127 98 24MB
German Pages 247 Year 2001
MATIIllAS WAGNER
Das Konzept der Mindestharmonisierung
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 70
Das Konzept der Mindestharmonisierung Von Matthias Wagner
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wagner, Matthias:
Das Konzept der Mindestharmonisierung I von Matthias Wagner. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 70) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10133-2
D703 Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2001
ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-10133-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
e
Vorwort Die Arbeit lag im Sommersemester 1999 der Juristischen Fakultät an der Universität Bayreuth als rechtswissenschaftliche Dissertation vor. Das Manuskript wurde im März 1999 abgeschlossen. Nach diesem Zeitpunkt erschienene Literatur und Rechtsprechung wurden für die Drucklegung noch bis Dezember 1999 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Rudolf Streinz, der die vorliegende Arbeit angeregt und mich stets unterstützt hat. Ihm verdanke ich die Heranführung an das Europarecht und die stetige Förderung, die ich bereits frühzeitig im Rahmen der Tätigkeit als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl erfahren habe. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Wilfried Berg für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Weiterhin danke ich den Herren Profs. Dr. Siegfried Magiera und Dr. Dr. Detlef Merten, beide Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, für die Aufnahme der Arbeit in die "Schriften zum Europäischen Recht". Meinen Eltern, Renate und Prof. Dr. med. Hermann Wagner, möchte ich ganz herzlich für die vielfältige Unterstützung nicht nur während Studium und Promotion danken. Gleiches gilt für meine Lebensgefährtin Frau Bettina Gastroph. Ihr wart eine große Hilfe! Dresden, im April 2000
Matthias Wagner
Inhaltsverzeichnis Teil 1
Einleitung
15
A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung... . . ... . .. ... . ... . ... . . . .. . . . ..
15
B. Gang und Methodik der Untersuchung... . . . .. . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . .. . ..
16
Teil 2
Die Harmonisierung im EG-Vertrag
18
A. Begriff und Wesen der Harmonisierung ................................
18
B. Ziele der Harmonisierung ............................................ I. Der Begriff des Gemeinsamen Marktes ............................ II. Der Begriff des Binnenmarktes ................................... 1. Identitätsthese ............................................... 2. Erweiterungsthese ........................................... 3. Einschränkungsthese ......................................... 4. Gemischte Erweiterungs- und Einschränkungsthese .............. 5. Stellungnahme ..............................................
21 21 22 22 23 24 24 24
C. Rechtsgrundlagen der Harmonisierung ................................. I. Art. 94 [ex-Art. 100] EGV ....................................... II. Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV ..................................... 1. Anwendungsbereich .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. "Nationaler Alleingang" eines Mitgliedstaats .................... III. Art. 100 b EGV a. F. ............................................ IV. Besondere Harmonisierungsvorschriften ...........................
26 27 28 29 30 32 33
D. Rechtsinstrumente der Harmonisierung ................................ I. Verordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. II. Richtlinien ..................................................... III. Entscheidungen ................................................. IV. Empfehlungen und Stellungnahmen ...............................
35 36 37 39 39
E. Methoden der Harmonisierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 I. Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 II. Gegenstandsbereich des Gemeinschaftsrechtsaktes .................. 42
8
Inhaltsverzeichnis III. Harmonisierungsintensität des Gemeinschaftsrechtsaktes ............. 45 1. Vollständige Harmonisierung .................................. 45 2. Teilweise Harmonisierung .................................... 50 a) Optionelle Harmonisierung ................................ 50 b) Mindestharmonisierung ................................... 53
F. Schranken der Harmonisierung ....................................... I. Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Vertikale Kompetenzabgrenzung ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Horizontale Kompetenzabgrenzung ............................ 11. Der Grundsatz der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Inhalt ...................................................... 3. lustiziabilität................................................ III. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ............................
55 55 56 57 60 60 62 65 66
G. Bewertung .........................................................
67
Teil 3 Die rechtliche Vereinbarkeit des Konzepts der Mindestharmonisierung mit dem EG-Vertrag A. Ausdrückliche Ermächtigungsnormen für Mindestharmonisierungen I. Die Rechtsgrundlagen im EG-Vertrag i. d. F. von Maastricht .......... 1. Art. 118 a EGV a.F. ......................................... a) Entstehungsgeschichte .................................... b) Inhalt ................................................... aa) Art. 118 a Abs. 1 EGV a.F. ........................... bb) Art. 118 a Abs. 2 EGV a.F. ........................... cc) Art. 118 a Abs. 3 EGV a.F. ........................... c) Abgrenzung zu anderen Ermächtigungsgrundlagen ........... 2. Das Abkommen über die Sozialpolitik ......................... a) Entstehungsgeschichte .................................... b) Rechtsnatur .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Theorie des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Theorie des völkerrechtlichen Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . .. cc) Theorie der autonomen Rechtsordnung ................. dd) Stellungnahme ..................... . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Inhalt ................................................... d) Abgrenzung zu anderen Ermächtigungsgrundlagen ........... 3. Art. 129 a EGV a. F. ......................................... a) Entstehungsgeschichte .................................... b) Inhalt ...................................................
69 69 69 69 70 73 73 76 78 78 81 81 83 83 84 85 85 87 89 91 91 93
Inhaltsverzeichnis
9
aa) Art. 129 a Abs. 1 lit. a) EGV a.F. ..................... bb) Art. 129 a Abs. I lit. b) i. V.m. Abs. 2,3 EGV a.F. ...... c) Abgrenzung zwischen beiden Ermächtigungsgrundlagen ...... 4. Art. 130 s i. V. m. 130 t EGV a. F. ............................. a) Entstehungsgeschichte .................................... b) Inhalt ................................................... c) Abgrenzung zu anderen Ermächtigungsgrundlagen ........... 11. Die Rechtsgrundlagen im EG-Vertrag i. d. F. von Amsterdam ........ . 1. Weiterentwicklung bestehender Ermächtigungsgrundlagen ........ a) Art. 137 EGV ............................................ b) Art. 153 EGV ............................................ c) Art. 175i.V.m.176EGV ................................. 2. Schaffung neuer Ermächtigungsgrundlagen ..................... a) Art. 31lit. e) EUV ....................................... b) Art. 63 EGV ............................................. c) Art. 152 Abs. 4 lit. a) EGV ................................ 111. Bewertung .....................................................
93 94 97 98 98 101 103 107 107 107 108 109 110 110 110 112 112
B. Das Konzept der Mindestharmonisierung als allgemeine Harmonisierungsalternative .......................................................... I. Art. 44 Abs. 2 lit. g) [ex-Art. 54 Abs. 3 lit. g)] EGV ................ 11. Art. 47 [ex-Art. 57] EGV ........................................ III. Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV ..................................... IV. Sonstige Ermächtigungsgrundlagen ................................
114 115 118 119 122
C. Umfang des nationalen GestaltungsspieJraums .......................... 124
I.
Mindestharmonisierung kraft primärrechtlicher Anordnung .......... . 124 11. Mindestharmonisierung kraft sekundärrechtlicher Anordnung ......... 127
D. Formelle Anforderungen bei der Wahrnehmung des Gestaltungsspielraums . I. Notifizierung ................................................... 1. Notifizierungspflicht ......................................... a) Notifizierungspflicht aufgrund Primärrechts .................. b) Notifizierungspflicht aufgrund Sekundärrechts ............... 2. Ausgestaltung der Notifizierung ............................... 3. Folgen unterlassener Notifizierung ............................. 11. Darlegungs- und Beweislast ..................................... . E. Materielle Schranken für den durch Mindestvorschriften eröffneten nationalen Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Primäres Gemeinschaftsrecht ..................................... 1. Eröffnung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit von strengeren nationalen Vorschriften mit dem EGVertrag ..................................................... a) Mindestvorschriften außerhalb des Bereichs des grenzüberschreitenden Verkehrs ...... , ..............................
130 130 130 130 132 134 134 136 137 137 137 141 143
10
Inhaltsverzeichnis b) Mindestvorschriften im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs ................................................... 147 11. Sekundäres Gemeinschaftsrecht .................................. . 150 Teil 4
Der Ansatz der "Neuen Strategie"
153
A. Hintergrund ........................................................ 153 B. Inhalt .............................................................. 154 C. Bewertung ......................................................... I. Das Konzept der Harmonisierung ................................. 1. Funktionsweise .............................................. 2. Vorteile ..................................................... 3. Grenzen .................................................... Il. Das Konzept des Systemwettbewerbs .............................. 1. Der "De1aware-Effekt" ....................................... a) Inhalt ................................................... b) Übertragbarkeit auf Europa ................................ 2. Der Systemwettbewerb im Rahmen des EG-Vertrags ............. a) Funktionsweise ........................................... b) Vorteile ................................................. c) Grenzen................................................. IIl. Ergebnis .......................................................
157 158 158 158 159 161 161 161 162 166 167 168 170 174
Teil 5
Der Anwendungsbereich des Konzepts der Mindestharmonisierung
176
A. Der Anwendungsbereich aufgrund der Harmonisierungspraxis der Gemein-
schaft .............................................................. I. Der Anwendungsbereich außerhalb der Verwirklichung des Binnenmarktes ........................................................ 1. Mindestharmonisierung kraft primärrechtlicher Anordnung ....... 2. Mindestharmonisierung kraft sekundärrechtlicher Anordnung ..... a) Arbeitsrecht ............................................. b) Agrarpolitik ............................................. aa) Veterinärwesen und Tierzucht ......................... bb) Pflanzenschutz ....................................... cc) Saat- und Pflanzengut ................................ c) Verkehrspolitik........................................... Il. Der Anwendungsbereich im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes ........................................................
176 176 176 177 177 179 179 181 182 183 186
Inhaltsverzeichnis
11
1. Bankrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wertpapier- und Börsenrecht .................................. Versicherungsrecht ........................................... Fernsehtätigkeit ............................................. Medizinische Berufe ......................................... Ausbildung von Seeleuten .................................... Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerrecht.................................................. a) Indirekte Steuern ........................................ . aa) Umsatzsteuer ....................................... . bb) Spezielle Verbrauchsteuern ........................... . b) Direkte Steuern .......................................... 9. Gesundheits-, Sicherheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz ....... a) Die Harrnonisierung produktbezogener Normen .............. b) Die Harrnonisierung nicht produktbezogener Normen .........
191 196 198 198 202 202 207 207 207 208 210 211 211 212
B. Allgemeine Kriterien für den Erlaß von Mindestvorschriften ............. 217
Teil 6
Zusammenfassung und Bewertung des Konzepts der Mindestharmonisierung
220
Literaturverzeichnis ................................................... 231 Sachverzeichnis ....................................................... 245
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. AB\. Abs. a.F. AtP AgV Alt. Anm. Art. Aufl. BayVB\. BB Bd. BGB BGB\. BGH BVerfG BVerfGE bzw. CMLR DB ders. d.h. DÖV Dok. KOM DVB\. EA EEA EG EGV Einf. Ein\. ELR endg. etc. EU
anderer Auffassung am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz alte Fassung Archiv für Presserecht Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände Alternative Anmerkung Artikel Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Betriebs-Berater Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Common Market Law Review Der Betrieb derselbe das heißt Die öffentliche Verwaltung Dokumente der Kommission Deutsches Verwaltungsblatt Europa-Archiv Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft (nach dem EGV) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführung Einleitung European Law Review Endgültig et cetera Europäische Union
Abkürzungsverzeichnis EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EWG EWGV EWS f./ff. Fn. FS GG ggf. GTE h.M. Hrsg. i.d.F. i.d.R. insb. i. S. v. i.V.m. Jg. JZ KSE lit. LMBG
LS MDR MJ MüKo m.w.N. n.F. NJW Nr.
NuR NVwZ NZA RabelsZ RdA RIW
13
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende/fortfolgende Fußnote Festschrift Grundgesetz gegebenenfalls von der Groeben/Thiesing/Ehlerrnann herrschende Meinung Herausgeber in der Fassung in der Regel insbesondere im Sinne von in Verbindung mit Jahrgang Juristenzeitung Kölner Schriften zum Europarecht litera Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz) Leitsatz Monatsschrift für Deutsches Recht Maastricht Journal of European and Comparative Law Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nummer Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recht der Arbeit Recht der internationalen Wirtschaft
14 RL Rn. Rs.
S. SF Slg. u.a. UAbs. usw. verb. Rs vgl. Vorb. VuR WM WuR ZaöRV z.B. ZEuP ZfA ZfRV ZfZ ZgesStW ZGR ZHR Ziff. ZIP ZLR ZRP
Abkürzungsverzeichnis Richtlinie Randnummer Rechtssache Seite Sozialer Fortschritt (Zeitschrift) Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften und andere; unter anderem Unterabsatz und so weiter verbundene Rechtssachen vergleiche Vorbemerkung Verbraucher und Recht Wertpapier Mitteilungen Wirtschaft und Recht Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für Rechtspolitik
Teil 1
Einleitung A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
Ausweislich seiner Präambel bestätigt der Vertrag über die Europäische Union!, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft entschlossen sind, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft eingeleiteten Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben und dabei mit dem Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes sowie der Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker zu fördern und Politiken zu verfolgen, die gewährleisten, daß Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf anderen Gebieten einhergehen. Auf der anderen Seite weist mit bemerkenswerter Eindeutigkeit die Präambel mit den Worten, "entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer enger werdenden Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen" darauf hin, daß es zwar einerseits darum geht, die europäische Integration voranzutreiben und in der Europäischen Union zu vollenden, andererseits jedoch zugleich mittels des Subsidiaritätsprinzips den Rang und die Stellung der nationalen Rechts miteinzubeziehen. Der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität nach Art. 5 [ex-Art. 3 b] Abs. 2 EGV enthält in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 [ex-Art. 3 b] Abs. 3 EGV folglich eine konsequente Absage an die Uniformität eines europäischen Rechtszustandes, der die gewachsenen geschichtlichen und rechtskulturellen Eigenarten der verschiedenen nationalen Rechtssysteme übergeht und verdrängt. Im Hinblick auf den sich hieraus ergebenden Widerstreit zwischen notwendiger Rechtsvereinheitlichung und hinreichender Rechtsvielfalt schrieb Kötz im Jahre 1986: ,,zu den Kosten der Rechtsvereinheitlichung gehört vor allem die Einbuße des Nutzens, den Rechtsvielfalt hat. Denn nur dort, wo Rechtsvielfalt erlaubt ist, bleibt dem parlamentarischen Kräftespiel die Chance zu eigener rechtspolitischer Gestaltung. Nur dort können sich unterschiedliche Lösungen entwikI
ABI. 1992, C 191, S. I ff.; BGBI. 1992 H, S. 1251 ff.
16
Teil 1: Einleitung
kein, nur dort können sie miteinander in Wettbewerb treten, und nur dort bilden sich jener Erfahrungsschatz und jene Lösungsvielfalt, deren auch der Einheitsgesetzgeber bedarf, wenn eines Tages ein wirkliches Bedürfnis für einheitliches Recht gegeben sein sollte ...2
Aus diesem Grund werden in der Praxis Wege gesucht, die Auswirkungen der Rechtsangleichung auf die nationalen Rechtsordnungen auf das erforderliche Maß zu begrenzen. Eine Möglichkeit hierfür bietet das Konzept der Mindestharrnonisierung, das die Rechtsangleichung auf das Setzen von Mindeststandards beschränkt, und den Mitgliedstaaten einen dahingehenden nationalen Gestaltungsspielraum überläßt, den jeweiligen Gemeinschaftsrechtsakt durch strengere nationale Regelungen ergänzen zu können. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Möglichkeiten des Konzepts der Mindestharmonisierung als mögliche Auflösung des Widerstreits zwischen vollständiger Harmonisierung und Rechtsvielfalt auszuloten, um festzustellen, inwieweit das Konzept eine Entwicklungsperspektive für eine fortschreitende europäische Integration darstellt. B. Gang und Methodik der Untersuchung
Im einzelnen soll sich die Untersuchung wie folgt gestalten: Der zweite Teil geht zunächst auf die Grundlagen der Harmonisierung gemäß dem EG-Vertrag ein. Nach einer einleitenden Klärung des Begriffs und Wesens der Harmonisierung werden deren Ziele, wie sie sich aufgrund des EG-Vertrages darstellen, behandelt. Sodann werden Rechtsgrundlagen und Rechtsinstrumente der Harmonisierung erörtert, um hierauf aufbauend das Konzept der Mindestharmonisierung in die von der Wissenschaft unterschiedenen Harmonisierungsmethoden einzuordnen. Den zweiten Teil der Untersuchung abschließend werden die sich aus dem EG-Vertrag selbst ergebenden Schranken für eine Harrnonisierung sowie deren Auswirkungen auf die Harrnonisierungsintensität von Gemeinschaftsrechtsakten näher durchleuchtet. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Erkenntnisse wird im dritten Teil die rechtliche Vereinbarkeit des Konzepts der Mindestharmonisierung mit dem EG-Vertrag untersucht. Ausgehend von den ausdrücklichen primärrechtlichen Ermächtigungsnormen für Mindestharrnonisierungen gemäß dem EG-Vertrag in der Fassung von Maastricht und der Fassung von Amsterdam wird festgestellt, inwieweit eine Mindestharmonisierung auch von anderen Ermächtigungsgrundlagen gedeckt wird, die keine bestimmte Harrnonisierungsintensität vorsehen, und sich somit als allgemeine Harmonisierungsaltemative im Rahmen des EG-Vertrages darstellt. Hieran anknüp2
Kötz, RabelsZ 1986, S. 1 ff. (12).
B. Gang und Methodik der Untersuchung
17
fend wird der Umfang des sich sowohl aus den primärrechtlichen als auch sekundärrechtlichen Schutzverstärkungsklauseln ergebenden nationalen Gestaltungsspielraums durchleuchtet, um anschließend auf die formellen Erfordernisse bei der Wahrnehmung des Gestaltungsspielraums und dessen materielle Schranken einzugehen. Im vierten Teil der Arbeit wird die auf der sogenannten "Neuen Strategie" beruhende Harmonisierungspraxis der Gemeinschaft untersucht. Hierbei werden Vorteile und Grenzen sowohl des Konzepts der Harmonisierung als auch des Konzepts der gegenseitigen Anerkennung erörtert. Auf diese Weise wird unter Berücksichtigung US-amerikanischer Erfahrungen festgestellt, inwieweit auf europäischer Ebene eine Harmonisierung erforderlich ist und sich mithin auch ein Anwendungsbereich für das Konzept der Mindestharmonisierung ergeben kann und in welchem Rahmen dem Konzept der gegenseitigen Anerkennung der Vorzug zu geben ist. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wird sodann im fünften Teil der Untersuchung auf den Anwendungsbereich des Konzepts der Mindestharmonisierung eingegangen. Hierbei wird zuerst der sich aufgrund der Harmonisierungspraxis der Gemeinschaft ergebende Anwendungsbereich des Konzepts untersucht, um dann auf der Grundlage dieser Feststellungen allgemeine Kriterien für den Erlaß von Mindestvorschriften auf europäischer Ebene zu entwickeln. Den Schluß bildet der sechste Teil, der eine zusammenfassende Bewertung des Konzepts der Mindestharmonisierung enthält. In diesem Rahmen wird anhand der Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredie untersucht ob und inwieweit die Mitgliedstaaten tatsächlich von dem ihnen aufgrund des Konzepts der Mindestharmonisierung eingeräumten nationalen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht haben.
3 RL 871102/EWG, ABI. 1987, L 42, S. 48 ff. i.d.F. RL 90/88/EWG, ABI. 1990, L 61, S. 14 ff. 2 Wagner
Teil 2
Die Harmonisierung im EG-Vertrag Einführend wird - zur Einordnung des Konzepts der Mindestharmonisierung - die generelle Konzeption der Harmonisierung im Rahmen des EGVertrages dargestellt.
A. Begriff und Wesen der Harmonisierung Der EGV definiert den Begriff der Harmonisierung nicht. Er verwendet vielmehr in den Vorschriften, die sich mit der Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beschäftigen, eine uneinheitliche Terminologie. So ist beispielsweise neben der in den allgemeinen Vorschriften geforderten "Angleichung" (Art. 3 [ex-Art. 3] lit. h), 94 [ex-Art. 100], 95 [exArt. 100 a] Abs. 1 EGV) die Rede von einer "Koordinierung" des Niederlassungsrechts (Art. 44 [ex-Art. 54] Abs. 3 lit. g), 46 [ex-Art. 56] Abs. 2, 47 [ex-Art. 57] Abs. 2 EGV) sowie von einer "Harmonisierung" der indirekten Steuern (Art. 93 [ex-Art. 99] EGV). Alle Begriffe sind Gegenstand sorgfältiger Auslegungs- und Abgrenzungsversuche gewesen, da man glaubte, aus ihrer unterschiedlichen Verwendung unterscheidbare Anwendungsbereiche abgrenzen zu können. 1 Diese Unterscheidungsversuche haben sich jedoch als undurchführbar erwiesen, denn eine vom Wortlaut des EGV ausgehende Auslegung würde voraussetzen, daß in allen vier authentischen Fassungen des Vertrages 2 einheitlich verschiedene Begriffe für unterschiedliche Sachbereiche gebraucht worden wären. Das ist nicht der Fall: Keiner der im Vertrag verwendeten Begriffe ist durchgehend identisch mit einer bestimmten Bezeichnung einer anderen Sprache gebraucht, vielmehr werden die sprachlichen Formulierungen ganz willkürlich zueinander gesetzt; Lochner hat diese sprachlichen Divergenzen eingehend dargelegt. 3 Zum anderen werden in allen Sprachen verschiedene Begriffe zur Regelung offensichtlich gleichgelagerter Probleme verwendet. Von der Sache her zeigt sich kein Unterschied zwischen der "Koordinierung" gesellschaftsrechtlicher Schutzbestimmungen (Art. 44 [ex-Art. 54] Abs. 3 Ht. g) EGV) und der "Harmonisierung" der indirekten I 2
3
Vgl. die Nachweise bei Lutter, NJW 1966, S. 273 ff. (274 Fn. 10). Ausgehend von der Urschrift nach Art. 248 EGV. Loehner, ZgesStW 1962, S. 35 ff.
A. Begriff und Wesen der Harmonisierung
19
Steuern (Art. 93 [ex-Art. 99] EGV).4 Damit ist erwiesen, daß diese vom EGV verwandten Formulierungen keinem unter sich abgestimmten festen Kompetenzkatalog entsprechen und so keine graduelle Abstufung von Angleichungserfordernissen zum Inhalt haben. Die Begriffe sind synonym. Welche inhaltliche Ausformung der Begriff der Harmonisierung im Rahmen des EGV aufweist, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Aus dem Wortlaut der Art. 3 [ex-Art. 3] lit. h), 94 [ex-Art. 100], 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 EGV und dem Kontext der vertraglichen Harmonisierungsvorschriften ergibt sich zumindest die Zielrichtung der Rechtsangleichung, nämlich in erster Linie die Verringerung oder Abschaffung von Unterschieden zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes beziehungsweise des Binnenmarktes auswirken. Ausgehend von dieser Zielrichtung läßt sich der Begriff der Harmonisierung als ein Ersetzen von zumeist unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften durch eine von den Gemeinschaftsorganen angeordnete Regelung umschreiben. 5 Ist Art. 94 [ex-Art. 100] EGV hierbei auf die Handlungsform der Richtlinie im Sinne von Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV beschränkt, steht für Maßnahmen nach Art. 93 [ex-Art. 99] und Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV das gesamte Instrumentarium an Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts und insbesondere die Verordnung im Sinne von Art. 249 [exArt. 189] Abs. 2 EGV zur Verfügung. 6 Durch die Verordnung kann das Recht der Mitgliedstaaten angeglichen werden, indem einheitlich unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltendes Gemeinschaftsrecht geschaffen wird, das in seinem Anwendungsbereich entgegenstehendes nationales Recht verdrängt. 7 Die vielfach gemachte Aussage, daß zwischen Rechtsangleichung (Harmonisierung) und Rechtsvereinheitlichung unterschieden werden müsse 8 , trifft für die Begrifflichkeit des EG-Vertrages somit nicht zu. Die Rechtsvereinheitlichung stellt sich vielmehr als die intensivste Form der Harmonisierung dar. 9 Taschner. in: G/T/E, EGV, Art. 100 Rn. 1. Seidel, EuR 1979, S. 171 ff. (175). 6 Vgl. bzgl. Art. 93 [ex-Art. 99] EGV: Wägenbaur. in: Grabitz, EGV, Art. 99 Rn. 24; Wolffgang. in: Lenz, EGV, Art. 93 Rn. 6.; vgl. bzgl. Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV: Langeheine. in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 45; Bardenhewerl Pipkom. in: G/T/E, EGV, Art. 100 a Rn. 37. 7 Streinz. Europarecht. Rn. 377 ff. 8 SchweitzerlHummer. Europarecht, Rn. 1228, der die Reichweite des Begriffs der Rechtsangleichung ausschließlich unter dem Maßstab des Art. 94 [ex-Art. 100] EGV untersucht. 9 Ähnlich für Art. 93 [ex-Art. 99] EGV auch Wägenbaur. in: Grabitz, EGV. Art. 99 Rn. 7. 4
S
2·
20
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
Der Begriff der Hannonisierung ist im EG-Vertrag in einem weiten Sinn zu verstehen. Es ist weder notwendig, daß in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Regelungen bestehen - das wird vor allem bei der Novellierung bereits angeglichenen Rechts durch die Gemeinschaftsorgane deutlich noch muß sich die Gemeinschaft an die Vorgaben der nationalen Regelungen halten und diese etwa auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. IO Es können auf Gemeinschaftsebene durchaus auch neue Lösungen gefunden werden, für die es im nationalen Recht keine Vorbilder gibt. Kriterium für die Zulässigkeit einer Hannonisierungsmaßnahme sind deswegen nicht Art und Ausmaß bestehender Divergenzen zwischen den nationalen Rechtsordnungen, wenn diese auch die überwiegende Mehrzahl der Hannonisierungsmaßnahmen auslösen, sondern ihr Abweichen von den Erfordernissen des Gemeinsamen Marktes beziehungsweise Binnenmarktes. 1 1 Die Bedeutung der Hannonisierung erschöpft sich jedoch nicht in ihrer Funktion als Instrument zur Errichtung und zur Sicherstellung des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes beziehungsweise Binnenmarktes. Zwangsläufige Folge der Hannonisierung ist, daß mit ihrer Durchführung die Gesetzgebungshoheit in den von der Hannonisierung erfaßten Bereichen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übergeht, da andernfalls die Mitgliedstaaten den erreichten Integrationsstand jederzeit wieder in Frage stellen könnten. 12 Der Übergang der Gesetzgebungshoheit bedingt, daß nicht erst die spätere Novellierung des angeglichenen Rechts, sondern bereits die Hannonisierung als solche Gesetzgebung und Rechtspolitik darstellt, in deren Rahmen die Gemeinschaftsorgane eigene Wertungen zur Konfliktlösung und Interessenwahrung vornehmen. 13 Diese Einordnung verdeutlicht, daß die Hannonisierung, wie auch die nationale Gesetzgebung, dynamischen Charakter hat und somit eine Daueraufgabe der Gemeinschaftsorgane begründet. Sie muß einerseits nach den jeweiligen Gemeinschaftsbedürfnissen herbeigeführt werden, andererseits muß das angeglichene Recht auch ständig weiterentwickelt werden, um den jeweiligen Anforderungen gerecht zu werden. Eine Aufgabe, die mit dem zunehmenden Umfang der bereits hannonisierten Rechtsmaterie immer wichtiger werden wird.
10 Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1510; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 10/21. 11 Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 10. 12 Seidel, EuR 1979; S. 171 ff. (175); Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 69. 13 Timmermans, RabelsZ 1984, S. 1 ff. (6); Seidel, EuR 1979, S. 171 ff. (175).
B. Ziele der Hannonisierung
21
B. Ziele der Harmonisierung Eine Analyse der grundlegenden Aussagen des EG-Vertrages über die Ziele, die durch die Gründung der EG verwirklicht werden sollen, ergibt, daß die Harrnonisierung nicht zu diesen Zielen gehört: Harrnonisierung wird in der EG folglich nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern ist immer Mittel zur Erreichung eines im EG-Vertrag vorgegebenen Ziels. Die Ziel gebundenheit der Harrnonisierung kommt in Art. 3 [ex-Art. 3] lit. h) EGV zum Ausdruck, wonach die Tätigkeit der Gemeinschaft, um ihre durch Art. 2 [ex-Art. 2] EGV festgelegten Ziele zu erreichen, die Angleichung der innerstaatlichen Vorschriften umfaßt, "soweit dies für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist". Bis zum Inkrafttreten der EEA am 1. Juli 1987 war die Errichtung und die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes gemäß Art. 3 [ex-Art. 3] lit. h), ex-Art. 7 EGV das zentrale Harrnonisierungsziel der Europäischen Gemeinschaft. Durch die Aufnahme des Binnenmarktkonzeptes gemäß Art. 3 [ex-Art. 3] lit. c), 14 [ex-Art. 7 a] EGV im Rahmen der EEA, die aber nicht mit einer gleichzeitigen Eliminierung der Konzeption des Gemeinsamen Marktes aus dem EG-Vertrag verbunden war, stehen sich heute diese bei den Konzeptionen gegenüber. Die Abgrenzung beider Konzepte ist von praktischer Bedeutung, da der EG-Vertrag an beide Begriffe durchaus unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft. Beispielsweise enthalten Art. 94 [ex-Art. 100], 95 [ex-Art. 100 a] EGV völlig unterschiedliche Rechtshandlungsformen, Verfahrensvorschriften und materielle Bestimmungen über "nationale Alleingänge". I. Der Begriff des Gemeinsamen Marktes
Der Gemeinsame Markt im Sinne von Art. 2 [ex-Art. 2] EGV setzt sich nach überwiegender Ansicht aus drei Elementen zusammen: 14 (1) Marktfreiheit:
Diese umfaßt die Freiheit nach innen und die Einigkeit der Gemeinschaft nach außen. Hierunter wird die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten sowie das einheitliche Auftreten nach außen in Form einer Zollunion und einer gemeinsamen Handelspolitik verstanden.
(2) Marktgleichheit: Diese umfaßt die Herstellung gleicher oder nahezu gleicher Wettbewerbsbedingungen, also die Vermeidung und Beseitigung von Wettbe14 Vgl. hierzu Grabitz. in: Grabitz, EGV, Art. 2 Rn. 15 f.; Zuleeg, in: G/T/E, EGV, Art. 2 Rn. 13.
22
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
werbsverfalschungen, die beispielsweise infolge staatlicher Beihilfen entstehen können. (3) Wettbewerbsfreiheit: Diese umfaßt das Verbot von privaten (vgl. Art. 81 [ex-Art. 85], 82 [ex-Art. 86] EGV) oder staatlichen (vgl. Art. 86 [ex-Art. 90] EGV) Wettbewerbsbeschränkungen. Im Rahmen von Art. 94 [ex-Art. 100] und 308 [ex-Art. 235] EGV wird zum Teil von der gleichen Auslegung ausgegangen. 15 Ganz überwiegend erfolgt jedoch eine weite, dynamische Auslegung dahin, daß der Begriff des Gemeinsamen Marktes des weiteren alle im Vertrag genannten Politikbereiche umfaßt. 16 11. Der Begriff des Binnenmarktes
Der Begriffsinhalt des Binnenmarktes ist in Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGV bestimmt. Dieser lautet: ,,Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist."
Obwohl der Begriff des Binnenmarktes somit legaldefiniert ist, werden hinsichtlich der Abgrenzung der Begriffsinhalte des Gemeinsamen Marktes und des Binnenmarktes alle denkbaren Varianten vertreten. Dies liegt hauptsächlich darin begründet, daß der EuGH bereits vor Inkrafttreten der EEA den Begriffsinhalt des Gemeinsamen Marktes wie folgt charakterisiert hat: "Der Gemeinsame Markt (... ) stellt ab auf die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziele der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahekommen.,,17
1. Identitätsthese
Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß das Binnenmarktziel kein neues inhaltliches Konzept für die Entwicklung der Gemeinschaft beinhalte, weshalb die Begriffe Binnenmarkt und Gemeinsamer Markt inhaltsgleich seien. 18 Gestützt wird diese Auffassung auf die gemeinsame Erklärung der Regierungsvertreter zu Art. 14 [ex-Art. 7 a] EGV in der Schlußakte zur So z.B. Grabitz. in: Grabitz, EGV, Art. 235 Rn. 55 ff. Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 25 ff.; Taschner, in: G/T/E, EGV, Art. 100 Rn. 39. 17 EuGH, Urteil vom 5. 5. 1982, Rs. 15/81 - Gaston Schul - Slg. 1982, S. 1409 ff. (1431) Rn. 33; Hervorhebung des Verfassers. 15
16
B. Ziele der Harmonisierung
23
EEA, wonach für die Verwirklichung des gesetzten Zieles "insbesondere die Beschlüsse, die zur Ausführung des von der Kommission in dem Weißbuch über den Binnenmarkt aufgestellten Programms" maßgebend sein sollen. Dieses im Weißbuch l9 enthaltene Programm gehe weit über die vier in Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGVerwähnten Grundfreiheiten hinaus, indem es unter anderem den Bereich der Weubewerbspolitik oder die Beseitigung der Steuergrenzen mit umfasse. 2o In diesem Sinne könnte die neue Zielsetzung des Binnenmarktkonzepts nur dahingehend verstanden werden, daß damit die Realisierung der mit der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes bestehenden Zielsetzung angestrebt wird?l Zudem ergebe sich dies auch aus dem in beiden Absätzen des Art. 14 [ex-Art. 7 a] EGV vorhandenen Vorbehalts "unbeschadet/gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages". Dieser Bezugnahme komme die Bedeutung zu, im Rahmen des EG-Vertrages die ursprünglichen Zielsetzungen des Vertrages aufrechtzuerhalten, so daß der Begriff des Binnenmarktes in dem Konzept des Gemeinsamen Marktes aufgehe. 22 2. Erweiterungsthese
Nach anderer Ansicht geht der Begriff des Binnenmarktes über den des Gemeinsamen Marktes hinaus?3 Begründet wird diese Ansicht insbesondere mit der oben zitierten Urteilspassage des EuGH im Fall "Gaston Schul", in der der Gemeinsame Markt als ein Markt definiert wird, "dessen Bedingungen demjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahekommen".24 Aus dieser Umschreibung des Gemeinsamen Marktes folge, daß der Begriff des Binnenmarktes selbst wesentlich weiter gehe. 25 Auch zeige bereits die wörtliche Interpretation der Begriffe, daß ein Binnenmarkt eine qualitativ höhere Integrationsdichte als ein lediglich Gemeinsamer \8 Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 8 a Rn. 3; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2127; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 12; nicht ganz eindeutig indes Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 23, wonach der sachliche Bereich des Binnenmarktes und der des Gemeinsamen Marktes sich im wesentlichen decken. \9 Dok. KOM (85) 3lO endg. 20 Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 8 a Rn. 3; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 23 .. 2\ Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 8 a Rn. 3. 22 Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 8 a Rn. 3. 23 Schröer, EuR 1991, S. 356 ff. (357); Müller-Graff, EuR 1989, S. lO7 ff. (125); Montag, RIW 1987, S. 935 ff. (940); Pemice, NVwZ 1990, S. 201 ff. (204 f.); Bardenhewer/Pipkom, in: G/T/E, EGV, Art. 7 a Rn. lO; Grabitz, Integration 1986, S. 95 ff. (98 f.), nunmehr aufgegeben von Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 8 a Rn. 3. 24 Hervorhebung des Verfassers. 2S Montag, RIW 1987, S. 935 ff. (940); Müller-Graff, EuR 1989, S. lO7 ff. (125).
24
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
Markt aufweise. 26 Das Vertragsziel Binnenmarkt sei somit erst dann verwirklicht, wenn alle Handelsbarrieren, insbesondere auch alle Grenzkontrollen, abgebaut seien. 27 3. Einschränkungsthese
Eine dritte Auffassung geht demgegenüber von einem engeren Begriffsverständnis des Binnenmarktes im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt aus. 28 Sie stützt sich dabei vor allem auf die Legaldefinition des Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGV, der im Verhältnis zum Programm des Gemeinsamen Marktes nur einen Ausschnitt darstelle. 29 4. Gemischte Erweiterungs- und Einschränkungsthese
Ebenfalls in der Literatur vertreten wird die Ansicht, daß der Binnenmarkt im Verhältnis zum Gemeinsamen Markt einerseits enger, andererseits aber auch weiter sei. Enger sei der Binnenmarkt, weil er sich auf den Innenbereich der Gemeinschaft beschränke, weiter jedoch insofern, als er im Gegensatz zum Gemeinsamen Markt auf die vollständige Binnengrenzüberwindung abziele. 30 5. Stellungnahme
Daß die Begriffe des Gemeinsamen Marktes und des Binnenmarktes nicht, wie dieses die Vertreter der Identitätsthese annehmen, identisch sein können, zeigt bereits Art. 15 [ex-Art. 7 c] EGV, in dem beide Begriffe nebeneinander mit unterschiedlichem Bezug erwähnt werden. 31 Ein Begriffsverständnis, das den Binnenmarkt lediglich als Teilsegment des umfassenderen Gemeinsamen Marktes versteht, wird nicht bereits durch Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGV zwingend vorgegeben. Die Formulierung "gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages" läßt zumindest den Schluß zu, daß es sich bei dieser Bestimmung nicht um eine abschließende LegalSchröer, EuR 1991, S. 356 ff. (357). Schröer, EuR 1991, S. 356 ff. (357); Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 ff. (125). 28 Streinz, Europarecht, Rn. 953; Arl, Sozialpolitik, S. 78 ff.; Lenz, in: Lenz, EGV, Art. 14 Rn. 2 f.; Zacker, RIW 1989, S. 489 f.; Hayder, RabelsZ 1989, S. 622 ff. (638 f.); Eyles, Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften, S. 16 f.; Forwood/Clough, ELR 1986, S. 383 ff. (385); Palme, EWS 1991, S. 377 ff. (381); Epiney, JZ 1992, S. 564 ff. (566 f.). 29 Forwood/Clough, ELR 1986, S. 383 ff. (385); Hayder, RabelsZ 1989, S. 622 ff. (638 f.). 30 Klein, in: H/K/M/M-G, EGV, Art. 100 a Rn. 3. 31 Streinz, Europarecht, Rn. 950; Arl, Sozialpolitik, S. 79; Zacker, RIW 1989, S. 489 f. (490). 26 27
B. Ziele der Harmonisierung
25
definition handeln muß. 32 Diese kann demgegenüber aber auch als Begrenzung des Binnenmarktkonzepts dahingehend verstanden werden, daß seine Verwirklichung nicht die übrigen Vertragsbestimmungen und damit auch nicht die über den Gemeinsamen Markt verletzen darf. 33 Folgt man der vom EuGH im Urteil "Gaston Schul" gegebenen Definition des Gemeinsamen Marktes, so wäre dieser in der Tat ein Minus im Vergleich zu dem Begriff des Binnenmarktes. Dennoch kann diese Definition nicht zur Lösung der Auseinandersetzung herangezogen werden, da der EuGH seinen Ausführungen nicht die erst durch die EEA in den EG-Vertrag eingeführten Vertragsbestimmungen zugrunde legen konnte und zudem auch davon auszugehen ist, daß die Regierungskonferenz bei Schaffung der EEA von einem anderen Begriffsverständnis als der EuGH ausging. Zwar ist es zutreffend, daß die Regierungskonferenz in der Erklärung zu Art. 14 [ex-Art. 7 a] EGV das Weißbuch 34 als Grundlage für die Verwirklichung des Binnenmarktes ansah, und dieses sich auch beispielsweise mit der Wettbewerbs- und Beihilfenpolitik beschäftigt, die nicht ausdrücklich in Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGV genannt werden. Das Weißbuch unterscheidet jedoch in Ziff. 4 selbst zwischen Binnenmarkt und weiterreichendem Gemeinsamen Markt, was auch nochmals in Ziff. 20 zum Ausdruck kommt, in der die vom Begriff des Gemeinsamen Marktes erfaßten Gemeinschaftspolitiken mit dem Binnenmarkt als lediglich eng verknüpft angesehen werden. 35 Diese Differenzierung zwischen Gemeinschaftspolitiken und Binnenmarktbegriff kommt auch in der EEA selbst zum Ausdruck, die in ihrem Titel 11, Kapitel 11, Abschnitt 11 eine deutliche Trennung von Binnenmarktzielsetzung und anderen Gemeinschaftspolitiken vornimmt. 36 Bestätigt wird diese Systematik in Art. 159 [ex-Art. 130 b] Abs. 1 S. 2 EGV durch den EG-Vertrag selbst. Auch das "Titandioxid"-Urteil, in dem der EuGH unverfälschte Wettbewerbsbedingungen nach Art. 2 und 3 [ex-Art. 2 und 3] EGV als konstitutives Merkmal des Binnenmarktes angesehen hae 7 , führt nicht zu einem anderen Verständnis des Verhältnisses Binnenmarkt zu Gemeinsamen Markt. 38 Die Herstellung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs ist So Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 ff. (123 f.). Streinz, Europarecht, Rn. 953. 34 Dok. KOM (85) 310 endg. 35 So auch Zacker, RIW 1989, S. 489 f. (490); Streinz, Europarecht, Rn. 953. 36 Einheitliche Europäische Akte, ABI. 1987, L 169, S. I ff. (7 ff.); vgI. auch Eyles, Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften, S. 17; Zacker, RIW 1989, S. 489 f. (490). 37 EuGH, Urteil vom 11. 6. 1991, Rs. C-300/89, - Kommission/Rat - Sig. 1991 I, S. 2867 ff. (2899) Rn. 14. 32 33
26
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
gemäß Art. 3 [ex-Art. 3] lit. g) EGVein übergreifendes Ziel, das über die Maßnahmen nach Art. 81 ff. [ex-Art. 85ff.] EGV hinausgeht. Wenn der EuGH dieses als konstitutives Merkmal des Binnenmarktes ansieht, bezieht er damit nicht notwendig die Wettbewerbspolitik in den Binnenmarkt mit ein?9 Schließlich belegt auch das systematische Verhältnis zwischen Art. 94 und 95 [ex-Art. 100 und 100 a] EGV das gefundene Ergebnis. Gemäß Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 1 EGV gilt für Harmonisierungsmaßnahmen zur Verwirklichung der Ziele des Art. 14 [ex-Art. 7 a] EGV in Abweichung von Art. 94 [ex-Art. 100] EGV das Verfahren nach Art. 95 [exArt. 100 a] EGV. Der Hinweis auf Art. 94 [ex-Art. 100] EGV macht deutlich, daß die genannten Harmonisierungsmaßnahmen ohne die Einführung des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV dem Art. 94 [ex-Art. 100] EGV unterfallen würden. Da Art. 94 [ex-Art. 100] EGV jedoch nicht einfach revidiert wurde, sondern weiter neben Art. 95 [ex-Art. 100 a] anwendbar bleibt, muß es somit über die Elemente des Binnenmarktes hinaus Materien geben, die dem Gemeinsamen Markt unterfallen. 40 Zusammenfassend ist somit festzuhalten, daß der Begriff des Binnenmarktes ausschließlich die Materien umfaßt, die Art. 14 [ex-Art. 7 a] Abs. 2 EGV aufzählt. Damit ist der Gegenstandsbereich des Gemeinsamen Marktes weit größer. Das Binnenmarktkonzept und die im Weißbuch überwiegend sehr präzise formulierten Maßnahmen konkretisieren einzelne Elemente des Gemeinsamen Marktes, um auf den Gebieten der Grundfreiheiten ein höheres Integrationsniveau zu erreichen. Hintergrund hierfür war, daß die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes insbesondere hinsichtlich der Grundfreiheiten bis Mitte der achtziger Jahre nur sehr schleppend vorankam. 41
c. Rechtsgrundlagen der Harmonisierung Die Harmonisierungstätigkeit der Gemeinschaftsorgane beruht gemäß Art. 5 [ex-Art. 3 b] Abs. 1 EGV auf dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung. Dieses Prinzip erlaubt den Gemeinschaftsorganen nur dann den Erlaß von Harmonisierungsakten, wenn ihre Kompetenz hierzu durch eine Bestimmung im EG-Vertrag vorgesehen ist. 42 Nachfolgend werden die 38 So aber Schröer, EuR 1991, S. 356 ff. (357); Nettesheim, Jura 1994, S. 337 ff. (339). 39 Streinz, Europarecht, Rn. 953. 40 Epiney, JZ 1992, S. 564 ff. (566 f.); Zacker, RIW 1989, S. 489 f. (490). 41 Arl, Sozialpolitik, S. 80; Zacker, RIW 1989, S. 489 f. (490). 42 Streinz, Europarecht, Rn. 436; näher zu Art. 5 [ex-Art. 3 b] Abs. 1 EGV siehe Teil 2, F. I.
c. Rechtsgrundlagen der Harmonisierung
27
wesentlichen Rechtsgrundlagen für eine Harmonisierung auf der Basis des EG-Vertrages dargestellt. Hierbei beziehen sich die verschiedenen Harmonisierungskompetenzen inhaltlich entweder auf Teilaspekte der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes oder aber betreffen generalklauselartig wie Art. 94 [ex-Art. 100] EGV die Gesamtheit dieser Ziele. I. Art. 94 [ex-Art. 100] EGV
Wie sich aus Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 1 EGV ergibt, bleibt Art. 94 [ex-Art. 100] EGV auch nach Einführung des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV durch die EEA als allgemeine Rechtsgrundlage der Harmonisierung bestehen. Gemäß Art. 94 [ex-Art. 100] EGVerläßt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Gegenstand der Rechtsangleichung auf Grundlage von Art. 94 [exArt. 100] EGV sind grundsätzlich alle Normen des nationalen Rechts, die den jeweils betroffenen Bereich regeln, also neben Gesetzen, Rechtsverordnungen und dem Gewohnheitsrecht etwa auch interne Verwaltungsanweisungen und die Verwaltungspraxis. 43 Nicht erforderlich für ein Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane ist hierbei, daß in jedem Mitgliedstaat betreffende Rechtsvorschriften bestehen. 44 Bedingung und gleichzeitig Grenze für die Anwendung von Art. 94 [exArt. 100] EGV ist, daß die anzugleichenden Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten "sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken,,45. Das Kriterium der Unmittelbarkeit ist hierbei nicht im Sinne eines strikten Kausalzusammenhangs zu verstehen, bei dem zwischen Ursache und Wirkung kein weiteres Element treten darf. 46 Entscheidend ist nach weit überwiegend in der Literatur vertretener Meinung vielmehr das Vorliegen eines von den nationalen Vorschriften ausgehenden negativen Effekts mit einer gewissen Sachnähe und Intensität der Auswirkung auf den Gemeinsamen Markt. 47 43 Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 94 Rn. 4; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 15 ff. 44 Siehe oben, Teil 2, A. 45 Hervorhebung des Verfassers. 46 So aber Behrens, Rechtsgrundlagen der Umweltpolitik, S. 240. 47 Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 32; Taschner, in: G/T/E, EGV Art. 100 Rn. 36, Fn. 79; Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 94, Rn. 12; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2119.
28
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
Der EuGH hat in zwei Urteilen zu nationalen Umweltbestimmungen ausgeführt, daß diese die von ihnen betroffenen Unternehmen belasten und damit geeignet seien, sich spürbar auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auszuwirken. 48 Insofern ersetzt der EuGH das Merkmal der Unmittelbarkeit durch das der "Spürbarkeit".49 Für den Erlaß von Angleichungsmaßnahmen ist hierbei eine aktuelle Beeinträchtigung nicht erforderlich. Ausreichend ist vielmehr, daß Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten geeignet sind, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen. 50 Aufgrund der Schwierigkeit, allgemeingültige Kriterien für das Vorliegen einer "unmittelbaren Auswirkung" zu finden, läßt sich eine diesbezügliche Feststellung letztlich nur im Einzelfall unter Zugrundelegung der Bedeutung der betreffenden Materie für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und des jeweils erreichten Integrationsstandes treffen. 51 Art. 94 [ex-Art. 100] EGV hat damit einen sehr weiten Anwendungsbereich, der den Gemeinschaftsorganen einen weiten, durch den EuGH nur begrenzt nachprüfbaren Ermessensspielraum bei der Bewertung der nach dem jeweiligen Integrationsstand gebotenen Angleichungsziele beläßt. 52 ß. Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV
Aufgrund der von Art. 94 [ex-Art. 100] EGV geforderten Einstimmigkeit im Rat bei Erlaß von Harmonisierungsakten wurde der Harmonisierungsprozeß erheblich verzögert; zudem wurden die Gemeinschaftsorgane in ihrer Aufgabe behindert, die Gemeinschaftsrechtsakte schnell und flexibel an neuartige Anforderungen und Erkenntnisse anzupassen. Aus diesem Grunde wurde die generelle Rechtsangleichungskompetenz nach Art. 94 [ex-Art. 100] EGV mit Inkrafttreten der EEA am 1. Juli 1987 um Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGVergänzt, der es dem Rat nunmehr ermöglicht, unter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit zu erlassen. 53 48 EuGH, Urteil vom 18. 3. 1980, Rs. 91/79 - Kommission/Italien - Sig. 1980, S. 1099 ff. (1106) Rn. 8; EuGH, Urteil vom 18. 3. 1980, Rs. 92/79 - Kommission/ Italien - Sig. 1980, S. 1115 ff. (1122) Rn. 8; Hervorhebung des Verfassers. 49 So auch BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 385; Oppermann, Europarecht, Rn. 1072. 50 EuGH, Urteil vom 16. 12. 1976, Rs. 33/76 - Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland - Sig. 1976, S. 1989 ff. (1998) Rn. 5. 51 Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 34. 52 Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 36; BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 385. 53 BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 387; Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 95 Rn. 1.
c. Rechtsgrundlagen der Harmonisierung
29
1. Anwendungsbereich
Nach Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV erläßt der Rat "gemäß dem Verfahren des Artikels 189 b und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben". Hieraus wie aus Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 1 EGV folgt, daß es sich bei Art. 95 [exArt. 100 a] EGV um eine Sonderbestimmung zur Vollendung des Binnenmarktes zum 31. 12. 1992 handelt. Diesem Zieldatum kommt jedoch keine rechtliche Verbindlichkeit zu, so daß Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV auch mit Ablauf dieses Zeitpunktes noch als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden kann. 54 Der sachliche Anwendungsbereich des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV ergibt sich aus der Reichweite des Binnenmarktbegriffs nach Art. 14 [exArt. 7 a] Abs. 2 EGV 55 , abzüglich der speziellen Vorschriften für diesen Bereich, denen sich Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 1 EGV für subsidiär erklärt. 56 Eine weitere Einschränkung erfahrt Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV durch die Bestimmung des Abs. 2, der seine Anwendung auf dem Gebiet der Steuern, der Freizügigkeit sowie der Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ausschließt. Hieraus folgt, daß der Anwendungsbereich des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV im wesentlichen den Bereich des freien Warenverkehrs erfaßt. 57 Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV gibt des weiteren für den Inhalt der auf seiner Grundlage zu erlassenden Harmonisierungsakte gewisse Leitlinien. Die Kommission wird durch Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 3 EGV verpflichtet, in ihren Vorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohem Schutzniveau auszugehen und hat hierbei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen. Gemäß Art. 95 Abs. 3 S. 2 streben das Europäische Parlament und der Rat dieses Ziel ebenfalls an. Nach Art. 95 Abs. 10 [ex-Art. 100 a Abs. 5] EGV sind die Harmonisierungsmaßnahmen ferner in geeigneten Fällen mit Schutzklauseln zu versehen, die die Mitgliedstaaten zum Schutze der in Art. 30 [ex-Art. 36] EGV genannten nichtwirtschaftlichen Gründe zu vorläufigen Maßnahmen ermächtigen. 54 Streinz, Europarecht, Rn. 961; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2139; Langeheine, in: Orabitz, EOV, Art. 100 a Rn. 10. 55 Siehe hierzu oben, Teil 2, B. 11. 56 Zu diesen Vorschriften im Einzelnen vgl. Bardenhewer/Pipkom, in: O/T/E, EOV, Art. 100 a Rn. 47; Langeheine; in: Orabitz, EOV, Art. 100 a Rn. 15. 5? Everling, in: FS für Steindorff, S. 1168; Langeheine, EuR 1988, S. 235 ff. (240); Ahlt, Europarecht, S. 128; Streinz, Europarecht, Rn. 960.
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
30
2. "Nationaler Alleingang" eines Mitgliedstaats
Die Bestimmung des Art. 100 a Abs. 4 EGV a. F. warf wegen ihrer wenig geglückten Formulierung Streitfragen auf, die nunmehr durch deren Überarbeitung im Rahmen des Amsterdamer Vertrages geklärt werden sollten. Nach Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 4 EGV kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen trotz einer erfolgten Harmonisierung nach Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 EGV strengere nationale Vorschriften beibehalten bzw. nach Art. 95 Abs. 5 EGVeinführen. Gemeinschaftsrechtsakte nach Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV haben so im Gegensatz zu Richtlinien nach Art. 94 [ex-Art. 100] EGV keine generelle Sperrwirkung. Die Möglichkeit eines solchen nationalen Alleingangs ist als Ausgleich dafür eingeführt worden, daß Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV im Gegensatz zu Art. 94 [ex-Art. 100] EGVein erleichtertes Beschlußverfahren enthält. 58 Art. 100 a Abs. 4 UAbs. 1 EGV a.F. setzte voraus, daß "der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat". Wegen dieses Wortlauts wurde teilweise angenommen, daß eine Inanspruchnahme von Art. 100 a Abs. 4 EGV a. F. in Bezug auf einen einstimmig beschlossenen Harmonisierungsakt ausscheide. 59 Zudem wurde überwiegend im Hinblick auf einen qualifizierten Mehrheitsbeschluß gefordert, daß der betreffende Staat entweder selbst gegen den Rechtsakt gestimmt oder sich zumindest der Stimme enthalten haben muß, da er sich andernfalls widersprüchlich verhalten würde. 60 Art. 95 [ex-Art.100 a] Abs. 4 EGV knüpft die Berufung auf diese Bestimmung nun nicht mehr daran, daß die Harmonisierungsmaßnahme vom Rat mit "qualifizierter Mehrheit" erlassen wurde, sondern lediglich an den Erlaß dieser Maßnahme durch Rat oder Kommission. Damit wird die vorgenannte Streitfrage hinfällig. 61 Weiterhin war umstritten, ob Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 4 EGV nur die Anwendung bereits bestehender nationaler Regelungen oder auch abweichende Maßnahmen nach Erlaß des Harmonisierungsaktes zuließ. Diese Frage wird nunmehr durch Art. 95 EGV n. F. ausdrücklich und differenzierend entschieden: Unter den Voraussetzungen des Art. 95 Abs. 4 EGV n. F. dürfen nur bestehende Maßnahmen von den Mitgliedstaaten beibehalten werden; der Erlaß neuer oder erweiterter nationaler Regelungen wird Streinz, Europarecht, Rn. 964; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2134. Langeheine, EuR 1988, S. 235 ff. (246); ders., in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 58; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2135; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rn. 1244; Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 95 Rn. 9. 60 Bardenhewer/Pipkorn, in: G/T/E, EGV, Art. 100 a Rn. 107 f.; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 62 f.; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2136. 61 Streinz, Europarecht, Rn. 965. S8
S9
C. Rechtsgrundlagen der Harrnonisierung
31
gemäß Art. 95 Abs. 5 EGV n. F. davon abhängig gemacht, daß dieser auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sein und auf einem spezifischen Problem für den bereffenden Mitgliedstaat beruhen muß, das sich nach dem Erlaß der Hannonisierungsmaßnahme ergibt. Im Hinblick auf die Beibehaltung nationaler Vorschriften durch die Mitgliedstaaten läßt Art. 95 Abs. 4 EGV n. F. lediglich eng begrenzte Abweichungen zu, die ein höheres Schutzniveau als der Gemeinschaftsrechtsakt beinhalten und dieses nach dem klaren Wortlaut auch nur, wenn diese durch wichtige Erfordernisse i.S.d. Art. 30 [ex-Art. 36] EGVoder in Bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind. 62 Eine zeitliche Grenze für die Anwendung vom Gemeinschaftsrechtsakt abweichender nationaler Maßnahmen existiert nicht. 63 Nach Art. 95 Abs. 6 [ex-Art. 100 a Abs. 4] UAbs. I EGV beschließt die Kommission die abweichende nationale Sonderregelung zu billigen oder abzulehnen, nachdem sie sich vergewissert hat, ob diese ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellt oder ob diese das Funktionieren des Binnenmarktes behindert. Trifft die Kommission innerhalb dieses Zeitraums keine Entscheidung, so gelten die einzelstaatlichen Bestimmungen gemäß Art. 95 Abs. 6 UAbs. 2 EGV n. F. als gebilligt. Lange umstritten war diesbezüglich die Frage, ob ein Mitgliedstaat die nationalen Sonderregelungen bereits vor der Bestätigung durch die Kommission anwenden durfte. Der EuGH hatte bereits bezüglich der bisherigen Regelung entschieden, daß ein Mitgliedstaat erst dann befugt ist, die der Kommission mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen anzuwenden, wenn er von der Kommission eine Entscheidung über ihre Bestätigung erhalten hat. 64 Durch die Formulierung in Art. 95 Abs. 6 UAbs. 2 EGV ist nunmehr klargestellt, daß die Bestätigung durch die Kommission als echter Genehmigungsvorbehalt zu verstehen ist. 65 62 Vgl. hierzu auch Streinz, Europarecht, Rn. 968; Langeheine. in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 68-73. Keine Rechtfertigungsgründe für nationale Sonderregelungen bilden somit insbesondere der Verbraucherschutz und die Lauterkeit des Handelsverkehrs, die der EuGH im Rahmen seiner "Cassis"-Rechtsprechung entwickelt hat, vgl. zu letzterer: EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979, Rs. 120178 - Rewe/Bundesmonopol verwaltung für Branntwein - Slg. 1979, S. 649 ff. (662) Rn. 8. 63 Bardenhewer/Pipkom. in: G/T/E, EGV, Art. 100 a Rn. 126; Langeheine. in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 67. 64 EuGH. Urteil vom 17. 5. 1994, Rs. 41/93 - Französische Republik/Kommission - Slg. 1994 I, S. 1829 ff. (1849) Rn. 28-30. 65 Langeheine, EuR 1988, S. 235 ff. (253); ders., in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 83; nunmehr auch Streinz, Europarecht, Rn. 969; a. A. bzgl. der alten Rechtslage: Hailbronner, EuGRZ 1989, S. 101 ff. (120 f.); Jarass, EuZW 1991, S. 530 ff. (533).
32
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
Die Verweigerung der Bestätigung kann als Entscheidung der Kommission durch den betroffenen Mitgliedstaat nach Art. 230 [ex-Art. ·173] Abs. 2 EGV angefochten werden. 66 Gleiches gilt auch hinsichtlich der Anfechtung der an einen Mitgliedstaat erteilten Bestätigung durch einen anderen Mitgliedstaat. 67 Im übrigen können die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten gemäß Art. 95 Abs. 9 [ex-Art. 100 a Abs. 4 UAbs. 3] EGV den EuGH unmittelbar anrufen, wenn sie der Auffassung sind, daß ein Mitgliedstaat die ihm in Art. 100a Abs. 4 EGV eingeräumten Befugnisse mißbraucht. Gemäß den durch den Amsterdamer Vertrag neu eingeführten Bestimmungen in Art. 95 Abs. 7 und 8 EGV n. F. kann die Kommission ihrerseits im Interesse einer Gemeinschaftsregelung Anpassungen des Harmonisierungsaktes vorschlagen, die auf einer von ihr gestatteten einzel staatlichen Maßnahme basieren. Hierdurch wird auch primärrechtlich die Bedeutung von nationalen Sonderregelungen als Impulsgeber für die Fortentwicklung des sekundären Gemeinschaftsrechts anerkannt. III. Art. 100 b EGV a.F.
Art. 100 b Abs. 1 UAbs. 1 i. V.m. Abs. 3 EGV a.F. sah für das Jahr 1992 eine Bestandsaufnahme der noch nicht angeglichenen nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften durch die Kommission vor, die für die Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlich sind. Gemäß Art. 100 b Abs. 1 UAbs. 2 EGV a. F. konnte der Rat sodann eine gegenseitige Anerkennung dieser nationalen Normen nach Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV beschließen. Sinn und Zweck der Aufnahme des Art. 100 b in den EG-Vertrag durch die EEA war, im Anwendungsbereich des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV, in dem bis zum 31. 12. 1992 die Harmonisierung trotz anerkannten Bedürfnisses dazu nicht gelungen war, durch gegenseitige Anerkennung den Binnenmarkt herzustellen. 68 Das Konzept des Art. 100 b EGV a. F. ist gescheitert, weshalb die Vorschrift durch den Amsterdamer Vertrag ersatzlos gestrichen wurde. Zu einem Beschluß des Rates nach Art. 100 b Abs. 1 UAbs. 2 EGV a.F. ist es nie gekommen. 69 Der Grund hierfür ist darin zu sehen, daß, wenn die HarStreinz, Europarecht, Rn. 970. EuGH, Urteil vom 17.5. 1994, Rs. C-41/93 - Französische Republik/Kommission - Sig. 1994 I, S. 1829 ff. (1843) Rn. I. 68 Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2141; ausführlich zu den Voraussetzungen der Vorschrift: Beyer, Rechtsnonnanerkennung, S. 94 ff. 69 Rappe, in: Coen/Hölscheidt/Pieper, Europa '93, S. 119; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 b Rn. 5. 66
67
C. Rechtsgrundlagen der Harrnonisierung
33
monlSlerung durch die "Neue Strategie" ohnehin auf das Unerläßliche beschränkt wurde 7o, Mitgliedstaaten, die sich wegen zu großer Gegensätze in ihren Rechtsordnungen auf einen gemeinschaftlichen Nenner im Rahmen des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV im Rat nicht einigen konnten, ebensowenig ihre unterschiedlichen Rechtsordnungen als gleichwertig anerkennen. 71 Dieses kommt auch in den Schlußfolgerungen der Kommission aus der Erfassung noch bestehender Handelshemmnisse nach Art. 100 b EGV72 zum Ausdruck. Wie sich insbesondere aus dem Anhang zu dieser Mitteilung ergibt, war der Enthusiasmus der Mitgliedstaaten für eine Mitarbeit an der vollständigen Erfassung der Hindernisse für den freien Warenverkehr eher gedämpft. 73 Die von der Kommission aufgestellte Übersicht sollte "daher nur einen Eindruck darüber vermitteln, welche Hemmnisse von den Mitgliedstaaten in den Jahren 1990 bis 1992 festgestellt wurden ( ... )".74 Als Konsequenz hieraus wurde die Entscheidung Nr. 3052/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 12. 1995 zur Einführung eines Verfahrens der gegenseitigen Unterrichtung über einzelstaatliche Maßnahmen, die vom Grundsatz des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft abweichen75, erlassen. Hiernach trifft die Mitgliedstaaten hinsichtlich der von der Entscheidung erfaßten handelshemmenden Maßnahmen eine Informationspflicht gegenüber der Kommission, die diese Informationen unter Beachtung etwaiger Geheimhaltungsvorschriften den anderen Mitgliedstaaten mitteilt. Durch diese Informationspflicht der Mitgliedstaaten wird die Erlangung einer besseren Kenntnis der Durchführung des freien Warenverkehrs in den nichtharmonisierten Bereichen und die Ermittlung der aufgetretenen Probleme bezweckt, um dafür sachgerechte Lösungen zu finden?6 IV. Besondere Harmonisierungsvorschriften
Neben den genannten Vorschriften für eine Harmonisierung enthält der EG-Vertrag noch eine Reihe weiterer besonderer Ermächtigungsgrundlagen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Art. 27 a. F. (Zollrecht), Art. 37 Zur "Neuen Strategie" siehe unten, Teil 4. Streinz, Europarecht, Rn. 975. 72 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über "Handhabung der gegenseitigen Anerkennung einzelstaatlicher Vorschriften nach 1992. Schlußfolgerungen aus der Erfassung noch bestehender Handelshemmnisse nach Art. 100 bEG-Vertrag", ABI. 1993, C 353, S. 4 ff. 73 VgI. zu dieser Einschätzung auch Streinz, Europarecht, Rn. 975; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 b Rn. 4. 74 ABI. 1993, C 353, S. 4 ff. (9); Hervorhebung des Verfassers. 75 ABI. 1995, L 321, S. 1 ff. 76 5. Erwägungsgrund der Entscheidung Nr. 3052/95/EG, ABI. 1995, L 321, S. 1 ff. (1). 70 71
3 Wagner
34
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
[ex-Art. 43] (Landwirtschaft), Art. 40 [ex-Art. 49] (Freizügigkeit), Art. 44 Abs. 2 [ex-Art. 54 Abs. 3] lit. g), 46 [ex-Art. 56] Abs. 2, 47 [ex-Art. 57] (Niederlassungsrecht), Art. 55 [ex-Art. 66] (Dienstleistungsrecht), Art. 69, 70 je a. F. (Kapitalverkehr), Art. 61ff. n. F. (Visa, Asyl und Einwanderungspolitik), Art. 71 [ex-Art. 75] (Verkehr), Art. 93 [ex-Art. 99] (Harmonisierung der indirekten Steuern), Art. 96, 97 [ex-Art. 101, 102] (wettbewerbsverzerrende Vorschriften), Art. 133 [ex-Art. 113] (Handel), Art. 137 [exArt. 118 a] (Sozialpolitik), Art. 153 [ex-Art. 129 a] (Verbraucherschutz), Art.156 i.V.m. 155 [ex-Art. 129 d i.V.m. 129 c] (transeuropäische Netze) sowie Art. 175 [ex-Art. 130 s] (Umweltpolitik). In ihren tatbestandlichen Voraussetzungen, ihrer Reichweite und ihrem Verhältnis zu anderen Ermächtigungsgrundlagen stark umstritten ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des Art. 308 [ex-Art. 235] EGV. 77 Sie kann für "unvorhergesehene Fälle", d. h. bei Fallgestaltungen, bei denen die vorn EG-Vertrag vorgesehenen allgemeinen und besonderen Ermächtigungsgrundlagen zur Realisierung der Vertragsziele nicht ausreichen, herangezogen werden. In der Praxis wurde beispielsweise die Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vorn 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV)78 vor dem Inkrafttreten des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV auf Art. 308 [ex-Art. 235] EGV gestützt, da sich das in Art. 44 Abs. 2 [ex-Art. 54 Abs. 3] lit. g), 100 [exArt. 94] EGV allein vorgesehene Instrument der Richtlinie hierfür nicht eignete. 79 Das völkerrechtliche Mittel des Staatsvertrags gemäß Art. 293 [exArt. 220] EGV wird vorn EG-Vertrag als subsidiäre Ergänzung der übrigen Ermächtigungsgrundlagen zur Harmonisierung betrachtet. 8o Art. 293 [exArt. 220] EGV nennt abschließend vier Bereiche, auf die sich die Verhandlungspflicht der Mitgliedstaaten bezieht. 81 Gesetzgebungsorgane sind hierbei unmittelbar die Mitgliedstaaten nach den Regelungen ihrer Verfassungen für völkerrechtliche Verträge. 82 Die EG-Kommission unterstützt die Mitgliedstaaten nur dahingehend, daß in der Regel für Übereinkommen auf VgI. hierzu allgemein: Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 235. ABI. 1985, L 199, S. I ff. 79 Der Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, ABI. 1989, C 263, S. 41 ff. in der Form des geänderten Vorschlags in ABI. 1991, C 176, S. I ff. erfolgte hingegen nunmehr auf der Grundlage des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV. 80 Schweitzer, in: Grabitz, EGV, Art. 220 Rn. 2; Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 293 Rn. 3. 81 Schwanz, in: GITIE, EGV, Art. 220 Rn. 58 ff. 82 Schwartz. in: G/T/E, EGV. Art. 220 Rn. 4; Lutter, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 25 f. 77
78
D. Rechtsinstrumente der Hannonisierung
35
Grundlage des Art. 293 [ex-Art. 220] EGV bei der Kommission eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung des Vertragstextes gebildet wird, der vor allem Vertreter der Mitgliedstaaten, aber auch Mitarbeiter der Kommission angehören. 83 Die Übereinkommen gehören nicht unmittelbar zum Gemeinschaftsrecht und können durch spätere Gemeinschaftsrechtsakte verdrängt werden. 84 Ein Beispiel für einen solchen Staatsvertrag bildet das auf der Grundlage des Art. 293 [ex-Art. 220] Spstr. 3 EGV geschlossene Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen vom 29. 2. 1968. 85 Eine Berufung auf dieses Übereinkommen ist jedoch nicht möglich, da dieses vom Parlament der Niederlande nicht ratifiziert worden ist und daher heute als gescheitert gilt. 86 An diesem Beispiel läßt sich bereits erkennen, daß der Staatsvertrag im Rahmen der Rechtsangleichung im Vergleich zu anderen Rechtsinstrumenten ein weniger effektives Mittel ist und aufgrund der abschließenden Fassung des Art. 293 [exArt. 220] EGV keine bedeutende Rolle spielt. Dieses liegt in erster Linie darin begründet, daß die Mitwirkung und Zustimmung aller nationalen Parlamente nur in seltenen Fällen zu erreichen ist.
D. Rechtsinstrumente der Harmonisierung Der EG-Vertrag sieht folgende Rechtsinstrumente zur Harmonisierung vor: 1. Verordnungen (Art. 249 [ex-Art.189] Abs. 1 L V.m. Abs. 2 EGV), 2. Richtlinien (Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 EGV), 3. Entscheidungen (Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. I LV. m. Abs. 4 EGV), 4. Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 1 LV.m. Abs. 5 EGV). Während beispielsweise die Ermächtigungsgrundlagen der Art. 47 [exArt. 57] Abs. 2 und 94 [ex-Art. 100] EGV den Gemeinschaftsorganen ausdrücklich nur das Instrument der Richtlinie zur Verfügung stellen, eröffnen die Ermächtigungsgrundlagen der Art. 93 [ex-Art. 99] EGV im Bereich der indirekten Steuern und Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV im Bereich des Binnenmarktes das gesamte Spektrum an Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts bis auf den Abschluß von Übereinkommen. 87
83
84 85
86 3'
Lutter, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 25 f. B/B/PlS, Die Europäische Union, S. 203. BGBL 1972 11, S. 369/370. Schwartz, in: G/T/E, EGV, Art. 220 Rn. 93.
36
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
I. Verordnungen
Gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 2 EGV haben Verordnungen allgemeine Geltung, sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Allgemeine Geltung bedeutet, daß Verordnungen eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten generell und abstrakt regeln und somit Rechtssatzqualität haben. 88 Verordnungen entfalten ihre Rechtswirkungen unmittelbar, also ohne jede Mitwirkung der Rechtssetzungsorgane der Mitgliedstaaten. 89 Nur die Gemeinschaftsorgane können das durch die Verordnung gesetzte Recht aufheben oder abändern. Die durch eine Verordnung getroffenen Regelungen begründen Rechte und Pflichten nicht nur für die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, sondern für jeden einzelnen, der von ihrem Tatbestand erfaßt wird. 9o Deutsche Gerichte und Verwaltungsbehörden haben Verordnungen so unmittelbar selbst anzuwenden und entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung zu lassen. 91 Das Rechtsinstrument der Verordnung führt so zu einem weitgehenden Souveränitätsverlust der nationalen Parlamente, hat allerdings vice versa für den europäischen Gesetzgeber den Vorteil, daß sie sofort nach ihrer Veröffentlichung angewendet werden kann. Hingegen ist die Umsetzung einer Richtlinie oftmals ein äußerst langwieriges Verfahren. Demgegenüber eignet sich die Richtlinie besser als die Verordnung zu einer flexibleren Anpassung einer gemeinschaftlichen Regelung durch mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt an die besonderen Verhältnisse in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Aus diesem Grunde heißt es in der von der Regierungskonferenz angenommenen Erklärung zu Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV, daß die Kommission bei ihren Vorschlägen nach Art. 95 ,[ex-Art. 100 a] Abs. I EGV der Rechtsform der Richtlinie den Vorzug geben wird, wenn die Angleichung in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eine Änderung gesetzlicher Vorschriften erfordert. 92 Der Einsatz von Verordnungen wird jedoch dort zu erwägen sein, wo die bloße Ausrichtung des nationalen 87 Vgl. bzgl. Art. 93 [ex-Art. 99] EGV: Wägenbaur, in: Grabitz, EGV, Art. 99 Rn. 24; Wolffgang, in: Lenz, EGV, Art. 93 Rn. 6; vgl. bzgl. Art. 95 [ex-Art. 100 a] Abs. 1 S. 2 EGV: BardenhewerlPipkom, in: G/T/E, EGV, Art. 100 a Rn. 37; Röttinger, in: Lenz, EGV, Art. 95 Rn. 4. 88 Streinz, Europarecht, Rn. 378; SchweitzerlHummer, Europarecht, Rn. 349. 89 SchweitzerlHummer, Europarecht, Rn. 352; BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 194. 90 Streinz, Europarecht, Rn. 380; Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 409. 91 Streinz, Europarecht, Rn. 380; SchweitzerlHummer, Europarecht, Rn. 355. 92 4. Erklärung zu Art. 100 ades EWG-Vertrags, ABL 1987, L 169, S. 20 ff. (24); zur rechtlichen Einordnung der Erklärung als Orientierungshilfe im Rahmen der Auslegung von Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV vgl. Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 13.
D. Rechtsinstrumente der Harrnonisierung
37
Rechts wegen seiner territorial beschränkten Geltung keine befriedigenden Lösungen ennöglicht oder die territoriale Abschottungswirkung nationaler Rechtsordnungen nur durch gemeinschafts weit einheitlich geltendes Recht überwunden werden kann. 93 Ein Beispiel hierfür bilden die Vorschläge zur Einführung einer Europäischen Aktiengesellschaft kraft Verordnung auf der Grundlage des Art. 95 [ex-Art. 100 a] EGV. 94 11. Richtlinien
Gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen ihm aber die Wahl der Fonn und der Mittel, um die gemeinschaftlich festgesetzten Ziele im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung zu verwirklichen. Hieraus folgt ein zwei stufiges Rechtssetzungsverfahren: 95 Zunächst ergehen Richtlinien auf Gemeinschaftsebene, die nur die Mitgliedstaaten verpflichten. In Erfüllung dieser Pflicht erlassen die Mitgliedstaaten nach den Regeln ihrer Verfassung auf nationaler Ebene Gesetze oder Verordnungen, die den Richtlinieninhalt konkretisieren und für die Behörden, Gerichte und Individuen anwendbar machen. Durch diese Struktur der Richtlinie sollte nach dem Willen der Vertragsverfasser die Souveränität der Mitgliedstaaten geschützt und diesen Spielräume für eigene Entscheidungen belassen werden. 96 Diese Spielräume äußern sich in vielfältiger Weise: Zunächst einmal bestimmt der nationale Gesetzgeber nach den Regeln seines Verfassungsrechts, ob die Umsetzung durch fönnliches Gesetz oder beispielsweise durch eine nationale Verordnung erfolgt. 97 Weiter hat der nationale Gesetzgeber die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Rechtstechniken bei der Umsetzung. So bleibt es den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, ob sie für die auf der Richtlinie beruhenden Änderungen und Ergänzungen Sondergesetze erlassen98 oder ob 93 Langeheine. in: Grabitz, EGV, Art. 100 a Rn. 45; Pipkom, in: G/T/E, EGV, Art. 100 a Rn. 68. 94 Vgl. den Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft, ABI. 1989, C 263, S. 41 ff. in der Form des geänderten Vorschlags, ABI. 1991, C 176, S. 1 ff. 95 BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 195; Grabitz. in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 51. 96 BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 195 f.; Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 417. 97 Grabitz. in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 59; Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 441. 98 Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise bildet die Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (87/ 102/EWG),
38
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
sie die jeweiligen Änderungen und Ergänzungen in die betroffenen Kodifikationen einarbeiten99 • Schließlich bestimmt der nationale Gesetzgeber auch die sprachliche Form der Umsetzung. Er ist nicht etwa gezwungen, die Richtlinienformulierungen wörtlich zu übernehmen, sondern kann diese auch in seine eigene Rechtsterminologie übersetzen, solange sichergestellt ist, daß die Richtlinie voll durchgeführt wird. 100 Der Sinn und Zweck dieser Wahlfreiheit des Instruments der Richtlinie liegt darin, die Mitgliedstaaten in die Lage zu versetzen, das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ergebnis in ihre gewachsene Rechtsordnung zu integrieren, um einen Bruch mit derselben zu vermeiden. Das ist auch der Grund dafür, daß die Richtlinie zum wichtigsten Rechtsangleichungsinstrument der Europäischen Gemeinschaften geworden ist. Nicht verkannt werden darf jedoch, daß die Flexibilität der Richtlinie in eine starre Wirkung umschlagen kann, indem die zu erreichenden Ergebnisse sehr detailliert formuliert werden und je weiter der EuGH Richtlinien die unmittelbare Anwendbarkeit zuerkennt. 101 Die für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit wesentliche Rechtsfolge des Erlasses von Richtlinien ist, daß die aufgrund der Richtlinie angepaßten nationalen Rechtsvorschriften nicht mehr zur unbeschränkten Disposition der Mitgliedstaaten stehen. Die Mitgliedstaaten sind nicht nur zur Anpassung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften an die Vorgaben der jeweiligen Richtlinie verpflichtet, sondern auch bei ihrer künftigen Rechtssetzung an den Inhalt der Richtlinie gebunden. 102 Obwohl die angeglichenen Vorschriften ihre Qualität als nationales Recht nicht verlieren, sind die Mitgliedstaaten nicht mehr zu einer autonomen Änderung befugt, soweit dabei der von der Richtlinie gezogene Rahmen überschritten wird. Dieser Souveränitätsverlust folgt aus dem Sinn und Zweck der Harmonisierung, die ad absurdum geführt werden würde, wenn die Mitgliedstaaten einseitig zur Schaffung neuer Rechtsunterschiede befugt wären. Die Zuständigkeit zur Veränderung und Anpassung des angeglichenen Rechts liegt so allein bei den Gemeinschaftsorganen. ABI. 1987, L 42, S. 48 ff. i.d.F. ABI. 1990, L 61, S. 14 ff., in Form des deutschen Verbraucherkreditgesetzes als Sondergesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch. 99 Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise bildet die Umsetzung der Richtlinie des Rates vorn 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (90/314/EWG), ABI. 1990, L 158, S. 59 ff. in Form der §§ 651 a~51 I BGB, die in das Bürgerliche Gesetzbuch eingearbeitet wurden. \00 Lutter, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 12. 101 Bleckmann. in: Bleckrnann, Europarecht, Rn. 456; zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien allgemein: Streinz. Europarecht, Rn. 398 ff. 102 BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 197; SchweitzerlHummer, Europarecht, Rn. 362.
D. Rechtsinstrumente der Hannonisierungg
39
m. Entscheidungen Gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 4 EGV ist die Entscheidung in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet. Im Unterschied zur Richtlinie können Adressaten der Entscheidung sowohl die einzelnen Mitgliedstaaten, als auch die Marktbürger sein. 103 Vergleichbar mit der Verordnung, ist aufgrund der unmittelbaren Wirkung der Entscheidung kein nationaler Umsetzungsakt mehr erforderlich. I04 Im Unterschied zur Verordnung bezieht sich die Entscheidung jedoch nur auf die Regelung von Einzelflillen, weshalb sie in erster Linie das Instrument für vollziehende Funktionen der Gemeinschaftsorgane darstellt und ihr auf dem Gebiet der Harmonisierung kaum Bedeutung zukommt. 105 IV. Empfehlungen und Stellungnahmen
Als weiteres Instrument der Harmonisierung kommen Empfehlungen der Gemeinschaftsorgane in Betracht. Gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 5 EGV handelt es sich hierbei allerdings lediglich um rechtlich unverbindliche Verlautbarungen. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß an die Abgabe oder Nichtabgabe einer Empfehlung oder Stellungnahme häufig konkrete Rechtsfolgen geknüpft sind. Beispielsweise bestimmt Art. 97 [ex-Art. 102] Abs. 2 EGV, daß, wenn eine gemäß Abs. 1 S. 2 dieses Artikels von der Kommission angesprochene Empfehlung von dem betroffenen Mitgliedstaat nicht befolgt wird, gewisse in Art. 96 [exArt. 101] EGV bezeichnete Maßnahmen zu Lasten der anderen Mitgliedstaaten nicht getroffen werden dürfen. 106 Der EuGH hat des weiteren im Hinblick auf Empfehlungen seitens der Kommission entschieden, daß die nationalen Gerichte diese bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften insbesondere dann zu berücksichtigen haben, wenn sie Aufschluß über die Auslegung von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche nationale Rechtsvorschriften ergänzen sollen. 107 Neben vorgenannten direkten und indirekten Rechtswirkungen liegt die Bedeutung von Empfehlungen und Stellungnahmen für die Rechtsanglei103 Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 458; BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 198. 104 Schmidt, in: G/T/E, EGV, Art. 189 Rn. 45. lOS Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 65; Streinz, Europarecht, Rn. 413. 106 Vgl. weiter: Art. 104 [ex-Art. 104 c] Abs. 7 EGV, Art. 226, 227 [ex-Art. 169, 170] EGV. 107 EuGH, Urteil vom 13.12.1989, Rs. C-322/88 - Grimaldi/Fonds des maladies professionnelles - Sig. 1989 I, S. 4409 ff. (4421) Rn. 18.
40
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
chung in ihren "politisch-psychologischen" Wirkungen kraft der den Gemeinschaftsorganen durch den EG-Vertrag verliehenen Autorität. 108 Deshalb können Empfehlungen im Rahmen der Rechtsangleichung, bevor auf rechtsverbindliche Harmonisierungsakte zurückgegriffen wird, als milderes Mittel an die Mitgliedstaaten gerichtet werden. Ein Beispiel hierfür bildet die Empfehlung der Kommission vom 22. Mai 1990 betreffend die Annahme einer europäischen Liste der Berufskrankheiten, in deren letztem Absatz es heißt: ,,( ... ) Die Kommission wird sodann den Stand der Durchführung der Empfehlung in den einzelnen Mitgliedstaaten feststellen, um die Notwendigkeit, eine Rechtsvorschrift mit verbindlichem Charakter vorzuschlagen, zu prüfen."I09
Für die Stellungnahmen gilt das zu den Empfehlungen Gesagte entsprechend. Ein Unterschied zwischen den beiden Handlungsformen besteht jedoch dahingehend, daß die Empfehlung grundsätzlich ein Tätigwerden des Gemeinschaftsorgans aus eigener Entschlußkraft bezeichnet, während die Stellungnahme auf fremde Initiative hin erfolgt. 1 10 E. Methoden der Harmonisierung I. Problemstellung
In den Bereichen, in denen die Gemeinschaftsorgane rechtsangleichend tätig geworden sind, stellt sich für die Mitgliedstaaten die entscheidende Frage nach dem ihnen verbleibenden nationalen Gestaltungsspielraum. Hinsichtlich der Eröffnung eines solchen Gestaltungsspielraums stehen die Gemeinschaftsorgane hierbei in dem Spannungsverhältnis zwischen Harmonisierungsauftrag und der mehr oder weniger notwendigen Berücksichtigung einzelstaatlicher Eigenheiten oftmals in Form von Rechtstraditionen, die von nationalen rechtspolitischen Vorstellungen getragen werden. Wird den Mitgliedstaaten nach allen Seiten hin Regelungsfreiheit gewährt, kann von Harmonisierung im oben definierten Sinn nicht mehr die Rede sein. Kommt es dagegen auf Gemeinschaftsebene zu einer materiell vereinheitlichenden Regelung, wird der Bruch mit mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen riskiert, was bis zur Nichtbeachtung der gemeinschaftlichen Regelung aufgrund mangelnder Akzeptanz in einzelnen Mitgliedstaaten führen kann. Der Auswahl der Harmonisierungsmethode kommt deshalb im Rahmen der gemeinschaftlichen Harmonisierungspraxis eine entscheidende Bedeutung zu, um die Funktionsfahigkeit der Gemeinschaft sicherzustellen. Grabitz. in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 84. Empfehlung 90/326/EWG, ABI. 1990, L 160, S. 39 ff. 110 BIBIPIS, Die Europäische Union, S. 199; Schmidt. in: G/T/E, EGV, Art. 189 Rn. 46. 108
109
E. Methoden der Harrnonisierung
41
Die Frage nach der Hannonisierungsmethode eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes, d. h. inwieweit eine vollständige oder lediglich eine teilweise Harmonisierung vorliegt, gilt hierbei vorrangig für die Handlungsform der Richtlinie. Grund hierfür ist, daß die Richtlinie anders als eine Verordnung im Sinne von Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 2 EGV, die allgemeine Geltung hat, nur an die Mitgliedstaaten als Adressaten ergehen kann und diesen einen Umsetzungsspielraum zur Schaffung eigenständigen Rechts eröffnet, da sie gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist. Demgegenüber wird durch eine Verordnung im Sinne von Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 2 EGV einheitliches Recht geschaffen, das in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt. Diese unmittelbare Geltung schließt aber grundsätzlich eine Befugnis der Mitgliedstaaten aus, normative Bestimmungen zu erlassen, die die Tragweite der Verordnung selbst berühren. 111 Verordnungen sind so nur in ganz geringem Maße offen für nationale Umsetzungsmaßnahmen. Der mitgliedstaatliche Gestaltungsspielraum bezieht sich hierbei in der Regel nur auf Durchführungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um die durch eine Verordnung getroffenen Gemeinschaftsregelungen zu vollziehen. Dies gilt allerdings nur insoweit, als Durchführungsmaßnahmen unerläßlich sind, d. h. eine Lücke in der gemeinschaftsrechtlichen Regelung besteht und die nationalen Durchführungsvorschriften nicht den Zweck oder die Wirkung haben, die Tragweite der Gemeinschaftsbestimmungen zu ändern. 112 Somit kann im Zusammenhang mit der Handlungsform der Verordnung nicht in gleicher Weise von vollständiger oder teil weiser Hannonisierung gesprochen werden wie bei der Richtlinie. Um den verbleibenden Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bestimmen zu können, ist die Frage nach der Reichweite des durch EG-Verordnungen geschaffenen Rechts allerdings in gleicher Weise wie bei Richtlinien zu stellen. Der den Mitgliedstaaten verbleibende Gestaltungsspielraum wird durch zwei Aspekte der jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Regelung bestimmt l13 : 111 EuGH, Urteil vom 18.2. 1970, Rs. 40/69 - Hauptzollamt Hamburg/Bollmann - Sig. 1970, S. 69 ff. (70), Rn. 2-6; EuGH, Urteil vom 18. 6. 1970, Rs. 74/69 Hauptzollamt Bremen/Krohn - Sig. 1970, S. 451 ff. (459 f.), Rn. 2-6; eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält jedoch bspw. die Verordnung (EWG) Nr. 543/69 des Rates vom 25. März 1969 über die Harrnonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, die in Art. 13 Abs. 1 eine Mindestharrnonisierung vorsieht, ABI. 1969, L 77, S. 49 ff. (53). 112 Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 50; Hetmeier, in: Lenz, EGV, Art. 249 Rn. 7. 113 Einteilung im folgenden in Anlehung an Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 215 ff.; eine andere Einteilung verschiedener Harmonisierungsmethoden, die nicht von den den Mitgliedstaaten verbleibenden Gestaltungsspielräumen ausgeht,
42
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
1. Der Gegenstandsbereich des Rechtsaktes betrifft die durch den Rechtsakt zu regelnde Materie. 2. Die Harmonisierungsintensität bestimmt den Spielraum, den der Rechtsakt den Mitgliedstaaten innerhalb seines Gegenstandsbereichs läßt, das heißt, inwieweit die gemeinschaftlichen Regelungen abschließend sind. Eine dahingehende Unterscheidung kommt teilweise in den Gemeinschaftsrechtsakten selbst zum Ausdruck. So heißt es in Art. 8 der Richtlinie des Rates vom 5. April 1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen: "Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten."1l4
Bevor deshalb die Frage nach dem nationalen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten im Rahmen eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes sinnvoll gestellt werden kann, muß zunächst der Gegenstandsbereich des jeweiligen gemeinschaftlichen Rechtsaktes festgestellt werden. 11. Gegenstandsbereich des Gemeinschaftsrechtsaktes
Harmonisierungsmaßnahmen sind durchweg keine Gesamtkodifikationen, sondern sie regeln immer nur einen mehr oder minder großen Ausschnitt aus einem umfassenderen Regelungskomplex. Entgegen dem EuGH 115 macht die Verwendung des Begriffs der vollständigen Harmonisierung auf der Ebene des Gegenstandsbereichs eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes so wenig Sinn. Voraussetzung hierfür wäre, den hypothetischen Gegenstandsbereich zu bestimmen und danach zu prüfen, ob der betreffende Rechtsakt alle Regelungsaspekte beinhaltet und insofern als abschließend zu bezeichnen ist. sondern sich primär am jeweiligen Inhalt der Richtlinien orientiert, nimmt Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1550 ff. und ders., Rechtsangleichung, S. 61 ff. vor. 114 RL 93113/EWG, ABI. 1993, L 95, S. 29 ff. (32); Hervorhebungen des Verfassers. 115 EuGH, Urteil vom 30. 11. 1983, Rs. 227/82 - Van Bennekom - Slg. 1983, S. 3883 ff., der in den Entscheidungsgründen in Rn. 31 feststellt, daß der Gegenstandsbereich der im Verfahren im Streit stehenden Richtlinie nicht eröffnet ist und dann in Rn. 35 folgert, daß es aus diesem Grund an einer vollständigen Harmonisierung fehle, so daß der Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts (vorliegend Art. 28 ff. [ex-Art. 30 ff.) EGV) eröffnet sei. In Bezug auf den Gegenstandsbereich von Totalhannonisierung und Teilharmonisierung sprechen auch SchmidhuberlHitzler, EuZW 1993, S. 8 ff. (9).
E. Methoden der Harmonisierung
43
Ein gemeinschaftlicher Rechtsakt betrifft jedoch praktisch nie alle möglichen Regelungsaspekte. 116 Dies wird oftmals bereits durch die BeglÜndungserwägungen der Rechtsakte selbst festgestellt. So heißt es zum Beispiel in der 4. BeglÜndungserwägung der Richtlinie des Rates betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über KaffeeExtrakte und Zichorien-Extrakte: "Es ist allerdings nicht möglich, alle Bestimmungen über Lebensmittel, die den Warenverkehr mit Kaffee- und Zichorien-Extrakten behindern könnten, in dieser Richtlinie zu harmonisieren. Jedoch wird sich die Zahl der Hemmnisse, die daher weiter bestehen bleiben, mit der fortschreitenden Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für Lebensmittel nach und nach verringern.,,1l7
Eine Frage des Gegenstandsbereichs eines Rechtsaktes bildet die insbesondere im Bereich des Lebensmittelrechts vorkommende Differenzierung zwischen der horizontalen und vertikalen Harmonisierung. Dem Begriff der vertikalen Harmonisierung werden diejenigen Gemeinschaftsrechtsakte untergeordnet, die sich beispielsweise im Bereich des freien Warenverkehrs im wesentlichen auf die spezifische Zusammensetzung und sonstige produktspezifische Parameter beziehen, während im Rahmen der horizontalen Harmonisierung durch den Gemeinschaftsrechtsakt produktübergreifend für mehrere oder alle Produktgruppen bestimmte Regelungen aufgestellt werdenYs 116 Vgl. hierzu Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 216 ff., der das Beispiel der Lebensmitteletikettierungsrichtlinie (791112/EWG, ABI. 1979, L 33, S. 1 ff. i.d.F. zuletzt RL 931192/EWG, ABI. 1993, L 291, S. 14 ff.) anführt, aus der grundsätzlich ein umfassender Regelungsanspruch für die Kennzeichnung von Lebensmitteln abzuleiten ist. Dennoch enthält die Richtlinie in Art. 4 und Art. 20 Verweise auf besondere Kennzeichnungsvorschriften in Produktrichtlinien, welche entweder weiterhin aufrechterhalten bleiben oder noch zu erlassen sind, sowie in Art. 21 die Einschränkung, daß sie nicht für zur Ausfuhr aus der Gemeinschaft bestimmte Erzeugnisse gilt. 117 Richtlinie 77/436/EWG vom 27. Juni 1977, ABI. 1977, L 172, S. 20 ff. i. d. F. zuletzt RL 851573/EWG, ABI. 1985, L 372, S. 22; vgl. desweiteren die gleichlautende 5. Begründungserwägung der Richtlinie des Rates vom 24. Juli 1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für zur Ernährung bestimmte Kakao- und Schokoladeerzeugnisse (731241/EWG), ABI. 1973, L 228, S. 23 ff. i.d.F. zuletzt RL 89/344/EWG, ABI. 1989, L 142, S. 19. 118 Streinz, ZfRV 1992, S. 362; Nentwich, LebensmiUelrecht, S. 96; Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 61; vgl. auch die dahingehende Differenzierung zwischen horizontalen und vertikalen Regeln in der 3. und 4. Begründungserwägung der Richtlinie des Rates vom 18. Dezember 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (7911121 EWG), ABI. 1979, L 33, S. 1 ff. Ein Beispiel für eine vertikale Harmonisierung bildet die Richtlinie des Rates vom 22. Juli 1974 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend Honig (74/409/EWG), ABI. 1974, L 221, S. 10 ff.; ein Beispiel für eine horizontale Harmonisierung bildet die Richtlinie des
44
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
Ebenfalls zur Ebene des Gegenstandsbereichs gehört die Frage, inwieweit neben dem grenzüberschreitenden Verkehr auch reine Inlandssachverhalte von dem Hannonisierungsakt erfaßt sind. 119 Bezieht sich der Gemeinschaftsakt nur auf den grenzüberschreitenden Verkehr, so wird diese Harmonisierungstechnik teilweise als partielle Hannonisierung bezeichnet. 120 Dieses bringt jedoch lediglich zum Ausdruck, daß der Hannonisierungsakt den Mitgliedstaaten in dem von ihm nicht erfaßten und somit nicht geregelten Bereich Freiräume für nationale Regelungen läßt. 121 Diese Begriffseinteilung knüpft an die mangelnde Unterscheidung zwischen Gegenstandsbereich und Hannonisierungsintensität eines Hannonisierungsaktes an und sollte daher, um Mißverständnisse zu vermeiden, auf der Ebene des Gegenstandsbereiches nicht verwendet werden. 122 Fällt ein Sachverhalt nicht in den Gegenstandsbereich eines Rechtsaktes, so sind entweder andere gemeinschaftliche Rechtsakte oder, wenn solche nicht existieren, die primärrechtlichen Vorschriften einschlägig. 123 Für den Bereich des freien Warenverkehrs kommt dieser Zusammenhang im Urteil des EuGH vom 8. November 1979 in der Rechtssache 251/78 zum Ausdruck l24 : Der EuGH stellte fest, daß die im Streit stehenden Richtlinien den dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt nicht zum Gegenstand hatten (Rn. 15) und trat aus diesem Grunde sodann in die Prüfung am Maßstab von Art. 30 [ex-Art. 36] EGVein (Rn. 21).
Rates vom 18. Dezember 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (791112/EWG), ABI. 1979, L 33, S. 1 ff. i.d.F. zuletzt Richtlinie 931192/EWG, ABI. 1993, L 291, S. 14 ff. 119 Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 218. 120 VgI. Seidel, Rechtsangleichung und Rechtsgestaltung, S. 20 f.; Slot, ELR 1996, S. 378 ff. (384), der von "partial harmonisation" spricht. 121 Als Beispiel für einen solchen Gemeinschaftsrechtsakt vgI. die Richtlinie des Rates vom 6. Dezember 1984 über die Überwachung und Kontrolle - in der Gemeinschaft - der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle (84/6311 EWG), ABI. 1984, L 326, S. 31 ff. 122 So auch Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 225; zum Begriffsinhalt im Rahmen der vorliegenden Arbeit siehe unten, Teil 2, E. III. 2. 123 So zum Beispiel für den Bereich des freien Warenverkehrs: Matthieslvon Borries, in: Grabitz, EGV, Art. 36 Rn. 9; Müller-Graf!, in: G/T/E, EGV, Art. 36 Rn. 14, ohne jedoch zwischen Gegenstandsbereich und Harmonisierungsintensität eines Rechtsaktes zu trennen. 124 EuGH, Urteil vom 8. 11. 1979, Rs. 251/78 - Denkavit/Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes Nordrhein-Westfalen - Slg. 1979, S. 3369 ff.
E. Methoden der Harrnonisierung
45
III. Harmonisierungsintensität des Gemeinschaftsrechtsaktes
Die Hannonisierungsintensität bestimmt den Spielraum, den der gemeinschaftliche Rechtsakt den Mitgliedstaaten innerhalb seines Gegenstandsbereichs gewährt. Sie betrifft somit die Frage, inwieweit strengere, liberalere, weitgehendere oder sonst von dem Gemeinschaftsakt abweichende Regeln von den Mitgliedstaaten erlassen werden dürfen. Je größer sich der Spielraum für nationale Abweichungen gestaltet, desto geringer ist die Hannonisierungsintensität des Rechtsaktes. Der Begriff der Hannonisierungsintensität darf hierbei nicht mit dem Detaillierungsgrad einer Richtlinie verwechselt werden. Er bemißt sich also nicht danach, wie genau die getroffenen Regelungen sind. Welcher Grad an Hannonisierungsintensität vorliegt, muß aus der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage, dem Gesamterscheinungsbild und dem System einer Richtlinie beurteilt werden. 125 Beispielsweise ermächtigt Art. 137 [ex-Art. 118 a] Abs. 2 EGV den Rat lediglich zur Hannonisierung der in Art. 137 Abs. 1 EGV genannten Gebiete durch den Erlaß von Richtlinien, die nur Mindestvorschriften vorsehen. Einen wichtigen Anhaltspunkt bilden auch die Begründungserwägungen der jeweiligen Richtlinie. Es heißt dort beispielsweise in der Richtlinie Nr. 76/464/EWG: "Es ist wichtig, daß ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten einzeln oder gemeinsam stren,gere als die in dieser Richtlinie vorgesehene Bestimmungen festlegen können." 126
Damit wird klargestellt, daß es sich bei den von der Richtlinie getroffenen Regelungen um Mindestvorschriften handelt. J. Vollständige Harmonisierung
Der höchste Intensitätsgrad ist erreicht, wenn ein Mitgliedstaat innerhalb des Gegenstandsbereichs eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes keinerlei von diesem abweichende Vorschriften erlassen darf. Ein Beispiel hierfür bildet die Richtlinie des Rates vom 18. Juli 1989 zur Änderung der Richtlinie 701220/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft durch Emissionen von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der europäischen Emissionsnormen
125 EuGH, Urteil vom 5. April 1979, Rs. 148/78 - Ratti - Sig. 1979, S. 1629 ff. (I643) Rn. 27; EuGH, Urteil vom 14. Oktober 1987, Rs. 278/85 - Kommission/ Dänemark - Sig. 1987, S. 4069 ff. (4087) Rn. 12. 126 Richtlinie des Rates vom 4. Mai 1976 betreffend die Verschrnutzung infolge der Ableitung bestimmter gefährlicher Stoffe in die Gewässer der Gemeinschaft, ABI. 1976, L 129, S. 23 (24).
46
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
für Kraftfahrzeuge mit einem Hubraum unter 1,4 Litern. 127 Diesbezüglich heißt es in der 7. Begründungserwägung der Richtlinie: "Damit durch diese Maßnahmen der größtmögliche Nutzen für die Umwelt in Europa erzielt und gleichzeitig die Einheitlichkeit des Marktes gewährleistet wird, müssen strengere europäische Normen eingeführt werden, die auf einer vollständigen Harmonisierung beruhen und mindestens so streng sind wie die der Vereinigten Staaten von Amerika und die vom Europäischen Parlament votierten Normen.,,128
Folgen somit sämtliche materiellen Anforderungen aus dem Gemeinschaftsrechtsakt selbst und dürfen keine Unterschiede zwischen Sachverhalten mit Bezug zu anderen Mitgliedstaaten und reinen Inlandssachverhalten gemacht werden, so sollte von "vollständiger Harmonisierung" gleichbedeutend mit den Begriffen der "Vollharmonisierung" oder "totalen Harmonisierung" gesprochen werden. Die Mitgliedstaaten sind im vom Gegenstandsbereich der Angleichungsrichtlinie gezogenen Rahmen nicht mehr befugt, andere als die in der Richtlinie genannten Voraussetzungen in ihre nationale Rechtsordnung aufzunehmen oder beizubehalten. 129 Diese Definition der vollständigen Harmonisierung verdeutlicht, daß den einzelnen Mitgliedstaaten selbst bei diesem Grad der Harmonisierungsintensität ein gewisser nationaler Gestaltungsspielraum verbleiben kann. Dieser wird den Mitgliedstaaten jedoch ausschließlich unter den in der Richtlinie selbst vorgegebenen Voraussetzungen gewährt. Ein dahingehendes Verständnis des Begriffs der "vollständigen Harmonisierung" macht sich auch der EuGH zu eigen, indem er die Richtlinie des Rates vom 18. September 1979 zur sechsten Änderung der Richtlinie 67/ 548/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungs vorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe 130 wie folgt einstuft: "Aus der vorstehenden Schilderung des Systems der Richtlinie ergibt sich, daß der Rat die Anmeldung, die Einstufung, die Verpackung und die Kennzeichnung sowohl alter wie neuer Stoffe erschöpfend geregelt und den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit gelassen hat, in ihre nationalen Rechtsvorschriften weitere Maßnahmen aufzunehmen.,,131 127 Richtlinie 89/458/EWG, ABI. 1989, L 226, S. 1 ff. 128 Hervorhebung des Verfassers. 129 Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 62; Slot, ELR 1996, S. 382 f.; Seidel, Rechtsangleichung und Rechtsgestaltung, S. 23 f.; dem entsprechend auch das Begriffsverständnis der Kommission, vgI. den Sitzungsbericht in der Rs. C-ll/ 92 - Gallaher u. a. - Slg. 1993 I, S. 3545 ff. (3555). 130 Richtlinie 79/831/EWG, ABI. 1979, L 259, S. 10 ff. 131 EuGH, Urteil vom 14. 10. 1987, Rs. 278/85 - KommissionIDänemark - Slg. 1987, S. 4069 ff. (4087) Rn. 12; Hervorhebung des Verfassers. VgI. des weiteren EuGH, Urteil vom 5. 4. 1979, Rs. 148/78 - Ratti - Slg. 1979, S. 1629 ff., in dem
E. Methoden der Harrnonisierung
47
Diese Feststellung erfolgt vor dem Hintergrund, daß Art. 18 der Richtlinie den Mitgliedstaaten im durch die Richtlinie selbst vorgegebenen Rahmen Gestaltungsmöglichkeiten einräumt. Es heißt in Art. 18: ..(1) Die Mitgliedstaaten können zulassen, daß
a) die in Art. 16 vorgeschriebene Kennzeichnung auf Verpackungen, deren geringe Abmessungen oder sonst ungünstige Beschaffenheit eine Kennzeichnung gemäß Artikel 17 Absätze 1 und 2 nicht ermöglichen, auf andere geeignete Weise angebracht wird; b) die Verpackungen gefährlicher Stoffe, die weder explosionsgefährlich noch sehr giftig oder giftig sind, abweichend von den Artikeln 16 und 17 nicht oder in anderer Weise gekennzeichnet werden, wenn sie so geringe Mengen enthalten. daß eine Gefährdung der mit den Stoffen umgehenden Personen oder Dritter nicht zu befürchten ist. (2) Macht ein Mitgliedstaat von den Möglichkeiten nach Absatz 1 Gebrauch. so setzt er die Kommission davon unverzüglich in Kenntnis."
Diese in der gemeinschaftlichen Harmonisierungspraxis oftmals anzutreffende Eröffnung von Wahlmöglichkeiten zugunsten der Mitgliedstaaten ändert nichts an der Einordnung der Angleichungsrichtlinie als Fall einer "vollständigen Harmonisierung" im oben definierten Sinn. Die Richtlinie bestimmt innerhalb ihres Gegenstandsbereichs abschließend selbst, wenn auch wie in Art. 18 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie mittels des unbestimmten Rechtsbegriffs "auf andere geeignete Weise"I32, ausdrücklich Art und Ausmaß der den Mitgliedstaaten überantworteten Gestaltungsmöglichkeiten. 133 Den Mitgliedstaaten wird so ein Abweichen von dem in dem Gemeinschaftsrechtsakt festgelegten Regelungsniveau nicht ermöglicht, sonder EuGH die Richtlinie des Rates vom 4. Juni 1973 betreffend die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von Zubereitungen gefahrlicher Stoffe (Lösemittel). (73/173/EWG); ABI. 1973, L 189, S. 7 ff.), die den Mitgliedstaaten ähnlich der oben angeführten Richtlinie in Art. 6 Abs. 3 und Art. 7 Gestaltungsalternativen ermöglicht, wie folgt einstuft (Rn. 26 f. des Urteils): ..Aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 8 der Richtlinie 73/173 folgt, daß nur solche Lösemittel in den Verkehr gebracht werden dürfen, die den Vorschriften dieser Richtlinie und ihrer Anlage entsprechen, und daß die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, parallel zu der in dieser Richtlinie für die Einfuhr vorgesehenen Regelung eine abweichende Regelung für den Binnenmarkt aufrechtzuerhalten. Aus dem System der Richtlinie 73/1 73 ergibt sich somit. daß ein Mitgliedstaat in Bezug auf die Einstufung. Verpackung und Kennzeichnung von Lösemitteln keine einschränkenderen oder auch nur detaillierteren und jedenfalls keine anderen Voraussetzungen als die in dieser Richtlinie genannten in seine nationalen Vorschriften aufnehmen darf und daß dieses Verbot der Auferlegung nicht vorgesehener Beschränkungen sowohl für die unmittelbar auf dem Binnenmarkt in den Verkehr gebrachten als auch für die eingeführten Erzeugnisse gilt." 132 Hervorhebung des Verfassers.
48
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
dem es werden lediglich mehrere gemeinschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt. Hat ein Mitgliedstaat von diesen Wahlrechten Gebrauch gemacht, beurteilt sich seine Bindung genauso, als liege eine Richtlinie ohne Wahlrecht und mit fester Bindung vor. Auch, wenn Gemeinschaftsrechtsakte sekundärrechtliche Schutzklauseln enthalten, die den Mitgliedstaaten wegen der Unsicherheit der wissenschaftlichen Beurteilung der Gesundheitsgefahrdung ein befristetes Abweichen von dem gemeinschaftsrechtlichen Standard erlauben, ändert dieses nichts an der Einordnung der Richtlinie als Fall der "vollständigen Harmonisierung".134 Ein Beispiel für eine derartige sekundärrechtliche SchutzklauseI bildet Art. 7 der Richtlinie des Rates vom 23. November 1970 über Zusatzstoffe in der Tierernährung, in dem es heißt: ,,(1) Stellt sich heraus, daß die Verwendung eines in Anhang I aufgeführten Zusatzstoffs oder sein festgelegter Höchstgehalt in Futtennitteln eine Gefahr für die tierische oder menschliche Gesundheit darstellt, so kann ein Mitgliedstaat für einen Zeitraum von höchstens vier Monaten die Genehmigung für die Verwendung dieses Zusatzstoffs in Futtermitteln aussetzen oder den festgelegten Höchstgehalt verringern. Er setzt die Kommission hiervon unverzüglich in Kenntnis; die Kommission konsultiert die Mitgliedstaaten im Rahmen des durch Beschluß des Rates vom 20. Juli 1970 eingesetzten Ständigen Futtennitte1ausschusses.
(2) Auf Vorschlag der Kommission beschließt der Rat unverzüglich einstimmig, ob Anhang I zu ändern ist, und erläßt gegebenenfalls durch Richtlinie die notwendigen Änderungen. Erforderlichenfalls kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission auch den in Absatz 1 genannten Zeitraum um höchstens ein Jahr verlängern."13S Auch hier ist ein Abweichen nur unter den in der Richtlinie selbst festgelegten Voraussetzungen befristet möglich. Wie Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie zeigt, können die Mitgliedstaaten dauernde Änderungen des Schutzniveaus im Rahmen des Gegenstandsbereichs der Richtlinie auf nationaler Ebene nicht selbst herbeiführen. Diese obliegen ausschließlich den Gemeinschaftsorganen. Gleiches gilt für sogenannte "Fortentwicklungsklauseln" in Harmonisierungsakten, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, von dem betreffenden Gemeinschaftsrechtsakt abweichende einzelstaatliche Zulassungen vorläufig auszusprechen. Ein Beispiel hierfür bildet Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der 133 VgI. auch das von Slot, ELR 1996, S. 378 ff. (382) für den Fall der vollständigen Harmonisierung angegebene Beispiel der Richtlinie des Rates vom 23. November 1970 über Zusatzstoffe in der Tierernährung (70/524/EWG), ABI. 1970, L 270, S. 1 ff., die den Mitgliedstaaten in Art. 4 abschließend festgelegte Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. 134 Slot, ELR 1996, S. 378 ff. (382). 135 Richtlinie 70/524/EWG, ABI. 1970, L 270, S. 1 ff.
E. Methoden der Harmonisierung
49
Mitgliedstaaten über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen. 136 Hier heißt es: ,,( I) Ein Mitgliedstaat kann zur Berücksichtigung der wissenschaftlichen oder technischen Entwicklung, die seit Annahme einer Liste nach Artikel 3 eingetreten ist, in seinem Hoheitsgebiet den Handel mit einem Zusatzstoff, der unter eine in Anhang I aufgeführte Kategorie fällt und nicht in der betreffenden Liste vorgesehen ist, und dessen Verwendung unter folgenden Bedingungen vorläufig zulassen: ( •.• ),,137
Ebenso wie bei sekundärrechtlichen Schutzklausein ist ein Abweichen der Mitgliedstaaten von den Richtlinienbestimmungen nur unter den in der Richtlinie selbst festgelegten Voraussetzungen möglich. Art. 5 Abs. 3 Sätze 3 und 4 der betreffenden Richtlinie machen auch hier deutlich, daß eine dauerhafte Änderung des Schutzumfangs der Richtlinie nur durch die Gemeinschaftsorgane, nicht aber auf nationaler Ebene, herbeigeführt werden kann. Die Harmonisierungsintensität des betreffenden Rechtsakts wird durch eine derartige Klausel so nicht verringert. Nentwich nimmt im Bereich der "vollständigen Harmonisierung" eine andere Einteilung vor. 138 Er differenziert zwischen absoluter Harmonisierung, bei der der gemeinschaftliche Harmonisierungsakt keinerlei Abweichungen erlaube und "Vollharmonisierung", bei der der Gemeinschaftsrechtsakt den Mitgliedstaaten lediglich ein befristetes Abweichen aufgrund einer sekundärrechtlichen Schutzklausel erlaube. Räumt der Harmonisierungsakt somit den Mitgliedstaaten in Art und Umfang abschließend bestimmte Wahlmöglichkeiten ein, so führt dieses nach Nentwich bereits zu einer Einordnung des Gemeinschaftsrechtsaktes als Form der Teilharmonisierung. 139 Dieses, obwohl der Harmonisierungsakt im Rahmen seines Gegenstandsbereiches selbst abschließend, wenn auch oftmals mittels unbestimmter Rechtsbegriffe, die Regelungsmöglichkeiten bestimmt, diese somit auf Gemeinschaftsebene bereits festgelegt sind. Der nationale Gestaltungsspielraum beschränkt sich hierbei auf die von dem Gemeinschaftsrechtsakt vorgegebenen Gestaltungsaltemativen, überläßt den Mitgliedstaaten somit nicht die Möglichkeit, vom Harmonisierungsakt abweichende Regelungen zu treffen. Diese Einteilung mit den aus ihr resultierenden Folgen ist so wenig sachgerecht. Das zeigt auch der Umstand, daß es dem Autor nicht gelingt, für die von ihm eingeführten Kategorien Beispiele aus der Harmonisierungspraxis auf Gemeinschaftsebene anzuführen. Dieses liegt insbesondere darin begründet, daß der Begriff der vollständigen Harmonisierung immer nur auf den gesamten Harmonisierungsakt bezogen werden kann, 136
137 138 139
Richtlinie 89/1 07/EWG, ABI. 1989, L 40, S. 27 ff. Hervorhebung des Verfassers. Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 219 ff. Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 219, Fn. 944.
4 Wagner
50
Teil 2: Die Hannonisierung im EG-Vertrag
während sich die verschiedenen Arten der teil weisen Harmonisierung bereits in einzelnen Artikeln bei sonst abschließenden Regelungen des Harmonisierungsaktes zeigen können. Als Zwischenergebnis läßt sich somit festhalten, daß auch Gemeinschaftsrechtsakte, die der Methode der "vollständigen Harmonisierung" folgen, Mitgliedstaaten durchaus einen Gestaltungsspielraum eröffnen können. Dieses kann entweder durch die Aufnahme von abschließend bestimmten Wahlmöglichkeiten oder durch die Befugnis zu einem befristeten Abweichen unter dem im Harmonisierungsakt genannten Voraussetzungen erfolgen. Unterschiede zwischen Sachverhalten mit Bezug zu anderen Mitgliedstaaten und reinen Inlandssachverhalten dürfen jedoch nicht gemacht werden, das heißt Inländerdiskriminierung auf Grundlage des Harmonisierungsaktes ist unzulässig. 2. Teilweise Hannonisierung
Von "teilweiser Harmonisierung" - gleichbedeutend mit den Begriffen der "unvollständigen" oder "partiellen Harmonisierung" - sollte dann gesprochen werden, wenn die Kriterien für eine "vollständige Harmonisierung" nicht erfüllt sind. Das ist der Fall, wenn sich aus dem Harmonisierungsakt ergibt, daß für reine Inlandssachverhalte abweichende nationale Vorschriften zulässig sein sollen - die Mitgliedstaaten mithin für diesen Bereich dauerhaft eigenständige Regelungen einführen oder aufrechterhalten können - beziehungsweise den Mitgliedstaaten unabhängig hiervon gestattet ist, dauerhaft vom Gemeinschaftsrechtsakt abweichende Regelungen einzuführen oder beizubehalten. Hieraus resultieren verschiedene Ausprägungen der teil weisen Harmonisierung, insbesondere in Form der optionellen Harmonisierung und der Mindestharmonisierung, die als Grundtypen der teilweisen Harmonisierung im folgenden näher untersucht und voneinander abgegrenzt werden. a) Optionelle Harmonisierung Unter optioneller Harmonisierung wird im Hinblick auf den freien Warenverkehr eine Harmonisierungstechnik verstanden, bei der "eine den Sachverhalt prinzipiell umfassend regelnde Gemeinschaftsbestimmung in ihrer Funktion darauf beschränkt wird, die freie Verkehrsfähigkeit von Produkten, die mit ihr übereinstimmen, innerhalb der gesamten Europäischen Gemeinschaft zu gewährleisten".140 Den Mitgliedstaaten ist es in diesem 140 Streinz, ZfRV 1991, S. 357 ff. (369); so auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2163; ders., Rechtsangleichung, S. 61 f.; Seidel, Rechtsangleichung und Rechtsgestaltung, S. 22 f.
E. Methoden der Harmonisierung
51
Fall jedoch freigestellt, für reine Inlandssachverhalte vom Gemeinschaftsrechtsakt abweichende nationale Regelungen beizubehalten oder zu schaffen. 141 Die optionelle Harmonisierung beläßt den Mitgliedstaaten hierbei jedoch nicht die Befugnis, beispielsweise für die inländische Produktion von Waren oder Dienstleistungen Regelungen mit einem geringeren Standard als von dem Harmonisierungsakt vorgesehen festzulegen. Ein solches Vorgehen würde importierte Waren oder Dienstleistungen, für die der Gemeinschaftsstandard maßgeblich ist, benachteiligen und verstieße gegen Gemeinschaftsrecht. Die Methode der optionellen Harmonisierung beläßt daher dem Mitgliedstaat nur die Befugnis, für die inländische Produktion von Waren oder Dienstleistungen abhängig von der Richtlinienbestimmung gleichwertig andere oder auch strengere Standards für die Vermarktung festzulegen. 142 Ein Beispiel für die Harmonisierungsmethode der optionellen Harmonisierung bildet Art. 5 der Richtlinie des Rates vom 24. Juli 1986 über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Getreide: ..( 1) Bei unter Artikel 1 fallenden Erzeugnissen, die nicht aus einem Drittland eingeführt werden oder nicht für einen anderen Mitgliedstaat bestimmt sind, können die Mitgliedstaaten abweichend von Artikel 4 ein in ihrem Hoheitsgebiet bereits eingeführtes System, das die Möglichkeit bietet, das Vorhandensein von Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln zu überwachen, weiterhin anwenden und gleichzeitig alle sonstigen Maßnahmen treffen, um zu gewährleisten, daß ein Schutz erzielt wird, der demjenigen entspricht, der sich aus den in Anhang II festgelegten Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln ergibt, und um die Gefährdung ihrer Bevölkerung durch die Aufnahme solcher Rückstände - gleichgültig welcher Herkunft - über Nahrungsmittel insgesamt zu evaluieren. (... ),,143
Teilweise werden die Begriffe der optionellen beziehungsweise fakultativen Harmonisierung synonym auch in der Weise verstanden, daß durch den gemeinschaftlichen Harmonisierungsakt den Produzenten und Händlern die Wahl eröffnet wird, sich entweder an der Gemeinschaftslösung oder an den Vorschriften des Importstaates zu orientieren. l44 Schmeder vertritt hierbei die Auffassung, daß in diesem Fall die gemeinschaftlichen Normen trotz ihres Richtliniencharakters und entgegen Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV wie bei einer Verordnung unmittelbar anwendbar wären und sogleich 141 142
Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2163. Seidel, in: Everling/Roth, Mindestharmonisierung, S. 39 ff. (44 f.).
143 Richtlinie (86/362/EWG, ABI. 1986, L 221, S. 37 ff.; vgI. des weiteren Art. 5 der Richtlinie des Rates vom 24. Juli 1986 über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Lebensmitteln tierischen Ursprungs (86/363/EWG), ABI. 1986, L 221, S. 43 ff. 144 LLmgeheine. in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 59; Schmeder, Rechtsangleichung, S. 71 f. 4·
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
52
alternativ neben die nationalen Regelungen träten. 145 Die Mitgliedstaaten hätten keine Befugnis, die Gemeinschaftsregelung auf den zwischenstaatlichen Handel zu beschränken und für den innerstaatlichen Handel die Anwendung des nationalen Rechts zwingend vorzuschreiben. 146 Dieser Auffassung kann jedoch nicht gefolgt werden, denn sie verstößt gegen Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV. Gemäß Art. 249 [ex-Art. 189] Abs. 3 EGV sind Richtlinien immer nur an die einzelnen Mitgliedstaaten als Adressaten gerichtet und bedürfen grundsätzlich zu ihrer Wirksamkeit eines nationalen Umsetzungsaktes. 147 Auf diesen Umstand weist beispielsweise auch Art. 17 der Richtlinie über die Festsetzung von Höchstgehalten an Rückständen von Schädlingsbekämpfungsmitteln auf und in Getreide 148 deklaratorisch hin, die in Art. 5 die Methode der optionellen Harmonisierung verfolgt. Art. 5 der betreffenden Richtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten aufgrund seines Wortlauts vielmehr mehrere Gestaltungsmöglichkeiten: 149 1. Sie können ihre Rechtsvorschriften so gestalten, daß für die Importprodukte das Richtliniensystem, für die Inlandswaren hingegen das alte nationale System zur Anwendung kommt. 2. Sie können sowohl für Importprodukte als auch für Inlandswaren nur das Richtliniensystem einführen. 3. Sie können vorsehen, daß entweder nur für die Importwaren oder auch für die Inlandsproduktion eine echte Wahlmöglichkeit besteht. Maßgeblich ist daher, wie die einzelnen Mitgliedstaaten den ihnen durch die Richtlinie überantworteten Gestaltungsspielraum ausnutzen. Aus der Richtlinie selbst ergibt sich eine allgemeine Wahlmöglichkeit für alle Wirtschaftsteilnehmer hingegen nicht. Nentwich bildet in diesem Zusammenhang eine weitere Kategorie im Rahmen der optionellen Harmonisierung, die sogenannte fakultative Harmonisierung. Hiermit sei jener Spezialfall der optionellen Harmonisierung gemeint, in dem der Harmonisierungsakt vorsieht, daß die Produzenten und Händler sich wahlweise entweder an der Gemeinschaftslösung oder an den Schmeder, Rechtsangleichung, S. 72. Schmeder, Rechtsangleichung, S. 72. 147 Hetmeier, in: Lenz, EGV, Art. 249 Rn. 9; Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 55; zu den durch den EuGH entwickelten, vorliegend nicht einschlägigen Ausnahmefällen der unmittelbaren Geltung von Richtlinien in den Mitgliedstaaten vgl. Grabitz, in: Grabitz, EGV, Art. 189 Rn. 60 ff. 148 Richtlinie des Rates vom 24. Juli 1986 (86/362/EWG), ABI. 1986, L 221, S. 37 ff. 149 Ähnlich auch Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 224 f., ohne jedoch auf die Gestaltungsmöglichkeit nach Nr. 2 einzugehen. 14~
146
E. Methoden der Hannonisierung
53
Vorschriften des Importstaates orientieren können. ISO Diese zusätzliche Unterteilung macht jedoch wenig Sinn. Einerseits ist bereits kein hinreichender Unterschied zwischen den Begriffen "optionell" und "fakultativ" festzustellen. Da zudem die Mitgliedstaaten und nicht Produzenten oder Händler, wie bereits dargelegt, durchwegs die Adressaten von Richtlinien sind, sollte bei der Kategorisierung der verschiedenen Harmonisierungsmethoden immer auf den den Mitgliedstaaten überlassenen nationalen Gestaltungsspielraum abgestellt werden. Schließlich wäre im Bereich der von Nentwich definierten "fakultativen Harmonisierung" den Mitgliedstaaten die Gesetzgebungshoheit bezüglich des nationalen Systems verblieben, so daß sie dieses auch zugunsten der Gemeinschaftslösung vollständig abschaffen könnten. Nicht der Harmonisierungsakt, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten eröffnen den Produzenten und Händlern so die Wahlmöglichkeit. Zusammenfassend läßt sich somit die Methode der optionellen Harmonisierung, gleichbedeutend mit dem Begriff der fakultativen Harmonisierung, als jene Variante der teilweisen Harmonisierung definieren, die den Mitgliedstaaten hinsichtlich reiner Inlandssachverhalte Spielraum für Abweichungen läßt, diesen jedoch insofern eingrenzt, als zumindest das Niveau des Gemeinschaftsrechtsaktes einzuhalten ist. b) Mindestharmonisierung Die Methode der Mindestharmonisierung beinhaltet das Aufstellen von Mindeststandards durch einen Gemeinschaftsrechtsakt, die von den nationalen Rechtsordnungen übernommen werden müssen, während es den Mitgliedstaaten freigestellt bleibt, strengere Vorschriften beizubehalten oder zu treffen. 151 Die innerstaatlichen Kompetenzfreiräume bleiben so zwar nur eindimensional, auf dieser Ebene jedoch VOllständig erhalten. Ein Beispiel für diese Harmonisierungsmethode bietet die Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen. 152 Einen Anhaltspunkt dafür, daß bei dieser Richtlinie das Konzept der Mindestharmonisierung verfolgt wird, gibt bereits die 7. Begründungserwägung, in der es heißt: ,,Dem Fremdenverkehr kommt eine ständig wachsende Bedeutung im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten zu. Pauschalreisen bilden einen wichtigen Teil des Fremdenverkehrs. Dieser Zweig des Reisegewerbes in den Mitgliedstaaten würde zu stärkerem Wachstum und erhöhter Produktivität angeregt, wenn es ein Minimum an gemeinsamen Regeln gäbe, um diesen Wirtschaftszweig auf GemeinNentwich, Lebensmitte1recht, S. 226. Langeheine, in: Grabitz, EGV, Art. 100 Rn. 58; SlOl, ELR 1996, S. 378 ff. (384 ff.); Eiden, Rechtsangleichung, S. 69; ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2171; Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 225 f. 152 Richtlinie (90/314/EWG), ABI. 1990, L 158, S. 59 ff. 150 151
54
Teil 2: Die Harmonisierung im EG-Vertrag
schaftsebene zu strukturieren. Dies würde nicht nur den Bürgern der Gemeinschaft zugute kommen, die aufgrund dieser Regeln organisierte Pauschalreisen buchen, sondern würde auch Reisende aus Drittländern anziehen, denen die Vorteile aus garantierten Mindestleistungen bei Pauschalreisen ein Anreiz wären."IS3
Die endgültige Klarstellung erfolgt sodann in Art. 8 der Richtlinie, in dem es heißt: ,,Die Mitgliedstaaten können in dem unter diese Richtlinie fallenden Bereich
strengere Vorschriften zum Schutze des Verbrauchers erlassen oder aufrechterhal-
ten."IS4
Gemeinschaftsrechtsakte können jedoch auch lediglich eine Mindestharmonisierung vornehmen, ohne ausdrücklich auf ihren Charakter als Mindestnormen zu verweisen. So hat der EuGH eine Vorschrift über bei Lehrlingen und Studierenden einzuhaltende Grenzwerte betreffend die Strahlendosis 155 , obwohl diese nicht ausdrücklich als Mindestschutznorm bezeichnet war, unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Richtlinie als solche eingestuft. 156 Die Methode der Mindestharmonisierung unterscheidet sich von der optionellen Harmonisierung dadurch, daß bei der letzteren zwei unterschiedliche Modelle (das Richtlinien- und das nationale Modell) zur Wahl stehen, während das Konzept der Mindestharmonisierung innerhalb des von der Richtlinie vorgegebenen Modells einen Mindeststandard vorsieht, der jedenfalls eingehalten werden muß, dabei jedoch Spielraum für Verschärfungen durch den nationalen Gesetzgeber läßt. 157
Hervorhebungen des Verfassers. Hervorhebung des Verfassers. ISS Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie des Rates vom 15. Juli 1980 zur Änderung der Richtlinien, mit denen die Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen festgelegt werden (80/836/EWG), ABI. 1980, L 246, S. 1 ff. lS6 EuGH, Urteil vom 25. 11. 1992, Rs. C-376/90 - Kommission/Belgien - Slg. 1992 I, S. 6153 ff. (6179 ff.) Rn. 18-30. lS7 Nentwich, Lebensmittelrecht, S. 225 f. lS3
1S4
F. Schranken der Harrnonisierung
55
Harmonisierungsmethoden GEGENSTANDSBEREICH DES GEMEINSCHAFTSRECHTSAKTES
-. ~ E-o
.< E-o ....
(/l
Z
f;r;l
E-o
Z .... (/l
t.-' Z
;;J ~
f;r;l .... ....
(/l
Z 0
~ ~