hypothekarisch besicherte Kapitalmarktpapiere weltweit den Kapitalanlegern angeboten. Rating-Agenturen haben sie bei der richtigen Mischung der Portefeuilles beraten und diesen Produkten anschließend Bestnoten verpasst. So machten sie aus Schrott hochverzinsliche Zertifi kate. Weltweit wandelten Banken die von den Zentralbanken geschaffene reichliche Liquidität über den Ankauf solcher Papiere in sprudelnde Erträge um. Und alle waren zufrieden: Die Immobilienerwerber, die Kreditmakler, die Banken, die Kapitalanleger, die Bauindustrie und die vor- und nachgelagerten Betriebe. Beschäftigung und Wachstum nahmen zu; die Wachstumsraten des Welthandels waren so hoch wie nie zuvor. Politiker freuten sich über sprudelnde Steuerquellen, weil sie ihnen die unangenehme Arbeit der Haushaltssanierung abnahmen. Solange die Baupreise in den USA stiegen, lebten wir in der besten aller möglichen Welten und waren zufrieden. Schließlich platzte die Blase, weil die Zentralbanken, um den Boom und die Inflation unter Kontrolle zu halten, Schrittchen für Schrittchen die Zinsen erhöhten. Als die ersten Hypothekenschuldner ausfielen und Zwangsversteigerungen
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die Baupreise drückten, wurden diese Subprime-Papiere als das identifiziert, was sie tatsächlich waren: Schrott. Seit dem Sommer des Jahres 2008 haben es die Banken gewusst; sie haben sich gegenseitig kein Geld mehr geliehen, weil keine Bank mehr der anderen vertraute. Was damals nicht für möglich gehalten wurde, hält inzwischen die ganze Welt in Atem: Nicht bloß einzelne Banken waren notleidend geworden, sondern das gesamte Banksystem. Wer über die Weltfinanzkrise spricht, kann bei einem Satz mit prasselndem Beifall rechnen: »Es muss Schluss sein mit der Gier«. Wenn man die Gier als treibende Kraft ansieht, so muss man klären, warum kaum jemand an unserem Banksystem zweifelte. Frühere Bankruns mögen zwar die Wirtschaftshistoriker fasziniert haben, aber sie hielten nicht die aktuelle Politik in Atem. Was ist anders geworden? Das Denken auf den Chefetagen hat sich seit der Orientierung am Shareholder-ValuePrinzip grundlegend gewandelt. Wenn das Einkommen und das kollegiale Ansehen vom aktuellen Börsenstand abhängig sind, dann werden Entscheidungen immer unter dem Aspekt der Auswirkung auf den Börsenkurs getroffen. Andernfalls werden die Manager abgestraft. Daher fühlen sie sich geradezu gedrängt, kurzfristig ertragreiche, auf lange Sicht aber riskante Investitionen solchen vorzuziehen, die den Bestand des Unternehmens nachhaltig sichern, deren Erträge aber erst ihren Nachfolgern zugute kämen. Der berühmte Ökonom Léon Walras hat das so charakterisiert: Wer den Nachbarn imponieren wolle, müsse in seinem Garten Möhren anpflanzen; die könne er nach kurzer Reifezeit stolz herumzeigen; wer dagegen seinen Enkeln etwas hinterlassen wolle, müsse Walnussbäume pflanzen. Auf den führenden Etagen sind mittlerweile die Möhrenpflanzer in der Überzahl. Ein zweites Entscheidendes kommt hinzu: Wenn ein Manager ein Unternehmen ganz oder teilweise gegen die Wand fährt, wird er nach Maßgabe der ausgehandelten Pensionszusagen entlassen, die Boni aufgrund seiner riskanten, kurzfristig aber erfolgreichen Investitionen bleiben ihm aber erhalten. Oft erhält er noch eine satte Abfindung, wenn der Vertrag vorzeitig aufgelöst wird. Damit haften Manager nicht für die von ihnen angerichteten Schäden. John McFall, Vorsitzender des Finanzausschusses im britischen Parlament, sagt: »Jeder weiß, dass das Bonussystem das Krebsgeschwür in diesem Finanzsystem ist.«13 Wer nicht für die Konsequenzen seines Tuns einstehen muss, wird leichtfertig. Mit dem Geld anderer Leute geht man weniger sorgfältig um als mit dem eigenen. Für Walter Eucken, Gründer der ordoliberalen Schule, »ist Haft ung nicht nur eine Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung des Wettbewerbes, sondern überhaupt für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen.«14 Nicht der Markt, die Globalisierung oder die neoliberale Ideologie haben der Wirtschaft und uns den Boden unter den Füßen weggezogen, sondern die Eliminierung eines zentralen Prinzips, das eine marktwirtschaft liche Ordnung konstituiert. Und was erleben wir derzeit? Es wird nicht so sehr darüber nachgedacht, wie das Prinzip Haft ung auch auf der Managementebene installiert werden kann, damit aus Möhrenpflanzern wieder Nussbaumpflanzer werden; stattdessen hören wir allenthalben Politiker Regulierungsarien schmettern, um die globalen Finanzmärkte zu zähmen.
1. Zentralbanken an die Kette legen Die gefährlichen Folgen überreichlicher Geldversorgung können wir uns anhand des mittelalterlichen Münzgewinns und der damit verbundenen Versuchung zum Münzbetrug klarmachen. Im Mittelalter wurden die Münzen aus einem bestimmten Schlagschatz geprägt; die Differenz zwischen dem Wert des Schlagschatzes und dem Wert der daraus gewonnenen Münzen fiel als Münzgewinn (Seigniorage) an den jeweiligen Münzherrn. Solange das Verhältnis von Schlagschatz und geprägten Münzen gleich blieb, veränderte sich auch nicht die Münzqualität. Wenn nun der Münzherr die doppelte Menge an Münzen ausprägen ließ, verdoppelte sich – praeter propter – sein Münzgewinn. Entsprechend verschlechterte sich die Münzqualität; durch Beißen oder Brechen konnte dies erkannt werden. Die Konsequenz war, dass die hochwertigen Münzen gehortet und die minderwertigen im Umlauf blieben. Geschädigt wurden diejenigen, die in aller Regel dem unteren Teil der Einkommenspyramide zuzuordnen waren. Sie lieferten wie bisher Güter für den täglichen Bedarf oder stellten ihre Arbeitskraft zur Verfügung, erhielten dafür aber nur minderwertiges Geld. In der heute durch Beschlüsse von Regierung und/oder Zentralbanken bestimmten Geldmenge (fiat money) kommt es zu einem solchen Münzbetrug, wenn größere Mengen Papier bedruckt werden. Da die Druckkosten nur minimal sind, kann ein Münzbetrug nahezu bis ins Unendliche fortgesetzt werden, bevor es zu einem Platzen der Geldmengenblase (Währungsreform) kommt. Die Inflation entspricht dann der Verdoppelung des Münzgewinns aus einem unveränderten Schlagschatz bzw. der Produktion eines Geldmengenüberschusses. Maßstab für die Inflation ist die jeweilige Geldmengenaufblähung. Wie diese sich auf die jeweiligen Preise auswirkt, hängt von den spezifischen Umständen ab. Wenn beispielsweise die Lohnstückkosten gleich blieben oder sogar rückläufig waren, wie es im letzten Jahrzehnt in Deutschland der Fall war, und die aufkommenden Märkte in Südostasien mit ihren Gütern den Konsumhunger in Europa und den USA stillten, so wurde jeweils Stabilität impor-
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IV. Wenn das Gesetz es kappt und stutzt Es ist schon deutlich geworden, dass die Billig-Geld-Politik der Zentralbanken die Akteure zu Transaktionen und Anlagen veranlasst hat, die die Weltfinanzkrise vorbereiteten und auslösten. Klaus-Werner Schatz schreibt: »Nach dem Zerplatzen der Dotcom-Blase hat die US-Notenbank mit ihrer Politik des billigen Geldes das Feuer gelegt und damit die Blase an den Finanzmärkten erzeugt.«15 Auch Horst Köhler hat in einem viel beachteten Interview davon gesprochen, dass Liquidität zu reichlich und zu billig vorhanden war.16 Der Blick muss sich auf die Zentralbanken als den Steuermännern nationaler und internationaler Liquidität richten. Dann stellen sich zwei Fragen: 1 Kann man die Zentralbanken für die Weltfinanzkrise verantwortlich machen, scheinen sie doch ihre Aufgabe, Sicherung der Geldwertstabilität, im wesentlichen erfüllt zu haben? 2 Wie können wir sicherstellen, dass sich Zentralbanken nicht mehr dazu hinreißen lassen, die Wirtschaft über billiges Geld zu stimulieren?
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tiert. Eine auf Expansion ausgerichtete Geldpolitik schlägt sich zunächst nicht oder kaum in einem Preisanstieg nieder, wenn bei unterausgelasteten Kapazitäten eine steigende Nachfrage die Stückkosten sogar sinken lässt und die Preisüberwälzungsspielräume eng begrenzt sind. Wenn also der Geldmengenüberschuss nicht durch stark steigende Löhne absorbiert wird und damit die Preise für Konsumgüter nicht ansteigen, sucht sich der Überschuss andere Wege: Es steigen die Preise für reale Aktiva wie beispielsweise Aktienkurse, Immobilien, Rohstoffe, Unternehmensbeteiligungen und Kunstgegenstände. Hier gibt es sobald auch kein Korrektiv, da die steigenden Preise nicht die Nachfrage abschrecken, sondern gerade anlocken, weil sie als Möglichkeiten zukünftiger Gewinnerzielung angesehen werden. Dies ist das bekannte Phänomen der self-fulfilling prophecy. Wenn die Märkte eng sind, führt die steigende Nachfrage bei zunächst gleichbleibendem Angebot zu einem überproportionalen Preisanstieg für solche Aktiva. So entstehen und platzen Blasen. Wenn die Billig-Geld-Politik der US-Zentralbank die Initialzündung für den US-Immobilienboom und damit der Auftakt zu einem weltweiten Flächenbrand war, so war auch immer moral hazard – die leichtfertige Vernachlässigung der gesamtwirtschaft lichen Folgen einzelwirtschaft lichen Handelns – mit im Spiel: Bei Ankauf und Kreditierung der Immobilien, bei Verbriefung und Bewertung durch Rating-Agenturen, bei Versicherung und weltweitem Ankauf solcher strukturierten Produkte. Entstehung und Platzen solcher Blasen ist aus gesamtwirtschaft licher Sicht gefährlicher als die Absorption der Überschussgeldmenge durch steigende Löhne und Konsumgüterpreise, weil die realwirtschaft liche Fehlentwicklung über entsprechende Investitionen, die sich mittel- und langfristig nicht rechnen, Reinigungsprozesse auslösen, deren Schleifspuren auf den Arbeitsmärkten breit und für die Betroffenen schmerzlich sind. Ist Geld zu billig und zu reichlich zu haben, dann neigen die Akteure in aller Regel zu einem underpricing of risk, so der frühere Bundespräsident Horst Köhler.17 Es wäre eine genauere Prüfung wert, ob nicht wegen der Billigst-Zins-Politik der EZB seit dem Platzen der Immobilienblase die Banken bei uns und anderswo – um des raschen Gewinnanstiegs willen – bewusst in risikobehaftete Staatsanleihen der PI(I)GS investiert haben und sich damit erneut Probleme auf der Aktiv-Seite eingehandelt haben. Eine zentrale ordnungspolitische Konsequenz muss daher die Reaktivierung einer Erkenntnis von Walter Eucken sein: Erfahrung zeigt, dass eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik freie Hand läßt, diesen mehr zutraut, als ihnen im Allgemeinen zugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwäche gegenüber Interessengruppen und der öffentlichen Meinung, falsche Theorien, alles das beeinflussen diese Leiter sehr zum Schaden der ihnen anvertrauten Aufgabe.18
Die Vorschläge, um die jeweilige Geldpolitik auf einer stabilitätsorientierten Linie zu halten, laufen im Wesentlichen auf ein institutionelles Arrangement hinaus, das John Maynard Keynes für die Disziplinierung von Finanzministern empfohlen hat, das aber auch für die Geldpolitik passt:
2. Den Hebel bei den Bonus-Systemen ansetzen Für die kaskadenförmige Ausbreitung des Flächenbrandes wird oft ein KasinoKapitalismus verantwortlich gemacht. Nichts wäre falscher als das. Wenn preußische Offiziere im Kasino Spielschulden machten, galten diese als Ehrenschulden und waren mit eigenem oder geliehenem Geld zu begleichen. Um aus ihren Spielschulden herauszukommen, haben sie auch nach Heiratspartien Ausschau gehalten, die finanziell, aber sonst weniger attraktiv waren. Oder sie konnten zu ihrer Pistole greifen, wenn sie sich – beladen mit der Schmach nicht beglichener Spielschulden – nicht mehr in den Kasinos sehen lassen wollten. Wenn Banker heute Banken gegen die Wand fahren, werden sie in aller Regel nach Maßgabe der ausgehandelten Vertragsbedingungen entlassen. Die zuvor ausgeschütteten Boni aufgrund riskanter, kurzfristig aber erfolgreicher Investitionen dürfen sie mitnehmen. Oft erhalten sie noch eine großzügige Abfindung, wenn der Vertrag vorzeitig aufgelöst wird. Damit haften sie nicht für die von ihnen angerichteten Schäden. Markt heißt im Kern: Jeder muss für seine Entscheidungen gerade stehen, also haften. Haftung ist das zentrale Prinzip, das eine Marktwirtschaft konstituiert. Geradezu prophetisch klingt die Feststellung des Ordnungspolitikers Walter Eucken: Investitionen werden um so sorgfältiger gemacht, je mehr der Verantwortliche für diese Investitionen haftet. Die Haftung wirkt insofern also prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital und zwingt dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten.20
Nur bei fehlender Haft ung kommt es zu Exzessen und Zügellosigkeit. Der Privatbankier Karl Reichmuth macht uns darauf aufmerksam, dass die Vergabe von Krediten für Generationen von Bankiers eine Angelegenheit ernsthafter persönlicher Prüfung war.21 Seit der Trennung von Entscheidung und Verantwortung durch die Verbriefung solcher Schulden seien aus Kreditprüfern reine Kreditgeber ohne Haftung geworden. Hätten die Akteure wie Eigentümer-Unternehmer auch mit ihrem persönlichen Vermögen für riskante Anlagen haften müssen, hätten sie wohl mehrheitlich die Finger davon gelassen. Diese Diagnose ist nicht strittig. Umstritten oder unklar ist, wie das Prinzip Haft ung in Organisationen integriert werden kann, in denen Akteure für fremde Rechnung tätig werden. Der Hebel muss an der Asymmetrie der Haft ung bei Bonus-Systemen ansetzen. Die Haftung ist hier asymmetrisch: Bei Erfolg Belohnung, bei Misserfolg zwar keine Belohnung, aber auch keine fi nanzielle Einbuße. Entscheidend ist hier, dass der mögliche Gewinn bei einer risikoreichen Unternehmensstrategie ansteigt. Dann steigt natürlich die Risikobereitschaft; wenn es schief geht, kommen nicht beteiligte Dritte für die Verluste auf. Risikofreudiges Verhalten ist daher – unabhängig von
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Man hat das Gefühl, das allgemeine volkswirtschaftliche und finanzielle Bildungsniveau der Politiker und Bankiers sei schwerlich hoch genug, um Neuerungen durchführbar oder unbedenklich erscheinen zu lassen, und es sei tatsächlich ein Hauptziel bei der Stabilisierung von Währungen, die Finanzminister an die Kette zu legen.19
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der individuellen Risikoneigung – rational. Das gilt besonders für Bonus-Systeme mit kurzer Laufzeit. Akteure ändern dagegen ihr Verhalten bei symmetrischer Haft ung, wenn sie also nicht nur an Gewinnen, sondern auch an Verlusten beteiligt sind. Eine solche Vereinbarung eliminiert die asymmetrische Haftung. Basieren Bonus-Systeme auf der zwingenden Vereinbarung, neben dem Bonus auch den Malus zu akzeptieren, wirken sie prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital und zwingen die Akteure dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten. Zu überlegen wäre weiterhin, den Auszahlungszeitraum über zehn Jahre zu strecken, um das Phänomen der windfall profits zu eliminieren. Hier entstehen natürlich beispielsweise bei Firmenund Standortwechseln Zurechnungsprobleme. Das sind aber lösbare Probleme im Vergleich zu dem befremdlichen Vorgang, dass viele Banken im Krisenjahr 2009 wieder Rekordboni ausgeschüttet haben. Um es kurz zu machen: Ehe Finanzmärkte zusätzlichen Kontrollen unterworfen werden und ehe staatlichen Aufsichtsorganen, die bisher alle tief und fest geschlafen haben, mehr Eingriffsrechte zugeordnet werden, müssten sich die Zentralbanken einer Regel unterwerfen, die eine Überschwemmung der Märkte mit Liquidität – die Wurzel der gegenwärtigen Krise – unterbindet. Zusätzlich müsste der Schwerpunkt darauf gelegt werden, die Akteure im Finanzwesen wieder marktwirtschaft lichen Zwängen zu unterwerfen.
V. Mögliche Folgen gut gemeinter Regulierung Es ist zur Zeit gängige Münze, dass die von allen Politikern für notwendig gehaltene Bankenregulierung weltweit und lückenlos gemacht werden müsse, damit Banken nicht über Standortwechsel nationale Regime gegeneinander ausspielen können. Es wird nicht mehr nach den eigentlichen Ursachen der verseuchten Aktivseiten gefragt und auch nicht danach, ob solche Regulierungsregime ziel- und passgenau entworfen und realisiert werden können. Wer Vorträge von Experten aus Regulierungskommissionen hört, wird das Gefühl nicht los, dass in Zukunft immer stärker Regulierer über Richtung und Ausmaß von Bankgeschäften und Kapitalbewegungen bestimmen. Wenn alles realisiert wird, was in den jeweiligen Kommissionen überdacht und ausgeheckt wird, dann müssen wir uns auf ein flächendeckendes, in sich vernetztes Regulierungssystem einstellen. Hier wird ein hohes Maß an Regulierungsintelligenz und -fähigkeit unterstellt. Jede Form weltweiter Regulierung hat mit zwei grundsätzlichen Problemen zu tun: O In einer Welt der Unsicherheit können wir die wirtschaft lichen und sozialen Konsequenzen neu geschaffener institutioneller Arrangements nicht mit hinreichender Sicherheit abschätzen. O Wenn Regulierung international gleichförmig gemacht wird, um Ausweichmöglichkeiten auszuschließen, aber das System fehlerhaft ist, dann haben wir das fehlerhafte System weltweit. Wenn wir wegen der Internationalisierung dasselbe System überall wollen, dann ist auch ein potenzieller Fehler im System überall gegenwärtig. Aus diesem Grund ist Konkurrenz den Regulierungssystemen vorzuziehen.
Literaturverzeichnis R. Axelrod, Die Evolution der Kooperation, Oldenburg 1987, 7. Aufl. 2009. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaft spolitik, Tübingen / Zürich 1952. F. A. v. Hayek, »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«, in: Ders., Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 249–265. F. A. v. Hayek, »Dr. Bernard Mandeville«, in: H. C. Recktenwald (Hrsg.), Bernard de Mandevilles Leben und Werk. Vademecum zu einem Klassiker der Ökonomie und Ethik, Düsseldorf 1990, S. 31–62. J. M. Keynes, Ein Traktat über Währungsreform, München / Leipzig 1924. J. M. Keynes, »Robert Malthus 1766–1835«, in: Ders., Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme, Tübingen / Zürich 1956. H. Köhler, »Die Finanzmärkte sind zu einem Monster geworden«, Interview, Stern 21 (15. Mai 2008), S. 42–48. B. Mandeville, Die Bienenfabel oder private Laster, öff entliche Tugenden (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 300), Frankfurt a. M. 1980. P. Prange, »Eine Schwalbe macht keinen Sommer«, Interview, Schwäbisches Tagblatt (18. Dezember 2010), S. 29. K. Reichmuth, »Warum Entscheid und Haft ung wieder zusammenführen? Zehn Beispiele aus der Erfahrung eines Bankiers«, in: Ders. (Hrsg.), Weg aus der Finanzkrise, Zürich 2008, S. 103–140. E. Reuter, »Wer nur heucheln kann, ist schon ein gemachter Mann«, Interview, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 39 (3. Oktober 2010), S. 41. W. Röpke, Die Gesellschaft skrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942. W. Röpke, Briefe: Der innere Kompass 1934–1966, Erlenbach-Zürich 1976. K. W. Schatz, »Der Beitrag der Geldpolitik zur internationalen Finanzkrise« (Schriftliches Statement im Rahmen der Hayek-Tage 2010 in Münster), unveröffentlichtes Manuskript. J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl., Berlin 1926. http: //www.ethikdiskurs.ch/wirtschaft sethik/publikationen/rippe_antrittsvorlesung.pdf.
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Geld, Gier und Wettbewerb. Wie es zu den Exzessen in derWelt des Geldes gekommen ist
Vor allem müssen Sparer, Investoren und Kapitalanleger wissen, dass in einer dynamischen, arbeitsteiligen Welt Handeln nur unter Unsicherheit möglich ist, dass der Versuch, Risiken wegzudrücken oder auszulagern, die Risiken potenzieren kann. Die Märchen und Mythen sind voll von Geschichten, dass gerade der Versuch, Risiken völlig auszuschalten, diese heraufbeschwört. Wenn schon Regulierung, dann nicht mehr, sondern bessere Regulierung. Diese soll in Richtung von mehr Markttransparenz und in Richtung eines institutionellen Arrangements gehen, das Handeln nach den Signalen des Marktes fördert oder sogar erzwingt. Wenn Banken zu groß sind, um noch in Konkurs gehen zu können, heißt das im Kern, dass Banken und Vorstände nicht mehr haften. An der Haftung entscheidet sich aber, ob wir uns in einem marktwirtschaft lichen oder einem sozialistischen Umfeld bewegen. Daher sollten aus ordnungspolitischer Sicht – im Sinne einer langfristig funktionsfähigen Marktwirtschaft – Banken wieder in Konkurs gehen können. Konkurs bedeutet ja nicht, dass alle Aktiva wertlos geworden sind. Konkurrierende Banken können funktionsfähige Teile übernehmen. Auch gezielte Stützungen auf der Passivseite können hilfreich sein. Wenn dagegen die Zentralbanken havarierten Banken über eine Billigst-Geld-Politik neue Gewinnmöglichkeiten erschließen und der Staat verwirtschaftete Einlagen aus Steuermitteln auff üllt, wird erneutem moral hazard Tür und Tor geöff net.
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E. Reuter, »Wer nur heucheln kann, ist schon ein gemachter Mann«, Interview, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 39 (3. Oktober 2010), S. 41. P. Prange, »Eine Schwalbe macht keinen Sommer«, Interview, Schwäbisches Tagblatt (18. Dezember 2010), S. 29. F. A. v. Hayek, »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren«, in: Ders., Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 249–265. Vgl. R. Axelrod, Die Evolution der Kooperation, Oldenburg 1987, 7. Aufl. 2009, passim. W. Röpke, Die Gesellschaft skrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, S. 86. B. Mandeville, Die Bienenfabel oder private Laster, öff entliche Tugenden (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 300), Frankfurt a. M. 1980, S. 92. Vgl. F. A. v. Hayek, »Dr. Bernard Mandeville«, in: H. C. Recktenwald (Hrsg.), Bernard de Mandevilles Leben und Werk. Vademecum zu einem Klassiker der Ökonomie und Ethik, Düsseldorf 1990, S. 31–62. B. Mandeville 1980, S. 99. Vgl. http: //www.ethikdiskurs.ch/wirtschaft sethik/publikationen/rippe_antrittsvorlesung.pdf. Vgl. J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl., Berlin 1926, S. 367. W. Röpke, Briefe: Der innere Kompass 1934–1966, Erlenbach-Zürich 1976, S. 150. Vgl. J. M. Keynes, »Robert Malthus 1766–1835«, in: Ders., Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme, Tübingen / Zürich 1956, S. 153. Zitiert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (25. September 2008), S. 23. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaft spolitik, Tübingen / Zürich 1952, S. 285. K. W. Schatz, »Der Beitrag der Geldpolitik zur internationalen Finanzkrise« (Schriftliches Statement im Rahmen der Hayek-Tage 2010 in Münster), unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. H. Köhler, »Die Finanzmärkte sind zu einem Monster geworden«, Interview, Stern 21 (15. Mai 2008), S. 42–48. Vgl. H. Köhler 2008, S. 43. W. Eucken 1952, S. 257. J. M. Keynes, Ein Traktat über Währungsreform, München / Leipzig 1924, S. 173. W. Eucken 1952, S. 280. Vgl. K. Reichmuth, »Warum Entscheid und Haft ung wieder zusammenführen? Zehn Beispiele aus der Erfahrung eines Bankiers«, in: Ders. (Hrsg.), Weg aus der Finanzkrise, Zürich 2008, S. 103–140.
P R O F. D R .
ANDREA BEYER
Professorin für Betriebswirtschaft und Medienökonomie an der Fachhochschule Mainz P R O F. D R .
ANIL BHAT TI
Emeritierter Professor des Centre of German Studies, School of Language, Literature & Culture Studies an der Jawaharlal Nehru University, New Delhi P R O F. D R .
HELMUT DIGEL
Emeritierter Professor am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen DR.
RAINER HANK
Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Frankfurt a. M. P R O F. D R .
STEFAN KRAMER
Professor am Ostasiatischen Institut im Fachbereich Sinologie an der Universität Leipzig P R O F. D R . D R . H . C .
HERMANN LÜBBE
Emeritierter Professor für Philosophie und Politische Theorie der Universität Zürich DR. DR.
ELMAR NASS
Domvikar des Bistums Aachen und Lehrstuhlvertreter für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Bonn P R O F. D R .
ROLF OERTER
Emeritierter Professor für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität, München DR.
ANDRÉ PRESSE
Wissenschaft licher Mitarbeiter am Interfakultativen Institut für Entrepreneurship der Universität Karlsruhe P R O F. D R .
WOLF SCHÄFER
Emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg P R O F. D R . D R . H . C .
JOACHIM STARBAT T Y
Emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft e.V. (ASM)
Zu den Autoren
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Zu den Autoren
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P R O F. D R .
RAINER TREPTOW
Professor am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik, an der Universität Tübingen P R O F. D R .
GREGOR VOGT-SPIR A
Professor für Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg, Februar 2008 bis Januar 2012 Generalsekretär der Villa Vigoni, Loveno di Menaggio, Italien P R O F.
GÖTZ WOLFGANG WERNER
Professor für Entrepreneurship am Interfakultativen Institut der Universität Karlsruhe (TH) und Gründer und Aufsichtsratsmitglied der dm-drogerie markt GmbH & Co. KG P R O F. D R .
JÜRGEN WERTHEIMER
Professor für Komparatistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Tübingen P R O F. D R .
MICHAEL WOHLGEMUTH
Geschäftsführender Forschungsreferent am Walter Eucken Institut in Freiburg i. Br. DIPL.-V W.
K ÄTE WOHLTMANN,
M. A.
Doktorandin an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen bei Prof. Dr. Jürgen Wertheimer
Peter M. Steiner / Luigi Galimberti Faussone (Hg.)
Übergänge und Lösungen Für eine Nachhaltige Mobilität der Zukunft Impulse. Villa Vigoni im Gespräch – Band 4
Angesichts einer weltweit wachsenden Mobilität und den damit verbundenen Problemen stellen sich drängende Fragen: Wie gelangen wir möglichst rasch zu einer nachhaltigen Mobilität, zu entscheidenden technischen Veränderungen, aber auch zu Veränderungen unseres eigenen Verhaltens, besonders im urbanen Raum? Welche Übergänge, welche Lösungen lassen sich heute bereits für die Weichenstellungen einer nachhaltigen Mobilität der Zukunft erkennen?
Peter M. Steiner / Luigi Galimberti Faussone (Hg.) Übergänge und Lösungen 2011. 156 Seiten mit 46 Abbildungen. Kart. ISBN 978-3-515-09885-4
Die Villa Vigoni hat zur Hannovermesse 2010 eine Podiumsdiskussion zum Thema der „Nachhaltigen Mobilität“ organisiert. Mit diesem Band werden die Tagungsbeiträge und darüber hinaus weitere Beiträge zu „Übergängen und Lösungen“ für eine nachhaltige Mobilität der Zukunft vorgelegt. .......................................................................................
Mit Beiträgen von Gregor Vogt-Spira , Peter M. Steiner / Axel Kuhn, Paola Belardini, Stephen Scuderi, Günther Bauer, Aldo Fumagalli Romario, Michael Jöckel / Holger Hanselka, Wolfgang Lohbeck, Gernot Spiegelberg, Christoph Vornholt / Tobias Hegmanns / Dominik Buss
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Christiano Lepratti / Günter Pfeifer / Guendalina Salimei (Hg.)
Permanente Charaktere nachhaltiger Architektur und Städtebau Visionen einer postfossilen Gesellschaft Impulse. Villa Vigoni im Gespräch – Band 5
Christiano Lepratti / Günter Pfeifer / Guendalina Salimei (Hg.) Permanente Charaktere nachhaltiger Architektur und Städtebau 2012. 118 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-10104-2
Wir benötigen Energie in sämtlichen Lebensbereichen – Haushalte verbrauchen riesige Mengen von Wasser und Strom, in unseren Städten ist ein Leben ohne Auto noch immer undenkbar. Doch die kritische Lage unseres Planeten zwingt Architekten und Stadtplaner, neue Wege zu gehen und gesellschaftlich Stellung zu beziehen. Ist unser Leben in hochtechnisierten Haushalten, in autogerechten Städten und verstädterten Landschaften noch zukunftsfähig? Von welchen Visionen müssen wir uns verabschieden und welche müssen wir ausbauen? Die Städte und Mobilität der Zukunft, die Bedeutung von Komfort sind einige der Herausforderungen, welche uns alle zunehmend beschäftigen werden. Die Beiträge dieses Bandes bieten Einblick in diese aktuellen Themen: Sie befassen sich mit neuen Szenarien einer kommenden postfossilen Gesellschaft, welche die fortschreitende globale Erderwärmung und den immer gravierender werdenden Ressourcenmangel bekämpfen muss. .......................................................................................
Mit Beiträgen von C. Lepratti, G. Pfeifer, A. Tersluisen, B. Stefanovska, S. Bein, R. Scheppat, V. Martinez, N. Trasi, G. Salimei, M. Pazzaglini, L. De Licio, V. Fabietti, G. Dell’Aquila, M. Ferrari
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Weltweit ist Wettbewerb ein beherrschender, wenn nicht der beherrschende Faktor. Die Vorstellungen von dem, was Wettbewerb bedeutet, sind aber nicht nur von Kultur zu Kultur verschieden; sie unterscheiden sich auch durch die Schauplätze, auf denen Wettbewerb herrscht: Sport, Wissenschaft,
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10171-4
9
783515 101714
Wirtschaft, Kultur. Einen Begriff von den unterschiedlichen Kulturen des Wettbewerbs – besonders in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und der Globalisierung – vermitteln die Beiträger in einer ebenso offenen wie kontrovers geführten Diskussion.