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German Pages 286 Year 2016
Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens
Urban Studies
Karsten Michael Drohsel (Dipl.-Ing. der Stadt- und Regionalplanung)
arbeitet als Projektentwickler und betreibt ein Büro für Stadtforschung, experimentelle Raumpraxis und urbane Bildung. Er ist Gründer der Mobilen Universität in Berlin und des Joseph Süss Oppenheimer-Archivs in Stuttgart. SEINE FORSCHUNGSSCHWERPUNKTE SIND SENSUELLER STÄDTEBAU, URBAN GAMING UND ERINNERUNGSKULTUR.
Karsten Michael Drohsel
Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – Ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse
Umschlagabbildung:
unter Verwendung des Bildes »La condition humaine« von René Magritte. Mit freundlicher Genehmigung von VG Bild Bonn
Layout & Satz:
Fine Heininger, Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Lektorat:
Ralf Sonnenberg, Berlin
Gesetzt in der
Scala LF von Martin Majoor und in der Myrad Pro von Robert Slimbach & Carol Twombly
Printed in Germany Print-ISBN
978-3-8376-3030-5
© 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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PDF-ISBN
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978-3-8394-3030-9 alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Erklärung zur sprachlichen Gleichbehandlung: In dieser Studie wird bei allgemeinen Personenbezeichnungen aus Gründen der Lesbarkeit durchgehend das grammatikalisch maskuline Genus verwendet. Personen anderen Geschlechts sind, falls nicht explizit anders dargestellt, immer eingeschlossen.
Diese Arbeit ist all denen gewidmet, die an mich geglaubt haben. Vor allem ist sie aber einem gewidmet, ohne den es diese Arbeit nicht gäbe. Danke!
Inhalt 10 Danksagung
79 Kollektives Gedächtnis
12 Vorwort
80 Soziales Gedächtnis
17 Autoren-Vorwort
86 Pathosformeln als
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Der Souveneur – EIN HANDLUNGSBEZOGENES ERINNERUNGSKONZEPT
24 Zwischen Imperfekt und Futur die Gegenwart finden 26 Auf bau des Buches 29 Anmerkungen zu den Quellen 32 Methodisierung
INNENWELT UND AUSSENWELT 40 Grundlagen zu »Erinnerung« und »Gedächtnis«
Gedächtnisspeicher 88 Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis 93 Von Bildung, Rahmung und Erhaltung der Erinnerungen
ERINNERUNGSKULTUR 100 Vom Gedächtnis zur Erinnerungspolitik 101 Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein 103 Erinnerungskultur 107 Erinnerungswürdigkeit 108 Perspektiven der
40 Ereignisbegriff
Erinnerung
46 Wahrnehmen
110 Renovierung der
47 Wahrnehmung und Erinnerung 49 Erinnerung als Reflex 50 Kognitive Fähigkeiten und kulturelle Konsequenzen 56 Zwischen Subjekt und Objekt – Dialektisches Sehen 58 Von selektiver Wahrnehmung und genereller Ableitung
Individuelles und kollektives Erinnern 67 Erinnern und Vergessen
Erinnerungskultur 116 Erinnerung als gegenwärtiger Prozess 118 Postmoderne Narrative 119 Legitimation qua Diskurs statt qua Diktat 120 Gedächtniskollektive 122 Von Geschichte und Narrativen sowie deren Legitimation
VERORTUNG 130 Verortung von Erinnerungen
69 Erinnerung im sozialen Kontext
131 Zeit-Raum und Raum-Zeit
76 Gedächtnis
133 Raum und Ort
77 Gedächtnistypen
134 Lieux de Mémoire
137 Veränderungsfähigkeit von Signifikaten 138 Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung 140 Orte und Räume als »Contested Terrain« 145 Erinnerungstopografien 146 Geschiche zufällig erfahren 148 Küstrin – Erinnerungsort!? 152 Vom Ereignis zur Demokratisie-
212 Von Konstellationen, Geschichte(n) und Narrativen
ERLEBEN, ARCHiViEREN, WEiTERGEBEN 222 Methodisierung des Souveneurs 224 Erster Teil – Was erfährt man durch das Gehen? 228 Zweiter Teil – Was erfährt man aus Quellen?
rung der Erinnerungstätigkeit
230 Dritter Teil – Ein
HANDLUNGSBEZUG
234 Zustand des Erinnerungsobjekts
160 Gehen, um zu verstehen 162 Raum sehen, erkennen und erleben 164 Raum und Wahrnehmung 170 Die Kunst des Handelns 173 Von der Denkbewegung zur leiblichen Raumpraxis
ERiNNERNDES GEHEN 180 Methodisierung des erinnernden Gehens
zufälliger Erinnerungsort 236 Die Politik der Erinnerung vs. Erinnerungspolitik 238 Das Erinnerungsobjekt als Ausgangspunkt 240 Baracke Görlitz – Eine Erinnerungstopografie 248 Über den zweiten Blick 252 Hidden Track: Und Paris?
SCHLUSSTEiL
181 Die Flanerie
258 Zusammenfassung
186 Unterschiedliche Formen
264 Fazit und Ausblick
der Flanerie 190 Stadtlektüre – Die Flanerie Franz Hessels 193 Geschichte verstehen – Flanieren mit Walter Benjamin 200 Verräumlichung der Erinnerung durch Denkbilder 202 Konstellationen schaffen 208 Wissensproduktion durch Gehen
QUELLEN- UND ABBiLDUNGSVERZEiCHNiS 270 Literaturverzeichnis 281 Zitate auf den Schmuckblättern 283 Abbildungsverzeichnis
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DANKSAGUNG Ohne viele gute Geister, die teils theoretisch, teils praktisch, jedenfalls immer aber pragmatisch und verständnisvoll beim Schreiben einer solchen Studie und nachgelagert einem solchen Buch helfen, ist ein solches Projekt nicht möglich. Aus diesem Grund möchte ich mich auf das Herzlichste bei allen meinen Helferinnen und Helfern, den Retterinnen und Rettern, allen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie Aktionärinnen und Aktionären bedanken. Ganz besonders aber bei Gabi Dolff-Bonekämper vom Bereich Denkmalpflege des Institutes für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, denn ohne ihre Geduld, ihren Glauben an den Erfolg dieses Projektes, ohne die Sisyphusarbeit unzähliger Gespräche und die guten Hinweise würde es die ganze Arbeit nicht geben. Auf eine ganz andere Art und Weise hat mich in der Vorbereitung, im Prozess, in allen Höhen, Tiefen und Untiefen Paul Lange begleitet. Ihm und seiner diskreten Hilfe gilt mein größter Dank, da es ohne ihn dieses Buch nicht gäbe. Neben diesen beiden gab es jedoch noch unzählige andere gute Geister, die mich unterstützt, mir geholfen, mich gestützt haben. Stellvertretend möchte ich mich besonders bei Elisa Bertuzzo für ihre Magisterarbeit, die ausführlichen Diskussionen zu Beginn der gesamten Arbeit und die freundliche Zurverfügungstellung des Begriffs »Souveneur« bedanken. Ferner bei Claus Baumann vom Philosophischen Institut der Universität Stuttgart für das bereitgestellte Material und die wertvollen Hinweise und Gedanken. Darüber hinaus für die Hilfe beim Finden eines Titels für die Publikation und die zwischenzeitlich entstandene Freundschaft.
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Die Retter in der tiefsten Not waren Maik Pechtold, dem ich für die schnelle und konstruktive Hilfe bei der Erstellung der Karten zur Erinnerungstopografie danken möchte und Fine Heininger für ihren Einsatz um das Projekt und Erfahrung im Umgang mit schwierigen Gestaltungs- und Formulierungsfragen. Auch den Mitarbeiterinnen vom transcript Verlag, vor allem aber Jennifer Niediek gilt mein Dank, da sie mich stets an die Hand genommen und mich aus vielen Abläufen elegant herausgehalten hat. Dank gebührt auch denen, die auf unterschiedliche Weise gegen das Projekt waren. Letztlich würde es das Buch, ohne den Ehrgeiz, den ich durch die Konfrontationen entwickeln musste, ebenfalls nicht geben. Wie so oft gibt es noch viele andere, die hier nicht namentlich genannt sind, aber auf ganz unterschiedliche Weise für mich da waren. Diesen Personen möchte ich ebenfalls aus tiefstem Herzen danken. Seid euch gewiss, für mich ist es keineswegs selbstverständlich, dass jemand Material schickt, Fragen beantwortet, Hinweise gibt oder stellvertretend Bücher termingerecht wieder in die Bibliothek zurückbringt. Zuletzt möchte ich mich aber bei meinem Freund Werner Pregler, dem Stadtsoundforscher und Ausschreitungsexperten, für endlose, nervenraubende, zu allem Überfluss noch terminierte Korrekturschleifen, die kritischen Fragen, die reflektierende Hilfe im Endspurt, das Ausleihen und Schenken von Büchern und Magazinen aus seinem Privatarchiv, die Begleitung nach Görlitz, den guten Wein und vor allem die Freundschaft, die über die gemeinsame Begeisterung für das Gehen in der Stadt entstanden ist, auf das Herzlichste bedanken.
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Vorwort Karsten Michael Drohsel, der Autor dieses Buches, ist ein leidenschaftlicher Stadtspaziergänger und Stadtforscher. Am Anfang aller Forschung steht für ihn das Gehen. Ohne vorgefassten Plan und ohne festgesetztes Ziel geht er durch Städte, lässt sich treiben, sieht und erkennt unterwegs, also stets in Bewegung, die Räume und Bauten der Stadt. Im Gehen, in der stetigen Veränderung der eigenen Position und Perspektive, erfährt er den urbanen Raum: das Gesuchte und das Unerwartete, die Fassaden und die Rückseiten, die Bauten und die Menschen, die Rhythmen und die Choreographien des öffentlichen Lebens in einer Stadt. Er entdeckt im Gegenwärtigen die Spuren und Reste des Gewesenen, selbst dort, wo nichts zu sehen ist. Er beobachtet Brüche und Leerstellen, notiert auf kommende Fragen, lässt sich von Anwohnern über Ereignisse berichten und geht den erzählten und auch den nicht erzählten Geschichten nach. Darüber schreibt er. Er ist kein Flaneur, denn sein Geschäft ist nicht der kultivierte urbane Müßig-Gang, wie er von Autoren wie Walter Benjamin, Georg Simmel oder Franz Hessel beschrieben bzw. behauptet wurde. Drohsel ist ein aktiver Entdecker und Übersetzer von Spuren der Vergangenheit und er hat eine neue Sozialfigur erfunden, die er auch selber verkörpert: den »Souveneur«. Der Souveneur hat mit dem Flaneur das Gehen gemeinsam, die ungeplante stetige Bewegung, die distanzierte Beobachterposition und vor allem die Fähigkeit und den Willen zur sinnlichen Erfahrung. Aber er forscht nach, ermittelt Fakten, recherchiert, interpretiert und gibt weiter. Ganz wesentlich für das Konzept der Weitergabe ist für ihn der jeweils ganz konkrete Raumbezug. Der Ort des Ereignisses, der Ort der Ereignisspur und der Ort der Erzählung sind gleichermaßen bedeutsam. Sie werden in der in der zukünftigen Erinnerung des Souveneurs und seiner Zuhörer mit dem Bericht verknüpft bleiben. Zur Verortung von Evokations- und Erinnerungsimpulsen kommt dem von Pierre Nora entwickelten Konzept der »Lieux de Mémoire« in der Geschichte der Erinnerungsforschung der vergangenen 30 Jahre ohne Frage eine Schlüsselrolle zu, indes lässt es ungeklärt, wie das Aufsuchen des
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Gabi DolffBonekämper, Berlin, den 20. 8. 2015
»Erinnerungsortes« persönlich erlebt wird, und wie zwischen der beim Besuch evozierten Erinnerung an Vorgewusstes und der logischerweise erst nach dem Besuch denkbaren zukünftigen Erinnerung an das dort erst Erfahrene zu differenzieren wäre. Daran schließt sich die Frage an, ob die zukünftige Erinnerung Dritter überhaupt beeinflusst werden kann oder sollte. Genau hier setzt Karsten Michael Drohsel an. Er tritt, als Souveneur, aus der Rolle des Beobachters heraus und wird selbst zum Akteur, zum Übermittler. Dabei bedenkt er, die Positionen des Wiener Historikers Moritz Csáky reflektierend, dass urbane Orte gewöhnlich mehrfach codiert sind, also stets mit mehreren möglichen Ereignisschichten und Segmenten zu rechnen ist, die mehrere Akteure und Übermittler auf den Plan rufen, wobei dem Souveneur zusätzlich die Rolle des Moderators zufällt. Und Drohsel bleibt nicht stehen, sondern geht weiter und weiter, zunächst ohne Vorwissen, auf neue Orte zu, entdeckt und begründet aus seiner Beobachtung topographische und semantische Bezüge, die möglicherweise vor ihm noch keiner so gesehen oder so benannt hat und greift mit Markierungen und Verweisen in lokale Diskurse ein. Genau hier führt ein Weg von der Erinnerungstheorie zur Praxis, dem eigentlichen Ziel den Autors und der von ihm erfundenen Figur des Souveneurs. Karsten Michael Drohsels Buch kann, mit seiner weit ausgreifenden und sorgfältigen Literaturrecherche, den kurzen und prägnanten Zusammenfassungen wichtiger Grundlagentexte und den stets aus eigener, wohlbegründeter Sicht entwickelten Urteilen selbst zu einem Grundlagenwerk der handlungsbezogenen und raumbezogenen Erinnerungsarbeit werden. Seine konzeptuellen Überlegungen zur Verknüpfung von Topographie, Raum, Substanz, Ereignis und Erinnerung, sowohl in der direkten Zeugenschaft als auch in den Momenten der Übermittlung, sind ebenso originell wir überzeugend. Und am Ende wird klar: Drohsel geht es sehr wohl darum, an konkreten Orten in konkreten Momenten die zukünftige Erinnerung Dritter zu beeinflussen, aber dies nicht aus höherer Deutungsgewissheit, sondern aus der Sicht eines anteilnehmenden Fremden, eines Übermittlers. Ob er damit bereits bestehende Erinnerungsgemeinschaften stützt oder sprengt oder neue begründet, kann sich nur im Handeln erweisen.
Sufjan Stevens
The Oracle said Wander
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Autoren-VORWORT Eine Stadt ist mehr als ihre bebauten und unbebauten Räume, ihre Natur, ihre Baukörper und Infrastrukturen. Eine Stadt ist auch ein riesiger Speicher an Gelebtem und Erlebtem, ein Kommunikationsraum, durchkreuzt durch und aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten. Viele Prozesse finden in ihr statt und unzählige Ereignisse existieren, leben, berühren, kreuzen und verbinden sich in ihr. Nicht wenige von ihnen sind raumwirksam. Einige beinhalten Zeichen und tragen vielfältige Spuren, andere sind und bleiben verborgen. Diese Spuren zeugen zum einen von der aktuellen Nutzung, tragen aber auch historische Ereignisse oder Verweise in sich. Allen gemein ist, dass sie Fragmente sind, aus denen sich die Stadt und deren Erzählungen sowie die Erzählungen über die Stadt konstituieren. Auf diese Weise ist eine Stadt verbunden mit den Menschen, die in ihr gelebt, gewirkt und diese Spuren hinterlassen haben. Ebenso wird sie geprägt durch die Menschen, die aktuell in ihr leben und zukünftig leben werden. Eine Stadt ist demnach ein stets lebendiger Körper, ein »Zeit-Raum«, der einschränkt, aber auch befreit. Sie hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft. Jede Stadt ist gekennzeichnet durch ihre spezifischen Eigenschaften und funktioniert nach eigenen Regeln, Tempi und Routinen. Um eine Stadt zu verstehen, braucht es Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit. Es bedarf einer Sensibilität für die Besonderheiten, für die Geschichte und die Gegenwart, ebenso wie für die Menschen und deren Alltag. Eine Stadt verändert sich permanent, weswegen sie auch als Prozess begriffen werden kann. Mit jedem Menschen, der in die Stadt kommt, bekommt die Stadt eine andere Farbe, einen anderen Geruch, Klang, eine andere Geschichte. Neue Erfahrungen kommen hinzu und alte verlieren an Relevanz, werden vergessen. Jeder, der sich in einer Stadt auf hält, trägt dazu bei, dass Wissen zirkuliert, dass Räume, Orte und Gegenstände eine Bedeutung gewinnen. Jeder, der über seine Erfahrung spricht, seine Erinnerung teilt, wird Teil eines Gedächtnisses, das aus diesen Momenten entsteht.
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Die gängigen Methoden der Stadtforschung und Statistik, die auch innerhalb der Stadtplanung und der Denkmalpflege Verwendung finden, können diese Dynamiken oftmals nicht fassen und daher auch nicht erfassen. Viele Erhebungen sind schnell obsolet, da sie sich an feststehenden Dingen und messbaren Prozessen orientieren. Sie beziehen sich häufig auf fixe Orte oder Zeitpunkte und können Dynamiken lediglich im Rekurs oder durch Errechnung von Differenzen zum Beispiel zwischen zwei Messungen ermitteln. Zwischenzeitlich sind aber viele Ereignisse vor sich gegangen, die auf diese Weise nur quantitativ, als Summenspiel, nicht aber qualitativ in eine Betrachtung eingehen. Es ergibt sich also die Herausforderung, ephemere Dinge wie Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedächtnisinhalte quantitativ zu fassen und diese gegenüber den anderen Daten in Wert zu setzen – also konkret Antworten unter anderem auf die Fragen: »Was ist die Erinnerung an den Ort meiner Kindheit wert?«, »Wie kann der Ort der Verschleppung meiner Großeltern durch die Nationalsozialisten auch für andere erlebbar gemacht werden?«, »Wie kann der Geruch oder der Klang der alten Turnhalle im Offizierscasino gefasst und erhalten werden?« geben zu können. Doch es fehlen konkrete Erfahrungen und Methoden, dieses flüchtige lokale Wissen zu fassen, entsprechend aufzubereiten und somit Erinnerungen zutage zu fördern und innerhalb eines Diskurses zu verhandeln. In der Folge spielen diese durchaus wichtigen identitätsbildenden Aspekte in nachgelagerten Prozessen, wie zum Beispiel in Planungsverfahren, häufig keine oder eine eher diffuse, untergeordnete Rolle. Die Kritik an gängigen Planungsprozessen soll hier aber nicht im Vordergrund stehen, sie war vielmehr Anlass zu einer Auseinandersetzung mit individuellen und gemeinschaftlichen Erinnerungen und ihrem jeweiligen Wert. Im Zuge dieser Auseinandersetzung habe ich mich, ohne dass ich es so benannt hätte, mit den Kernfragen der Denkmalpflege und mit kulturellen Wertbildungsprozessen beschäftigt. Es schien mir eine unabdingbare Notwendigkeit, die Geschichte den Prozessen der Gegenwart gegenüberzustellen und diese in Richtung einer
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Karsten Michael Drohsel, Zürich, den 21. 7. 2015
möglichen lokalen Zukunft abzuwägen. Oftmals stößt die Denkmalpflege mit ihren eigenen Methoden jedoch an ihre eigenen Grenzen – vor allem immer häufiger an die Grenzen der Vermittelbarkeit von schützenswerten Artefakten, wie uner anderem der Band »Werte. Begründungen der Denkmalpflege in Geschichte und Gegenwart« beschreibt. Die Autoren führen diesen Sachverhalt darauf zurück, dass denkmalpflegerische Werte zwar fachintern lebhaft diskutiert werden, ihre gesellschaftliche Akzeptanz aber unsicher geworden ist (vgl. Meier/Scheurmann/Sonne 2013, 8). Meine persönliche Annahme ist, dass die planerischen Formate und Disziplinen viele Menschen nicht mehr erreichen, da sie sich vom Alltagsgeschehen der Adressaten und der konkreten lokalen Relevanz entfernt haben, stattdessen »Metadiskurse« führen und die Vermittlung des Prozesses sowie seiner Ergebnisse vernachlässigen. Konkret fehlen also die Übersetzer, die die wichtigen Diskurse für die Adressaten handhabbar machen und einen Bezug zu ihrer Lebensrealität herstellen. Diese Übersetzer müssten dann gemeinsam mit den Adressaten einen Wertediskurs primär am, nicht über ein Objekt führen, was wiederum Formate erfordern würde, die es ermöglichen, das lokale Wissen, die Geschichte, Narrative und Erinnerungen aufzuspüren, zu sammeln, zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Für eine solche Erinnerungsarbeit bedarf es also eines Erinnerungskatalysators, der es anderen erlaubt, ihre eigenen Erinnerungen zu erfahren und an den Erinnerungen anderer teilzuhaben, diese zu erleben und aus ihnen eine eigene Erfahrung abzuleiten. Dieser Katalysator kann einen lokalen Erinnerungsprozess anstoßen und als Mittler oder Übersetzer einen Diskurs ermöglichen. Aus dieser Erkenntnis heraus soll im Rahmen der vorliegenden Studie und des in ihr enthaltenen Projektes eine Methode entwickelt werden, mit deren Hilfe das angesprochene ephemere lokale Wissen, die Erinnerungen und Gedächtnisinhalte sichtbar, dokumentierbar und verhandelbar gemacht werden können. Denn: Ohne Sichtbarkeit gehen viele dieser wunderbaren Erinnerungen unbeachtet verloren und werden manchmal absichtlich, oftmals aber unabsichtlich und womöglich für immer vernichtet.
Der Souveneur – Ein handlungsbezogenes Erinnerungskonzept
Florentina Hausknotz
»Stadt ist kein in beschreibbarer U ist immer etwas, Städte sind nicht verankert, sonde immer zu besond ten statt, sie hab
n seiner Totalität Umstand, Stadt s, das passiert. ht nur örtlich dern finden auch nderen Momenben ein Datum.«
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EiN HANDLUNGSBEZOGENES ERiNNERUNGSKONZEPT Wie nehmen wir die städtische Umwelt wahr und an was erinnern wir uns in der Stadt? Wie verändert sich unsere Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit, wenn wir den passiven Standpunkt der Betrachtung in einen aktiven verwandeln und umhergehen? Wie lässt sich ein Weg anhand von Erinnerungen rekonstruieren bzw. wie werden aus Erinnerungen zusammenhängende Wege? Und wie können diese Wege derart beschrieben werden, dass sie für andere Personen nachvollziehbar und verständlich werden? Wie können also Orte der Erinnerungen, die vielleicht sogar Gemeinschaft stiften und Empathie hervorrufen, aufgespürt, sichtbar gemacht, verknüpft und weitergegeben werden? Dies sind die zentralen Fragen, die am Anfang der Ausführungen zu dieser Studie stehen, der Anlas zu einer Untersuchung waren.
ZWiSCHEN iMPERFEKT UND FUTUR DiE GEGENWART FiNDEN Diese Studie widmet sich der Frage, ob und wie das Gehen in der Stadt als eine handlungsbezogene Erinnerungskultur methodisiert werden kann. Hierfür wird eine Sozialfigur – der Souveneur – geschaffen, mit deren Hilfe das urbane Gehen als leibliche Handlung beschrieben, untersucht und reflektiert werden kann. Ein Souveneur ist ein sich selbst und andere erinnernder Flaneur, der durch die Stadt streift, Erinnerungsspuren sucht und diese beschreibt, der anschließend Ereignisse und Geschichte(n) recherchiert, Gespräche führt und dazu einlädt, mit ihm zu spazieren. Die Idee hinter der Figur des Souveneurs ist, über einen Katalysator Themen, Orte und Gegenstände zu ermitteln, an denen sich Erinnerungen festmachen, die lesbare Spuren oder Geschichten besitzen. Die Orte, die sich mit den Erinnerungen verbinden bzw. an
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die Erinnerungen gebunden sind, sollen im Stadtraum verortet und als ein Erinnerungsnetzwerk organisiert werden, um andere Personen über sie in Kenntnis zu setzen und somit einen Diskurs über lokale Erinnerung zu initiieren. Über diese Erinnerungsarbeit soll eine lebendige und unmittelbare Erinnerungskultur geschaffen werden, die Menschen über gemeinsame Erlebnisse oder einen gemeinsam geteilten Erinnerungsraum zusammenbringt, Ereignisse vergegenwärtigt und somit einen Bezugspunkt schafft, aus dem eine mögliche individuelle oder kollektive Zukunft denk- und generierbar wird. Durch seine raum- und sozialpsychologische Perspektive ermöglicht der Souveneur Einsichten in Orte und Räume, die den flüchtigen Blicken der Passanten für gewöhnlich verborgen bleiben. Er hebt sich somit von den klassischen Flaneuren ab, die die Flanerie ausschließlich als intellektuellen Zeitvertreib pflegten, ohne irgendeinen Zweck damit zu verfolgen. Die Flanerie dient ihm als eine Möglichkeit, sich in das Erinnerungsgeflecht eines städtischen Kontextes zu begeben und auf Spurensuche zu gehen. Dies aber nicht zum Selbstzweck, sondern mit dem Ziel, einen Kenntnisschatz lokaler Erinnerungsspuren, Verweis- und Gedächtnisorte aufzubauen. Dieser Kenntnisschatz wird auf unterschiedliche Weise dokumentiert und zur Verfügung gestellt und soll anschließend in einen lokalen Erinnerungsdiskurs führen. Auf diese Weise werden die (Ge-) Schichten der Stadt und die Rolle, die sie im Alltag der Menschen spielen, sichtbar, vermittel- und verhandelbar. Durch die Methodisierung des Gehens zu Erinnerungszwecken und der Weitergabe des daraus resultierenden Wissens sollen neue kultursoziologische Sichtweisen auf klassische Felder und Betrachtungsgegenstände der Stadt- und Regionalplanung ermöglicht werden. Sie soll eine Erweiterung des Repertoires gängiger Erfassungs- und Dokumentationsmethoden der Stadtforschung und Denkmalpflege bilden und darüber hinaus dazu einladen, sich den konkreten Orten, den Menschen und
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Geschichten einer Stadt zu öffnen, diese zu rezipieren und weiterzugeben.
AUFBAU DES BUCHES Diese Studie ist das Ergebnis der Reflexion einer langen Geh- und Erinnerungspraxis, die über die Auseinandersetzung mit Erinnerungs- und Gedächtnisbegriffen sowie Texten über unterschiedliche Formen des Gehens in der Stadt theoretisiert wurde. Über die Reflexion des eigenen Gehens wurden die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse gespiegelt und um Studien an der Schnittstelle zwischen künstlerischer Praxis und Stadtwahrnehmung ergänzt. Ein eigens entworfenes und durchgeführtes Praxisprojekt führt die wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb der Feldarbeit zusammen und erlaubt eine Reflexion sowohl der Erkenntnisse, die daraus entspringen, als auch der Möglichkeiten, die das sich selbst und andere erinnernde Gehen für die Denkmalpflege sowie planerisch relevante Diskurse bietet. Der wissenschaftliche Komplex ist in mehrere Teile gegliedert, die chronologisch aufeinander auf bauen. An unterschiedlichen Stellen innerhalb der Studie sind Verweise und Rückbezüge eingestreut. In einigen Fällen wurden Inhalte um Fußnoten ergänzt oder präzisiert. Die Zitierweise folgt dem sogenannten Harvard-Modell mit Namen des Autors bzw. der Autorin, Herausgabejahr und Seitenangabe. Zwischen den Kapiteln und innerhalb der Texte sind an manchen Stellen sogenannte »Schmuckblätter« eingefügt. Dabei handelt es sich um grafisch aufbereitete Zitate, die mit dem vorangegangenen oder dem folgenden Textteil in Zusammenhang stehen, diesen zusammenfassen, einleiten oder schlicht zur Abschweifung einladen. Sie sind der Versuch, das Wesen und die Potenziale des Gehens im Rahmen einer Publikation einzuführen und die sehr eigene
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assoziative Kraft des Gehens, vor allem aber die des Flanierens, erlebbar zu machen. Der mit »Innenwelt und Außenwelt« betitelte erste Teil bereitet über die Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit sowie die verschiedenen Gedächtnisbegriffe eine Grundlage für ein auf die gängigen Methoden der Stadtforschung auf bauendes Erinnerungsformat vor. Hier werden biologisch-kognitive und kulturelle Prozesse des Erinnerns abgegrenzt und Begriffe wie »kollektives«, »soziales« und »kulturelles Gedächtnis« erläutert. Die Kenntnis der Zusammenhänge von Erinnern und Vergessen sowie der sozialen Rahmung von Erinnerung ist notwendig, um zum einen die Wichtigkeit der Erinnerung für die individuelle Identitätsbildung und zum anderen deren politische Dimension zu verstehen. Generell kann das Verhältnis zwischen den beiden Polen »Individuum« und »Kollektiv« als die Ausprägung einer Kultur betrachtet werden, die von einer Gruppe ausgeht und diese selbst sowie die in ihr versammelten Individuen anspricht, deren Denken und Erinnern beeinflusst und auf diese Weise sichtbar und erlebbar wird. In diesem Zusammenhang soll die Verantwortung, die an die Erinnerungsarbeit geknüpft ist, herausgearbeitet werden. Die gewonnene Erkenntnis bildet den Übergang zum zweiten Teil der Studie »Erinnerungskultur«, der sich mit der politischen Dimension von Erinnerung beschäftigt. Die zentralen Fragen sind sowohl Fragen nach der individuellen und kollektiven Erinnerungskultur als auch den Perspektiven der Erinnerung – also konkret nach Erinnerungsinhalten, ihrer Form und Materialisierung sowie deren Diskurspotenzialen. Zudem werden Fragen zu den Trägern des Gedächtnisses behandelt und der Begriff der »Gedächtniskollektive« dem des »Kollektiven Gedächtnisses« gegenübergestellt. Der dritte Teil setzt sich mit den vornehmlich unbeweglichen Objekten auseinander, an welchen sich Erinnerungen festmachen können. Hierfür sollen Konzepte und Projekte der Verortung von Erinnerungen sowie eine Auswahl der konstituierenden Diskurse beschrieben und erläutert werden. Unter
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den vorab erläuterten Gesichtspunkten zur politischen Dimension der Erinnerung und der daraus resultierenden Verantwortung für ihre Inhalte sowie deren Repräsentation stehen die Materialisierbarkeit von Erinnerungen und die Forderung nach einer Demokratisierung der Erinnerungskultur im Zentrum. Um Erinnerungen in der Stadt, an Bauwerken, Orten und in Räumen aufzuspüren und sichtbar zu machen, bedarf es eines Bezugs zu einer Handlung, spezieller einer Bewegungsart, die eine aktive Erinnerungsarbeit ermöglicht. Der folgende Teil des Buches greift diesen Handlungsbezug unter dem Motto »Gehen, um zu verstehen« auf. Für das Gehen als Bewegungsform sprechen mehrere Gründe, vor allem, dass das Gehen als die egalitärste Fortbewegungsart bezeichnet werden kann und spezialisierte Formen des Gehens – wie noch zu zeigen sein wird – bereits explizit zur Erinnerungsarbeit genutzt wurden. Auf Basis der eigens gewonnenen Erkenntnisse sowie auf Grundlage von Arbeiten mehrerer Theoretiker und Praktiker wird eine Methodisierung des erinnernden Gehens abgeleitet, die im Kern auf den Schriften Franz Hessels, Walter Benjamins und der als »Urbanografien« benannten Methodisierung von Elke Krasny beruht. Dieser Teil bildet somit die Grundlage für den anschließenden Projektteil, in welchem eine neue Form der handlungsbezogenen Erinnerungsarbeit geschaffen sowie die Sozialfigur des Souveneurs eingeführt wird. Ein Beispiel einer solchen Erinnerungsarbeit des Souveneurs wurde in einem Praxisprojekt realisiert. Hierfür reiste ich selbst mehrfach nach Görlitz/Zgorzelec und absolvierte dort, in der Rolle des Souveneurs, mehrere Begehungen. Ziel war es erinnerungsrelevante Orte ausfindig zu machen, diese zu verorten, zu kennzeichnen, zu veröffentlichen, zu archivieren und in einen Diskurs zu überführen. Zufällig fand in Görlitz zu dieser Zeit ein Erinnerungs- und Aufarbeitungsdiskurs statt, in den ich mich in der Rolle eines Souveneurs einbringen konnte.
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Die Ergebnisse dieser Studie sollen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit erinnerungsrelevanten Orten eröffnen, die es sowohl Individuen als auch Kollektiven erlauben, ihre persönlichen Erinnerungen zu verorten und sich über diese auszutauschen. Es soll dazu angeregt werden, einen lokalen Erinnerungsspeicher anzulegen und zu pflegen, damit wertvolle Erinnerungen nicht unbeachtet verlorengehen und auch andere daran teilhaben und darauf zurückgreifen können.
ANMERKUNGEN ZU DEN QUELLEN Zur Erinnerungsarbeit wurde bis heute viel publiziert. Aus ganz unterschiedlichen Richtungen nähern sich verschiedene Autoren den Themenfeldern »Ereignis«, »Wahrnehmung«, »Gedächtnis« und »Erinnerung« an. Ebenso vielschichtig wie diese Herangehensweisen sind auch die Impulse, die in die vorliegende Studie eingeflossen sind. So finden sich neben Texten aus der Geschichtswissenschaft auch solche aus der Neurologie, den Kunst- und Kulturwissenschaften, der Philosophie, Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, der Erinnerungsforschung und der Literatur. Einige Texte werden als Querverweise genutzt, die die Kerntexte der relevantesten Autoren ergänzen sollen, diese in eine weiter gefasste Betrachtung überführen oder schlicht das eigene Denken auf Umwegen zu einem Ziel führen. Schwieriger ist es, die Quellenlage zum »Erinnernden Gehen« in der Stadt zu bewerten. Denn neben dem soziologischen Kerntext »Über das Gehen in der Stadt« von Michel de Certeau gibt es wenige Quellen, die sich direkt auf den Akt des Gehens selbst und dessen wahrnehmungsrelevante Komponenten in Bezug auf Stadt und Erinnerung beziehen. Noch schwieriger
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war es, explizite Quellen zu finden, die sich mit dem erinnernden Gehen als bewusstem Akt der Bewegung zur Erschließung städtischer Umwelt und der Sichtbarmachung historischer Spuren auseinandersetzen. Zwei Quellen, die hierfür am ehesten geeignet scheinen, sind das »Passagenwerk« Walter Benjamins sowie das Buch »Im Raume lesen wir die Zeit« des Historikers Karl Schlögel. Problematisch ist jedoch, dass beide Autoren retrospektiv über individuell gemachte Erfahrungen ohne festgelegte Methodisierungen berichten. Darüber hinaus existieren zwar viele Quellen über die Flanerie, das Flanieren und die Figur des Flaneurs, aber nahezu keine hinlänglichen Quellen über die Nutzung der Flanerie für eine aktive Erinnerungsarbeit. Dies ist auf das Wesen der klassischen Flanerie zurückzuführen, explizit keinen direkten Zweck zu verfolgen und somit auch keine Erinnerungsarbeit zu leisten. Die Quellen der Autoren stellen demnach lediglich ein Abbild der damaligen Gegenwart dar und werden heutzutage primär als historisches Erinnerungsmaterial gelesen und gedeutet. Einzig der Historiker, Philosoph und Flaneur Walter Benjamin erkannte das Potenzial der Flanerie für die Erinnerungsarbeit im Kontext seiner Geschichtstheorie und begann, diese zu methodisieren. Die aus seiner Arbeit resultierenden Texte sollten nicht, wie bei den klassischen Flaneuren oder den später aufkommenden Flaneuren des Feuilletons, die damalige Gegenwart abbilden, sondern waren von Beginn an als neue Form der Geschichtsphilosophie angelegt, was Benjamins Texte für die hier untersuchte Fragestellung in besonderem Maße qualifiziert. Das »Selbst-Erinnern« und die damit einhergehende Möglichkeit des Aufbaus von Wissen, um an das Erinnern anderer zu gelangen, kann somit aus den gängigen Texten nur mittelbar herausgelesen oder durch Konsultation weiterer Sekundärquellen angenommen werden. Aus diesem Grund wurden für die hier vorliegende Studie vor allem historische Sekundärtexte ausgewertet und um wissenschaftliche Arbeiten, wie zum Beispiel die Magisterarbeit der Literaturwissenschaftlerin Elisa Bertuzzo, die sich mit dem Ende der
31 1 | Aus ihnen kann zwar im Rekurs eine Methode abgeleitet werden, wobei diese dann aber aus dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der Lesenden und deren Gegenwart entspringt.
Flanerie durch die Erinnerungsarbeit Walter Benjamins auseinandersetzt, ergänzt. Da sich momentan ein Trend zur kognitiven und sensuellen Erinnerungsarbeit abzeichnet, die zwischenzeitlich auch den nicht primär mit Erinnerungskultur befassten Wissenschaftsbetrieb erreicht hat, fließen Ergebnisse aus Studienprojekten, zum Beispiel des Instituts für Stadt- und Regionalplanung (ISR) der Technischen Universität Berlin (TU Berlin), ebenso in die Arbeit ein wie Teile aus weiteren Projekt- und Abschlussarbeiten anderer Universitäten. Vor allem die Texte und betreuten Studienprojekte von Professorin Gabi Dolff-Bonekämper leisten einen wertvollen Beitrag zur Betrachtung von Erinnerungsorten und zur Methodisierung der Erinnerungsarbeit, insbesondere in Bezug auf die Weitergabe von Erinnerungen. Aus diesem Grund sind den genannten Arbeiten mehrere Unterkapitel gewidmet. Doch kann eine Auseinandersetzung mit dem Gehen nicht gänzlich ohne Dokumente der großen Flaneure erfolgen, deren Texte mittlerweile selbst erinnerungsrelevant geworden sind – schlicht aus dem Grunde, da die Welt, die sie beschrieben haben, nicht mehr existent ist bzw. lediglich in Spuren oder Konsequenzen aufscheint, die in der Stadt verstreut auf ihre Entdeckung warten. Diese Texte zählen jedoch gemeinhin zur Literatur, weshalb sie in einer wissenschaftlichen Studie in einem primär technischen Fach wie der Stadt- und Regionalplanung, in dem die Studie geschrieben wurde, kritisch zu betrachten sind – insbesondere, da sie in der Regel keiner genau beschriebenen Methode folgen und die Arbeitsschritte oder gar die Ergebnisse nur schwer reproduzierbar sind.1 Dennoch dienen sie wichtigen Zwecken: Zum einen geben sie konkrete räumliche Hinweise, zum anderen lassen sie über die Biografien der Autoren Rückschlüsse auf ihre Entstehung und Bedingungen zu. Aus den daraus resultierenden Erkenntnissen können wiederum Sichtweisen und individuelle Strategien abgeleitet werden, die Einfluss nehmen können auf die Konstruktion der Methoden des Souveneurs.
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METHODiSiERUNG Eine Studie über das Gehen muss zwingend eine Studie über Zeiten, Orte und die Verbindung dieser Phänomene, die Wege, sein. Somit ist eine solche Studie auch immer eine Studie der jeweiligen Gegenteile, wie Zeitlosigkeit, Unorte und Umwege. Vor allem letztere machen das besondere Potenzial des Flanierens aus und eröffnen einen Blick auf Orte, Räume und die zurückgelegten Wege. Wie im vorangegangenen Unterkapitel bereits angesprochen, musste hier eine Methodisierung, die wissenschaftlichen Maßstäben gerecht werden kann, primär aus Texten erarbeitet werden, die selbst keine wissenschaftlichen Quellen sind. Dies erfordert ein hohes Maß an praktischer Arbeit, um aus diesen Texten eine Vorgehensweise ableiten zu können. So folgte die Methodisierung permanent einer Doppelbewegung zwischen theoretischem Arbeiten und praktischem Versuch, was zum Beispiel durch die mehrfachen Aufenthalte in Görlitz unter jeweils unterschiedlichen Fragestellungen deutlich wird. Als »Serendipity« kann der Fund der »Urbanografien« Elke Krasnys bewertet werden. Krasny kritisiert, gestützt unter anderem auf de Certeau, bestehende Machtverhältnisse, die durch Planung im Raum manifestiert würden. Um diese zu untersuchen und mit Betroffenen zu reflektieren, entwickelte sie verschiedene Konzepte, die das Gehen als Methode zur Ermittlung lokalen Wissens, lokaler Geschichten und Erinnerungen einführt. Unter mehreren Fragestellungen forschte sie weltweit und verfeinerte ihre Methode stetig. Obwohl Krasny mit den »Urbanografien« primär einen anderen Zweck verfolgt, ist ihre Methodisierung für die vorliegende Untersuchung ein zentraler Baustein, der gemeinsam mit den hier erarbeiteten Ergebnissen zur Wahrnehmung, Erinnerung, zum Gedächtnis sowie zur kulturellen und politischen Dimension reflektiert wird. Besonderen Einfluss nehmen auch die Konzepte von Gabi Dolff-Bonekämper, Moritz Csáky, Dolores Hayden sowie Gedanken aus den Schriften von Michel de Certeau, Franz Hessel und Walter Benjamin.
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Im Anhang, der über die Internetseite des Transkript Verlags downloadbar ist, finden sich Texte über die Aneignung verschiedener Wegstrecken und Themen in Görlitz, die die Studie ergänzen und erweitern sollen. Aus ihnen werden maßgebliche Potenziale des Gehens abgeleitet und retrospektiv Teile der Methodisierung verifiziert oder falsifiziert. Sie wurden von einer Person geschrieben, die in ihrer Funktion als »Souveneur« bezeichnet wird. Der Souveneur unternahm mehrere Flanier- und Spaziergänge in Görlitz, wobei es in einem ersten methodischen Ansatz darum ging, ohne konkretes Ziel, ohne eine Vorstellung oder Erwartung in einer nahezu unbekannten Stadt unterwegs zu sein und deren Einflüsse auf sich wirken zu lassen. Gehend notierte er, was und wer ihm begegnete. Später wurden die Notizen und Feststellungen anhand einer ausführlichen Recherche ergänzt und »die Verfertigung der Gedanken im Gehen« (Glasmeier 1990, 296 ff.) durch die umfassende Dokumentation und Veröffentlichung der Selbstreflexion während des Gehens und nach dem Gehen sicht- und nachvollziehbar aufbereitet. Die Erkenntnisse aus der theoretischen, künstlerischen und praktischen Auseinandersetzung mit Erinnerungs- und Gedächtniskultur werden anschließend in der Konstruktion des handlungsbezogenen Erinnerungskonzepts angewendet. Hierdurch wird ein Vorschlag formuliert, wie eine aktuelle Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Erinnerungen in einem bestimmten örtlichen und räumlichen Rahmen sowie deren Sammlung, Aufbereitung und Bewahrung organisiert werden könnten. Das Verständnis von Bewahrung im Sinne der Studie bezieht sich jedoch nicht allein auf die Sichtbarmachung, Kennzeichnung und Konservierung der Erinnerungen und der Orte, an denen sie sich manifestieren, sondern zielt primär auf einen aktiven Diskurs, um den Wert und die Relevanz der Vergangenheit für die Zukunft in einem Rahmen der erweiterten Öffentlichkeit zu ermitteln. Ziel ist die aktive Weitergabe von Erfahrungen und Erkenntnissen an andere Personen und eine mögliche Übersetzung in andere Medien,
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wofür zum Beispiel das Internet eine breite Palette an Möglichkeiten bietet. Der Vorschlag einer handlungsbezogenen Erinnerungskultur möchte somit einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Erinnerns leisten, die primär durch die aktiv an einem Diskurs teilnehmenden Personen und nicht ausschließlich durch passive Medien lebendig bleibt. Besonders die Bewohnerschaft eines Erinnerungsraums soll mit dem Konzept angesprochen und in einen Erinnerungsdiskurs eingebunden werden. Auf diese Weise sollen individuelle gegenüber kollektiven Erinnerungen in Wert gesetzt werden und somit in urbanen Prozessen Berücksichtigung finden können.
INNENWELT UND AUSSENWELT
Shelley Sacks
»Ereignisse treffen uns zu und wir versuchen wir fühlen sie, bewerte in uns und dadurch we nissen; wir leben mit i ohne unser Wissen, lan gen; aus der Fülle dies formen wir, ohne es zu des Lebens unsere Leb Engagement.«
ns, kommen auf uns n sie zu verstehen; rten sie, bewegen sie werden sie zu Erlebt ihnen und sie reifen, angsam zu Erfahruneser Erfahrungen zu wissen, im Laufe ebenswelt und unser
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GRUNDLAGEN ZU »ERiNNERUNG« UND »GEDÄCHTNiS« Die Vergangenheit wirkt unweigerlich in die Gegenwart hinein. Individuelle und kollektive Handlungen werden bestimmt von Erfahrungen aus den zurückgelegten Zeiten. Geschichte entsteht durch die chronologische Schichtung und inhaltliche Gruppierung von Ereignissen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort vor sich gegangen sind. Diese Ereignisse hinterlassen Spuren, die sichtbar sind bzw. sichtbar gemacht werden können. In Vorbereitung auf das Kapitel »Gedächtnis« (S. 76) und aufgrund der unter anderem von Maurice Halbwachs vertretenen Annahme, dass alle geistigen Vorgänge mit Erinnerungen zusammenhängen, wie die Denkmalpflegerin Anke Binnewerg schreibt (vgl. Meier/Scheurmann/Sonne 2013, S. 90 f.), sollen in den folgenden Kapiteln die Begriffe »Ereignis«, »Wahrnehmung«, »Erinnerung« und »Gedächtnis« erläutert und auf die Bedingungen ihrer Konstitution sowie ihrer Speicherungsmöglichkeiten hin untersucht werden. Hierfür soll versucht werden, über einen Einstieg in die neuronale Wahrnehmungsfähigkeit und die nachgelagerte Erinnerungs- und Auffassungsfähigkeit des Individuums zur kulturellen Dimension des Wahrnehmens und zum kollektiven Erinnern zu gelangen. Im weiteren Verlauf werden dann die gängigen Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte vorgestellt, die in einem Folgeschritt mit den dazugehörigen Ereignis- und Erinnerungsorten verbunden werden sollen. Hieraus soll dann die Grundlage für die Konstruktion einer handlungsbezogenen Erinnerungskultur geschaffen werden.
EREiGNiSBEGRiFF Als Ereignis gilt gemeinhin ein tatsächlicher Moment, in dem sich etwas ereignet hat und dessen jemand
41 2 | Hier soll lediglich auf die umfassende Diskussion der Semiotik verwiesen werden, in der die Sprache als Hilfskonstruktion zur Formulierung eines eigenen Denkmodells herangezogen wird. Siehe hierzu unter anderem die Arbeit »Die Straße, die Dinge und die Zeichen« von Eva Reblin 2012, 91 ff.
Zeuge geworden ist, aber auch eine feststellbare Veränderung, die im Nachhinein auf ein Ereignis zurückzuführen ist. Ereignisse finden an einem geografisch bestimmbaren Ort statt und werden nach Graden unterschieden: Ein Ereignis ersten Grades wird von einem Zeitzeugen direkt erlebt. Wird dieses Ereignis, etwa durch eine Erzählung, von einer zweiten Person nacherlebt, so handelt es sich um ein Ereignis zweiten Grades. Das bedeutet, dass ein Ereignis nur für diejenige Person eine konkrete Erinnerung ist, die dieses aktiv miterlebt hat. Die Erinnerung an ein Ereignis kann von Person zu Person weitergegeben werden, was der Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin Gabi Dolff-Bonekämper zufolge ebenfalls als Ereignis zu begreifen ist (vgl. Dolff-Bonekämper 2007, 65). Zentral für die Betrachtungsweise des Ereignisses zweiten Grades im Rahmen dieser Studie sind zum einen eine Aussage aus der Ereignistheorie des Philosophen Jaques Derrida, in der dem Sprechakt eine wesentliche Bedeutung zukommt, nämlich »durch das Sprechen sich etwas ereignen zu lassen« (Derrida 2003, 24), und zum anderen ein Text, den Dolff-Bonekämper unter dem Titel »Memorable Moments – Chosen Cultural Affiliations« verfasst hat. Die Aussage Derridas weist darauf hin, dass das Ereignis allein nicht existieren kann, sondern erst durch den Sprechakt entsteht und somit, wie es der Philosoph Gilles Deleuze präzisiert, »wesentlich zur Sprache [gehört], es steht in einer wesentlichen Beziehung zur Sprache« (Deleuze 1993, 41).2 Ein Ereignis ist vielschichtig auslesbar und somit von Beginn an Deutungen unterlegen. Insofern ist, so stellt der Philosoph Bernhard Waldenfels fest, in einem Ereignis immer mehr enthalten als das, was über ein Ereignis zu sagen wäre, denn »was sich zeigt, deckt sich niemals völlig mit dem, was darüber zu sagen ist« (Waldenfels 2004, 31). Dolff-Bonekämper prägte für die Übermittlung eines Ereignisses den Begriff der »Memorable Moments«: Indem einer am ursprünglichen Ereignis nicht beteiligten Person von diesem Geschehen erzählt wird, kann sie im Nachhinein daran beteiligt werden
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und sich fortan an die Übergabe der Erinnerung im Sinne eines eigenen Ereignisses erinnern:
3 | Dieser Umstand
»First, the content, story and opinion has to be told, listened to and learned. It will then be remembered, embedded into and coloured by the personal recollections of the outward conditions and innermost emotions of the learning experience. The experience of learning – which I call the ›memorable moment‹ – becomes the starting point for another person’s future memory. Thus people who have never witnessed a past event, either because they lived elsewhere or were not yet born, become witnesses, not of the event, but on their own learning experience«
fachcodierung von
andergesetzt, was auf
(Dolff-Bonekämper 2011a, 143).
S. 137 ausgeführt wird.
verweist auch auf die Möglichkeit der Mehr-
Es kann also festgestellt werden, dass Ereignisse an Sprache und Sprachfähigkeit gekoppelt sind und im Wesentlichen von der Wahrnehmungsfähigkeit bzw. der individuellen Erfahrung der Zeugen abhängen. Diese Fähigkeiten entscheiden darüber, was als Ereignis wahrgenommen und wie es übermittelt wird. Die Übermittlung eines Ereignisses bzw. einer Erinnerung richtet sich danach, was die Betrachtenden zu sprechen und zu beschreiben imstande sind, und – wie noch zu zeigen sein wird – danach, welche Erfahrung bzw. Kenntnis die Rezipienten haben, ob und wie diese sich ein Objekt, an dem oder durch das sich ein Ereignis zeigt, aneignen und dadurch zu einem Ding machen können oder nicht.3 Jedes Individuum erlebt Ereignisse höchst subjektiv, was eine eindeutige und objektive Erinnerung mehrerer Personen, die sich an ein und dasselbe Ereignis erinnern, unmöglich macht (vgl. Koselleck 2010, 16 ff.). Insofern ist davon auszugehen, dass sowohl die eigene Aneignung von Ereignissen als auch die Aneignung durch weitere Personen Deutungen unterliegen. Dies liegt zum einen in den materiellen Spuren eines Erinnerungsortes und deren individueller Kenntnis sowie im Grad der Erinnerung, der individuellen Erfahrung und dadurch auch der individuellen Betroffenheit an dem Ereignis begründet. Somit ist für einen Diskurs nicht zwingend wichtig, welche Person sich woran
Gegenständen oder Dingen. Im Sinne der vorliegenden Studie hat sich unter anderem Moritz Csáky mit Mehrfachcodierungen von Raumobjekten ausein-
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erinnert, sondern wie sie es auf welcher Grundlage tut und welchen Wert sie der Erinnerung beimisst. Um den Akt der Wahrnehmung und Erinnerung zu verdeutlichen, soll im Folgenden zunächst der kognitive Akt der Wahrnehmung erschlossen werden. Der Einstieg in die konkrete neuronale Wahrnehmungsfähigkeit und die nachgelagerte Erinnerungs- und Auffassungsfähigkeit des Individuums sowie die kulturelle Dimension des Wahrnehmens soll die Vorarbeit zum abstrakten Konzept des Erinnerns einer Gemeinschaft leisten.
Johanna Rolshoven
»Was wir sehen, i eine Frage des B nicht der Tatsach
, ist zweifellos Bemerkens und hen.«
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WAHRNEHMEN Die sinnliche, körperliche und geistige Wahrnehmung ist »das Eingangstor der Welterfahrung« (Schäfer 2011, 147), wie der Humanwissenschaftler und Pädagoge Gerd E. Schäfer in seiner Publikation zur frühkindlichen Entwicklung feststellt. Sie ist ein psychophysischer Prozess, der von klein auf erst haptisch und kurz darauf kognitiv und sozial geprägt ist.
4 | Im Rahmen dieser Studie soll vornehmlich der visuelle Sinn behandelt werden. So ist in der Regel unter Wahrnehmung das visuell-kognitive Wahrnehmen zu verstehen.
»Nur in diesem kooperativen und verständigungsorientierten Tun kommt es zur Ausbildung sinnlicher Fähigkeiten, zu Gewichtungen und Umgewichtungen dieser Fähigkeiten, sodass das praktische Tun neben Arbeitsverhältnissen, zweckrational-instrumentellen und sprachlich-diskursiven Handlungen auch die Ausbildung sinnlicher Verhältnisse umfasst, in denen wir uns wahrnehmend (hörend, fühlend, Stimmungen, Gefühle ausdrückend und erfahrend) in der Welt bewegen und uns miteinander über unsere Weltverhältnisse verständigen«
(Weingarten 2003, 7).
5 | Wobei es in Bezug auf die Wahrnehmung wichtig ist, zwischen der reinen Sinneswahrnehmung und dem ästhetischen Wahrnehmen zu unterscheiden: »Für ästhetisches Denken sind gerade Wahrnehmungen ausschlag-
In seinem Buch »Wahrnehmen« schreibt der Philosoph Michael Weingarten im Rückbezug auf das Wörterbuch zur Kognitionswissenschaft, »daß ein Mensch all das wahrnimmt, wovon er durch seine Sinne Kenntnis erlangt« (Weingarten 2003, 10). Diese Aussage verweist zum einen auf das »Wahrnehmen«, verstanden als eine praktisch-sinnliche Tätigkeit, was das Vorhandensein von Sinnesorganen voraussetzt, und zum anderen auf die »Beziehung der Wahrnehmung zu den Sinnen«4 (Weingarten 2003, 10). Schäfer hingegen fasst den Prozess der Wahrnehmung als »breit angelegten, inneren Verarbeitungsprozess, an dem die Sinnesorgane, der Körper, Gefühle, Denken und Erinnerung beteiligt sind«, zusammen. Ihm zufolge gibt es »kein Wahrnehmen als einfaches Abbilden der Außenwelt. Wahrnehmen ist Wählen, handelndes Strukturieren, Bewerten, Erinnern und sachliches Denken in einem« (Schäfer 2011, 147).
gebend, die nicht bloße Sinneswahrnehmungen sind. ›Wahrnehmung‹ ist hier vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weitreichenden Sinn von ›Gewahr werden‹ zu verstehen. Dieser bezieht sich auf ein Erfassen von Sachverhalten, das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden ist. Derlei Wahrnehmung ist wörtlich als ›Wahr-Nehmung‹ aufzufassen, hat den Charakter von Einsicht« (Welsch 1990
Eine Wahrnehmung zu haben heißt demnach, einen sinnlichen Impuls zu erleben und infolgedessen den
51, zitiert nach Weißhaar 2010, 76). Kurzge-
47 fasst bedeutet Wahrnehmung in Bezug auf diese Studie zum einen Wahrnehmung als Sinneseindruck und zum anderen Wahrnehmung als ästhetisches Konzept, über das Beziehungen zwischen den Dingen und
eigenen Fokus auf eine bestimmte Sache zu lenken und diese für wahr, also als existent, zu nehmen sowie eine Auswahl zu treffen. Folglich kann gelten, dass für eine Person nur das »wahr« ist, was wahrgenommen wurde oder wird.5 Doch wird »die daraus hervorgehende Aufmerksamkeit […] nicht äußerlich verursacht, sondern sie regt sich, indem sie geweckt wird. Der aufmerkende Geist registriert nicht lediglich, was in ihm vorgeht, sondern er entdeckt sich selbst inmitten einer Welt der Erfahrung« (Waldenfels 2004, 23).
Zeichen sowie deren kollektiver und individueller Konnotation hergestellt werden.
Das Wahrnehmen an sich ist also kein passives Geschehen, das dem Individuum widerfährt, sondern basiert auf der individuellen Erfahrung, die seit dem frühesten Entstehungsstadium des Menschen angereichert wird. Die Wahrnehmung ist die Schnittstelle zwischen dem Innen und dem Außen des Individuums und somit elementarer Bestandteil des Lebens, wie es schon Aristoteles in seinen Grundsätzen der Metaphysik formulierte (vgl. Aristoteles o. A., 12).
WAHRNEHMUNG UND ERiNNERUNG Das, was wahrgenommen wurde, und an das sich infolgedessen eine Person erinnern kann, liegt den Ausführungen zum Beispiel Waldenfels’ oder des Neurologen Wolf Singer zufolge im wahrsten Sinne im Auge bzw. dem nachgelagerten Gehirn des Betrachters verborgen. Singer beschreibt das Gehirn in seinem Text »Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen« als ein hocheffizientes und ökonomisch arbeitendes Organ, das nur die Signale auswertet und speichert, die es evolutionsbedingt zum Überleben braucht. Um den beschränkten Zugang zum Bewusstsein nicht überzustrapazieren, »haben alle höher entwickelten Gehirne Mechanismen zur Steuerung der sogenannten ›selektiven Aufmerksamkeit‹ entwickelt« (Singer 2002, 79). Diese Auffassung wird vom Kulturwissenschaftler Thomas
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Macho ergänzt, indem er eine »hierarchisierte Wahrnehmungspraxis« (Macho 1997, 229 ff.) beschreibt, die sich durch das von Waldenfels beschriebene Nichtbeachten im Sinne eines »aktiven Übersehens« (Waldenfels 2004, 265) ergibt:
6 | Auf die Folgen dieses Prozesses soll später im Kapitel »Erinnern und Vergessen«, S. 67 zurückgekommen werden.
»Es muss strategisch ausgeblendet werden, was sich der eigenen Perspektive nicht unterordnen lässt, um eine künstliche Eindeutigkeit und somit Lesbarkeit herzustellen«
(Seyfarth 2007, 15).6 Die Ereignisse, an die sich das Gehirn später erinnern kann, müssen also zuerst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, was deutlich macht, dass es ein Verhältnis von Innen- und Außenwelt geben muss – eine Lesart, die dem sogenannten Subjekt-Objekt-Dualismus Rechnung trägt. Weingarten charakterisiert den Vorgang folgendermaßen: »[…] diskrete Objekte der Außenwelt senden spezifische Informationen aus, die von den Sinnesapparaten empfangen und zu Abbildungen oder Repräsentationen verarbeitet werden« (Weingarten 2003, 12). Diesen Mechanismus fasst Waldenfels, der sich intensiv mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung auseinandergesetzt hat, unter dem Begriff »Zweitakt von Auffallen und Aufmerken« zusammen (Waldenfels 2004, 65). Dieser Zweitakt muss seiner Auffassung nach gegeben sein, damit etwas wahrgenommen wird und eine Reaktion erfolgt. Die voranstehenden Ausführungen legen den Schluss nahe, dass etwas Äußeres nur etwas Inneres ansprechen kann, wenn dafür im Inneren eine Kenntnis vorliegt. Dieser Erkenntnis folgend hängt die Wahrnehmung also immer von Faktoren einer »Doppelbewegung« (Waldenfels 2004, 84 f.) ab: Etwas Äußerliches muss im Inneren etwas erregen, oder präziser, etwas Äußeres muss im Inneren eine Entsprechung finden, die das Individuum anspricht, anzieht, abstößt, Betroffenheit hervorruft, oder genereller ausgedrückt, eine Reaktion auslöst. Eine Reaktion wird jedoch nur dann erfolgen, wenn der sensuellen Wahrnehmung auch eine kognitive folgt. Eine solche
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Reaktion ist zwar leicht zu beeinflussen, jedoch schwer zu steuern (vgl. Singer 2002, 79) – vor allem deshalb, da die Wahrnehmungsfähigkeit hochgradig individuell beschaffen ist.
ERiNNERUNG ALS REFLEX Trotz der Komplexität des Wahrnehmungsvorgangs trachtet der Wahrnehmungsapparat evolutionsbedingt stets danach, »stimmige, in sich geschlossene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern und für alles, was ist, Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen« (Singer 2002, 81), was maßgeblich von zahlreichen inneren und äußeren Prädispositionen sowie von der Sozialisation und dem Kulturkreis abhängt, dem das Individuum angehört. Diese Tatsache birgt jedoch ein Dilemma, denn das Gehirn muss einerseits einen hochkomplexen Vorgang bewerkstelligen, andererseits aber auch in sehr kurzer Zeit verlässliche Daten liefern, die dem Individuum in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung ermöglichen. Der Kulturund Sozialphilosoph Klaus Christian Köhnke betont in diesem Zusammenhang den pragmatischen Charakter der Wahrnehmung als überlebenswichtiges Werkzeug, das vor allem in kurzer Zeit über unbewusste Rückgriffe auf Gedächtnisinhalte und Erfahrungswerte Situationen bewertbar machen muss, um eine Reaktion zu ermöglichen, die das Überleben sichert (vgl. Köhnke 2001 in Seyfarth 2007, 12). Ähnlich beschreibt der Erinnerungsforscher Harald Welzer diesen Vorgang: »Gedächtnis macht nur Sinn, wenn man auf irgendeinen Reiz, auf irgendeinen Zusammenhang, auf irgendeine Umwelterfahrung Bezug nehmen kann, so, dass man sie in der Jetztsituation gebrauchen kann und es einem beim Überleben in der Zukunft hilft«
(Welzer 2011, Minute 4:12 - 4:28).
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Es muss also eine Erfahrungs- oder zumindest eine Kenntnisbibliothek vorliegen, um Wahrnehmungsvorgänge zu operationalisieren. Somit kann davon ausgegangen werden, dass das Gehirn im Hintergrund des Reiz-Reaktions-Prozesses auf eine Art Datenbank an Erfahrungswissen zurückgreift, also schon vorgefertigte Reaktionsschemen oder Auffassungen vorliegen. Aus diesen Schemata lässt sich in Sekundenbruchteilen eine Reaktion ableiten, die für das Überleben in vielen, auch alltäglichen Situationen notwendig ist.
KOGNiTIVE FÄHiGKEITEN UND KULTURELLE KONSEQUENZEN Dieser pragmatische Charakter der Wahrnehmung wird, sobald der Bereich der kulturell geprägten Wahrnehmung und Erinnerung beleuchtet wird, jedoch zum Problem. Denn aus diesen vorher beschriebenen Eigenschaften ergeben sich Konsequenzen für den Wahrnehmungs- und Speicherungsprozess im Gehirn und somit auch für das Produkt dieser Vorgänge, die Erinnerung: Das Gehirn speichert Wahrnehmungen assoziativ, das heißt, Erinnerungen, werden nicht an einem bestimmten und adressierbaren Ort hinterlegt, sondern es werden an den Neuronen die unmittelbar am Empfindungsprozess beteiligt waren, Engramme (Gedächtnisspuren) hinterlassen (vgl. Singer 2002, 84). Wahrnehmungen werden darüber hinaus holistisch gespeichert, was bedeutet, dass »was in zeitlicher Abfolge erfahren wurde, [...] meist als gebündelter Gesamteindruck vor[liegt]« (Singer 2002, 78), also in Form einzelner Reize, die entsprechend ihrer Verwendbarkeit in die entsprechenden Areale der Großhirnrinde gesendet und dort verwaltet werden. Das Gehirn aktualisiert Erfahrungen, indem es die vorherigen Wahrnehmungen, ähnlich einem Palimpsest, ständig überschreibt. Dies geschieht vor allem in der Form, dass für gleiche oder ähnliche Erinnerungen
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aufgrund ihrer Komplexität und der unterschiedlichen Prädispositionen (vergleichbare Situation, jedoch anderer Ort, andere Zeit, anderes Klima etc.) immer unterschiedliche Neuronen angesprochen werden und somit eine permanente leichte Verfälschung von Wahrnehmungsbildern erzeugt wird (vgl. Singer 2002, 84 f.). Weiter zurückliegende Erinnerungen werden somit permanent durch neue überschrieben – und zwar dergestalt, dass in Lernprozessen die vorhandenen Neuronen in immer neuen Konstellationen gruppiert werden und sich die gleichen Nervenzellen somit permanent an der Repräsentation vieler unterschiedlicher Erinnerungen beteiligen (vgl. Singer 2002, 84 f.). Die Leistung des Gehirns beim Auslesen besteht nun darin, die unterschiedlichen Signale so zu sortieren und zu ordnen, dass eine abbildliche Erinnerung möglich wird, deren »verschiedene Komponenten aufs innigste assoziativ miteinander verknüpft sind« (Singer 2002, 78). Infolgedessen sind die Produkte des Wahrgenommenen, Eindrücke und Erinnerungen, grundsätzlich mit Vorsicht zu betrachten, wie Singer in seinem Essay »Über den Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft« schreibt. Er führt hier das Beispiel an, dass durch dieses Phänomen auf der Ebene der Bedeutungszuweisung oder der Herstellung von Kausalbezügen fatale Fehlinterpretationen oder Sinnverknüpfungen resultieren könnten (vgl. Singer 2002, 78 f.). Demnach hat die Arbeitsweise des Gehirns nicht nur weitreichende Folgen für die Erinnerungsfähigkeit, sondern auch für die Validität von Erinnerungen: Durch die beschriebenen Mechanismen können sich Erinnerungen anders darstellen, als das erlebte Ereignis tatsächlich war, oder aber schwinden und letztlich nur noch in Bruchstücken abrufbar sein oder an ganz anderen Orten auftauchen als dort, wo das Ereignis sich tatsächlich ereignet hat, die Erinnerungen gespeichert oder »verortet« wurden (vgl. Singer 2002, 84 f.).7 Aus all dem kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass objektive Verfahren der Betrachtung von Gegenständen, die auf der Erfassung von Erinnerungen basieren, mit Vorsicht anzuwenden sind. Es kann
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allenfalls eine objektivierende Betrachtung stattfinden, jedoch keine objektive und auf keinen Fall absolute im Sinne eines »so war es«. Dies jedoch muss kein Manko sein, sondern kann vielmehr aktiv genutzt werden, um die Vielschichtigkeit der Rezeption von Gegenständen und deren Geschichte aufzuzeigen und somit eine zeitgemäße pluralistische Betrachtungsweise zu ermöglichen. Auf diese Weise können mehrfache Deutungen und Widersprüche in die Betrachtung einbezogen und gegebenenfalls in einen Diskurs über Erinnerung und Erinnerungskultur am konkreten Objekt überführt werden.
7 | Dieser Effekt wird auch als »Déjà-vu-Effekt« beschrieben.
Peter Bichsel
»Wenn man beobachtet Man muss schauen. Wen weiss man zum vornher sollte. [...]. Schauen ist e viel Passiveres und Kont Schauen schaut man im nach außen und nach in
et, sieht man nichts. enn man beobachtet, erein, was passieren etwas Anderes, etwas ntemplatives. Beim mmer auf zwei Seiten, innen.«
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ZWiSCHEN SUBJEKT UND OBJEKT – DiALEKTISCHES SEHEN Gabi Dolff-Bonekämper setzte sich schon früh mit scheinbar objektiven Verfahren zur Erinnerung in ihrer eigenen Disziplin, der Kunstgeschichte, auseinander. Anhand von Ausführungen zu verschiedenen gängigen Methoden und dem Diskurs, in dem sich die Kunstgeschichte seit den frühen 1970er Jahren befindet, kritisiert sie den wissenschaftlichen Kanon, der fordert, dass das wissenschaftliche Subjekt sich und den diesem innewohnenden Gegenwartsbezug aus der Betrachtung der Gegenstände heraussubtrahieren soll. Stattdessen fordert sie einen »selbst-bewußten« Umgang der Wissenschaft mit ihren Betrachtungsobjekten und arbeitet heraus, inwiefern unterschiedliche Sichtweisen oder Blicke auf Objekte für eine qualifizierte Teilhabe an Betrachtungsprozessen förderlich sein können (vgl. Dolff-Bonekämper 1987). In einigen Studien und Texten versucht sie, Möglichkeiten aufzuzeigen, mit denen sich einerseits die Betrachtung von Gegenständen und Objekten so präzise wie möglich wissenschaftlich darstellen lässt, während andererseits das individuelle Erleben und dessen Einfluss auf die Betrachtung nicht unterschlagen werden. Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren, beschreibt sie in ihrem Aufsatz »Raum-Erleben, Raum-Erfassen, Raum-Beschreiben: Für einen selbst-bewußten Umgang mit mittelalterlicher Architektur« den Wahrnehmungsprozess einer Gruppe in der Marburger Elisabethkirche und ihre Schwierigkeiten beim Versuch, diesen Prozess gleichzeitig wissenschaftlich und neutral zu dokumentieren. Denn immer wieder kam sie auf ihre eigenen Eindrücke zurück, die Einfluss auf die Betrachtung des Objektes nahmen. Letztlich musste sie feststellen, dass die gängigen Methoden der Architekturerfassung und beschreibung zwar allesamt sinnvoll und ergiebig sind, diese aber erfordern, »daß ich ganz selbstverständlich von mir und meinem persönlichen Raumerleben abstrahiere« (Dolff-Bonekämper 1987, 423).
57 8 | Dieser Aspekt wird im Kapitel » Erinnerungskultur« ab S. 96 weiter ausgeführt.
Dieses Dilemma resultiert aus dem lange aufrechterhaltenen Postulat der Geschichtswissenschaft, wonach die Geschichte so zu schreiben sei, wie sie sich zugetragen hat, also damals gegenwärtig war. Dies jedoch ungeachtet der Tatsache, dass es nicht möglich ist Geschichte derart zu schreiben, da Geschichte immer schon aus einer bestimmten Gegenwart und somit auch aus bestimmten Perspektiven geschrieben worden ist und gegenwärtig wird. 8 Diesem Postulat widerspricht Dolff-Bonekämper deutlich und begründet dies mit der Unmöglichkeit, »herrschaftsfreie Wissenschaft« durch eine »spezielle Art von Askese und Selbstverleugnung«, der »Verdrängung der eigenen Gefühle« und der »extrem hohe[n] Bewertung der Werkautorität auf Kosten der Rezeptionsautonomie« zu erreichen. Sie bewertet derartige Herangehensweisen als falsch, da somit »ein wesentlicher Bestandteil jedes Kunstwerkes, nämlich die Gefühle, die es in den Betrachter/inne/n – und auch den Kunsthistoriker/inne/n – auslöst, aus der Wissenschaft ausgegrenzt [wird]« (Dolff-Bonekämper 1987, 433). Durch das Ausgrenzen der individuellen Emotionen und das Nicht-Bewusstsein über deren Wirkung bei der Rezeption erfährt die Dokumentation der Betrachtung eine inhaltliche Verzerrung, die dazu führt, dass am Ende des Prozesses unklar ist, welcher Anteil der Betrachtung sich aus welcher Quelle speist. Dieses Dilemma kann Dolff-Bonekämper zufolge nur überwunden werden, wenn die Subjektivität bei der Betrachtung historischer Objekte als feste Größe mit in den wissenschaftlichen Diskurs einbezogen wird (vgl. Dolff-Bonekämper 1987, 435). Es erscheint somit unverzichtbar, sich über sich selbst und den eigenen Einfluss bei der Betrachtung des Objekts bewusst zu werden und somit auch über die Rolle, die die individuelle Erfahrung bei der Rezeption des Gegenstandes einer Untersuchung einnimmt. Insofern muss es in einer wissenschaftlichen Betrachtung gerade auch darum gehen, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass sich sowohl die Vermittler als auch die Rezipienten mit ihren jeweiligen
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Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen nicht aus der Betrachtung heraussubtrahieren können. In Anbetracht der oben skizzierten Thesen und Untersuchungen von Dolff-Bonekämper und anderen erscheint es notwendig, Denkmale und Gedächtnisorte durch eine persönliche Präsenz selbst zu erleben, eigene Erfahrungen zu machen und auf diese Weise einen eigenen und sich seiner Betrachtungsweise selbst-bewussten Blick zu erlangen. Zum einen soll hierdurch ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Geschichte immer retrospektiv, nicht aber unmittelbar nacherlebend oder rückschauend gedeutet werden kann, und zum anderen, dass jeder Historiker diesen Erkenntnis- und Deutungsversuch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und eigenen Empfindens unternimmt.
VON SELEKTiVER WAHRNEHMUNG UND GENERELLER ABLEiTUNG Den Ausführungen der letzten Kapitel folgend kann festgestellt werden, dass die individuelle Wahrnehmung wie eine Membran zu betrachten ist, die zwischen Innen- und Außenwelt gespannt ist und die in der Regel nur Sinneseindrücke durchlässt, die in der jeweiligen Situation hilfreich oder notwendig sind. Die Person bildet sich sowohl aus Beobachtungen, die aus der Wechselwirkung von aktiven und passiven Subjekten und Objekten entspringt, als auch aus Reflexionen der Kommunikation, die sich zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen entspinnt. Individuelle Wahrnehmungen und kollektive Rahmenbedingungen bestimmen somit den Blick auf die Vergangenheit und dadurch auch auf Objekte, an denen sich Vergangenheit ablesen lässt. Dieser Blick unterliegt evolutionsbedingt einem stetigen Wandel, da das Gehirn die Gegenwart situationsbedingt neu
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ordnet und rekonstruiert. Auf diese Weise ermöglicht dieser fortwährend wachsende körperliche und geistige Erfahrungsschatz eine kontinuierliche Weiterentwicklung des eigenen Denkens, wodurch auf der einen Seite ein Fundus an ausgewählten Eindrücken, Erinnerungen und Erfahrungen entsteht, die das Weltbild eines jeden Individuums formen, rahmen und prägen, auf der anderen Seite, bildet sich aus der Wahrnehmungsfähigkeit der Sinn für kommunikative Prozesse und persönliche Eigenschaften, wie zum Beispiel Empathie. Aus den bisherigen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass die Wahrnehmung (und infolgedessen auch das Wahrgenommene) hochgradig subjektiv und somit nur bedingt mit Wahrnehmungen anderer Individuen gruppierbar ist. Aus diesem Grund wurde erörtert, wie Individuen und Gruppen Ereignisse, Gegenstände, Orte und Räume wahrnehmen und sich daraus eine Auffassung bildet. Die resultierenden Erkenntnisse liefern ein tiefergehendes Verständnis über die Mechaniken ihres Erlebens was der Schlüssel zum Verständnis davon ist, dass es eine objektive Betrachtungsweise sowie eine objektive Art des Erinnerns und infolgedessen eine objektive gemeinsame Erinnerung nicht geben kann. Die Vorstellung, es gäbe einen eindeutigen und dadurch gleichmachenden Blick bei der Betrachtung von Gegenständen und Geschichte ist aufgrund dessen ebenfalls obsolet. Somit müssen die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit und das daraus resultierende Weltbild in einer gemeinsamen Erinnerungskultur einen eigenen Platz erhalten. Aus diesen Gründen lohnt sich das Nachdenken über die Vorteile einer multiperspektivischen Sichtweise, welche die Pluralität der Betrachtung sowie der Deutung zulässt und deren Potenziale erkennt. Eine solche mehr- oder multiperspektivische Sichtweise eröffnet sowohl Betrachtern als auch Betrachtergruppen neue Bewusstseinsebenen gegenüber dem Betrachtungsgegenstand, der dadurch auf mehrfache Weise wirkt: durch seine Präsenz, durch seine Gestaltung, durch das, was über ihn bekannt ist, also seine
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Geschichte, durch das, was davon vermittelt wird, durch das Medium der Übermittlung und zuletzt durch das, was aufgrund dieser Faktoren kognitiv und emotional im betrachtenden Individuum vorgeht. Die Rezipienten können sich das Objekt auf ihre eigene Weise aneignen, wodurch der Betrachtungsgegenstand eine zeitgemäße Aktualisierung erfährt. Darüber hinaus kann durch die Verbindung der Außen- und der Innensicht sowie die Kommunikation über die Erkenntnisse eine gemeinsame Erfahrung am oder im Objekt geschaffen werden, die eine Basis für ein tieferes Verständnis von Ereignissen sowie geschichtlichen Verläufen und deren Raumwirksamkeit sein kann. Durch diese methodische Ergänzung können der Auf bau eines gemeinsamen Wissens, der Diskurs darüber und das Erleben einer gemeinsamen Erfahrung ermöglicht werden. Aus all diesen, bis hier beschriebenen Aspekten, bildet sich der Anspruch an das zu entwickelnde Erinnerungskonzept: Es muss auf flexibel einsetzbaren wissenschaftlichen Methoden basieren, welche es ermöglichen Mehrfachcodierungen und Widersprüchlichkeiten zu berücksichtigen. Das Konzept muss es ferner ermöglichen, die Unterschiede und den Anteil des Selbst bei der Rezeption sicht- und verhandelbar zu machen um somit, wie Dolff-Bonekämper es fordert, den Faktor Subjektivität in den wissenschaftlichen Diskurs einzubeziehen. Dies impliziert allerdings, dass gängige wissenschaftliche Methoden durch ein Repertoire an Techniken und Sichtweisen anderer Disziplinen ergänzt werden. Dadurch können sie nicht nur selbst eine große Bereicherung erfahren, sondern im Umkehrschluss auch die anderen Disziplinen bereichern. Um ein solches Konzept weiterzuentwickeln, soll es im Folgenden um die Materialität von Erinnerungen und Gedächtnisinhalten sowie deren Speicherung und Weitergabe gehen. Hierfür wechselt die Perspektive der Betrachtung vom Individuum und dessen Wahrnehmungsfähigkeit zu individuellen und kollektiven Formen des Erinnerns. Die Leitfragen sollen dabei lauten:
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• Wie entstehen Erinnerungen? • Wie und wo werden Erinnerungsinhalte gespei chert und wieder abgerufen? • Gibt es Unterschiede in der individuellen und kol lektiven Erinnerungstätigkeit? • Wenn ja, wie sind diese ausgeprägt?
iNDiViDUELLES UND KOLLEKTiVES ERiNNERN
Bernhard Waldenfels
»Was sich zeigt, d niemals völlig mi darüber zu sagen
deckt sich mit dem, was en ist.«
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iNDiViDUELLES UND KOLLEKTiVES ERiNNERN Das Thema Erinnerung hat Konjunktur wie selten. Unzählige neue Bücher mit Erinnerungsgeschichten zeugen davon, ebenso wie der Zulauf, den Web-Portale wie »einestages« oder »Vergessene Orte« derzeit erfahren. Gemeinsam wird am individuellen und kollektiven Gedächtnis gearbeitet 9 und Geschichte sowie Geschichten sollen vor dem Verschwinden gerettet werden. Die Vergangenheit wird neu interpretiert und beinahe täglich wird ein neuer Erinnerungsort der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Zeitzeugengeneration, welche die Schrecken der Naziherrschaft noch am eigenen Leib erfahren und mit eigenen Augen gesehen hat, stirbt langsam aus. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Erinnerungen mit besonderer Brisanz. Denn Erinnerungen, die nicht dokumentiert und hinterfragt, nicht in individuelle oder kollektive Gedächtnisse eingespeist und verortet wurden, werden bald für immer verloren sein. So müssen aufgrund dieser unausweichlichen Tatsache die Inhalte der Erinnerungskultur ebenso diskutiert werden wie die Modi, die es auch ohne die authentischen Mittler ermöglichen müssen, eine Deutung des Geschehenen anzubieten, und die Menschen zum Erinnern, Mitdenken und Mitfühlen anzuregen, wie etwa Ruth Klüger es formulierte (vgl. Klüger 1999, 128). Das vorangegangene Kapitel hat sich mit dem Ereignisbegriff, der Fähigkeit der Wahrnehmung und dem Wahrnehmungsbegriff auseinandergesetzt. Darauf auf bauend sollen nun der Begriff »Erinnerung« sowie die gängigen Gedächtniskonzepte vorgestellt werden. Diese sollen zu einem tieferen Verständnis über die Fragen zur Kultur des Erinnerns verhelfen. Die Basis bildet die Diskussion über den Gedächtnisbegriff und dessen identitätsstiftende Eigenschaften. Hier kommen die seit den 1980er Jahren insbesondere in den Kulturwissenschaften dank der Erkenntnisse von Henri Bergson, Emille Durckheim und Maurice Halbwachs weiterentwickelten Theorien von Pierre Nora,
9 | Das Web-Portal »einestages« aus der Spiegel-Online-Gruppe wirbt mit dem Slogan: »einestages – hier entsteht das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft.« Auf dem Portal werden private Erinnerungen von bedeutsamen Ereignissen gesammelt, die in der Summe eine Art gemeinsamen Erinnerungsspeicher ergeben sollen. Siehe: http://einestages. spiegel.de/page/about EinesTages.html
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Aleida und Jan Assmann sowie Moritz Csáky zum Tragen, die eine Grundlage für die Theoriebildung dieser Studie sein sollen.
ERiNNERN UND VERGESSEN 10 | Siehe Kapitel »Wahrnehmung und Erinnerung«, S. 47, und das folgende Kapitel »Gedächtnis«, S. 76.
Jeder Mensch, der Kraft seiner neuronalen Fähigkeiten erinnerungsfähig ist, hat ein Gedächtnis. Dieses bezieht sich primär auf individuelle Erlebnisse und Erfahrungen und ist somit Gradmesser für die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit, die im Abgleich mit den Geschehnissen der Umwelt einen Sinneseindruck formuliert. Erlebnisse, Erzählungen, Geschichten und Bilder, die jemandem selbst widerfahren sind, etwas, von dem diese Person direkt oder indirekt betroffen war, was sie selbst gesehen oder über das sie gehört hat, werden im Gedächtnis abgelegt. Dieses Gedächtnismaterial formiert sich im Laufe der Zeit zu Erinnerungen, welche die Person und ihr Handeln prägen. Aus diesem Handeln wird Erfahrung und aus der Erfahrung resultieren wieder neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Handlungen (vgl. Sacks 2009). Der Akt des Erinnerns ist ein Hinwenden zu Vergangenem, zur Vergegenwärtigung der eigenen Lebenswelt, »was in der Tat ein Prozess der Identitätsbildung, der Selbstvergewisserung« (Gall 1995, 377) ist. Durch das Erinnern wird der Fokus der sich erinnernden Person auf eine bestimmte Begebenheit, ein Ereignis oder einen Sachverhalt gelenkt, der in diesem Moment eine Relevanz hat oder eine Entsprechung der Innenwelt in der Außenwelt findet.10 Die wichtigsten Bedingungen hierfür sind einerseits die neuronale Leistungsfähigkeit des individuellen Gehirns und andererseits die kulturelle Prägung des Sehens und Wahrnehmens der Umwelt. Die neuronale Leistungsfähigkeit ermöglicht es, Ereignisse sowie deren bildliche oder symbolische Entsprechungen im Gehirn abzulegen und einen Sinneseindruck zu
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hinterlassen, der dann im Rückbezug auf die eigene Erfahrung einen Bezugspunkt bilden kann.11 Die kulturelle Prägung des Sehens und der Wahrnehmung stellt eine Art Filter dar, der darüber entscheidet, was vom Individuum wahrgenommen werden kann und welche Bedeutung es dem Wahrgenommenen beimisst. Die Reaktion auf den Erinnerungsimpuls muss allerdings nicht zwingend Erinnerung oder Reflexion sein. Er kann zum Beispiel auch den Reflex der Verdrängung zum Zwecke des Vergessens hervorrufen. Das Vergessen ist jedoch, obwohl es sowohl im psychophysischen als auch im kulturellen Kontext häufig eher negativ konnotiert ist, eine wichtige Eigenschaft, die es überhaupt erst erlaubt, eine individuelle oder kollektive Identität herauszubilden (vgl. Gall 1995, 377 f.). Somit ist Vergessen also keineswegs ein Gegenspieler der Erinnerung, sondern – im Gegenteil – eine notwendige Hilfe, wie Friedrich Nietzsche betont:
11 | Siehe auch Kapitel »Kognitive Fähigkeiten und kulturelle Konsequenzen«, S. 50. 12 | Dabei ist Vergessen bei weitem kein rein passiver Akt. Ereignisse können auch »vergessen« werden, indem sie verschwiegen werden, oder aber Spuren, an denen sich Erinnerungen festgemacht und mit ihnen verbunden haben, werden absichtlich gelöscht, wie es zum Beispiel mit vielen Bau-
»Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens [...]«
litz auf S. 105). Somit
(Nietzsche 1988, 250).12
kann festgestellt wer-
werken totalitärer Herrschaftssysteme passiert ist (vgl. hierzu auch die Anmerkung von Heike De-
den: Können keine Be-
Den Ausführungen folgend, beinhaltet die Fähigkeit der Erinnerung also gleichzeitig auch die Fähigkeit der Fokussierung, der Auswahl, des Auslassens und Vergessens, wobei das Verdrängen oder Überschreiben von Erinnerungen hilfreich sein kann (vgl. Waldenfels 2004, 265). Erinnerung ist demnach eine grundsätzliche Eigenschaft, die jedoch nicht allein vom Wollen aus betrachtet werden kann. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass Erinnern zwar primär eine kognitive Fähigkeit ist, die auf individueller Leistungsfähigkeit beruht, sie jedoch kulturell vermittelt und innerhalb einer sozialen Rahmung praktiziert wird. Die biologischen Fähigkeiten des Gehirns der erinnernden Person müssen deshalb ebenso berücksichtigt werden, wie die Modi der
züge zur Gegenwart hergestellt werden, kann die Vergangenheit auch nicht rekonstruiert werden (vgl. Fleschut 2010, 19).
69 13 | Siehe auch: Kapitel »Wahrnehmen«, unter anderem Macho und Waldenfels, S. 46.
Erinnerungstätigkeit, die kulturelle Geprägtheit und soziale sowie politische Interessen (vgl. Singer, 2002, 78).13 Wenn Erinnerungen durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis beeinflusst und durch kollektive Erlebnisse und Riten überformt werden, müssen individuelle Erinnerungen zum einen in und gegenüber einem größeren Erinnerungshorizont betrachtet und zum anderen auch darin eingegliedert werden. Hierfür haben vor allem der Historiker Reinhard Koselleck und der Philosoph Jean-François Lyotard die philosophischen Grundlagen geschaffen. Bei genauer Sichtung dieser Quellen sind einige Überschneidungen zum Werk von Jan und Aleida Assmann auffällig, die Henri Bergson und Maurice Halbwachs folgend die kulturelle Dimension unterschiedlicher Gedächtnistypen definiert haben. Diese Gedächtnistypen sollen im Anschluss an die Einführung in das individuelle Erinnern, den Begriff »Gedächtnis« und dessen Historie vorgestellt werden.
ERiNNERUNG iM SOZiALEN KONTEXT Die beschriebene Erinnerung, die Erfahrung und die daraus resultierende Identitätskonstruktion sind individuell und von Mensch zu Mensch sehr verschieden. Sie beruhen auf gegenwärtigen Vorstellungen und historischen Bildern. Der Soziologe Maurice Halbwachs schreibt hierzu, »die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorging« (Halbwachs 1991, 55). In Anlehnung an Halbwachs stellt die Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll Merkmale des Erinnerns heraus, die sie mit Gegenwartsbezug und konstruktivem
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Charakter benennt. Denn, so Erll, »Erinnerungen sind keine objektiven Bilder vergangener Wahrnehmungen, geschweige denn einer vergangenen Realität. Es sind subjektive, hochgradig selektive und von der Abrufsituation abhängige Rekonstruktionen« (Erll 2011, 7, vgl. auch Singer 2002). Erinnerung ist also per se eine individuelle Angelegenheit, da sich zuallererst das Individuum an etwas erinnert, und außerdem – ähnlich dem Geschichte-Schreiben – ein Prozess, der ausschließlich aus der jeweiligen Gegenwart heraus möglich ist. So stellt die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Angela Keppler fest, dass sich »alles Erinnern […] als ein Rückgriff aus einer Gegenwart in eine vergangene Gegenwart [vollzieht]« (Keppler 2001, 137). Der Historiker Reinhard Koselleck argumentiert in eine ähnliche Richtung, betont allerdings einen weiteren Aspekt in Bezug auf das individuelle Erinnern: die Prägung der individuellen Erinnerung durch das gemeinsame Erinnern. Er beschäftigt sich ausführlich mit dem Begriff »Ereignis« und schließt von diesem auf die Erinnerung daran: »Während sich Ereignisse zusammenbrauen oder Geschehnisse sich schürzen, Konflikte sich aufstauen, die dann durchbrechen, gibt es keine gemeinsame Wirklichkeit, die von den verschiedenen Beteiligten auf dieselbe Art wahrgenommen werden könnte. Die Wahrnehmungsgeschichte ist immer pluralistisch gebrochen. So vollzieht sich Geschichte, indem Geschehnisse sich aufstufen zu dem, was später eine Geschichte genannt werden mag. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß die Wirklichkeiten, wie sie wahrgenommen werden, im Hinblick auf das, was tatsächlich der Fall sein wird, immer schon verfehlte oder gar falsche Wirklichkeiten sind«
(Koselleck 2010, 17). In diesem Licht betrachtet werden hier zwei Stränge des Erinnerns stetig ineinander verschoben: zum einen die Erinnerung an ein tatsächlich subjektiv empfundenes Ereignis durch Re-Konstruktion dieses Ereignisses im Erinnerungsmodus, zum anderen die durch kollektive Erinnerungen nivellierte Version des
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Ereignisses, an dem das Individuum zwar teilgenommen hat, sich aber derart erinnert, wie es das Kollektiv praktiziert. Hier passt sich die individuelle Erinnerung an einen »Mainstream« an, um damit die Zugehörigkeit zu dem sich erinnernden Kollektiv zu aktualisieren oder dadurch erst ein Teil davon zu werden: »Die Vorstellungen der Handelnden von dem, was sie zu tun, und dem, was sie zu lassen haben, sind die Elemente, aus denen sich, perspektivisch gebrochen, die Geschichten zusammenfügen. [...] Was von den verschiedenen Agenten an einer Geschichte, so wie sie entsteht, für wirklich gehalten und so ›in actu‹ vollzogen wird, konstituiert pluralistisch die kommende Geschichte. Es handelt sich also um eine gegenseitige Perspektivierung aller Beteiligten [...]«
(Koselleck 2010, 16 f.). Auch mit großer Mühe ist es deshalb nahezu unmöglich, diese beiden Modi trennscharf voneinander abzugrenzen und zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung und Erinnerung zu differenzieren. Da beide eng miteinander verknüpft sind und sich darüber hinaus – zumindest teilweise – auch bedingen, besteht hier eine Abhängigkeit: Wie dargelegt, erinnert sich zuerst das Individuum an etwas, benötigt allerdings Sinnesorgane, Wahrnehmungsrezeptoren, Sprachfähigkeit und einen Ereignisspeicher, um eine Erinnerung zu formulieren. Sie ist somit in großem Maße kulturell geprägt und durch kollektive Erinnerungen sowie die praktizierte Erinnerungskultur geformt und überformbar. Was an dieser Stelle besonders deutlich hervortritt, ist ein Dilemma, welches das individuelle und kollektive Wahrnehmen und Erinnern betrifft. So stellt sich verstärkt nicht mehr die Frage, ob es möglich ist, weiterhin eine »objektive« Erinnerungskultur zu postulieren. Vielmehr ist in Erwägung zu ziehen, ob es im Hinblick auf das Bewahren von Geschichte(n) und der daraus resultierenden Erfahrung nicht eher geboten wäre, die Individualität und somit auch Pluralität von Erinnerung in die Erinnerungspraxis miteinzubeziehen (siehe Dolff-Bonekämper 2007)
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und die Möglichkeiten, die sich aus einer solchen neuen Form der Erinnerungspraxis ergeben könnten, zu methodisieren. Eine solche Erkenntnis hat jedoch weitreichende Folgen für den Blick auf das individuelle Erinnern sowie dessen Einbettung in das kollektive Gedächtnis, die jeweiligen Inhalte und deren Produkte wie Erinnerungen und die daraus konstruierbare Geschichte bzw. resultierenden Geschichten. Um an dieser Stelle weiterzukommen, muss die theoretische Betrachtung die Perspektive von einer biologisch-kognitiven in Richtung einer kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise wechseln. So sollen eine Erschließung der kulturwissenschaftlichen Dimension des Gedächtnisses sowie die Differenzierung der unterschiedlichen Gedächtnisbegriffe folgen und Aufschluss über Funktion, Modus und Inhalt der Gedächtnisse sowie die Träger des Gedächtnisses geben.
Sabine Moller
»Gedächtnis und Erinneru griffe, die in der Regel nur ziert werden, als dass das rung erst ermöglicht. Das in diesem Sinne eine virtu frastruktur. Menschen bra ein Gehirn als organische in hohem Masse auf exter unterschiedlichster Art an gilen Bewusstseinsakte zu hin Erinnerung genannt w
rung sind geläufige Beur dahingehend differens Gedächtnis die Erinneas Gedächtnis beinhaltet tuelle und manifeste Inrauchen dabei nicht nur e Basis, sondern sie sind erne Erinnerungsspeicher angewiesen, um jene frazu erzeugen, die gemeinwerden.«
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GEDÄCHTNiS In Anlehnung an die Sozialwissenschaftlerin Sabine Moller stellt der Begriff »Gedächtnis« eine Art Speicher dar, der gemeinhin im Gehirn eines Individuums verortet wird. In dieses Gedächtnis werden Erinnerungen und Lerninhalte eingespeist und aus ebendiesem auch wieder abgerufen. Auf der individuellen Ebene wird das Gedächtnismaterial im Laufe der Zeit zu Erinnerungen, die den Menschen und sein Handeln prägen. Aus diesem Handeln wird Erfahrung und aus der Erfahrung resultieren wieder neue Handlungen und Erinnerungen (vgl. Weingarten 2003, 13). Kollektive besitzen keinen direkten Speicher gemeinsamer Erinnerungen wie das Individuum für die individuellen Erinnerungen. So muss an bedeutsame Ereignisse erinnert werden. Es bedarf Anlässe und Medien, um Inhalte dieses Gedächtnisses abzurufen. In diesem Sinne kann das »kollektive Gedächtnis« als ein gemeinsames Kulturgut verstanden werden, das regelmäßig aktualisiert und verhandelt oder (re)manifestiert werden muss, um sein Bestehen zu sichern. Ein Individuum als gesellschaftliches Wesen ist demnach gleichermaßen Träger, Akteur, Stütze, Mediator, Teilhaber und Teilnehmer seines individuellen sowie des kollektiven Gedächtnisses. Die gesammelten Erinnerungen werden im Gehirn abgelegt und verwaltet. Im Rückbezug auf die Aussagen Singers zur Funktionsweise des Gehirns und zur Validität der Erinnerung bedeutet das, dass sich individuelle und kollektive Erinnerungen überlagern, sich ergänzen und vervollständigen, sie also durch die Art der Speicherung schon im Moment der Speicherung variieren.14 Dieser Vorgang ist neurobiologisch bedingt und evolutionär sinnvoll, jedoch als problematisch einzustufen, wenn gesellschaftliche Dimensionen wie Ethik, Werte oder Normen angesprochen werden, also zum Beispiel auf kollektiver Ebene eine normative Erinnerungstätigkeit stattfinden soll. In diesem Fall stehen sich zwei Gedächtnisformen in einer ungleichen Bewertung gegenüber, was zur Folge hat, dass das
14 | Siehe hierzu die Ausführungen von Singer, ab S. 47. 15 | Die Philologin und Erinnerungsforscherin Astrid Erll führt dies am Beispiel der Diskussion um den Begriff »Gedächtnis« aus. Sie kritisiert, dass innerhalb dieser Diskussion höchst unterschiedliche Gegenstände sowohl der individuellen als auch der kollektiven Geschichte auf einer Ebene betrachtet würden, was ihrer Meinung nach zu einer Verzerrung des Begriffs führt. Sie beschreibt in ihrem Buch »Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen« (Erll 2011), dass eine solche Homogenisierung vor allem deswegen nicht fruchtbar sein kann, da die Frage nach einer Wertung oder Gewichtung der Erinnerungen und ihrer Quellen offen bleibt. Anders ausgedrückt: »Können, ja dürfen, individuelle Bewusstseinsprozesse, Mythen, Bauwerke, Mahnmalsdebatten,
77 Autobiographien und das Betrachten von Fotos im Familienkreis tatsächlich gleichermaßen unter dem Begriff ›kollektives Gedächtnis‹ zusammengefasst werden?« (Erll 2011, 5).
individuelle Gedächtnis sich dem kollektiven unterordnen muss, gegebenenfalls auch entgegen eigener Erfahrungen. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel und vor welchem Hintergrund der Begriff »Gedächtnis« beleuchtet wird, ergibt sich somit ein Dilemma, das auf unterschiedlichen mit dem Begriff verbundenen Sichtweisen beruht.15 Um die Diskussion über die Abhängigkeit zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis für die vorliegenden Studie fruchtbar zu machen, werden im Folgenden die wesentlichen Formen des kollektiven Gedächtnisses erörtert und die dazugehörigen Theorien beleuchtet.
GEDÄCHTNiSTYPEN 16 | Bergson nimmt hier noch keine Trennung von individuellem und kollektivem Gedächtnis vor. Diese Trennung wird unter anderem durch die Kritik Walter Benjamins an der Individualisierung bzw. Privatisierung der Erinnerung durch Marcel Proust erstmalig thematisiert.
Der Ursprung der Forschung über die kulturelle Dimension des Gedächtnisses war vor allem durch die Erkenntnisse der Hirnforschung im frühen 20. Jahrhundert motiviert, die durch neue Fachdisziplinen und Messmethoden zu dieser Zeit große Fortschritte machte. Waldenfels bringt hier auch den Begriff der aufkommenden Moderne zur Diskussion, die eine Dichotomie in Form einer »Spaltung der Welt in eine geistige Innenwelt und eine physische Außenwelt« (Waldenfels 2004, 24 f.) vorantrieb. Diese neue Sichtweise revolutionierte die anthropologische Forschung wie auch die Kulturwissenschaften. Der Philosoph Henri Bergson war einer der ersten Wissenschaftler, der sich mit der kognitiven Leistungsfähigkeit des Gehirns und der kulturellen Prägung der Gedächtnisinhalte auseinandersetzte. Er beschäftigte sich mit Erinnerung und Gedächtnis, wobei er zu belegen versuchte, dass das Gedächtnis16 eine sich selbst erhaltende Vergangenheit darstellt, also einen Speicher, der über die menschliche Lebensdauer einen Erfahrungsschatz bildet, der das Verhalten des Individuums prägt und bestimmt. Der Philosoph Friedrich Kümmel spricht in einem Text über Bergsons
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Gedächtniskonzept von einer Nivellierung von Vergangenheit und Gegenwart: »Die Vergangenheit schreitet einfach in die Gegenwart hinein fort und bestimmt sie« (Kümmel 1962, 22). Bergson nutzte zur Beschreibung dieses Vorgangs den Begriff der »durée«, der den dinglichen Inhalt der Erinnerung und die Zeitdauer ihrer Präsenz im Gedächtnis fokussiert. Um dies zu verdeutlichen, setzt er eine dem Individuum innere und eine äußere Zeit voraus: Die innere Zeit orientiert sich an Konstellationen und ist nicht mit der äußeren Zeit vergleichbar, denn »die Dauer ist die erlebte Gegenwart. Das konkrete Ich entwirft die Zukunft in der gedehnten vergangenheitsgetränkten Gegenwart. Bei Bergson erschließt sich Sein immer nur als zeitliches Sein. [...] Die erlebte Zeit ist viel reicher als die physikalische Zeit le temps, die im klassischen herkömmlichen Sinn aus ausdehnungslosen Jetzt-Punkten besteht, die nicht erlebt werden können« (Gunderson 2008, o. A.). Erinnerung wäre demnach eine direkte Repräsentation von vergangenen Erfahrungen, also quasi eine Wiederholung vergangener Augenblicke in der Gegenwart. In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass alle Erinnerungen an Ereignisse Rekonstruktionen der Vergangenheit in der Gegenwart sind, die direkt erfahren werden können. Die neuerlichen »Ereignisse« bleiben dann so im Gedächtnis bestehen, wie sie bildlich erfahren und gespeichert wurden, und überschreiben – ähnlich einem Palimpsest – zuvor gespeicherte Erinnerungen (vgl. Singer 2002, 84 f.). Je älter ein Individuum wird, umso größer wird auch der Speicher an Erinnerungs-Erfahrung, der die gegenwärtigen Handlungen mehr und mehr beeinflusst, wie es die Kulturwissenschaftlerin Claudia Oehlschläger beschreibt. Allerdings verschwinden durch Überlagerung und Überschreibung auch immer mehr »authentische« Erinnerungen oder stellen sich verändert dar (vgl. Oehlschläger in Erll 2005, 233 ff.).17 Bergson bildet mit diesen Erkenntnissen das Fundament für nachgelagerte Theorien, vor allem die seiner Schüler. Hier sticht besonders der Soziologe Maurice Halbwachs hervor, der mit seiner Theorie der sozialen
17 | »Proust [...] schildert in seiner Suche nach der verlorenen Zeit nicht nur solche Momente der erlebten Gegenwart, in denen ein Geschmack, ein Geruch, eine Unebenheit des Straßenpflasters dazu führen, dass verloren geglaubte frühere Erlebnisse neu erlebt werden, sondern auch den Moment, in dem er den Entschluss fasste, sein Werk zu schaffen« (Gunderson 2008, o. A.).
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Bedingtheit von Erinnerungen die Theorie Bergsons aufgreift und somit die Schnittstelle von individuellem und kollektivem Gedächtnis markiert.
KOLLEKTiVES GEDÄCHTNiS 18 | Besonders interessierten ihn die Traumforschung Freuds und die Tiefenpsychologie C. G. Jungs, zu denen er allerdings mit seinem Konzept eine Gegenposition bezog.
Halbwachs beschäftigte sich seit den frühen 1920er Jahren mit dem Gedächtnisbegriff. Er gilt als Begründer der sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, da er die Bedingungen eines kollektiven Gedächtnisses untersuchte und dieses von der Geschichtlichkeit von Individuen und Kollektiven abgrenzte. Durch seine Erkenntnisse prägte er eine Reihe von Wissenschaftlern, die sich in ihren Konzepten auf seine Forschung beziehen. Einige davon sollen im weiteren Verlauf noch vorgestellt werden. Geprägt von seinen Lehrern Henri Bergson und Émile Durkheim führte er deren Studien fort und prägte den Begriff der »mémoire collective« (kollektives Gedächtnis). Ein wesentlicher Verdienst seiner Theorie ist die Integration verschiedener Wissenschaftsbereiche in seine Theoriebildung, die nur durch Schnittmengen und Anwendungen diverser wissenschaftlicher Methoden aus der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaft sowie der Psychologie18 erschließbar wurde. Halbwachs war davon überzeugt, dass das Individuum Träger des Gedächtnisses sei, der Gedächtnisinhalt jedoch sozial vermittelt werde. Auf diese Weise ist das Gedächtnis des Individuums ein soziales Produkt. Unter »sozialem Gedächtnis« verstand er jedoch weder einen individuellen Speicher noch ein universelles historisches Gedächtnis, vielmehr »drückt sich in ihm eine gemeinsame Art der Welt- und Vergangenheitsbedeutung eines sozialen Gefüges aus« (Wischermann 2013, o. A.). Die Vergangenheit ist also nicht als Ganzes im individuellen Gedächtnis gespeichert, sondern lediglich in Form von Fragmenten, die durch den kollektiven Bezugsrahmen zu konkreten Erinnerungen geformt werden. Insofern liegt der Grund des Widerscheinens
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von Erinnerungen also nicht in ihnen selbst, sondern steht in Beziehung zu den gegenwärtigen Vorstellungen und Wahrnehmungen des Bezugsrahmens.19 Somit kann zum einen rückgeschlossen werden, dass die individuelle und die kollektive Identität aneinander gekoppelt sind, diese gemeinsam über Erinnern und Vergessen entscheiden und somit gleichzeitig auch politische Vorgänge sind. Zum anderen gehen Erinnerungen mit dem Verlust des sozialen Bezugsrahmens verloren, können aber durch dessen Wiederherstellung rekonstruiert bzw. in ganz anderen Konstellationen, also auch neuen Bezugsrahmen, neu konstruiert werden (vgl. auch Dolff-Bonekämper 2007, 67 f.).
19 | Diese Aussage verweist unter anderem darauf, dass es mehrere Gedächtnisse geben muss oder ein Gedächtnis mit mehreren Funktionen (siehe hierzu auch die Arbeit von Aleida Assmann im Kapitel »Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis« ab S. 88).
SOZiALES GEDÄCHTNiS Um diese Thesen zu belegen, publizierte Halbwachs mehrere Arbeiten, von denen für die vorliegende Studie besonders »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« (Halbwachs 1985) und »Das kollektive Gedächtnis« (Halbwachs 1991) relevant sind. Innerhalb dieser Studien zum »Kollektiven Gedächtnis« begründete Halbwachs seine zentralen Thesen, die er in drei wesentliche Bereiche untergliederte. Sie sind jeweils auf die Funktionen des jeweiligen Gedächtnistypus ausgerichtet: • Die Theorie zur sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung (soziale Bezugsrahmen, im Original »Cadres sociaux«, des individuellen Gedächtnisses) (vgl. Halbwachs 1985, 21 f.) • Untersuchungen zu Formen und Funktionen des zwischen Generationen gebildeten Gedächtnisses (Halbwachs 1991, 66 f.) • Die Ausweitung des Begriffs »mémoire collective« in den Bereich kultureller Überlieferung und Traditionsbildung (Halbwachs 1991)20
20 | Der dritte Bereich wurde im Wesentlichen von Jan und Aleida Assmann weiterentwickelt und soll im Kapitel »Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis« ab S. 88 näher betrachtet werden.
81 21 | In Bezug auf die folgenden Kapitel kann Halbwachs hier als ein Vordenker sowohl des »Topographical Turns« als auch der handlungsbasierten Erinnerungskultur gelesen werden. 22 | Was hier deutlich wird, ist, dass das kollektive Gedächtnis im Gegensatz zur geschriebenen Geschichte steht, da es sich um einen vitalen Erinnerungsspeicher handelt. Hiermit wird ein handlungsbezogener bzw. diskursiver Ansatz der Erinnerungskultur eingeführt, der auch auf die Räumlichkeit von Erinnerung verweist.
Besonders interessant für die weitere Betrachtung ist die Theorie der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung, für die Halbwachs zwei Grundsätze entwickelte: Der erste Grundsatz über das individuelle Gedächtnis – Halbwachs nennt es auch organisches Gedächtnis – besagt, dass sich eine individuelle Erinnerung niemals losgelöst von einem sozialen Kontext herausbilden kann (Halbwachs 1991, 14 f.). Der zweite Grundsatz beschreibt das kollektive Gedächtnis, in welchem das organische Gedächtnis des Individuums einen Bezugsrahmen findet. Durch mediengestützte Kommunikation und Interaktion wird ein kollektiver Bezug auf Vergangenes hergestellt. Dieser Bezug braucht ein Medium zur Vermittlung ebenso wie einen Bezugsort, um vollzogen zu werden (vgl. Erll 2011, 16 f.). 21 Dem ersten Grundsatz folgend sind Individuen nach Halbwachs an die soziale Gruppe und ihre Rahmung gebunden, also an die Menschen, die sie umgeben, auf sie Einfluss ausüben und Erfahrungen mit ihnen teilen, oder an die Medien, die von ihnen geschaffen wurden, also ihre schöpferischen Produkte. Somit sind die »cadres sociaux« für die Bildung, Ausprägung und Koppelung von Erinnerungen verantwortlich (vgl. Halbwachs 1991, 2). Individuen produzieren und reproduzieren demnach ihre Erinnerungen ausschließlich innerhalb einer sozialen Rahmung, was bedeutet, dass es zwar individuelle Wahrnehmungen und daraus folgend auch Erinnerungen gibt, diese jedoch in einem sozialen Kontext erworben und reflektiert wurden. Erinnerung ist so ein durch den Bezugsrahmen geprägtes individuelles Produkt und gleichsam auch ein weiterer Teil des gemeinsamen Gedächtnisses, das durch individuelle Erinnerungsakte beobachtbar wird.22 Astrid Erll stellt dazu fest: »Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ohne andere Menschen bleibt ihm nicht nur der Zugang zu so eindeutig kollektiven Phänomenen wie Sprache oder Sitten verwehrt, sondern, so Halbwachs, auch der zum eigenen Gedächtnis. Dies liegt zum einen daran, dass wir Erfahrung meist im
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Kreis anderer Menschen machen. Diese können uns später helfen, die Ereignisse zu erinnern. [...] Weil wir an einer kollektiven symbolischen Ordnung teilhaben, können wir vergangene Ereignisse verorten, deuten und erinnern« (Erll 2011, 17). Dieser Haltung schließt sich auch die Soziologin Angela Keppler an, die feststellt, dass »die Gegenwarten, an die Menschen sich erinnern, […] ebenso wie die Gegenwarten, aus denen sie sich erinnern, soziale Konstruktionen einer bedeutsamen Welt des Erlebens und Handelns [sind]« (Keppler 2001, 137). In seinem zweiten Grundsatz spricht Halbwachs davon, dass es nicht die Erinnerungen selbst sind, die die Individuen unterscheiden, sondern die aus den unterschiedlichsten Kollektivzugehörigkeiten resultierenden Erinnerungsformen und inhalte. Wechselt das Individuum den Rahmen, wechselt es auch die kollektive Identität, wodurch vormals wichtige Erinnerungen nicht mehr aktualisiert und somit vergessen werden. In diesem Moment erlischt das soziale Gedächtnis, das aber über die direkte und indirekte Wiederherstellung des sozialen Rahmens auch wieder rekonstruiert werden kann (vgl. Halbwachs 1991, 31). Um den Raumbezug des zweiten Grundsatzes zu belegen, zieht Halbwachs einen Vergleich zur Religionsgemeinschaft: Das Individuum empfindet im Kollektiv einer gleichen Denkart einen bestimmten Gemütszustand, der auf gemeinsamen Erinnerungen, Erfahrungen und Überlieferungen (Geschichten der Bibel, Leben Christi) sowie Riten (gemeinsames Gedenken, Singen, definierte Abläufe, Feste) begründet ist. Der Raum, in dem dieses Erleben stattfindet, ist zum einen der bauliche Raum der Kirche, ein Ort, der der erinnernden Geschichte geweiht ist und in welchem diese Riten und Praktiken vollzogen werden können. Durch die Individuen, die sich diesem Kollektiv anschließen, entstehen zum anderen auch außerhalb einer Kirche Räume, in denen die kollektive Erinnerung gepflegt wird. Die Ausführung der Religion zeichnet durch deren Anhänger und die dezentrale Praxis der gemeinsamen Riten ein Netz23, das nichtbaulich raumwirksam wird24 (vgl. Halbwachs 1991, 129 f.).
23 | Dies ist elementarer Bestandteil vor allem von Religionen, deren Anhänger von Flucht und/ oder Vertreibung geprägt waren. 24 | Um dieses Beispiel zu illustrieren, beschreibt Halbwachs die Zerstörung des Klosters Port Royal und die Vertreibung der dort Lebenden und Praktizierenden. Das Kloster wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Erinnerung lebte jedoch weiter, solange die Vertriebenen lebten und sich an das Kloster erinnerten (vgl. Halbwachs 1991, 129).
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Raum bildet sich also durch den Vollzug einer Handlung (vgl. de Certeau, 1988), und solange er auf diese Weise aktualisiert wird, koppelt sich Erinnerung an ihn, »so gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt« (Halbwachs 1991, 142). Zusammenfassend bedeutet dies, dass die Konstruktivität von Gedächtnis und Erinnerung für die Identitätsbildung maßgeblich ist. Die Inhalte des individuellen Gedächtnisses werden innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens vermittelt, in dem sich das Individuum befindet. Dies führt dazu, dass Individuen zwar individuelle Erinnerungen haben, diese aber durch kollektive geprägt und gleichzeitig Teil von diesen sind. Die konkreten Inhalte hängen von dem konkreten gesellschaftlichen Rahmen ab und verändern sich, wenn Individuen die Rahmen wechseln. In diesem Fall kommen neue Inhalte dazu und alte gehen verloren, werden überlagert und gegebenenfalls vergessen. Werden die entsprechenden sozialen Rahmen wiederhergestellt, werden auch die dazugehörigen Erinnerungen rekonstruiert. Dass dies auch über Generationen hinweg passieren kann, wurde durch Aby Warburg sowie Jan und Aleida Assmann belegt und soll ab dem folgenden Kapitel ausgeführt werden.
Walter Benjamin
»Nie wieder könn senes ganz zurüc Und das ist vielle Chock des Wiede so zerstörend, da genblick aufhöre sere Sehnsucht z
nnen wir Vergesückgewinnen. leicht gut. Der derhabens wäre daß wir im Auren müßten, unzu verstehen.«
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PATHOSFORMELN ALS GEDÄCHTNiSSPEiCHER Motiviert durch einen Zufallsfund, forschte der Kunstund Kulturhistoriker Aby Warburg zur gleichen Zeit wie Halbwachs am Begriff des Gedächtnisses: Er beobachtete innerhalb seiner Forschungen über »die Kontinuität von Sternsymboliken« und »das Nachleben der Antike in der Frührenaissance« ähnliche Symboliken und Bildsprachen, die er auch zum Beispiel auf Briefmarken der 1920er Jahre wiedererkannte. In der Folge versuchte er zu erschließen, wie die Aktualisierung solcher Symboliken über Generationen und Epochen hinweg erklärbar ist. Im Ergebnis führte er das Auftauchen der Symbole auf eine »erinnerungsauslösende Kraft kultureller Symbole« (Erll 2011, 21) zurück, die er mit dem Begriff »Pathosformeln« beschrieb. Unter Pathosformeln verstand Warburg Symbole, in denen ein ursprünglich gespeichertes Pathos (zum Beispiel die Bildsprache der Antike in der Bildsprache anderer Epochen) als Referenz genutzt wird, um ein bestimmtes (Stimmungs-) Bild in der eigenen Gegenwart zu erzeugen. Für Warburg handelte es sich hierbei um kulturelle Engramme, »die mnemische Energie25 speichern und sich unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen« (Erll 2011, 22). Mit seiner Theoriebildung lehnt sich Warburg an die Tradition der Mnemotechnik römischer Redner an, die ihre Reden in Gedanken mit einem Weg durch ein Haus oder die Stadt verbanden und jeden wichtigen Gedanken an einem bestimmten Gegenstand festmachten, wodurch der Gegenstand Träger der erinnernden Kraft wird. Warburg transformierte jedoch den Begriff der Mnemosyne in die damalige Gegenwart und beschrieb eine Mechanik des Erinnerns, die für ihn aus zwei Komponenten besteht. Beide Komponenten beziehen sich aufeinander, sind voneinander abhängig: 1. Erinnerung sei durch die Kenntnis von Symbo len, die über das Kollektiv vermittelt werden, kultu rell bedingt.
25 | Unter »Mnemischer Energie« (auch Erinnerungsenergie) versteht Warburg eine feste, symbolisch repräsentierte kulturelle Bedeutung, die sich an alle kulturellen Objekte koppelt und ihnen innewohnt. Diese Energie beruht im Besonderen auf einer starken kollektiven Erfahrung, die im Bildgedächtnis einer Gesellschaft gespeichert ist und »deren Sinngehalt sich in der Berührung [auch über Generationen und Epochen hinweg] blitzartig wieder erschließen kann« (Assmann, J. 1988, 9 f.; siehe hierzu auch Walter Benjamin, der das Bild der Pathosformeln in seinen Thesen zu: »Über den Begriff der Geschichte« aufgreift. Vgl. Kapitel Erinnerungskultur, S. 97).
87 26 | Dass er mit dieser Vermutung Recht haben sollte, zeigt schon kurze Zeit später die
2. Erinnerungen könnten an Gegenständen, Mustern und Artefakten, die somit als (Bild-)Speicher fun gieren, festgemacht und durch einen Encodie rungsvorgang erfahrbar gemacht werden.
Verwendung der geschichtlichen Bezüge in der Bildsprache der Nationalsozialisten. 27 | Obwohl Pierre Nora noch vor Jan und Aleida Assmann die Thesen Halbwachs’ aufgegriffen und daran geforscht hat, soll seine Theorie aufgrund der primär räumlichen Betrachtung der »Lieux de mémoire« erst im Teil »Verortung« ab S. 127 aufgegriffen werden.
Auf diese Weise repräsentieren Gegenstände, Muster und Artefakte durch eine »Aufladung« eine bestimmte Erinnerung. Das Resultat seiner Forschung war das »Mnemosyne-Projekt«, das er begründete, um auf zwei wesentliche Dinge der Kulturwissenschaften hinzuweisen: zum einen, dass es in der Kunst eine bestimmte Intention in Bezug auf Erinnerung gibt und die Forschung sich somit auch mit den in den Artefakten gespeicherten Erfahrungen auseinanderzusetzen hat. Zum anderen, dass diese Erfahrung selbst zum Forschungsgegenstand zu machen ist (vgl. Oehlschläger 2005, 236 f. und Gombrich 1981, 359 siehe auch die Forderungen von Dolff-Bonekämper 2007). Beide Komponenten sind für Warburg insofern zentrale Anliegen, als für ihn mit seiner Theorie des kollektiven Bildgedächtnisses – er nannte es auch »soziales Gedächtnis« – vor allem moralische Fragestellungen verbunden sind. Moralisch deshalb, da diese Engramme aufgrund ihrer politischen Dimension ge-, aber auch missbraucht werden können.26 Diese Erkenntnisse, sowohl von Halbwachs als auch Warburg, lösten zur Zeit ihrer Entstehung eine rege Diskussion und eine breit gefächerte Beschäftigung mit ihnen aus. Wissenschaftler, Künstler und Literaten nahmen die Untersuchungen zum Anlass für neue Konzepte, künstlerische Produktionen und Texte. Bedingt durch den Tod Warburgs 1929, den Krieg und die Ermordung Halbwachs’ im Jahr 1944 lagen die beiden Gedächtniskonzepte nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch lange Zeit brach. Erst in den 1980er Jahren begann eine erneute Beschäftigung mit den Schriften zum kollektiven und sozialen Gedächtnis, die vor allem durch Pierre Nora sowie später durch Jan und Aleida Assmann sowie Moritz Csáky weiterentwickelt wurden.27 Vor allem Jan und Aleida Assmann beschäftigten sich ab Ende der 1980er Jahre primär mit der
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Kultur des Erinnerns und einer weiterführenden Theoriebildung des kollektiven Gedächtnisses, primär auf Grundlage der Schriften Halbwachs’. Ihre Leitfragen in Bezug auf das Gedächtnis sind Fragen nach der Art und Weise, wie Individuen und Kollektive sich auf die Vergangenheit beziehen, nach der Absicht der Übermittlung kulturrelevanter Wissensinhalte und Praktiken sowie nach der Art und Weise dieser Vermittlung. Das von ihnen geschaffene Konzept des kulturellen Gedächtnisses ist mittlerweile das bekannteste und meist diskutierte Gedächtniskonzept im deutschsprachigen Raum. In Bezug auf die Gedächtniskonzepte Bergsons, Durckheims, Halbwachs’ und Noras, besonders aber auf Halbwachs’ Überlegungen zur Konstruktion der Vergangenheit durch Erinnerung, gelang ihnen eine Ausdifferenzierung des bis dato noch vagen Begriffs des kollektiven Gedächtnisses. Durch die konsequente Verwendung der von ihnen eingeführten Begriffe des »kommunikativen« und des »kulturellen Gedächtnisses« gelang es ihnen, über eine Funktionstrennung die Unschärfen der vorhergehenden Konzepte aufzulösen und weiterzuentwickeln.
KOMMUNiKATIVES UND KULTURELLES GEDÄCHTNiS Nach Jan und Aleida Assmann unterscheiden sich die beiden Gedächtnisformen grundlegend voneinander, vor allem in der Art der Vermitteltheit und der vermittelnden Medien. Sie nehmen jeweils getrennte Funktionen wahr, stehen jedoch in engem Bezug zueinander: Das kommunikative Gedächtnis ist eine Art sozio-kultureller Kurzzeitspeicher, es nimmt vor allem die Funktion als Stütze und Medium der alltäglichen Kommunikation von Individuen wahr. Es ist, der Theorie Halbwachs’ folgend, sozial vermittelt und gruppenbezogen. In dieser Eigenschaft speichert es primär Erfahrungen von Zeitgenossen und bezieht sich dadurch auf einen etwa drei Generationen umfassenden
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Erinnerungs- und Erfahrungshorizont. Das kommunikative Gedächtnis unterliegt so einer »mitwandernden« Zeitschiene, innerhalb derer nahezu alles verblasst, was mehr als hundert Jahre zurückliegt (vgl. Assmann, J. 2005, 51). Dieses Phänomen hat in Zeiten der Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse, wie sie aktuell erlebbar sind, einen ganz besonderen Stellenwert, da die Erfahrungen der zurückliegenden Generationen keine Hilfestellung mehr zur Lösung aktueller Probleme bieten. In diesem Fall lösen sich Erinnerungen aufgrund von differenten Erfahrungen immer schneller auf. Zurück bleiben dann lediglich Bilder oder anders ausgedrückt »Images« der »guten alten Zeit«. Das kulturelle Gedächtnis, der Leitbegriff von Jan und Aleida Assmann, hingegen steht in direktem Zusammenhang zur Kristallisation einer langfristigen kollektiven Identität. Im Rekurs auf Halbwachs spielen hier vor allem die Begriffe »Identitätskonkretheit« und »Gruppenbezug« eine tragende Rolle. Im kulturellen Gedächtnis sind vor allem langfristige Inhalte gespeichert, wie »die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder, Riten und Bauwerke, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen« (Assmann, J. 2006, 70). Auf diese Weise werden das Wissen und die kulturellen Verhaltensweisen aufbewahrt, die vor allem dazu dienen, eine kollektive Identität zu stützen und zu erhalten: »Das kollektive Gedächtnis bewahrt den Wissensvorrat einer Gruppe, die aus ihm ein Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart bezieht. Die Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses zeichnen sich aus durch eine Art identifikatorischer Besetztheit« (Assmann, J. 1988, 13). Diese Erkenntnis hat in der Praxis insofern Folgen, als durch die Reproduktion der Inhalte dieses Gedächtnisses zum einen die identitätskonkreten Inhalte permanent aktualisiert werden müssen, und zum anderen durch die Eigenart dieser Inhalte und Praktiken sich ein Zugehörigkeits- oder Nicht-Zugehörigkeitsgefühl etablieren kann. Sowohl die Zugehörigkeit als auch die
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Nicht-Zugehörigkeit sind also der materialisierte Ausdruck eines Identitätsbedürfnisses von Individuen, die sich diesen Inhalten anschließen. Wenn Jan Assmann hier auch wenig konkret auf das Individuum und dessen Rolle eingeht, so kann doch – auch im Rekurs auf Halbwachs – rückgeschlossen werden, dass das Individuum der Träger des Gedächtnisses sein muss.28 Letztlich auch deswegen, weil es das Individuum ist, das entsprechend der kollektiven Absprache oder den kollektiven Codes handeln muss, um eine Aktualisierungsleistung zu vollbringen. Die Speicherung und Weitergabe wird über die individuelle Identifikation mit und Loyalität gegenüber den Inhalten der Gruppe organisiert: »Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag« (Assmann, J. 2007, 132). Und an anderer Stelle heißt es, dass es aber zur »Wir-Identität« auch eine »Ich-Identität« braucht (Assmann, J. 2007, 130 ff.). Die Frage, die sich hier anschließt, betrifft die Funktionsweise der beiden Gedächtnisse und der Speicherung von Inhalten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis miteinander in Verbindung stehen. Diesen Fragen hat sich vor allem Aleida Assmann gewidmet, die in einer weiterentwickelten Theorie den beiden Gedächtnissen eine Funktion zuweist, über welche die Inhalte abgeleitet werden können. Die Funktionen bezeichnet sie mit den aus dem Lateinischen stammenden Begriffen »ars« (Kunst) und »vis« (Kraft). Die Betrachtung der Memorialfunktionen als »ars« und »vis« verweist zum einen auf die antike Gedächtniskunst des Memorierens von Inhalten an Objekten, also das »Verfahren der Speicherung nach topographischem, also räumlichem Vorbild« (Matussek 2000, 153)29 sowie zum anderen auf einen seit dem 18. Jahrhundert diskutierten Gedächtnisbegriff, in dem die Kraft einen Erinnerungsprozess
28 | Siehe auch Halbwachs’ Aussagen im Kapitel »Soziales Gedächtnis«, S. 81. 29 | Siehe auch Aby Warburg »Mnemotechnik«, S. 86.
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initiiert bzw. in diesem auftritt (vgl. Matussek 2000, 153). Für Aleida Assmann ist das kommunikative Gedächtnis ein reines Speichergedächtnis, das, vergleichbar mit einem digitalen Speicher, mit Inhalten aufgefüllt wird, die gelagert und operativ nach Notwendigkeit abgerufen werden. Konkrete Inhalte sind vor allem zeitnahe Erinnerungen, die den Generationsrahmen von achtzig Jahren weit unterschreiten und auch nur unter Umständen zukünftig eine Bedeutung haben können. Dem gegenüber steht das kulturelle Gedächtnis, das die Autorin als Funktionsgedächtnis beschreibt. Dieses Gedächtnis enthält vor allem identitätsrelevante Erinnerungen, also die kollektiv vermittelten Inhalte zur Aktualisierung und Verstetigung einer Zugehörigkeit zu einem Kollektiv (vgl. Assmann, A. 2006, 134). So schlüssig die Beobachtungen und Folgerungen von Aleida und Jan Assmann in diesem Zusammenhang klingen, so unschlüssig und widersprüchlich erscheinen sie, wenn zu den Begriffen und Funktionsweisen der unterschiedlichen Gedächtnisse die Frage nach der Materialisierung und Verortung dieser Gedächtnistypen auf kommt. Denn im Rekurs auf die Ausführungen Halbwachs’ zum kollektiven Gedächtnis (siehe S. 79) und Jan Assmanns zum kulturellen Gedächtnis, müsste sich dieses in der Handlungsweise von Individuen zeigen bzw. in Texten, Bildern, Riten und Bauwerken materialisieren. Insofern wäre das kulturelle Gedächtnis ein Museum, ein Denkmal, ein Feiertag und gleichermaßen auch individuelle Bewusstseinsprozesse, Autobiografien oder ein privates Fotoalbum, wie es Astrid Erll formulierte, jedoch auch kritisierte (vgl. Erll 2011, 5). Diesem Gedanken folgend muss es also auch eine Schnittstelle zwischen individuellem und kollektivem Erinnern geben, welche an individuellen Verhaltensweisen ebenso sichtbar wird wie an kollektiven bzw. an den Produkten kollektiven Erinnerns und Handelns. Hierfür würde es jedoch eines Subjektes bedürfen, das gleichermaßen Träger der
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individuellen sowie der kollektiven Gedächtnisinhalte ist, und darüber hinaus einer Kultur der Erinnerung sowie Objekte, an denen sich die Erinnerung festmachen kann. In diesem Zusammenhang soll ein Beispiel aus dem Fundus der Theorien und Begriffe Walter Benjamins eingeführt werden: das »Eingedenken«. Das Eingedenken bezieht sich im Benjaminschen Sinne primär auf Gedenktage, also die »Wiederbelebung vergangener Ereignisse« (Raulet 1996, 10), die eine eigene Tradition des Erinnerns im Kollektiv begründen und zur Identitätsbildung bzw. -festigung beitragen sollen. Über dieses Konzept konstruiert Benjamin Überschneidungen, die das Individuum und dessen Erinnerungen in einen größeren, kollektiven Kontext einbinden. So kann Erinnerung, zum Beispiel als Ergebnis des Erinnerungsprozesses gesehen, auch als kollektive Angelegenheit im Sinne einer Tradition betrachtet werden (siehe Halbwachs). Also als etwas, über das eine Gemeinschaft verfügt, was eine Gemeinschaft für erinnerungswürdig hält, etwas, das nicht vergessen werden soll. Anders formuliert stellt sich in der Folge nicht mehr die Frage: »Was ist alles historisch?«, sondern vielmehr: »Was wollen wir als Teil unserer Geschichte anerkennen? Also: Welche Geschichte wollen wir von uns erzählen und auf diese Weise im Gedächtnis behalten?« (Assmann, A. 2007, 131). Erinnerung wäre somit nicht mehr ein primär passiver individueller Akt, sondern würde zu einer kollektiven politischen Frage, die einen Diskurs provoziert. Dieser Diskurs könnte sich zum einen an Handlungsweisen, zum anderen aber auch an Bauwerken und Orten festmachen bzw. an sie gekoppelt werden und so Teil einer Erinnerungskultur sein. Auf diese Weise könnte eine Verortung von individuellen und kollektiven Erinnerungen stattfinden, die über Einzelobjekte und Konstellationen sichtbar und verhandelbar wird. Denn der Umgang mit diesen Objekten bestimmt in gleicher Weise über den Inhalt des kollektiven Gedächtnisses wie das Wissen, das durch sie gebunden und/oder materialisiert wird.
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VON BiLDUNG, RAHMUNG UND ERHALTUNG DER ERiNNERUNGEN Wahrnehmung geht, den letzten Kapiteln folgend, zum einen zurück auf die kognitive Leistungsfähigkeit des Gehirns, zum anderen auf die Sozialisation des wahrnehmenden Individuums, die darüber entscheidet, mit welchen konkreten Inhalten das Gedächtnis befüllt wird. Schon hier scheint die Theorie der sozialen Vermitteltheit des Gedächtnisinhalts von Maurice Halbwachs auf, der den Akt der Erinnerung als eine Rekonstruktion dieser Inhalte als Identitätsakt versteht. Erinnerung ist somit ein Hinwenden zu Vergangenem, um sich die eigene aktuelle Lebenswelt zu vergegenwärtigen. Wer sich erinnert, greift aktiv oder passiv, etwa ausgelöst durch eine zufällige Wahrnehmung von etwas Vertrautem, auf die im Gedächtnis gespeicherten Inhalte zu und beschäftigt sich mit ihnen. Erinnerung beschreibt auf diese Weise das Verhältnis des gegenwärtigen Individuums zur Vergangenheit und über die individuelle Identität auch zu sich selbst sowie zu seiner individuellen Zukunft. Das Gedächtnis, im kognitiven Sinn verstanden, kann nach Aleida Assmann als »Speicher« bezeichnet werden, auf den mittels Erinnerungstätigkeit zurückgegriffen wird. Gedächtnis im kulturellen Sinne bezieht sich hingegen auf die Einbettung des individuellen Gedächtnisses in einen kollektiven Rahmen. Hier stehen sich die beiden Begriffe der Gedächtniskunst, also der subjektiven Fähigkeit, sich Dinge, Fertigkeiten oder Ereignisse zu merken, und die objektive Erinnerungskultur, also eine bewusste und gerichtete, kulturell verhandelte Erinnerungstätigkeit, gegenüber, die sich jedoch in vielerlei Hinsicht gegenseitig bedingen. Maurice Halbwachs und Aby Warburg forschten auf Basis der Erkenntnisse von Henri Bergson und Émile Durckheim über die Dimensionen der kulturellen Bedingtheit des Gedächtnisses. Sie beschäftigten sich beide zur gleichen Zeit mit der Theorie eines Kollektivgedächtnisses, über welches sie Phänomene
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gemeinsamer Gedächtniskulturen und ihrer Bedingungen zu erklären versuchten. Während Halbwachs die individuelle Aneignung der Geschichte, die daraus resultierende Erinnerung und deren kollektive Geprägtheit, also die soziale Dimension von Erinnerung und Gedächtnis, untersuchte, forschte Warburg an der materiellen Dimension von Kultur, die sich für ihn unter anderem an Artefakten festmacht. Diese materielle Dimension deutet auf einen aktiv gestalterischen Aspekt der Aneignung von Erinnerungen und Vergangenheit durch eine visuelle Kultur hin. Warburg etablierte durch seine Theoriebildung darüber hinaus eine moralische Fragestellung, die mit dem Erinnern verbunden ist: Durch das Sichtbarmachen kultureller Symbole mit erinnerungsauslösender Kraft kommen Wunschbilder oder Idealvorstellungen ans Tageslicht, welche die hinter der künstlerischen Darstellung verborgenen Intentionen offenbaren.30 In diesem Sinne fordert er, dass sich die Forschung nicht alleine mit dem Artefakt, sondern auch mit seiner Bedeutung im Sinne einer Semantik auseinandersetzen und darüber hinaus die Erfahrung mit und am Artefakt selbst zum Forschungsgegenstand werden müsse. In diesem Sinne kann Gedächtnisbildung als ein aktiver politischer Prozess der Identitätsformung beschrieben werden, der aufgrund der Prozesshaftigkeit gestaltbar ist. Mit der Erinnerungsarbeit wären dann vor allem auch moralische Fragestellungen verbunden, was direkt zu Fragen nach der politischen Dimension der Erinnerung und den damit verbundenen Verpflichtungen führt. Im folgenden Kapitel »Erinnerungskultur« sollen diese Gedanken aufgegriffen und im weiteren Verlauf dargelegt werden.
30 | Kulturelle Symbole können auch Verweise auf gesellschaftliche Prozesse und Dynamiken sein, die an Orten sichtbar werden.
ERiNNERUNGSKULTUR
George Orwell
»Who controls th controls the futu who controls the controls the past
he past, ure: e present, st.«
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VOM GEDÄCHTNiS ZUR ERiNNERUNGSPOLiTiK Ein Individuum braucht ein Kollektiv zur Konstruktion einer Identität – und umgekehrt. Jedoch sind die Erinnerungsfähigkeit sowie das Gedächtnis in beiden Fällen unterschiedlich organisiert.31 Was im einen Fall primär über die kognitive Leistungsfähigkeit, eine temporäre Auswahl und kulturelle Codes, also über eine Kenntnis der gemeinsamen Bedeutungszuweisungen, geschieht, ist im anderen Fall ein kollektiver Aushandlungsprozess. Aus diesem Grund ist Erinnerung ein sensibles Gut, vor allem, da die Vergangenheit kontinuierlich und ausschließlich in der Gegenwart rekonstruiert wird. Die Bezugspunkte werden dadurch so gesetzt, dass eine in diesem Moment sinnvolle Identitätskonstruktion geschaffen werden kann. Dies geschieht zum einen aufgrund der Notwendigkeit einer solchen Konstruktion, zum anderen aufgrund einer sozialen Verpflichtung aus der Vergangenheit für zukünftiges Handeln. Im ersten Fall handelt es sich um Gedächtniskunst (ars memorativa), im zweiten Fall um Erinnerungskultur (vgl. Assmann, J. 2007, 30). Das Wesen der Erinnerungskultur führt dazu, dass Fragen gestellt werden nach dem, was des Erinnerns würdig ist und wer dies anhand welcher Kriterien festlegt. Dies erfordert eine dringende Diskussion, welche die gemeinschaftsstiftenden »Narrative« nicht mehr nur zur Kenntnis nimmt, sondern kritisch hinterfragt und hierfür Individuen sowie Kollektive für deren Konstruktion und Pflege in die Pflicht nimmt. Im Folgenden sollen die Begriffe »Geschichtsbewusstsein«, »Erinnerungskultur« und »Erinnerungswürdigkeit« aufgegriffen und der Begriff der »Gedächtniskollektive« dem Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« gegenübergestellt werden. Vor allem Jörn Rüsen, Jan Assmann, Reinhard Koselleck und Maurice Halbwachs geben hierfür wichtige Impulse, die unter anderem von Gabi Dolff-Bonekämper, Dana Giesecke und Harald Welzer aufgegriffen wurden.
31 | Vgl. Kapitel »Gedächtnis« ab S. 76.
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Vor allem Gieseke/Welzer stellen die Frage nach einer, wie es in ihrem Kontext heißt, »Renovierung«, der Erinnerungskultur, worin die Frage einer Neugestaltung und hier besonders auch nach Modus und Inhalt der Erinnerung enthalten ist. In diesem Zusammenhang werden die Arbeiten des Historikers Fernand Braudel, des Architekten Fredrik Torisson und des Philosophen Jean-François Lyotard eingeführt und für die Argumentation herangezogen. Vor allem die Arbeit Torissons bereitet den darauffolgenden Teil der Verortung von Erinnerungen in der Stadt vor.
GESCHiCHTSKULTUR UND GESCHiCHTSBEWUSSTSEiN Der Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen definiert Geschichtskultur und ein ihr immanentes Geschichtsbewusstsein als Voraussetzung für eine Erinnerungskultur. Geschichtskultur ist für ihn eine »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft« (Rüsen 1994, 5). In diesem Sinne kann Geschichte und somit auch Erinnerung nur ein aktiver Rückgriff auf Erinnerungsinhalte zu einem Zweck sein, was die politische Dimension von Erinnerung unterstreicht. Diese These unterstützt zum Beispiel der Historiker und Geschichtsdidaktiker Karl-Ernst Jeismann, der das Geschichtsbewusstsein als einen »Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive« (Jeismann 1997, 40) bezeichnet. Somit erscheint Geschichte als Horizont der Gegenwart, was einen reflexiven Bezugsrahmen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schafft. Die Erinnerung von Individuen unterliegt jedoch unterschiedlichen Deutungen und Bedeutungen und basiert auf individueller sowie kollektiver Erfahrung, die den Gegenwartsbezug der Erinnerung beeinflusst. Diese Mechanik muss innerhalb eines historischen Diskurses mitbedacht werden, denn
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»Vergangenheit [...] entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie bezieht« (Assmann, J. 2007, 31). Diese Erkenntnis fordert eine Demokratisierung der Verfasstheit sowie der Inhalte einer Geschichtskultur, die sich auf einen Ausgleich der von Rüsen ermittelten ästhetischen, kognitiven und politischen Dimensionen stützt, die jeweils von unterschiedlichen Akteuren wahrgenommen werden.32 Historische Erinnerung erlangt auf diese Weise »eine genuin politische Legitimationsfunktion« (Rüsen 1994, 15). Hier öffnet sich jedoch ein Feld, das höchst problematisch erscheint: »Schließlich erfolgt eine Bewertung und Beurteilung historischer Ereignisse im Sinne von richtig und falsch durch die moralische Dimension des Geschichtsbewusstseins [...]« (Kroh 2003, 8). Dies ist insbesondere deshalb brisant, da sich Geschichte und Erinnerungen nicht aus eigener Motivation vermitteln. Sie benötigen Subjekte, die eine Erinnerungsleistung innerhalb eines sozialen Rahmens vollbringen und dadurch die Erinnerungen aktualisieren (vgl. Halbwachs 1985, 21). Diese Erinnerungssubjekte sind jedoch gleichsam Träger und Akteure eines kollektiven Gedächtnisses, die ihrerseits individuelle Kenntnisstände, Erfahrungen, Sichtweisen und daraus resultierende Interessen haben. Wird also die Geschichtskultur einem Diskurs entzogen bzw. werden Erinnerungsdiskurse nicht permanent angeregt, können sich »Deutungseliten« (Kroh 2003, 7) bilden, die Ereignisse instrumentalisieren und somit die Deutungshoheit zum Beispiel über einen Ort, eine Zeitspanne oder einen Sachverhalt erlangen.33 In der Folge bedeutet das, dass diesen Deutungseliten eine Instanz gegenüberstehen muss, über welche die Erinnerungsarbeit demokratisiert werden kann und die die Gesamtheit der unterschiedlichen Akteure für die Erinnerungsinhalte in Verantwortung nimmt. Auf diese Weise kann ein Ausgleich zwischen den Interessenlagen geschaffen werden, damit eine demokratisierte Form der Geschichts- und Erinnerungskultur überhaupt erst praktiziert werden kann. Dies spricht einen Bereich an, der vor allem von Jan Assmann erforscht und beschrieben wurde.
32 | Die ästhetische Dimension wird in der Regel von Deutungseliten besetzt und vor allem durch die Modi der Erinnerung sowie ihrer Symbolisierung und audiovisuellen Repräsentation wirksam. Die kognitive Dimension wird primär der Historiografie zugeordnet, die einem wissenschaftlichen Kanon folgend die Vergangenheit aufbereitet und somit ein Bild der Geschichte gestaltet. Demgegenüber steht die politische Dimension, die sich darin begründet, dass das Politische sich im Historischen reflektiert und aus der Erfahrung der Vergangenheit legitimiert (vgl. Kroh 2003, 8). 33 | Rüsen gibt hierfür mehrere Beispiele: Im Falle einer Dominanz der politischen Dimension könnte zum Beispiel die Kunst Propagandazwecken untergeordnet oder bei Dominanz der kognitiven Dimension die Wissenschaft verpflichtet werden, ausschließlich machtpolitisch rele-
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ERiNNERUNGSKULTUR vante Fakten zu liefern, mit denen Geschichtsklitterung betrieben werden könnte. Am eindrücklichsten lassen sich derartige Beispiele an der Instrumentalisierung der Geschichtskultur des Dritten Reiches demonstrieren. 34 | Hier sind häufig negative Ereignisse die Ursache, wie die Anwesenheit bei einem Unglück, oder die Betroffenheit durch die Zugehörigkeit zu einem der oben genannten Kollektive. Vielfältig sind hier die Beispiele: In Deutschland zählen hierzu vor allem der Zweite Weltkrieg sowie die Gräueltaten der Nationalsozialisten und ihrer Helfer, auf globaler Ebene zum Beispiel der 11. September 2001 und die an diesem Tag erfolgten Terroranschläge auf das World Trade Center in New York. 35 | Siehe auch Kapitel »Gedächtniskollektive« ab S. 120.
Nach Jan Assmann lässt sich »keine soziale Gruppierung denken, in der sich nicht [...] Formen von Erinnerungskultur nachweisen ließen« (Assmann, J. 2007, 30). Er sieht im Begriff der Erinnerungskultur eine auf eine Gruppe bezogene »Einhaltung einer sozialen Verpflichtung« (Assmann, J. 2007, 30), die einer jeden Gruppe in unterschiedlich starker Notwendigkeit auferlegt ist. In Bezug auf Halbwachs und Nora spricht er auch von einem »Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet« (Assmann, J. 2007, 30). Der Begriff der zentralen sozialen Verpflichtung impliziert in diesem Sinne eine Verantwortlichkeit der Beteiligten und Nachkommen einer Gruppe, die eine gemeinsame Erinnerung gegenüber den Ereignissen ihrer Vergangenheit und Geschichte teilt. Eine solche Verpflichtung betrifft das Konservieren von Erinnerungen genauso wie das Auswählen, Ordnen und Priorisieren, wodurch die Fragen, an was erinnert werden soll und muss und auf welche Weise, zur Diskussion kommen. In diesem Zusammenhang berührt der Akt des Erinnerns ein Kollektiv, das gemeinsame Traditionen hat, Erinnerungen teilt und von bestimmten Ereignissen, die es nicht vergessen möchte, betroffen war oder ist. Das können unterschiedliche Kollektive sein, die sich zum Beispiel durch die territoriale Zugehörigkeit von Individuen zu einem Land, einer Region oder einem Sprachraum, die Zugehörigkeit zu und Teilhabe an Gruppen, wie zum Beispiel Familien, Vereinen, Verbänden, Religionen, begründen. Darüber hinaus kann aber auch ein gemeinsam erlebtes Ereignis, gewollt oder ungewollt, plötzlich eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Kollektiv herstellen,34 oder aber können sich Individuen auch aus eigener Motivation einer Gruppe zuordnen und deren Gedächtnisinhalte, Riten oder Artikulationen zur Konstruktion der individuellen Identität teilen.35 Denkmalschutz und Denkmalpflege spielen im Zusammenhang mit kollektiver Erinnerung eine zentrale Rolle, denn Denkmale nehmen im Stadt- und
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Landschaftsbild eine wichtige Funktion ein und tragen durch ihre Symbolkraft zur lokalen, regionalen und nationalen Identitätsbildung bei. Durch den Schutz besonderer Kulturgüter soll deren dauerhafte Erhaltung angestrebt werden, besonders wenn diese »wegen der geschichtlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen oder städtebaulichen Bedeutung im Interesse der Allgemeinheit liegt« (DSchG Berlin 1995, § 2). Ähnlich der Funktionsweise des kognitiven Vorgangs von Erinnern und Vergessen ist es hier notwendig, die Geschichte der einzelnen Bauwerke oder Artefakte zu recherchieren, sie aufzuarbeiten, zu bewerten und eine Auswahl zu treffen. So stellt die Denkmalpflege einen wichtigen Schutz des kollektiven Gedächtnisses dar, das sich an diesen Artefakten festmacht oder von ihnen ausgeht. Allerdings hat der Schutz von Erinnerung an und mit Kulturgütern auch eine Kehrseite, wie es unter anderem der Historiker Otto Gerhard Oexle beschreibt. Er thematisiert in dem von ihm herausgegebenen Buch »Memoria als Kultur« (Oexle 1995) die gezielte oder in Kauf genommene Vernichtung von Bauwerken oder Erinnerungsorten, um Teile der Geschichte absichtlich in Vergessenheit geraten zu lassen: »Deutlicher als früher ist inzwischen auch die Verhinderung von Memoria durch die bewusste oder unbewusste Vernichtung der Repräsentationen [...] und durch eine beflissen-gleichgültige oder ideologisch motivierte Zerstörung oder ›Versiegelung‹ erinnerungsträchtiger Orte zu erkennen, die ›Gedächtnisorte hätten sein können, deren Präsenz aber nicht tragbar erschien« (Oexle 1995, 14). Beispiele wären die vielen Bauten aus der nationalsozialistischen Zeit, die am Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. danach zerstört oder umgenutzt wurden, die Kirchenbauten, die der Zerstörung durch das DDR-Regime zum Opfer fielen, oder zuletzt der Abriss des Palastes der Republik in Berlin.36 Erinnerung ist also ein zentrales konstruktives Moment jeder Form von Gesellschaft oder Gemeinschaft, wie Oexle es am Beispiel des Adels präzisiert: »Ohne Memoria gibt es keinen ›Adel‹ und deshalb auch keine Legitimation für adlige Herrschaft. Deshalb ist in den
36 | Momentan kann dieses bewusste Zerstören von fremdem Kulturgut und deren Wirkung in den täglichen Nachrichten beobachtet werden: In Syrien und dem Nord-Irak wird diese Form der Kriegsführung gezielt eingesetzt, um ganze Kulturen dauerhaft aus einem von der Organisation Islamischer Staat (IS) besetzten Gebiet zu entfernen und deren materielle Spuren zu verwischen.
105 37 | Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Begriff »Memoria« in Oexle 1995.
38 | Siehe hierzu auch das Konzept der »Pathosformeln« von Aby Warburg, S. 86. 39 | Siehe auch die Ausführungen Lyotards zu »Legitimation« und »große Erzählung«, Lyotard 2012, 54 f. und ab S. 118 in dieser Studie.
adligen ›Häusern‹ und ›Geschlechtern‹ die kulturelle Produktion von komemorativen, die ›Kultur‹ der Gruppe konstituierenden und repräsentierenden Ritualen, Texten, Bildern und Denkmalen besonders vielfältig« (Oexle 1995, 38). Und genau hier ist Vorsicht geboten, denn Vergangenheit und Erinnerungen können, wie die Ausführungen von Oexle und im Folgenden auch von der Architektursoziologin Heike Delitz zeigen, instrumentalisiert werden, um ein bestimmtes (Selbst-) Bild zu schaffen37 oder einen Mythos zu begründen.38 Delitz beschäftigt sich in ihrer Arbeit unter anderem mit der Politisierung von Erinnerungsorten. Zum Abriss des Palastes der Republik schreibt sie: »Neben der Pflege vergangener Architekturen als Substrat des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gibt es andererseits auch das gezielte Vergessen – weshalb der Abriss des Berliner Palastes der Republik ein Politikum ist, eine Entscheidung über die Art und Weise der Verteilung der Macht, die Regierungsweise, das Selbstverständnis der Subjekte, das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit« (Delitz 2009, 13). Dieses Verhältnis von Erinnerung und Macht thematisiert Aleida Assmann in ihrem Buch »Erinnerungsräume«, in dem sie über Formen der Legitimation von Herrschaft schreibt. Herrschaft, so Assmann, »usurpiert« die Vergangenheit und gestaltet aktiv ein Zukunftsbild, um Macht zu manifestieren. Konkret bedeutet das, dass retrospektiv, durch das Schaffen einer Vergangenheit, und prospektiv, mittels eines Prozesses des Verewigens, eine gesteuerte Gedächtnisleistung vollbracht wird. Herrscher oder Deutungseliten tragen dafür Sorge, dass ihre Taten erzählt, besungen oder in Form von Denkmalen und Monumenten konserviert werden, Erinnerungsinhalte also sowohl geschaffen als auch zeitgleich gefestigt werden (vgl. Assmann, A. 1999, 138 f.).39 Somit stellt Geschichte über weite Strecken der Geschichtsschreibung eine »Geschichte der Sieger« dar, was schon Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte« bemängelte (Benjamin 2007, 132 f.). Herrscher und Herrschaft, oder allgemeiner gesprochen Erinnerungsakteure, versuchen stets
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die Deutungshoheit über die Vergangenheit zu halten und zu bewahren, um damit zu Erinnerungsprofiteuren zu werden. Auf diese Weise strukturieren und limitieren sie Erinnerungsinhalte, die ihnen zur Legitimation ihres Handelns und somit ihres Daseins dienlich sind. Allerdings – und das zeigen viele, vor allem aktuelle Beispiele – können identitätsrelevante Objekte und Diskurse nicht dauerhaft beseitigt oder verschwiegen werden. Vielmehr tradiert sich das Verlustempfinden von Individuen und Kollektiven und bewahrt sich dadurch in Form von Gedächtniskollektiven. Das Wissen um Objekte und Ereignisse wird nicht aufgearbeitet und diskutiert, sondern subversiv weitergegeben. Es wäre jedoch falsch, Gedächtniskollektive einseitig darzustellen und eher negative Eigenschaften und Beweggründe zu unterstellen, denn Gedächtniskollektive können sich zum Beispiel auch bilden, um dafür Sorge zu tragen, dass eine bestimmte Seite der Geschichte, ein Aspekt, ein Ereignis, ein Sachverhalt, eine Person oder ein Objekt nicht dem Vergessen anheimfällt. Bietet sich ein Anknüpfungspunkt oder Anlass, so können durch diese Akteure, wie auch später im Praxisprojekt zu sehen sein wird, Erinnerungsdiskurse auch erst aufkommen, welche die beseitigten Objekte, verschwiegenen Ereignisse oder unterdrückten Diskurse zum Vorschein bringen. Besonders häufig ist die Bildung von Gedächtniskollektiven innerhalb von Protestbewegungen, was im Zusammenhang mit Stadtplanung zum Beispiel am Protest gegen den Abriss des Palastes der Republik, am Umbau der gesamten Innenstadt im Zuge von Stuttgart 21 und am geplanten Totalabriss im Hamburger Gängeviertel eindrücklich beobachtet werden konnte. Und nicht nur hier, sondern immer häufiger auch an anderen Stellen bestimmen Bürger, Einwohner und sonstige Betroffene aktiv mit, welche Erinnerungen erhaltenswert sind. Sie wenden sich mit tiefgreifender Sach- und Fachkenntnis gegen die repräsentativ-politischen Entscheidungen und stellen diesen ihre eigenen Wertvorstellungen entgegen. Ein solcher Protest repolitisiert Erinnerungen und verortet sie. Durch
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einen immanenten Handlungsbezug werden die Forderungen sichtbar und somit auf eine andere Weise verhandelbar.
ERiNNERUNGSWÜRDiGKEiT 40 | Hier sollen der Verweis auf die Diskussion um das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden in Europa sowie die Auseinandersetzung um die Drehgenehmigung für Tom Cruise im Bendlerblock, der Diskurs über die Darstellung der RAF-Geschichte im Film »Der Baader-Meinhof-Komplex« von Bernd Eichinger oder auch der Diskurs um den Abriss des Palastes der Republik und den Neubau des Stadtschlosses an gleicher Stelle ausreichen. 41 | Siehe hierzu auch Kapitel »Raum und Wahrnehmung«, S. 164. 42 | Hierauf verweist auch das Konzept der Mehrdeutigkeit von Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung von Moritz Csáky, das ab S. 137 aus-
An den Ausführungen zu den Diskursen, etwa zum Umgang mit Orten oder Gegenständen der Erinnerung, wird deutlich, dass die vorgestellte Erinnerungswürdigkeit und die Art des Erinnerns kontinuierlich gesellschaftlich verhandelt und neu festgelegt werden muss.40 De Certeau schreibt hierzu: »Das Erinnerungswürdige ist das, was von einem Ort erträumt werden kann« (de Certeau 1988, 206). Dies weist darauf hin, dass Erinnerung kein starres und absolutes Gefüge ist, sondern immer nur die Vergangenheit erinnert wird, die aufgrund von Relevanz aktualisiert werden kann bzw. wird. Alle anderen Ereignisse müssen dokumentiert und archiviert werden, um nicht dauerhaft in Vergessenheit zu geraten. Im Rekurs auf das vorangegangene Kapitel sowie die Erkenntnisse aus den Ausführungen zur »Wahrnehmung« (siehe S. 46) ist also besonders dort ein Dilemma zu erwarten, wo versucht wird, eine eindeutige, unzweifelhafte, singuläre Version eines Ereignisses oder einer Erinnerung daran zu formulieren, anstatt »jede Geschichte in der Vielfalt ihrer Wahrnehmungen aufgehen zu lassen« (Koselleck 2010, 17), um somit die Widersprüche aufzudecken und in einen Diskurs zu überführen.41 Allerdings hätte auch diese Herangehensweise Konsequenzen, denn »die tatsächliche Geschichte wäre dann nur soweit tatsächlich, als sie jeweils für wahr genommen, für wahr gehalten und nur insoweit wahr gemacht worden ist« (Koselleck 2010, 17).42 In Bezug auf das vorangegangene Kapitel kann der Schluss gezogen werden, dass es bei der Konstruktion des Bezugsrahmens durchaus Interessen geben kann, selektiv Ereignisse der Geschichte sowie Geschichte selbst nutzbar zu machen, um ein bestimmtes Bild
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zu erzeugen oder Argumentationen für das jeweilige Handeln zu finden.43 Eine solche Konstruktion zieht die Bildung von konkurrierenden bzw. konfrontierenden Gedächtniskollektiven nach sich.44 Geschichte und historische Ereignisse werden dann zielgerichtet für eigene Zwecke eingespannt, wodurch die Vergangenheit nicht nur gebraucht, sondern auch eine tendenzielle zukünftige Erinnerung im Sinne einer konkreten Interessenlage vorbereitet wird. Parallel zur Umdeutung und Überbetonung bestimmter zu erinnernder Momente findet oftmals eine sukzessive Ausgestaltung der Raumstruktur statt, die wiederum über Löschung, Ergänzung und Formung die Machtverhältnisse und deren Bild der Vergangenheit und Zukunft offenbart.45
führlicher vorgestellt und diskutiert wird. 43 | Siehe Kapitel »Erinnerungskultur«, S. 97. 44 | Siehe Kapitel »Gedächtniskollektive«, S. 120. 45 | Ein Sonderfall der einseitigen Aneignung von Erinnerung ist eine »subventionierte Erinnerung« und de-
PERSPEKTiVEN DER ERiNNERUNG Anhand der vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass ein Vorschlag für ein neues Erinnerungskonzept, das die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt, mehrere Komponenten im Blick behalten muss, in erster Linie aber einen konkreten Bezug von Subjekten zu Objekten und Orten braucht. Denn ein Diskurs ohne eindeutigen Ortsbezug führt nicht nur weg von einem konkreten Betrachtungsgegenstand, sondern zudem den Diskurs selbst auf eine abstrahierte Ebene. Eine solche Abstraktion bedeutet letztlich, dass Erinnerungsorte generell, nicht speziell betrachtet werden. Ein solcher Generalisierungsprozess ignoriert die lokale Geschichte und somit deren spezifisches Werden ebenso wie er mögliche individuelle Deutungen, mehrfache Signifikate von Objekten und eigene Empfindungen bei der Betrachtung unterschlägt. Ein derartig angelegtes Erinnerungskonzept wäre noch dem vormodernen Bild des Historismus verpflichtet, der Geschichte als lineare Abhandlung beschreibt, was
ren Deutung im Kontext von Förderstrukturen des Bundes und der EU. So spricht zum Beispiel der Historiker Justus H. Ulbricht in seinem Aufsatz »Fragmentierte Erinnerung – Weimar und sein kulturelles Gedächtnis« von einem zweifelhaften europäischen Erbe in Weimar: »Zeitgemäß wäre es sicherlich, nach den ›europäischen‹ Aspekten der lokalen Geschichts- und Erinnerungskultur zu fragen. Versteht man jedoch das Epitheon ›europä-
109 isch‹ nicht nur als Label für all das, was Internationalität signalisiert, den Zeitgeist frommt und gegebenenfalls Geld aus Brüssel zu erwarten hat, sondern als substantiellen Begriff, dann müsste man eingangs definieren, was der imaginäre Kontinent ›Europa‹ kulturell umfasst und dann klären, welche Spuren dieser übernationalen Kulturgeschichte sich in der deutschen Klassikerstadt sichern und lokalisieren ließen« (Ulbricht 2007, 143). 46 | In Bezug auf »Das wilde Denken« von Claude Lévi-Strauss definiert Jan Assmann »heiße« und »kalte« Erinnerung wie folgt: Kalte Erinnerung ist Erinnerung, auf die sich zwar bezogen, die jedoch nicht mehr gelebt bzw. weiterentwickelt wird. Kalte Gesellschaften »scheinen eine besondere Weisheit erworben oder bewahrt zu haben, die sie veranlasst, jeder Veränderung ihrer Struktur, die ein Eindringen der Geschichte ermöglichen würde, verzweifelt Wi-
jedoch spätestens seit der von Karl Marx in seiner Theorie des »historischen Materialismus« formulierten Geschichtskritik und in Folge der von Fernand Braudel eingeführten Neudefinition der Geschichte und Geschichtsschreibung als Prozess als widerlegt gilt. Somit dürfte dieses Geschichtsbild weiterhin auch keinen ernsten Beitrag zu einer Erinnerungskultur liefern, denn Erinnerung, die auf diese Weise geschieht, kann weder einen Beitrag zur Klärung der historischen Verantwortung leisten noch zur Verantwortung derer beitragen, an die sich der Erinnerungsappell richtet. Darüber hinaus wandelt sich eine Erinnerungskultur ohne Orts- und Objektbezug von einer »heißen«, lebendigen Kultur in eine »kalte«, überlieferte (vgl. Welzer 2012, 9 f.; Assmann J. 2007, 68).46 Denn die für ein empathisches Empfinden wichtigen emotionalen Bezüge zur erlebten Geschichte können nicht mehr durch authentische Erfahrungen von »echten« Personen hergestellt, sondern lediglich kognitiv erlebt und über darstellende Medien weitergegeben werden. Diese Form der Erinnerung wird abstrakt bleiben und in Folge dessen wenig bis keine Überschneidung mit der Lebensrealität der Erinnernden haben. In diesem Fall verkommen Erinnerung und Erinnerungskultur zu einem abzuleistenden Ritual, dessen Inhalt, Ziel und Zweck nicht mehr verstanden werden (vgl. Giesecke/ Welzer 2012, 21 ff.). Ein wichtiger Zugang zur eigenen Individual- oder Kollektivgeschichte bleibt somit verwehrt, denn »wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens. Das Geschehene allein genügt nicht« (Klüger 1999, 128). Vermutlich werden daran auch die mittlerweile mannigfaltigen Zeitzeugenprogramme und unzähligen Bücher, Dokumente und Filme, etwa über die Geschichte von Kriegen oder die NS-Vergangenheit Deutschlands, wenig ändern. Denn gerade die jüngere Generation, in deren Familien oder Umfeld sich bald keine Zeitzeugen etwa des Krieges oder des Holocausts mehr finden werden, wird Schwierigkeiten haben, sich in vergangene Ereignisse hineinzudenken und Empathie zu entwickeln. Es bedarf also eines neuen Konzeptes zum Umgang mit den Erinnerungen einer Gruppe
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und deren Weitergabe, die als Richtschnur für ein gemeinsames Verhalten mit und gegenüber der eigenen Vergangenheit gelten kann. Je einen eigenen Ansatz hierfür liefern Gabi Dolff-Bonekämper mit ihrem Konzept der Erinnerung als Lernprozess und Aleida Assmann, die fordert, die Vergangenheit »begehbar« zu machen. Beide Konzepte fokussieren ein »Primat der Erfahrung« (Assmann, A. 2011, 78 f.), das Individuen über eine individuelle Verantwortung in die lokale Geschichtslandschaft einbindet. Hierfür bieten vor allem Welzer und Giesecke eine breite Palette an Zugängen. Zentral ist ihnen die Fragestellung, an was überhaupt noch erinnert werden soll und wie dieses ermittelt werden kann. Diese Fragen spannen einen Bogen, der bei der Mechanik, der Perspektive und dem Zweck der Erinnerung beginnt und bei den Inhalten dieser Erinnerungstätigkeit endet. Gemeinsam schlagen sie hierfür eine »Renovierung der deutschen Erinnerungskultur« vor (Giesecke/ Welzer 2012).
derstand zu leisten« (Claude Lévi-Strauss zitiert nach Assmann, J. 2007, 68). Dem gegenüber verortet Jan Assmann eine heiße Erinnerung. Der Begriff der »heißen Erinnerung« beschreibt eine gegenwärtige Erinnerung, auf die heiße Gesellschaften nach Claude Lévi-Strauss permanent zugreifen, sich diese aneignen und sie »zum Motor ihrer Entwicklung [...] machen« (Assmann, J. 2007, 68). Der Theologe Helmut A. Müller führt weiter aus: »›Kalte Erinnerun-
RENOViERUNG DER ERiNNERUNGSKULTUR Erinnerung und Erinnerungskultur begründen sich in Deutschland vor allem auf Rückbesinnung und in diesem Zusammenhang besonders auf der Vergegenwärtigung der Taten, die von den Nationalsozialisten und deren Helfer begangen wurden. Vor allem an der Unterrichts- und Gedenkstättendidaktik wird der häufig unternommene Versuch sichtbar, etwas in der Vergangenheit Geschehenes im Nachhinein in seiner Gesamtheit zu verstehen und zu bewerten. Hierbei wird jedoch der Prozess häufig mit dem Ergebnis gleichgesetzt, wie zum Beispiel der Erinnerungsforscher Harald Welzer konstatiert. In diesem Sinne funktioniert Erinnerung rein retrospektiv und ohne
gen‹ nehmen vergangenen Ereignissen das Einmalige und Außerordentliche und damit ihre geschichtsgestaltende Kraft. ›Kalt‹ erinnerte Geschichte wird nicht mehr ›bewohnt‹. ›Kalte Erinnerung‹ stimuliert die Medien in Fülle, verhindert aber letztlich die ›Bewohnung‹ und gemeinsame Belebung der
111 Geschichte. Ein individuelles Gedächtnis ist ohne sozialen Bezugsrahmen undenkbar. Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Individuum hätte kein Gedächtnis. ›Heiße Erinnerung‹ hilft Individuen und Gesellschaften zur ›Bewohnung‹, ›Belebung‹ und Gestaltung von Geschichte« (Müller 1999, o. A.). 47 | Im Zusammenhang mit der geforderten Revision der Erinnerungskultur stellen sich weitere Fragen, die vor allem den Bereich der Tradition der Erinnerungsarbeit und den intendierten Sinn berühren. Hier besteht ein dringender Bedarf, über das Erinnern und die Erinnerungskultur in Deutschland zu diskutieren. Es müssen Fragen danach, wie und woran erinnert werden soll, gestellt und erörtert werden, was letztlich auch ein Ziel der vorliegenden Studie ist, aber den Rahmen an dieser Stelle zu weit fassen würde. Aus diesem Grund sollen diese wichtigen Fragen hier nicht diskutiert werden.
explizite Zukunftsperspektive (vgl. Giesecke/Welzer 2012, 8). In ihrem gemeinsamen Buch stellen er und die Soziologin Dana Giesecke fest, dass durch primär retrospektive Erinnerungskulturen Erinnerungslücken entstehen. Dies führen sie auf die Mechanik des Erinnerns zurück, innerhalb derer die Gegenwart aus der Vergangenheit reproduziert wird und nicht auf Grundlage eines Zukunftsbildes, dem gegenüber die Vergangenheit lediglich reflektiert wird. Erinnerung wird somit nicht konstruktiv in ein Zukunftsbild übertragen, sondern überlagert die Gegenwart. Auf diese Weise können die Erfahrung aus der Vergangenheit sowie die aus ihr resultierende Erinnerungstätigkeit keinen Beitrag zur Bewältigung zukünftiger Frage- und Problemstellungen leisten.47 Besondere Brisanz erhält diese Erkenntnis dadurch, dass es in der Konsequenz nicht möglich ist, die wichtigen Weichen für die Zukunft schon heute zu stellen.48 Hierfür ist es zwingend notwendig, im Konzept die Perspektivität der Erinnerung zu hinterfragen und den Zweck der Erinnerungsarbeit neu zu definieren. Es ist wichtig, die Frage aufzuwerfen, wie es möglich ist, die Geschichte nicht von ihrem Ende her, sozusagen als Totalereignis, zu begreifen, sondern als »Abfolge vieler Zivilisationsbrüche« (Seidel 2013c, o. A.) die offenzulegen, zu deuten, zu verhandeln und zu vermitteln sind. Diese Ausführung zielt auf die Erkenntnis einer Funktionsweise, die schon Walter Benjamin im Rückbezug auf das Geschichtsbild Braudels mit seiner archäologischen Betrachtung von Geschichte erreichen wollte: eine grundsätzliche Infragestellung und Dynamisierung von Geschichtsschreibung und Geschichtsprozessen. Im Zusammenhang mit den Forderungen von Giesecke/Welzer, eine Art Erinnerungs-Inventur zu betreiben, um das gesamte Erinnerungsmaterial zu sichten und zu bewerten, ist die Nähe zu den Ausführungen des Historikers Fernand Braudel, des Architekten Torisson und des Philosophen Jean François Lyotard interessant. Torisson betrachtete die Konstruktion von Stadtbildern durch Erinnerungen, die sich an
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Objekten (Relicts and Monuments) und den (Geh-)Wegen, die diese verbinden, festmachen, und führt über das verbindende Element des Narrativs zu den Ausführungen Lyotards über das postmoderne Wissen und das Ende der großen Narrative. Beide Arbeiten sollen im Folgenden vorgestellt werden.
48 | Diese Konsequenzen können auf vielfache Bereiche bezogen sein: Klimawandel, weiße Flecken in der individuellen oder kollektiven Geschichte, Verlust von historisch wichtiger Bausubstanz, Identitätsverluste etc.
Alfred Döblin
»Berlin ist größtenteils uns leicht sämtliche modernen sichtbar sein, – und was sic bloß die Nachlassgarderob le Sache. Aber es wäre ein g Geistige von heute. Denn m und Gedanken steht es nic tenteils von gestern und vo lich langsam sickert das H Und so langsam bauen sich vielleicht in 50-100 Jahren können, natürlich – das von
nsichtbar. [...] Sollten vielen Städte eigentlich unsichtbar an ihnen ist, ist obe? Das wäre eine toln gutes Symbol für alles n mit unsern Vorstellungen icht anders, sie sind größvorgestern, und unendeute in unsere Gedanken. ch auch die Städte um, n wird man Berlin sehen on heute.«
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ERiNNERUNG ALS GEGENWÄRTiGER PROZESS Nicht nur der Historiker Fernand Braudel hat mit seiner Arbeit über die Geschichte des Mittelmeerraums (Braudel 1990) darauf hingewiesen, dass ein vom Historismus lange aufrechterhaltenes Postulat, Geschichte so zu schreiben, wie sie gewesen sei, zum Scheitern verurteilt ist. Zum Scheitern verurteilt deshalb, da Geschichte immer erst im Nachhinein betrachtet werden kann und so immer aus der aktuellen Gegenwart bewertet und »geschrieben« wird (vgl. u. a. Halbwachs, 1991, 55). Wie bereits in den Ausführungen zu »Wahrnehmen« (S. 46) und »Wahrnehmung und Erinnerung« (S. 47) festgestellt, erinnert sich jeder, der sich an ein bestimmtes Ereignis erinnert, an dieses aufgrund des eigenen Erfahrungshorizontes und der aktuellen Relevanz der Erinnerung für die Gegenwart. So entsteht, um beim vorangegangenen Zitat Alfred Döblins zu bleiben, das Berlin von heute erst durch die Rekonstruktionsleistung zukünftiger Generationen, die Zugang zu mannigfaltigen Quellen ebenso besitzen wie Erfahrung aus der bis dato angehäuften Geschichte. Die Stadt, die dadurch entsteht, ist von vornherein keine Stadt, sondern die Komposition eines Bildes der Stadt, das darauf aufbaut, was für einen bestimmten gegenwärtigen Zweck von Nutzen ist49 oder ein bestimmtes Bild offenbart, das die Gesellschaft von sich zeigen will und mit dem an sie erinnert werden soll. Der Architekt Fredrik Torisson nimmt diesen Gedanken anhand der Stadt Berlin auf und beschreibt diesen Vorgang in seinem Buch »Berlin – matter of memory«. Er nähert sich über eine Zustandsbeschreibung des gegenwärtigen Stadtbildes der Geschichte Berlins und deren Spuren an. Auf diese Weise gelingt es ihm, ein Bild der Stadt zu entwerfen, die erst durch den Prozess des Werdens physisch wie kognitiv entstanden ist (vgl. Torisson 2010). Berlin, ebenso wie andere Städte – und hier kann die Aussage Döblins als richtig gelten –, werden immer erst im Nachhinein, durch die Gesamtschau aus
49 | Diese Konsequenzen können auf vielfache Bereiche bezogen sein: Klimawandel, weiße Flecken in der individuellen oder kollektiven Geschichte, Verlust von historisch wichtiger Bausubstanz, Identitätsverluste etc.
117 50 | Döblin fasst diese unter dem Begriff der »Nachlassgarderobe« zusammen. 51 | Siehe hierzu auch das »Mnemosyne-Projekt« von Aby Warburg, S. 87. 52 | Die Stadtschlösser in Potsdam, Berlin oder Wolfsburg wären ein Beispiel, ebenso wie die Frauenkirche in Dresden, die Schinkelsche Bauakademie oder die alte Kommandantur unter den Linden.
der Erinnerung und der Erfahrung aus der Geschichte sichtbar. Genau genommen leben die Einwohner der Stadt aktuell in einer Stadt, die in fünfzig oder hundert Jahren das sein wird, was sie heute vielleicht sogar ist. In diesem Sinne ist Berlin, das nach dem Architekturkritiker Karl Scheffler schon 1910 dazu verdammt war, »immerfort zu werden und niemals zu sein« (Scheffler 1910, 267), ein Konstrukt der Erinnerung, das sich nach Torisson besonders an den sichtbaren Objekten, an Relikten und Monumenten ablesen und rekonstruieren lässt (vgl. Torisson 2010, 131 ff.). Als Eckpunkte für diese Rekonstruktion dienen Torisson sichtbare Orte oder Gebäude, die Verweise auf Gesellschaften, politische Systeme, Herrschaftsideologien oder Mythenbildung liefern.50 Die damit verbundenen großen Narrative, die jahrhundertelang zur nationalen Identitätsbildung herangezogen wurden, sind im Laufe der Zeit zerschlagen worden und haben ihre Bedeutung verloren: Aus dem Berlin der Kaiserzeit und den gegenwärtigen Spuren etwa kann heute keine umfassende Identitätsbildung mehr rekonstruiert werden, jedoch sind an dieses Bild oder an Fragmente Erinnerungen, Sehnsüchte oder Erfahrungen gekoppelt, über die es durchaus möglich ist, eine Identität oder ein anderes Narrativ zu konstruieren.51 Am deutlichsten ist dieser Prozess anhand der Musealisierung und Inszenierung von Altstädten und Sehenswürdigkeiten oder auch an der Rekonstruktion historischer Gebäude in einigen deutschen Städten51 2sowie den meist rückgreifenden Themen, die über ein Stadtmarketing vermarktet werden, zu beobachten. Allerdings wird so nicht nur ein gegenwärtiges Bild gezeichnet, sondern auch die Vergangenheit verklärt, was Aleida Assmann in der Ankündigung zu einem Vortrag über »Das Gedächtnis der Stadt« folgendermaßen formuliert: »Spiegelte der Wiederaufbau der Warschauer Altstadt und des Berliner Straßenzuges ›Unter den Linden‹ in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg den Wunsch nach Heilung, reklamiert die historische Rekonstruktion heute den Wunsch nach Visualisierung eines gelungenen Bildes der Vergangenheit« (ADK Berlin 2011, 15). Durch derartige Bestrebungen werden
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neue Narrative konstruiert, die alte aufgreifen und diese verwenden, um medienwirksame (Stadt-)Bilder zu schaffen.
POSTMODERNE NARRATiVE Fredrik Torisson benutzt in seinen Ausführungen häufig den Begriff des Narrativs, der in seinem und im Sinne der vorliegenden Studie von zentraler Bedeutung ist. Narrative – oder »große Erzählungen«, wie sie von Lyotard benannt wurden (Lyotard 2012, 54) – sind gemeinschafts-, sinn- und identitätsstiftende Erzählungen, die Individuen an für das Zugehörigkeits-Kollektiv wichtige oder konstitutionelle Ereignisse binden. Narrative nehmen auf diese Weise Funktionen eines kollektiven Gedächtnisses wahr, das sich anhand eines Themas oder eines singulären Erzählstrangs der individuellen oder kollektiven Geschichte bildet.53 Was mit der aus einem Bruch mit der Moderne hervorgegangenen Veränderung des Selbstverständnisses von Individuen begann und durch das postmoderne Denken fortgeführt wurde, wurde von Lyotard beobachtet und in seinem Aufsatz »Das postmoderne Wissen« (Lyotard 2012) aufgegriffen und theoretisiert. Er deutet darin an, dass die bislang aufgebauten und verbreiteten Narrative etwa jeder Epoche, Nation oder Religion aufgrund des im Zeitalter der Postmoderne aufkommenden pluralistischen Blicks und der wachsenden individuellen Kritikfähigkeit ihren vereinheitlichenden und gleichmachenden Charakter verloren hätten (vgl. Lyotard 2012, 54 f./99). Vor allem, da sich die Gesellschaft hochgradig individualisiert hat, ist auch die kollektive Einstellung und Haltung in partikuläre Einstellungen und Haltungen zerbrochen.54 Zurück bleiben somit Individuen – Lyotard spricht von »Atomen« (Lyotard 2012, 57 ff.) –, die in ihrer Eigenschaft als soziale Wesen Sinn und Identität in Subgesellschaften suchen.
53 | Die Stadtschlösser in Potsdam, Berlin oder Wolfsburg wären ein Beispiel, ebenso wie die Frauenkirche in Dresden, die Schinkelsche Bauakademie oder die alte Kommandantur unter den Linden. 54 | Vgl. die Aussagen zum »sozialen Band«, Lyotard 2012, 54.
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Der Theorie Lyotards zufolge gehen postmoderne Individuen also nicht mehr in einer Masse auf, sondern treten bewusst aus dieser heraus oder separieren sich über individuelle Narrative. Diesem Gedanken entsprechend würden Narrative somit auch nicht automatisch aktualisiert – Lyotard spricht hier von »Legitimation« (Lyotard 2012, 55 f.) –, sondern jedes Individuum müsste sich selbst die Narrative suchen oder kreieren und legitimieren, die für die eigene temporäre Identität nützlich sind. Lyotard bewertet diese Pluralisierung jedoch nicht negativ. Im Gegenteil: Er sieht darin einen großen gesellschaftlichen Fortschritt, wodurch die einzelnen Sichtweisen und Positionen auf ein und dieselbe Sache überhaupt erst verhandelbar und in einen Diskurs überführbar werden (vgl. Lyotard 2012, 57 f.).
LEGiTiMATiON QUA DiSKURS STATT QUA DiKTAT 55 | Siehe auch »Perspektiven der Erinnerung«, S. 108, und Halbwachs’ Ausführungen zum »Kollektiven Gedächtnis«, S. 79.
Über einen Diskurs, wie ihn sich Lyotard vorstellt, wird vermeintlich Selbstverständliches hinterfragt, was bedeutet, dass Individuen sich nicht mehr unreflektiert mit Gegebenem oder Tradiertem einverstanden erklären. Hieraus könnte eine neue Kultur erwachsen, die mit einem Bruch der modernen Vorstellungen von Linearität, Fortschritt und Zweck von Geschichte einhergeht und offen für konstruktive Kritik ist.55 In der Konsequenz könnte dies bedeuten, dass die großen Narrative zwar keine Projektions- oder Reflexionsfläche mehr zur Bildung und Bewahrung einer Identität des Individuums oder eines Kollektivs bieten würden, aber dadurch neue Möglichkeiten der Identitätskonstruktion entstehen würden, da Individuen fortan nicht selbstverständlich, dauerhaft und unabänderlich, zum Beispiel qua Geburt, ein Teil von bestimmten Kollektiven oder kollektiven Narrativen wären.
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Dieser an sich freiheitlich orientierte Vorgang wird jedoch oftmals als Dilemma der Postmoderne beschrieben, was in Bezug auf eine gemeinschaftsstiftende Erinnerungskultur tatsächlich Probleme hervorrufen könnte.56 Denn sollten Individuen ihre eigenen Narrative nicht mehr an einem Kollektiv spiegeln und in die eigene Identitätsbildung einbeziehen können, könnte das zu einer generellen Auflösung von kollektiven Narrativen und somit auch zum Bruch der Gesellschaft insgesamt führen. An dieser Stelle soll an die Bedenken in Bezug auf das Zitat Kosellecks erinnert sein, wonach Geschichte nur insofern für wirklich gehalten wird, »als sie jeweils für wahr genommen, für wahr gehalten und nur insoweit wahr gemacht worden ist« (Koselleck 2010, 17; siehe auch S. 70). Der Rest an erinnerungs- oder geschichtsrelevanten Inhalten würde dann entweder durch die Historik aufgefangen werden müssen oder dem Vergessen anheimfallen. Um dieses Dilemma zu überbrücken, also die Pluralität von Erinnerung anzuerkennen und parallel die Erinnerung an und Erfahrung aus der kollektiven Geschichte zu erhalten, könnte eine neue diskursive Form der gemeinsamen Erinnerung bzw. ein gemeinsames Gedächtnis, das aus vielen unterschiedlichen Erinnerungen und Identitäten besteht, helfen, ein lokales Narrativ zu ermitteln und über individuelle Raum- oder Objekterfahrung einen integrativen und verbindenden Gemeinschaftssinn zu stiften. Diese Erfahrung braucht eine aktive Teilnahme ebenso wie aktive Teilhabe an einer Erinnerungskultur.
56 | Interessanterweise beschäftigen sich vor allem die Religionswissenschaften und die Psychologie bzw. Psychoanalyse mit der Analyse des Dilemmas der Postmoderne.
GEDÄCHTNiSKOLLEKTiVE Ein theoretischer Zugang zum Entstehen von Gedächtniskollektiven könnte über die Ausführungen von Lyotard zu postmodernen Narrativen erfolgen. Wenn diese auf den Bereich der Erinnerungskultur übertragen werden, zeigen sich große Ähnlichkeiten mit dem
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Vorgang der Aufspaltung großer kollektiver Narrative in kleinere individuellere Einheiten. Das kollektive Gedächtnis begründet sich, so scheint es, aus den Schnittmengen von und Übereinkünften aus unterschiedlichen Gedächtniskollektiven, die in einem historischen, sozialen, thematischen und/oder räumlichen Zusammenhang stehen. Gedächtniskollektive unterscheiden sich vom »kollektiven Gedächtnis« jedoch derart, dass sich ein Individuum auch zu einem Kollektiv zugehörig fühlen kann, ohne etwa durch Abstammung oder generational übermittelte Tradition schon von Geburt an ein Teil von ihr gewesen zu sein. Gründe hierfür können persönliche Bezüge, Interesse oder Empathie sein. Auf diese Weise bilden sich Erinnerungs- bzw. Gedächtniskollektive, die sich aufgrund ihrer Themen, Traditionen, Riten oder Sichtweisen und Einstellungen unterscheiden. Solche vornehmlich freiwilligen Kollektive grenzen sich häufig inhaltlich wie formal bewusst stark von anderen ab, was unterschiedliche Gründe haben kann. Erfahrung spielt hier ebenso eine Rolle wie rationale oder ökonomische Gründe, zum Beispiel in Bezug auf Förderprogramme zur Projektfinanzierung. Eine dauerhafte Abgrenzung von anderen Gruppen ist jedoch weder anzustreben noch realisierbar, da »Erinnerung weder für Individuen noch für Gruppen ein fester, dauerhafter Besitz ist, sondern ein dynamischer Kommunikationsprozess, der innerhalb gegebener sozialer Rahmen stattfindet« (Dolff-Bonekämper 2006, 368). Gedächtniskollektive können in diesem Sinne »keine statischen Formationen sein [...], mit harten Grenzen, die Individuen und Inhalte auf Dauer in zugehörige und nicht zugehörige trennen und drinnen oder draußen halten«, wie Dolff-Bonekämper in Bezug auf Halbwachs schließt (Dolff-Bonekämper 2006, 369). Vielmehr ist es Individuen möglich, zum einen mehreren Gedächtniskollektiven anzugehören, zum anderen ihre Zugehörigkeit aber auch aufzulösen oder neue Gedächtniskollektive mit zum Beispiel einem stärkeren Fokus auf eine bestimmte Fragestellung oder einen bestimmten Sachverhalt zu bilden. Insofern kann
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Halbwachs unterstellt werden, dass er in Bezug auf individuellen Zu- oder Weggang von Gedächtniskollektiven ebenfalls weniger ein Problem als vielmehr einen Vorteil im Sinne einer dynamischen Stütze für die Erinnerungstätigkeit eines Kollektivs gesehen hat (vgl. Dolff-Bonekämper 2006, 368).
VON GESCHiCHTE UND NARRATiVEN SOWiE DEREN LEGiTiMATiON Was ist erinnerungswürdig, wer entscheidet darüber und auf welcher Grundlage? Dies sind die Fragen, die zu Beginn dieses Kapitels gestellt wurden. Zur Beantwortung wurde die Verantwortlichkeit von Individuen sowie Kollektiven gegenüber Erinnerungsinhalten herausgearbeitet und erläutert, wie Erinnerungen instrumentalisiert werden können. Es wurde festgestellt, dass Individuen sowohl Träger des individuellen als auch des kollektiven Gedächtnisses sind. Beide Gedächtnisse stehen in Korrelation zueinander, beeinflussen und prägen sich gegenseitig. Hierbei spielen nicht nur die individuelle Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit eine zentrale Rolle, sondern auch die Kenntnis von und die reflektierte Zugehörigkeit zu Gedächtniskollektiven ebenso wie die Bereitschaft, Verantwortung für die Aktualisierung von Erinnerungen innerhalb eines solchen Kollektivs zu übernehmen. Die Erkenntnis aus den vorangegangenen Ausführungen lautet, dass Erinnerungsarbeit per se politische Arbeit ist. Vor allem Zugehörige zu Gedächtniskollektiven, die sich mit ihren spezifischen Sichtweisen und inhaltlichen Teilmengen des Erinnerten gegenüberstehen, sind erinnernde Akteure, die gleiche Sachverhalte durchaus unterschiedlich deuten können. Mehrfachcodierungen und unterschiedliche Sichtweisen bergen das Potenzial für Auseinandersetzungen. Vor allem hier wird die Notwendigkeit deutlich
123 57 | Objekte können zum Beispiel Denkmale oder Erinnerungsorte sein, die an historische Ereignisse, wichtige Persönlichkeiten oder vergangene Praktiken erinnern sollen. Diese Denkmale bilden für die Identität der Gemeinschaft zentrale Momente ab und stellen so einen kollektiven Gedächtnisspeicher dar. Sie erheben sich gegen das Vergessen, rufen ins Gedächtnis oder mahnen die nachfolgenden Generationen. Handlungen können Bewegungen bzw. Fortbewegungen, wie zum Beispiel das Gehen in der Stadt und speziell bestimmte Formen oder Haltungen sein, die gehend praktiziert werden.
erkennbar, sie in einen Diskurs am Erinnerungsgegenstand oder -ort zu überführen. Ein solcher Diskurs bietet mehrere Anknüpfungspunkte für eine in die Zukunft gerichtete Erinnerungstätigkeit: Er schafft neben einem umfangreichen Wissen über das Betrachtungsobjekt ein Bewusstsein für dessen Einzigartigkeit und Besonderheiten, wodurch das Objekt in seiner Gesamtheit gleichsam erst durch die Kenntnis seiner Geschichte und die persönliche Betrachtung entsteht. Er bildet die unterschiedlichen Sichtweisen, die sich aufeinander beziehen oder im Widerspruch zueinander stehen, hierarchielos nebeneinander ab, was eine breit gefächerte Beteiligung ohne Bewertung der Beiträge erlaubt und es somit kein objektives ›Richtig‹ oder ›Falsch‹ geben kann. Ferner kann ein solcher Diskurs durch feststehende Methoden und eine Moderation nicht nur aufgeworfen, sondern auch aufgefangen und für eine lokale Erinnerungskultur nutzbar gemacht werden. Diese Erinnerungskultur wird zum einen durch Objekte, die in Orten enthalten sind bzw. selbst Orte begründen, zum anderen durch Handlungen, die Objekte oder Orte zu Konstellationen und somit zu Räumen zusammenfassen, raumwirksam.57 Durch die inhaltliche und lokale Verortung wird das Individuum Teil eines oder mehrerer Kollektive, die sich spezifisch erinnern. Das persönliche Vor-Ort-Sein ist hierfür von eminenter Bedeutung, denn am Objekt können die sinnlichen Eindrücke aktiviert und somit ein Bezug zur persönlichen Identität hergestellt werden. Ebenso wichtig ist jedoch die Verständigung auf eine Kultur der Erinnerung, welche die unterschiedlichen Sichtweisen berücksichtigt und diese innerhalb des Diskurses abbildet. Auf diese Weise wird der Vorgang des Erinnerns nicht an die Vergangenheit gebunden, sondern in der Gegenwart verortet und für die Zukunft relevant gemacht. Im Rekurs auf das Zitat der Schriftstellerin Ruth Klüger (siehe S. 66) und die Aussagen von Giesecke/
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Welzer können hierbei vier zentrale Punkte abgeleitet werden, die für die Konstruktion einer neuen Form der Erinnerungskultur hilfreich sein könnten. • Förderung der Fähigkeit zur Empathie. • Erinnerungstätigkeit primär für ein konstruktives Nach-vorn-Blicken. • Authentizität von Personen und/oder Orten. • Weitergabe von Erfahrungen aus der Geschichte. Eine lokal verortete aktivierende Erinnerungsarbeit kann einen solchen Prozess, unter Berücksichtigung der vorgestellten Punkte, initiieren und begleiten. Hierfür soll im folgenden Projektteil einleitend auf die Aspekte der Mehrfachcodierung von Signifikaten und die Frage »Erinnerung + Orte = Erinnerungsorte?« eingegangen werden.
VERORTUNG
Claus Baumann
»Im derzeitigen Disk men ›öffentlicher Ra mus‹ oder allgemein ›ästhetische‹, ›politis relle Räume‹, um ›O etc. wird häufig nich ›Raum‹ eine Reflexio ist, die nicht unabhä thematisiert werden
skurs um die Theaum‹, ›Urbanisiner um ›soziale‹, tische‹ und ›kultuOrte‹, ›Nicht-Orte‹ cht beachtet, dass ionsbestimmung hängig von ›Zeit‹ en kann.«
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VERORTUNG VON ERiNNERUNGEN Erinnerung, die sich auf ein Ereignis bezieht, ist eine geistige Handlung, die von einem wahrnehmungs- und erinnerungsfähigen Subjekt vollzogen wird, also ein bewusster Akt der Rückholung von Gedächtnisinhalten zur Veranschaulichung des eigenen gegenwärtigen (Lebens-)Standpunktes. »Typisch für diesen Selbstbezug ist die autobiografische Erinnerung, wie sie zu den immer wieder notwendigen Vorgängen subjektiver Selbstvergewisserung im Lebensvollzug gehört« (Rüsen 1994, 7). Erinnerung dient somit der Konstruktion einer Identität und spiegelt diese. Sie kann sich zufällig ereignen oder durch eine weitere Handlung, die körperliche Bewegung im Raum, evoziert werden. Denn durch eine Bewegungsabfolge werden Orte verbunden, an denen sich Erinnerungen festmachen bzw. die explizit als Erinnerungsorte eingerichtet wurden. Es entstehen Wege, die zum einen ein Innen und Außen und somit eigene Denkräume kennzeichnen und zum anderen in der Abfolge von räumlichen Objekten Ordnungen bilden, die im Sinne Walter Benjamins als »Konstellationen« beschrieben werden können.58 Die Koppelung von Erinnerungen an Orte oder Räume wurde maßgeblich durch das Konzept der »Lieux de mémoire« von Pierre Nora beschrieben, das gemeinsam mit dem Konzept der Mehrfachcodierung von Erinnerungsorten von Moritz Csáky und dem Konzept der »Contested Terrains« von Dolores Hayden diskutiert werden soll. Das primäre Interesse gilt hier der politischen Dimension von Orten und Erinnerungen, die sich an ihnen festmacht. Die daraus resultierenden Erkenntnisse erlauben einen kritischen Blick auf das Konzept der »Lieux de mémoire« und weisen auf einen notwendigen Handlungsbezug hin, um diese Orte als Denk- und Lernorte erlebbar zu machen. Es kann jedoch vorausgesetzt werden, dass Objekte, Orte oder Räume nicht selbst etwas von ihrer Geschichte erzählen, sondern ein Medium z.B. in Form einer Person benötigen, durch die die aktive Vermittlungs- und somit die Erinnerungsarbeit initiiert und
58 | Siehe Kapitel »Konstellationen schaffen« ab S. 202.
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begleitet werden kann. Denn gerade die persönlichen Erinnerungsorte, der individuelle Umgang mit Vergangenheit und die dazugehörigen Objekte stellen den Bezug zwischen den Objekten der Stadt und den Menschen her. Das Konzept der »Erinnerungstopografien« von Gabi Dolff-Bonekämper und die Erkenntnisse aus dem von ihr betreuten Studienprojekt »Küstrin – Erinnerungsort!?« stellen hier einen erinnernden Handlungsbezug in den Vordergrund der Vermittlungsarbeit und bieten somit einen Übergang zum darauffolgenden Projektteil an, in dem es um einen expliziten Handlungsbezug zur Methodisierung und Praxis der Erinnerungsarbeit gehen soll.
ZEiT-RAUM UND RAUM-ZEiT Ereignisse finden zwingend an einem Ort statt oder sind über Personen an Orte gebunden. Somit ist Zeit ohne Raum und Raum ohne Zeit nicht denkbar. Zeit schreibt sich in Form von Spuren in den Raum ein und Raum existiert erst durch Zeit, da er durch Dimensionen gekennzeichnet ist, die ausschließlich durch Bewegung erfahren werden können. Der Philosoph Jean-Luc Nancy präzisiert dies im Hinblick auf die Perspektive eines Ereignisses: »Der Ort, in der Tat, geht hervor aus einer Überkreuzung von Raum und Zeit: hier und jetzt hat etwas statt, stattgehabt oder wird statthaben« (Nancy 2011, 45). Dolff-Bonekämper erweitert den Begriff des Ereignisses insofern, als sie nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch dessen Weitergabe als ein erneutes Ereignis beschreibt: Für bis dato über das entsprechende Ereignis uninformierte Personen ereignet sich dieses just im Moment der Weitergabe. Über diesen Akt wird ein Bezug zwischen Ort und Ereignis sowie zwischen erinnerndem bzw. Bezug herstellendem Medium und den Rezipienten der Erinnerung hergestellt (vgl. Dolff-Bonekämper 2011a, 144 ff.). An
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dieses Ereignis zweiten Grades, also die Weitergabe der Erinnerung, kann wiederum erinnert werden und hierdurch ein Ereignis dritter Ordnung usf. geschaffen werden. 59 Aber warum ist ein erinnertes Ereignis ein neues Ereignis? Bezug nehmend auf die Erkenntnisse von Maurice Halbwachs zur kollektiven Geprägtheit des Gedächtnisses 60 wird deutlich, dass es zwar ein kollektives Erinnern gibt, dieses aber immer in Relation mit der persönlichen Erfahrung und dem kulturellen Hintergrund des Gedächtnisträgers steht, also ein eindeutig gleiches Erinnern nicht möglich ist. Dementsprechend kann ein Ereignis auch nicht erinnert werden, wie es wirklich war, 61 sondern immer nur im direkten Bezug zur individuellen Lebenssituation des sich erinnernden Subjektes. Aus diesem Grund wird sich jede Geschichte eines Ereignisses zwangsweise von einer anderen Geschichte des gleichen Ereignisses unterscheiden, was eine Eindeutigkeit von Geschichte nicht zulässt. Insofern ist jede Deutung eines Ereignisses nach Dolff-Bonekämper für sich betrachtet ein neues Ereignis, das eine Grundlage für weitere Ereignisse schafft. 62 Bewegung hingegen ist eine Tätigkeit, deren Ausführung eine Abfolge bildet. Während einer Bewegung vergeht Zeit, die wiederum durch die Ausbreitung der Bewegung im Raum messbar wird.63 Insofern können Ereignisse, die per se eine Dynamik besitzen und sich somit innerhalb eines messbaren Zeitraumes ereignen, verortet und an Orten oder Objekten festgemacht werden. Allerdings wird ein Ereignis nur als solches benannt, wenn es zeitgleich oder retrospektiv wahrgenommen wird. Hierfür – und darauf verweist der Terminus der Handlung – bedarf es eines Subjektes, das sich durch das Raumgeflecht bewegt. Der Raum wird erst durch die Bewegung dieses Subjektes erzeugt, weswegen die Bewegung gleichsam die Schnittstelle zwischen Objekt(en) und Subjekt(en) darstellt. Dadurch stehen sie in einer Wechselwirkung zueinander, bedingen sich gegenseitig.
59 | Vgl. »Ereignisbegriff«, S. 40. 60 | Vgl. »Cadres sociaux«, S. 81. 61 | Siehe unter anderem auch die Geschichtstheorie von Fernand Braudel, S. 109. 62 | Vgl. »Memorable Moments«, S. 41. 63 | Das Bild »Akt eine Treppe hinabsteigend No. 2« von Marcel Duchamp illustriert diesen Gedanken besonders eindrücklich.
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RAUM UND ORT In den vorangegangenen Ausführungen steckt die handlungstheoretische Erkenntnis, dass erst eine Tätigkeit, also das Handeln des Menschen, Raum erzeugt, was einen Perspektivwechsel aus der bisherigen philosophischen Betrachtungsweise von Begrifflichkeiten in den Bereich der Soziologie erfordert. Nach dem Soziologen Michel de Certeau, der sich explizit mit dem handlungsbasierten Raumerfahren auseinandergesetzt hat, besteht ein Raum aus einem Geflecht von beweglichen Elementen: »Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten« (de Certeau 1988, 218). Dies weist auf eine Dynamik hin, die ausschließlich durch eine Handlung, also eine Bewegung, erfahren werden kann: »Raum [ist] ein Ort, mit dem man etwas macht« (de Certeau 1988, 218). Ein Ort hingegen, so de Certeau weiter, »ist die Ordnung, nach der die Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden« (de Certeau 1988, 217 f.). Diese Beziehung beschreibt ein Verhältnis von Subjekten und Objekten – oder einfacher ausgedrückt: von Körpern zueinander. Durch die Koexistenzbeziehung ist ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden können. Ein Ort ist also gekennzeichnet durch »momentane Konstellation[en] von festen Punkten« (de Certeau 1988, 218). Orte sind somit statische Größen, wohingegen Raum eine dynamische Größe ist; er entsteht erst durch »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und [der] Variabilität der Zeit« (de Certeau 1988, 218). Da Raum zeitliche sowie kulturelle Dimensionen beinhaltet, kann er zwar auch als Ort verstanden werden, muss dafür allerdings klar definiert werden. »Wer [also] über ›Raum‹ nachdenkt in der Gegenüberstellung zum Ort, spricht von etwas, das es zu konstruieren, gestalten, nutzen, besetzen gilt. Raum ist vorwiegend ein Gegenstand des Machens, Planens, wobei es oftmals etwas zu ›erobern‹ gilt. Mit der Zukunft im Blick möchte man eingreifen, verändern, umgestalten. Räume öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft« (Luenig 2012, o. A.).
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Doch wie verhält es sich, wenn eine Handlung explizit als Erinnerungstätigkeit ausgeführt wird? Bedarf es hierzu bestimmter Orte oder können sich Ereignisse auch an Orten »verorten« lassen, die stellvertretend für dieses Ereignis stehen? Wie kann die Erinnerungstätigkeit vom abzuleistenden Ritual (vgl. Giesecke/Welzer 2012, 21 ff.) zur alltäglichen Kulturpraxis weiterentwickelt werden, um Verantwortung aus der individuellen oder kollektiven Vergangenheit nicht ausschließlich zu oder an gewidmeten Zeitpunkten oder Orten zu empfinden oder auszuüben?
LiEUX DE MÉMOiRE Der französische Historiker Pierre Nora gab zwischen 1984 und 1992 im Rahmen eines Forschungsprogramms das siebenbändige Werk »Lieux de mémoire« über Erinnerungsorte der französischen Nation heraus, das sich unter anderem diesen Fragen widmete. Das bis heute diskutierte Werk hatte zum Ziel, französische Gedächtnisorte zu untersuchen und mittels einer Auflistung der für die Nationenbildung wichtigen Orte, Objekte und Ereignisse eine Objektivierung von Erinnerung vorzunehmen. Im Laufe der mehrjährigen Arbeit verfeinerte sich der anfänglich nur als »Mittel zum Zweck« konzipierte Begriff (Francois 2005, 9) der »Lieux de mémoire« in einen feststehenden Terminus und das Werk in eine neue, aktualisierte Form der Geschichtsschreibung mittels Aufsätzen verschiedener Autoren. Es war Vorbild für einige nachfolgende Unternehmungen in anderen europäischen Ländern, 64 die mit ähnlichen Publikationen nationale Gedächtnisorte historisch zu rekonstruieren und im kollektiven Gedächtnis (erneut) einzuschreiben versuchten. Der Begriff der »Orte« ist bei Nora im Verständnis der antiken Mnemotechnik als »Loci« sehr weit gefasst. So können als »Orte« neben geografischen Orten auch Gebäude, Denkmale, aber auch Kunstwerke,
64 | So zum Beispiel der Sammelband »Deutsche Erinnerungsorte« von Étienne François und Hagen Schulze.
135 65 | Historische Ereignisse und Gedenktage sind insofern materialisierbar, als sie einen »materielle[n] Ausschnitt einer Zeiteinheit« darstellen (vgl. Nora »Zwischen Geschichte und Gedächtnis« S. 32). 66 | Siehe hierzu auch die umfassende Diskussion um den »Spatial Turn«.
Personen oder Gedenktage, Denkfiguren oder soziale Umgangsformen beschrieben werden (vgl. Erll 2011, 25 ff.). Dolff-Bonekämper verweist hierzu in ihrem Text »Erinnerungstopografien und Gedächtniskollektive« (vgl. Dolff-Bonekämper 2007, 63) auf die Doppeldeutigkeit des französischen Begriffs »lieu«, der sowohl »Ort« als auch »Anlass« bedeutet. Diese Doppeldeutigkeit erlaubt es Nora, dieses weite Feld der Gedächtniskultur abzudecken und Ereignisse neben lokalisierbaren Orten gleichermaßen anzuführen. Nora stellt jeder Sequenz des Sammelbands einige theoretische Überlegungen voran und entwickelt im Verlauf der Erstellung Kriterien, die immaterielles, materielles und ideelles Kulturgut erfüllen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Er unterscheidet im Wesentlichen drei Dimensionen: eine materielle, eine funktionale und eine symbolische. Unter der materiellen Dimension von Erinnerungsorten versteht Nora sowohl greif bare (Gegenstände, Gebäude, Kunstwerke etc.) wie ungreif bare, aber materialisierbare Objekte und Kulturgüter zu denen auch historische Ereignisse oder Gedenktage zählen.65 Ausschlaggebend für diese Kategorisierung ist für ihn ein verändertes Selbstbild der Historiker in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand, nachdem nicht mehr nur das Subjekt im Zentrum der Betrachtung stand, sondern zunehmend auch das Objekt oder der Gegenstand eine Rolle spielten und miteinbezogen wurden (vgl. Nora 2005, 17 f.).66 Die funktionale Dimension beschreibt, ob die vorangestellten Objekte und Objektivierungen innerhalb der Gesellschaft eine Funktion erfüllen, und wenn ja, welche. Erll zum Beispiel nennt in ihrem Buch »Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen« als Beispiel das Geschichtsbuch »Histoire de France« von Ernest Lavisse, das geschrieben wurde, um als Schulbuch den Geschichtsunterricht in französischen Schulen zu bereichern und zu strukturieren (vgl. Erll 2011, 26). Die letzte der drei Dimensionen ist die symbolische Funktion, unter der Nora beispielsweise
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Handlungen, die zum Ritual werden (Feiertage oder Gedenkminuten), oder – wie Erll beschreibt – »Orte mit einer ›symbolischen Aura‹« (Erll 2011, 26) versteht. Diese Aura kann schon im Moment der Entstehung enthalten sein, aber auch erst später gewidmet werden. Das Konzept der »Lieux de mémoire« wurde und wird stark kritisiert. Vor allem, da Nora innerhalb seiner Bände die selbst erstellten Kriterien in der Form dekonstruiert, als schließlich »auch Redeweisen (›Sterben für das Vaterland‹), Denkfiguren (›Gaullisten und Kommunisten‹) oder soziale Umgangsformen (›Galanterie‹)« (Erll 2011, 27) zu Erinnerungsorten avancieren und in den Aufsätzen der Bände thematisiert werden. Darüber hinaus wird bemängelt, die Auswahl der Ereignisse und Orte gebe einen Erinnerungskanon vor und somit würde das kollektive Gedächtnis auf Basis einer auf die Nation beschränkte Erinnerungskultur konstruiert, was vor allem im deutschsprachigen Raum auf Kritik stößt. Besonders der Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Csáky und die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Großegger weisen in ihrem gemeinsamen Buch »Jenseits von Grenzen – Translokales, transnationales Gedächtnis« darauf hin, dass die Aneignung von Gedächtnisorten dadurch von einem dynamischen, performativen zu einem statischen und eindimensionalen Akt degradiert wird. Erinnerungsorte werden durch die Festschreibung in ihrer Widmung als eindeutig vorgestellt und ursprünglich festgeschrieben, was zudem unterschlägt, dass dies eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Gedächtnisorten zur Konstruktion einer nationalen Identität eröffnet (vgl. Csáky/Großegger 2007, 7 f.). Eine derartige Betrachtung reduziert ein prinzipiell offenes, dynamisches Konzept auf eine starre, auf dem primären Signifikat basierende Funktionalität. Dies erlaubt weder eine neue oder veränderte Deutung noch eine individuelle Aneignung der Orte (vgl. Csáky/Stachel 2002, 12).
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VERÄNDERUNGSFÄHiGKEiT VON SiGNiFiKATEN Csáky und Großegger verweisen in diesem Kontext auf die Veränderungsfähigkeit von Denkmalen und deren »Signifikat« (Csáky/Großegger 2007, 8), was bedeutet, dass »die ursprüngliche Aussage eines Denkmals [...] so in Vergessenheit geraten [kann] und an seine Stelle können andere Bedeutungen treten. Für die Beschäftigung mit Gedächtnisorten hat das zur Folge, dass der methodische Zugang nicht allein in der (historischen) Rekonstruktion von Gedächtnisorten und deren nationaler Festlegung gelegen sein kann, sondern dass deren Dekonstruktion ein wichtiges Ziel der Forschungsarbeit sein muss« (Csáky/Großegger 2007, 8). Darüber hinaus können Orte, was vor allem Csáky anmahnt, auch mehrfach mit Erinnerungen unterschiedlichster Hintergründe codiert sein. Insofern kritisiert er das Projekt der »Lieux de mémoire« und vergleichbare Projekte in Europa deshalb, da diese vornehmlich Gedächtnisorte thematisierten, »die für die Konstruktion einer lokalen, das heißt konkret, nationalen kollektiven Identität für eine nationale Sinnstiftung von Relevanz waren« (Csáky 2004, 4). Darüber hinaus, so Csáky, unterstellt das Konzept Noras, dass die Erinnerungsorte nicht nur in der Vergangenheit von Relevanz waren, sondern dies bis heute sind (vgl. Csáky 2004, 10). Nora entgegnet dieser Kritik, dass die Erschaffung der französischen Nationalgeschichte ein Vorgang sei, der »schon immer vom Standpunkt der Zukunft aus geschrieben [wurde]. In Abhängigkeit von der impliziten, manchmal sogar expliziten Vorstellung von dem, was sein müsste, oder wie die Zukunft aussehen würde, bildete sich in der alles Vergangene enthaltenden Unbestimmtheit eine allgemeine Erinnerung all dessen heraus, was die Gemeinschaft von sich bewahren musste, um das, was sie erwartete und was sie vorzubereiten hatte, angehen zu können« (Nora, 2005, 18). Den Ausführungen Csáky’s folgend, erscheint eine solche national begrenzte Sichtweise in einer sich fortschreitend globalisierenden Welt, in der sich nicht
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nur Geld- und Informationsströme, sondern auch Biografien und Identitäten hybridisieren, jedoch anachronistisch – letztlich auch deshalb, da durch die zunehmende Mobilisierung der Arbeit viele Menschen permanent in Bewegung sind und an Orten heimisch werden (müssen), die nicht ihrer originären Heimat entsprechen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass sie sich über die Zeit auch deren Signifikate aneignen oder diese fremden Orte mit eigenen (Be-) Deutungen versehen. Nora hingegen verteidigt die »Lieux de mémoire« gerade deshalb so stark, da seiner Meinung nach die »Milieux de mémoire« schwinden, es also eine Zeit des kollektiven Vergessens angebrochen ist. Aus diesem Grund haben Erinnerungsorte für ihn eine wichtige Funktion gegen das Vergessen und die Beliebigkeit von Orten inne. Er geht sogar so weit, dass er das Ende des kollektiven Gedächtnisses konstatiert: »[N]ur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keins mehr gibt« (Nora 1990, 11). Nora, so Csáky, übersieht dabei aber, dass das kollektive Gedächtnis durch diese Mechanismen keineswegs schwindet, sondern vielmehr durch vielfache Erinnerungen bereichert und überlagert wird. Er hebt hervor, dass sich das kollektive Gedächtnis dadurch auf besondere, womöglich nicht-intendierte Weise aktualisiert und gerade deshalb lebendig bleibt.67
67 | Vgl. auch Gedächtniskollektive und die Aussage Halbwachs’ dazu, S. 120.
MEHRDEUTiGKEiT VON GEDÄCHTNiS UND ERiNNERUNG Csáky selbst beschäftigt sich in seiner Arbeit intensiv mit der Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung. Hierfür hat er an den Universitäten in Wien und Graz sowie am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geforscht und mehrere Publikationen herausgegeben. Kern seiner Arbeit ist die Frage nach
139 68 | Siehe hierzu auch die Kritik am Historismus S. 108.
den gegenwärtigen Erinnerungskulturen und dem Gedächtnis der Städte. Er kritisiert jedwede Form der nationalen Vereinnahmung von Geschichte und stellt dieser das Konzept der Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit von Orten und Erinnerungen entgegen. Eine rein auf die Nation bezogene Erinnerungspraxis begreift er als Einengung des Diskurses, ja gar als überholtes historisches Narrativ des 19. Jahrhunderts68 und konstatiert, dass derselbe Ort oder Gegenstand von unterschiedlichen Kollektiven lokal, regional, national, international und global codiert und decodiert werden kann. Vielmehr möchte Csáky »auf die »vielfältigen, zuweilen widersprüchlichen Erfahrungen, auf die heterogenen gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen und als deren Folge auf die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis aufmerksam machen, die auch jeder historischen Erinnerung eingeschrieben sind« (Csáky 2010, 13). Zur Verdeutlichung seiner Kritik führt Csáky den Begriff der »Mehrfachcodierung« ein, den er mit mehreren Beispielen – unter anderem den Holocaust, die Transformationen Europas um das Jahr 1989 und Ground Zero 2001 – illustriert: Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte des Holocausts etwas näher, so zeichnet sich zunächst das Bild eines lokal begrenzten Ereignisses, das jedoch relativ schnell den nationalen Rahmen verlassen hat und durch die Ereignisse und Expansionen innerhalb der Diktatur der Nationalsozialisten zum europäischen, durch Flucht und Vertreibung, aber auch durch Zugehörigkeit von Individuen zu Gruppen und Verbänden sogar zum globalen Phänomen wurde. Der Holocaust wurde somit zwar an bestimmten Orten konkret raumwirksam, nach Ende des Dritten Reiches jedoch durch die weltweite Aufarbeitung der Ereignisse und die Zerstreuung der Überlebenden sowie das kontinuierliche Gedenken »zugleich ein Beispiel für die ›Entgrenzung‹, ›Entterritorialisierung‹ bzw. ›Entlokalisierung‹ oder ›Glokalisierung‹ von Gedächtnis und Erinnerung« (Csáky 2004, 5). Somit wirken die Ereignisse an Orten, an denen sie nicht stattgefunden haben, was sich in Form von Spuren zeigen kann und somit wiederum auf die
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Ausgangsorte des originären Ereignisses zurückführt. Wie soll hier nur in einem nationalen Sinn und an ausgewählten Orten gedacht und erinnert werden? Wer sind die Akteure der Erinnerung und kann diese Erinnerung überhaupt entpolitisiert betrachtet werden?
ORTE UND RÄUME ALS »CONTESTED TERRAiN« Für die Historikerin und Architektin Dolores Hayden spielen nationenbildende Erinnerungsorte eine eher untergeordnete Rolle, da sie an ihnen den Anteil der »public history«, also eine Art öffentlicher Geschichte und Geschichtsschreibung, wie sie in Deutschland zum Beispiel durch die Geschichtswerkstätten repräsentiert wird, vermisst. Genau genommen steht ihr Konzept der »Contested Terrains« dem Konzept Noras diametral gegenüber. Kern ihres Konzeptes ist die Erkenntnis, dass sowohl die Erinnerung als auch die Erinnerungstätigkeit politisch sind, was im Rückbezug auf die vorangegangenen Kapitel zur »Erinnerungskultur« (ab S. 103) als gegeben angenommen werden kann. Hayden geht es somit primär um die Erinnerungen an Orten und den Diskurs darüber, nicht um Erinnerungsorte. Ihr Ziel ist es also nicht in einem Konsortium von Fachleuten erinnerungsrelevante Orte festzulegen, sondern die Geschichte von Orten und Räumen durch Diskurse mit der Bewohnerschaft offenzulegen und somit Erinnerung und Erinnerungstätigkeit zu demokratisieren. Hierfür verbindet sie in ihren Forschungen die soziale Geschichte der Menschen einer Nachbarschaft mit der sich stetig verändernden dinglichen urbanen Landschaft, in der sich die unterschiedlichen Prozesse des Wandels zeigen und ablesen lassen. Mitte der 1980er Jahre gründete sie in Los Angeles die Non-Profit-Organisation »The Power of Place«, um lokal eine öffentliche Diskussion über Orte und Erinnerungen, die sich an ihnen festmachen, führen zu
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können und dieser einen Rahmen zu geben. Innerhalb der realisierten Projekte, die sie in ihrem Buch »The Power of Place – Urban Landscapes as Public History« vorstellt, werden Personen, Orte und Zeitschichten zu Stellvertretern von Geschichten, die sich über sie oder an ihnen ablesen lassen. Lokale historische Prozesse und deren Einfluss auf die Menschen und Dinge werden dadurch offengelegt und verhandelbar. Darüber hinaus eröffnet diese Vorgehensweise auch die Möglichkeit der persönlichen Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte: »While some private institutions and public agencies struggle to adress their ways of working, and sponsor various kinds of ›cultural planning‹ in order to become more accountable, many impatient citizens’ groups are putting forward their own projects to represent their communities’ history and tell their own stories in public space« (Hayden 1996, 7). Aber auch Miss- bzw. Unverständnisse können durch einen solchen Diskurs abgebaut werden und beide Seiten vom Wissen und von der Herangehensweise des jeweils anderen profitieren. Als ein Beispiel solcher Miss- bzw. Unverständnisse zeigt Hayden einen Diskurs zur Architekturgeschichte New Yorks, der sich in den 1970er Jahren zwischen dem Soziologen Herbert J. Gans und der Architektin Ada Louise Huxtable ereignete: Die Auseinandersetzung begann, als Gans postulierte, dass sich die für die Bewohnerschaft primär relevante Erinnerung in erster Linie an gewöhnlichen Gebäuden festmache und nicht, wie von Huxtable verteidigt, an ausgewählten Gebäuden (vgl. Hayden 1996, 3). Es folgte eine hitzige Diskussion über die Objekte der Erinnerung, die im Kern auf einem großen Missverständnis beruhte, das aus verschiedenen Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache resultierte. Hayden führt dies explizit aus: Huxtable und Gans sind deswegen aneinander geraten, da beide mit scheinbar festgesetzten Begriffen wie »Architektur«, »einheimischer Baustil«, »Nachbarschaft« usf. operierten, jedoch kein Verständnis dafür hatten oder entwickeln konnten, dass der jeweils andere andere Deutungen verwendete, die unter Umständen gleichfalls der eigenen richtig sein konnten (vgl. Hayden 1996, 4).
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An diesem in Haydens Buch einführenden Beispiel zeigt sich deutlich, wie wichtig die politische Dimension der Erinnerung ist und wie wichtig darüber hinaus die Objekte oder Orte sind, an denen sie sich festmacht. Hier liefern beide Parteien wertvolle Hinweise: Wo Gans die Alltagsgeschichte verteidigt und ihren Platz im Diskurs um eine Erinnerungskultur fordert – »Private citizens are of course entitled to save their own past, but when preservation becomes a public act, supported with public funds, it must attend to everyone’s past« (Herbert J. Gans zitiert nach Hayden 1996, 3) –, wünscht sich Huxtable mehr Sensibilität für die »great buildings«, an denen sich die kulturellen Leistungen einer Epoche am ehesten zuspitzen und stellvertretend zeigen lassen: »to stigmatize major architectural monuments as products of the rich, and attention to them as elitist cultural policy, is a perverse and unserviceable distortion of history.... These buildings are a primary and irreplaceable part of civilization. Esthetic singularity is as important as vernacular expression« (Ada Louise Huxtable zitiert nach Hayden 1996, 3). Anhand dieses Beispiels illustriert Hayden ihr Anliegen besonders eindrucksvoll: Oftmals sind es die »professionellen Erinnerungsspezialisten«, wie Le Goff sie nennt (Le Goff 1992, 136), die einen Diskurs über Orte und Räume führen. Häufig kommt ein Streben nach Deutungshoheit hinzu, das sich über einen abstrahierten akademischen Diskurs offenbart. Die konkreten persönlichen Geschichten, die Erinnerungen der Öffentlichkeit werden bestenfalls anwaltschaftlich in den Diskurs eingebracht und verhandelt, meist ohne eine konkrete Vorstellung vom konkreten Ort zu haben. In derlei Diskursen wird über Erinnerung diskutiert, als handle es sich um eine feststehende und vergleichbare Größe, die keiner weiteren Betrachtung bedarf. Erinnerung wird somit, wie Le Goff betont, stets zum Instrument und Gegenstand von Machtverhältnissen (vgl. Le Goff 1992, 135).69 Nach allem, was bis hierhin geschrieben wurde, kann davon ausgegangen werden, dass diese Sichtweise nicht richtig sein kann – letztlich auch, da Raum Lefebvre zufolge ein soziales Gewebe und somit ein
69 | Siehe auch Benjamins Aussage zur »Geschichte der Sieger«, S. 105, S. 192 und S. 214.
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gesellschaftliches Produkt ist (vgl. Lefebvre 2007, 38). Eine abstrahierte Vorgehensweise, wie sie vor allem im Diskurs über Architektur und Planung gepflegt wird, unterschlägt somit die persönlichen Erinnerungen der Bewohnerschaft und dadurch auch deren politische und identifikatorische Dimension, die eng an die soziale Erinnerung gekoppelt ist. Denn sowohl die persönlichen wie auch die kollektiven und sozialen Erinnerungen sind verbunden mit der konkreten und lokalisierbaren Geschichte der Familien, Nachbarn, Arbeitskollegen und ethnischen Gemeinschaften. Aus dieser Erkenntnis heraus wirft Hayden die Frage nach einem anderen Umgang mit der urbanen Kulturlandschaft auf. Sie fordert mehr Verantwortung seitens des Staates gegenüber den Belangen und Interessen der Bürger an der Repräsentation ihrer Geschichte im öffentlichen Raum. Ebenso ermutigt sie die Bürger mit ihren »The Power of Place«-Projekten dazu, die Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen. Denn, »um für das soziale Gedächtnis wirksam zu werden, muss das erinnerungswirksame Potenzial der Kulturlandschaft ausgeschöpft werden« (Däßler/Kuttler 2013, 51). Die einzelnen Komponenten können so gemeinsam betrachtet und gedacht werden, was den Ort selbst zu einem wichtigen Ausgangspunkt oder – um die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Lieux« aufzugreifen – einem wichtigen Anlass für die lokale Erinnerungsarbeit macht. In der Folge können die lokalen Spuren und die Erinnerungen zusammenfinden, um eine Geschichte oder ein Narrativ daraus ableiten zu können, wie Hayden betont: »Urban landscapes are storehouses for these social memories, because natural features [...] [as well as infrastructures], frame the lives of many people and often outlast many lifetimes« (Hayden 1996, 9). Ort und Erinnerung können also nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Hier zeigt sich das wesentliche Anliegen Haydens, dass es, um einen Diskurs führen zu können, keine Deutungshoheit über Raum oder Orte geben darf. Vielmehr nimmt sie die einseitigen Deutungen und Erfahrungen zum Anlass, ein diskursives Verfahren zu
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beginnen, das sie innerhalb ihrer Forschungsarbeit methodisiert und in einigen Projekten des »The Power of Place Movements« praktiziert hat.70 Die konkreten Räume und Orte werden demnach zu »Contested Terrains«, die es den unterschiedlichen Akteuren erlauben, ihre Perspektiven innerhalb einer Auseinandersetzung zu verhandeln. Im Kern geht es dabei um eine Vor-Ort-Diskussion über die Erinnerungskraft des Ortes, die von Fachleuten und Laien gemeinsam geführt wird. Alle Akteure bringen ihre Kenntnisstände ein und ermitteln so ein gemeinsames Wissen über den Ort. Die relevanten Orte mit ihren positiven sowie negativen Erinnerungen werden durch unterschiedliche Medien kenntlich gemacht. Auf diese Weise werden die historischen Schichten und die unterschiedlichen Ansprüche sicht- und verhandelbar, ebenso wie die bislang unsichtbare Geschichte von ethnischen Gruppen eine Repräsentation erfährt. Diese Sichtbarkeit bietet dann Raum für eigene Deutungen und Positionen, zeigt aber auch die Mehrfachcodierungen der Orte.71 Dies birgt mehrere Vorteile: Die einen erfahren etwas über die eigene Herkunft, die anderen lernen etwas über die Geschichte von Gedächtniskollektiven aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Alle gemeinsam lernen die Vergangenheit kennen, um im Diskurs gemeinsam eine Zukunft gestalten zu können. In der Folge müssen sich allerdings die Rollenverständnisse der Experten verändern, ebenso wie deren Blick auf Subjekte und Objekte. Hierfür fordert Hayden eine erweiterte Perspektive, die physische Dinge und ihre sozialen und politischen Bedeutungen wahrnimmt, was Partizipation erfordert, also primär von der Einbindung und dem lokalen Wissen der Bewohnerschaft ausgeht. Darüber hinaus macht sie durch ihre Methodisierung aber gleichzeitig deutlich, dass eine Erinnerungsarbeit ohne professionelle Akteure nicht gelingen kann. Weder die lokalen Gedächtniskollektive noch Relikte oder Monumente sind allein in der Lage, ein vollständiges Bild der lokalen Vergangenheit zu zeichnen.
70 | Dieses Anliegen deckt sich ebenfalls mit dem Anliegen Dolff-Bonekämpers und dem Studienprojekt »Küstrin – Erinnerungsort!?«. 71 | Vgl. »Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung«, S. 138.
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Doch wie ist eine hierarchielose Darstellung konkreter Orte und Erinnerungen, die sich an ihnen festmachen, möglich? Wie können Orte der Erinnerung, die nicht mehr existieren oder nicht bekannt sind, verhandelt, ermittelt und festgelegt werden? Und wie können unterschiedlichste, teils kontroverse Akteure in die Erinnerungsarbeit einbezogen werden? Diese Fragen gehen die Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin Gabi Dolff-Bonekämper mit ihrem »Vorschlag für ein thematisches Inventar«, einer Denkmaltopographie am Beispiel der Diktatur in Buenos Aires, und das von ihr betreute Studienprojekt »Küstrin – Erinnerungsort!?« an.
ErinnerungstopografieN 72 | Argentinien verbindet mit dieser Zeit eine umfangreiche Geschichte der Folter und des Verschwindens, der Ermordung von Menschen, die durch das Regime als »schädlich« eingestuft wurden. Über den Verbleib der Opfer ist nahezu nichts bekannt, lange Jahre noch nicht einmal, wo die Stätten, in die sie verschleppt wurden, sich befinden. Erst seit 2002 werden zaghaft Initiativen gegründet, die sich mit der komplexen Aufarbeitung dieser Geschichte beschäftigen und sich bemühen,
Eingeladen zu einem Kolloquium in Buenos Aires, referierte Dolff-Bonekämper über die Bedeutung der zeitgeschichtlichen Zeugnisse des Nationalsozialismus, des Kalten Krieges sowie des Mauerfalls in Berlin und brachte über diesen Vortrag eine Diskussion in Gang, in der Personen, die in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1977–1983) Opfer von Folter geworden waren, erstmals über ihr Schicksal zu sprechen begannen.72 Dolff-Bonekämper stellte sich in dem Artikel, den sie nach ihrem Vortrag verfasste, vielfach die Frage, wie diese meist nicht bekannten, nicht mehr existierenden Orte oder die auf sie verweisenden Signifikate73 geschichtlich aufgearbeitet, wie sie erfasst, gesichert, aufbereitet werden können und welche Spuren für eine denkmalpflegerische Betrachtung infrage kämen – vor allem vor dem Hintergrund, dass die meisten Ereignisorte in Argentinien nicht bekannt sind (vgl. Dolff-Bonekämper 2008, 89). Einen Ansatz stellt ihr Konzept der Denkmaltopographie dar, das einen erweiterten Begriff des Ereignisortes zulässt, dessen Spektrum von genau festlegbaren und lokalisierbaren Orten bis zur Beschaffenheit von
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Spuren, zu Symbolen und Denkmalen, die primär auf andere Ereignisse verweisen, reicht. Angewendet auf die Geschichte der Opfer in Argentinien schreiben sich die Spuren der Ereignisse auf diese Weise vielfältig in den Raum ein und zeigen sich auch an anderen Gedächtnisorten, die in ihrer Gesamtheit auf ein Ereignis verweisen. Sie bilden also im denkmalpflegerischen Sinn eine Sachgesamtheit, die sich räumlich organisiert und somit entlang von Erinnerungswegen erfahren werden kann.74 Mit diesem Konzept bietet Dolff-Bonekämper eine Vorgehensweise an, die sich stark vom Konzept Noras, das einzelne Erinnerungsorte fokussiert, entfernt und fordert, anstelle von Erinnerungsorten den Terminus der »persönlichen Erinnerungstopografien/topographies de mémoire« zu verwenden. Zur Methodisierung schlägt sie ein »erinnerungsgestütztes und Erinnerung erzeugendes und stützendes Handeln in der Gegenwart« (Dolff-Bonekämper 2007, 70), also einen auf der Demokratisierung von Erinnerungen beruhenden Prozess vor, den jedes Individuum eigenständig praktizieren kann. Durch dieses Handeln fordert sie auf, die eigene Erinnerungstopografie zu ergründen und die eigene Stadt, im vorgestellten Beispiel Berlin, zu durchwandern, Orte aufzusuchen und Geschichte sowie Geschichten zu erfahren (vgl. Dolff-Bonekämper 2007, 70).
die realen Orte ausfindig zu machen, an denen sich die grausame Macht des Militärstaates niederschlug (vgl. Dolff-Bonekämper 2008, 87 ff.). 73 | Siehe das Symbol des weißen Kopftuches, das Mütter trugen, die auf der Plaza del Mayo in Buenos Aires gegen das Verschwinden ihrer Kinder protestierten (vgl. Dolff-Bonekämper 2008, 89). 74 | Exemplarisch sei genannt, dass Dolff-Bonekämper innerhalb dieser Topographie die Grabstätte Evita Peróns auf dem Friedhof Recoleta als Verweis auf die
GESCHiCHTE ZUFÄLLiG ERFAHREN Beim Durchwandern der Stadt durchkreuzen die Gehenden die historischen Schichten der Stadt und begegnen vielen unsichtbaren oder nicht lesbaren Zeichen, die auf Gedächtniskollektive verweisen. Menschen kreuzen den Weg, die vielleicht etwas von ihrer oder der Geschichte des Ortes erzählen, Hinweise geben, etwas zeigen oder jemanden hinzuziehen. So entsteht Stück für Stück ein Plan der Stadt, der ein immer
vielen Verschwundenen ohne bekannten Todestag und ort liest (vgl. Dolff-Bonekämper 2008, 90). Die Geschichte der Verschwundenen macht sich durch ei-
147 nen Umkehrschluss an einem für das originäre Ereignis irrelevanten Ort fest und wird durch die Gegenüberstellung sichtbar. 75 | Auf das Flanieren wird unter »Methodisierung des erinnernden Gehens« ab S. 180 noch intensiver eingegangen, weshalb hier der Verweis genügen soll.
dichter werdendes Netz an gegangenen Wegen und zu erinnernden Orten spinnt: »Das ist ihre Erinnerungstopografie. Sie ist unabgeschlossen und kann grundsätzlich nach allen Seiten ausgebaut und erweitert werden. Spätere Rückblicke werden wiederum die Folge der hinzugekommenen Wege und Stationen als folgerichtig aufweisen« (Dolff-Bonekämper 2007, 70). Über den Weg, genauer gesagt über die Betrachtung des Weges im Nachhinein, flechten sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen. Hierbei spielen das Zufällige, die Funde am Rande des Weges, die »Serendipities« – Glücksfunde – eine große, wenn nicht bestimmende Rolle. Dolff-Bonekämper spricht hier sogar davon, dass »das Zufällige, nicht Geplante, das sich ›nur so ergab‹, [...] ein konstituierender Teil des Weges [ist]. Es ist selbst Quelle der Erkenntnis über den Verlauf und die Entwicklung des Lernweges, es gehört zum Eigentlichen« (Dolff-Bonekämper 2007, 71). Dieses freie, erfahrungsbasierte Durchwandern der Stadt erinnert stark an die Tätigkeit des Flanierens, ein absichtsloses Herumstreifen, das vor allem von Literaten in der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts praktiziert wurde.75 Wesentlich ist jedoch die Erkenntnis, dass durch dieses aufmerksame »Durchwandern« der Stadt ein Blick für die Wandelbarkeit von Erinnerungen und Signifikaten überhaupt erst entstehen kann: Relevanzen werden sichtbar, indem sich die Gehenden auf die Orte einlassen und die durchschrittenen Räume im Nachhinein reflektieren. Aus diesem Wissenserwerb entspringt eine Möglichkeit zur individuellen Verantwortungsübernahme, die auf Kenntnis und Empathie gleichermaßen beruht. Planung und Planende jedoch sind Mehrheiten verpflichtet. Deshalb bleibt zu kritisieren, dass diesem individuellen Erfahrungskonzept der Rahmen fehlt, innerhalb dessen eine gezielte Weitergabe der Erinnerungen und Erkenntnisse organisiert bzw. innerhalb dessen am Ende eines Prozesses eine Setzung gemacht werden kann. Aufgrund dieser gesellschaftspolitischen Dimension müssen die Fragen danach erlaubt sein, wer den Diskurs initiiert, wer die Verantwortung für die Erinnerungstätigkeit übernimmt und
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wer die gewonnenen Erkenntnisse in welcher Form zusammenfasst. Eine wesentliche Weiterentwicklung der vorgestellten Konzepte unter diesen Fragestellungen findet im Studienprojekt »Küstrin – Erinnerungsort!?« einer Gruppe Studierender des Instituts für Stadt- und Regionalplanung (ISR) der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) statt. Ein wesentliches Merkmal und Ergebnis des Projektes ist es, dass die beschriebenen Theorien zum Gedächtnis gebündelt und eine praktische Herangehensweise für die Weitergabe der Erinnerungen an Orten entwickelt wird. Hierfür implementierten die Projektteilnehmer eine Methode, die durch Akteure der Erinnerung vollzogen wird. Diese Methode soll im Folgenden beschrieben werden.
KÜSTRiN – ERiNNERUNGSORT!? Das Studienprojekt »Küstrin – Erinnerungsort!?« wurde 2012 von Gabi Dolff-Bonekämper am ISR der TU Berlin betreut. Im Zentrum der Projektarbeit stand die Festlegung, dass die Reste der historischen Innenstadt Küstrins »erinnerungswürdig« seien und anhand dieser Spuren Ereignisse sichtbar würden, die Geschichte direkt erfahrbar machten. In der Folge dieser Erkenntnis soll in Küstrin ein Erinnerungsort geschaffen werden, der für alle erfahrbar sein und die Vielschichtigkeit von Erinnerungen einzelner Betrachter berücksichtigen soll. Mittels »Übersetzern« bleiben der Ort und die Objekte nicht verschlossen, sondern öffnen sich und treten in einen Dialog mit dem Rezipienten. Unmittelbares Ziel des Projektes war es, eine Definition des Begriffs »Erinnerungsort« festzulegen, diesen auf Küstrin anzuwenden und auf dieser Grundlage eine Bewertung existierender Planungen vorzunehmen. Aus diesen Komponenten sollten Handlungsempfehlungen zur Qualifizierung der Altstadt von Küstrin als Erinnerungsort gegeben werden können, welche die lokale Geschichte an expliziten Orten verankern und
149 76 | Die Kunst des freien Vortrags der antiken Redner beruhte darauf, das Inventar einer Stadt in Gedanken als Weg abzuschreiten und mit bestimmten Orten für den Vortrag wichtige Gedanken zu verknüpfen. Im Laufe der Rede gingen die Redner in Gedanken ebendiesen Weg ab und trugen die verorteten Gedanken dem Publikum vor.
Bezüge zum Alltagsgeschehen der Bewohnerschaft herstellen. Das Studienprojekt und die daraus resultierenden Ergebnisse sind für dieses Buch höchst relevant und sollen daher explizit Eingang sowohl in die theoretische Betrachtung als auch die später folgende Konstruktion eines handlungsbezogenen Erinnerungskonzeptes finden. Von besonderem Interesse hierbei ist die Vorstellung der kollektiven Erinnerung als aktivem Prozess, der auf den unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen unterschiedlicher Akteure beruht und sie in einen aktiven Diskurs überführt. Wichtig ist, »dass es dabei nicht um eine Hierarchisierung der geschichtlichen Ereignisse geht, sondern um die Möglichkeit, verschiedene Ereignisse gleichberechtigt erfahren zu können« (Rensing/Steinert 2013, 11). Die von den Projektteilnehmern geäußerte Kritik an den fehlenden Erinnerungssubjekten in den meisten Erinnerungs- und Gedächtnistheorien schafft hier im Rückbezug auf Konzepte Dolff-Bonekämpers einen Durchbruch in Richtung einer Erinnerungskultur, die auf aktiver Kommunikation beruht, also handlungsbasiert ist. Dies macht eine Aufteilung der Erinnerungsarbeit auf mindestens zwei Personen mit unterschiedlichen Kenntnisständen erforderlich. Die Rollen der Personen teilen sich hierbei in »Übersetzer« und »Rezipienten«, wobei die Trennlinie fließend ist, da ein Übersetzer gleichzeitig ein Rezipient sein und umgekehrt ein Rezipient zum Übersetzer werden kann (vgl. Quentin 2013b, 58). Um diesen Gedanken zu präzisieren, bietet sich in Anlehnung an die ars memorativa der römischen Redner ein Denkbild der räumlich ausgeprägten Erinnerung an.76 Dieser Mechanismus ist ein Erinnerungsmechanismus, den eine einzelne Person mit den ihr eigenen Gedächtnisinhalten individuell praktiziert. Das bedeutet: Auch wenn der Weg und die dazugehörigen Gedanken offenbart würden, würde eine zweite Person auf andere Gedanken kommen, selbst wenn sie den Weg Schritt für Schritt identisch abschreiten würde. Die resultierende Rede wäre folglich auch eine andere.
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Anders ausgedrückt verdeutlicht dieses Beispiel eine Aussage Dolff-Bonekämpers, wonach Erinnerungsorte der einen Person niemals identische Erinnerungsorte der anderen Person sein können, »denn es ist unmöglich, die Erinnerung eines anderen direkt und sogleich als Erinnerung zu absorbieren. Das vorgefundene Argument und das darin aufgehobene Wissen und Wollen müssen zunächst gelernt, also aktiv angeeignet werden. Erst danach wird daraus wiederum Erinnerung, nun im Gedächtnis eines anderen, verwandelt und umlagert von den emotionalen und situativen Begleitumständen, die gemeinsam mit dem gelernten Wissen abgespeichert werden und mit ihm verbunden bleiben. Was für den Redner ein Erinnerungsweg ist, ist für jeden anderen erstmal ein Lernweg« (Dolff-Bonekämper 2007, 65). Somit wird der Bezug zum Ereignis- bzw. Erinnerungsort dadurch vollzogen, dass die eine Person der anderen an einem bestimmten Ort etwas über ein Ereignis vermittelt. Es entsteht also ein kommunikativer Akt, der wiederum selbst zu einem Ereignis wird, an das erinnert werden kann.77 Hierbei ist jedoch eine hierarchielose Sichtweise mehrerer Personen auf ein und denselben Ort notwendig. Diese kann durchaus heterogen und widersprüchlich sein, denn »[jeder] Übersetzer interpretiert den Ort auf seine eigene Weise und bezieht sich möglicherweise nicht auf alle Schichten des Ortes. Er gibt seine Sicht auf den Ort an Rezipienten weiter, wobei er sich verschiedener Medien bedienen kann« (Quentin 2013b, 58). Auf diese Weise entwickelt nicht nur jeder »Übersetzer« eine eigene Sicht auf den Ort und das Ereignis, sondern auch die Rezipienten, die – sofern sie von diesem Ereignis berichten – selbst zu »Übersetzern« werden. Es entsteht im Laufe der Zeit ein lebendiges Netzwerk an Erinnerungen und Erzählungen, das, sofern es Überschneidungen oder thematische Häufungen in den Erzählungen gibt, in einem größeren Zusammenhang, etwa einem lokalen kollektiven Gedächtnis, betrachtet werden kann.
77 | Siehe auch DolffBonekämper »Memorable Moments«, S. 41 f.
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beobachten
deuten/erinnern
Abb. 1: Schematische Darstellung eines vielschichtigen Ortes, der Erzähler und Rezipienten sowie des Vorgangs der Wahrnehmung, Erinnerung, Deutung und Kommunikation. Quelle: Elsner/Giebel/Steinert 2013.
deuten/erinnern
kommunizieren
interpretieren
kommunizieren
Auf diese Weise wird nicht nur die Multiperspektivität von Erinnerungen, sondern auch die Mehrfachcodierung des Signifikats von Orten, wie sie etwa Csáky und Großegger fordern, realisierbar. Ein Erinnerungsort ist somit fortan ein Ort des Diskurses oder – wie Dolff-Bonekämper es beschreibt – ein Anlass zur Auseinandersetzung und somit nichts Festgelegtes und Starres, sondern etwas Lebendiges und Dynamisches, ein Ort, der in die Zukunft gerichtet ist und nicht in der Vergangenheit steckenbleibt. In Hinsicht auf eine ganze Stadt wird dadurch ein »konstruierter Diskursraum« geschaffen, der innerhalb eines Aushandlungsprozesses entsteht und somit der ständigen Aktualisierung und Neuinterpretation unterliegt. Einzelne Orte markieren hier die Begrenzungen des Raumes und lassen die Ergründung thematischer Wegstrecken zu. »Wer sich also aufmacht, um ›lieux de mémoire‹, Orte der Erinnerung, aufzusuchen, erbringt nicht Erinnerungsleistung an Orten, sondern Lernleistungen auf Stationen eines Wegs« (Dolff-Bonekämper 2007, 65). Insofern ist es wichtig, den Handlungsbezug nicht auf die geistige Dimension an einem Ort zu beschränken, sondern die körperliche Handlung, eine Bewegung, etwa das Gehen in der Stadt, miteinzubeziehen bzw. als konkrete Methode zur Erschließung von Erinnerungsorten und -räumen zu betrachten.
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VOM EREiGNiS ZUR DEMOKRATiSiERUNG DER ERiNNERUNGSTÄTiGKEiT Für gewöhnlich finden Ereignisse an Orten statt. Sie machen sich an ihnen bzw. an den sichtbaren Objekten fest. So sind Erinnerungen immer auch ein konstituierender Teil der Stadt, da sie sich über Orte oder an Objekten materialisieren und ablesen lassen. Ebenso wie zwischen den Begriffen »Ort« und »Raum« unterschieden werden muss, ist es wichtig, die unterschiedlichen Eigenschaften der Begriffe »Erinnern« und »Gedächtnis« zu berücksichtigen, da beide sowohl unterschiedliche Inhalte als auch Ziele haben: Erinnern ist ein dynamischer Vorgang im Sinne eines aktiven Hinwendens in Richtung Vergangenheit, um zukünftige Handlungen zu strukturieren. Hierfür greift das erinnernde Subjekt aktiv auf den Inhalt des Gedächtnisses zu, welches nach Aleida Assmann einen »Speicher« darstellt, der das Erinnerungsmaterial beinhaltet und verwahrt. In Anlehnung an Waldenfels bedarf es zur Wahrnehmung eines Erinnerungsortes einer »Doppelbewegung« des Äußeren, also des Objektes, und des Inneren, des Subjektes. Somit kann gelten, dass ein Gedächtnis- oder Erinnerungsort ohne einen Erinnerungs- oder Gedächtnisträger, konkret ein erinnerndes Subjekt, nicht existieren kann. Denn über die bloße Anwesenheit von Orten der Erinnerung kann keine Erinnerungsleistung erbracht werden. Orte und die dort enthaltenen Gegenstände müssen einen Bezug zu den Betrachtenden herstellen, also »sprechen« können. Hierfür ist eine Übersetzungsleistung vonnöten. Zur Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit gehört folglich ein Medium, das die Erinnerungsleistung vollbringt oder zumindest einen Impuls zur Erinnerung gibt, was auch am Ergebnis des Studienprojektes »Küstrin – Erinnerungsort!?« zu erkennen ist. Insofern kann gelten, dass die eingangs formulierte, provokativ gemeinte »Rechnung« – »Erinnerung + Orte = Erinnerungsorte?« – in dieser Form nicht
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aufgehen kann, da ein Erinnerungsort nicht als eigenständiger Erinnerungsträger, sondern vielmehr als Anlass zu einer Auseinandersetzung zu verstehen ist. Erinnerungsorte im begrifflichen Sinne sind primär zu Erinnerungszwecken »gemachte« oder eingerichtete Orte. Ein Beispiel dieser Form von Orten sind die sogenannten »Lieux de mémoire« (Erinnerungsorte der französischen Nation) von Pierre Nora, die einem übergeordneten Ziel der Nationenbildung oder Konstruktion einer eindeutigen kollektiven Identität folgen. Mit ihnen sind konkrete Aufträge und Verantwortungen verbunden, zum Beispiel, ein für die Nation – oder genereller: das Kollektiv – wichtiges oder besonderes Ereignis nicht zu vergessen, um zukünftige kollektive und somit individuelle Handlungen danach auszurichten. Sie sind Teile des Inhalts eines kollektiven Gedächtnisses, die in der persönlichen Erinnerung der Subjekte eine Rolle spielen sollen, es aber nicht zwingend in intendierter Form tun. Dies kritisiert vor allem Moritz Csáky, der die Nora’schen Erinnerungsorte im Widerspruch zu einer pluralisierten oder demokratisierten Form der Erinnerungsarbeit sieht, die individuelle Kenntnisse, Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt und diesen über einen öffentlichen Diskurs einen Platz einräumt – letztlich auch aus der Überlegung heraus, dass Ereignisse auf mindestens einen Ort zurückzuführen sein und Individuen mehreren Erinnerungs- oder Gedächtniskollektiven angehören können. Trotz der berechtigten Kritik am Werk und der Methode Noras sind einige Aspekte seiner Arbeit so interessant, dass sie im weiteren Verlauf bei der Konzeption des zu entwickelnden handlungsbezogenen Erinnerungskonzepts Beachtung finden sollen. Besonders interessant erscheint hier die Öffnung des Terminus »Ort« in Richtung des immateriellen und ideellen Kulturguts bzw. die von Dolff-Bonekämper erläuterte Doppeldeutigkeit des Begriffs der »Lieux« als »Ort« und »Anlass«. Eine Erinnerungstätigkeit muss sich aber nicht zwingend zwischen den beiden Polen »Ort« und »Anlass« bewegen. Eine weitere Möglichkeit könnte sein,
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einen Ort als Anlass zu nehmen, ebenso wie ein Anlass verortet werden kann - vor allem bei Zufallsfunden stellt sich diese Möglichkeit wie selbstverständlich ein. Es gilt also, potenzielle Erinnerungsräume reflektiert und »selbst-bewusst« zu erfahren, um durch dieses Erinnerungsgeflecht ein Gespür für das Thema und die erinnerungsrelevanten Inhalte zu entwickeln. Dies erfordert jedoch eine Gegenwärtigkeit von Personen in einem konkreten Raum, was in der Konsequenz einen obligatorischen Handlungsbezug herstellt (vgl. Dolff-Bonekämper 1987). Dieser Handlungsbezug soll im Folgenden aufgegriffen werden und vor allem anhand des Textes »Gehen in der Stadt« des Soziologen Michel de Certeau theoretisiert werden. Aus diesem Text, der auch als Kritik an den gängigen Methoden zur Stadtanalyse gelesen werden kann, sollen die Besonderheiten einer speziellen Form der Handlung – des Gehens – herausgearbeitet und für die darauf folgende Methodisierung des erinnernden Gehens nutzbar gemacht werden.
HANDLUNGSBEZUG
Michel de Certeau
»Die Erzeugung e scheint immer du Bewegung beding die ihn mit einer verbindet.«
g eines Raumes durch eine ngt zu sein, r Geschichte
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GEHEN, UM ZU VERSTEHEN Um über Objekte, Orte, Räume und deren Erinnerungsschichten einen Diskurs anzustoßen und somit die ihnen innewohnenden Geschichten zu entfalten, bedarf es eines Handlungsformats, das eine Erfahrung unterschiedlicher Erinnerungen vor Ort und am Objekt ermöglicht. Im Folgenden soll deshalb das Gehen in der Stadt als eine Möglichkeit zur Raumwahrnehmung und Ortserfahrung eingeführt werden. Vor allem das erinnernde Flanieren stellt hierfür ein großes Potenzial dar, denn auf diese Weise können individuelle und kollektive, fluktuative oder manifeste Erinnerungsorte entdeckt, gedeutet, besprochen, verhandelt und in Konstellationen gruppiert werden. Besonders der Historiker und Philosoph Walter Benjamin und seine Art des Gehens stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, da er die Flanerie erstmalig explizit zu Erinnerungszwecken betrieben und durch seine Tätigkeit eine Methodisierung des erinnernden Gehens vorformuliert hat. Seine kritische Grundhaltung, die aus der Beschäftigung mit marxistischen Theorien und hier vor allem dem von Marx vorformulierten Geschichtsbild des Historischen Materialismus resultiert, ist die Voraussetzung für seine eigene Geschichtstheorie, die er im Stadtraum von Paris und Berlin flanierend entwickelte. Das Resultat waren Texte über die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart und deren sichtbare, also auch erlebbare Signifikate im Stadtbild, die er (wieder)fand. Diese Spuren lösten in ihm etwas aus, beförderten die Erinnerung an Ereignisse, deren Zeuge er selbst geworden war bzw. die er sich über andere Wege angeeignet hatte. So entstand aus seiner Erinnerung heraus das Bild einer vergangenen in der gegenwärtigen Stadt, das durch Gegenüberstellung und Reflexion Einblicke in die Prozesse des Werdens einer Stadt erlaubt. Die Literaturwissenschaftlerin Elisa Bertuzzo beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »Der erinnernde Stadtmensch, der die
161 78 | Vgl. unter anderem Kapitel »Ereignisbegriff«, S. 40. 79 | Hier sei auf die Theorie von Maurice Merleau-Ponty verwiesen, die den Leib und die leibliche Empfindung für die Raumtheorie nutzbar macht (vgl. Merleau-Ponty 1966).
Vergangenheit der Stadt in deren vorhandener Gestalt vor sich hat, kreiert beim Schreiben über die Stadt ein Bild von dieser selbst und macht somit aus ihr einen Erinnerungsraum. Dies kann geschehen, nicht einfach weil die Stadt mit Geschichte gefüllt ist, sondern weil sie durch einen Text wiedergegeben wird, der selbst räumlich ist« (Bertuzzo 2003, 18). In Bezug auf Benjamins Arbeit rückt an dieser Stelle das Erleben von Ereignissen ersten und zweiten Grades und ihre Aktualisierung durch eine konkrete Form der Erinnerungsarbeit wieder ins Blickfeld.78 So sollen im Folgenden die Aspekte der Wahrnehmung und somit auch der Erinnerung mit einer zielgerichteten Handlung zur Erinnerungsarbeit verbunden werden. Ziel ist es, daraus ein eigenes Konzept des erinnernden Gehens bzw. des Aufspürens von Erinnerungsspuren in einer Stadt zu entwickeln. Zur Beschreibung der Entwicklung dieses Ansatzes soll über den Aufsatz »Gehen in der Stadt« des Historikers und Soziologen Michel de Certeau eine Theoriebildung des Gehens als raumbezogene Handlung und Erkenntnismethode erfolgen. Für die weitere Erschließung des erinnernden Gehens werden die ref lexiven Arbeiten über das Flanieren von Franz Hessel und Walter Benjamin vorgestellt. Die Erfahrungen dieser drei Autoren bilden den Grundstein für die weitere Auseinandersetzung mit einer Methodisierung eines handlungsbezogenen Erinnerungskonzeptes. Methoden und Erkenntnisse weiterer Flaneure und Stadtforscher sollen die Sichtweise auf die Potenziale des Gehens und den Fundus an Möglichkeiten zur Methodisierung erweitern. Die folgenden Kapitel stellen somit die Überleitung von einer bislang auf kognitiver Ebene verhandelten zu einer tatsächlichen Bewegung dar. Sie verbinden die geistigen und körperlichen Dimensionen zu einer leiblichen79, auf deren Grundlage eine individuelle Erfahrung ermöglicht wird. Im Zentrum stehen dabei die Fragen »Was sehen bzw. erfahren wir, wenn wir gehen?« und »Wie kann das Gehen zum Verstehen führen?«.
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RAUM SEHEN, ERKENNEN UND ERLEBEN Die Außenwelt des Individuums ist mehrheitlich nicht durch das Individuum selbst gestaltet, sondern das Produkt einer Gestaltungsdisziplin, etwa der Architektur oder Planung: »Architektur [und auch Planung, Anm. d. Autors] präsentiert Körper, Dinge, Prozesse und Bedeutungen, bringt sie zur Erscheinung und macht sie wahrnehmbar« (Hauser/Kamleithner/Meyer 2011, 10). Dies wird durch das Konzept der Sichtbarkeit, welches hier vor allem durch den Philosophen Michel Foucault vertreten werden soll, bestätigt: Für Foucault ist Sichtbarkeit nicht das, was das Auge in der Lage zu sehen oder zu erfassen ist, sondern »etwas, das produziert wird und veränderlichen Bedingungen unterliegt. Sowohl Diskurse wie auch Techniken und Verfahren regulieren, was zu einer bestimmten Zeit sichtbar ist« (Foucault zitiert nach Hauser/Kamleithner/Meyer 2011, 17). »Sehen« spricht somit zwei Dimensionen an: ein tatsächliches Sehen, das Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit betrifft, sowie ein Sehen, das Kenntnis und Deutungsfähigkeit voraussetzt. Die erste Dimension handelt von der Sinnlichkeit des Sehens, die zweite kann als »Anschauung« bezeichnet werden, also als die Art und Weise, wie ein Ding oder eine Sache gesehen wird. 80 Beide Dimensionen bedingen sich, sollen aber nicht miteinander vermischt werden, wie schon Immanuel Kant in seinem Aufsatz »Sinnlichkeit und Verstand« ausführte: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen« (Kant 1998, 130).
80 | Vgl. Kapitel »Ereignisbegriff«, S. 40.
163 81 | Vgl. Kapitel »Wahrnehmen«, S. 46. 82 | Siehe hierzu auch Boris Sieverts, der in einem Vortrag ausführt, dass durch das Gehen »architektonische, kulturelle und atmosphärische Widersprüche ›am eigenen Leibe‹ erfahren werden (vgl. Sieverts 2013, o. A.).
Werden diese Ausführungen Kants weitergedacht, so müssen die Dinge, die gesehen und wahrgenommen und deren Spuren ausgelesen werden sollen, sinnlich und kognitiv vertraut sein oder etwas Vertrautes beinhalten. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass weder das Sehen noch die (Raum-)Wahrnehmung angeborene Fähigkeiten sind, die auf feststehenden Gesetzen beruhen, sondern beide vielmehr aus einem Lern-, Erfahrungs- und Sozialisationsprozess resultieren, der schon früh in der Kindheit beginnt und maßgeblich dadurch bestimmt wird, welche Erfahrung, welches Wissen, aber auch welche Sehnsüchte das Individuum entwickelt (vgl. Schäfer, S. 25). Sehen und Wahrnehmen sind somit auch Prozesse des Wissensaufbaus, die sich aus Kenntnis und somit aus Übung und Erfahrung speisen. Hier ergibt sich allerdings ein Dilemma, da beide Dimensionen des Wahrnehmens hochgradig individuelle Vorgänge sind, die im Wesentlichen darauf beruhen, welche Erfahrungen die Rezipienten bis dato gemacht haben und welche Bedeutung ein Ding oder eine Sache für sie infolgedessen hatte bzw. gegenwärtig noch hat.81 Dieses Dilemma kann ausschließlich durch einen Diskurs überwunden werden, der die verschiedenen Subjekte, Objekte und Sichtweisen gleichermaßen berücksichtigt und behandelt. Ein solcher Diskurs muss, wenn er konstruktiv sein soll, vor Ort, am Objekt, erfolgen, denn die Rezipienten können sich ausschließlich durch ihre leibliche Anwesenheit einen Begriff von den tatsächlichen Begebenheiten machen und diese auch erst im Anschluss verhandeln. Der französische Philosoph und Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty führt in diesem Zusammenhang den Leib als Wahrnehmungsinstrument ein, der mit dem Betrachtungsgegenstand ein System bildet, jedoch nicht als System einer im Ganzen erlebten Entsprechung, sondern »in Gestalt eines Bündels objektiver Korrelationen« (Merleau-Ponty 1966, 240), die sich durch die Kombinationsleistung des Gehirns zu einem Gesamtbild zusammenfügen. 82 Dieses Gesamtbild bildet jedoch nicht das gesamte, tatsächliche Bild ab, sondern lediglich das, was für die Betrachtenden
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in diesem Moment vertraut oder relevant ist, und somit jeweils nur einen subjektiven Moment der tatsächlichen Situation (vgl. Singer 2002, 78).
RAUM UND WAHRNEHMUNG Es kann also festgestellt werden, dass es beim »Sehen« von Geschichte primär um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von historischen Prozessen und Ereignissen geht, die in ihrer Raumwirksamkeit Spuren hinterlassen haben. Durch deren Kenntnis und die Fähigkeit, diese Spuren zu lesen, ist es möglich, Strukturen und Verhältnisse zu entziffern und Fragen an die Geschichte des Ortes zu stellen. Im Grunde wird durch diese Fähigkeit ein objekt- oder zeitgebundener Diskurs erst möglich. Durch die Anwesenheit in einem Raum und die körperliche Bewegung darin verorten sich die Sinne in ihm und öffnen sich für Wahrnehmungen, die Eindrücke hinterlassen. Das Gedächtnis wird aktiviert und ergänzt diese mit einer geistigen Bewegung und der persönlichen Erfahrung. Denn ein konkreter Ort alleine kann Ereignisse, zeigen, welche sich an diesem ereignet haben. Die Gesamtschau, also auch die Sinnzusammenhänge, nennen wir sie Geschichte oder Narrativ, werden jedoch ausschließlich räumlich erschließbar und »der Passant ist genau derjenige, der von Ort zu Ort geht, sie alle verbindet, in eine Nähe bringt, die ihre Entfernungen herausfordert« (Nancy 2011, 73). Dieser Vorgang der sensuellen und emotionalen Verortung und der Verbindung von Orten innerhalb von Sinnzusammenhängen lässt einen Prozess der Reflexion zu bzw. befördert diesen überhaupt erst, schreibt Dolff-Bonekämper in ihrem im Kapitel »Zwischen Subjekt und Objekt – Dialektisches Sehen« bereits erwähnten Text »Raum-Erleben, Raum-Erfassen, Raum-Beschreiben: Für einen selbst-bewußten Umgang mit mittelalterlicher Architektur« (siehe S. 56).
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In ihrer Analyse hatte sie die Wirkung des Innenraums der St.-Elisabeth-Kirche in Marburg auf eine Gruppe Individuen untersucht und parallel ihre eigene Wahrnehmung reflektiert. Im Anschluss trifft sie folgende Aussage: »Es ist das, was mir an diesem Raum wirklich gefällt, was mich wirklich anspricht. Das sind nicht die Wände oder die Gewölbe, die Pfeiler oder die Fenstermaßwerke. Es ist die ›Luft‹ dazwischen, eben der Raum, in dem ich mich aufhalte und in dem ich mich bewege, den ich erlebe. ›Erleben‹ bezeichnet hier die Wahrnehmung meiner Umwelt und meiner selbst in dieser Umwelt durch alle meine Sinne; es umfasst zugleich meinen emotionalen und reflektierenden Umgang mit diesen Wahrnehmungen« (Dolff-Bonekämper 1987, 421). Aus diesem Text geht deutlich hervor, dass Raum nicht ausschließlich durch feststehende und beschreibbare Dinge entsteht, sondern das individuelle Empfinden gegenüber dem Objekt und dem Raum eine wesentliche Rolle spielt. Hierfür ist ein mehrfaches Sehen nach außen wie nach innen erforderlich. Dolff-Bonekämper verwendet für das Sehen nach innen das Adjektiv »selbst-bewusst« und eröffnet dadurch eine weitergehende Dimension in der Betrachtungstheorie: Durch das Bewusst-Sein der Person, welche das Objekt betrachtet, wirkt dieses auf mehrfache Weise: durch seine Präsenz, durch seine Gestaltung, durch das, was über das Objekt bekannt ist, also seine Geschichte, durch das, was davon vermittelt wird, durch das Medium der Übermittlung und zuletzt durch das, was aufgrund dieser Faktoren kognitiv und emotional im betrachtenden Individuum vorgeht. All diese Schichten formulieren in ihrer Gesamtheit den abschließenden Gesamteindruck, der von Individuum zu Individuum unterschiedlich geprägt ist. Aufgrund dieser Erkenntnis bietet die Autorin an, diesen Blick durch individuelle Blicke zu ergänzen und ihn dadurch zu demokratisieren. Eine solche mehroder multiperspektivische Sichtweise eröffnet allen Betrachtungsgruppen neue Bewusstseinsebenen gegenüber dem Betrachtungsgegenstand und kann darüber hinaus durch die Verbindung der Innen- und der
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Außensicht eine gemeinsame Erfahrung am oder im Objekt schaffen. Auf diese Weise kann zum einen die Basis für ein tieferes Verständnis von Ereignissen und geschichtlichen Verläufen und zum anderen das Fundament für ein lokales kollektives Gedächtnis geschaffen werden. Die Situation, in der eine Erinnerung abgerufen wird, und der Ort, an dem dieses passiert, spielen eine wichtige Rolle bei der Art und Weise, wie an etwas erinnert wird. Grundsätzlich gibt es zwei wesentliche Momente der Erinnerung: die willentliche und die willkürliche Erinnerung. Erinnerungen können demnach aktiv entstehen, etwa dadurch, dass bewusst an etwas gedacht oder (sich) erinnert wird (»Mémoire volontaire«; Souvenir), oder sich zufällig zeigen, als eine plötzlich auftauchende Gedankensequenz, die, ausgelöst durch eine bestimmte Situation, einen Gegenstand, Geruch, Klang oder eine Begegnung, an etwas erinnert (»Mémoire involontaire«). 83 Beide können durch handlungsbezogene Methoden und durch Medien befördert werden, wie im folgenden Kapitel »Die Kunst des Handelns« beschrieben werden soll.
83 | Der Schriftsteller Marcel Proust befasste sich in seinem Buch »A la recherche du temps perdu« literarisch mit der Bergsonschen Theorie des Gedächtnisses. Über die von ihm so genannte »mémoire involontaire« bezieht er sich primär auf die zufällige Erinnerung eines Individuums. Der Protagonist wird immer wieder von Erinnerungsmomenten heimgesucht, die in ihm unfreiwillig etwas auslösen. Die Ereignisse sind meist banaler Natur: die Blüte einer Hecke, das Eintauchen eines Madeleines in Tee, Gerüche, Personen usf. Es sind meist Gedächtnisspuren, die ein Pendant der Außenwelt in der Innenwelt des Protagonisten ansprechen. Dem gegenüber steht eine absichtsvolle Erinnerung an etwas (»memoire volontaire«), wie sie unter anderem mit Souvenirs oder Erinnerungsfotos provoziert wird.
Elke Krasny/Irene Nierhaus
»Im urbanen Han Stadt erzeugt. St Repräsentatione duelle wie kollek Wahrnehmungen und reproduziere Erfahrungsraum.
andeln wird tädtische en und indiviktive Stadten produzieren ren Stadt als m.«
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DiE KUNST DES HANDELNS Ebenso wie Erinnerung und Gedächtnis nicht für sich allein existieren, existiert Raum nicht für sich, sondern entsteht, wie im vorangegangenen Zitat von Elke Krasny und Irene Nierhaus beschrieben, durch eine Handlung.84 Doch was genau passiert während des Handelns, wenn die Handlung Gehen ist? Was nimmt der gehende Geist wahr und welche Rolle spielt der Körper dabei? Hilft Gehen beim Verstehen von Zeit und/oder Raum? Welche Perspektive nimmt der oder die Gehende ein? Gehen an sich ist in erster Linie eine Möglichkeit der natürlichen Fortbewegung und somit ein Mittel der individuellen Raumaneignung. Gehen bringt die das Individuum umgebende Umwelt in eine Dynamik, die der Richtung des Gehens folgt. Es ist eine aus der Gegenwart in die Zukunft gerichtete Tätigkeit, die durch die Bewegung Räume eröffnet. Darüber hinaus ist Gehen eine subjektive Ausdrucksform und Haltung, die durch eine körperliche Tätigkeit, das Durchschreiten eines Raumes, sichtbar wird. Dieser sichtbarmachende Moment der Handlung macht das Gehen zu einem wichtigen Format des Verstehens von Stadt und urbanen Prozessen. Ein Zugang zur Praxis des Gehens und deren Reflexion kann über den französischen Soziologen und Historiker Michel de Certeau erfolgen, der sich in seiner Abhandlung »Die Kunst des Handelns« explizit mit dem »Gehen in der Stadt« auseinandersetzt. Seine Betrachtung basiert auf einem dualistischen Konzept des Gehens als körperliche Bewegung und narrative Handlung. Mit diesem Konzept bringt er körperliche und geistige Handlungen zusammen, analysiert deren Vorgehensweisen und Ausprägungen und schildert die Erfahrungen, die durch das Gehen gewonnen werden können. Gehen betrachtet de Certeau als eine Form des Sichtbarmachens von urbanen Prozessen und Dynamiken, die er mit einem Sprachsystem vergleicht: »Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für
84 | Handeln und Handlung sollen im Kontext dieser Arbeit als ein eigenbestimmtes, unabhängiges und freies Tun verstanden werden.
171 85 | Die im weiteren Verlauf der Studie noch zu erwähnenden Lettristen sowie der Flaneur Franz Hessel begriffen die Stadt als Text, der durch künstlerische Intervention oder durch das denkende Gehen in kleinste Texteinheiten und Buchstaben zerlegt werden kann. Diese Buchstaben werden durch den abgeschrittenen Weg zu einem alternativen Text neu zusammengesetzt. Die Mitglieder der Lettristen, die die Vorläufer der Situationisten waren, griffen auf diese Weise in bestehende Systeme ein und zweckentfremdeten die inhärenten Signifikate. Sie hinterfragten somit nicht nur die Logik des gebauten Raumes und der sich über den Urbanismus manifestierenden Machtverhältnisse, sondern eigneten sich den Raum aktiv an. Das Gehen in der Stadt stellt auf diese Weise eine subversive Form der individuellen Aneignung von Stadträumen und somit eine Möglichkeit dar, direkt an gesellschaftlichen
formulierte Aussagen ist« (de Certeau 1988, 189). Stadt entsteht seiner Argumentation zufolge durch die Rhetorik des Gehens, nachdem »Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen Textes folgen [...]« (de Certeau 1988, 182). 85 Je nach Zweck des Geh-Aktes ist es unerlässlich, eine bestimmte Position einzunehmen, die es erlaubt, gegenwärtig an einer räumlichen Situation teilzunehmen oder diese aus einer indirekt beteiligten Position zu analysieren. 86 Um dies zu thematisieren, stellt de Certeau die offene Frage nach »Voyeure oder Fußgänger?« (de Certeau 1988, 179), was nichts anderes als eine Frage nach der Distanz der Blickperspektive ist und somit auch als Einstieg in eine Kritik an der Stadtbetrachtung gelesen werden kann. De Certeau spricht in diesem Zusammenhang über das Verhältnis von Sehen und Verstehen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen, was er als Metapher für die unterschiedlichen Abstraktionsgrade planerischer Medien versteht. Exemplarisch beschreibt er seinen Blick vom 110. Stock des World Trade Centers: Die Stadt New York, so de Certeau, zeigt sich aus dieser Höhe als Ganzes, als »Meer inmitten des Meeres«, wird »unbeweglich« und erscheint als ein »Textgewebe« (de Certeau 1988, 179). Hier scheint die Rolle des Voyeurs auf, die darin besteht, sich dem Betrachtungsgegenstand zu entziehen oder, wie de Certeau es schreibt, »dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden« (de Certeau 1988, 180), um unbeobachtet Beobachtungen machen zu können. Diese immer weiter führende Entfernung vom Bodenniveau schafft nicht nur eine räumliche Distanz, sondern auch Distanz von den Alltäglichkeiten, den Produzenten von Gebäuden, Räumen und Ereignissen, deren Identitäten und Einflüssen, was als Kritik am herrschenden Blick der Planung gelesen werden kann: Die komplexen kleinräumlichen Geflechte, die historischen Schichten einer Stadt sowie die aktuellen Nutzungsstrategien ihrer Benutzer werden durch den distanzierten Blick reduziert auf eine Art Meta-Text, denn von der erhöhten Position der Plattform im 110. Stockwerk des World Trade Centers kann die
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Stadt lediglich im Überblick gelesen werden. Eine tiefergreifende Kenntnis darüber, welche Erfahrungen die Menschen mit und in der Stadt machen und wie Objekte ihr persönliches Leben beeinflussen, ist auf dieser Ebene hingegen nicht zu erwarten. Denn »die gewöhnlichen Benutzer der Stadt [...] leben ›unten‹ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört« (de Certeau 1988, 181). Aber auch ein anderer Aspekt wird durch die Frage »Voyeure oder Fußgänger?« angesprochen: Hier steht die passive der gegenwärtigen aktiven Teilhabe gegenüber, was darauf abzielt, dass ein Bewusstsein für kleinräumliche Prozesse und Dynamiken nur teilnehmend möglich ist. Es bedarf eines bipolaren Verhältnisses zwischen direkter Innen- und Außenwelt, wie es der Philosoph und Stadtsoziologe Heinz Paetzold in Bezug auf die Reflexion seiner eigenen Flanerie beschreibt:
und sozialen Prozessen teilzunehmen sowie Räume durch die eigene physische Anwesenheit zu gestalten und zu verändern. Gehen ist dadurch gleichsam eine Form der ästhetischen und politischen Praxis, denn durch eine tatsächliche Handlung werden Räume und ihre (intendierten) Funktionalitäten sichtbar (vgl. u. a. Voggenreiter in Keitz/ Voggenreiter 2010, 12). 86 | De Certeau
»Anonymität und Intimität, Einsamkeit und Masse, Zuschauer und Akteur. Flanierend bin ich ein einsam, individuiertes selbst, und doch zugleich umgeben von einer großen Zahl, einer Masse von Menschen. Ich bin distanzierter Zuschauer der städtischen Szenerie und doch zugleich auch mittendrin Handelnder. Ich bin Zuschauer, für sich seiender, und ebenso auch Akteur, für die anderen Seiender. Im Flanieren erlebe ich den Alltag mit seiner Schwere und Verwickeltheit und bin doch wie auf dem Theater«
hierbei von einer dop-
(Paetzold 2012, 104).
die Vergangenheit ge-
spricht hier von »oben« und »unten«. 87 | De Certeau spricht pelten Projektion einer in die Zukunft gewandten, prospektivischen und einer in wandten perspektivi-
In dieser Eigenschaft definiert ein Flaneur mehrere körperlich-geistige Dualitäten, die es ihm erlauben, sich in Zuständen des »Dazwischen« aufzuhalten.87 Dieses »Dazwischen« ist das eigentliche Gehen, das mit jedem Schritt aufs Neue praktiziert wird. Jeder Schritt kommt irgendwo her und führt irgendwo hin. So werden im Gehen selbst Vergangenheit und Zukunft unmittelbar erlebbar, jedoch nur individuell und ausschließlich vor Ort, wie de Certeau konstatiert. Für eine Denkbewegung bedarf es der tatsächlichen Bewegung.
schen Sichtweise (vgl. de Certeau 1988, 183).
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VON DER DENKBEWEGUNG ZUR LEiBLICHEN RAUMPRAXiS Das kognitive und sensorische Wahrnehmen der Stadt und dessen Relevanz für nachgelagerte urbane Prozesse hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Vor allem aus den Bereichen der Neurologie, Philosophie und Soziologie kamen wesentliche Impulse zum Verständnis der Wahrnehmung von Stadträumen. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Text »Gehen in der Stadt« von Michel de Certeau, der die unterschiedlichen Betrachtungsebenen von Stadt in der Frage »Voyeure oder Fußgänger?« zuspitzt. Hiermit formuliert de Certeau zum einen eine Kritik an den gängigen Methoden der Stadtanalyse, die sich, ähnlich einem Zoom, von ihrem Betrachtungsgegenstand entfernt, und setzt dem entgegen, dass konkrete Wahrnehmungen zwingend eine Anwesenheit vor Ort erfordern. Andererseits führt er den Fußgänger als Raumpraktiker ein, der sich auf der Ebene des Geschehens durch das Geflecht der Stadt bewegt und auf diese Weise auch die Herrschaftsstrukturen offenbart, die sich in den räumlichen Logiken verbergen. Im Hinblick auf die vorliegende Studie ist besonders die Forderung nach einer konkreten Handlung an und zwischen konkreten Orten interessant: Durch das Gehen entstehen Räume, die in der Nachschau abgelesen und ausgewertet werden können. Diese Räume folgen der Bewegung der handelnden Person, die mit ihrer Handlung einen bestimmten Zweck verbinden kann. Im Sinne des zu entwickelnden Erinnerungskonzepts soll diese Handlung, wie bei de Certeau, aus unterschiedlichen Formen des Gehens bestehen, die es jeweils aufgrund ihrer spezifischen Erkenntnismöglichkeiten erlauben, unterschiedliche Zwecke zu verfolgen. Das Gehen soll somit im Folgenden, aufbauend auf den Konzepten der »Memorable Moments« und der »Erinnerungstopografien« sowie den Handlungsbezügen, die aus dem Projekt der Küstriner Erinnerungsorte resultieren, als Möglichkeit vorgestellt werden, das Erinnerungsgeflecht einer Stadt nicht nur
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metaphorisch, sondern auch tatsächlich, im leiblichen Sinn, zu durchwandern und zu erfahren. Das Resultat soll eine Methodisierung des erinnernden Gehens sein, das in verschiedenen Erinnerungsdiskursen eine Demokratisierung der Erinnerungsarbeit erlaubt. Somit soll über das methodische Gehen ein Erinnerungsprozess initiiert werden, in dem Meinungen und persönliche Erinnerungen nicht nur einen Platz finden, sondern sicht- und verhandelbar gemacht werden und somit aktiv zu einer kollektiven Erinnerungsarbeit beitragen können. Besonderes Augenmerk soll auf der Flanerie und möglichen, daraus resultierenden Produkten, wie etwa nachvollziehbaren Wegstrecken oder literarischen Texten, liegen. Im Speziellen soll, wie anhand der Tätigkeit Walter Benjamins zu zeigen sein wird, das bewusst erinnernde Gehen in der Stadt als mögliche Herangehensweise eingeführt werden. Anhand eines aktuellen Beispiels für einen solchen Prozess in Görlitz soll dann anschließend gezeigt werden, wie ein derartiger Erinnerungsprozess durch einen erinnernden Flaneur (Souveneur) initiiert und begleitet werden könnte.
ERiNNERNDES GEHEN
Elke Krasny/Irene Nierhaus
»Wege durch die nie nur Fortbewe den physischen sondern immer a gung durch Zeitr
e Stadt sind wegung durch Raum, auch Beweträume.«
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METHODiSiERUNG DES ERiNNERNDEN GEHENS De Certeau weist in seinem Text »Gehen in der Stadt« explizit darauf hin, dass Geschichte und Geschichten Räume organisieren können. Geschichten sind seiner Beschreibung zufolge narrative Grundstrukturen einer Stadt, die von ihnen durchzogen ist, »jeden Tag durchqueren und organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes« (de Certeau 1988, 215). Da Gehen in der Gegenwart stattfindet, sich in die Zukunft richtet und Räume eröffnet, die durch Vergangenes geprägt sind, ist anzunehmen, dass es einen Bezug zwischen den unterschiedlichen Zeitschienen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen kann. Gehen betont auf diese Weise das »Werden«, nicht das »Sein«, was einen expliziten Bezug zur Erinnerungstätigkeit aufweist. Wird Gehen als bewusste Bewegung ausgeführt, können darüber hinaus einzelne Objekte nicht mehr isoliert betrachtet werden: »Momente und Orte der Übermittlung bzw. des Lernens (›memorable moments‹) können sich zu einem Weg in Zeit und Raum zusammensetzen, dessen Verlauf und innere Folgerichtigkeit erst im Rückblick erkennbar werden« (Dolff-Bonekämper 2011b. o. A.).88 Auf diese Weise laufen einzelne Gegenstände nicht Gefahr, als singuläre Erinnerungsobjekte zu einem romantisierenden Rückblick in die Vergangenheit missbraucht zu werden, sondern ergeben über die entstehenden Konstellationen einen übergeordneten Sinnzusammenhang, der sich über den abgeschrittenen Weg bildet. Dieser Sinnzusammenhang kann sowohl eine chronologische, topographische, biografische als auch thematische Prägung haben. Gegenstände wie zum Beispiel Bauten, Freiräume oder Kunstwerke und damit auch die Wiedererkennungen und Erinnerungen, die sich an ihnen festmachen, können im Nachhinein gruppiert und in mehrfacher Hinsicht dynamisch betrachtet werden. Ein Weg wird
88 | Siehe hierzu auch die Ausführungen Torissons ab S. 116ff.
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somit durch die Verknüpfung der Orte und mittels persönlicher Erfahrung zum Denkweg, durch Reflexion und Diskussion zum Lernweg. Doch wie kann die Erinnerungstätigkeit durch das Gehen befördert werden? Welcher Fortbewegungsart bedarf es hierfür und wie können die Erinnerungen, die beim Gehen aufkommen, in einen Diskurs überführt werden? Schlögel stellt hierzu in seinem Text »Flaneur: Bewegungsform, Erkenntnisform« fest: »Jeder Bewegungsform entspricht eine spezifische Erkenntnisform« (Schlögel 2007, 260), was bedeutet, dass die jeweiligen Formate des Gehens in der Stadt neben einer spezifischen Handlungsform auch ihre jeweilige Fragestellung, Sichtweise und Wahrnehmungsperspektive haben, woraus Erfahrung und Wissen abgeleitet werden können. Es ist anzunehmen, dass aus den Erfahrungen der Spaziergangspraxis einiges für ein handlungsbasiertes Erinnerungskonzept gewonnen werden kann. Hierfür scheint das aufmerksame, ziellose Gehen, das Flanieren, wie es einst die Dandys in den Pariser Passagen, später dann die Literaten- oder Künstlerflaneure im gesamten Stadtraum taten, eine geeignete Vorgehensweise. Ergänzt wird sie durch die Arbeit der Stadtforscherin und Kulturwissenschaftlerin Elke Krasny, die sich in mehreren Studien mit der wissenschaftlichen Methodisierung des erinnernden Gehens auseinandergesetzt hat. Sie legte mit ihrem Konzept der »Urbanografien« ein Konzept vor, das im Anschluss an die Ausführungen zu Walter Benjamins Flanerie dargestellt und für die Methodisierung des Erinnerungskonzepts herangezogen werden soll.
DiE FLANERiE Wir befinden uns im frühen 19. Jahrhundert. Die Veränderungen der »neuen Zeit«, ausgelöst durch die Industrialisierung sowie daraus resultierende weitreichende gesellschaftliche Veränderungen und Um-
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brüche schlugen sich vor allem in einem beschleunigten Städtewachstum nieder. Historisch gewachsene Strukturen verschwanden oder wurden überformt und machten Platz für neue Strukturen und Gebäude, die immer schneller die Spuren des Historischen, Alten oder Gestrigen vernichteten. Auch auf gesellschaftsstruktureller Ebene wurden diese Veränderungen sichtbar: Die Loslösung des Individuums aus den bis dahin tradierten sozialen Bindungen, also die Abspaltung des »Ich« vom Kollektiv und dessen Verpflichtungen, brachten eine neue Kultur und einen neuen Sozialtypus, den Großstädter, hervor. Der großstädtische Habitus wurde schon früh erforscht und beschrieben. Zentral ist hierbei der 1903 von Georg Simmel verfasste Aufsatz »Die Großstadt und das Geistesleben«, in dem der Autor die großstädtische Wahrnehmungshaltung mit ihren wesentlichen Merkmalen ausführt. Neben seiner detailreichen Beobachtung und Schilderung der Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Großstadtbewohner und deren Verhaltensweisen beschrieb er eine Art Typisierung des Großstädters, mit der er den Grundstein für die Sozialwissenschaften legte. Drei Merkmale dieser Typisierung können für die weitere Betrachtung der Flanerie als wesentlich gelten: »Blasiertheit« als großstädtischer Habitus, hervorgerufen durch und Schutzmechanismus gegen die »Steigerung des Nervenlebens« (Simmel 2008, 905 f.). »Reserviertheit«, eine widersprüchliche Haltung aus geistiger Distanz und körperlicher Nähe (vgl. Simmel 2008, 908 f. und 912). Das veränderte Verhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Rahmengebung (vgl. Simmel 2008, 910 f.). Diese Merkmale sind allesamt Anzeichen für eine stark veränderte Gesellschaftsstruktur, die für die Zeit der Moderne typisch erscheint. Doch so befremdlich diese Veränderungen für viele Menschen auch waren, so waren sie gleichsam auch der Nährboden, auf dem der Flaneur als Denk- und Sozialfigur des großstädtischen Alltagslebens erst gedeihen konnte. Denn, um gesellschaftliche Veränderungen aufzuspüren, Spuren
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von Ereignissen zu finden und die damit verbundenen Dynamiken sichtbar zu machen, bedarf es einer geeigneten Bewegungsform, die Denken und Handeln gleichzeitig ermöglicht bzw. mit deren Hilfe sich das eine im anderen vor Ort zeigt oder bedingt (vgl. Schlögel 2007, 260). Zu dieser Zeit des frühen 19. Jahrhunderts fand die Flanerie in Paris ihren Anfang der im Wesentlichen auf dem rasanten Anwachsen der Städte zu Großstädten beruht. In diesen neuen Verdichtungsräumen entstanden im Laufe der Zeit, unter anderem durch die gesellschaftliche Transformation (Abschaffung des Adels, Aufkommen neuer sozialer Schichten) neue Sozialformen, die wiederum städtische Strukturen beeinflussten und ein spezialisiertes Raum- und Warenangebot erforderten. Zentral für das Entstehen der Flanerie ist das Aufkommen der Passagen, die, vergleichbar mit den heutigen Shopping Malls, einen überdachten öffentlichen Einkaufsort, insbesondere von Luxuswaren, darstellten. Darüber hinaus fungierten Passagen auch als Abkürzungen zwischen Straßen, was eine große Belebtheit und ein Zusammentreffen unterschiedlichster Milieus zur Folge hatte. In diesem Verdichtungsraum hielten sich die Urväter der Flaneure, die Dandys, besonders gerne auf, denn hier konnten sie sich unauffällig unter die umtriebige Menschenmasse mischen und sich ihrer »Arbeit«, dem Müßiggang, hingeben.
Cees Nooteboom
»Flaneure sind Künstle nicht schreiben. Sie sin Instandhaltung der Eri die Registrierer des Ve hen als erste das Unhe nicht die kleinste Klein zur Stadt, die ohne sie sind das Auge, das Pro rung, das Urteil und da wird sich die Stadt ihre
ler, auch wenn sie ind zuständig für die rinnerung, sie sind erschwindens, sie seheil, ihnen entgeht inigkeit, sie gehören e undenkbar ist, sie otokoll, die Erinnedas Archiv, im Flaneur rer selbst bewußt.«
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UNTERSCHiEDLICHE FORMEN DER FLANERiE Die ursprüngliche Flanerie folgte strengen Regeln, die ihre Betonung durch verschiedene Strömungen erhielt. Dandys, die Urväter der Flanerie, pflegten den verlorenen Habitus des entmachteten Adels, dem viele von ihnen vormals angehört hatten, was sich in einer besonders modischen Erscheinung und geschliffenen Umgangsformen zeigte. Sie gaben sich täglich der Muße des Nichtstuns hin. Dieser erste Typus der Flanerie diente einzig der Darstellung einer Haltung, die dadurch kultiviert wurde, dass die Flanerie diesem und sonst keinem Zweck folgte. Ein Flaneur der zweiten Generation beherrschte die Praxis der Flanerie, wie sie von ihren Urvätern im 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Er gehörte jedoch nicht mehr zwingend einem ehemaligen Adelsstand an, vielmehr eroberten zusehends Bürger, Künstler und Literaten zuerst die Passagen, später dann den gesamten öffentlichen Raum der werdenden europäischen Metropolen als Bühne für ihre Selbstdarstellung. Der Spaziergang wurde zum Corso, der mehrmals wöchentlich repräsentativ abzuschreiten war. Man promenierte und gab sich dem Wechselspiel des Sehens und Gesehen-Werdens hin, stellte seinen Status zur Schau. Zu dieser bürgerlichen Praxis formierte sich bald eine Gegenbewegung, die vor allem aus dem Umfeld der Kunstakademien kam und sich deutlich von der Zurschaustellung des bürgerlichen Status abgrenzte. Die Künstlerflaneure beleuchteten die Schattenseiten dieser Statusdemonstration und suchten bewusst das Arme, Schreckliche und Hässliche der Stadt auf. Sie trieben sich im Arbeiter-Milieu herum, zwischen Gaunern, Spielern und Prostituierten, und zeichneten auf diese Weise ein anderes jedoch ebenfalls existierendes Bild der jeweiligen Stadt. Zumeist waren die Künstlerflaneure selbst Angehörige dieser Milieus oder assimilierten sich der Kunst wegen, um die Stadt zu zeigen, wie sie ist bzw. wie sie einmal war. Gleichzeitig vollzog sich durch die künstlerisch motivierte Flanerie eine Wandlung im Selbstverständnis
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der Flaneure sowie der Art und Weise des Flanierens: »In der von Geschwindigkeit und Masse geprägten großstädtischen Zivilisation bieten sich dem Flaneur nur mehr Wahrnehmungsfragmente, die zum Auslöser einer inneren Bewegung der Erinnerung und der Imagination werden« (Henke 2005, 100). Hauptvertreter und Urvater dieser neuen Flanerie ist Charles Baudelaire, der mit seinen »Tableaux parisiens« insbesondere die Außenseiterfiguren des großstädtischen Lebens aufsuchte und diese über ihre Geschichten portraitierte. Denn diese Außenseiter waren es, die im schillernden Pariser Feuilleton ausgespart wurden und bestenfalls in den Polizeimeldungen Erwähnung fanden. Sie waren es auch, die später für Benjamin ein wesentliches Merkmal dieser Zeit darstellten und somit Baudelaire zum Begründer der Flaneur-Literatur machten, dem Franz Hessel und ebenso Walter Benjamin nachfolgten. Für Hessel und Benjamin, die durch das Übersetzen der Texte von Baudelaire zur Flanerie kamen, war der neue Stil des beobachtenden Gehens, des Eintauchens in die Untiefen der Stadt, eine Möglichkeit, übergeordnete Prozesse in kleinräumlichen Zusammenhängen zu verorten und sichtbar zu machen. Symbole, Zeichen, Dinge, Typen wurden fortan zu Allegorien und auch als solche untersucht. Ihre Fundstücke verdichteten sie nicht mehr zu harmonischen Gesamtbildern, sondern präsentierten sie fragmentiert in ihre Einzelmomente: Flüchtige Begegnungen, das Auf blitzen der Geschichte und die eigenen Gedanken dazu wurden »en passant« entwickelt und in einem rasanten Schreibstil wiedergegeben. Die Ergebnisse entsprachen dadurch dem sich vor allem durch die wirtschaftliche Entwicklung und die beschleunigende Zeit entstehenden Zeitgeist und wurden zum lukrativen Geschäft für sensationsmotivierte Flaneure, die fortan das Feuilleton beherrschten. Die Flaneure der dritten Generation waren infolgedessen schließlich primär journalistisch oder literarisch arbeitende Flaneure wie Joseph Roth, Siegfried Kracauer und Franz Hessel. Sie stürzten sich
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förmlich in die Dichte des städtischen Lebens, nahmen die Ereignisse und die rasanten Veränderungen mit Lust und Neugier zur Kenntnis. Sie verschmolzen mit dem Takt und dem Tempo der industrialisierten Städte. Auch Kunst und Literatur nahmen das wachsende städtische und gesellschaftliche Tempo auf und frönten zunehmend der Beschleunigung. 89 Sie gingen in der Masse auf und betrachteten diese, anders als Voyeure, nicht aus der Entfernung, durch ein kleines Loch im Zaun oder in der Wand, sondern nahmen durch ihre Präsenz direkt am Leben der Passanten teil. Einige Flaneure, allen voran Walter Benjamin, erkannten das große Potenzial der Flanerie als denkerisches Gehen und versuchten, auf ihren Flaniergängen kraft ihrer Erinnerung so viel historisches Stadtmaterial zu retten wie möglich. Sie waren ständig auf der Suche nach Spuren und Hinweisen und verfolgten diese, um auf deren Ursprung und Bedeutung zu stoßen, sich die urbanen Situationen, Sphären und Räume und somit den Zeitgeist und den Weltenlauf begreif bar zu machen. Was der Philosoph und Stadtsoziologe Heinz Paetzold für sich selbst und seine Art des Flanierens beschreibt, kann für das Flanieren ab der dritten Generation generell gelten: Flanieren ist eine praktizierte zweckgerichtete Unzweckmäßigkeit, so gesehen ein Widerspruch, der die Flanierenden antreibt, herausfordert und eine rege geistige Tätigkeit provoziert. Der Flaneur ist einsam in der Masse der Menschen, er beobachtet sie, ist allerdings auch gleichzeitig Teil des Ganzen, er hält sich in der paradoxen Situation des gleichzeitigen Innen und Außen, in Zwischenverhältnissen zwischen Hier und Dort sowie zwischen Damals, Jetzt und Morgen auf (vgl. Paetzold 2012, 104). Diese Zwischenverhältnisse können nur ausgelotet werden, wenn die geistige Bewegung durch eine körperliche unterstützt, nicht herausgefordert wird. Schlögel beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: »Der Flaneur lässt sich treiben. Ihn interessiert nicht das Wohin, sondern das Wo. Er schreitet ab. Er hat seinen ei-
89 | Was zum Beispiel im »Manifest des Futurismus« von Filippo Tommaso Marinetti eindrücklich nachvollzogen werden kann.
189 genen Rhythmus. Bald schneller, bald langsamer. Er geht herum, er geht einer Sache nach. [...] Seine Bewegungsform ist ›memorierendes Schlendern‹, bei dem er der Stadt und all dessen, was sich unter dem Asphalt verbirgt, gewahr wird, die Stadt zum ›mnemotechnischen Behelf des einsam Spazierenden wird‹«
(Schlögel 2007, 260). Das besondere Vermögen, die Erinnerung heraufzubeschwören und sich gehend in der Stadt der »mémoire involontaire«, wie sie Proust genannt hat, hinzugeben, machte den Flaneur zu einem Chronisten der Zeit. Er fand sein geistiges Betätigungsfeld an der Schwelle einer Zeit, in der die alte Zeit von einer neuen überlagert wurde. Und genau diese Ambivalenzen machen das Wesen der Flanerie im Kern aus: Das stete Wandeln zwischen den zeitund ortsgebundenen Polen, die ohne einander nicht existieren können. Damit wurde der Flaneur zu einem wichtigen Seismographen einer sich stetig verändernden kollektiven Geschichte, geriet allerdings oftmals in Verdacht, den Entwicklungen und Veränderungen, die der Zeitenwandel mit sich brachte, feindlich gegenüberzustehen. Der Schriftsteller und Flaneur Wilhelm Genazino schreibt dazu in seinem Buch »Aus der Ferne« von Menschen, »die ihr Verlangen nach Harmonie irgendwo in der Geschichte unterbringen müssen« (Genazino 2012, 42). Dies beschreibt das Bild, dem Flaneure lange Zeit unterlagen, sehr präzise, wobei eher genau das Gegenteil der Fall war. Hier kann exemplarisch der Flaneur und Schriftsteller Franz Hessel herangezogen werden, der es liebte, in der emsigen Geschäftigkeit seiner »Berliner Mitbürger« zu flanieren. Er schreibt 1929: »Man wird umspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung« (Hessel 2011, 7). Dies ist ein authentisches Zeugnis aus der Zeit der werdenden Moderne und gleichzeitig ein Zeugnis der Haltung, die Flaneure auszeichnete.
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STADTLEKTÜRE – DiE FLANERiE FRANZ HESSELS Wie eingangs im Kapitel »Ereignisbegriff« (S. 40) durch Deleuze und im weiteren Verlauf durch de Certeau bereits angedeutet, bringt das Konzept einer »Rhetorik des Gehens« (Certeau 1988, 192) eine interessante Komponente zur Diskussion: Die Mechanik des Sprechaktes erhält in diesem Sinne Gemeinsamkeiten mit dem Akt der Stadtwahrnehmung und verweist somit auf strukturalistische und linguistische Theorien, wonach ein ganzes System, dessen Regeln und Dynamiken betrachtet werden, um Ableitungen für Teile davon machen zu können. Dieser Idee folgend, könnte eine Stadt als Text verstanden werden, der aus Buchstaben und Wörtern (Objekten und Dingen) besteht. Durch Verbindung und Reihung entstehen Sätze, also Sinnzusammenhänge, die, ähnlich der Grammatik (Handlungsweise) einer Sprache, bestimmten Regeln folgen.90 Die Grammatik wird durch eine Handlung einerseits erlebbar, andererseits sichtbar. Die Betrachtung im Handeln (zum Beispiel durch Gehen) besteht somit aus Außensicht und Innensicht gleichermaßen,91 oder, um mit den Worten de Certeaus zu sprechen: »Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist« (Certeau 1988, 189). Für ihn stellen die Schritte beim Gehen die Gestaltungseinheiten von Raum dar, »sie weben die Grundstruktur von Orten. In diesem Sinne erzeugt die Motorik der Fußgänger eines jener realen Systeme, deren Existenz eigentlich den Stadtkern ausmacht, die aber keinen Materialisierungspunkt haben. Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum« (Certeau 1988, 188). Infolgedessen wäre die Handlung, in diesem Fall das Gehen, die Sprache und die Art und Weise die Grammatik, also das Regelwerk, nach dem die Stadt funktioniert. Um diese sichtbar oder erfahrbar zu machen, bedarf es, wie bei der Sprache bzw. dem
90 | Vor allem die Lettristen haben sich dieses Bildes der »Stadt als Text« bedient und forderten in Texten und durch Aktionen eine »Atomisierung« der Wörter in Buchstaben und deren sinnfreie Neuzusammensetzung. Guy Debord, der den Lettristen in der Frühphase angehörte, betrachtete dies am Gegenstand Stadt und begann aus diesen Gedanken mit der Formulierung seiner Stadtkritik und der Entwicklung einer Methode, die später vor allem in der Methodisierung der von der Situationistischen Internationalen praktizierten »Dérives« eine Rolle spielte. 91 | Siehe hierzu auch das Zitat von Peter Bichsel, S. 54.
191 92 | Vgl. »Handlungsbezug«, S. 157. 93 | De Saussure trennt in seiner Theorie das Lautbild bzw. Zeichen und dessen bildliche Vorstellung voneinander. Er belegte seine These durch die Beobachtung, dass die Verbindung von Lautbild und Vorstellung über den Gegenstand auf Willkürlichkeit und Konvention abgegrenzter Sprachkreise beruhe, da in den unterschiedlichen Sprachkreisen die Objekte unterschiedlich benannt sind und teilweise auch andere Assoziationen hervorrufen.
Sprechakt selbst, zwingend eines Zeitverlaufs, eben einer Handlung oder Tätigkeit.92 Der Berliner Flaneur Franz Hessel beschreibt diesen Vorgang sehr plastisch, indem er sich auf die zu seiner Zeit noch junge strukturalistische Sprachtheorie bezieht und das Flanieren als »eine Art Lektüre der Straße« versteht »wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben« (Hessel 2011, 143). An diesem Zitat wird die deutliche geistige Nähe von Hessels Definition des Flanierens zum damals in Europa auf kommenden Interesse an der Linguistik und insbesondere der strukturalistischen Sprachtheorie Ferdinand de Saussures sichtbar.93 Hessels Alleinstellungsmerkmal unter den Flaneuren war die Neugier auf Neues und Unentdecktes in der eigenen Stadt. Eine regelrechte Sucht, im Heute sowohl das Vergangene als auch die Zukunft zu finden und zu dokumentieren, leitete ihn. Er untersuchte die Stadt, in diesem Fall Berlin, von vielen lokalen und thematischen Seiten und achtete genau auf jedes Detail. Hierfür unternahm Hessel einige Anstrengung und gab sich nicht bloß mit dem ziel- und richtungslosen Herumstreifen zufrieden, sondern bekannte: »Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan. Ich muss eine Art Heimatkunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs ist, immer im Begriff, anders zu werden. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist« (Hessel 2011, 12). Darüber hinaus entwickelte Hessel die Flanerie, ihr Wesen und ihren Zweck entschieden weiter, indem er Entsprechungen suchte und Möglichkeiten fand, die rein subjektive Haltung gegenüber den Dingen zu objektivieren. In diesem Zusammenhang reflektierte er seine eigene Flanerie und bezog sich und seine Empfindungswelt in seine Texte mit ein. So betrieb er die Flanerie nicht ausschließlich als selbstreferenzielles Herumstreifen oder
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Ausschreiten, sondern legte den Grundstein für weitere Betrachtungslinien, die von Walter Benjamin, der die Flanerie von ihm, Hessel, in Paris erlernt hatte, sowie später den Lettristen, aus denen die Situationistische Internationale hervorging, aufgenommen wurden.94 Hessel erkannte früh die Potenziale, die das aktive und aufmerksame Wahrnehmen der Stadt mit sich brachte, und begann mit einer Methodisierung des Gehens. Um seine Zwecke zu erreichen, brachte er über das aktive Gehen Raum und Individuum zusammen und ermöglichte auf diese Weise eine Erfahrung von Geschichte, die auf einer Handlung (dem Gehen) und der daraus entspringenden Erinnerungstätigkeit beruhte. Insofern ist Hessel der erste Flaneur, der ein deutliches und klares Bild der Tätigkeit des Flanierens sowie der Haltung des Flaneurs und des Ziels der Flanerie formulierte. Er verfolgte somit einen wahrnehmungsbezogenen Ansatz, der das Individuum und dessen Welt- und Lebenserfahrungen fokussierte. Dieser wahrnehmungsbezogene Ansatz interessierte den Historiker, Philosophen und Schriftsteller Walter Benjamin, besonders als Methode für seine historische Forschungsarbeit, mit der er eine neue Sichtweise auf Geschichte und Geschichtspolitik anbot: Benjamin dachte Geschichte nicht als zufällig nach einem »Weltgeist« verlaufendes Kontinuum, sondern als Konstrukt, dem gezielte gesellschaftliche oder politische Interessen zugrunde liegen. Ereignisse seien somit die Resultate eines ständigen Kampfes zwischen Klassen (Marx) oder zwischen Siegern und Besiegten (Benjamin),95 die durch eine rückwärtige Betrachtung sichtbar gemacht werden könnten.96 Diesem Denkmodell folgend müsste es möglich sein, die historischen Ereignisse, gleich den Arbeitsweisen der Archäologie, Schicht für Schicht abzutragen und so »die Welt in ihren Schichtungen zu erkennen« (Benjamin 1983, 97). Durch diese Herangehensweise wollte Benjamin nicht nur die Resultate der Geschichte erkennen, bewerten und mitbedenken können, sondern auch die ihr innewohnenden Potenziale, die zwar gegenwärtig sind, aber nicht erkannt oder genutzt werden.
94 | Die Situationistische Internationale (kurz: SI) nutzte das Flanieren als Methode zum Aufbau einer anthropozentrierten Stadtwahrnehmung, aus der sie eine ernste Gesellschaftskritik an der zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raums formulierte. Nicht zufällig begann Ende der 1960er Jahre in Paris, was aus dem Umfeld der SI als praktizierte Kritik an der Formung von gesellschaftlichen Vorstellungen durch unter anderem den modernen Städtebau in teilweise gewaltsame Aktionen gegen den Staat umschlug. Dieses radikalisierte Ende bedeutete auch das Aus des neugierigen Herumstreifens, des Flanierens, des Müßiggehens in der Stadt, der Flaneur erschien fortan primär politisch motiviert und subversiv. 95 | Aleida und Jan Assmann werden später die Begriffe »Täter« und »Opfer« in die Diskussion einführen.
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GESCHiCHTE VERSTEHEN – FLANiEREN MiT Walter BENJAMiN 96 | Benjamin beruft sich hierbei vor allem auf die Theorie des »historischen Materialismus« nach Karl Marx, der Geschichte als permanenten Kampf betrachtet, der maßgeblich durch gegensätzliche Interessen vorangetrieben wird (siehe hierzu auch Kapitel »Perspektiven der Erinnerung« und die Kritik am Historismus, S. 108). 97 | Über Bergsons Theorie wurde das zu dieser Zeit vorherrschende »mechanistische Weltbild« (Patzel-Mattern 2002, 71) infrage gestellt und diesem eine neue »Vorstellung der Welt als schöpferisches Werden, in das der Mensch als erlebendes Ich einbezogen ist« (Patzel-Mattern 2002, 71) entgegengestellt.
Walter Benjamin war neben seinen freien Forschungen und Arbeiten oftmals genötigt, auch andere Arbeiten anzunehmen. So sind von ihm unter anderem einige Übersetzungen von Werken vor allem französischer Autoren wie Balzac, Baudelaire und Proust angefertigt worden. In der Auseinandersetzung mit den Autoren und ihren Werken war er besonders beeindruckt von der Sichtweise Baudelaires und dem Denkprinzip der »mémoire involontaire« in Marcel Prousts Texten. In ihnen sah er Bergsons Denkmodell literarisch umgesetzt, besonders die Aspekte der Geschichte als unvorhersehbares und irreversibles Werden sowie der mit »la durée« bezeichneten Dauerhaftigkeit der Geschichte in der Gegenwart 97 (siehe auch Kapitel Gedächtnistypen, S. 77 ff.). Benjamins Idee einer »Archäologie der Erinnerung« scheint deutlich an dieses Konzept angelehnt, was Bertuzzo in ihrer Arbeit über die Erinnerung bei Walter Benjamin hervorhebt: »[Die Geschichte] ist nicht linear, sondern vielschichtig, d.h., die Vergangenheit wird von Benjamin nicht als weit in der Geschichte entfernt verstanden, sondern als tief in der Gegenwart vergraben. [...] Nach der Theorie von Bergson kann die Vergangenheit im Gedächtnis auftauchen, wenn ihre Ähnlichkeit mit dem Gegenwärtigen sinnlich spürbar ist« (Bertuzzo 2003, 23). In der Konsequenz bedeutet das, dass die Vergangenheit in der Gegenwart monadengleich98 allgegenwärtig ist, jedoch erst sichtbar gemacht werden muss. Ihre Spuren müssen zwischen denen der Gegenwart ermittelt und entsprechend abgehoben werden, um – im Sinne der Leibnitzschen »Definition der Erinnerung als jene Kraft, die jedes Einzelne mit dem ganzen Universum verbindet« (Leibnitz zitiert nach Oexle 1995, 57) – in der Gegenwart wirksam werden zu können. Seine Erkenntnisse zwangen Benjamin zur Formulierung einer neuen Geschichtstheorie, die Geschichte nicht als eine logische oder kausale Abfolge von Einzelmomenten begreift, sondern als etwas dauerhaft
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gegenwärtig Existierendes, das in dem Moment sichtbar wird, in dem ein Bezug zur Gegenwart der betrachtenden Person hergestellt wird.99 Dazu ist es notwendig, eine eigene, auf dieses Geschichtsbild angepasste Methode zu entwickeln, um die Vergangenheit zu bergen und darüber hinaus in einen konstruktiven Diskurs zu überführen. Doch soll über diesen Diskurs der Geschichte nicht bloß ein neuer Strang hinzugefügt werden, sondern vielmehr über die Beschreibung dessen, was sichtbar ist oder gemacht werden kann, eine Spur gelegt werden, die dem Rezipienten die Möglichkeit der eigenen Aneignung eröffnet. Diesem Gedanken folgend, kann festgestellt werden, dass es Benjamin im Kern um das Entwerfen einer Betrachtungs- und Aneignungsmethodik geht, welche die individuelle Verantwortung gegenüber historischen und zukünftigen Ereignissen in der Gegenwart verortet. Hierfür arbeitet er in seinen Texten mit Allegorien, die er als Anknüpfungspunkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart versteht. Benjamin erscheint hier lediglich als Sammler von Fundstücken historischer Elementarteilchen, deutet diese aber nicht und bietet somit auch keine eindeutige Lesart an. Durch diese Verkehrung des Verhältnisses zwischen Autor und Werk sowie zwischen Werk und Rezipient übernimmt er zum einen eine Verantwortung gegenüber der Geschichte, und hier besonders gegenüber den unbeachteten Details vor allem der Geschichte der Besiegten, legt aber auch Verantwortung in die Hände derer, die seine Texte rezipieren. Er entzieht sein Werk einer eindeutigen und vorgefertigten Lesart und richtet sich dadurch auch gegen die damals gängige Publizistik, die, dem Postulat des Historismus folgend, eine lineare Geschichtsschreibung betrieb, durch welche die Rezipienten über einen Sachverhalt lediglich unterrichtet wurden, und dies gerade so, als gäbe es eben genau diesen einen Strang der Geschichte. Ungeachtet der Tatsache, dass eine solche historisierende Berichterstattung nicht nur die Vorstellungskraft der Rezipienten unterschlägt, sondern auch deren Verantwortung gegenüber der Geschichte und
98 | Hier scheint das auf die von Gottfried Wilhelm Leibnitz begründete Monadenlehre zurückgehende Konzept der Monade auf, wonach selbst kleinste Einheiten (Monaden) die ganze Welt enthalten (siehe hierzu auch die Ausführungen zum Fraktal von Benoît Mandelbrot). 99 | Siehe hier auch die Anmerkungen zur Doppelbewegung zwischen Innen und Außen beim Akt der Erinnerung (Waldenfels 2004, 84 f. und ab S. 48 in diesem Buch) sowie die Ausführungen zum Akt des Sehens und Erkennens (Siehe hierzu auch »Zwischen Subjekt und Objekt – Dialektisches Sehen« ab S. 56).
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der Zukunft, ist es auch heute noch zum Beispiel bei Stadtrundfahrten gängige Praxis, den Rezipienten Geschichte als eindeutig und sich teleologisch entwickelnd darzustellen; also als etwas, das vor den Augen der Betrachter ablaufen kann, ohne von diesen beeinflusst werden zu können. Solche Formen der Vermittlung verzichten auf den Rückgriff auf eigene Erfahrungen, da nicht nur über die Medien der Vermittlung, sondern auch über die Fortbewegungsmittel eine künstliche Distanz aufrechterhalten wird. Darüber hinaus wird die derart bereiste Stadt als Totalereignis vorgestellt und der Eindruck vermittelt, eine Stadt samt ihrer Geschichte sei allein über ihre Daten und Sehenswürdigkeiten zu verstehen. Eine derartige Distanz gilt es also zu überwinden, sowohl inhaltlich als auch physisch. Denn im Sinne einer Verantwortlichkeit gegenüber der Geschichte und somit auch der Zukunft reicht es nicht aus, die historischen Gegenstände ausschließlich in einer kontemplativen Haltung zu besichtigen. Es bedarf einer Art der Wahrnehmung, die der rein visuellen etwas entgegensetzt, was Benjamin am Beispiel der Rezeption von Architektur erläutert: »Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. Es gibt von solcher Rezeption keinen Begriff [...]. Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption«
(Benjamin 1977, 40 f.). Aus dieser Erkenntnis heraus begründet sich die Notwendigkeit des Vor-Ort-Seins und einer dort das Denken anregenden Handlung. Denn in einem Moment der Handlung geht die innere Haltung der Person von der »Historie über [...] zur Politik« (Weidmann 1992, 61), was bedeutet, dass sie in die Lage
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versetzt wird, die Dinge als das zu sehen, was sie tatsächlich sind, und lernt, darin lokale, aber auch die eigenen Narrative zu entdecken, was die Grundlage dafür sein kann, diese weitergeben und verhandeln zu können.100 So entsteht über die Zeit ein Fundus an Gesehenem, Erfahrenem, Gelebtem und Erinnertem, was einen Diskurs über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Stellvertreter »Objekt« ermöglicht. An dieser Stelle scheint auch die bereits erwähnte Doppelbewegung des wahrnehmenden Handelns auf, wonach eine körperliche Bewegung eine geistige Bewegung braucht, um das Innere und das Äußere in Verbindung zu bringen (vgl. Waldenfels 2004, 84 f.).101
100 | Siehe hierzu auch die Ausführungen des flanierenden Künstlers und Architekten Boris Sieverts, der den Charakter des Gehens vom Charakter einer Stadtführung – er nennt diese »Kettenbesichtigung« – über die Möglichkeit der Erfahrung abgrenzt. Er spricht in diesem Zusammenhang vom Herausarbeiten der »ästhetischen Felder« einer Umgebung, »die die Gegenwart des eigenen Körpers im und seine Bewegung durch den Raum als das eigentliche Kommunikationsmedium betrachtet« (Sieverts in Keitz/Voggenreiter 2010, 56 f.). Um dies zu erreichen, muss die Wahrnehmung der Rezipienten auf den eigenen Körper am tatsächlichen Ort gerichtet werden. 101 | siehe auch Kapitel »Wahrnehmung und Erinnerung«, S. 47.
Julia Krause
»Der Gehende kon Raum stets mit, de durchquert. Dabei Prozess räumlicher sel und Standortve in Gang, von Drehu dungen, welcher im Denk- und Erkennt
nstituiert den en er laufend ei setzt sich ein er Perspektivwechverschiebungen hungen und Wenimmer auch ein ntnisprozess ist.«
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VERRÄUMLiCHUNG DER ERiNNERUNG DURCH DENKBiLDER Walter Benjamin erarbeitete aufgrund seiner Erkenntnisse ein Konzept, über das sowohl seine Beobachtungen als auch seine Erfahrungen mit der Geschichte bis heute weitergegeben werden können. Zur Veranschaulichung seiner Theorie verfertigte er Texte über seine Fundstücke und Erkenntnisse, die er zu »Denkbildern« montierte. Um diese Herangehensweise in der Praxis zu untersuchen, suchte er in seiner eigenen Biografie nach dem Ursprung seiner Erinnerungen und begab sich auf mehrere Streifzüge durch Paris und Berlin, um im Proustschen Sinn zufällige Erinnerungen heraufzubeschwören. Hierfür methodisierte er die Haltung und Bewegungsform der Flanerie, um seine eigenen Gedächtnisspuren ausfindig zu machen. Er suchte im Besonderen die Orte in einer Stadt, »an denen Innenwelt und Stadtraum in Kontakt kommen« (Bertuzzo 2003, 3). Diese Orte nannte Benjamin unter Zuhilfenahme seines zentralen Begriffs der Schwellen – Schwellenorte. Der Kulturwissenschaftler David Wachter erkennt in dieser Arbeitsweise »das Konzept [der] Poetik modernistischer Miniaturen, die Erfahrungen in/mit der urbanen Massengesellschaft literarisch ausgestalten und kritisch reflektieren. Ausgehend von scheinbar marginalen Gegenständen und Alltagsphänomenen wie Achterbahnen oder Leuchtreklamen werfen die Texte zeitdiagnostische Blicke auf die gesellschaftliche Moderne – und entziehen sich zugleich in ihrer Komplexität jeder vereindeutigenden Lektüre« (Wachter 2009). Die daraus resultierenden Denkbilder ermöglichen es, gefundene Spuren der Vergangenheit zu verdichten und innerhalb eines stellvertretenden Abbildes textlich darzustellen. So gelingt es Benjamin, seine Gedanken zu verräumlichen, wodurch diese an einen (Zeit-)Raum, einen Ort oder einen Gegenstand gebunden sind und einen konkreten Erinnerungsmodus provozieren können (vgl. auch Bertuzzo 2003, 18).
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Die Aufgabe Benjamins besteht nun darin, als erinnernder Flaneur die zeichenhaften Stellvertreter zu finden und aufzugreifen, die eine Verdichtung überhaupt erst zulassen, und diese anschließend zu Konstellationen zu gruppieren, um sie im Sinne seiner zu belegenden Geschichtstheorie mobil zu machen (vgl. Ausführungen zu Benjamin auf S. 104 f.). Um diese zu erforschen, begab er sich 1927 erstmals nach Paris, um dort ausgiebig zu flanieren. Auf seinen Streifzügen versuchte er, aus der Geschichte resultierende gegenwärtige Erfahrungen zu sammeln und zu gruppieren. Aus dem einst geplanten Essay von etwa fünfzig Seiten wurde im Laufe der Zeit eine Sammlung von an die 900 Seiten, meist handschriftlich verfassten Notizen und Fragmenten, die erst wesentlich später, postum, als »Passagenwerk« zusammengefasst, veröffentlicht wurde. Dieses Passagenwerk besteht fast ausschließlich aus Beobachtungen, Bemerkungen, Gedanken- und Satzfragmenten sowie Rechercheergebnissen in deutscher, französischer und griechischer Sprache, die gespickt sind mit Reklameslogans, tiefgründigen Bemerkungen und geschichtlichen Verweisen. Es zeigt eindringlich, wie flanierendes Denken vonstattengeht: Flanieren eröffnet eine Sichtweise, die als eine permanente Gleichzeitigkeit der gesamten Geschichte eines Ortes beschrieben werden kann. Sie äußert sich gleich einem Panorama, sowohl baulich (durch Gebäude, Straßen, Plätze, Parkanlagen usf.) als auch nicht-baulich (in Form von Spuren und Zeichen, von Bewegung, Empfindung und Eindrücken). Aus dieser Vielschichtigkeit der Blickperspektive ergibt sich parallel auch eine Vielschichtigkeit der Denkperspektive: Nicht mehr das einzelne Bild, die einzelne Spur oder Erinnerung steht im Fokus, sondern vielmehr die unterschiedlichen Zugänge und Deutungsmöglichkeiten zu einem Thema oder Ort. Auf diese Weise provoziert ein Ort bei jedem Rezipienten die Grundlage für eine individuelle Geschichte. Das Durchschreiten des Raumes bildet über den gegangenen Weg und die passierten Orte einen eigenen Raum, der im Nachhinein betrachtbar wird.
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KONSTELLATiONEN SCHAFFEN Im Rückblick wird über den Weg, der sich aus vielen einzelnen Momenten und Entscheidungen zusammensetzt, ein Netz der eigenen Geschichte, der eigenen Narrative, aber auch der Geschichte und Narrative der anderer sichtbar, da eine Stadt »nicht nach dem Prinzip der Kopräsenz, sondern der Korrespondenz [lebt]: ein Ort antwortet auf den anderen, das Zuhause antwortet auf die Arbeit, die auf den Handel antwortet, der auf die soziale Einrichtung antwortet, die auf die Gedächtnisarbeit antwortet, die auf die künstlerische Erfindung antwortet, etc. [...] Sie ist, wie man gerne annimmt, ein Knäuel aus Korrespondenzen, aus Verweisen, aus reziproken Handlungen« (Nancy 2011, 72). Auf diese Weise entstehen durch die Bewegung Konstellationen, die kulturell vermittelte Gemeinsamkeiten oder individuell erlebte Ereignisse bewusstmachen, diese zusammenfassen und es zulassen, daraus eine Identität zu formen. Genauso wie eine Stadt aus ihren Geschichten konstruiert wird, ist Geschichte eine Montage aus Möglichkeiten und Ereignissen. Walter Benjamin, der dieses Prinzip aufgreift, formuliert es so: »[D]ie erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. [...] Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen« (Benjamin 1983, 575). Den Ausführungen de Certeaus und Benjamins folgend, konstruieren Gehende aufgrund ihres individuellen Erfahrungs- und Kenntnishintergrunds ihre eigenen Narrative. Diese Narrative orientieren sich an Orten entlang einer Wegstrecke und weben sich in den Raum ein. Spuren, die für die eine Person bedeutsam sind, wecken in der anderen kein Interesse, wiederum berührt etwas anderes Äußeres etwas im Inneren dieser Person. So entstehen mannigfaltige Konstellationen, die letztlich das, was dann als Stadt verstanden wird, konstruieren und sie damit als veränderbar
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ausweisen. Diese grundsätzliche Veränderbarkeit birgt nicht nur große Potenziale im Sinne einer individuellen Aneignung von Stadträumen, sondern auch im Sinne einer Verantwortlichkeit für Ereignisse, die an Orten oder Objekten raumkonkret werden. Der Begriff der »Konstruktion« weist hier besonders stark auf etwas hin, das »gemacht« ist und somit einer Intention folgt. Und tatsächlich hatte Walter Benjamin nichts anderes vor, als die zeitgenössischen Bildungskonzepte zu analysieren und infrage zu stellen. Er betrachtete sein Passagenwerk als eine Art pädagogisches Vorhaben: Indem er Geschichte dekonstruierte, um die Einzelmomente zu extrahieren, aus denen Geschichte entsteht, ermöglichte er auch eine Demokratisierung der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Durch die Offenlegung dieser Einzelmomente, in denen laut Benjamin das Totalgeschehen enthalten ist (vgl. Monadenbegriff, S. 194), ist es für das Individuum möglich, sich zum einen im Verlauf der Geschichte wiederzuerkennen, zum anderen sich in diesen einzuschreiben, also die Konfiguration zu verändern und somit auch den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. In dieser Konzeption stecken unendlich viele Möglichkeiten, Ereignisse und deren Reihung auszulesen, zu verstehen und zu verändern. Denn jedes Individuum kann auf Grundlage von Konstellationen seine eigene Geschichte entdecken, seine Identität und kollektive Gebundenheit verstehen sowie sein eigenes Narrativ entwickeln. Diese Narrative sind es dann, die entweder in einem Kollektiv aufgehen (siehe »Kollektives Gedächtnis«, S. 79), Gemeinschaft stiften (siehe »Gedächtniskollektive«, S. 120) oder einen Diskurs eröffnen und dadurch auch wieder politisch werden (siehe zum Beispiel das Konzept »Küstrin – Erinnerungsort!?« S. 149). Aus einer gegenwärtigen körperlichen sowie geistigen Handlung entspringt so die Motivation, einen individuellen Vorgang zu objektivieren, um daraus tiefergehende Erkenntnisse für Prozesse der Erinnerungsarbeit oder der Planung zu erlangen. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, aus den literarischen Quellen von unter
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anderem Hessel und Benjamin unter Zuhilfenahme des Konzeptes der »Urbanografien« der Stadtforscherin und Kulturwissenschaftlerin Elke Krasny eine Methodisierung zu erarbeiten, die es erlaubt, das Gehen als handlungsbasiertes Erinnerungskonzept nutzbar zu machen und praktizieren zu können.
Claudia-Maria Luening
»Orte sind dadurch besti bereits gehandelt, bzw. e ten wurde. Hier hat Gesc stattgefunden und ihre Spuren, Relikten, Resten sen. Orte haben Namen Geschichten, sie bergen rend Raum vorwiegend z sind Orte vorwiegend ve tet und haben eine Gesc haftet und weiterhin abl
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WiSSENSPRODUKTiON DURCH GEHEN Gehen und eine dadurch ausgelöste Denkbewegung reichen nicht aus, um aus einem tendenziell selbstreferenziellen Vorgang wie dem Flanieren einen Vorgang der Wissensproduktion über Stadträume und Erinnerungen ableiten zu können. Hierfür entwickelte die Stadtforscherin und Kulturwissenschaftlerin Elke Krasny, basierend auf den Theorien von Michel de Certeau, eine wissenschaftliche Methode, die es ihr ermöglicht, die von de Certeau proklamierte »Äußerung«, also den Akt der Handlung, zu reflektieren, ohne dadurch die immanenten und gegenwärtigen individuellen Erfahrungshorizonte aufzulösen. Mit ihrer Methode gelingt ihr die Verbindung zwischen Individuum und Stadtraum auf einer denkerisch-reflektiven Ebene, auf der das eine das andere bedingt. Der Weg bringt die Erinnerung hervor, wodurch die Erinnerung zum Weg wird: »In einer engen und zugleich die jeweilige Herkunft aus dem Alltag oder aus der Theorie, aus dem Handeln oder der Reflexion überschreitenden Verbindung von Methode und Techne, Theorie und Praxis werden die individuellen Wege durch die Stadt zum Schlüssel einer individuierten und kollektiv wirksamen urbanen Erkenntnisproduktion« (Krasny 2008, 29), die gleichermaßen auf der individuellen Wahrnehmung sowie der sozialen Rahmung beruht.102 Folgerichtig nannte Krasny die Produkte dieses Prozesses »Urbanografien«, da in ihnen das urbane wie auch das individuelle Wissen fragmentarisch in Form einer Art topographischen Biografie oder biografischen Topographie vorliegen. Diese Erkenntnis verweist einmal mehr auf die Tatsache, dass es nicht eine Stadt oder einen Erinnerungsraum gibt, sondern – Dolff-Bonekämper hat es angedeutet – so viele, wie es »Bewohner und Besucher gibt, die die Stadt von Ost nach West und von West nach Ost durchwandert, Orte aufgesucht und Geschichte und Geschichten erfahren haben« (Dolff-Bonekämper 2007, 70).103
102 | Vgl. Maurice Halbwachs »Cadres Sociaux«, S. 80, sowie »Wahrnehmen«, S. 46. 103 | Dolff-Bonekämper schreibt hier über Berlin, Gleiches gilt aber auch für jede andere Stadt.
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Krasny zielt mit den Urbanografien zwar in eine andere Richtung als die vorliegende Studie, doch können aus ihrer Methodisierung wertvolle Hinweise für eine Methodisierung der handlungsbasierten Erinnerungsarbeit gezogen werden. Hierfür soll im Folgenden ihre Vorgehensweise vorgestellt werden. »Urbanografien« wurden bislang in mehreren Städten weltweit angefertigt, bisher allerdings jedes Mal unter einer anderen Fragestellung. Ging es in Wien um die Frage nach Erinnerungsspuren Wiener Feministinnen, erarbeitete sie zum Beispiel in Hongkong verschiedene Perspektiven auf die Auswirkung des Stadtumbaus auf Individuen. Kern der Arbeit ist eine mehrstufige Herangehensweise aus Forschung, Reflexion und Interviews vor Ort oder beim Gehen. In einem ersten Schritt – die Themen ihrer Arbeit liegen vorab, in Form von konkreten Aufträgen oder persönlichen Interessen vor – versucht Krasny, eine Spur aufzunehmen und diese zu konkretisieren. Um relevante Fragestellungen herauszuarbeiten, untersucht sie die ihr bekannten Orte und führt erste Gespräche mit Akteuren. Dieser erste Schritt ist noch weitestgehend unstrukturiert und dient dem Kennenlernen des Ortes, der Akteure und einer ersten Verbindung zwischen Ort und Thema. Auf ihren Wegen begegnen ihr gleichermaßen Spuren wie Personen, die einen ersten Eindruck über die weitere Vorgehensweise erlauben (vgl. Krasny 2011, o. A.). Der folgende Schritt, den sie »Wissensproduktion« nennt, ist geprägt von einer vertiefenden Recherche entlang der im ersten Schritt ermittelten Wegstrecken. Diese Wege können urbanen Entwicklungslinien, historischen Routen oder thematischen Konstellationen folgen. Im Projekt »City Telling« beispielsweise sammelte sie entlang der Boundary Street in Hongkong, einer historischen Grenzlinie und markanten Stadtentwicklungsachse, Aussagen der Anrainer zu ihren Alltagswegen. Parallel dazu geht sie in Archiven und Sammlungen Hinweisen und Anmerkungen nach. Um die Potenziale des Gehens für Stadtforschungsprozesse nutzbar zu machen, betrachtet sie die Wegstrecken, die sie mit Probanden gemeinsam abschreitet,
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als »diskursive Reihe von Handlungen«, die gegenüber den Setzungen und Festlegungen der Planung, allgemeiner der Stadtgestalt, »in einem sich situativ produzierenden Wechselverhältnis« (Krasny 2008, 8) stehen. Dieses Wechselverhältnis beruht auf theoretisch und praktisch erlernten Codes, über die sich Machtverhältnisse beobachten und ablesen lassen. In der Praxis bedeutet das, dass die Stadt – oder besser das persönliche Bild einer Stadt – im Gehen erst erzeugt wird, sozusagen »zwischen Jetzt und Hier« (Krasny 2008, 12), was sie als ein Netzwerk aus Raum und Zeit erscheinen lässt (vgl. de Certeau 1988, 215 ff.). Die abgeschrittenen Wege lassen sich in diesem Sinne als »Erfahrungsachsen« (Krasny 2008, 12) verstehen, die eine perspektivische Sichtweise einerseits des »Hier und Dort«, andererseits zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Krasnys Ansinnen ist es nun, »die Verbindungslinien und Konnektivitäten [...] zwischen dem Akt des Gehens ›aus narrativer Perspektive‹ und dem Akt des Erzählens aus gehender Perspektive« (Krasny 2008, 29) herauszufinden.104 Durch das gemeinsame Gehen schafft sie eine Situation, in der die Probanden ihr Alltagswissen artikulieren können und somit en passant eine topographische Ordnung herstellen. Diese Ordnung105 schafft gleichzeitig auch eine konkrete Verortung von individueller Geschichte, die während des Gehens auf dem gemeinsamen Weg erzählt wird. Das Mitgehen Krasnys fungiert hier als Katalysator, der den Prozess erst möglich macht, denn über das eigene Reflektieren des Weges seitens der Probanden und das Zuhören Krasnys bekommt das Alltagswissen eine Relevanz. Doch hört Krasny nicht nur zu, sondern befördert den Prozess auch durch einfache, offene Fragen und dokumentiert den Weg sowie das Gesagte mithilfe unterschiedlicher Techniken und Medien: Sie zeichnet den Weg als Karte, schreibt das Gesagte mit, verortet die Angaben und fertigt Wegbeschreibungen an. Auf diese Weise transferiert sie das einfache Sich-über-einen-Weg-Unterhalten in ein wissenschaftlich verwendbares Forschungsformat (vgl. Krasny 2008, 31).
104 | Hier scheint wieder der Benjaminsche Begriff der »Schwellen« oder Paetzolds Beschreibung seiner eigenen Flanerie des »Dazwischen« auf (vgl. Paetzold 2012, 104). 105 | De Certeau benutzt hier den Begriff »Handlungsgeografien« (de Certeau 1988, 216).
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Obwohl die Wahl der Wegführung persönlich getroffen und den Probanden freigestellt ist, verbindet sich hier das Private mit dem Öffentlichen: Die Wege der Probanden sind persönlich, sie nutzen und durchkreuzen hierfür aber das Öffentliche, auf das sie reagieren, dem sie sich beugen, dem sie widersprechen – oder um es mit den Worten de Certeaus auszudrücken: Der Gehende trifft eine Auswahl aus bestimmten im Raum gegebenen Möglichkeiten und aktualisiert diese durch seine Handlung (vgl. de Certeau 1988, 190 f.). Diesen Gedanken unterstreicht auch Aleida Assmann: Im Stadtraum sind alle Schichten gleichzeitig anwesend, werden aber nicht gleichzeitig wahrgenommen, sind nicht gleichzeitig im Bewusstsein präsent (Assmann, A. 2007, 112). Mapping und Re-Mapping spielen bei Krasny eine zentrale Rolle. Zum einen fasst sie in Karten ihre eigenen Spuren und Wege, zum anderen die Spuren und Wege der Probanden zusammen. Sie verschafft auf diese Weise den Spuren eine Visibilität, wodurch sie im Stadtraum wiedergefunden und visualisiert werden können. Die Karten dienen ihr darüber hinaus zur weiterführenden Recherche und topographischen Überprüfung der Funde aus Archiven und Sammlungen während der Recherchephase. Erinnerungen und Spuren bleiben auf diese Weise direkt an Orte gebunden. Durch das Artikulieren, Dokumentieren und Reflektieren kann das räumliche und zeitliche Nebeneinander der Stadt sichtbar gemacht und somit in einen Diskurs überführt werden. Um einen solchen Diskurs zu befördern, nutzt Krasny häufig die Möglichkeit einer abschließenden Ausstellung, wie zum Beispiel beim Projekt »Frauen in der Stadt« in der Wienbibliothek. Die Ausstellung zeigt zum einen die Dokumentation ihrer Arbeit und bietet zum anderen dem behandelten Thema einen Raum zur Auseinandersetzung (vgl. Krasny 2008, 34 ff.). In Hongkong wurde der Prozess parallel zur Projektarbeit auf einer Webseite begleitet. Diese Öffnung des Diskurses ist insofern positiv zu bewerten, als dadurch eine erweiterte Öffentlichkeit angesprochen werden kann. So bietet sich die Möglichkeit einer
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weiterführenden Auseinandersetzung, die neben dem lokalen kollektiven Gedächtnis auch Gedächtniskollektive einbindet und den Diskurs direkt visualisiert.
VON KONSTELLATiONEN, GESCHiCHTE(N) UND NARRATiVEN Auf Grundlage der Erkenntnisse über die Individualität des Sehens, Erkennens und Wahrnehmens sowie infolge der Unterschiedlichkeit der Erinnerungsinhalte jedes Individuums müssen kollektive Gedächtnisinhalte permanent verhandelt werden, um relevant zu bleiben. Oftmals gehen Ereignisse und deren Spuren im Stadtraum verloren – entweder durch bauliche Veränderungen oder durch das Vergessen. Jeder Eingriff verändert zwar die dingliche Gestalt von Gegenständen, Orten oder Räumen, kann aber nicht das gesamte Erinnerungsgeflecht beseitigen. Es bleiben immer Spuren zurück, die sich auf unterschiedliche Weise materialisieren: Sei es in Form von räumlichen oder thematischen Bezügen, von Plänen, Dokumenten, persönlichen Erinnerungen, Grundrissen, Archivalien, Gedenktafeln, Erzählungen, Verweisen usf. Karl Schlögel hat den Medien der Erinnerungsarbeit mit »Im Raume lesen wir die Zeit« ein ganzes Buch gewidmet und beschreibt hier anhand vieler Beispiele, was und vor allem wie im Stadtraum »gelesen« werden kann, wie sich jemand durch das Informationsgeflecht Raum tasten und zwischen den vielen Hinweisen orientieren kann. So war Schlögel in diesem Studie bisher schon an einigen Stellen präsent und soll mit einigen Gedanken auch in die Methodisierung einfließen. Schlögels Credo ist ebenso, wie das Walter Benjamins, Gabi Dolff-Bonekämpers, Aleida Assmanns und anderer Autoren, das »Primat der Erfahrung« (vgl. u. a. S. 110), denn oftmals erzählen Räume und die in ihnen enthaltenen Orte eine eigene Geschichte, die sich an den beschriebenen Spuren erahnen, oft auch konkret
213 106 | Zum Beispiel Flüchtiger, Kaufmann, Handlungsreisender, Entdecker, Kundschafter, Soldat, Pilger, Obdachloser, Illegaler, Tourist usf. (vgl. Schlögel 2007, 261). 107 | Allerdings darf bei der Betrachtung nicht vergessen werden, dass Raum auch gleichzeitig die Materialisierung von Machtstrukturen ist. An dieser Stelle stehen sich die »Tatsache Stadt« und das »Konzept Stadt« gegenüber, was auf die Bemerkungen zum »herrschenden Blick« (vgl. S. 171) oder auch zu Blickregimen verweist, die durch das aufmerksame Gehen entlarvt und hinterfragt werden können. Dieser Aspekt kann beim Betrachten des Stadtkörpers und seiner Geschichte nicht ignoriert werden und wird deshalb in der Konzeption zwar immer wieder auftauchen, soll aber entlang der Machtfrage etwa im Foucaultschen Sinne in dieser Arbeit nicht weiter behandelt werden.
auslesen lässt. Hierbei helfen manchmal eindeutige Spuren und Hinweise, wie Tafeln, Gedenksteine und Denkmale. Aber auch Querverweise und Zufallsfunde bringen die Aufmerksamkeit auf eine Fährte, der in der Folge nachgegangen werden kann (vgl. auch Krasny 2008). Die Nutzungsstrategien, die vornehmlich auf der urbanen Oberfläche stattfinden, bilden durch Handlungen wie beispielsweise das Gehen eigene Räume, die wiederum durch die Handlung sichtbar werden. Durch das Gehen werden unterschiedliche eigene und fremde Schichten, Geschichten, Themen, Bilder und Komplexe passiert. Sie überkreuzen, ergänzen oder widersprechen sich. Dadurch bilden sich Netze, die sich durch das Gehen über das Stadtraster legen und ihrerseits wieder neue Geschichten erzählen, die maßgeblich mit den Routinen und Erfahrungen der »Stadtbenutzer« (de Certeau 1988, 182) verbunden sind. In der Nachschau erlauben es die zurückgelegten Wege, Konstellationen zu erkennen und den Einfluss von Rahmenbedingungen, Geschichte und Erinnerungen zu reflektieren. Die daraus entstehenden Narrative können sich, obwohl sie sich mit denselben Räumen und Orten in derselben Zeit beschäftigen, möglicherweise aufeinander beziehen, durchaus mehrdeutig und widersprüchlich erlebt und erfahren werden. Insofern überlagern sich auch die unterschiedlichen Texte der Stadt, die es erlauben, an den markanten Stellen oder Objekten einen Diskursraum zu eröffnen. Dieser Diskurs ist das spannende Moment für den Souveneur, der sich verschiedener Methoden bedient, um Schnittstellen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche aufzudecken, diese zu thematisieren und zu hinterfragen. So spielen zum Beispiel verschiedene Blick- und Sichtweisen106 auf Nutzungsstrategien, Erinnerungen und Erfahrungen107 ebenso eine Rolle wie unterschiedliche Zugänge zu diesen durch das Gehen. Rückbezogen auf die Frage nach einer handlungsbezogenen Erinnerungskultur in der Stadt könnte dies bedeuten, dass es einer Art Bottom-up-Geschichtsbewegung, ähnlich der Geschichtswerkstättenbewegung
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in den frühen 1980er Jahren, bedarf, die auf den individuellen Erinnerungen von Individuen und deren persönlicher Verantwortung diesen gegenüber beruht. Benjamin versuchte über sein materialistisches Geschichtsbild im Sinne eines aktiven Kampfes zwischen Klassen bzw. zwischen Siegern und Verlierern, die Dynamik der Auseinandersetzung über Geschichte und ihre konkreten Inhalte aufzuzeigen und diese in einen Diskurs zu überführen. Durch das Verorten von Erinnerungen an konkreten Gegenständen oder Orten begründen sich Raum- und Zeitbezüge, die wiederum »identitätskonkret« (Assmann, J. 2007, 39; sowie Kapitel »Gedächtnis«, S. 76) wirken und die Zugehörigkeit zu Erinnerungskollektiven ermöglichen. Mit diesem Konzept sind ihm sowohl der erste Schritt der Zusammenführung von Erinnerung (Souvenir) und Ort bzw. Objekt sowie die Methodisierung von Formen des Gehens zur gezielten Erinnerungsarbeit durch eine Sozialfigur (Flaneur) gelungen, was vor allem eine individuelle Erinnerungskultur fokussiert. Über den Handlungsbezug wechselt das Individuum aus einem kontemplativen Modus in einen aktiven Handlungsmodus, der eine politische Sichtweise nicht nur erlaubt, sondern geradezu provoziert.108 Gehen ist, derart praktiziert, ebenso subversiv wie die daraus resultierende Geschichtsphilosophie, die das Individuum in die Pflicht nimmt, Verantwortung für Geschichte und deren Entstehen zu tragen. Gehen ermöglicht auf diese Weise eine individuelle Erfahrung, die dem Totalereignis Geschichte gegenübersteht und dieses infrage stellt. Über dieses In-Frage-Stellen wird ein Diskurs über die gegenwärtige Relevanz geschichtlicher Ereignisse und darüber hinaus für ein Zukunftsbild angeregt. Benjamin plädiert hiermit für eine Geschichte, die nicht allein von den Siegern der Geschichte geschrieben wird, sondern auch von den Verlierern, also »von unten«. Dies bedeutet eine Demokratisierung der Deutungshoheit und der Bestimmung dessen, an was sich zukünftige Generationen erinnern sollen. Oder, wie Benjamin es formulierte: »Schwerer ist das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren, als das der Berühmten.
108 | Siehe hierzu auch die Dérive-Methode der Situationistischen Internationalen (Fußnote auf S. 192).
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Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht« (Benjamin 1983, 1241). Gehen erfordert die Anwesenheit auf der Ebene des urbanen Alltagsgeschehens, was den Blick öffnet für die Umgebung, die Menschen und deren Taktiken im Umgang mit räumlichen Situationen. Deshalb sehen de Certeau und Lefebvre gerade in Alltagspraktiken ein großes Potenzial, um Machtstrukturen, die sich in räumlichen Situationen verbergen, zu offenbaren. Krasny nahm diese Theorien zum Anlass, eigene Formate des Gehens zu erarbeiten, um die Auswirkungen von Stadtentwicklung auf Individuen zu untersuchen. Für die Methodisierung des Souveneurs kann ihr Methodenspektrum als wesentlicher Baustein betrachtet werden. Besonders das explizite Nutzen des Gehens zur Wissensproduktion, die beschriebenen Aspekte der Objektivierung von individuellem Wissen und die mehrstufige Vorgehensweise scheinen für eine lokale, handlungsbezogene Erinnerungsarbeit prädestiniert. In diesem Sinne soll die folgende Methodisierung dem Beispiel der »Urbanografien« bzw. des »City Telling« folgen und diese als Grundlage für eine weiterzuentwickelnde spezifizierte Herangehensweise nutzen. Zusätzlich fließen die Erkenntnisse aus den vorangegangenen Teilen und aus den beschriebenen Konzepten von Hayden, Hessel, Benjamin und Dolff-Bonekämper sowie Schlussfolgerungen aus einem ersten Besuch in Görlitz, der Stadt, in der das Praxisprojekt stattfinden soll, in dieses Konzept ein. Zusammenfassend gelten folgende Aspekte als zentral: Ziele: • Demokratisierung der Erinnerungsarbeit • In-Wert-Setzen der individuellen Erfahrung • Gehen als Form der politischen und ästhetischen Bildung • Beförderung des erinnerungsgestützten und -stützenden Handelns • Verknüpfung des Prozesses mit aktuellen lokalen Diskursen
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Konkret: • Mehrstufige und mehrperspektivische Vorgehensweise • Nutzung unterschiedlicher Formate der Wissensproduktion • Sammlung, Verortung und Dokumentation von Erinnerungen und Objekten • Erweiternde Recherche in Archiven, Sammlungen und Literatur • Öffnung des Diskurses durch Nutzung des Internets und sozialer Medien • Veröffentlichung der Sammlungen, Ergebnisse und Erkenntnisse • Rolle des Souveneurs als Katalysator und Dokumentar
Erleben, Archivieren, Weitergeben
Jean Luc Nancy
»Die Stadt ist ohne Gesicht, aber n hat keinen Blick, aber sie hat einen sich unter dem Gesichtspunkt der sie wird berührbar durch ihre Weg durch Skizzen. Zwischen der bunte soziometrischen Beschreibung, die se die Stadt vergessen, liegt der Z herungsweise, die man ›literarisch Stadt, ihrer Chronik, ihres Romans mende und gleitende Identität, flü und eine Konstellation ergeben. U Stadt von so vielen Erzählungen h sie ist bedrängend, fliehend, mons schaft und ihrer Persönlichkeit. O mer schon in die Leinwand eines
r nicht ohne Eigenschaften. Sie en Zugang, mehrere. Sie lässt er Identität nicht einfangen, aber egführungen, durch Spuren, nten Postkarte und der geo- und die beide auf jeweils eigene WeiZwischenraum für eine Annäch‹ nennt: für ein Schreiben der ns, ihres Poems, für eine aufglimflüchtig wie Sätze, die auftauchen Und es ist kein Zufall, wenn die heimgesucht worden ist, denn nströs, eine Chimäre ihrer LandOder sie ist ein Rahmen, der imBildes hineingezogen wird [...]«.
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METHODiSiERUNG DES SOUVENEURS Erinnerung, so der Tenor der bisherigen Studie, ist wichtig zur Bildung und Pflege der individuellen sowie kollektiven Identität. Häufig spielt diese im Alltag jedoch keine explizite Rolle, weswegen materielle Spuren und Objekte, die Erinnerungen auslösen können, auf alltäglichen Wegen oft übersehen werden. Hier kann eine methodisierte Erinnerungsarbeit helfen, individuell wahrgenommene Spuren und Objekte aufzugreifen und diese zum Anlass für eine weiterführende Auseinandersetzung zu nehmen. Auf diese Weise kann Erinnerungsarbeit als bewusster Vorgang zur individuellen wie kollektiven Identitätsformung beitragen. Gehen und das damit verbundene Kommunizieren mit Orten, Gegenständen und Menschen, so meine These, ermöglicht es, ortsrelevante Themen und Diskurse ausfindig zu machen und diese zu forcieren und/oder zu begleiten. Um diese These zu verifizieren oder zu falsifizieren, reiste ich mehrmals nach Görlitz. Ziel des Praxisprojektes war es, die theoretische Methodisierung für ein handlungsbezogenes Erinnerungsformat durch die Arbeit im Feld zu überprüfen und zu ermitteln, ob dieses Konzept einen aktuellen Diskurs aufnehmen und erweitern kann. Obwohl sich die konkrete Vorgehensweise an den Erkenntnissen der vorangegangenen Teile orientiert und im Wesentlichen an die beschriebene Methodisierung Krasnys angelehnt ist, ähnelt der Prozess des Praxisprojektes in seinem Verlauf bisweilen dem assoziativen Spiel der Wahrnehmung beim Flanieren und Gehen in der Stadt. So sind manche Spuren, die ich während meiner Begehungen erschlossen habe, Produkte des Zufalls, die ich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit meiner Wahrnehmung und die Sensibilisierung durch die Aufgabe gefunden habe. Dies hat viel mit Zufallsbegegnungen zu tun oder aber mit zufälligen Erinnerungen meiner Begleiter an bestimmten Orten oder Objekten.
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So ereignete sich auch die Teilnahme an der aktuellen Diskussion zufällig, während ich im April 2013 in Görlitz weilte. Im Kern geht es in dieser Diskussion um den Umgang mit einem alten Schuppen, von dem vermutet wird, dass er ein Relikt aus dem ehemaligen Arbeitslager (AL) »Biesnitzer Grund« in Görlitz ist. Um den Verlauf des Praxisprojektes und die aus den einzelnen Schritten resultierenden Erkenntnisse nachvollziehbar zu gestalten, soll die folgende Dokumentation chronologisch wiedergegeben werden. Im Wesentlichen folgt der Verlauf einem dreistufigen Verfahren, wonach das freie Gehen in der Stadt den Anfang macht, bevor anschließend die gewonnenen subjektiven Ergebnisse durch verschiedene Recherchen objektiviert und in einem dritten Schritt anhand eines konkreten Diskurses, Ortes oder Objektes zusammengeführt werden. Der erste Teil beinhaltet die erste, möglichst unvoreingenommene Begegnung mit der Stadt Görlitz. Das resultierende Dokument ist die teilweise ausgearbeitete Dokumentation mehrerer Flanier- und Spaziergänge und der Gedanken, die während des Umhergehens im Stadtraum zum Vorschein kommen. »the görlitz tapes pt. 1–8« sind ephemere Randnotizen, aus denen ein aktuelles oder historisches Thema zur weiteren Bearbeitung aufgedeckt und ein Konzept zur Methodisierung des Gehens zur Erinnerungsarbeit vorstrukturiert wurde. Der zweite Teil widmet sich der Görlitzer Stadtgeschichte und grundlegenden statistischen Daten sowie einer Spiegelung der politischen und wirtschaftlichen Situation. Es ist einerseits eine Annäherung an die historischen Schichten des Ortes sowie andererseits der Versuch, die subjektiv erlangten Erkenntnisse und die entlang der gelaufenen Wege ermittelten Themen zu objektivieren. Der dritte Teil stellt die Zusammenführung der Erkenntnisse aus den beiden vorangegangenen Teilen an einem konkreten Diskurs, Ort oder Objekt dar. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die nähere Betrachtung eines Erinnerungsobjektes, über das in Görlitz zwischen 2012 und 2014 ein umfangreicher Diskurs
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geführt wurde. Der zufällig ermittelte Erinnerungsort wird anschließend als materielles Erinnerungsgut beschrieben, ebenso wie seine bis dato recherchierbare Geschichte. Was an dem Beispiel sowie dem Objekt besonders betont werden soll, ist nicht so sehr der materielle Denkmalwert oder die authentische Zeugenschaft, so diese überhaupt belegt werden kann. Vielmehr ist der Anlass hervorzuheben, den dieses Objekt bietet, um in die Geschichte des Ortes einzutauchen und diese als Netzwerk, das sich über die ganze Stadt und darüber hinaus legt, abzubilden (vgl. de Certeau 1988, 215). Die Erkenntnisse aus dem Praxisprojekt münden abschließend in einem Vorschlag zu einem handlungsorientierten Erinnerungskonzept. Die Dokumentationen der Feldarbeit können im vorliegenden Buch nur reflektiert, nicht aber in Gänze abgebildet werden. Die vollständigen Versionen »the görlitz tapes pt. 1–8«, der historische Abriss »Europastadt Görlitz/Zgorzelec« und »Netzwerk der Erinnerung ›Baracke Görlitz‹ – Eine Erinnerungstopografie« befinden sich in jeweils einem separaten Dokument, die auf der Webseite des Verlags unter der Adresse http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3030-5/ das-erbe-des-flanierens?c=793 heruntergeladen werden können. Das Passwort zum Öffnen der Dateien ist: DerSouveneur Da ich selbst es bin, der diese Reisen und Erfahrungen gemacht hat, wechselt der Schreibstil ab diesem Teil von einem wissenschaftlich-distanzierten zu einem persönlichen-berichtenden Ton, was die Verwendung von Personal-, Possessiv- und Reflexivpronomina einschließt.
ERSTER TEiL – WAS ERFÄHRT MAN DURCH DAS GEHEN? Um einen möglichst unvoreingenommenen Blick zu haben, der für ein erinnerndes Flanieren uner-
225 109 | Der Blog ist unter der Adresse: www. souveneur.wordpress. com zu erreichen.
lässlich ist, ist der Besuch einer der Person unbekannten Stadt empfehlenswert. Am besten ist es, wenn auch über die Stadt möglichst nichts oder nur sehr wenig bekannt ist. Dies ist deshalb besonders wichtig, da nur durch diese Fremdheit eine Orientierungslosigkeit gewährleistet ist, die Routinen ausschließt und die Sinne für das Atmosphärische und die Komplexität der Orte öffnet. Diese Wahrnehmungshaltung ist erforderlich, um Spuren aufzutun, diesen zu folgen und Konstellationen herstellen zu können (vgl. »Konstellationen schaffen«, S. 202 und „Urbanografien“ von Elke Krasny, S. 208f ). Meine Wahl fiel auf die Doppelstadt Görlitz/Zgorzelec, da hier viele geschichtlich relevante Spuren zu erwarten waren und ich die Stadt noch nicht kannte. Das Ziel des ersten Besuches in Görlitz bestand darin, die Stadt kennenzulernen, erste Akteure ausfindig zu machen, Gespräche zu führen und eine Herangehensweise an ein handlungsorientiertes Erinnerungskonzept zu finden. In diesem Zusammenhang sollte das Gehen, im Speziellen die Flanerie, als Möglichkeit zur Methodisierung dieses Vorgangs überprüft werden. Dazu sollten erste Spuren und Hinweise auf erinnerungsrelevante Themen und Diskurse mit den zugehörigen Orten und Objekten ermittelt werden, die dann in einem darauffolgenden Schritt, eventuell im Zuge eines zweiten Besuches, vertieft und ausgearbeitet werden sollten. Um meinen Weg und meine Erkenntnisse von Anfang an transparent zu machen und diese nicht nur für mich selbst zu dokumentieren, sondern auch anderen zur Verfügung zu stellen, hatte ich im Vorfeld einen Blog eingerichtet, auf dem ich regelmäßig meine Notizen zusammenfasste und, um Rechercheergebnisse ergänzt, publizierte.109 Wie in der Dokumentation »the görlitz tapes pt. 1–8« (siehe separates Dokument) nachzulesen ist, habe ich im Vorfeld alles, was ich bis dato über Görlitz wusste, aufgeschrieben. Es war nicht sehr viel und namentlich geprägt von zwei Personen, die eine Zeit lang in Görlitz gelebt hatten bzw. schon mehrfach zu Besuch in dieser Stadt gewesen waren. Darüber hinaus
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waren mir Görlitz und vor allem die am östlichen Neißeufer gelegene Stadt Zgorzelec absolut unbekannt, da ich mich absichtlich in keiner Weise konkret auf den Besuch der Stadt vorbereitet hatte, denn ich wollte möglichst uninformiert und unvoreingenommen flanieren und sehen, was die Stadt mir von sich aus zu erzählen hat, also was von den äußeren Eindrücken mein Inneres anspricht und was dies auslöst (vgl. Krasny in »Wissensproduktion durch Gehen« ab S. 208). Zu diesem Zweck unternahm ich vor Ort an verschiedenen Tagen mehrere Flaniergänge, die schon bald deutlich ein Thema offenlegten: Wie ebenfalls in der Dokumentation nachzulesen ist, war ich knapp eine Woche vor dem Görlitz-Besuch in Paris gewesen, wo ich lange und ausgiebig durch die Stadt flanierte. Die Eindrücke, die ich in Paris gesammelt hatte, die Stimmungen, Raumanordnungen, der Charme, die Atmosphäre und viele weitere Zeichen lösten in mir beim Flanieren in Görlitz immer wieder Überschneidungen zu ebendiesen Eindrücken aus Paris aus (vgl. »the görlitz tapes pt. 5 – tag eins: »rinks und lechts«, siehe separates Dokument »the görlitz tapes pt. 1–8« – Dokumentation der Wegstrecke der ersten Begehung«). Objektiv betrachtet drängt sich die Verbindung zu Paris im Stadtbild nicht unmittelbar auf, da die Dimensionierung und Gestaltung, die Rolle der Neiße für das Stadtgefüge, die urbane Kultur, das Treiben auf den Straßen etc. in keiner Weise vergleichbar sind. Der Gedanke an eine Verbindung zwischen Görlitz und Paris ließ sich jedoch nicht mehr verwerfen, weswegen ich die Flanerie fürs Erste beendete und am folgenden Tag eine zweite Stufe, die persönliche Vor-Ort-Recherche mit Befragungen und Gesprächen, initiierte (vgl. »the görlitz tapes pt. 7 – tag zwei: menschen, seele, genius loci«, siehe separates Dokument »the görlitz tapes pt. 1–8« – Dokumentation der Wegstrecke der ersten Begehung«). Handlungsmodus war nun ein lockerer Spaziergang mit Begleitung, der zum Ziel hatte, möglichst
227 110 | Zu dieser Zeit führte sogar eine direkte Bahnverbindung von Breslau über Görlitz nach Paris.
vielen Passanten zu begegnen, die bereit waren, Auskünfte zu geben bzw. sich zu erinnern oder mit mir gemeinsam mögliche Verbindungen zwischen Görlitz und Paris herzustellen. Der Erfolg ist jedoch als mittelmäßig zu bewerten, da in Görlitz zu dieser Zeit nicht sehr viele Passanten unterwegs waren. So besuchte ich unter anderem ein Antiquariat, was in vielerlei Hinsicht in allen Städten immer ein guter Anlaufpunkt ist. Ich fragte nach einem Görlitz-Reiseführer aus der Zeit um 1900 und bekam als Antwort, dass es solche Reiseführer nur sehr selten gäbe, ich aber aus einer großen Auswahl an Paris-Reiseführern aus dieser Zeit wählen könnte. Dies machte mich neugierig und verwickelte den Antiquar und mich in ein ausführliches Gespräch über unterschiedliche Verbindungen zwischen Görlitz und Paris, die meinem Gesprächspartner zufolge vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden hätten. Kern seiner Aussage war, dass Görlitz bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine sehr reiche und kultivierte Stadt gewesen war, in der es zum guten Ton gehörte, regelmäßig nach Paris – in die unter anderem von Benjamin so genannte »Metropole des 19. Jahrhunderts« – zu fahren110, um sich dort Ausstellungen anzusehen, Salons beizuwohnen und die neuesten Moden mitzubringen. Hierzu gehörte auch ein vom Jugendstil geprägter Baustil, der in Ansätzen heute noch in Görlitz zu finden ist. Vor allem die Innenräume der Häuser waren nach Pariser Vorbild gestaltet und ausgeschmückt und manche Lokalitäten beziehen sich auch heute noch bewusst auf diese Epoche. Paris, so scheint es, liegt in vielfältiger Weise als Meta-Bild über dem Görlitzer Stadtbild. Es ist in Räume eingeschrieben und manifestiert sich konkret an allgemein zugänglichen Objekten. Offensichtlich wird dieses Bild aber nicht bewusst wahrgenommen bzw. drängt es sich nicht auf. Denn außerhalb meiner eigenen Erkenntnisse und den Resultaten vor allem aus dem Gespräch mit dem Antiquar stellte die Verbindung zu Paris an diesem Tag niemand sonst eigenständig her.
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ZWEiTER TEiL – WAS ERFÄHRT MAN AUS QUELLEN? Die Objektivierung des Themas vor Ort gestaltete sich schwierig, da sich die Ergebnisse der Besuche in Archiven und Museen der Stadt als nicht sehr ergiebig herausgestellt hatten. So widmete ich mich – wieder zurück in Berlin – der Aufarbeitung der gesammelten Ergebnisse und der Fundstücke aus Görlitz und begann mit einer Recherchephase, die sich entlang zweier Stränge entwickelte: Der erste Strang bezog sich auf verschiedene Quellen zur historischen Entwicklung der Stadt und die daher stammenden Rahmenbedingungen des heutigen Stadtbildes, der zweite Strang beinhaltete eine konkrete Recherche anhand von Archivalien und Dokumenten sowie Inhalten aus dem Internet. Dies erwies sich als am vielversprechendsten: Neben ausführlichen Informationen zur Bahnlinie Breslau-Paris kam noch eine weitere historische Görlitz-Paris-Verbindung zum Vorschein: die Via Regia. Die vor über zweitausend Jahren begründete römische Heer- und Handelsstraße verlief auf ihrem Weg zwischen Nowgorod im heutigen Russland über Paris nach Nord-Spanien. Durch die Via Regia wurden die an ihr liegenden Städte zu wichtigen Knotenpunkten verbunden, an denen sich andere Handelsstraßen trafen (vgl. auch separates Dokument »Historischer Abriss Europastadt Görlitz/Zgorzelec«).111 Zudem konnte ich im Internet Hinweise darauf finden, dass Görlitz einst »Paris an der Neiße« genannt wurde, was im Buch »Görlitz – Schicht um Schicht« von Michael Guggenheimer ebenfalls nachgelesen werden kann (Guggenheimer 2005, 288). Weitere Hinweise kamen von der »Filmstadt Görlitz«-Webseite, die einige in Görlitz gedrehte Hollywood-Produktionen auflistet – neben »Inglourious Basterds« von Quentin Tarantino auch »In 80 Tagen um die Welt« mit Jackie Chan. Für diesen Film wurde der Görlitzer Untermarkt mithilfe von in französischer Sprache beschrifteten Schildern in das Paris des 19. Jahrhunderts verwandelt.
111 | Handelsrouten wie die Via Regia nehmen in der Regel großen Einfluss auf die Entwicklung und Ausprägung der Städte entlang ihrem Wegeverlauf. Das betrifft nicht nur die ökonomische Prosperität, sondern auch die kulturelle.
229 112 | Ein Passant, den ich bei meinem zweiten Besuch zu diesem Thema befragte, meinte, dass sich der Nachteil der langsam voranschreitenden Sanierung der Innenstadt Görlitz im Zusammenhang mit den Filmaufnahmen und der Vermarktung als Filmstadt nun wohl zu einem Vorteil wandle.
Die Ähnlichkeiten zwischen Görlitz und Paris sind verblüffend und weisen meines Erachtens auf zwei Aspekte hin: Zum einen gibt es ein immer noch existierendes »Idealbild« von Paris, das jedoch in Paris nicht mehr zu finden ist. Zum anderen bedient Görlitz dieses Bild, da durch wenige »Tricks«, wie das Aufhängen von französischen Straßenschildern, hier das Paris der Jahrhundertwende auferstehen kann. Daraus folgerte ich, dass eine Grundstruktur der einen in der anderen Stadt vorhanden sein muss, da schon kleinere Veränderungen genügen, um Paris in Görlitz zu zeigen.112 Diese Hinweise waren für mich ausreichend, um im April 2013 eine zweite Reise nach Görlitz zu planen und eine weitere Stufe der Methodisierung, die vertiefende Recherche der bisherigen Erkenntnisse vor Ort und die Vorbereitung einer möglichen Zusammenführung der Ergebnisse innerhalb eines konkreten Praxisprojektes, anzugehen. Ich wollte bei diesem Besuch mehr über das »Paris an der Neiße« erfahren und konkrete Erinnerungsträger aufspüren. Sowohl Bauwerke als auch historische Dokumente wie Bilder, Fotografien oder Texte, konkrete räumliche Verweise oder Zeitzeugen wollte ich ausfindig machen, um die Zeit vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie die Zwischenkriegszeit in Bezug auf das gefundene Thema zu rekonstruieren. Darüber hinaus wollte ich erfahren, wie sich Görlitz über diese Verbindung in der Gegenwart lesen lässt und welche Bezüge davon sich für ein zukünftiges Erinnerungsbild nutzbar machen lassen. Vor allem interessierte mich aber der zweite, vertiefende Blick auf eine Stadt, die ich durch das Flanieren kennengelernt hatte und über die ich durch Recherchen, Gespräche, E-Mail-Austausch mit Akteuren in Görlitz und meine eigene Reflexion einige Kenntnis erlangt hatte. Die Fragestellungen für den zweiten Besuch lauteten: • Gibt es Orte oder Objekte, die auf Ähnlichkeiten zwi schen Görlitz und Paris hinweisen? • Sind die Orte und Objekte im Bewusstsein der Bevöl kerung verankert?
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• Wenn ja, mit welcher Konnotation? • Spielen sie eine Rolle in einem gegenwärtigen Pro zess oder Diskurs? • Wie sind diese zu bewerten? Darüber hinaus galt es zu hinterfragen: • Hängen der Zufallsfund und ein gegenwärtiger Pro zess oder Diskurs zusammen, also werden bewusst Bilder in diese Richtung produziert? • Welches konstruktive Zukunftsbild lässt sich über diese Vergangenheit generieren? • Wie kann über die Orte und Objekte ein Diskurs ini tiiert werden, mit welchem Ziel? • Gibt es aktuell relevantere Diskurse, in denen der Souveneur eine Rolle spielen könnte?
DRiTTER TEiL – EIN ZUFÄLLiGER ERiNNERUNGSORT Zur Zusammenführung und Anwendung des ermittelten Ortswissens bereitete ich mich sorgfältig vor: Für die Dokumentation besorgte ich mehrere Materialien und richtete einen Blog ein, auf dem die Ergebnisse des ersten Besuches sowie weiterführende Erkenntnisse abgelegt wurden. Der zweite Besuch sollte direkt in Echtzeit auf diesem Blog dokumentiert werden, was allerdings aufgrund einer instabilen mobilen Internet-Leitung im Görlitzer Stadtgebiet nicht vollständig möglich war und teilweise erst im Nachhinein stattfinden konnte. So entwickelte ich vor Ort eine analoge Version des digital geplanten Diskursangebotes, das dann unter Zuhilfenahme von Verlinkungen im Nachhinein auf dem Blog weitergeführt werden konnte.113 Kern dieser Version sind auffallend farbige Notizzettel, die weithin sichtbar sein und somit Neugier wecken sollen. Geplant war, diese an subjektiv ermittelten oder zufällig in Kenntnis gelangten erinnerungsrelevanten Orten in der Stadt anzubringen und
113 | Der Blog ist unter der Webadresse www.souveneur.wordpress.com erreichbar.
231 114 | Ein QR-Code ist ein zweidimensionaler druckbarer Code, der über eine Smartphone-Applikation gelesen werden kann.
Abb. 2: Quick Response Codes. Grafik: KMD Inhalt kann sowohl Text als auch zum Beispiel ein Link sein. Für das Praxisprojekt wurden QRCodes mit einer direkten Verlinkung zum eingerichteten Blog hergestellt.
so die Konstellation der Orte, Objekte und Begegnungen entlang der Fragestellung zu dokumentieren. Auf den Zetteln war jeweils entweder die Frage »Ist hier ein Erinnerungsort?« oder die Feststellung »Hier ist ein Erinnerungsort« zusammen mit einem QR-Code und der Webadresse des Blogs aufgedruckt.114
Die Frage »Ist hier ein Erinnerungsort?« bezog sich auf Orte und Objekte, die entweder sichtbare Spuren von Ereignissen tragen oder in Quellen Erwähnung zu dem entsprechenden Thema finden und als Orte der Erinnerung verhandelt werden sollen. Die Aussage »Hier ist ein Erinnerungsort« hingegen markierte einen Ort, an dem ich selbst etwas über den Ort oder einen Verweis erfahren hatte. Gemeint ist in diesem Fall ein persönlicher Austausch von ortsspezifischem Wissen zwischen Passanten und mir, im Sinne der »Memorable Moments« (Dolff-Bonekämper 2011a, 143). Sowohl die Feststellung als auch die Frage sollen zu einer Stellungnahme, einer eigenen Aussage oder Frage provozieren und die Passanten über den QR-Code oder die aufgedruckte Webadresse auf den Weblog locken, auf dem ich plante, meine eigene Erinnerungslandschaft Stück für Stück zur Diskussion zu stellen. Am ersten Tag, gleich nach meiner Ankunft, schritt ich den Weg, den ich bei meinem letzten Besuch durch das Flanieren gefunden hatte, nochmals ab. Die Momente,
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die mich an Paris erinnerten, waren noch greifbar, die meisten Objekte waren ebenfalls noch da (siehe separates Dokument: Karte »Paris in Görlitz – Dokumentation der Wegstrecke der ersten Begehung«). Auf diese Weise bereitete ich mich auf die kommenden Tage, die Wege, Gespräche und Recherchen vor. Am zweiten Tag fiel mir zufällig ein Artikel in der Sächsischen Zeitung ins Auge, in dem es um eine am Vortag abgehaltene Bürgerversammlung ging, die sich mit Vorschlägen und Ideen zum Umgang mit einer alten, baufälligen, als Geräteschuppen genutzten Baracke auf dem Gelände der katholischen Kirche in der Innenstadt beschäftigt hatte. Der Autor des Artikels bemängelte das fehlende Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus in Görlitz und die fehlenden Orte, an denen dieses Erinnern hier hätte stattfinden können. Aus dem Artikel ging hervor, dass die historischen Orte, die in Görlitz auf dieses Erbe verweisen, mittlerweile so stark überformt oder sogar komplett aus dem Stadtbild verschwunden sind, dass die wenigen noch vorhandenen Spuren unbedingt sichtbar gemacht und geschützt werden müssen. Diese Forderung koppelte er besonders an den Umgang mit dem erwähnten Objekt. Wenngleich – wie im Folgenden noch zu sehen sein wird – einige authentische Orte und Orte mit eindeutigen Verweisen existieren, haben die Baracke und die Umstände des Bekanntwerdens eine besondere Wirkung, die in Teilen der Bevölkerung ein reges Interesse an der Erinnerungsarbeit auslöste. Die Baracke, die Ende letzten Jahres nach einer Veranstaltung mit dem Lausitzer Bundestagsabgeordneten Michael Kretschmer zufällig in das Bewusstsein der Bewohnerschaft rückte, stellt somit mittlerweile ein ganz besonderes Objekt für die Erinnerungsarbeit in Görlitz dar. Durch ein Gespräch am Rande dieser Veranstaltung war bekannt geworden, dass es sich bei der Baracke um eine ehemalige Krankenbaracke des Görlitzer Außenlagers »Biesnitzer Grund« des Konzentrationslagers Groß-Rosen im heutigen Polen handeln soll. Durch diese Information entflammte schnell eine lebhafte Diskussion um das Erbe aus der nationalsozialistischen
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Zeit, die sich an der Diskussion um den Umgang mit dem Objekt festmacht und dessen Einzigartigkeit betont: »Nach 67 Jahren Durchhalten scheint dieses Bauwerk wie ein einzigartiges Geschenk an das historische Gedächtnis der Stadt. Die Baracke ist das wahrscheinlich einziger materieller [sic!] Zeugnis des Lagersystems und vielleicht sogar die einzige erhaltene Baracke dieser Art in ganz Sachsen« (Seidel 2013, o. A.). Das Görlitzer AL »Biesnitzer Grund« war »auf Wunsch der Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz [errichtet worden]« (Seidel 2013b, o. A.) und existierte von August 1944 bis 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung durch die Rote Armee (Museum Groß-Rosen 2013, o. A.). Zwischen August 1944 und Mai 1945 wurden etwa 1500 Gefangene der Konzentrationslager (KZ) Auschwitz und Groß-Rosen nach Görlitz deportiert, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Sie fristeten ihr Dasein unter widrigen Bedingungen und arbeiteten in verschiedenen Görlitzer Unternehmen, wie der Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz, in der Granatenproduktion oder im Straßenbau (vgl. Seidel 2013b, o. A. und Suckert 2011, o. A.). Im Februar 1945 wurde das Lager aufgrund der nahenden Frontlinie nach Rennersdorf verlegt, von wo es 14 Tage später bis zur Befreiung am 8. Mai 1945 zu Sicherungsarbeiten wieder nach Görlitz verlegt wurde. Die Bauten blieben nach dem Ende des Lagerbetriebs noch bis etwa 1950 bestehen und wurden, da sie als transportable Architekturen angefertigt waren, im »Biesnitzer Grund« ab- und an anderen Orten wieder aufgebaut. Eine dieser Baracken soll als Jugendhaus hinter dem Pfarrhaus der katholischen Heilig-Kreuz-Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft der Görlitzer Synagoge mit Blick auf den Stadtgarten aufgebaut worden sein. Bestrebungen, sie abzureißen, konnten bislang nicht realisiert werden, da die Baracke innerhalb des Ensembles auf dem Grundstück der katholischen Kirche mit unter Denkmalschutz gestellt wurde. Der »Biesnitzer Grund« wurde nach dem Abbau der Lagerstrukturen eingeebnet und in »Eiswiese« umbenannt. Mittlerweile befindet sich auf dem Gelände eine
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Kleingartenkolonie mit verschiedenen Sportplätzen »An der Eiswiese«. Weder Bezeichnungen oder Straßennamen noch Hinweistafeln erinnern derzeit an die Geschichte des Ortes. Lediglich ein von Schülern der Schule 12 (heute Melanchthonschule) aufgestellter Gedenkstein oberhalb der Kleingartensiedlung verweist auf das ehemalige Lager und soll somit die gesamte Erinnerungsleistung des Ortes ausfüllen.
Zustand des Erinnerungsobjekts
Bei der Baracke handelt es sich um eine einfache Hütte aus Holzbrettern, die auf einem Fundament errichtet wurde. Auf der nördlichen Seite befinden sich unter einem kleinen Vordach zwei Eingangstüren. Rechts neben den Eingangstüren sind zwei Fensterelemente, links daneben eines, zweiflügelig mit insgesamt jeweils acht Glasscheiben, eingebaut. Etwas weiter links neben dem Eingang befindet sich ein nicht baugleiches einflügeliges Fenster mit einer Scheibe. Ansonsten gibt es keine weiteren offensichtlichen natürlichen Lichtquellen.
Abb. 3: Eingangsbereich der Baracke. Foto: KMD
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Das Dach ist ein flach ausgeführtes Satteldach, das mit Teerpappe ausgelegt ist. Im westlichen Teil ist es mit einer Plane bedeckt, welche die Baracke vor eindringendem Regen schützen soll. An dieser Stelle schlug 2007 während des Orkans »Kyrill« ein Baum ein, der das Dach und den westlichen Giebel stark in Mitleidenschaft gezogen hat. Aus dem Dach ragt ein Schornstein, der den Ofen in der Hütte entraucht. Die Inneneinrichtung konnte bei der Begehung nicht in Augenschein genommen werden, wurde aber vom Görlitzer Erinnerungsagenten Niels Seidel auf seinem Blog beschrieben: »Der Zeit [sic!] befindet sich die Baracke in einem sehr baufälligen Zustand. Durch den zerstörten Giebel auf der Seite Synagoge [sic!] regnet und schneit es herein. Die Decke und Diehlung [sic!] ist morsch. Überreste einer Feuerstelle zeugen davon, wie jemand darin Schutz und Obdach suchte« (Seidel 2013a, o. A.). Zeugenaussagen zufolge wurde die Baracke bis in die 1970er Jahre als Ort für verschiedene Gemeindeveranstaltungen genutzt. Faschingsabende, Chor- und Orchesterproben sowie Kommunionsunterricht fanden hier statt. Im Laufe der späten siebziger Jahre wurde jedoch das Personal der Kirche abgezogen, wodurch das Pfarrhaus leer stand und fortan für die Veranstaltungen der Kirchengemeinde genutzt wurde (Seidel 2013a, o. A.). Seidel äußert, es sei deutlich zu sehen, dass die Baracke über einen längeren Zeitraum als Geräteschuppen und Abstellraum genutzt wurde und aktuell noch einiges an Geräten und Werkzeugen darin verstaut sei. Ersten Recherchen zufolge soll die Baracke mit großer Wahrscheinlichkeit von den Christoph-und-Unmack-Werken im nahe gelegenen Niesky hergestellt worden sein. Diese Vermutung liegt nahe, da die Christoph-und-Unmack-Werke um die Jahrhundertwende ein führendes Unternehmen im Holzhausbau waren. Ab 1914 spezialisierte sich das Unternehmen auf mobile Schul- und Sanitätsbaracken und ab 1917 zusätzlich auf den Waggonbau, vor allem zu Kriegszwecken (Gieseler 2009, o. A.). Die Christoph-und-Unmack-Werke führten in ihrem Programm einen Barackentypus, der
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dem vorgestellten sehr ähnlich ist (vgl. Rug 2006, 16). Genaueres muss jedoch noch recherchiert und durch eine bautechnische sowie bauhistorische Analyse verifiziert werden.
DiE POLITIK DER ERiNNERUNG VS. ERiNNERUNGSPOLiTiK Nachdem in relativ kurzer Zeit (Dezember 2012 bis April 2013) ein sehr reges Interesse an der Baracke entstanden ist, das, wie anhand von Zeitungsartikeln und Internetbeiträgen beobachtet werden kann, von unterschiedlichen Akteuren auf unterschiedliche Weise genutzt wird, versucht die Görlitzer Denkmalschutzbehörde den Hinweisen nachzugehen und die Herkunft der Baracke eindeutig zu klären. Parallel entsteht jedoch ein Diskurs, für den es dieses Objekt, authentisch oder nicht, offensichtlich gebraucht hat. In diesem Zusammenhang wird die Baracke als »ein einzigartiges Geschenk an das historische Gedächtnis der Stadt« (Seidel 2013a, o. A.), »sensationeller Erinnerungsort« (ebd.) oder »konkreter Ort« (Seibel 2013, 15), an dem die Görlitzer Geschichte des Nationalsozialismus erlebbar gemacht werden kann, beschrieben, und soll zügig als ein solcher konkreter Erinnerungsort ausgebaut werden. Doch hier gehen die Meinungen weit auseinander in Bezug darauf, wer sich in den Erinnerungsdiskurs auf welche Weise einmischen darf und soll: Dem Bürgermeister, der aus persönlichem Interesse der jungen Generation gegenüber schon Ideen entwickelt haben, jedoch vorerst den Diskurs abwarten will (vgl. Seibel 2013, 15), und dem Historiker Niels Seidel, der sehr konkrete Erinnerungsformate vorschlägt (Seidel 2013a, o. A.), stehen der Pfarrer der katholischen Kirche, Norbert Joklischke, und Alex Jacobowitz, der sich für die Wiederbelebung der Görlitzer Synagoge engagiert, mit ihrer Forderung nach »besonderer Behutsamkeit« (Seibel 2013, 15) im Umgang mit dem Objekt gegenüber.
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Beide sind sich einig, dass dieser historische Ort und die Diskussion darüber weder instrumentalisiert werden noch eine geistige Beschlagnahmung stattfinden soll (vgl. Seibel 2013, 15). Jacobowitz fordert in einem Zeitungsartikel sogar, dass die Görlitzer Politiker sich in ihrer Funktion nicht in die Diskussion um die Baracke einmischen sollten (Jacobowitz 2013, 21). Er möchte stattdessen in der Bevölkerung einen Diskurs anregen und mit verschiedenen Akteuren darüber nachdenken, ob die Baracke nicht an ihrem Standort stehenbleiben und zum Beispiel in die Führungen der Synagoge miteingebunden werden könnte (Jacobowitz 2013, 21). Aufbauend auf den Anregungen aus dem Diskurs schlägt er für das weitere Vorgehen vor, dass ein Fachgremium, in dem Experten aus den Bereichen der Geschichts-wissenschaft und Denkmalpflege, aber auch Vertreter von Bombardier, dem Unternehmen, in dessen Besitz sich die ehemalige Waggon- und Maschinenbau AG befindet, sowie Vertreter der Stadt Görlitz und verschiedener kultureller Träger, darüber diskutieren solle, was künftig mit der Baracke und den Erinnerungen, die sich an ihr festmachen bzw. festmachen lassen, geschehen soll. Seidel geht mit seinem Vorschlag einen Schritt weiter und fordert auf seinem Blog www.nise81.com unter dem Stichwort »Vision« ein konkretes Nachdenken über ein »Quartier der Toleranz« nach Breslauer Vorbild, »das als Zentrum der Dokumentations-und Erinnerungsarbeit entstehen und den Weg für eine Gedenkstätte bahnen könnte« (Seidel 2013a, o. A.). Er erweitert dieses Konzept im Verlauf der Diskussion vor allem aus Gründen der Finanzierbarkeit um Ideen, den Ort zu einem virtuellen Gedenkort auszubauen und die Ereignisse nicht nur auf das eine Objekt Baracke, sondern auch auf weitere Görlitzer Orte der Erinnerung auszuweiten. Durch seine Vorschläge gibt er zum einen einige Beispiele, wie ein Erinnerungsort zu denken und zu verstehen sein kann, nimmt aber auf der anderen Seite dadurch Ergebnisse eines wissenschaftlichen und sozialen Aufarbeitungsprozesses sowie Ergebnisse des Diskurses vorweg.
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Allen Akteuren, die sich bislang zu Wort gemeldet haben, ist gemein, dass keiner von ihnen die Fehler der Vergangenheit in Bezug auf die Erinnerungsarbeit vor Ort wiederholen möchte. Die wahre Geschichte der Baracke soll aufgedeckt werden, um diese zum Anlass zu nehmen, die Görlitzer Geschichte im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Indem unterstellt wird, dass die Baracke tatsächlich aus dem AL »Biesnitzer Grund« stammt, wird diesem Objekt allerdings schon jetzt eine Verantwortung auferlegt, die es meines Erachtens alleine nicht tragen kann. Sollten sich die Zweifel an der Authentizität bewahrheiten und diese konkrete Baracke nicht aus dem Bestand des Lagers stammen, stellt sich die Frage, wie eine Erinnerungsarbeit anderweitig aufgefangen werden kann. So befinden sich der Diskurs aktuell in einem Schwebezustand und die Akteure in einem Dilemma, für das unter Umständen eine neue Herangehensweise erforderlich ist, die zwar an den gängigen Formaten der Erinnerungsarbeit anknüpft, sich gleichzeitig aber außerhalb von dieser entwickelt.
DAS ERiNNERUNGSOBJEKT ALS AUSGANGSPUNKT Der Artikel »Die Leerstelle in der Stadtgeschichte« vom 11. April 2013 (Seibel 2013, 15, siehe auch separates Dokument »Erinnerungstopografie«) sowie die Diskussion im Internet führten mich zu der Entscheidung, das Praxisprojekt zu den Spuren von Paris in Görlitz vorerst zu beenden und stattdessen eine nähere Auseinandersetzung mit der Baracke als Ausgangspunkt für ein Praxisprojekt des Souveneurs zu beginnen. Ziel war es, die Aussagen verschiedener Akteure zu untersuchen, nach denen »nahezu nichts« (Seibel 2013, 15) an das AL »Biesnitzer Grund« erinnere und die »Baracke »das wahrscheinlich einzige materielle Zeugnis des Lagersystems« (Seidel 2013a, o. A.) sei.
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Da mir außerhalb des Zeitungsartikels keinerlei Anhaltspunkte vorlagen, vertraute ich auf das Prinzip der Korrespondenzen von Stadträumen, wonach Orte auf Orte reagieren und sich aufeinander beziehen (vgl. Nancy 2011, 72; siehe auch S. 202 dieses Buches). Die Erinnerungsspuren sollten über diese Korrespondenzen der Orte, die im Zusammenhang mit der Baracke und ihrer Geschichte in Görlitz stehen, aufgedeckt und in Form einer Erinnerungstopografie abgebildet werden. Das Erinnerungsobjekt, die Baracke, sollte hierfür als Ausgangsort sowie als Anlass dienen (vgl. Dolff-Bonekämper 2007, 63). Alle ermittelten Spuren sollten vor Ort gekennzeichnet werden. Und sollten keine offensichtlichen Spuren mehr vorhanden sein, sollten die Orte als mögliche Orte der Erinnerung im Internet zur Diskussion gestellt werden. Hierfür dienten die Notizzettel mit den QRCodes, die ich zur Dokumentation des Paris-Themas hergestellt hatte. Die Vor-Ort-Recherche folgte mehreren Modi, die, wie in den vorigen Teilen beschrieben, vom Flanieren über begleitendes Gehen und Interviews vor Ort bis hin zu Recherchen im Internet und in Görlitzer Archiven reichten. Auf diese Weise konnten viele unterschiedliche authentische Orte entdeckt und besucht werden, wodurch innerhalb weniger Tage ein Netzwerk an Orten und Verweisen entstand, das sich sowohl räumlich ausbreitete als auch sich auf Medien wie Publikationen, Bilder, Karten sowie Internet- und Blogbeiträge erstreckte (siehe separates Dokument Karte »Netzwerk der Erinnerung ›Baracke Görlitz‹ – Erinnerungstopografie«). Formal ist die Dokumentation der Erinnerungstopografie an die Dokumentationsweise von Gabi Dolff-Bonekämper angelehnt (vgl. Dolff-Bonekämper 2011b): Sie legte für die im Rahmen ihrer persönlichen Erinnerungstopografien gefundenen und aufgesuchten Stationen des Erinnerns eine Art Datenblatt an. Inhalt ihrer Dokumentationen sind neben selbst aufgenommenen Fotos, der Beschreibung der Orte sowie der materiellen Ausprägungen und Eigenheiten auch persönliche Notizen, die Einblicke in das direkte Erleben des Ortes
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und der Erinnerungsträger erlauben. Historische Fotos ergänzen die Dokumentation der Erinnerungsorte in Görlitz und bieten somit Vergleichsmöglichkeiten zwischen ihrer Beschaffenheit damals und heute. Um den Rahmen nicht zu sprengen, sind die Dokumentationen der einzelnen Stufen der Vorgehensweise im Folgenden nicht direkt eingefügt, sondern jeweils als separierte Materialienbände verfasst, die, wie schon beschrieben, auf der Verlagswebseite heruntergeladen werden können. Das folgende Kapitel zur Erinnerungstopografie ist somit lediglich eine Beschreibung der Vorgehensweise, die sich auf die Dokumentation der Erinnerungstopografie (siehe separates Dokument »Netzwerk der Erinnerung ›Baracke Görlitz‹ – Eine Erinnerungstopografie«) bezieht. Sie stellt kein abgeschlossenes Produkt dar, sondern soll als Sammlung verstanden werden, die Anlässe zur weiteren Forschung und Bearbeitung bietet.
BARACKE GÖRLiTZ – EiNE Erinnerungstopografie Der Ort, den ich als Erstes ansteuerte, war der mögliche Ursprungsstandort der Baracke, das Gelände des ehemaligen AL »Biesnitzer Grund«. Auf dem Stadtplan von Görlitz ist der Biesnitzer Grund im Stadtteil Biesnitz, am südlichen Stadtrand inmitten eines Wohngebietes, verzeichnet. Das Auffinden gestaltete sich schwierig, da kein Hinweisschild oder Wegpfeil zum Ort des ehemaligen Arbeitslagers führte. Ein etwa siebzigjähriger Passant ließ sich anhalten und nach dem Weg fragen. Ich begleitete ihn ein Stück seines Weges und befragte ihn nach Spuren des Lagers und zur aktuellen Diskussion um die Baracke im Stadtzentrum. Von der Auseinandersetzung hatte er bislang nichts mitbekommen, auch nicht in der Zeitung von ihr gelesen. Er begrüßte es aber, dass die Geschichte des Nationalsozialismus
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nach so vielen Jahren aufgearbeitet werden soll und forderte das Gleiche für die Geschichte des Sozialismus. Eine Situation des Gesprächs ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Als er mir den historischen Ort des Lagers auf der Karte zeigte, wunderte er sich über die Bezeichnung »Eiswiese«, die seiner Meinung nach auf eine Umbenennung des »Biesnitzer Grunds« hinweist. Er meinte, dass dadurch die Spuren des Lagers aus dem Stadtplan gelöscht seien. Ein ähnliches Bild zeigte sich vor Ort, zwischen Eiswiese, Walter-Rathenau- und Fröbelstraße. In der Kleingartenanlage ließen sich keine Spuren finden, die auf den historischen Ort verwiesen hätten, auf dem sie errichtet worden war. Einzig am nördlichen Ende der Kleingartensiedlung auf einer Anhöhe der Fröbelstraße war 1951 gemeinsam von Jungpionieren und Lehrerschaft der damaligen »Schule 12«, heute Melanchthonschule, ein Erinnerungsort mit Gedenkstein errichtet worden. Der Ort und der Stein wurden, wie der Inschrift zu entnehmen ist, 2003 restauriert. Beide sind in einem sehr guten, gepflegten Zustand. Es sind keine Beschädigungen, Beschmutzungen oder Beschriftungen auszumachen. Bis zur politischen Wende 1989 hatten an dem Gedenkort regelmäßig Gedenkveranstaltungen und Apelle stattgefunden. Flammen, die in einer auf dem Gedenkstein angebrachten Schale entzündet worden waren, hatten die Feierlichkeiten untermalt. Die Schale wurde im Zuge der Restaurierung jedoch entfernt und nicht mehr neu angebracht (Stadt Görlitz 2013c, o. A.). Unterhalb des Gedenksteins schwingt sich dem Hügel entlang ein Weg empor, der, Aussagen einer Passantin zufolge, dem historischen Wegeverlauf der Zwangsarbeiter folgt, den diese täglich in die Fabriken der Umgebung gehen mussten. Der Weg führt in der Verlängerung direkt durch ein Wohngebiet, das sich aus dem historischen Ort Biesnitz entwickelt hat. Der Arbeitsweg führte also durch das Zentrum von Biesnitz und passierte dabei die Schule, welche die Gedenksteinerrichtung veranlasst hat.
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Die Melanchthonschule ist ein 1903 fertiggestellter dreigliedriger Großbau aus Backstein, der entlang der in Richtung Innenstadt führenden Melanchthonstraße gebaut ist und diese flankiert (vgl. Lemper 2009, 197). Wie aus der Inschrift des Gedenksteins am »Biesnitzer Grund« zu entnehmen ist, gingen die Gefangenen fast drei Jahre lang an der Schule vorbei »zur Arbeit in Görlitzer Großbetriebe. Viele fanden einen qualvollen Tod.« Diese Begebenheit betrachtet die Schule als Auftrag zur Erinnerung, den sie unter anderem dadurch wahrnimmt, dass sie sich um die Einrichtung und später die Restaurierung des Gedenkortes gekümmert hat. An der Schule selbst konnten keine weiteren Spuren oder Hinweise gefunden werden. Ins Innere des Gebäudes konnte ich keinen Blick werfen. Unweit des Schulgebäudes liegt an der Biesnitzer Straße der Jüdische Friedhof, auf dem die verstorbenen Häftlinge des Arbeitslagers bestattet sind. Der Friedhof hat eine wechselvolle Geschichte: Er wurde 1849 nach der Gründung der Jüdischen Gemeinde in Görlitz angelegt (vgl. Allemania Judaica 2003, o. A.). Hier wurden bis zum Jahr 1933 49 Personen bestattet (vgl. Stadt Görlitz 2013b, o. A.). 1934 sollte der Friedhof eingeebnet werden, was aber am damals noch gültigen Preußischen Gesetz scheiterte. Infolgedessen wurde dieses Gesetz noch im gleichen Jahr geändert, jedoch aus nicht recherchierbaren Gründen in Görlitz nicht durchgesetzt (vgl. Stadt Görlitz 2013b, o. A.). Am Eingang des Friedhofs verweist eine Tafel auf die Grabstelle der ermordeten Inhaftierten des Konzentrationslagers. Die Zahl der Opfer wird mit 323 beziffert, was unter Umständen noch einmal überprüft werden sollte, da unterschiedliche Quellen zwar die gleiche Zahl nennen, jedoch unterschiedliche Aussagen zur Todesursache der Opfer machen. Im hinteren Teil des Friedhofs befindet sich ein weiterer Gedenkort, der den Opfern des AL »Biesnitzer Grund« gewidmet ist. Man nähert sich einer von Bäumen gesäumten, hainartigen Anlage, in deren Zentrum ein auf einem flachen Sockel stehender, aus hellem Granit gefertigter Gedenkstein steht, der einen
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polierten, aus rotem Granit gefertigten Winkel trägt. Unter dem roten Winkel steht die Inschrift: Hier ruhen 323 ermordete Kameraden – die im Konzentrationslager / »Biesnitzer Grund« Görlitz – in den Jahren 1943–1945 – der Hitler-Tyrannei zum Opfer fielen. – Wir werden sie nie vergessen, – indem wir für den Frieden kämpfen! – Die Bürger der Stadt Görlitz. Das Mahnmal wurde im Namen der Görlitzer Bürger von der Stadt auf einem Massengrab errichtet, in dem die Körper und nachträglich vom städtischen Friedhof umgebetteten Urnen und Gebeine der verstorbenen und ermordeten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Görlitz bestattet sind. Es wurde am 9. November 1952 vom damaligen Bürgermeister eingeweiht. Das Mahnmal ist in einem guten Zustand und sieht gepflegt aus. Auch der Friedhof, der zwar insgesamt baufällig ist, erscheint grundsätzlich gepflegt und ist frei von Beschädigungen, Beschmutzungen oder Beschriftungen. Weitere Verweise auf das Arbeitslager waren vor Ort nicht zu finden. Es waren auf dem Friedhof keine weiteren Personen anwesend, die ich hätte fragen können. Auch auf der stark befahrenen Biesnitzer Straße waren keine Passanten zu sehen. Nachdem auch anhand der mir bis dahin zur Verfügung stehenden Quellen keine weiteren Gedenkorte in der Südstadt auszumachen waren, beschloss ich, in der Innenstadt an der Baracke weiter zu forschen. Als ich ankam, traf ich auf zwei Zweiergruppen, die unterhalb der Baracke im Stadtpark standen und sich in Richtung Baracke unterhielten. Einer von ihnen, Thomas Z., gab sich als Sohn eines Zeitzeugen zu erkennen und war bereit, mir namentlich Auskunft darüber zu geben, was er über die Baracke wusste. Z. schien gut informiert. Er erzählte von seinen Eltern, die während des Krieges von Berlin zu ihrer Verwandtschaft auf dem Land in der Nähe von Görlitz geflohen waren. Sie kamen Anfang der sechziger Jahre wieder zurück nach Berlin, wo Z. geboren wurde. Somit können die Eltern von Z. potenziell die Ereignisse im »Biesnitzer Grund« mitbekommen haben. Mittlerweile leben sie und Z. wieder in Görlitz und sind über den aufkommenden Diskurs sehr erfreut. Sie
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begrüßen ebenso wie auch ihr Sohn die Aufarbeitung der Ereignisse und nehmen aktiv an Diskussionen teil. Z. verbringt täglich einige Stunden in der Nähe der Baracke und erteilt Passanten sowohl über die Baracke als auch über das Arbeitslager Auskunft. Das Gespräch dauerte circa zwei Stunden. Während wir sprachen, bewegten wir uns langsam entlang des Zaunes um die Grundstücke der katholischen Kirche und der Synagoge. Obwohl Z. einige Erinnerungsorte in Görlitz kennt, sieht er in dem innerstädtischen Areal den wichtigsten Erinnerungsort mit dem für ihn wichtigsten Objekt, der Baracke. Hinsichtlich ihrer Authentizität hegt er keinerlei Zweifel, da seine Eltern, »wie viele, die jetzt schweigen« (Aussage Z.), Zeugen gewesen sein sollen, als die Baracken in den frühen fünfziger Jahren im »Biesnitzer Grund« abgebaut und an anderen Orten der Stadt wieder aufgebaut wurden. In einigen Gärten der Stadt seien noch überformte und stark veränderte Überreste dieser Baracken zu finden. Er selbst kenne noch drei original erhaltene Baracken entlang eines Waldweges am Berzdorfer See, unweit des südlichen Stadtrands von Görlitz. Er zeichnete eine Lagekarte in den Sandboden im Stadtpark. Dieser Spur ging ich am folgenden Tag nach, konnte die Baracken aber aufgrund starken Regens und weiträumiger militärischer Absperrungen nicht finden. Weitere Recherchen und persönliche Nachfragen beim Amt für Denkmalschutz in Görlitz brachten ebenfalls keine Ergebnisse. Z. verwies auf eine Diplomarbeit über die Geschichte des Arbeitslagers, die schon in den achtziger Jahren geschrieben worden sein soll, wie er bei einer Veranstaltung aufgeschnappt habe. Dieser Spur wollte ich bei Frank Vater, dem Stadtchronisten und Buchautor, nachgehen. Er war in seinem Buchladen in der Fußgängerzone anzutreffen, wo ich schnell mit ihm ins Gespräch kam. Vater bestätigte die Aussage von Z. und nannte als Autor Roland Otto. Vater hatte schon mehrfach versucht, an die Arbeit zu gelangen, was allerdings nur sehr schwer möglich war. Er erzählte, dass er die Arbeit lediglich unter Aufsicht zur Ansicht vorgelegt bekommen habe, konnte sich jedoch nur noch in
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Teilen an den genauen Umfang und Inhalt erinnern. Ansonsten gäbe es seiner Ansicht nach außer einer Arbeit des Historikers Niels Seidel und einem längeren Artikel von Otto im Görlitzer Magazin von 1988 keine weiteren Publikationen zu diesem Thema. Vater zeigte sich dankbar für die neuerlichen Entwicklungen um die Baracke und die Diskussion, die sowohl der Ort als auch das Objekt in Görlitz ausgelöst hatten. Er äußerte die Hoffnung, dass die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 nun endlich aufgearbeitet würden und alle, die Zeitzeugenwissen oder historische Quellen besäßen, diese öffentlich machen oder zur Verfügung stellen würden. Zum Abschied brachte mir Vater noch die tagesaktuelle Sächsische Zeitung, in der sich Alex Jacobowitz, der Vorsitzende des »Görlitzer Förderkreises Synagoge«, kritisch über die zunehmende Politisierung der Baracke und die bis dahin diskutierten Vorschläge zum Umgang mit dieser äußerte. Der öffentliche Diskurs schien also anzulaufen und schon erste Partikularinteressen und Polarisierungen aufzuwerfen. Im Schlesischen Museum fand ich noch eine kleine Restauflage des Görlitzer Magazins von 1988. Der Artikel des Historikers Roland Otto ist sehr bedacht, mit einer ungewöhnlichen Wortwahl, wie »braunen Machthabern«, »Menschen jüdischer Herkunft« usf., geschrieben (vgl. Otto 1988, 3 ff.). Der Text vermittelt einen weitführend recherchierten Hintergrund, der viele neue Hinweise zutage fördert. Neben einer akribischen Auflistung der Ereignisse um die jüdische Gemeinde in Görlitz seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis kurz nach der Befreiung des Lagers im Mai 1945 bezieht Otto auch Ereignisse ein, die in der Umgebung stattfanden, jedoch im Zusammenhang mit denen in Görlitz standen. Hier ist besonders das Zwangsarbeiterlager in Tormersdorf zu nennen. Tormersdorf ist ein Stadtteil von Rothenburg, circa 25 Kilometer Neiße aufwärts von Görlitz entfernt. Das Lager existierte von 1941 bis 1943, bis zu jenem Zeitpunkt also, als das Lager in Görlitz eröffnet wurde. Rothenburg war schon damals bekannt für seine sozialen Einrichtungen zur Heilung und Pflege
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von Menschen mit Behinderungen. Für diese Aufgabe war Anfang 1899 eine unter dem Namen »Zoar« zusammengeführte Bruderschaft gegründet worden, die die Heil- und Pflegestätte Martinshof bis Anfang 1941 betrieb (vgl. Martinshof 2013, o. A.). Im Mai 1941 wurde die Bruderschaft aufgelöst und die Mehrzahl der Bewohner des Martinshofs im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten ermordet. Im Dezember desselben Jahres wurden die ersten Zwangsarbeiter aus Görlitz und dem Lager Groß-Rosen einquartiert. In Spitzenzeiten arbeiteten an die 700 Inhaftierten in den großen Firmen der Umgebung. Kinder wurden täglich nach Görlitz gebracht, um in der Wäschereianstalt auszuhelfen oder in der Knopffabrik Näharbeiten zu verrichten (vgl. Otto 1988, 12 f.). Der Lagerbetrieb, der unter jüdischer Selbstverwaltung stand und nur von einer Handvoll rangniedriger SS-Offiziere tageweise bewacht wurde, wurde Ende 1942 wieder aufgelöst. Ein Teil der Inhaftierten wurde in das KZ Theresienstadt oder die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Majdanek deportiert. Die Spuren dieser Personen verlieren sich in den jeweiligen Lagern. Von Überlebenden aus Görlitz ist mir nichts bekannt. Ein anderer Teil der Zwangsarbeiter wurde in das neu eingerichtete Arbeitslager im Biesnitzer Grund gebracht, wo die meisten von ihnen die Befreiung am 8. Mai 1945 noch erleben durften. Gegen Ende des Krieges verschanzten sich deutsche Soldaten und Nationalsozialisten im linksseitig der Neiße gelegenen Teil von Tormersdorf, weswegen die Siedlung von den heranrückenden Soldaten der russischen Armee dem Erdboden gleichgemacht wurde. Der Ort Tormersdorf existiert heute nicht mehr. Lediglich wenige überwucherte Reste und der Brückenkopf der einstigen Tormersdorfer Brücke sind heute noch direkt am polnischen Ufer der Neiße zu erkennen. Um mir einen Eindruck über die heutige Situation zu verschaffen, ging ich ein Stück auf dem direkt an der Neiße verlaufenden Weg, der früher »Judenweg« hieß. Jeder Kontakt der Inhaftierten mit der einheimischen Bevölkerung war bei Strafe verboten, so war dieser Weg seinerzeit der einzige Weg in ganz Rothenburg,
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auf dem die jüdischen Inhaftierten des Lagers in ihrer Freizeit spazieren gehen durften. Der »Judenweg«, heute »Tormersdorfer Allee«, ist gesäumt von Eichen und führt mit leichten Bögen die Neiße entlang. Etwa eineinhalb Kilometer vom Brückenkopf der ehemaligen Tormersdorfer Brücke entfernt haben ehemalige Bewohner von Tormersdorf und Bürger der Stadt Rothenburg einen Gedenkort eingerichtet. Der Ort besteht aus einem beschrifteten Findling, der auf einem gepflasterten Podest steht, einem mit schwarz-rot-goldenem Muster versehenen deutschen Grenzpfosten und einer Picknick-Hütte mit gekennzeichnetem Blick in Richtung Tormersdorf (siehe Abb. 20, separates Dokument »Netzwerk der Erinnerung ›Baracke Görlitz‹ – Erinnerungstopografie«). Das Ensemble an diesem Ort erscheint bizarr – besonders, da weder in der Inschrift des Gedenksteins noch an der Hütte die Geschichte des historischen Ortes und der Grund der Zerstörung erwähnt werden. Die Inschrift des Steins lautet: »Das Monument wurde als Gedenkstätte für die Dorfgemeinde Tormersdorf Kreis Rothenburg-Reg.Bez.Liegnitz zwischen dem Ostufer der Lausitzer Neisse und der Görlitzer Heide von Zeitzeugen, der Stadt Rothenburg und der Brüder- und Schwesternschaft Martinshof e. V. gestiftet.« An der Picknick-Hütte ist ein Schild mit der Aufschrift »Blick nach Tormersdorf« angebracht. Im Rahmen der Begehung des Martinshofs, unweit des Gedenkortes, konnten keine weiteren Erinnerungsspuren gefunden werden. Die meisten Gebäude sind privat, weswegen der Zugang untersagt ist. Im Rahmen der nachgehenden Recherche entdeckte ich jedoch auf der Webseite des Martinshofs unter der Rubrik »Über uns« in der Unterrubrik »Geschichte« einen kurzen Abriss über die Geschichte des Ortes. Der Martinshof verweist mit seiner Geschichte auf das Arbeitslager Görlitz und somit auf die Baracke, wo meine persönliche Erinnerungstopografie ihren Anfang nahm. In diesem Sinne schließt sich hier der Kreis. Bei einem weiteren Besuch kann der Faden an dieser Stelle wieder aufgenommen und das Netzwerk der Erinnerung weiter ausgebaut werden.
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ÜBER DEN ZWEiTEN BLiCK Am letzten Tag meines Aufenthalts in Görlitz besuchte ich kurz vor der Abfahrt noch einmal den Ort und Anlass meiner Erinnerungsarbeit. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich an der Synagoge in Blickrichtung zur Baracke hinzusetzen und die Erlebnisse der vergangenen Tage zu reflektieren. Die Baracke ist ein unscheinbares Objekt, das mir zwar bei meiner ersten Begehung und auch bei der neuerlichen Überprüfung des Weges schon einmal aufgefallen war, jedoch eher negativ, da sie, wie beschrieben, in einem unansehnlichen Zustand war und ist. Insgesamt stört dieses Objekt das Bild, das sich dem Betrachter aus dem Stadtpark in Richtung Synagoge und saniertem katholischem Gemeindehaus bietet. Die zweite Begegnung bestätigte diesen Eindruck, warf aber durch die Anwesenheit der Personen, die sich in Richtung der Baracke stehend unterhielten, erste Fragen auf. Obgleich diese Fragen zuerst in eine andere Richtung tendierten, war mein Interesse für den Ort auf eine andere Art und Weise geweckt. Ich würde es im Nachhinein so beschreiben, dass ich eine unterbewusste Sensibilisierung erfahren hatte, die mich gegenüber dem Objekt aufmerksamer machte. Ich denke, ich hätte den Ort spätestens dann, wenn ich auf meiner Route zu den Paris-Spuren in Görlitz noch einmal daran vorbeigekommen wäre und Personen dort gesehen hätte, genauer betrachtet und auch nach dem Interesse der Personen gefragt. Somit kann ich rückschließen, dass der Diskurs Spuren hinterlassen hat, die ich in meiner Funktion als Souveneur sicher wahrgenommen hätte. Ich fühle mich in dieser Aussage vor allem auch deshalb bestätigt, da jedes Mal, wenn ich die Baracke besuchte, eine oder mehrere Personen dort waren und sich unterhielten. So auch diesmal. Solange ich vor Ort reflektierte, blieben Passanten immer wieder stehen und unterbrachen kurz die tägliche Routine – teilweise, so schien es, sich lediglich versichernd, dass die Baracke noch vor Ort war. Ein Anfang zur Erinnerungsarbeit scheint also getan.
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Für mich ist besonders der Vergleich zwischen dem ersten und dem zweiten Blick interessant: Während der erste durch die Paris-Bezüge eher ästhetischer Natur war, wo Patina nur interessant war, wenn sie sich dem ästhetischen Bild, der Stimmung bzw. der erwarteten Atmosphäre unterordnete, wandelte sich dieser Blick beim zweiten Hinsehen in einen Anblick. Das Objekt wurde dadurch von mir nicht mehr bezüglich seiner Materialität oder seines baulichen Bestands bewertet, sondern anhand von Kategorien wie zum Beispiel Zeugenschaft, Aussage- bzw. Diskurskraft, Stellvertreterschaft oder als Anlass für weiterführende Unternehmungen, die selbst eine Geschichte erzählen oder die Konstruktion eines Narrativs zulassen. Durch die vielen Gespräche mit lokalen Akteuren, die Politisierung sowohl von Objekt als auch Diskurs und die immer wieder an der Baracke verharrenden Personen konnte ich erfahren, wie wichtig und notwendig, aber auch wie gewollt das Objekt als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung über die Zeit des Nationalsozialismus in Görlitz ist. Die häufig vernommene Forderung nach lückenloser Aufdeckung der Taten der Nationalsozialisten im »Biesnitzer Grund« wird flankiert von Fragen nach der Geschichte der jüdischen Selbstverwaltung des Arbeitslagers in Rothenburg (vgl. Otto 1988, 13). Für all das störte der Zustand der Baracke bei diesem über die Geschichte wissenden Blick keineswegs, ganz im Gegenteil: Mit dem Wissen um den Hintergrund der Diskussion bekam das Objekt in all seiner Sperrigkeit und Unansehnlichkeit eine neue Bedeutung, die offensichtlich diesen Zustand braucht. Durch ihn sticht die Baracke deutlich aus ihrem Umfeld hervor, fordert zu einer Reaktion oder Position auf. Die Baracke als Metapher gelesen könnte so gedeutet werden, dass die Geschichte des Nationalsozialismus in Görlitz soweit ausgelöscht wurde, dass sie solche »störenden« Objekte braucht, um wieder sichtbar werden zu können. Die Aussagen bezüglich der fehlenden Erinnerungsorte und Objekte konnte ich in der Kürze der Zeit meines Aufenthalts anhand der Verweise, welche von den
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Orten selbst ausgingen, und durch die Gespräche, die sich an den jeweiligen Orten ergaben, zumindest entkräften. Die Baracke ist – und das muss ich nach dem, was ich vor Ort herausfinden konnte, unterstreichen – tatsächlich ein einzigartiges Erinnerungsobjekt, nicht aber der einzige Erinnerungsort. Diese Funktion könnte die Baracke meines Erachtens auch nicht alleine erfüllen. Denn, wie durch das Netzwerk der Erinnerung sichtbar wird, kann nicht ein einziger Ort die erinnernde Verantwortung für alle Ereignisse, die im Zusammenhang mit dem Ort geschehen sind, tragen. Erinnerung an den Holocaust in Görlitz muss dezentral erfolgen, da auch die Ereignisse dezentral waren. In diesem Sinne gehören überregional bedeutsame Orte wie der Obersalzberg bei Berchtesgaden, der Wannsee bei Berlin, Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Majdanek und die Orte, an die sich Görlitzer Juden flüchten konnten, ebenso dazu wie die regionalen Orte Groß-Rosen, Rothenburg, Rennersdorf, Niesky und all die recherchierten lokalen Erinnerungsorte, die direkt auf das Arbeitslager »Biesnitzer Grund« und somit auch auf die vermeintlich von dort stammende Baracke verweisen. Ich verstehe die Anforderungen einer authentischen Zeugenschaft, die manche Menschen an Orte und Objekte stellen, und bin mir sicher, dass durch eine nachgewiesene Zeugenschaft in Görlitz ein Ort mit einer besonderen Aura entstehen wird. Ein Ort mit Atmosphäre ist das Areal allerdings auch jetzt schon. Dennoch möchte ich betonen, dass es zwischenzeitlich meines Erachtens keine tragende Rolle mehr spielt, ob die Baracke tatsächlich aus dem Lager stammt oder – was nicht unwahrscheinlich sein soll – einem anderen Zweck an einem anderen Ort gedient hat. Denn die Baracke hat Anlass zu einem Diskurs gegeben, in den sich viele Bewohner der Stadt Görlitz aktiv eingebracht haben. Unterstützt wird er von noch mehr Personen und er wird sicher nicht im Sande verlaufen wie vorherige Bestrebungen Görlitzer Bürger. Meine Schlussfolgerung aus all den Erkenntnissen lautet, dass bei der Methodisierung eines handlungsbezogenen Erinnerungskonzeptes die unterschiedlichen
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Wahrnehmungsfähigkeiten, die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen nicht aus der Betrachtung von Orten, Objekten sowie Themen herausgenommen werden können. In der Folge kann es einen unvoreingenommenen Blick nicht geben, sondern höchstens einen »uninformierten« oder »kenntnislosen« Blick über den konkreten Ort. Gerade diese Kombination aus einem spezifisch subjektiven Blick und einem unbekannten Ort betrachte ich als das Wesentliche des erinnernden Gehens, da innerhalb der subjektiven Betrachtung der Blick von anderen nicht als Grundvoraussetzung des Wahrnehmens übernommen wird. Oder wie Roland Barthes es ausdrückt: »Ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben« (Barthes 1980, 60). Subjektive Betrachtungen bieten dadurch eine alternative Lesart eines Ortes an und ermöglichen es somit, einen Diskurs über diese Erkenntnisse zu führen. Dies ist, wie Dolff-Bonekämper feststellt, solange möglich, wie auch unterschiedliche und widersprüchliche Erinnerungen an einem Ort möglich sind, dieser also nicht als Erinnerungsort einer bestimmten Erinnerung gewidmet ist (vgl. Dolff-Bonekämper 2007, 71, siehe auch »Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung«, S. 138). Um diesen Prozess anzustoßen, bedarf es meines Erachtens eines Dreischritts, der aus einer offenen, subjektiven Herangehensweise, wie zum Beispiel dem Flanieren, besteht, die im Anschluss durch wissenschaftliche Methoden wie Recherchen und Feldforschungsmethoden objektiviert wird. Wie am Beispiel des Praxisprojekts der »Erinnerungstopografie Baracke« deutlich wird, können diese beiden vorbereitenden Teile im Anschluss zusammengeführt werden. Der subjektive Blick ergänzt dann den objektiven und umgekehrt, beide gemeinsam wirken zum einen auf das Subjekt zurück und ermöglichen zum anderen die Sammlung und Weitergabe der Erfahrung von anderen und an andere. Aus diesem »Speicher« an subjektivem Wissen kann durch Austausch und Diskussion ein lokales kollektives Gedächtnis entstehen, welches sich an einem Ort
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festmachen oder anderweitig darstellen lässt, um auch andere Personen in die lokale Erinnerungsarbeit einzubeziehen. Auf diese Weise wird ein statischer Erinnerungsort zum dynamischen Diskursort und bietet, sei es an einem konkreten Objekt oder zum Beispiel auch im Internet, Anlässe zur weiteren Beschäftigung mit der Vergangenheit und der daraus resultierenden Relevanz für die Zukunft.
HiDDEN TRACK: UND PARiS? Zu den für den zweiten Görlitz-Besuch erarbeiteten Fragestellungen ist abschließend Folgendes zu sagen: Das ursprüngliche Interesse an der ersten Begehung bezog sich spezifisch auf das Thema »Paris in Görlitz« und wurde dann aufgrund der spontanen Entscheidung, das Praxisprojekt anhand der aktuellen Diskussion um die Baracke zu gestalten, nicht weiterverfolgt und ist somit auch nicht abschließend zu beantworten. Dennoch möchte ich einige Ansätze für eine etwaige weitere Beschäftigung entlang der Erkenntnisse zu »Paris in Görlitz« anbieten: Es gibt in Görlitz zwar sowohl Orte als auch Objekte, die Ähnlichkeiten mit Orten und Objekten in Paris aufweisen, diese sind aber nur rudimentär im Bewusstsein der Bevölkerung verankert – wenn, dann zumeist im Zusammenhang mit den Filmen, die in Görlitz gedreht wurden. Sie spielen insofern eine Rolle, als über die Filmteams und Hollywood-Schauspieler, die teilweise längere Zeit in Görlitz verbracht haben, eine neue Identitätskonstruktion möglich scheint. Hierauf verweist zum Beispiel ein mit »Görlitz verwandelt sich in Görliwood« betitelter Zeitungsartikel der Lausitzer Rundschau (vgl. Böttger 2013, o. A.). Die Frage, ob der Zufallsfund der Pariser Orte und ein gegenwärtiger Prozess in Görlitz zusammenhängen, würde ich momentan eher verneinen – zum einen, da es keinen signifikanten Prozess in Bezug auf »Paris in Görlitz« gibt, zum anderen waren, wenn die
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Entwicklung zum Drehort Görlitz als Beispiel gelten soll, die Orte, die mich an Paris erinnerten, nicht identisch mit den Drehorten der entsprechenden Szenen. Einer Vor-Ort-Recherche zufolge verweisen an den Drehorten selbst keine Spuren auf die Dreharbeiten oder auf einen Pariser Flair. Momentan werden in Görlitz noch keine expliziten Paris-Bilder produziert, auch das Stadtmarketing orientiert sich noch an anderen, historischen Themen. Jedoch scheint es möglich, auf das Thema »Paris« oder genereller auf das Thema »Filmstadt« eine zukünftige Ausrichtung zu legen. Über die Frage, inwieweit dies sinnvoll sein kann und welche Maßnahmen damit verbunden werden sollen, sollte dann ein öffentlicher Diskurs initiiert werden.
SCHLUSSTEiL
Walter Benjamin
»[Die] genauesten, evi nisse sitzen auf ihren auf Blättern, Blüten un die nichts von ihrem D ein Sprung, ein Flügel erschreckten Betracht ein unberechenbares scheinbar sich in eine schlichen hatte.«
videntesten ErkenntGegenständen wie und Ästen Insekten, Dasein verraten, bis elschlag, ein Satz dem hter zeigen, daß hier s eigenes Leben une fremde Welt ge-
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ZUSAMMENFASSUNG Eine Stadt ist mehr als ihre bebauten und unbebauten Räume, ihre Natur, Baukörper und Infrastrukturen. Eine Stadt ist ein Kommunikationsraum, ein Raum, durchkreuzt durch und aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten. Eine Stadt hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft und kann so auch als ein Zeit-Raum beschrieben werden. Auf diese Weise ist eine Stadt verbunden mit den Menschen, die in ihr gelebt, gewirkt und Spuren hinterlassen haben, ebenso wie sie durch die Menschen geprägt wird, die aktuell in ihr leben und zukünftig leben werden. Viele Ereignisse fanden und finden in ihr statt, nicht wenige davon sind raumwirksam und werden so sicht- und erlebbar. Durch diese Eigenschaft existiert jede Stadt in vielfacher Hinsicht, zum einen in ihrer konkreten baulichen Gestalt, zum anderen als Bild, das im Kopf der Menschen entsteht, die sie bewohnen oder bereisen. Diese subjektiven Bilder zeigen sich in der Wahrnehmungs- und Erinnerungslandschaft und werden unter anderem durch Stadtmarketingprozesse aufgegriffen. Somit sind Erinnerungen konstitutioneller Bestandteil der Identität einer Stadt sowie deren Bewohner. Erinnerung basiert auf Ereignissen und Erfahrungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben bzw. erworben wurden. Das Erinnern selbst findet jedoch nicht in der Vergangenheit statt, sondern ist ein gegenwärtiger Prozess und somit ausschließlich vom Standpunkt der Gegenwart betrachtet möglich. Wie in diesem Buch gezeigt wurde, ist es aus diesen Gründen unmöglich, die Vergangenheit so zu betrachten, wie sie war. Vergangenheit ist vielmehr immer ein geistiges Konstrukt, das evolutionsbedingt aus den jeweiligen gegenwärtigen Umständen resultiert, aus denen heraus sich Individuen erinnern. Persönliche Erinnerung fokussiert eine mögliche Zukunft und ist in diesem Sinne immer subjektiv und zielgerichtet. Kollektive Erinnerung hingegen bezeichnet einen gemeinsamen Bezugsrahmen, der aus einer sozialen Verpflichtung gegenüber Ereignissen aus der
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Vergangenheit resultiert, die für das gegenwärtige und zukünftige Handeln des Kollektivs relevant sind. Diese Form der Erinnerungstätigkeit, bei der unter anderem die Frage »Was wollen bzw. was dürfen wir nicht vergessen?« eine zentrale Rolle spielt, ist absichtsvoll. Deshalb kann die kollektive Erinnerung, wie anhand von Beispielen gezeigt, instrumentalisiert werden. Diese Eigenschaft birgt die Gefahr, dass Erinnerung zu Argumentations- oder Machtzwecken missbraucht wird. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine moralische Verpflichtung gegenüber den Ereignissen der Vergangenheit und eine Verantwortung, was den Umgang mit ihr sowie ihre Deutung in der Gegenwart betrifft. Diese Verantwortung berührt das Erinnern von Individuen und von Kollektiven gleichermaßen, da Individuen sowohl Träger ihres individuellen als auch des kollektiven Gedächtnisses sind. Beide Gedächtnisse übernehmen unterschiedliche Funktionen und sind jeweils anders organisiert, bedingen sich jedoch gegenseitig: Ohne kollektive Erinnerung ist keine individuelle Erinnerung möglich und umgekehrt. An dieser Stelle stehen sich die Erinnerungslandschaft des Kollektivs und die des Individuums gegenüber und müssen gegenseitig in Wert gesetzt werden. Dies gilt besonders dann, wenn Erinnerungen mit Machtansprüchen kollidieren, die zum Beispiel durch das Kollektiv vertreten werden. Hierzu zählen Planungsverfahren ebenso wie Setzungen darüber, an welche Ereignisse sich das Kollektiv erinnern will und soll. Denn diese Setzungen manifestieren sich in Erinnerungshierarchien, denen sich Individuen mit ihrer individuellen Erinnerung unterordnen müssen. Zur Erinnerungstätigkeit kommt demnach eine politische Dimension hinzu und es bedarf infolge dieser Erkenntnisse einer Repolitisierung der Erinnerungskultur, die Erfahrungen aus der individuellen sowie kollektiven Geschichte über neue Ansätze und Formate in einen Prozess der Erinnerungsarbeit überführen kann. Dies erfordert auf kollektiver sowie auf individueller Ebene eine Bestandsaufnahme dessen, was oder an was erinnert werden soll und muss und in der Folge eine Demokratisierung dieses Prozesses.
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Die vorliegende Studie hat diesen Gedanken aufgenommen und Fragen nach einer Demokratisierung von Erinnerung und Erinnerungsarbeit gestellt. Für die Theoretisierung waren vor allem die Ansätze des »kulturellen Gedächtnisses« von Jan und Aleida Assmann, der »Lieux de mémoire« von Pierre Nora sowie der »Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Erinnerung« von Moritz Csáky relevant. Die Konzepte der »Erinnerungstopografie« und der »Memorable Moments« von Gabi Dolff-Bonekämper sowie die Studienarbeit »Küstrin – Erinnerungsort!?« stellten eine erste Verbindung zwischen Erinnerungstheorie und praxis her. Um diese Ansätze und Konzepte in ein neues, handlungsbezogenes Erinnerungskonzept zu überführen, wurden der Text »Gehen in der Stadt« von Michel de Certeau sowie mehrere Texte der Flaneure Franz Hessel und Walter Benjamin erschlossen und ihre eigene Praxis des erinnernden Gehens erläutert. Auf bauend auf Erkenntnissen aus diesen Arbeiten wurden verschiedene Herangehensweisen, wie beispielsweise die der »Contested Terrains« von Dolores Hayden und die der »Urbanografien« von Elke Krasny untersucht. Die Auseinandersetzung mit diesen Konzepten sollte es ermöglichen, ein eigenes Konzept zur handlungsbezogenen Erinnerungsarbeit vorzulegen. Hierfür eignen sich, wie aufgezeigt werden konnte, besonders Formate, die konkrete Objekte, Orte und Räume einbeziehen, denn Geschichte wird an konkreten Orten geschrieben und somit im Raum sichtbar. Relevant sind hierfür vor allem die vielen Orte einer Stadt, die nicht vordergründig Denkmal- oder Gedächtnisstätten, jedoch für die individuelle Identitätskonstruktion von großer Bedeutung sind. Es handelt sich meist um »unsichtbare« Orte des Alltagslebens, an denen sich persönliche Geschichten abgespielt haben, die eine zentrale Rolle im Gedächtnis des Einzelnen spielen. Diese Orte sind nicht minder wichtig als explizit gewidmete Denkmal- oder Gedächtnisorte, denn hier kreuzen sich individuelle Geschichten, die aus den konkreten Gegebenheiten der Orte sowie der Zeit entstanden sind.
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Als Möglichkeit, diese Orte und deren Erinnerungsspuren zu erschließen, wurden verschiedene Formen des Gehens, also einer aktiven Handlung, die einen konkreten Raumbezug schafft, vorgestellt. Gehen verbindet mehrere Eigenschaften, die zur Erinnerungsarbeit und zur Reflexion hilfreich sind, und ist zudem selbst raumbildend. Erinnerndes Gehen verortet Individuen an konkret lokalisierbaren Orten und ermöglicht so eine konkrete, ortsbezogene Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit öffnet die Sinne gegenüber den Spuren und Zeichen der Vergangenheit, die diese Orte in und an sich tragen. Über die zurückgelegten Wege ist es reflexiv möglich, lokale Erinnerungen und Verweise zu sammeln, diese in Relation zueinander zu setzen und somit als eigene Erinnerungstopografie zu betrachten. Durch das erinnernde Gehen können darüber hinaus Objekte und Ereignisse nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern ergeben in ihrer Konstellation einen neuen Sinn. Diese Konstellationen können wiederum sichtbar gemacht und die ihnen immanenten Geschichtsbzw. Ereignisspuren mit-samt ihren individuellen Wahrheiten, Widersprüchen und Mehrfachcodierungen in einen Diskurs überführt werden. Erinnerung wird auf diese Weise verhandelbar, wodurch auch Gemeinsamkeiten ermittelt werden können, die zum Beispiel eine Basis für ein lokales Kollektivgedächtnis schaffen können. Auf bauend auf den Erkenntnissen aus dem wissenschaftlichen Komplex der Studie, den Kenntnissen über die Kraft der Flanerie in Bezug auf die Erinnerungsarbeit sowie vorliegenden und selbst erarbeiteten Methoden und der Analyse des aktuell laufenden Görlitzer Erinnerungsprozesses wurde eine Methodisierung entwickelt, die ein erster Vorschlag für ein handlungsbezogenes Erinnerungskonzept sein soll. Das durchgeführte Praxisprojekt ist gegliedert in mehrere Teile, die einem ersten und zweiten Besuch in Görlitz folgen. Beide Besuche liefen unter jeweils unterschiedlichen Fragestellungen, mit deren Hilfe die Theoretisierung des Erinnerungskonzeptes gespiegelt
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wurde. Erfahrungen aus der Feldarbeit halfen bei der Verfeinerung des Konzeptes. Der Auf bau des eigenen Erinnerungskonzeptes folgt somit einer permanenten Wechselbewegung zwischen theoretischer Arbeit, Recherche und Feldversuch. Aus den resultierenden Erkenntnissen wurde eine Methodisierung erarbeitet, die im Wesentlichen diesem »Dreisprung« folgt. Zur Erinnerungsarbeit des Souveneurs wird vorgeschlagen, ein Dreistufen-Modell anzuwenden, das mit einer Feldarbeit, dem sich selbst erinnernden Gehen, beginnt. Diese Form des Gehens bietet erste Anhaltspunkte zu erinnerungsrelevanten Orten, Themen und Diskursen und ermöglicht es, erste lokale Akteure kennenzulernen. Über wissenschaftliche Recherchen werden diese Themen fortgeführt, Schwerpunkte gebildet und die Grundlage für ein Narrativ entwickelt, das durch weitere Feldarbeit mit einer konkreten Fragestellung abschließt. Um möglichst viele Erinnerungen zutage zu fördern, sollte sich der gesamte Prozess mehrfach mit jeweils anderen Formaten des Gehens und der Teilnahme unterschiedlicher Erinnerungsakteure sowie erinnerungswilliger Personen und Gruppen wiederholen. Bei den Begehungen sollten an erinnerungsrelevanten Orten Wegmarken hinterlassen werden, welche die jeweiligen persönlichen Erinnerungen verorten und somit andere Personen darauf aufmerksam machen. Erinnerungen bleiben auf diese Weise immer ortskonkret und können somit auch vor Ort verhandelt werden. Diese Markierungen ermöglichen es zudem, aus den erinnerungsrelevanten Orten Reihungen und Wege anzuleiten, die dann wiederum in anderer Weise zu Formaten der Auseinandersetzung gruppiert werden können. Eine Möglichkeit wäre es zum Beispiel, aus bestimmten Erinnerungsobjekten Touren zu erstellen, welche die individuellen Erinnerungen unter verschiedenen Aspekten aufgreifen, was es erlaubt, diese dann an andere Interessierte weiterzugeben. Der Prozess der Erinnerungsarbeit sollte fortlaufend dokumentiert und die Ergebnisse auf verschiedene Weise publiziert werden. Dies ist nötig, um zum einen den Diskurs abzubilden, und zum anderen durch
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Nutzung von Medien wie etwa dem Internet auch Personen in die Erinnerungsarbeit einzubinden, die sich entweder nicht in der Nähe aufhalten oder die nicht am direkten Erinnerungsprozess teilnehmen möchten. Auf diese Weise kann es gelingen, auch Personen anzusprechen, die für gewöhnlich nicht an solchen Prozessen teilnehmen. Das Sortieren, das Auswählen und letztlich das Speichern von Erinnerungen darf jedoch kein Selbstzweck werden, wie es bei vielen unmoderierten Internetportalen und Erinnerungsnetzwerken der Fall zu sein scheint. Erinnerungsarbeit kann letztlich nur dann erfolgreich und wertig sein, wenn es eine professionelle Begleitung, wissenschaftliche Methoden, valide Inhalte, einen nachvollziehbaren Zweck und eine begleitende Vermittlung der Inhalte gibt.
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FAZiT UND AUSBLiCK Die zentrale Schlussfolgerung aus dieser Studie ist, dass die Erinnerungsarbeit zu demokratisieren und somit die persönliche, individuelle Erinnerung herauszufordern, zu befördern und ihr innerhalb eines Diskurses ein fachlicher Blick an die Seite zu stellen ist. Hierfür habe ich eine Methode zu erarbeiten versucht. Dabei geht es mir nicht um eine Bewertung der unterschiedlichen Inhalte nach richtig oder falsch, nach gut oder schlecht, nach relevant oder irrelevant. Es geht mir auch nicht um eine neue Gegenöffentlichkeit, die Erinnerungen für neue Machtansprüche instrumentalisiert. Vielmehr geht es mir um ein Komplementär, einen Diskurs, der gängige denkmalpflegerische oder planerische Verfahren begleiten und ergänzen kann und diese Verfahren durch eine neue Form der Partizipation qualifiziert. Es geht mir weiterhin darum, dass persönliche Erinnerungen nicht verlorengehen, sondern in Form von lebendigen Geschichten und nicht ausschließlich anhand statischer Objekte weitergetragen werden. Also interessiert mich neben der politischen auch die poetische Seite der lokalen Geschichte, die sich in vielen kleinen Geschichten zeigt und es erlaubt, dadurch eigene Bezüge und Narrative herzustellen, sich Orte und Geschichte sowie Geschichten anzueignen. Anhand der vorgeschlagenen Erinnerungsarbeit bekommen Orte eine eigene Bedeutung und rücken ebenso wie die Menschen, die Träger des Erlebten und der Erfahrung sind, in den Vordergrund, was am Beispiel des zufälligen Erinnerungsortes in Görlitz, über den ich berichtet habe, eindrücklich nachzuvollziehen ist. Anhand der Diskussion um die Baracke wurde mir selbst klar, welche Kraft eine gemeinsame Erinnerungsarbeit entfalten kann, und das, obwohl sie ursprünglich von nur zwei Akteuren – vom einen aufgrund persönlicher Betroffenheit, vom anderen aus Interesse am gemeinsamen Erbe und Empathie für die Opfer des Nationalsozialismus – angestoßen worden ist. Wie das vorliegende Buch zeigt, ist Erinnerung ein sensibles Gut, vor allem deshalb, da mit Erinnerung auch
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immer ein zukünftiger Zweck verbunden ist. Das macht es schwierig, die eigene Erinnerung wissenschaftlich zu reflektieren, was ja auch schon Dolff-Bonekämper eindrücklich beschrieben hat. Dies hat Auswirkungen auf das eigene Gehen und den gesamten Prozess: Ein voraussetzungs- und absichtsloses Gehen, wie von den Ur-Flaneuren gefordert, kann es aufgrund der Erkenntnisse nicht geben, da die individuelle Wahrnehmung auf persönlicher Kenntnis und Erinnerung aufbaut und somit höchst subjektiv ist. Insofern kann mit Gehen im Rahmen des vorliegenden Konzeptes lediglich gemeint sein, keine vorgefertigte Meinung zu übernehmen und im benjaminschen Sinne die Dinge, die sich zeigen, so zu beschreiben, wie sie sind – sie also nicht schon vorzudeuten und diese Deutung als absolut anzunehmen. Roland Barthes hat dies sehr treffend beschrieben, indem er anmerkt: »Ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben.« Diesem Zitat folgt auch die abschließende Erkenntnis aus dieser Studie: Im Kern geht es um ein »Primat der Erfahrung«, wie es Dolff-Bonekämper und Aleida Assmann fordern, und somit auch eine Herangehensweise, die Möglichkeiten zur eigenen Erfahrung von Geschichte und Geschichten eröffnet. Und da Erinnerungen aus den in der vorliegenden Studie angeführten Gründen höchst subjektiv sind, kann das Konzept des Souveneurs keine Methode sein, sondern lediglich die Methodisierung eines Vorgangs, der individuelle Erfahrungen durch ein Konzept ermöglicht, diese aber in einen übergeordneten Kontext und in Wert setzt. Planungen und Planende sind Mehrheiten verpflichtet. Deshalb bleibt zu kritisieren, dass diesem individuellen Erfahrungskonzept der Rahmen fehlt, innerhalb dessen eine gezielte Weitergabe der Erinnerungen und Erkenntnisse organisiert bzw. innerhalb dessen am Ende eines Prozesses eine Setzung gemacht werden kann. Aufgrund dieser politischen Dimension müssen die Fragen danach erlaubt sein, wer den Diskurs initiiert, wer die Verantwortung für die Erinnerungstätigkeit übernimmt und wer die gewonnenen Erkenntnisse in welcher Form zusammenfasst.
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Auf diese Weise hat ein Souveneur eine große Verantwortung, nicht nur für den Prozess, sondern auch für den Inhalt und die Produkte. Er initiiert den Erinnerungsprozess, begleitet und moderiert ihn, er fordert die lokalen Personen zum gemeinsamen Gehen und Erinnern auf und trägt so Sorge dafür, dass wichtige individuelle Erinnerungen offengelegt und verhandelt werden. Durch seine Arbeit können diese dann zum Beispiel in kollektive Erinnerungsprozesse oder in Planungsverfahren Eingang finden. Somit steht der Souveneur in einer sozialen und politischen Verpflichtung, wodurch sich die Frage aufdrängt, wer überhaupt ein Souveneur sein kann, also welche Voraussetzungen eine Person mitbringen muss, um Souveneur werden zu können. Hieran schließt sich die Frage an, ob es am Ende nicht einer Ausbildung für Souveneure bedarf, um zu gewährleisten, dass die Ergebnisse des Prozesses abschließend ausreichend valide sind, um im wissenschaftlichen sowie im politischen Kontext Verwendung zu finden. Hier sehe ich den größten Bedarf an weiteren Forschungen: Es gilt, Antworten auf die Frage zu finden, wie die vorliegende Methodisierung zu einer konkreten Methode weiterentwickelt werden kann. Da eine methodische Absicherung meines Erachtens ausschließlich durch die regelmäßige Anwendung und Erfahrung aus mehreren Projekten, Gesprächen und Reflexionen erfolgen kann, müssen weitere erinnerungsrelevante Orte und Objekte aufgespürt und in der Folge das Konzept aktiv praktiziert werden, sodass im Laufe der Zeit neue Einblicke ermöglicht werden und der Souveneur vielleicht eines Tages in urbanen Prozessen eine ernst zu nehmende Rolle spielen kann. Leitsatz hierfür soll ein Zitat der Künstlerin und Beuys-Schülerin Shelley Sacks sein, das mich in meiner Ausbildung zum Stadt- und Regionalplaner geprägt und mich in Bezug auf die Verantwortung, die ich bei der Ausübung dieses Berufes als verbindlich empfinde, verpflichtet: »Responsibility is the ability to respond« (Sacks, 1998). Mit diesen Worten möchte ich das Buch beschließen.
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Abb. 1 Schematische Darstellung eines vielschichtigen Ortes
S. 151 Abb. 2 Quick Response (QR) Codes
S. 231 Abb. 3 Eingangsbereich der Baracke
S. 234
ABBiLDUNGSVERZEiCHNiS
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Urban Studies bei transcript Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.|eds.)
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Juli 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1 E-Book: ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8394-3041-5 Ostpark / Gleisdreieck – Ein Sommerabend: Mütter fordern ihre Kinder auf, zum Abendbrot nach Hause zu gehen. Flaschensammler machen ihre Runde, während eine Touristengruppe von ihrem Englisch sprechenden Stadtführer über die Bedeutung interkultureller Gärten aufgeklärt wird. Eine mit Picknickkörben ausgestattete, überwiegend grauhaarige Gesellschaft von Kreuzberger Ureinwohnern trifft sich zur wöchentlichen Boule-Partie. Am Gleisdreieck stellen sich paradigmatisch die Fragen nach dem Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung, der Eigentümerschaft an Stadtraum und nach dem planerischen Umgang mit innerstädtischen Brachen bei gleichzeitig steigendem Wohnraumbedarf. Dieses Buch widmet sich der wechselvollen Geschichte des Ortes und zeigt in lebendigen Bildern die Kontraste des Berliner Parklebens im 21. Jahrhundert. Zahlreiche Interviews mit Aktivisten, Kunst- und Kulturschaffenden sowie Planungsexperten gewähren sensible Einblicke in einen vielschichtigen Mikrokosmos von Sichtweisen auf »unsere Stadt«. Sechs Essays geben inspirierende Ansätze zum aktuellen Diskurs der Stadtentwicklung. Mit Fotografien von Hans W. Mende, Lorenzo Pesce und Mario Ziegler.
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