Karl Barth und Friedrich Schleiermacher: Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses 9783666560224, 9783525560228, 9783647560229


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Karl Barth und Friedrich Schleiermacher: Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses
 9783666560224, 9783525560228, 9783647560229

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Matthias Gockel / Martin Leiner (Hg.)

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher Zur Neubestimmung ihres Verhältnisses

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-56022-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

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Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Matthias Gockel Einführung und Überblick

7

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Eberhard Busch Notizen zu Karl Barths letztem Seminar: Friedrich Schleiermachers „Reden über die Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Bruce L. McCormack Über Barth hinaus – mit Schleiermacher? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Anne Käfer Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder. Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths . . .

89

Georg Plasger Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch. Erwägungen zu Schleiermachers und Barths anthropologischer Christologie . . . . . . 113 Jürgen Boomgaarden „Eine Theologie vom Menschen aus ist an sich nichts Unmögliches“: Anthropologische Grundeinsichten Schleiermachers und Barths im kritischen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Martin Hailer Wiedergeburt. Schleiermacher und Barth zu einem Kernthema der Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhalt

Hans-Martin Rieger Schleiermacher und Barth über die Kirche und ihre Gestalt . . . . . . . . 183 Cornelis van der Kooi Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth . . . . . . . . . . . . . . . 213 Friedrich Lohmann Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Gregor Etzelmüller Die christliche Hoffnung und die prophetischen Lehrstücke. Eschatologie bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Bruce L. McCormack Barths Kritik an Schleiermacher. Eine Meta-Kritik Namensregister

. . . . . . . . . . . . . 303

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Herausgeber- und Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

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Vorwort

Das Verhältnis von Karl Barth (1886–1968) und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) wurde von Barth selbst und noch pointierter von manchen Zeitgenossen Barths als geradezu kontradiktorischer Gegensatz beschrieben: Hier die Theologie des Wortes Gottes, dort die des frommen Selbstbewusstseins, hier liberale dort dialektische oder gar neo-orthodoxe1 Theologie. Zur Bestätigung dieses grundlegenden Unterschieds konnten verschiedene Differenzen in dogmatischen Einzelthemen namhaft gemacht werden. Geradezu stereotyp wurde dabei auf die unterschiedliche Stellung der Trinitätslehre hingewiesen. Bei Barth steht sie am Anfang, bei Schleiermacher am Schluss der Dogmatik, geradezu als Appendix. Als weitere Differenz wurde die Eschatologie benannt. Bei Schleiermacher bleibt sie eher am Rand, beim jungen Barth werde sie zu einem die gesamte Theologie bestimmenden Thema. Auch zur Gotteslehre, Anthropologie, Sündenlehre und Soteriologie ließen sich unterschiedliche oder gegensätzliche Aussagen namhaft machen. Ein genauerer Blick macht freilich deutlich, dass Barth und Schleiermacher sich in vielen Punkten nahestehen. Sie sind beide in einem ähnlichen Milieu aufgewachsen, berufen sich auf ähnliche Texte und schreiben für ein ähnliches Publikum. Beide sind kirchliche Theologen in dem Sinne, dass die kritische Prüfung der kirchlichen Verkündigung und Leitung der Kirche die zentrale Aufgabe evangelischer Theologie darstellt. Beide schreiben für ein Publikum, das neben professionellen Theologen auch zahlreiche interessierte Zeitgenossen umfasst: Politiker, Schriftsteller und Menschen aus fast allen Berufen und Bereichen der Gesellschaft, abgesehen vom Arbeitermilieu. Beide stellen den Paragraphen ihrer Dogmatik jeweils „Leitsätze“ voran, und obwohl Barth das Französische und Schleiermacher das Englische gut beherrscht, schreiben beide 1 Die Bezeichnung ‚neo-orthodox‘ war ursprünglich pejorativ gemeint und wurde sowohl gegen vermeintlich linientreue Barth-Schüler als auch gegen Barth selber gewendet, obwohl dieser sie als Charakterisierung seiner Theologie für völlig verfehlt hielt. Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik [=KD], Bd. III/3, Zollikon-Zürich 1950, VII (Vorwort), und Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 21956, 11f.

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Vorwort

fast immer Deutsch, manchmal unterbrochen von lateinischen und (kurzen) griechischen Zitaten oder Äußerungen aus anderen modernen Sprachen. Gleich ist auch die konfessionelle Verortung. Beide kommen aus reformierten Theologenfamilien und sind selbst reformierte Theologen. Beide zeigen eine ökumenische Offenheit für zwei andere wichtige protestantische Gruppierungen, die Lutheraner und die Freikirchen. Beide wollen die inner-protestantischen Unterschiede überbrücken und den „evangelischen“ Glauben zur Darstellung bringen. Beide setzen sich, oft polemisch, aber durchaus für diesen in hohem Maße anregend, mit dem römischen Katholizismus auseinander. Beide beziehen sich kaum auf die anglikanische Tradition und die zeitgenössische Orthodoxie der Ostkirchen. Beide interessieren sich nicht eingehender für nicht-christliche Religionen. Was sie über Islam, Buddhismus und ‚Fetischismus‘ schreiben, entspringt einem insularen Wissen und wird diesen Phänomenen kaum gerecht. Schleiermacher sieht das Judentum sehr negativ zunächst als „todte“2 und später als mit dem Heidentum vom Christentum gleich weit entfernte Religion.3 Barth versucht zwar in seiner Bundestheologie ein neues, positives Verhältnis zwischen Christentum und Judentum zu denken,4 verstrickt sich dabei aber auch in problematische Aussagen, die ähnlich wie Schleiermacher eine lebendige Eigenständigkeit der jüdischen Religion post Christum bestreiten.5 Barth und Schleiermacher sind beide mit Überzeugung reformierte Theologen. Sie teilen dabei das für manche Lutheraner unverständliche Interesse an der Zusammengehörigkeit von Glauben und Handeln. Für Schleiermacher ist „das Christenthum […] eine der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige […] Glaubensweise“,6 obwohl so mancher Lutheraner hier vermutlich lieber 2 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion (2. –) 4. Auflage, Monologon (2. –) 4. Auflage, hg. von G. Meckenstock (KGA I/12), Berlin/New York 1995, 282. 3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von R. Schäfer (KGA I/13), Berlin/New York 2003, Bd. 1, 102–106. 4 Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths, München 1967; Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes: Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996. 5 Vgl. etwa Karl Barth, KD IV/3, Zollikon-Zürich 1959, 76: „Die Geschichte Israels und ihre Prophetie kann also nach dem Anheben dieses ihres Nachher, in welchem sie ihre Erfüllung gefunden hat, keine Fortsetzungen mehr haben. Was sich seither als solche darstellen möchte, sind ja nur noch die abstrakten Erinnerungen an ihr einstiges, ihr mit dem Anheben dieses Nachher abgeschlossenes Geschehen: als solche höchst eindrucksvoll, eine Art Gottesbeweis, wie man die Geschichte des sog. [sic!] Judentums schon genannt hat, d. h. eine rein weltgeschichtliche Bestätigung des Ursprungs und Gegenstandes des alttestamentlichen Zeugnisses – aber eben als abstrakte Erinnerungen auch merkwürdig gespenstisch und unfruchtbar, ohne rechte und wahre Prophetie, eben weil sie bestenfalls die alte Prophetie ohne die neue ist, ohne die Erfüllung, auf die sie doch schon als alte gezielt hatte und die sie nun in der neuen längst gefunden hat“. 6 Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/31, Bd. 1, 93.

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Vorwort

die dem Islam vorbehaltene „ästhetische“ Glaubensweise gelesen hätte.7 Barth bekennt sich trotz der deutlichen Kritik vieler lutherischer Theologen8 zur engen Zusammengehörigkeit von Gesetz und Evangelium als dem „eisernen Bestand der hier vorgetragenen Dogmatik“.9 Für Schleiermacher wie für Barth sind die Schriften der Reformatoren, die Bekenntnisschriften und die altprotestantische Orthodoxie relative Autoritäten, d. h. nützlich zu lesen, aber stets mit der Möglichkeit, über sie kritisch hinauszugehen. Der Gedanke, dass eine Aussage nur deswegen richtig oder wahr sei, weil sie von Augustin, Luther oder Calvin stammt, ist beiden fremd geblieben. Vielmehr sind beide schöpferische Theologen, die sich bewusst der Umbildung zentraler Lehren der christlichen Tradition widmen. Bei Schleiermacher ist dies etwa die Trinitätslehre, bei Barth die Tauflehre und die Erwählungslehre, die er sogar zweimal revidiert.10 Sowohl Schleiermacher als auch Barth begegneten in ihrem Elternhaus pietistischen Traditionen. Beide wandten sich, sobald sie von der Gemeinschaft des Elternhauses entfernt lebten, von diesen Traditionen zunächst ab. Beide würdigten aber später, auf ihre Weise, zentrale Elemente dieser Traditionen. Nicht nur Schleiermacher, sondern auch Barth kann daher als „Herrnhuter höherer Ordnung“ bezeichnet werden. Beide teilen mit Nikolaus von Zinzendorf (1700– 1760), dem laut Barth größten Christozentriker der Neuzeit,11 die Ausrichtung auf Christus. Beiden war bewusst, dass das eigentümliche der christlichen Glaubensweise darin besteht, dass „alles in derselben bezogen wird auf die durch

7 Vgl. Michael Roth, Sinn und Geschmack fürs Endliche. Überlegungen zur Lust an der Schöpfung und der Freude am Spiel, Leipzig 2002, 60–65. Auch in der von Barth eher kritisch beäugten Zürcher Theologie waren solche passivistisch(-ästhetizistischen) lutherischen Ideen zeitweise en vogue. 8 Zu nennen sind v. a. W. Elert, P. Althaus, G. Wingren, E. Schlink, G. Ebeling, und A. Peters. Vgl. dazu einführend Ernstpeter Maurer, Barth-Rezeption bei lutherischen Theologen in Deutschland, in: Martin Leiner / Michael Trowitzsch, Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 367–386. 9 Barth, KD IV/3, 427. 10 Vgl. Matthias Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election. A SystematicTheological Comparison, Oxford 2007. 11 Vgl. Karl Barth, KD IV/1, Zollikon-Zürich 1953, 763: „Es wird schon kein Zufall sein, daß derselbe Mann, der in seiner Predigt, Dichtung und Dogmatik (sofern er eine solche hatte) der größte – und vielleicht der einzige ganz echte – Christozentriker (‚Christomonist‘ sagen die Toren!) der Neuzeit gewesen ist, vielleicht auch der erste echte [….] Ökumeniker genannt werden muß.“ Während Barth in den 1920er Jahren den „immer wieder leise nach Zinzendorf duftenden Hintergrund“ (Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, hg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 194) der Theologie Schleiermachers als problematische Humanisierung Christi und missliche Jesusfrömmigkeit empfindet, korrigiert er sich einige Jahre später: „Gott will Jesus. […] Es handelt sich beim Gehorsam gegen Gott immer darum, Jesus gehorsam zu werden und zu bleiben. Die Konzentration und Intensität, mit der Nikolaus von Zinzendorf das und immer wieder das gesagt hat, war wohl am Platze.“ Karl Barth, KD II/2, Zollikon-Zürich 1942, 631.

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Vorwort

Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“.12 Mit Zinzendorf wie mit dem Pietismus und der Erweckungsbewegung insgesamt teilen beide eine positive Sicht des christlichen Handelns in der Welt und des Zeugnisses an oder für die Welt. Bei beiden ist es nicht die „Entscheidung“ für den Glauben an Christus, die vor der ewigen Verdammnis rettet, sondern Gottes überlegene Liebe,13 die gar nicht anders gedacht werden kann, als dass sie alle Geschöpfe erreicht und letztendlich erlöst.14 Nimmt man diese Gemeinsamkeiten zwischen Barth und Schleiermacher ernst, so wird man auch in vielen Einzelfragen von deutlichen Gemeinsamkeiten in der Intention, trotz mehr oder weniger starker Differenzen in der Darstellungsweise, sprechen können. Das gilt auch für die Trinitätslehre. Trotz inhaltlicher Unterschiede gibt es hier eine wichtige Gemeinsamkeit: Bei beiden formuliert die Trinitätslehre einen grammatischen Zusammenhang, der alle Einzelthemen der Dogmatik betrifft. Alles ist, zumindest der Intention nach, trinitarisch zu bedenken. Barth sagt dies gleich zu Beginn seiner Dogmatik, Schleiermacher am Schluss. Auch der Gegensatz in der Eschatologie relativiert sich. Beide haben nämlich einen durchaus unterschiedlichen Begriff von Eschatologie. Für Schleiermacher haben die eschatologischen Aussagen einen geringeren Stellenwert, weil die altprotestantischen Aussagen über die einzelnen Eschata und Präeschata15 (wie Tod des Menschen, Unsterblichkeit der Seele, Auferstehung des Fleisches, Verwandlung oder Vernichtung der alten und Entstehung einer neuen Welt) Mutmaßungen über etwas sind, von dem wir eigentlich nichts wissen können. Für Barth meint Eschatologie dagegen, dass der ewige dreieinige Gott mit dem Menschen in eine lebendige Beziehung tritt. Insgesamt sollte man daher in Zukunft von gemeinsamen Traditionen und Intentionen bei unterschiedlicher Ausdrucksweise sprechen. Wir freuen uns, mit diesem Band die Arbeiten einer Reihe von Forschern vorstellen zu können, in denen diese Gemeinsamkeiten wahrgenommen und, ohne die Differenzen zu überspielen, ins Bewusstsein gehoben werden. Einige Autoren der folgenden Beiträge wählen dafür den Ausdruck „Strukturparallelen“, was einerseits geschickt ist, andererseits aber weitere Fragen nach sich zieht. Strukturparallelen können sehr unterschiedlich entstanden sein. Sie können rein zufällig zustande gekommen sein, sie können auf dem Einfluss von einem dritten Theologen, etwa den Autoren der johanneischen Schriften, auf Paulus, auf 12 Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/31, Bd. 1, 93. 13 Vgl. Barth, KD IV/3, 572, dort kritisiert er ein ‚christiano-zentrisches‘ Denken, bei dem das Ereignis der Berufung wichtiger als der berufende Jesus Christus sei. 14 Vgl. dazu Hartmut Rosenau, Allversöhnung. Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, TBT 57, Berlin / New York 1993. 15 Vgl. zu diesem Ausdruck Markus Mühling, Grundinformation Eschatologie, Göttingen 2007, 139.

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Vorwort

Calvin oder auf Zinzendorf beruhen, sie können auf gemeinsamen Problemstellungen und allgemeinen Richtungen, in denen Lösungen gesucht werden, beruhen, sie können schließlich auch darauf beruhen, dass Barth etwas bei Schleiermacher Gelesenes zur Entfaltung bringt. Dies scheint uns etwa der Fall beim christologischen, nicht auf Gesetzesübertritte bezogenen Aufbau der Sündenlehre zu sein. So schreibt Schleiermacher in § 66 der Glaubenslehre: Mit dieser Erklärung der Sünde als einer durch die Selbständigkeit der sinnlichen Functionen verursachten Hemmung der bestimmenden Kraft des Geistes sind zwar diejenigen vereinbar, welche die Sünde selbst als eine Abwendung vom Schöpfer beschreiben[,] weniger aber die[,] welche die Sünde als Uebertretung des göttlichen Gesetzes erklären. […] Ursprünglich christlicher[,] aber auch mit der unsrigen unmittelbar zusammenstimmend ist die, welche sagt, Sünde sei, wenn wir begehren, was Christus übersieht und umgekehrt.16

Barth vollzieht diese auf Christus bezogene Beschreibung der Sünde in zahlreichen Ausführungen der KD. Im Rückblick in KD IV/3 schreibt er: Der christliche Begriff der Sünde als der menschlichen Abweichung und Übertretung ist nicht zu gewinnen an Hand irdeneines abstrakten, mit dem Titel des Gesetzes Gottes geschmückten Normbegriffs des Guten, des Gerechten, des Heiligen, des Eigentlichen: [Die Lehre von der Sünde] ergibt sich nachträglich, rückblickend aus der Erkenntnis der Existenz und des Werkes Jesu Christi als des Mittlers des Gnadenbundes. […] Der christliche Begriff der Sünde ist also nicht irgendwo im leeren Raum, remoto Christo, zu gewinnen, sondern nur aus dem Evangelium.17

Kann man also bei den Gemeinsamkeiten weitere Überlegungen anstellen, so lohnt es sich ebenfalls, bei den Differenzen näher hinzusehen. Die Hauptdifferenz scheint zunächst die zwischen einer Theologie des Wortes und einer Theologie des glaubenden Selbstbewusstseins zu sein. Wenn man diese Differenz überbetont, erkennt man freilich nicht, dass auch Schleiermacher auf das Wort und auch Barth auf den Glauben zu sprechen kommt und beide dabei öfters zu ähnlichen Aussagen gelangen. Die Unterschiede der Themenstellung kann man cum grano salis etwa so formulieren: Bei Schleiermacher lautet sie „Wie entwickelt sich der Glaube im Menschen?“, bei Barth „Was sagt das Wort Gottes über Gott, Mensch und Welt?“ Das zeigt, dass beide Theologen immer noch als unterschiedliche und oft über divergente Themen sprechende Autoren gelesen werden müssen.

16 Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/31, Bd. 1, 408. Schleiermacher erläutert diese Definition, und die Rede vom „Übersehen“ Christi, mit einem Zitat aus Augustins Schrift De vera religione 16 (31): „Non enim ullum peccatum committi potest, nisi aut dum appetuntur ea quae ille contemsit aut fugiuntur quae ille sustinuit.“ 17 Barth, KD IV/3, 426f.

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Vorwort

Wenn Barth und Schleiermacher sich bei denselben Einzelthemen treffen, scheint uns ein grosser Teil des Unterschieds darin zu liegen, dass bei Barth die Theologie komplexer als bei Schleiermacher wird. Sie wird komplexer dadurch, dass Barth Kernaussagen des christlichen Glaubens spezifischer und genauer erfasst. Dadurch entstehen ähnlich wie in der Quantenphysik, wenn man die physikalischen Größen kleiner macht, überraschende und widersprüchliche Effekte. Offenbarung und Verhüllung, Gnade und Gericht, Gesetz und Evangelium, Erwählung und Verwerfung, Möglichkeit und Unmöglichkeit sind nun nicht mehr auf einzelne Personen oder einzelnen Momente im Leben zu verteilende Realitäten, sondern sie können sich gleichzeitig und an demselben Ort ereignen. Dabei ergeben sich auch neue Unterscheidungen von Dimensionen, und eine neue Selbstbezüglichkeit, etwa von dem an unserer Stelle gerichteten Richter (KD IV/1, § 59.2), wird aussagbar. Zwei Schlüsseltexte für dieses Verständnis mögen dies deutlich machen. Der erste Text ist ein Rundbrief Barths, den er am 26. Februar 1922 an Eduard Thurneysen verschickte. Barth berichtet in diesem relativ bekannten, aber leider viel zu selten als Interpretationsschlüssel herangezogenen Brief von einem intensiven theologischen Disput mit Emanuel Hirsch. Beide tauschten Thesen aus, „nachdem [sie] vorgestern von abends 9 Uhr bis morgens 4 (vier) Uhr mündlich gehornt hatten“.18 Die Thesen sind jeweils von Hirsch, die Antithesen von Barth. Hirsch kann hierbei als ein durchaus eigenständiger und sich in den Bahnen des von Schleiermacher erschlossenen Denkraums bewegender Theologe gelesen werden. These 1. Die hl. Schrift ist Zeugnis eines Lebens, das auch in uns Gestalt gewinnen soll. Antithese 1. Die hl. Schrift ist Zeugnis nicht eines, sondern des ewigen Lebens, das in mir Gestalt gewinnen soll. Aber sofern dies letztere mir geschieht, bin ich nicht ich, [sondern] der neue Mensch in Christus. Joh. 3,3; Gal. 2,20.19

Barths erste Antithese etabliert damit eine größere Spezifik – nicht ein Leben, sondern das ewige Leben – und führt damit zu einer „Doppelung“ des Subjekts: nicht ich, sondern der neue Mensch in Christus. Das so gedoppelte Subjekt erlebt nun die komplexe Einheit der Widersprüche Gericht und Gnade zugleich, wie Barth in seiner Antithese 2 ausführt: Das uns bezeugte ewige Leben (dessen Aneignung in keinem Sinne eine ‚Aufgabe‘ genannt werden kann) wird zur Verheißung, die über mein ganzes Leben ausgesprochen ist, und als Verheißung zum Gesetz dieses Lebens. Darin wird es mir zur Verheißung, daß ich als in der Zeit lebender Mensch ganz unter dem Gericht, nun aber als in der 18 Karl Barth, Rundbrief 26. 02. 1922, in: Karl Barth–Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, hg. u. bearb. v. E. Thurneysen, Zürich 1974, 41. 19 Ebd.

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Vorwort

Ewigkeit lebender Mensch (der ich nur auf Grund jenes Empfangen und Glaubens bin!) ganz unter der Gnade stehe. Darin wird mir diese Verheißung (und in ihr das ewige Leben) zum Gesetz, daß ich im Gericht die Gnade und die Gnade nur im Gericht erkenne.20

Gericht und Gnade gehen somit, ähnlich wie später Offenbarung und Verhüllung, Gesetz und Evangelium, Erwählung und Verwerfung, oder auch Möglichkeit und Unmöglichkeit, komplexe Einheiten ein, die man in Schleiermachers Glaubenslehre nicht oder allenfalls nur ansatzweise findet. Schleiermachers Anliegen ist viel häufiger die Klärung von Widersprüchen, nicht ihre komplexe Zusammenballung, sondern ihre Auseinanderziehung, vorzugsweise zu einer Strecke und einem Kontinuum. Der Reiz dieser dialektisch und dialogisch entwickelten Strecke liegt darin, dass sie lang genug ist, damit die Wahrheit auch gegensätzlicher Aussagen auf ihr genügend Raum hat, sich auszubreiten. Mit dem semiotischen Modell Jurij Lotmans21 gesagt: Barth passt gut zum 20. Jahrhundert, das von der Semiotik der Explosion bestimmt ist. Der Sinn seiner besten Texte entsteht plötzlich, aus der Zusammenstellung gegensätzlicher Aussagen. In dieser Explosion bildet sich erst die Möglichkeit des Verstehens, das vorher keine menschliche Möglichkeit war. Schleiermacher bietet demgegenüber die Gelassenheit einer Semiotik, die auf sukzessiver Entwicklung beruht. Wir sind immer schon im Prozess der christlichen Bewusstseinsbildung, und alle Bedingungen sind so, dass wir eigentlich gar nicht anders können, als in ihm zu wachsen und fortzuschreiten. Der zweite Text stellt die für Barth charakteristische Selbstbezüglichkeit vor. In seiner kritischen Würdigung von Friedrich Schleiermachers Sündenlehre in KD III/3 bedient er sich eines merk-würdigen Bildes. Gott, so Barth, sei für Schleiermacher letztlich „nur der ‚verordnende‘ Arzt, der gar nicht daran denkt, die von ihm verordnete Pille selbst oder gar zuerst einnehmen zu sollen.“22 Dieses Bild eröffnet vielfältige systematische Perspektiven, auch im Hinblick auf den Vergleich der Theologien Barths und Schleiermachers. Zugleich bleibt es befremdlich. Barth scheint sich (wieder einmal?) einer Übertreibung schuldig zu machen. In der traditionellen christlichen Soteriologie ist Gott zwar der Hauptakteur der Erlösung und Versöhnung, aber nur selten wird dabei der Stellvertretungsgedanke in einer Exklusivität, wie sie hier zum Ausdruck kommt, gefasst: Gott der „Arzt“ – um in Barths Bild zu bleiben – nehme das Heilmittel, welches er dem Menschen verabreichen will, selber ein. Man kann überlegen, ob es sich dabei um die Veranschaulichung eines Grundgedankens aus Barths Erwählungslehre in KD II/2 handelt. Dort wird die Rechtfertigungslehre stellver20 A.a.O., 41f. 21 Vgl. Jurij M. Lotman, Kultur und Explosion, Berlin 2010. 22 Barth, KD III/3, 377.

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Vorwort

tretungstheologisch zugespitzt: Gott setzt sich an die Stelle des „Täters“ der Sünde, um die Folgen der Sünde auf sich zu nehmen. Vergebung der Sünden ist darum nicht Verzeihung – die Sünde ist unverzeihlich –, sondern bedeutet, dass Gott „die Qual, die das Unverzeihliche nach sich ziehen musste, seine eigene Qual sein lässt. […] Gott will verlieren, damit der Mensch gewinne.“23 Die Einnahme des verordneten Heilmittels durch den „Arzt“ ist demnach ein Ausdruck der unbedingten Solidarität des Erlösers und Versöhners mit der zu versöhnenden Menschheit. Wenn man das Bild in diesem Sinne theologisch weiter denkt, ergibt sich allerdings eine weitere Merkwürdigkeit: das Heilmittel war ohnehin nicht für den Menschen bestimmt. Denn der „Arzt“ habe bereits in Ewigkeit beschlossen, zugunsten seiner „Patienten“ das Nötige zu tun. In der Sprache der Trinitätstheologie: „Als Vater, Sohn und Geist ist Gott sozusagen im Voraus der unsrige.“24 Außerdem erhebt sich hinter allen diesen Überlegungen die Frage, ob das Bild selber nicht falsch gewählt ist, denn welcher Arzt würde die verordnete Medizin selber einnehmen? Oder ist der Sinn des Bildes gerade in dem Hinweis auf eine zu bearbeitendes dogmatische Aporie zu sehen? Gott widerspricht doch der Sünde nicht nur als Erlöser und Versöhner, sondern auch als Schöpfer, so dass das Bild von Gott als „Arzt“ die ursprüngliche Verbundenheit des Menschen mit Gott, die auch durch die Sünde nicht zerstört werden kann,25 metaphorisch unterbietet.26 Nähert Barth sich in seiner komplexen Selbstbezüglichkeit der problematischen Vorstellung eines erlösten Erlösers? Barth benutzt das Bild von Gott als „Arzt“ zur Veranschaulichung eines theologischen Befunds im Hinblick auf die Sündenlehre Schleiermachers: die Sünde bleibe bei Schleiermacher eine Angelegenheit des Menschen. Sie werde zwar „sehr ernstlich“ betrachtet und beschrieben, aber letztlich werde Gott von ihr nicht betroffen und könne darum nichts zu ihrer Überwindung beitragen: „Er selbst ist hier nicht angefochten. Er selbst ist hier weder beleidigt noch leidend. Er selbst zürnt nicht über die Sünde und ist den Sündern auch nicht barmherzig.“27 23 Barth, KD II/2, 182.177. 24 Karl Barth, KD I/1, München 1932, 404. 25 Im zweiten Römerbriefkommentar, der oft als eine Theologie der Diastase missverstanden wird, spricht Barth von einer protologisch-eschatologischen Einheit der Welt mit Gott. Diese Einheit ist für den Menschen durch die Sünde unmöglich geworden, aber ihre Wirklichkeit wird von Gott keinesfalls negiert, sondern als neue Schöpfung bewahrt. Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, hg. v. C. v. d. Kooi u. K. Tolstaja, Zürich 2010, 49.60.210.381. 26 Zur produktiven Spannung zwischen den schöpfungstheologischen und den versöhnungstheologischen Aspekten in Barths Theologie vgl. Günter Thomas, Chaosüberwindung und Rechtsetzung. Schöpfung und Versöhnung in Karl Barths Eschatologie, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 21 (2005), 259–277. 27 Barth, KD III/3, 377.

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Vorwort

Die Explosivität der Begrifflichkeit – Gott wird von der Sünde „angefochten“ – verdeutlicht die Dramatik der Situation, bei deren Beschreibung Barth zweifellos eine Zuspitzung vornimmt: Der Mensch werde bei Schleiermacher mit der Sünde alleingelassen, und das wäre tatsächlich ein Anlass zum Verzweifeln. Diese Diagnose ist für Barth indes kein Einzelfall, sondern verweist auf ein grundsätzliches Problem: „Dass es sich in dem Verhältnis zwischen Gott und der Sünde um eine real sich abspielende Begegnung und Geschichte handelt, das wollte Schleiermacher nicht wahrhaben, wie er es ja auch nicht wahrhaben wollte, dass es sich in dem Verhältnis von Gott und Menschen, Gott und Kreatur überhaupt um eine reale Begegnung und Geschichte handelt.“28 Das zuletzt gefällte Urteil ist pauschalisierend und problematisch. Zumindest bedürfte es einer umfassenden Begründung, etwa im Hinblick auf Schleiermachers Gottesbegriff, der tatsächlich keine partikularen Beziehungen zwischen Gott und Mensch kennt,29 ohne dass daraus Barths Pauschalurteil folgen muss. Außerdem könnte umgekehrt gefragt werden – und wurde immer wieder gefragt –, ob Barth, mit seiner Konzentration auf das Perfektum des Heilsgeschehens in Jesus Christus, die Heilsvermittlung „real“ genug denkt. Stehen seine Lehre vom Heiligen Geist und seine Soteriologie nicht so stark im Licht der Christologie, dass hier wenig Konkretes sichtbar wird? Geht Barths Grundmodell der Geschichte Jesu Christi und seiner Verheißung, die Barth ja bewusst als Verheißung des Geistes stark macht,30 nicht mehr oder weniger über das menschliche Leben und Erleben hinweg, ohne es in seinem gesellschaftlichen Sein und in den Tiefen seines Selbstbewusstseins zu erreichen? Gerade der Text aus KD III/3 leitet dazu an, vieles von dem, was Barth zu Schleiermacher kritisch sagt, nicht für die endgültige Lösung der Probleme anzusehen. Vielmehr darf man den Theaterdonner, der dabei gelegentlich erklingt, erst einmal verhallen lassen, um in Ruhe die Reflexion der Sachfragen anzugehen. In diesem Sinne widmen sich die folgenden Beiträge in verschiedener Weise dem Weiterdenken auch über Schleiermacher und über Barth hinaus. Wir wünschen eine überraschende, anregende und ertragreiche Lektüre! Unser besonderer Dank für die Herstellung der Druckvorlage gilt David Gippner. Bei unserer Sekretärin, Marita Klaus, bedanken wir uns für die zuverlässige Begleitung des Projekts während der langen Entstehungszeit, bei Dr. Thomas Schlegel für die Übersetzung eines Aufsatzes, bei Jonathan Reinert für 28 Ebd. Schleiermacher spricht davon, dass „der Abstand zwischen Gott und jedem menschlichen Wesen unendlich ist“. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1830/31, Bd. 2, 162. 29 Für Schleiermacher widerspricht die Vorstellung der Pluralität partikularer Beziehungen zwischen Gott und verschiedenen Menschen der christlichen Gotteslehre, weil sie Gott als einen Teil des Naturzusammenhangs, d. h. des Bereichs relativer Gegensätze und Wechselwirkungen verstehe. 30 Vgl. Barth, KD IV/3, 317–424 (§ 69.4: Die Verheißung des Geistes).

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Vorwort

die Mithilfe bei einigen Korrekturen. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland sowie insbesondere die Evangelische Kirche der Pfalz und die Union Evangelischer Kirchen (UEK) haben die Veröffentlichung freundlicherweise mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt. Auch dafür bedanken wir uns. Jena, im März 2015

Martin Leiner und Matthias Gockel

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Matthias Gockel

Einführung und Überblick

Im Folgenden skizzieren wir zunächst die dynamische Entwicklung der Position Barths im Verhältnis zu Schleiermacher. Sodann resümieren wir den heutigen Forschungsstand, der die lange vorherrschende These einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der Ansätze von Barth und Schleiermacher auf verschiedene Weise relativiert. Abschließend folgt eine kurze Zusammenfassung der Beiträge des Bandes.

1.

Barths Schleiermacher

Während seines Theologiestudiums in Deutschland (1906–1908) wird Karl Barth zum liberalen Theologen. Er ist fasziniert von Adolf v. Harnack in Berlin und Wilhelm Herrmann in Marburg, den er zeitlebens als theologischen Lehrer ehren und dessen Einfluss seine Theologie bleibend prägen wird.1 Barths erste wissenschaftlich-theologische Publikation nennt als Quintessenz der von ihm vertretenen modern-theologischen Richtung die Stichworte ‚religiöser Individualismus‘ und ‚historischer Relativismus‘.2 Er spricht mit Hochachtung von Friedrich Schleiermacher als demjenigen, „der uns gelehrt hat oder lehren sollte,

1 Vgl. Christophe Chalamet, Dialectical Theologians: Wilhelm Herrmann, Karl Barth and Rudolf Bultmann, Zürich 2005. Zum Verständnis Barths unentbehrlich bleibt die Darstellung von Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Zürich 2005 (1. Aufl. München 1975). 2 Vgl. Karl Barth, Moderne Theologie und Reichgottesarbeit (1909), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1905–1909, hg. v. H.-A. Drewes, Zürich 1992, 334–366. Vgl. 346: „wer Schüler, nicht bloß Schulbube gewesen ist, als er bei Herrmann oder Harnack seine Kollegienhefte füllte“, für den wird die Wissenschaft „nicht Stoff, sondern Methode und diese Methode nichts Anderes als ein Anwendungsfall seiner sittlichen Aufrichtigkeit sein; mit ihr steht und fällt seine Persönlichkeit.“ Ein drittes, ergänzendes Stichwort der modernen Theologie wäre demnach die ‚sittliche Persönlichkeit‘ des Menschen, für die Gott das „heilige Urbild“ (I. A. Dorner) ist, dessen Ebenbild sie sein bzw. werden soll.

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Matthias Gockel

auf dem Boden des modernen Denkens das wahre Erbe der Reformation zu erwerben, um es zu besitzen.“3 Während der Anfangsmonate seines Pfarramts in Safenwil (Aargau) ab Juli 1911 wird Barth zum ersten Mal der kapitalistisch-gesellschaftliche „Klassengegensatz […] konkret vor Augen“4 geführt. Er erlebt eine „Bekehrung zur Sache des Sozialismus“,5 die er für einige Jahre mit der Sache des Evangeliums – Gottes Reich komme, wie im Himmel so auf Erden! – identifiziert. Diese Identifikation ist typisch für den ‚religiösen Sozialismus‘. Barths Gesellschaftsanalyse ist marxistisch geprägt6 und führt zu einer Stärkung der örtlichen Gewerkschaftsbewegung, ohne dass er dabei eine materialistische Weltanschauung übernimmt.7 Der Sozialismus bleibt kompatibel mit seinen liberal-theologischen Positionen, die auch durch die regelmäßige Beschäftigung mit der Bibel zunächst nicht erschüttert werden. So verkündet Barth seiner Gemeinde: „Schleiermacher war in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Prediger und Professor in Berlin, und er ist einer der tiefsten christlichen Denker aller Zeiten gewesen.“ Allerdings nimmt Barth schon Dissonanzen wahr: „Der Jesus der Tempelreinigung war nicht [Schleiermachers] Freund.“8 Erste Spannungen zum Denken seiner Mentoren werden deutlich. So versteht er das Evangelium und Gottes Gerechtigkeit immer

3 Karl Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte (1910), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, hg. v. H.-A. Drewes u. H. Stoevesandt, Zürich 1993, 149–212, 202. 4 Karl Barth, Autobiographische Skizze aus dem Fakultätsalbum der Ev.-Theol. Fakultät in Münster (1927), in: Karl Barth–Rudolf Bultmann: Briefwechsel 1911–1966, hg. v. B. Jaspert, 2. rev. u. erw. Aufl. Zürich 1994, 290–300, 295. 5 Bruce L. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, Zürich 2006 (engl. OA 1995), 90. 6 Vgl. Karl Barth, Die Arbeiterfrage (1913/14), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909– 1914, 573–682. Zentrale marxistische Begriffe bleiben Barth zeitlebens geläufig, vgl. KD III/4, Zollikon-Zürich 1951, 621–626. 7 Auf die bleibende Bedeutung der Interpretation Friedrich-Wilhelm Marquardts (Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, München 31985) kann hier nur hingewiesen werden. Sie zeigt eindrücklich, dass die Behauptung, heutzutage sei „nun einmal alles Reden von Gott auf Subjektivität reduziert“ von der „Gesellschaftsgeschichte der Neuzeit“ her gerade nicht belegt wird (versus Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 143). Marquardt nimmt keine Ableitung der Theologie Barths aus politischen Theoremen vor, wie bis heute unterstellt wird, und schon gar nicht behauptet er, „die ‚Denkform‘ Barths sei der ‚dialektische Materialismus‘“ (Wolf Krötke, Karl Barth und der ‚Kommunismus‘. Erfahrungen mit einer Theologie der Freiheit in der DDR, Zürich 2013, 18). Vgl. dagegen die sachliche Darstellung bei Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, 340–343. 8 Karl Barth, Predigt am 19. Januar 1913 ( Joh. 2,13–17), in: ders., Predigten 1913, hg. v. N. Barth / G. Sauter, Zürich 21994, 25–29, 26. An Schleiermachers Predigt über diesen Text spüre man, dass er ihn nicht gern hatte: „Ganz unangenehm war ihm zum Beispiel der Gedanke, Jesus könnte mit der Geißel wirklich dreingeschlagen haben.“ (Ebd.).

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Einführung und Überblick

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stärker als Widerspruch gegen die „sogenannte Religion“,9 d. h. ein Christentum der bürgerlichen Selbstzufriedenheit. 15 Monate später beginnt der Erste Weltkrieg. Viele theologische Lehrer Barths in Deutschland übernehmen die nationale Kriegspropaganda und begründen dies mit dem quasi-religiösen Erlebnis, das der Kriegsbeginn für die deutsche „Volksseele“10 bedeute. Diese Entwicklung erweckt in Barth gravierende Zweifel an der Tragfähigkeit ihrer Grundannahmen.11 Die Hinwendung zu einer neuen Theologie wird nochmals beschleunigt. Schließlich folgt im April 1915 die Begegnung mit Christoph Blumhardt im württembergischen Bad Boll, die Barth inspiriert, die christliche Hoffnung als eine in Bewegung setzende Hoffnung auf die Revolution des Reiches Gottes neu zu verstehen. Jesus Christus ist nicht bloß „der Tröster und Helfer des Einzelnen in einer Welt des Zwangs zum Böses-Tun“, der „dies alte Weltganze“ einfach lässt, wie es ist. Vielmehr tritt in ihm „dem Ganzen der menschlichen das Ganze der göttlichen Lebensbedingungen entgegen“; es kommt „eine neue Welt und zerbricht als solche grundsätzlich alle unsere Ethik, die auf dem Grunde der alten Welt aufgebaut ist“.12 Barth hinterfragt nun die Gewissheit des ‚Erlebens‘ Gottes als Grundlage evangelischer Theologie: „Versteht es sich denn von selbst, dass ‚wir‘ das Gottesreich ‚vertreten‘? […] Haben wir denn das Gottesreich in seinem radikalen Ernst überhaupt erfasst, erlebt?“13 9 Karl Barth, Predigt am 4. Mai 1913 (Amos 5,21–24), a. a. O., 207–221, 216. 10 Martin Rade an Karl Barth, 5. 10. 1914, in: Karl Barth–Martin Rade: Ein Briefwechsel, hg. v. Chr. Schwöbel, Gütersloh 1981, 109. Vgl. auch den wichtigen Brief Barths an Wilhelm Herrmann vom 4. 11. 1914 (a. a. O., 113–117). Wenige Monate später, als der deutsche Angriff im Westen zum Stillstand gekommen war und in einen zermürbenden Stellungskrieg überging, blieb von der Kriegseuphorie der deutschen ‚Eliten‘ nichts mehr übrig. 11 „Ich habe eine arge Götterdämmerung erlebt, als ich studierte, wie Harnack, Herrmann, Rade, Eucken etc. sich zu der neuen Lage stellten, wie Religion und Wissenschaft, Kunst und persönliche Kultur […] restlos sich in geistige 42 cm Kanonen gegen asiatische Barbarei, englischen Krämergeist, französische Lüge etc. verwandelte u. bis auf diesen Tag in dieser Verwandlung beharrte.“ Karl Barth an Willy Spoendlin, 4. 1. 1915, unveröffentlicht, Original im Karl Barth-Archiv (KBA 9215.0002). Ich danke dem Archivar, Dr. Peter Zocher, für die freundliche Gewährung der Einsichtnahme. 12 Karl Barth an Martin Rade, 19. 6. 1915, in: Barth–Rade: Ein Briefwechsel, 134. 13 Karl Barth an Eduard Thurneysen, 6. 8. 1915, in: Karl Barth–Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, hg. u. bearb. v. E. Thurneysen, Zürich 1973, 69. Barths Kritik ist bis heute aktuell, wenn man beachtet, wie in volkskirchlichen Verlautbarungen die politischmedial eingeprägte Bedeutung bestimmter Großbegriffe wie ‚Demokratie‘ und ‚Freiheit‘ – zuweilen garniert mit suggestiven Gegenbegriffen (Diktatur, Terrorismus, etc.) – unhinterfragt übernommen wird. Die theologische Reflexion hat sich dann mit ‚religiöser Erfahrung‘ oder ‚erlebter Religion‘ zu begnügen, denn die solcherart vorbestimmte Wirklichkeit lässt keinen Raum für die Versöhnung der Welt mit Gott, schon gar nicht, wenn diese als wahre Wirklichkeit verstanden wird. Barth hingegen betont: „Es gibt in der von Gott in Jesus Christus versöhnten Welt keine von ihm sich selbst überlassene, keine seiner Verfügung entzogene Profanität.“ Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3.1, Zollikon-Zürich

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Matthias Gockel

In den kommenden Jahren verfestigt sich der Eindruck, dass man Schleiermacher „nicht mehr recht glauben konnte“, wie Eduard Thurneysen im Rückblick sagen wird.14 Im Sommer 1916 beginnt Barth mit der Anfertigung von Notizen zum Römerbrief, die er regelmäßig mit Thurneysen diskutiert. Daraus entsteht ein fortlaufender Kommentar. Schleiermacher rückt nun in ein zunehmend kritisches Licht.15 So richte die Definition der Frömmigkeit als ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘ ihren Fokus auf einen „innere[n] Zustand des Menschen“, und dies sei Ausdruck eines „lebensfremden Idealismus, der in sich selber schwingen will“. Die biblische Vorstellung vom Leben betone dagegen „das Hervorbrechen der Innerlichkeit ins Äußerliche, das Körperwerden der Seele, das Gestaltannehmen des Geistes“.16 Im Tambacher Vortrag, durch den Barth im Herbst 1919 in Deutschland bekannt wird, meint er, dass Schleiermacher und das neuzeitliche Christentum, wie zuvor schon der Pietismus, das neutestamentliche Kerygma bewusst „rückwärts […] lesen“,17 d. h. von der religiösen Erfahrung her zu direkten Aussagen über Gott gelangen wollen. Dagegen betont Barth: „Das sogenannten ‚religiöse Erlebnis‘ ist eine durch und durch abgeleitete, sekundäre, gebrochene Form des Göttlichen. […] Nur Hinweis auf den Ursprung, auf Gott ist alles ‚Erleben‘.“18 Während der nächsten zwei Jahre wird ihm bewusst, dass er sich in „offener Opposition zu Schleiermacher“19 befindet. Im Mai 1921, während der Revision der ersten Auflage des Römerbriefkommentars und einige Monate vor seinem Antritt der neu gegründeten Honorarprofessur für Reformierte Theologie in

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1959, 133. Damit antizipiert er Überlegungen zum post-säkularen Zeitalter. Vgl. dazu jetzt Ingolf U. Dalferth, Religionsfixierte Moderne? Der lange Weg vom säkularen Zeitalter zur post-säkularen Welt, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7 (2011), 9–32. Eduard Thurneysen an Karl Barth, 6. 10. 1921, in: Barth–Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1, 525. Vgl. die genaue Rekonstruktion von Sung Hyun Oh, Karl Barth und Friedrich Schleiermacher 1909–1930, Neukirchen-Vluyn 2005. Er bezeichnet den Zeitraum von 1914 bis 1923 als „Übergangsphase“ (a. a. O., 57) und weist auf die Schwierigkeit einer genauen chronologischen Bestimmung hin, da Barths Distanzierung von Schleiermacher „kaum explizit entfaltet“ (a. a. O., 59) wird. Eine gründliche Auseinandersetzung erfolgt erst im Winter 1923/24. Vgl. Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/ 24, hg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 461. Dort erklärt Barth, dass es sich um einen „von mir seit Jahren nicht mehr näher untersuchten Stoff“ handelt. Karl Barth, Religion und Leben (1917), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, in Verbindung mit F.-W. Marquardt (†) hg. v. H.-A. Drewes, Zürich 2012, 409–434, 424. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914– 1921, 546–598, 567. A.a.O., 566. Barth, Autobiographische Skizze (1927), 298. Barth bezeichnet diese „offene Opposition“ als Folge seiner Neuausrichtung seit dem Herbst 1919, die ihn „die Frage nach dem biblischen Sinn des ‚Reiches Gottes‘ ein zweites Mal aufwerfen“ (ebd.) ließ. Das erste Dokument dieses neuen Fragens sei der im April 1920 gehaltene Vortrag „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke“ gewesen.

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Göttingen, erklärt Barth schließlich, er werde seine akademische Lehrtätigkeit „gleich mit einer Kriegserklärung an diesen Kirchenvater und religiösen Virtuosen eröffnen müssen“.20 Dementsprechend präsentiert er Schleiermachers Theologie gegenüber seinen Studenten mit einem energisch-begeisterten Entsetzen, denn es geht ums Ganze: Barths Schleiermacher, interpretiert im Licht der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, verdreht Theologie zur Anthropologie, indem er sich auf die menschliche Frömmigkeit und das Gottesbewusstsein anstelle von Gott und Gottes Offenbarung in Jesus Christus konzentriere. Barths Widerspruch ist streng und polemisch, aber stets begleitet von einer teils offenen, teils ironischen Anerkennung der Leistung Schleiermachers: Schl[eiermacher] macht intelligent, lehrreich und großzügig, was das unnütze Volk der Neuern dumm, ungeschickt, inkonsequent und furchtsam macht. Will man schon ein modernes Christentum, dann wäre es wohl am besten, mit Schl. durch dick und dünn zu gehen, wo die Sache wenigstens neu ist und Schmiß hat; denn das kann man ihm wirklich nicht abstreiten; er ist fast bei allem, was er unternimmt, ein Könner, vor dem man das Hütlein lüften muss, auch wenn man ihm am liebsten an die Gurgel spränge! Die Art, wie er besonders die ethischen Probleme anpackt und aufwickelt, ist einfach glänzend.21

Immer wieder thematisiert Barth die Christologie. Wie Ernst Troeltsch sieht er an dieser Stelle eine Inkonsistenz im System Schleiermachers. Doch im Gegensatz zu Troeltsch, der hier nur einen Rückfall Schleiermachers in traditionelle Bahnen sehen kann,22 würdigt Barth die Christologie Schleiermachers positiv als unvermeidbare „Störung“, die zeige, dass Schleiermacher „unter allen Umständen […] christozentrischer Theologe sein“23 will. Gelegentlich ermahnt Barth seine dialektisch-theologischen Weggefährten, die Auseinandersetzung mit Schleiermacher ohne triumphierenden Gestus zu führen. Zudem wird er an einigen Punkten selber an die Seite seines vermeintlichen Gegners gerückt. So meint Emil Brunner zu ihm: „In der zwischen uns 20 Karl Barth an Eduard Thurneysen, 18. 5. 1921, in: Barth–Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1, 489. 21 Karl Barth, Rundbrief 20. 12. 1923, in: Barth–Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 2, 207. 22 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911. Troeltsch fokussiert auf historisch-sozialpsychologische Dimensionen und kritisiert daher Schleiermachers Betonung des Gegensatzes von Sünde und Erlösung sowie die Idee von Christus als „Bringer der Kräftigkeit des sonst unkräftigen Gottesbewußtseins“, die er als bloße „Anpassung an die herrschende biblisch-kirchliche Sprache“ empfindet (Troeltsch, a. a. O., 45). 23 Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert: Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31960, 385. „Jesus von Nazareth passt verzweifelt schlecht in diese Theologie […] Er macht dem Professor und dem Prediger sichtlich viel Mühe! Aber eben: er ist da!“ (Ebd.). Dieselbe Einschätzung findet sich bereits im Dezember 1923, vgl. Barth, Die Theologie Schleiermachers, 195f.

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schwebenden [soteriologischen] Frage aber stehst du auch noch links von den Foederaltheologen – die nie den Begriff Erlösung auf Adam vor dem Fall anwenden – und ganz in der Nähe – entschuldige – von Schleiermacher, für den ja auch Erlösung kein re…, sondern eine letzte Erschließung der göttlichen Lebenswirklichkeit ist, die alle bisherigen überbietet.“24 Im Mai 1931 resümiert Barth: „Es ist tatsächlich so, daß wir mit dem Mann noch lange nicht fertig sind. Das konnte nur Emil meinen.“25 Aber auch viele Schüler Barths sind nicht damit einverstanden, dass Barth Schleiermacher einen „ganz Großen unter den Theologen“ nennt und ihm eine „wesentliche Weiterentwicklung der Theologie“26 bescheinigt. Die beste Zusammenfassung der Position Barths bietet das SchleiermacherKapitel seiner Vorlesungen zur protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert aus dem Winter 1929/30 und Sommer 1933. Die grundsätzliche Haltung ist nun deutlich: „Wer hier nie geliebt hat und wer nicht in der Lage ist, hier immer wieder zu lieben, der darf hier nicht hassen.“27 Einerseits hält Barth an seiner Kritik, Christus werde in Schleiermachers Theologie letztlich zum Prädikat des frommen Subjekts, fest. Andererseits nimmt er eine Historisierung (wie man heute gerne sagt) vor, indem er auf eine Interpretation in partem optimam zielt und dabei auch den Versuch Schleiermachers, gerade als moderner Mensch verantwortlich von Gott zu reden, würdigt.28 In diesem Zusammenhang äußert Barth zum ersten Mal die Vermutung, Schleiermachers Theologie des christlichfrommen Selbstbewusstseins „konnte die reine Theologie des heiligen Geistes sein; die Lehre von dem durch Gott vor Gottes Angesicht gestellten, durch Gnade begnadigten Menschen“.29 Jedoch gerate der gut gemeinte Ansatz immer wieder – und unvermeidlich – in die Gefahr einer „Auflösung“ des Wortes Gottes und seiner „Selbstständigkeit gegenüber dem Glauben“,30 einer Verwischung der „ultimativen Gegenüberstellung zwischen Gott und dem Menschen, zwischen 24 Emil Brunner an Karl Barth, undatiert (vermutlich 7. 7. 1926), in: Karl Barth–Emil Brunner: Briefwechsel 1916–1966, hg. v. E. Busch, Zürich 2000, 145. Brunner fährt fort: „Mehr als so etwas bekommst du nicht, wenn nicht an der Erlösung das re…, d. h. die Überwindung des Gottwidrigen, also die Sünde die Hauptsache ist.“ 25 Karl Barth an Eduard Thurneysen, 29. 5. 1931, in: Karl Barth–Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 3: 1930–1935, hg. v. C. Algner, Zürich 2000, 143. 26 Vgl. dazu das Protokoll einer Seminarsitzung am 20. 4. 1931, verfasst von Wilhelm Blum, a. a. O., 143 mit Anm. 9 (dort irrtümlich auf 1930 datiert). 27 Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 380f. In seiner Göttinger Schleiermacher-Vorlesung war Barth zu dieser „Liebe“ noch nicht fähig. Barth, Die Theologie Schleiermachers, 9. 28 „Er vollzieht keine Synthese; er lebt aus einer für ihn vollzogenen Einheit, er liebt diesen modernen Menschen in sich selbst und in den andern mit aller Kraft einer ebenso ernsthaften wie selbstverständlichen Liebe.“ Barth, Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 387. 29 A.a.O., 411. 30 A.a.O., 422.

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Christus und dem Christen“.31 Das Einzige, was diesem fatalen Ergebnis entgegenstehe, sei „der gute Wille Schleiermachers, es so weit nicht kommen zu lassen“.32 Diese Position wird Barth im Wesentlichen beibehalten, und sie prägt auch sein bekanntes „Nachwort“ zur Schleiermacher-Auswahl Heinz Bollis.33 Die Behauptung, dass Barth sich grundsätzlich von Schleiermacher abgewandt habe,34 ist also falsch. Seine theologischen Urteile über Schleiermacher sind „manchmal negativ, manchmal positiv und oft mehrdeutig.“35 Er will Schleiermacher überwinden und bleibt dabei auf dessen Denken „vielfach bezogen“.36

2.

Barth und Schleiermacher

Dass Schleiermacher nicht mehr in der Perspektive des historischen Karl Barth gelesen werden sollte, darf inzwischen als Konsens vorausgesetzt werden.37 Immerhin hat Barth selber, wie wir gesehen haben, zu einer Historisierung der Kritik aufgerufen. Die Einsicht, dass Barths Theologie „immer zeitgemäß“ und „auf eine bestimmte Situation gerichtet“38 war, gilt auch für seine Schleiermacher-Interpretation. Ähnlichkeiten im Denken Schleiermachers und Barths sind oft bemerkt, aber aufgrund der unterstellten Gegensätzlichkeit zunächst nicht weiter verfolgt worden. Pünktlich zum 100. Geburtstag Barths im Mai 1986 konnte der britische Theologe Colin Gunton dann feststellen, dass Barths Beziehung zu Schleiermacher zunehmend als ein Dialog und nicht mehr nur als eine Abrechnung wahrgenommen wurde.39 In Nordamerika führte das Gespräch zwischen Interpreten 31 A.a.O., 423f. Zu beachten ist dabei: Gegenüberstellung ist nicht dasselbe wie Gegensatz. 32 A.a.O., 422. 33 Karl Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. v. H. Bolli, München / Hamburg 1968, 290–312. 34 So spricht J. Rohls von einer „radikale[n] Verwerfung“, vgl. Jan Rohls, Karl Barth und die liberale Theologie, in: M. Beintker / Chr. Link / M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch–Klärung–Widerstand, Zürich 2005, 285–312, 308. 35 Alice Collins, Barth’s Relationship to Schleiermacher: A Reassessment, in: Studies in Religion / Sciences Religieuses 17 (1988), 213–224, 213. 36 Eberhard Jüngel, Einführung in Leben und Werk Karl Barths, in: ders., Barth-Studien, Zürich–Köln–Gütersloh 1982, 22–60, 22. 37 Die erste gründliche Untersuchung des Themas war noch weitgehend der Lesart Barths verpflichtet, auch wenn sie seine Kritik an Schleiermacher bereits problematisierte. Vgl. Dietmar Lütz, Homo viator: Karl Barths Ringen mit Schleiermacher, Zürich 1988. 38 McCormack, Theologische Dialektik, 46. Das Wort „zeitgemäß“ wird im englischen Originaltext verwendet. 39 Colin Gunton, Karl Barth and the Western Intellectual Tradition, in: Theology Beyond Christendom. Essays on the Centenary of the Birth of Karl Barth, hg. v. J. Thompson, Allison Park 1986, 285–301, 292.

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Barths und Schleiermachers zu einer gemeinsamen Veröffentlichung,40 die verdeutlichte, dass man nicht länger von einer exklusiven Alternative sprechen sollte. In den Folgejahren erschienen mehrere Studien, die einerseits eine auffällige Nähe zwischen Barth und Schleiermacher gerade in Barths formativer Phase feststellten,41 andererseits die jeweilige Entfaltung bestimmter theologischer Topoi in Beziehung zueinander setzten.42 Eine idealistisch-bewusstseinstheoretische Rekonstruktion Schleiermachers ist damit nicht ausgeschlossen.43 Allerdings ignoriert oder nivelliert sie leicht die Herausforderung durch Barth und wird ferner dem Selbstverständnis Schleiermachers als evangelisch-reformierter Theologe, das durch die Studien von Brian A. Gerrish verstärkte Beachtung gefunden hat,44 kaum gerecht. Doch auch eine (re-)konstruktive Überbietung Barths durch ‚Schleiermacher‘, an die sich dann eine weitere Überbietung durch ‚Barth‘ anschließen könnte, bleibt unbefriedigend. Es gilt, weder Barths Konzeption bloß zu wiederholen, noch „hinter das zurückfallen, was bei ihm vorliegt“.45 Die Aufgabe lautet also 40 James O. Duke / Robert F. Streetman (Hg.), Barth and Schleiermacher: Beyond the Impasse? Philadelphia 1988. Vgl. insbesondere Terrence N. Tice, Interviews with Karl Barth and Reflections on His Interpretations of Schleiermacher (a. a. O., 43–62) und Hans W. Frei, Barth and Schleiermacher: Divergence and Convergence (a. a. O., 65–87). 41 Bruce L. McCormack, What Has Basel to Do with Berlin? The Return of „Church Dogmatics“ in the Schleiermacherian Tradition, in: The Princeton Seminary Bulletin, New Series 23/2 (2002), 146–173; Matthias Gockel, Friedrich Schleiermachers Erwählungslehre und ihre Fortschreibung in der Theologie Karl Barths, in: Journal for the History of Modern Theology / Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 19 (2012), 217–246. 42 Claus-Dieter Osthövener, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, Berlin / New York 1996; Robert Sherman, The Shift to Modernity. Christ and the Doctrine of Creation in the Theologies of Schleiermacher and Barth, New York / London 2005; Matthias Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election: A Systematic-Theological Comparison, Oxford 2007; Eilert Herms, „Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie als Rahmentheorie der Dogmatik“, in: Beintker / Link / Trowitzsch, Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch– Klärung–Widerstand, 141–186. 43 Vgl. für den deutschsprachigen Bereich die Arbeiten von Ulrich Barth und Jörg Dierken. Eine andere Stoßrichtung verfolgt die religionsanalytische Deutung im anglophonen Kontext, vgl. Andrew C. Dole, Schleiermacher on Religion and the Natural Order, Oxford / New York 2010, und meine Rezension in Journal of the American Academy of Religion 78 (2010), 1207– 1210. 44 Vgl. Brian A. Gerrish, Continuing the Reformation: Essays on Modern Religious Thought, Chicago / London 1994, 147–195; ders., The Old Protestantism and the New: Essays on the Reformation Heritage, London / New York 2004 (1. Aufl. 1982), 179–207. „In certain respects Schleiermacher was a more faithful Calvinist than many of his Reformed predecessors and contemporaries.“ (Walter E. Moore, Schleiermacher as a Calvinist. A Comparison of Calvin and Schleiermacher on Providence and Predestination, in: Scottish Journal of Theology 24 [1971], 167–183, 173). 45 Ingolf U. Dalferth, Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, Evangelische Theologie 46 (1986), 402–422, 421. Es wäre „verfehlt, […] auf einen neuen

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Einführung und Überblick

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auch hier: mit dem Anfang anfangen. Vorausgesetzt wird dabei, dass Schleiermacher und Barth wichtige Anliegen teilen, auch wenn sie deren systematischtheologische Umsetzung in verschiedener Weise vornehmen. Das anvisierte kritisch-konstruktive Gespräch zwischen Barth und Schleiermacher verlangt die sensible Wahrnehmung von Differenzen und ermöglicht gerade so die Bestimmung weiterführender Einsichten und Probleme in beiden Ansätzen, um diese für zeitgenössisches theologisches Arbeiten fruchtbar zu machen. Friedrich Lohmann bilanziert, dass die Theologien von Barth und Schleiermacher dabei „als wechselseitige Korrektive dienen“. Hans-Martin Rieger betont, „dass von beiden Positionen zu lernen ist – auch dann, wenn man ihnen zu widersprechen sich genötigt sieht.“ Die Debatte befindet sich also noch im Anfangsstadium, und wir hoffen, dass der vorliegende Band neue Impulse für ihre Fortführung und Vertiefung geben kann.

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Überblick

Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag von Eberhard Busch, Barths engstem Mitarbeiter von 1965 bis 1968. Er befasst sich mit Barths Seminar über Schleiermachers „Reden über die Religion“ im Sommersemester 1968, seiner letzten theologischen Lehrveranstaltung an der Universität Basel. Busch betont, dass Barth das Seminar zu einer genauen Lektüre anleitete und beachten will, was Schleiermacher gesagt hat, nicht nur, was Schleiermacher gemeint hat. Es geht also um ein neues Hören und in diesem Sinne um ein neues, besseres Verstehen Schleiermachers. Dabei werde die eigene Person des Hörenden keineswegs übergangen. Vielmehr sei das Hören für sie ein höchst aktiver Vorgang. Zum Abschluss des Seminars betont Barth, dass er Schleiermacher nicht einfach ablehnen könne, da er sich in besonderer Weise mit ihm verbunden fühle; er liebe Schleiermacher und hoffe auf die „eschatologische Möglichkeit“ eines besseren Verständnisses. Der erste Beitrag von Bruce McCormack widmet sich der Christologie und stellt die These auf, dass Barth als „genuiner Erbe Schleiermachers“ zu verstehen sei. Schleiermachers kritische Bewusstseinstheologie und Barths kritische WortSchleiermacher zu hoffen“, der Barths komplexe theologische Internalisierung der Weltperspektive in die Glaubensperspektive – das Modell der Einheit-in-Differenz von Innen- und Außenperspektiven – durch die ebenso komplexe Konfiguration dieser Glaubensperspektive in die Weltperspektive der Vernunft zu einer „neuen Synthese führt, die dann wiederum durch einen neuen Barth überboten werden könnte.“ Denn die „bei Barth erreichte Komplexität der theologischen Innenperspektive [lässt sich] nicht mehr steigern, sondern nur wiederholen und in immer neuer Weise variieren.“ (Ebd.).

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Gottes-Theologie seien beide daran interessiert, die Offenbarung Gottes dem Zugriff des menschlichen Strebens nach epistemischer Kontrolle zu entziehen. Auch die jeweiligen Christologien teilten dieses Interesse. Sie nehmen das überlieferte Dogma als eine bleibende interpretatorische Herausforderung an und zeigen exemplarisch, was es bedeutet, die gefundenen kirchlich-theologischen Lösungen stets für Korrekturen oder Ergänzungen offenzuhalten. Außerdem bewege Barth sich vor allem in der frühen Phase seiner dialektischen Theologie in der Nähe von Schleiermacher. Später entfalte er, in der Christologie der Versöhnungslehre (KD IV), mit Hilfe des Begriffs der Selbsterniedrigung Gottes und mit Anleihen bei Hegel eine Christologie, die als „orthodoxe Zwei-Naturen-Lehre unter den Bedingungen der Moderne“ gelten könne. Dabei werde das kritische Element bewahrt und der fundamentale Unterschied zwischen göttlicher und der menschlicher ‚Natur‘ betont. Zugleich erklärt Barth, dass Gott leiden könne, aber anders als bei Hegel sei es dafür nicht notwendig, dass Gott sich in einen Menschen ‚verwandelt‘. McCormack resümiert, dass Barth Schleiermachers Anliegen aufnehme, um sie anders und besser zur Geltung zu bringen. Darum sei der Versuch, ausgerechnet mit Schleiermacher über Barth hinauszugehen, verfehlt. Der Beitrag von Anne Käfer widmet sich dem in jüngerer Zeit oft diskutierten Thema der Allmacht Gottes und dem Verständnis des Wunders. Sowohl für Barth als auch für Schleiermacher sei das Wunder ein Erweis der Allmacht Gottes. Allerdings denke Schleiermacher dabei primär an „das Wunder des Zum-Glauben-Kommens“, das dann zur Einsicht in die Allmacht Gottes führe, während Barth das geistgewirkte Wunder des Glaubens oft nicht genüge, so dass es daneben weiterer „Allmachtbekundungen“ bedürfe. Ferner unterscheide Barth im Blick auf Gottes Handeln genau zwischen Freiheit und Notwendigkeit, während Schleiermacher annehme, dass für Gott nur eine Welt, und zwar diejenige, die seinem Wesen, seiner Allwissenheit und seiner Allmacht entspricht, möglich und wirklich sei. Durch diese Annahme werde allerdings „die freie Kreativität des allmächtigen Ursprungs“ eingeschränkt. Käfer meint, dass beide Entwürfe stark deterministisch sind und für den Menschen „nahezu keine Macht“ übriglassen. Auf diese Weise werde die menschliche Verantwortung insgesamt „weitreichend reduziert“. Der Beitrag von Georg Plasger vergleicht Schleiermachers und Barths Verständnis von Jesus Christus als Urbild und wahrer Mensch. Schleiermachers Ansatz beim unmittelbaren Selbstbewusstsein als Ort menschlicher Frömmigkeit ziele auf den Erlösungsbegriff, so dass die gesamte Dogmatik eine soteriologische Grundausrichtung gewinnt. Schleiermacher entfalte die Besonderheit der Person Jesu Christi mit der Dialektik von Urbildlichkeit (Sündlosigkeit) und Geschichtlich-

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keit, während sein Begriff vom ‚Sein Gottes in Christus‘ die traditionelle ZweiNaturen-Lehre weiterführe. Barths Darstellung zeichne sich durch ihre Inklusivität aus: Jesus Christus ist der wahre Mensch, denn in seinem Leben werde die Bestimmung des Menschen offenbar. In ihm sind nicht nur alle Menschen „der Sünde gestorben“, vielmehr gelte ebenso: „Der versöhnte Mensch ist die Wirklichkeit, von der aus jeder Mensch sich und andere sehen darf.“ Abschließend erwägt Plasger, ob bei Schleiermacher nicht doch „zu viel an Substanz auf der Strecke bleibt“, während es Barths Christologie besser gelinge, „biblische Vorgaben und die Dynamik der göttlichen Geschichte aufzunehmen“. Der Beitrag von Jürgen Boomgaarden bringt anthropologische Annahmen Schleiermachers und Barths in einen kritischen Dialog. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Barth bei Schleiermacher einen problematischen Sündenbegriff entdeckt, aber dieselbe Diagnose auch für Barth gestellt werden kann. Boomgaarden rückt die Geschichte des Menschen im Verhältnis zu Gott in den Mittelpunkt. In beiden Entwürfen sei die Anthropologie christologisch angelegt, wobei für Schleiermacher „die Erfahrung Gottes in der Geschichte eines Menschen“ und für Barth „Gottes Geschichte als Geschichte jedes Menschen“ im Zentrum stehen. Das führt zu einigen Anfragen: „Wie soll Schleiermacher die Heillosigkeit der Sünde erfassen können, wenn er die Geschichte von Kreuz und Auferstehung nicht zum anthropologischen Zentralort macht? Wie soll Barth die Gottlosigkeit des Menschen in der Sünde glaubhaft vermitteln können, wenn er das Heil Gottes nicht zuerst als Wende in der Geschichte des Menschen beschreibt?“ Zugleich gebe es grundlegende Einsichten, die für zukünftige anthropologische Entwürfe unverzichtbar seien. Bei Schleiermacher finde „die christliche Anthropologie in der Geschichte des von Christus durchdrungenen Menschen ihre Erfüllung“. Bei Barth werde betont, dass Gott „sich selbst in eine geschichtliche Beziehung zum Menschen setzt und die christliche Anthropologie nur in dieser Geschichte gründen kann“. Der Beitrag von Martin Hailer widmet sich dem Begriff der Wiedergeburt als Hinweis auf die Tatsache, dass Gottes unvorhersehbare Gnade einen Menschen „spürbar verändert“. Für Schleiermacher sei die Wiedergeburt eine Folge von Gottes Handeln mit der Welt, das die Glaubenden sozusagen mitreißt und ihr „Zutrauen in Gottes stetige Gnade und Gegenwart“ stärkt. In Barths Theologie sei die Einordnung der Sache und des Begriffs der Wiedergeburt weniger deutlich, und es gebe eine engere Verschränkung von Christologie und Soteriologie: „Wie Menschen sich als Wiedergeborene vorfinden ist nicht auszusagen, ohne [zugleich] von Gottes Tat und Sein in Christus zu sprechen.“ Die Lehre von der

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Wiedergeburt sei bei Barth ein integraler Aspekt der Lehre von der Heiligung, wobei der Stellvertretungsgedanke eine Zentralstellung einnehme. Anschließend bietet Hailer einige „Mutmaßungen über die Inhalte eines nicht stattgefundenen Gesprächs“ zwischen Barth und Schleiermacher. Es gebe eine „Strukturparallele“ hinsichtlich der Idee der effektiven Rechtfertigung, und in beiden Entwürfen sei die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes in der menschlichen Lebenswirklichkeit zentral. Eine Differenz liege darin, dass Schleiermacher die Erfahrung der Wiedergeburt als Introspektion darstellt, was von Barth kritisiert wird. Ferner stelle Schleiermachers Annahme einer Reziprozität zwischen dem universalen Naturzusammenhang und der göttlichen Ursächlichkeit die Ereignishaftigkeit des Handelns Gottes in Frage. Hier biete Barths Theologie einen Vorteil: „sie entlastet das Subjekt davon, verifizierende Instanz der Gnade und Gegenwart Gottes sein zu müssen.“ Der Beitrag von Hans-Martin Rieger widmet sich der Ekklesiologie. Er geht davon aus, dass Schleiermacher und Barth sich beide „auf eine ihnen fragwürdig gewordene geschichtliche Sozialgestalt von Kirche beziehen“. Anschließend fragt er nach der „material-dogmatisch ausgeführten Theorieanlage“. Schleiermacher ziele auf die Integration von theologischer und nicht-theologischer Betrachtungsweise der Kirche, während Barth auf der Differenz dieser zwei Perspektiven bestehe. Beide nehmen eine christologische Grundierung der Ekklesiologie vor, entfalten sie aber auf unterschiedliche Weise: „Schleiermacher setzt auf die Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die er in der christologischen unio personalis Christi vorfindet; Barth setzt auf Differenz und einlinige Bestimmungsrichtung zwischen Göttlichem und Menschlichem, die er in der Lehre von der An- und Enhypostasie vorfindet.“ Für Rieger bleiben beide Ansätze angesichts der „ekklesiologischen Herausforderungen der gegenwärtigen Moderne“ wichtig. Schleiermachers Theorie sei „darin zu würdigen, dass sie sich der Aufgabe der Explikation dessen stellt, was die Kultur verliert, wenn sie die Kirche verliert.“ Das bedeute aber nicht – hier folgt Rieger der Kritik Barths –, dass Religion für menschliche Kultur und Identität essentiell sei. Barths Entwurf berücksichtige die Dialektik der kulturellen Ortsbestimmung der Kirche und die damit verbundene geschichtliche Kontingenz. Daraus folge: „Eine Kirche unter dem Kreuz wird nicht gut daran tun, einen notwendigen Ort in der menschlichen Kultur zu beanspruchen; auch und gerade als Randexistenz vermag sie in exemplarischer Proexistenz deutlich zu machen, dass zu wahrer Humanität die Anerkennung des Kontingenten gehört.“ Der Beitrag von Cornelis van der Kooi beleuchtet die Pneumatologie, d. h. das „Geheimnis, [dass] Gott sich in die Gegenwart des Menschen begibt“. Paulus

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schreibt: „Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind“ (Römer 8,17). Daher müsse die Frage gestellt werden, „wer denn der menschliche Geist ist, der das Zeugnis des Heiligen Geistes vernimmt“. Schleiermacher entfalte von dort her eine „Pneuma-Christologie“ und Barth, so ist wohl zu folgern, eine Christo-Pneumatologie. Für Schleiermacher sei die Gabe des Heiligen Geistes „ein Ereignis, das an erster Stelle die Gemeinschaft betrifft“; der Gedanke der Intersubjektivität sei fundamental. Dabei gehe es nicht bloß um die „Erhöhung der humanen Kultur“, wie Barth befürchtet, sondern darum, dass der menschliche Geist auf „die Erfüllung der Lebensproblematik gerichtet“ sei, und diese Erfüllung zeige sich in der in Jesus Christus realisierten „Vollendung“. Insgesamt bleibe Schleiermacher auf der Linie Calvins und nehme eine besondere „Funktionalität des Geistes“ an. Bei Barth dagegen diene der Geist der Selbstvergegenwärtigung und Selbstverkündigung Jesu Christi und habe „kein eigenes Gegenstandsfeld“. Van der Kooi würdigt beide Entwürfe: Barth betone „die bleibende kritische und normative Aufgabe der Theologie“, Schleiermacher weise „auf die Vielfältigkeit, Kontextbezogenheit und polyphone Konkretheit des Wirkens des Heiligen Geistes“ hin und verdeutliche damit die differenzierten Möglichkeiten dieses Wirkens. Der Beitrag von Friedrich Lohmann widmet sich der Ethik des Politischen und beleuchtet zunächst das jeweils zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis. Schleiermachers Ethik des Politischen, konzipiert als Staatslehre, verstehe den Staat als ein Element des ‚Naturbildungsprozesses‘, der sich in beständiger Entwicklung befindet. Ferner stelle die Staatsbildung ein wichtiges Moment der Vergemeinschaftung dar. Volk und Staat stehen exemplarisch für die inkarnierte Vernunft und erhalten „göttliche Dignität“. Diese „Aufladung des partikularen Volksgeistes als göttliche Offenbarung“ verwechsle jedoch den „naturalen Ausgangspunkt des ethischen Prozesses mit diesem selbst.“ Barths Denken zeige ein „akt-orientiertes Wirklichkeitsverständnis“ verbunden mit einer „TranszendenzOrientierung“, auch in der Ethik des Politischen. Hervorzuheben sei das Festhalten am Sozialismus „als der relativ besten Form menschlicher Politikgestaltung“. Insgesamt entfalte Barth eine „christonom gebundene Situationsethik“ (M. Beintker), die aber die Gefahr berge, dass die Ethik ihre orientierende Aufgabe zu verlieren drohe. Menschliches Leben bedürfe des Rückgriffs auf „Vermittlungsinstanzen wie Vernunft, Erfahrung, Natur oder Geschichte […], im vollen Bewusstsein ihrer Zwiespältigkeit“. Insgesamt ergeben sich für Lohmann viele Gemeinsamkeiten, aber auch markante Unterschiede im Hinblick auf die Aufgaben des Staates und den Begriff der Nation. Schleiermacher betone „die Kontinuität zwischen menschlicher Natur und Reich Gottes“, Barth hingegen „die bleibende Transzendenz des

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Reiches Gottes, die jede irdische Institution – Nation, Staat, aber auch Kirche – in ihren Ansprüchen fragwürdig werden lässt.“ Der Beitrag von Gregor Etzelmüller thematisiert die Eschatologie und beginnt mit einem Blick auf Barths Stellung zu Brunners Kritik an Schleiermacher. Wie Brunner meint Barth, dass Schleiermachers Religionsverständnis der „apokalyptischen Eschatologie des Neuen Testamentes“ widerspreche und die „Diastase von Gegenwart und Zukunft“ übersehe. Ferner übersehe Schleiermacher, dass die Erlösung gegenüber der Versöhnung ein Neues schafft. Gleichwohl intendierten beide Theologen eine christologische Konzentration ohne „christologische Reduktion“. Anschließend wird Barths Kritik einer Meta-Kritik unterzogen, so dass ein konstruktiver Dialog zwischen Schleiermacher und Barth entsteht. Drei Themen stehen im Mittelpunkt: Parusie und Auferstehung, die Differenz von Versöhnung und Erlösung (präsentische und endgeschichtliche Eschatologie) und die Frage der Allerlösung. In KD IV nähere Barth sich Schleiermachers Deutung des Jüngsten Gerichts als innerer Reinigung, die zu der Erwartung führt, dass letztlich alle Menschen „Glieder im Reich Christi sein werden“. Eine explizite Bejahung (oder Ablehnung) der Lehre der Allversöhnung nimmt Barth dabei nicht vor. Insgesamt sieht Etzelmüller bei Barth eine Tendenz, „das gegenwärtige Wachsen des Reiches Gottes im heiligen Geist auszublenden“. Schleiermacher stehe in der Gefahr, „angesichts der gegenwärtigen Erfahrung der Seligkeit die endgeschichtliche Dimension der Eschatologie nur als kirchlich überlieferte zu thematisieren, sie aber nicht mehr lebendig fortzuschreiben“. Der abschließende Beitrag von Bruce McCormack hinterfragt Barths Kritik an Schleiermacher in dessen Vorlesungen über die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts. McCormack analysiert Barths Behauptungen über Schleiermachers „Apologetik“ und erwägt, ob Barth dabei bewusst einseitig und teilweise forciert argumentiere. So ignoriere er offensichtlich, dass Schleiermacher der christlichen Frömmigkeit einen ethisch-teleologischen Charakter zuspricht und sie keineswegs zum ästhetischen Religionstypus rechnet. Die „Tragik“ der Kritik Barths bestehe darin, dass sie die Gemeinsamkeiten beider Theologen, sowohl in formaler als auch in materialer Hinsicht, überspiele. Abschließend stellt McCormack die These auf, dass eine Theologie des Heiligen Geistes, wie sie Schleiermacher laut Barth vor Augen gestanden habe, in Barths erstem Dogmatik-Zyklus (1924–26) zu finden sei.

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Eberhard Busch

Notizen zu Karl Barths letztem Seminar: Friedrich Schleiermachers „Reden über die Religion“

Am 21. November 1968 rief Karl Barth mich telefonisch an und fragte, ob ich schon gebührend beachtet habe, dass heute vor 200 Jahren Friedrich Schleiermacher geboren worden sei. Ich bejahte. Da lud er dazu ein, diesem Großen nun, so wie dieser es einst von dem „heiligen verstoßenen“ Spinoza sagte,1 eine Locke seinen Manen zu opfern. Bei der Erregung, in der Barth das meldete, spürte ich, dass für ihn Schleiermacher eine höchst lebendige, sprechende, gegenwärtige Gestalt war. Darum hatte er bereits im vorangegangenen Sommer im Vorblick auf das Jubiläum das Gedenken in seiner Weise gestaltet. Im Februar hatte er zwar eine schwere Erkrankung erlitten, die ihn hart an den Rand des Todes führte. Aber dann hatte er sich noch einmal aufgerichtet, um in seinem hohen Alter und seinem Kranksein zum Trotz jeweils am Samstag ein Seminar oder, wie er lieber mit Bedacht sagte, ein Kolloquium an der Universität durchzuführen – es wurde seine letzte akademische Veranstaltung. Die Unternehmung war der Beschäftigung mit Schleiermachers „Reden“ von 1799 gewidmet; und es war wohl die Erinnerung gerade an diesen Theologen, die ihm die Kraft zu solchem Tun gab. Er war sogar richtig stolz, dass jedenfalls er dieses Jubiläum nicht vergessen hatte; denn er fand es traurig, dass die jüngeren Aktiven an der Theologischen Fakultät Basel dieses allem Anschein nach vergessen hatten. Mehrfach in seinem Leben hat Barth sich direkt mit Schleiermacher befasst. In seiner Genfer Zeit (1909–11) hatte er eine Dissertation über die Lehre vom Gebet bei diesem Theologen ins Auge gefasst, und er hat in dessen Geist gepredigt, wohlgemerkt auf der alten Kanzel Calvins im dortigen „Auditoire“, und das in der Meinung, dass das im Sinne des Genfer Reformators war. Als 82-Jähriger bemerkte er zu seiner letzten Beschäftigung mit Schleiermacher: „On revient toujours aux son premier amour.“ Aber er setzte dem verschmitzt hinzu, dass der Satz bei ihm ja auch anders lauten könnte, wenn auch nicht so lauten sollte: „Le 1 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 61967, 54.

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Eberhard Busch

criminel revient toujours à la place de son crime.“ In der Tat war er unterdes kritisch gegenüber jenem Theologenhaupt geworden. Immerhin, die Art, wie inmitten der Abgrenzungen der Dialektischen Theologen Emil Brunner sein Verdikt über Schleiermacher aussprach,2 machte Barth stutzig. Er wurde sich klar, dass es auf dem Feld der Theologie solche definitiven Verabschiedungen Vorangegangener grundsätzlich nicht geben darf. Dem widerspreche der Glaube an den Auferstandenen von den Toten. In ihm lebt auch dieser Theologe. Bei der Einführung in das Thema des Kolloquiums3 führte Barth aus, dass es entscheidend „die großartige Verbindung von Einheit und Mannigfaltigkeit seines Denkens und Wissens“ sei, die ihn immer wieder zu Schleiermacher zurückgeführt habe. Ist das auch der Grund dafür, fragte er, weshalb dieser Mann heutzutage geradezu als der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ ausgegeben worden sei? Warum auch immer, er war jedenfalls solch ein Kirchenvater, und Barth fügte hinzu, vielleicht sei er das auch noch im 20. Jahrhundert. Er habe vernommen, dass Schleiermacher neuerdings in den USA hoch gefeiert werde. In Time Magazine sei zu lesen gewesen, dass das passionale Erlebnis der Religion für den modernen Menschen mehr Sinn habe als das vom Intellekt bestimmte Verhältnis, wie es bei ihm, Barth, der Fall sei. Das Thema seines Kolloquiums waren Schleiermacher Reden „Über die Religion“ von 1799. Es ist eine Schrift, über die er einst in Marburger Studienzeiten seinen verehrten Lehrer Wilhelm Hermann sagen hörte: sie sei die bedeutendste christliche Schrift seit Abschluss des neutestamentlichen Kanons. Bei Herrmann wiederum hatte er gehört, dass von Immanuel Kant zu lernen sei, was „das Gesetz“ sei, und offenbar war nach ihm von Schleiermacher zu erfahren, was „das Evangelium“ sei. Dass freilich das so nicht stimmen kann, war Barth bald klar, weil Schleiermacher doch in seiner „Grundlegung“ christlicher Sitte sehr bestimmt Kant kritisiert und korrigiert. Barth kannte gewiss auch und empfahl die anderen Schriften Schleiermachers, aber er meinte, dass dieser Theologe in seinen „Reden“ sein Herz am Weitesten öffne. Und immerhin habe er selbst seine Schrift noch dreimal in seinem Leben herausgegeben, auch noch, als schon sein Meisterwerk „Der christliche Glaube“ veröffentlicht war. Er fand sie offenbar nicht durch dieses Buch überholt, sondern erneut ins Licht gesetzt. Daher legte Barth gerade sie seinem Kolloquium zugrunde, und zwar nach der Ausgabe von Rudolf Otto. Wichtig war ihm die Frage der Art der Behandlung dieses Theologen. Er sprach davon in einer der ersten Sitzungen: Schleiermacher sei wohl theologisch ein Antipode von ihm, aber es solle in dem Seminar deutlich werden, dass er der 2 Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, besonders 375–389. 3 Vgl. dazu Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, zunächst: 548–553; 555–559.

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Notizen zu Karl Barths letztem Seminar

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von ihm ebenso sehr respektierte wie geliebte Antipode sei. Doch wie sollte dann der Text der „Reden“ besprochen werden? Vor allen Dingen nicht so, meinte Barth, dass man dabei Wasser auf die eigenen Mühlen zu lenken unternimmt. Mit Energie und Ausdauer beschrieb er, wie genau das im Falle vieler verschiedener theologischer Konzepte funktioniert hat. Auf der einen Seite stehen die Kritiker, wie Emil Brunner und zuvor schon Albrecht Ritschl.4 Gerade der Letztere lasse seinen Kontrahenten gar nicht richtig zu Wort kommen, sondern falle ihm schon auf der ersten Seite ins Wort. Auf der anderen Seite befinden sich die Lobenden, wie Otto, der Sohn jenes Albrecht Ritschl, der dem vom Vater Verschmähten eine „Ehrenrettung“ zuteil werden lassen wollte.5 Aber ob so oder so, die Interpreten sind sich darin einig: sie deuten ihr „Objekt“ nach dem Maßstab, ob und inwiefern sie ihre eigene Theologie darin wiederfinden bzw. nicht darin wiederfinden. Barth ist bei dieser Kritik auch gegen sich selbst kritisch, und er sagte, dass er bei einem Seminar in den fünfziger Jahren über die „Reden“ diese möglichst in optimam partem zu verstehen versuchte, nämlich so, als habe der Meister vielleicht doch schon heimlich in der „Kirchlichen Dogmatik“ gelesen. Diesmal aber wolle Barth mit den Anwesenden anders verfahren. Er wolle sich streng darauf konzentrieren, ihn selbst zu Gehör zu bringen und also schlicht zu hören – obwohl dieses Schlichte bekanntlich besonders bemühend sei! Er wolle hören nicht unter Ausschaltung der eigenen Person, aber so, dass die Person entscheidend als genauer Hörer aktiv ist – als Hörer dessen, nicht was hat er sagen wollen, was hat er gemeint, sondern: was hat er gesagt. So genau wie nur möglich: dies! Nicht um den da Redenden auf eine bestimmte Meinung des Hörers festzulegen, sondern um zu einem möglichst geduldig wachsamen Hören anzuleiten, diktierte Barth fünf Fragen, die er genau bedacht hatte. Er gab sie den Teilnehmern mit auf den Weg, mit der Erklärung, dass wir in den Seminarsitzungen darauf nicht mehr zurückkommen würden. Denn diese Fragen sollten nur unsere Ohren und sonstigen Sinne beim Lesen des Textes schärfen. Während der Zeit des Kolloquiums schrieb Barth auch sein „Nachwort“ zu einem Buch mit ausgewählten Schleiermacher-Texten. Darin notierte er genau diese Fragen.6 Da sie

4 Albrecht Ritschl, Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen, Bonn 1874. 5 Otto Ritschl, Schleiermachers Stellung zum Christentum in seinen Reden über die Religion. Ein Beitrag zur Ehrenrettung Schleiermachers, Gotha 1888. 6 Vgl. Barths „Nachwort“ zu dem von Heinz Bolli herausgegebenen Siebenstern-Taschenbuch „Schleiermacher-Auswahl“ (Göttingen 1968), das er während des Semesters (Mitte Juni) schrieb. Dort sind diese Fragen auf den Seiten 307–310 enthalten, aber in einer abweichenden Formulierung.

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Eberhard Busch

jedoch im Drucktext von seinem Diktat abweichen, seien sie hier vollständig wiedergegeben: 1. Handelt es sich in dem, was Schleiermacher vorbringt, esoterisch, d. h. eigentlich, innerlich, in seiner wirklichen Meinung und Absicht um eine Theologie, ausgerichtet auf Predigt, Unterricht und Seelsorge? Handelt es sich um eine Theologie, die er dann exoterisch, d. h. nach außen gewendet, im Blick auf seine Leser und Zuhörer, im Gewand einer seiner Zeit und seinen Zuhörern angemessenen und verständlichen Philosophie abhandelt? Oder geht es in dem, was Schleiermacher vorträgt, esoterisch, innerlich, in seiner eigenen Meinung und Absicht um eine Philosophie, die er in Auseinandersetzung mit der philosophischen Vorzeit und dann mit dem zeitgenössischen Idealismus in seinen Spielarten von Kant über Fichte zu Schelling eigentlich vortragen wollte, die er aber exoterisch, im Blick auf die Kirche, die Gemeinde, auf die sogenannten einfachen Gläubigen im Gewande einer bestimmten, durch die damalige Zeit bedingten Theologie abhandelt? Geht es ihm eigentlich um Theologie oder um Philosophie, nur uneigentlich um Philosophie oder nur uneigentlich um Theologie? – Wer das Eine oder das Andere behauptet, lasse sich durch die jeweils gegenteilige Ansicht fragen! 2. Wir hören in diesen „Reden“ einen Menschen sprechen in Form von Theologie oder von Philosophie (in dem bewussten antithetischen Verständnis). Frage: Denkt und spricht in diesem Buch und allen seinen Büchern ein Mensch, der hört auf ein ihm selber, seinem Sein, seinem Fühlen, seinem Erkennen, seinem Wollen unaufhebbar konfrontiertes Gegenüber? Denkt und redet Schleiermacher im Blick auf einen echten Gegenstand, der als Gegen-stand unauflöslich ist? Oder: Ist es so, dass hier ein Mensch denkt und redet aus einem souveränen Wissen um sein eigenes Zugleichsein oder Einswerden oder gar Einssein ( jetzt können wir nicht im präzisen Sinn von einem Gegenstand reden, aber) mit einem relativ realen ‚Anderen‘, mit dem er sich und seine Leser und Hörer beschäftigen will und kann, obwohl es unendlich und unbestimmbar ist, aber weil er auf Grund dessen daran beteiligt ist, dass es ihm kein Gegenstand ist, sondern mit dem er eins ist? 3. Denkt, spricht der Mensch in seinem Umgang mit jenem Gegenüber bzw. Anderen auf einem Weg, der herkommt von einer ganz bestimmten konkreten Gestalt dieses Gegenstands oder Anderen und auf dem er dann hinstrebt zu dessen allgemeinen Sinn und Bedeutung und Charakter? Kommt er dabei vom Konkreten her, vom Speziellen, um von da aus zum Abstrakten und Allgemeinen zu kommen? Oder: Denkt und redet hier der Mensch in seinem Umgang mit jenem Gegenstand oder mit dem Anderen von einem ihm irgendwie (aliquo modo) bekannten allgemeinen Sinn her? Denkt und redet er hier, weil er das Innere dieses Anderen kennt, auf Grund dessen, dass er selbst so ist, und dies in Richtung auf die den Hörern bekannten Besonderheiten und Konkretionen? 4. Ist dieser Denker und Sprecher in seinem Tun, in seiner Bewegung motiviert und dirigiert durch eine bestimmte Macht? Ist diese Macht, die ihn zu dieser Tätigkeit treibt, der Geist? Ist dieser Geist, aus dem heraus er beweglich wird, von Anfang an

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Notizen zu Karl Barths letztem Seminar

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ein partikularer, ein besonderer Geist? Ist es der Heilige Geist, der ihn da treibt und leitet? Oder: Haben wir es hier mit dem Treiben und Leiten und Führen eines universellen, eines allgemeinen, menschlichen Geistes zu tun? Haben wir es mit einer der menschlichen Natur und infolge dessen der ganzen Menschheit eigentümlichen Gestalt einer Macht zu tun, die den Menschen veranlasst zu dem, was er speziell tut? Und wäre dann also zu sagen: Es ist ein letztlich säkularer Geist, der da am Ruder ist? 5. Die wildeste Frage: Sind wohl alle diese vier Fragen (nebst den Gegenfragen) oder wenigstens Einige von ihnen richtig, d. h. Schleiermacher angemessen gestellt? Hat es Sinn, an Schleiermacher mit diesen Fragen heranzutreten und dann, je nach dem, nach links oder rechts Stellung zu nehmen? Dann sind wir reif zu einer Stellungnahme. Aber sind diese Fragen richtig gestellt? Doch es könnte ja auch ganz anders sein – nach dem von Schleiermacher so gerne zitierten Bibeltext, der für ihn die große Frage war und der Anlass, sich offen zu halten: ‚Bist du der, der da kommen soll?‘ Sind wir überhaupt auf der rechten Spur, wenn wir ihm diese Fragen stellen? Sind vielleicht alle diese Fragen oder Fragenpaare miteinander falsch gestellt? Lässt sich Schleiermacher in das ganze Netz einfangen oder vielmehr nicht einfangen? Ist er ein zu großer Fisch oder ein zu kleiner, der das Netz zerreißt oder der durch die Maschen schlüpft? Dann wären wir mit diesen Fragen und mit den Antworten auf sie nicht berechtigt, Stellung zu ihm zu beziehen, sei es positiv oder kritisch. Sondern wir hätten dann nötig, ganz neue Fragen zu stellen und so ganz neue Antworten zu geben.

Nach dem Diktat schärfte Barth den Studierenden ein, er habe wohlgemerkt weder dies noch jenes bejaht, habe auch bei Frage 5 weder zu a) oder b) eine Antwort gegeben. „Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es dieses Fragenmaterial gibt, dass die ‚Reden‘ mit diesen Fragen zu lesen sind!“ Es seien offene Fragen, die zur Stellungnahme einladen. Er mache jetzt weder eine Aussage dazu, ob die Fragen erschöpfend sind, noch welche Antworten zu geben wären. Ein Student bemerkte dazu: „Das ist aber eine schwere Aufgabe für dieses Semester, die Sie uns da stellen.“ – Barth: „Nein, das ist eine Aufgabe für ein ganzes Leben.“ – Ein Anderer fragte: „Sind Ihre Fragen nicht Alternativen, die für Schleiermacher nicht passen, weil er ein Vermittler zwischen solchen Alternativen war?“ – Barth: „Vielleicht haben Sie recht. Aber insoweit haben Sie recht, dass Ihre Frage in Nr. 5 berücksichtigt ist. Wenn Sie in Ihrer Weise denken wollen, dann wiederholen sich die Fragen allerdings immer wieder, wenn wir nämlich weiter fragen, von woher denn Schleiermacher an diesem und diesem Punkt vermittelt.“ – Was Barth an Schleiermacher besonders imponiert, ist die Kultur seiner Bildung. Spöttisch erwähnt er Albrecht Ritschls Kritik, dass das, was jener geboten habe, nicht Theologie sei, sondern bloß Ästhetik. „O hätte Ritschl wenigstens von seiner Ästhetik etwas gelernt!“ Denn seine Kritik trage er in unerfreulich unäs-

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thetischer Manier vor. Was Schleiermacher dagegen vortrage, habe Stil. Auch was er etwa über Frauen sage, sei geformt „in einer Erotik höchsten Niveaus“ – im Gegensatz zu Helmut Thielickes Buch unter dem unsäglichen Titel „Sex“.7 Und so richte sich seine Schrift „Über die Religion“ an die Gebildeten unter deren Verächtern. Leider habe er darum, im Unterschied zu seinem lutherischen Kollegen, das Elend in der Berliner Charité, an der er als Prediger einige Jahre angestellt war, übersehen, worüber man damals in der Stadt murrte: die Hunde in dem nahen Tierspital würden wie Menschen und die Menschen in der Charité wie Hunde behandelt. Doch Schleiermacher fühlte sich nur zu den kulturell Gebildeten gesandt. Barths Kolloquium befasste sich nach seiner Anweisung vornehmlich mit zwei jener „Reden“ – zunächst einen Monat lang mit der zweiten über das, was „eigentlich das Wesen der Religion ausmacht“.8 In der Disposition dieses Textes fand Barth es beachtlich, dass Schleiermacher zuerst seine These positiv ausführt: die Religion sei das Beieinander von Anschauung und Gefühl in ihrer unverwischbaren Besonderheit. Und dann erst nachträglich, im Anhang wird ausgeführt, dass „Gott“ und „Unsterblichkeit“ für die Religion im Grunde entbehrliche Begriffe seien. Das sei ja neuerdings vom englischen Bischof John Robinson in seinem populären Pamphlet „Honest to God“9 aufgegriffen worden, und der stand dabei an der Spitze von denen, die heute „Entmythologisierung“ fordern, im Stolz auf unsere technischen Leistungen – wie es auch Rudolf Bultmann imponiert hat: das Telefon! 10 Aber wenn Barth hier mitmarschieren müsste, dann würde er lieber mit Schleiermacher gehen und nicht mit seinen derzeitigen „Epigonen in ihrer geistlichen und geistigen Armut“. Denn Schleiermacher habe zuerst Ja gesagt zu einer bestimmten Erkenntnis, und dies in einer „bezaubernden Weise“. Erst daraufhin folge das Nein zu dem, was für ihn damit dahinfällt. Des Näheren ist es interessant, wie Schleiermacher die beiden nach ihm tief verschiedenen Wirklichkeiten verbunden sieht: Anschauung und Gefühl – so verschieden, dass sie nur getrennt dargestellt werden können, wie er traurig klage. Die Anschauung bezieht sich auf das an uns handelnde Universum. Wir können es nicht an sich erkennen. Aber es öffnet sich von sich aus dem Menschen, ja es „offenbart sich“ ihm in jedem Augenblick, und zwar eben so, dass er es „anschauen“ kann. Und jeder Schauende ist damit ein neuer Priester und Mittler – jeder! „Was ist Immanuel Kant neben diesem Sänger für ein Philister!“, sagt Barth, der doch wahrlich auch seinen Kant schätzt. Schleiermachers Satz tönt 7 8 9 10

Helmut Thielicke, Sex. Ethik der Geschlechtlichkeit, Tübingen 1966. Schleiermacher, Über die Religion, 116. John A.T. Robinson, Gott ist anders. Honest to God, München 1963. Vgl. Rudolf Bultmann, „Neues Testament und Mythologie“ (1941), in: Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, hg. v. H.W. Bartsch, Hamburg 1948, 18.

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ihm dagegen wie ein Gesang: „Alles, was ist, ist für die Religion notwendig, und alles, was sein kann, ist ihr ein wahres, unentbehrliches Bild“.11 Doch ist dies nach Barth auch nicht auf der Linie des „ineffabile“ des „Heiligen“ bei Rudolf Otto12 zu verstehen. Denn neben der Anschauung gibt es für Schleiermacher das Gefühl und damit die Selbsttätigkeit des Menschen. Darin geht es freilich nicht um ein besonders Tun in speziellen Akten, sondern die Religion lebt als Begleitung zu allen diesen Akten. Sie bewirkt, dass das ganze Handeln in allen besonderen Akten den Charakter von Besonnenheit bekommt. Unbesonnenheit passt nicht zur Religion, wie Schleiermacher entgegen seinem schwärmerischen Großvater bemerkt. Doch er gibt nicht auf und sagt schließlich: Das, was sich nur getrennt aussagen lässt, ist im Vollzug der Religion nicht zweierlei, sondern eins. Der geheimnisvolle Augenblick der Einheit von Anschauung und Gefühl wird eher angedeutet als beschrieben. Eine Minute des Schweigens vor diesem heiligen Moment wäre nun nötig. Zitternd wie Espenlaub müssten wir jetzt wagen zu sagen: Es ist eine Liebesszene – ein jungfräulicher Kuss, eine bräutliche Umarmung … Die Braut ist die Anschauung und der Bräutigam ist das Gefühl. Man ist von der Verschiedenheit hergekommen und ist in eine Vereinigung eingetreten. Dann tritt sie wieder auseinander, aber die Erinnerung daran muss wachgehalten werden.13 Aus der Trennung kommt die romantische Wehmut, die sich sehr wohl mit einem scharfen Denken zu paaren vermag. Weiterhin heißt es bei Schleiermacher:14 Jeder einzelne Mensch ist ein Kompendium des ganzen Universums in irgendeiner interessanten Mischung.15 Von da aus lässt sich sagen: Das Wesen dessen, was ich als Aufgabe in mir finde, ist die Vermittlung. Ein jeder ist qualifiziert, auch Anderen ein Mittler zu sein. Der Gedanke wird daraufhin auf das Problem der Geschichte bezogen. In ihr gibt es Fortschritt und Entwicklung, es geht weiter und weiter.16 Was waltet in der Geschichte? Eine Vielen naheliegende Antwort lautet: „Das Schicksal! Das bedeutet eine Verfügung über den Menschen. Es herrscht eine Nemesis in abänderlichem Regiment. Sie hat den Charakter von strafender Gerechtigkeit: Rache für Vorangegangenes.“ Aber Schleiermachers Gedanken gehen in eine andere Richtung – er hat hier vielleicht an die französische Revolution gedacht: Die Geschichte spult sich nicht bloß schicksalsmäßig ab. Sie bewegt sich aufs Ganze gesehen in einer aufwärtsführenden Linie. Sie ist bestimmt durch ein fortgehendes Erlösungswerk der ewigen Liebe. Schleiermacher hat das sicher nicht leichtsinnig 11 12 13 14 15 16

Schleiermacher, Über die Religion, 65. Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen, Gotha 161927. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 73f. Vgl. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 588f. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 98f. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 100–102.

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gemeint. Der aufklärerische Optimismus war 1755 nach dem Erdbeben von Lissabon schon zu Ende. Dennoch ist die Menschheit auf dem Weg zu Höherem. – Frage: Wäre das Höhere bei Schleiermacher vielleicht das „Woher“ der schlechthinnigen Abhängigkeit, nämlich von Gott? – Barth: Davon redet er hier ja (noch) nicht. Jedenfalls ist der anthropologische Zirkel bei Schleiermacher nicht absolut geschlossen, wenn er von etwas Höherem redet. Das Gefühl ist für Schleiermacher die menschliche Antwort auf die Anschauung, auf die Offenbarung. Die an erster Stelle zu nennende Form des Gefühls ist die Ehrfurcht vor dem Weltgeist. Zweitens: die Demut. Das Universum schaut mich an, und ich stehe klein davor. Das Ergebnis ist das demütige Gefühl. Drittens: Schaut man auf den Anderen, so sieht man, dass man in Ehrfurcht und Demut nicht allein ist. Das erweckt innige Liebe zum Mitmenschen. Zu dieser Liebe gehört die Dankbarkeit für die, die schon zu dieser Liebe gekommen sind, und gehört Mitleid nach unten zu den gewöhnlichen Menschen, die davon noch nicht erfasst sind. Zu ihr gehört auch die Reue im Blick auf unser eigenes Versagen. Diese Begriffe gehören nicht zu einer bloßen Moral, sie sind Gegenwirkungen zu den in der Anschauung empfangenen Wirkungen. Gerade in diesem Gefühl unterscheidet sich die Religion nach drei Seiten: Kunst, Metaphysik und Moral. Schleiermacher will also auch nicht so verstanden sein, wie ihn Albrecht Ritschl verstanden hat: als bloßen Ästheten. Im religiösen Leben geht es allerdings um eine Harmonie. Im gewöhnlichen Leben geht es hingegen kalt und hart zu, weil jeder seine eigene Richtung vertritt.17 Im Schlussabschnitt der 2. Rede findet eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der Religion, wie sie in Dogmen und Lehrsätzen vorliegt, statt. Der Verfasser der „Reden“ meint, die Reflexion über die Religion sei etwas Unvermeidliches. – Reflexion ist ein Spiegeln des Erfahrenen in mir selber. – Ja, ich wäre ohne dies nicht Mensch. Aber zum Verständnis der Religion ist das nicht wesentlich. Die Lehre ist ein notwendiges Übel, könnte man sagen. Aber alles, was wir darin sagen, ist nicht das Eigentliche. Das Eigentliche ist meine Religion. Die muss sich jedoch Ausdruck verschaffen. Wunder, Offenbarungen, Glauben – alles formale Begriffe, die die Religion beschreiben. Für die Vorgänge der Religion braucht es Bezeichnungen, und es kommt wohl darauf an, diese richtig zu formulieren. Hier geht es nicht um rational oder irrational, sondern darum, die Religion in ihrer Realität in den Blick zu bekommen. – Was ist ein Wunder? Die Beziehung einer Begebenheit zum Universum. Es ist also alles Wunder, weil alles Träger der Möglichkeit zu einer Beziehung zum Universum sein kann. Was ist eine Offenbarung? Irgendwo in der Natur, Menschheit oder Geschichte passiert es, dass sich etwas Besonderes öffnet. Wunder und Offenbarung steht in naher Beziehung. Was ist Eingebung (Inspiration)? Eine Handlung des Universums, 17 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 108–111.

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durch die die Freiheit entsteht, eine religiöse Anschauung wiederzugeben. Was ist Weissagung? 18 Die Aussage über die Konsequenz gegenwärtigen Verhaltens, etwa wenn Amos in Samaria das Ende des Wohlstands gekommen sieht oder wenn Jahwe auf Religionsmissbrauch mit Gericht antwortet. Was ist Gnadenwirkung? Fromme Gefühle, die durch Einwirkung des Universums entstanden sind. Gnade ist hier im Sinn der Freiheit des Universums verstanden und nicht eine positive Zuwendung Gottes zum Menschen. Was ist Glaube? Jeder hat eine eigenständige Form desselben, die von Anderen nicht übernommen werden kann. Der Nachdruck liegt hier auf dem Negativen. Glaube kann nicht erlernt oder nachgeahmt oder nachgefühlt werden. Der Mensch tritt im Glauben auf seine eigenen Füße. Glaube ist auf Seiten des Menschen etwas Freies, nicht etwas Vorausgesetztes.19 Das hat besonders Wilhelm Herrmann überzeugt. Er hat jede Stunde in seinen Vorlesungen darauf gehämmert, ja nicht etwas nachzuglauben, also bestimmte vorgelegte Sätze für wahr zu halten.20 Was ist ein Mittler? In jedem Fall nur eine vorläufige Gestalt, ja kein Mittler, der endgültig der Mittler wäre, der uns Menschen von Gott her mit Gott verbindet, vielmehr jemand, der mich meinerseits anstiftet, selber Mittler zu sein. Was ist die Heilige Schrift? Eine Art Mausoleum, das sagt: da war einmal ein großer Geist. Aber er war, „Friede seiner Asche“! Nicht derjenige hat Religion, der die Heilige Schrift nötig zu haben meint, sondern der, der selber eine Heilige Schrift machen könnte.21 Wie verhält sich die Religion aber zu „Gott“ und „Unsterblichkeit“? 22 Zunächst: Wer oder was ist Gott? Eine einzelne Anschauungsart! Barth: Ist das erbaulich? Antwort: Nein, Schleiermacher macht keine positive Aussage über Gott. Barth: „Wer eine bei ihm finden würde, dem würde ich einen Preis geben, vielleicht einen Sigmund-Freud-Preis.“23 Wäre es für Schleiermacher nicht naheliegender gewesen, Gott den Genius der Menschheit zu nennen? Oder könnte er sich auf die Aussage einlassen, dass es noch etwas Höheres als die Menschheit gibt? Oder denkt er entsprechend dem Grundsatz von Tertullian: Deus non est in genere? 24 Das heißt: Gott ist nicht in einem Gattungsbegriff unterzubringen. Gott ist so ein Wesen, das im und über das Universum frei und weise regiert? Aber das passt Schleiermacher nun gar nicht, weil es ihm um das Universum geht und nicht um ein Wesen im Universum. Er erklärt: Ob der Mensch sich einen Gott 18 19 20 21 22 23

Vgl. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 594f. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 115–121. Vgl. Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, Tübingen 71921, V u. ö. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 121–123. Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 123–133. Damals war Barth die Verleihung dieses Preises angekündigt, wegen seiner wissenschaftlichen Sprache, nicht wegen einer positiven Beziehung zu Freud. Im Blick auf Schleiermacher denkt er wohl, dass er solchen Preis in letzterer Beziehung verdient haben würde. 24 Dieser von Barth geschätzte Satz geht auf Thomas v. Aquin zurück: Summa Theologiae I, quaestio III, Art. 5.

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wählt oder nicht, das hängt von seiner Fantasie ab. Aber ein Gott in meiner Fantasie darf nicht zum Maßstab für Andere gemacht werden, ja nicht ihnen gegenüber eifern! Hier taucht wieder der Schrecken über die Ronsdorfer Sekte auf. Man kann aber doch auch glücklich sein und seine Pflicht tun als religiöser Mensch, ohne eine Gottesvorstellung zu haben. Eine Religion ohne Gott kann besser sein als eine mit Gott. Und Unsterblichkeit? Für gewöhnlich wurde der Begriff in Schleiermachers Zeit so gebraucht, dass er vollkommen irreligiös gemeint war. Nach ihm geht es im Tod darum, dass ich mich dem Universum öffne und mit dem Universum eins werde. Meistens wird diese Gelegenheit verpasst, indem ich etwas in mir und für mich erwarte, was den Tod überragt. Solche Individualität muss aber gerade im Tod vernichtet werden. Es geht doch darum, dass ich mitten in der Endlichkeit ins Unendliche aufgelöst werde. Barth meinte dazu, hier müsste nun die Orgel oder das bei Beerdigungen übliche Cello einsetzen! Schleiermacher ist stark von Plato beeinflusst. Was er über das „Wesen der Religion“ sagt, ist von dessen Begrifflichkeit her zu verstehen – wobei „Wesen“ soviel bedeutet wie „Idee“. In der „Glaubenslehre“ tönt dann alles anders. Zwar ist der Romantiker immer noch da, aber er hat sich nun spezialisiert auf die Thematik der fünften Rede. Nun ist Gott das Woher des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. Bei dieser Formulierung spüre man immerhin auch noch einen Hauch des geistigen Einflusses von seinem Großvater Daniel Schleyermacher, der Pastor in der von einem Elias Eller angeführten radikal-pietistischen Ronsdorfer Sekte war; sein Enkel Friedrich zog es vor, diese seine Herkunft zu verschweigen. Nach der 2. Rede wurde das Problem der 5. Rede besprochen. Was Schleiermacher in den vier ersten Reden gesagt hat, wurde offenbar nur vorgetragen, um den Weg frei zu machen, um nun die Religion selbst wirken zu lassen.25 Nur der kann sie verstehen, der selber Religion hat. Die Sache muss für sich selbst sprechen. Nährt sich diese Auffassung nicht von der protestantischen Lehre vom testimonium internum spiritus sancti (inneres Zeugnis des Heiligen Geistes)? Aber ein neuer Widerstand gegen diese Sicht erfordert ein neues Geschäft des Überlegens. Das Thema, dem sich Schleiermacher jetzt stellt: Er will zu dem Gott führen, der Fleisch geworden ist. Das heißt: er will die Religion zeigen, in der sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat. Die Religion! Aber sie existiert nur in den Religionen. Es liegt im Wesen der Religion selbst, dass sie im Endlichen nur in verunreinigter Form gegeben sein kann. Von der Religion zu reden, heißt also, im irdisch Verunreinigten das Ursprüngliche aufzusuchen. Der Gesamtinhalt der 5. Rede ist jedoch der Gedanke, dass es der Religion wesentlich ist, sich zu individualisieren. Wo das geschieht, wo eine Anschauung aus der Fülle der Anschau25 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 236.

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ungen des Universums auf ein Individuum zukommt und es erweckt, da ist das Unendliche sozusagen Fleisch geworden. – Frage: Heißt das, dass Schleiermacher lieber eine natürliche Religion als gemeinsamen Oberbegriff über den Religionen haben möchte? – Antwort: Nein, Schleiermacher ist heftig dagegen. Eine natürliche Religion gibt es nach ihm gar nicht. Es gibt nur positive Religionen.26 Von ihnen kommen für ihn, sagt Barth, nur zwei in Betracht: Der „Judaismus“ – aber der sei eine „unverwesliche Mumie“27 und kein Vorläufer des Christentums. In ihm schimmere überall die Idee einer allgemeinen Vergeltung durch. Barth: „Hat Schleiermacher wohl einmal Psalm 103 angesehen mit seinem Lob dessen, der alle Schuld vergibt? Der zentrale Begriff des Bundes fehlt völlig. O weh!“ Sodann das im Neuen Testament begründete „Christentum“. Aber das verstehe er nicht besser: Das stelle die Religionen unter ein göttliches Gericht, und so vermittle es als eigentliches Grundgefühl die „heilige Wehmut“28 – ein Grundbegriff der Romantik. Aber wie nur habe dieser Mann das Neue Testament gelesen! Es fehle ganz der Ton der Freude. Und das habe seine Ursache darin, dass bei ihm der Grundton des Neuen Testaments nicht zum Klingen komme: Gottes Ja zum Menschen. Da könne man wirklich nur noch in Wehmut fallen. „Leider, leider haben auch die heutigen Theologen, die in den Spuren Schleiermachers gehen, keinen Spaß.“ Dass jener helle Ton nicht zum Klingen kommt, hängt wohl damit zusammen, dass Jesus Christus nicht im Zentrum dieser Theologie stehe. Gewiss, Jesus ist hier nicht vergessen. An ihm interessiert den Christen Schleiermacher aber weder Kreuz noch Auferstehung, sondern die Zwei- Naturen-Lehre im Sinn der Aussage über einen Mittler, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Jesus ist nicht der einzige Mittler, es gibt zahllose weitere Mittler. Was in Jesus offenbar wird, ist die Idee der Vermittlung. Die Darstellung des Christentums endet hier überhaupt mit Einschränkungen. Statt dass das Evangelium in der Zuwendung Gottes in Christus zu den Menschen laut wird, ist die Rede von der Exemplarität Jesu „hoffnungslos gesetzlich“. Statt die Heilige Schrift zu Wort kommen zu lassen, heißt es: es gibt noch mehr Heilige Schriften, denn jeder kann eine schreiben. Ein Student fragt, ob Schleiermacher seine Mit-Romantiker nicht doch in seiner 5. Rede angesprochen habe? Barth antwortet: Friedrich Schlegel hat die 5. Rede in der Tat hoch gelobt, aber er ist zuletzt katholisch geworden. Goethe hat die vier ersten Reden mit Interesse gelesen, aber bei der 5. Rede hat er das Buch mit heiterer Abweisung beiseite gelegt. Gerade bei dieser Rede, wenn denn alles darauf zielte, hätte Schleiermacher ein Feuerwerk an Geistesblitzen leuchten lassen müssen, aber er hat selbst bemerkt, sie sei ihm zu trocken geraten. 26 Das Folgende nach Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 600–603. 27 Schleiermacher, Über die Religion, 286. 28 Schleiermacher, Über die Religion, 299.

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Nachdem Barth sich ein Semester entlang redlich Mühe gegeben hatte, Schleiermacher genau und gesammelt anzuhören und seine Gedanken nachzuvollziehen, nachdem er oftmals erklärt hatte, dass er, wenn, dann lieber mit ihm als mit gegenwärtigen Theologen gehen würde, äußerte er in der letzten Sitzung doch noch Kritik an Schleiermachers Denken. Kritik? Ach, er sagte, er könne ihn nicht verurteilen, nur „fragen und seufzen, ohne dass ich ihn ablehnen müsste. Denn ich bin in eigentümlicher Weise mit ihm verbunden. Ich liebe ihn. Und das, obwohl ich seit mehr als 30 Jahren mich theologisch woanders befinde als er. Es könnte eine eschatologische Möglichkeit geben, wie ich hoffe, wo noch etwas Anderes an Verständnis herausspringt, als es hier möglich ist.“ Zum Schluss des Kolloquiums führte Barth aus: Klaus Harms, der lutherische Propst, meinte seinerzeit, er habe von den „Reden“ Schleiermachers einen Anstoß zu einer ewigen Bewegung erfahren. Ob dergleichen auch jemand unter den Anwesenden widerfahren könnte? Aber lassen wir das einmal dahingestellt, in welche Richtung diese Bewegung dann wohl gehen würde! „Es sei jedenfalls unser Zusammensein mit der Mahnung geschlossen: Lest in Schleiermacher weiter! Auch in Schleiermacher! Aber vergesst dabei nur nicht das Neue Testament – und nicht das Alte Testament!“ Als Barth mir Mitte Juni 1968 das „Nachwort“ zu jener Schleiermacher-Auswahl diktierte, da hatte sein Text noch einmal andere Akzente gegenüber dem, was er im Kolloquium ausführte. Vielleicht lag es daran, dass er noch nicht die kritischen Einsichten im Kopf hatte, die er in der letzten Sitzung des Kolloquiums äußerte, wenn er in dem Text den erstaunlichen Gedanken ausführte: Er habe „zur sachlichen Klärung“ seine Verhältnisses zu Schleiermacher „gelegentlich in Erwägung gezogen … die Möglichkeit einer Theologie des 3. Artikels, beherrschend und entscheidend also des Heiligen Geistes“.29 Barth schaute mich interessiert an, nachdem er solch einen Ausblick – „fast wie einst Mose beim Ausblick nach Kanaan“ – gewagt hatte. Ich fand das „Nachwort“ eindrucksvoll, zögerte aber mit der Zustimmung zu jenem Ausblick. Ich holte für Barth u. a. ein neues Büchlein von Heinrich Ott30, in dem dieser in Anspruch nahm, mit Schleiermacher und von ihm her eine solche Theologie des Heiligen Geistes in Angriff zu nehmen. Barth griff begierig nach der Schrift und las sie. Anderntags rief er mich an: Nein, so wie das dort gemacht worden sei, habe er das natürlich keineswegs gemeint. Er diktierte mir alsbald einen neuen Passus, in dem er seine Vision gehörig präzisierte: „Aber dass mir nun nicht alsbald irgendein begabter junger Mann – in der Meinung, er sei der dazu Berufene – mit einer flott geschriebenen Broschüre ‚Zur Theologie des Heiligen Geistes‘ oder dergl. über den 29 Barth, Nachwort, 310f. 30 Es handelte sich eventuell um den Aufsatz in Heinrich Ott, Bonhoeffer – Der Wirkliche, Hamburg 1968, 146–152.

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Weg und auf den Markt laufe! Und wie wäre mein schöner Traum missverstanden, wenn einer meinte, es gehe dabei darum: ‚das Selbe nun vom Menschen her‘ noch einmal zu sagen! Als ob nicht eben das das tief Problematische bei Schleiermacher wäre, dass er – glänzend wie keiner vor ihm und nach ihm – ‚vom Menschen her‘ gedacht und geredet hat! Als ob ausgerechnet der Heilige Geist ihn dazu ermuntert hätte oder irgend jemand dazu ermuntern würde! Als ob Pneumatologie Anthropologie wäre! Als ob ich, statt von einer Möglichkeit besseren Verständnisses von Schleiermachers Anliegen, ganz primitiv von einer Fortsetzung seines eigenen Weges geträumt hätte! Ich warne!“31

31 Barth, Nachwort, 312.

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Bruce L. McCormack

Über Barth hinaus – mit Schleiermacher? 1

Schleiermacher’s Christologie ist ein letzter Versuch, den kirchlichen Christus dem Geiste der modernen Welt annehmlich zu machen. […] Der […] Wahn, Jesus könne ein Mensch im vollen Sinne gewesen sein, und doch als Einziger über der ganzen Menschheit stehen, ist die Kette, welche den Hafen der christlichen Theologie gegen die offene See der vernünftigen Wissenschaft noch absperrt: diese Kette zu sprengen, hat auch die gegenwärtige, wie von jeher alle meine theologische Schriften zum Zwecke.2

1.

Einführung

In der Geschichte der neueren Theologie nach Schleiermacher kann man mühelos bedeutende Theologen ausfindig machen, die versuchen, an das anzuknüpfen, was sie als Schleiermachers Programm ausgeben – obwohl sie deren wesentliches Kernelement, die Lehre vom „Selbstbewusstsein“, verdrehen. Bei Albrecht Ritschl finden sich beispielsweise die folgenden Sätze: „Kommt es darauf an, die Dogmatik nicht als die Erzählung der großen Thaten Gottes, oder als die Geschichte des von Gott bewirkten Heils zu entwerfen, so ist es nothwendig, die Wirkungen Gottes […] so erkennen zu lehren, dass die entsprechenden Selbstthätigkeiten analysiert werden, in welchen die Wirkungen Gottes vom Menschen angeeignet werden. Dieses Verfahren ist schon von Schleiermacher eingeschlagen worden.“3 Ritschl behauptet hier eine besondere Ähnlichkeit zwischen seiner eigenen Methode und derjenigen Schleiermachers. Allerdings ist diese direkte Bezugnahme problematisch, denn sie bleibt oberflächlich. Ritschl verneint die Möglichkeit, dass die „menschliche Seele“ in ihrer Beziehung zu einem Gegenüber „einfach leidend“, also bloß empfangend sein könne – auch in 1 Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Schlegel. 2 D.F. Strauss, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu, Berlin 1865, VIff. 3 A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 1874, 32.

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Bezug zu Gott.4 Der Weg, den er einschlägt, ist nicht Schleiermachers Weg, weil seine Methode durch eine umfassende Psychologisierung der Kategorie des Gefühls, die reine Passivität ausschließt, bedingt ist. Das Ergebnis ist eine durchweg „positive Theologie“5, die nur noch einen schwachen Widerhall der kritischen Bewusstseinstheologie Schleiermachers darstellt. Unter kritischer Bewusstseinstheologie verstehe ich demgegenüber Schleiermachers Versuch, die Offenbarung in einer Region des Gemüts anzusiedeln, die sie dem Zugriff des menschlichen Strebens nach epistemischer Kontrolle über sie entzieht. Das hat Schleiermacher durch seine Unterscheidung von unmittelbarem Selbstbewusstsein und objektivem Bewusstsein erreicht. Durch das Übergehen dieser Unterscheidung bleibt Ritschls Theologie eine Spielart des theologischen Positivismus.6 Ernst Troeltsch beansprucht ebenfalls, in methodischer Hinsicht auf Schleiermachers Schultern zu stehen, allerdings mit anderer Zielsetzung als Ritschl.7 Auch er psychologisiert Schleiermacher, aber nicht um eine positive, sondern um eine Art „wissenschaftlicher“ Theologie zu entwickeln, in der Schleiermachers „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ durch das „christliche Prinzip“, dessen Gehalt durch umfassende religionsgeschichtliche Studien aufzuspüren sei, ersetzt wird.8 „Historische Intuition“ hat die Kategorie des „Gefühls“ ver4 Vgl. Ritschl, Rechtfertigung, 21. 5 Ritschl, Rechtfertigung, 5. 6 Ich habe an anderem Ort dargelegt, dass die Unterscheidung von unmittelbarem Selbstbewusstsein und objektivem Bewusstsein denselben Effekt hatte wie die Barthsche Differenzierung zwischen dem Wort und den menschlichen Worten: in beiden Fällen wird die Offenbarung in einem Raum verortet, der jenseits der menschlichen Möglichkeiten sie zu manipulieren und kontrollieren angesiedelt ist. Vgl. B.L. McCormack, What has Basel to do with Berlin? Continuities in the Theologies of Barth and Schleiermacher, Princeton Seminary Bulletin 23 (2002), 152–162. Bei Ritschl und in der Schleiermacher-Renaissance wird die Differenz zwischen unmittelbarem Selbstbewusstsein und objektivem Bewusstsein eingeebnet und so das Gefühl in das „empirische“ Bewusstsein eingeordnet, was zu einer Psychologisierung führt. Damit aber ist Schleiermachers Bewusstseinstheologie nicht mehr „kritisch“, d. h. sie hört auf, als Damm gegenüber dem menschlichen Versuch, die Offenbarung zu kontrollieren und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, zu wirken. Zu diesen Thesen vgl. die kritische Würdigung von E. Herms, Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie als Rahmentheorie der Dogmatik und seine Kritik am neuzeitlichen Protestantismus, in: M. Beintker/C. Link/M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 182, Anm. 197. 7 Troeltsch meinte, dass er Schleiermachers Programm folgen könne ohne das, was er die „‚agnostische‘ Theorie über das Wesen der religiösen Erkenntnis“ nannte (vgl. E. Troeltsch, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1913, 200). Er gestand dabei ein, dass „von Schleiermachers eigener Lehre kaum ein Stein ganz auf dem andern bleiben“ könne (a. a. O., 225f). 8 Vgl. E. Troeltsch, Glaubenslehre, München und Leipzig 1925, 71. Die Ergebnisse einer solchen Suche manifestieren sich in der „Definition des christlichen Prinzips“: „Das Christentum ist im allgemeinen die entscheidende und prinzipielle Wendung zur Persönlichkeits-

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drängt, wenn man versucht, das Wesen des Christentums aus seiner Geschichte heraus zu erheben. Die Doppelstruktur von unmittelbarem Selbstbewusstsein und objektivem Bewusstsein ist dabei aus dem Blick geraten. So gilt auch für Troeltsch: Gerade dasjenige Element, das der Schleiermacherischen Bewusstseinstheologie einen kritischen Charakter gab, wird aufgegeben. Wie bei Ritschl folgt daraus, dass Aufgaben, die der Theologie zugewiesen werden, genauso gut von denjenigen Wissenschaften, die meinen, im Besitz der richtigen Methode(n) zu sein, gelöst werden können. Bei Ritschl und Troeltsch wird die Theologie der „unmöglichen Möglichkeit“9 durch eine bürgerliche Wissenschaft ersetzt.10 Diese Beobachtungen zur Rezeptionsgeschichte Schleiermachers sollen nun freilich keineswegs dazu führen, in der Sache einfach zu Schleiermacher zurückzukehren. Das wäre in vielerlei Hinsicht problematisch: beispielsweise in Bezug auf die Unterscheidung zwischen unmittelbarem Selbstbewusstsein und gegenständlichem Selbstbewusstsein. Ritschl und Troeltsch waren durchaus im Recht, diese Unterscheidung aufzugeben. Ich würde sogar behaupten, dass Schleiermachers Versuch, eine Region im menschlichen Bewusstsein auszumachen, in der Gott allein aktiv und der Mensch ausschließlich passiv ist, eine Rückwendung zu dem – wie ich es nennen würde – „Essentialismus“ der Alten Kirche bedeutet, d. h. zu dem Gedanken, dass die wahre Identität des Menschen ‚hinter‘ bzw. ‚unter‘ dem Denken, Wollen und Fühlen seines sinnlichen Bewusstseins zu finden sei, in einem großen unaussprechlichen „Etwas“, in dem das Individuum in allen Phasen seines Lebens gegründet ist. Dieselbe gedankliche Figur taucht in der Gotteslehre wieder auf, und zwar in Schleiermachers geradezu begeisterter Akzentuierung der göttlichen Einfachheit, Apathie und Zeitlosigkeit – Elemente, die auch der klassische Theismus vertritt. Schon aufgrund dieser Beobachtung scheint mir der Weg „zurück zu Schleiermacher“ verfehlt zu sein. Dennoch sollte das ‚kritische Element‘ in Schleiermachers Bewusstseinstheologie um jeden Preis bewahrt werden – wenn nicht im ursprünglich von ihm gemeinten Sinne, so doch zumindest in modifizierter Form. Denn nichts scheint heute notwendiger, als dass jede Theologie (nicht nur die christliche) einer kompromisslosen Ideologiekritik unterzogen wird: einer Kritik ihrer Funktionalisierung für bestimmte kirchliche oder politische Interessen und moralische Prinzipien, die ohne Rücksicht auf das wahre Thema der Theologie (die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus) bestimmt werden. Das kritisches Potential, ideologische Missbräuche christlichen Denkens zu entlarven, zählte von Beginn an zu den stärksten Seiten der Theologie Karl Barths. Ungeachtet seiner oft sehr religion gegenüber allem naturalistischen und antipersonalistischen Verständnis Gottes“ (ebd.). 9 K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, hg. v. C. v. d. Kooi u. K. Tolstaja, Zürich 2010 (= Römerbrief II), 375 u. ö. 10 Vgl. a. a. O., 705.

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harschen Kritik jeglicher Bewusstseinstheologie11 ist meiner Überzeugung nach Barth – und nicht Troeltsch – der authentische Erbe Schleiermachers, zumindest, was das ‚kritische Element‘ angeht. Nun könnte man gegen diese Einschätzung einwenden, dass Barths Theologie die Form einer kirchlichen Dogmatik annahm, also wesentlich konfessionell bestimmt war. Allerdings trifft dies auch auf Schleiermacher zu. Seine Glaubenslehre ist nicht minder kirchlich als Barths Dogmatik. Ich vermute, dass beide Theologen die Kirche aus demselben Grund als wichtig einstufen: weil eine gemeinschaftliche Interpretation der Offenbarung, wie sie die Kirche bietet, – ganz im Gegensatz zu den virtuosen Versuchen theologischer Individualisten – den Charakter der Offenbarung wirklich zu wahren vermag: als etwas, das nicht zu manipulieren ist, als ein Akt, der sich nur indirekt, aber niemals direkt ereignet. So war es jenes kritische Element, das beiden theologischen Projekten, der „Glaubenslehre“ Schleiermachers und der „Kirchlichen Dogmatik“ Barths, ihren kirchlichen Charakter gab. Die folgenden Überlegungen sollen diese Behauptungen durch den Vergleich der Christologien Schleiermachers und Barths verdeutlichen.

2.

Die Person Christi in Schleiermachers Christologie

In Schleiermachers Christologie vereinen sich zwei verschiedene Argumentationsstränge: Einmal geht es darum, Jesus als ‚Archetypus‘ darzustellen, als zweiten Adam, als den Einen, in dem die Erschaffung der menschlichen Natur zum Ziel kommt.12 Auf der anderen Seite erscheint Christus als Erlöser, der „die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins“ und „die Gemeinschaft seiner ungetrübten Seligkeit“ aufnimmt13. Im ersten Fall eignet ihm lebendige Rezeptivität, im zweiten zeichnet er sich als überaus aktiv aus. Wenn man nun davon ausgeht, dass seine Rezeptivität gegenüber der Gegenwart Gottes seine erlösende und versöhnende Aktivität ermöglicht, heißt das, dass er nur der Erlöser sein kann, weil er der archetypische Mensch ist. Demzufolge besitzt der erste Argumentationsstrang den logischen Primat gegenüber dem zweiten. Deshalb ist es auch nicht überraschend, wenn Schleiermacher seine Christologie 11 M.E. hat Barths Versäumnis, das kritische Element in Schleiermachers Programm wahrzunehmen damit zu tun, dass er die Werke Schleiermachers mit den Augen der Ritschlianer las. Allerdings war diese verzerrte Lesart am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. 12 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. M. Redeker, Bd. 2, Berlin 71960 (= Glaubenslehre II), § 89, 23 (Leitsatz). 13 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 100, 90 (Leitsatz) bzw. § 101, 97 (Leitsatz).

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tendenziell eher von ‚oben nach unten‘ (bedingt durch die göttliche Kausalität, die bei Jesus einzigartig am Werk war) als ‚von unten her‘ (von den in der Gemeinschaft des Glaubens erfahrenen Erlösungswirkungen) durchdenkt. Allerdings ist damit nur eine Tendenz angezeigt. Denn Schleiermacher behält immer beide Bewegungen im Blick und verschränkt sie miteinander. Zu einseitig und deshalb zu korrigieren jedenfalls ist die auch in der englischsprachigen Literatur verbreitete Einschätzung, wonach Schleiermacher seine Christologie ausschließlich auf dem Fundament der christlichen Erlösungserfahrung aufgebaut hat. In Wirklichkeit ist der Befund komplizierter, wie wir sehen werden.

2.1

Schleiermachers Übertragung der Ontologie von den zwei Naturen in Kategorien, die sich aus seiner Bewusstseinstheologie ergeben

Das Hauptproblem, das Schleiermacher in seinen Ausführungen zur „Person“ Christi lösen muss, ist folgendes: Wie ist es möglich, dass die ideale, ‚archetypische‘ Menschheit in einer einzigen geschichtlichen Existenz realisiert werden konnte? Wenn man das grundlegende christologische Problem so definiert, scheint es zunächst Welten entfernt von der antiken Frage, wie die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in einer Person zu denken sei. Schleiermachers Frage kann höchstens einen Teilbereich der umfassenden christologischen Problematik betreffen – so zumindest beurteilt es Karl Barth. Denn obwohl Barth Jesus von Nazareth als „wirklichen Menschen“ bzw. als „königlichen Menschen“ versteht und dies mit Nachdruck geltend macht (besonders in KD III/2, § 44.3 und IV/2, § 64.3), bildet die wirkliche Menschwerdung Gottes für ihn das eigentliche Thema der Christologie. Offenbar greift aber die ganze Problematik des realisierten ‚Archetypus‘ (wie bei Schleiermacher) längst nicht so weit. Ein abschließendes Urteil bedarf jedoch weiterer Erwägungen. Schleiermacher stimmt jedenfalls der Intention, die die Zwei-Naturen-Lehre verfolgt, zu, nämlich „Christum so zu beschreiben (frater, consubstantialis nobis), dass in dem neuen Gesamtleben eine Lebensgemeinschaft zwischen uns und ihm möglich sei, zugleich aber auch, dass auf das deutlichste das Sein Gottes in ihm ausgesprochen werde, woraus schon folgt, dass die unbedingteste Verehrung und die brüderliche Genossenschaft in unserm Verhältnis zu ihm in eins gebildet sind.“14 Anders gesagt: Das Anliegen, dass Jesus sich von uns radikal und grundlegend unterscheidet, so dass er allein der zweite Adam sein konnte (und es ja auch war), der Erlöser, das fleischgewordene Wort15 – dies in solcher Weise, 14 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.1, 50. 15 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.3, 58. Schleiermacher kann die Johanneische Formel „Das Wort ward Fleisch“ ebenso wie das paulinische „Gott war in Christus“ mühelos

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dass die Identität seiner menschlichen Natur mit der unsrigen nicht fraglich ist – wird von Schleiermacher selbstverständlich geteilt. Allerdings schien ihm die Umsetzung dieser Intention durch die Väter in Chalcedon mangelhaft.

2.1.1 Schleiermachers Kritik der Zwei-Naturen-Lehre In der theologischen Literatur der vergangenen Jahre wird Schleiermachers Kritik der Zwei-Naturen-Lehre meistens zugestimmt. Aber anstatt es Schleiermacher nachzutun und sich mit der alten Formel in ihrer eigenen Logik ernsthaft auseinanderzusetzen, mit ihr geradezu zu ringen (und dies nicht nur, um sie heute irgendwie plausibel erscheinen zu lassen, sondern um sie zu verbessern), wird sie kurzerhand verurteilt. Es ist ein Zeichen für Schleiermachers Größe, dass er seine eigenen theologischen Einsichten an den kirchlichen Traditionen maß und zu bewähren suchte – auch wenn er diese dann wesentlich umformte. In unserem Zusammenhang ist allerdings nicht der Raum für eine umfassende Diskussion der Schleiermacherischen Kritik des Chalcedonense. Von den vier Argumenten, die er gegen die Formel ins Feld führt, ist es besonders das zweite und dritte, an denen sein Umgang mit der alten Formel deutlich hervortritt. Betrachten wir zunächst das zweite Argument. Schleiermacher beanstandet, dass die Zwei-Naturen-Christologie unter einer gemeinsamen Rubrik Realitäten zusammenfasst, die auf diese Weise schlechterdings nicht vereint werden können: Gott und Mensch sind so verschieden, dass es keinen Begriff gibt, der sie umfassen könnte, ohne dass mindestens eine der beiden Realitäten ihr Proprium verlöre. Ungleich gravierender ist für Schleiermacher der Umstand, dass für das Göttliche und das Menschliche gleichermaßen der Ausdruck Natur gebraucht wird. Auch jeder andere Ausdruck, der ohne Unterschied von beiden gebraucht würde, müsste allerdings eine solche Formel verdächtig machen und zur Quelle vieler Verwirrungen werden. Denn wie kann das Göttliche und das Menschliche unter irgendeinem Begriff so zusammengefasst werden, als könnten beide einander koordinierte nähere Bestimmungen eines und desselben Allgemeinen sein (selbst göttlicher Geist und menschlicher Geist könnten ohne gänzliche Verwirrung nicht auf diese Weise einfach zusammengestellt werden)? Umso weniger aber eignet sich zu einem solchen verallgemeinernden Gebrauch das Wort Natur.16 Ein weiteres Argument verdeutlicht für Schleiermacher, warum sich der Terminus „Natur“ in diesem Zusammenhang als ungeeignet erweist. Schleiermacher verwenden – denn, wie er sagte, „Wort ist die Tätigkeit Gottes in der Form des Bewusstseins ausgedrückt, und Fleisch ist die allgemeine Bezeichnung des Organischen“ (ebd.). 16 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.1, 51f.

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legt dar, wie der Ausdruck sonst gebraucht wird, nämlich als „Inbegriff alles endlichen Seins“, als Bezeichnung für Teile dieser Welt, für das „Bedingte“ und „Körperliche“. Gott als das „Unbedingte“, Absolute, die reine Tätigkeit kann aber nicht „Natur“ in diesem Sinne sein. Im Folgenden (was jetzt nicht im Einzelnen verfolgt werden soll) geht Schleiermachers Kritik, wie schon angedeutet, durchaus auch über die Anfragen an den Naturbegriff hinaus. Deutlich ist auf jeden Fall jetzt schon geworden, mit welcher Schlüssigkeit Schleiermacher geltend macht, dass Gott und Mensch keinesfalls als lediglich relativ verschiedene Exemplifikationen eines ihnen Gemeinsamen gedacht werden können. Wer mit Barths Kritik an der analogia entis vertraut ist, wird sich in der Argumentation Schleiermachers daran erinnert fühlen.17 Noch gewichtiger ist Schleiermachers dritter Einwand gegen die Chalcedonensische Formel. Denn wenn das Wort „Person“ eine „stetige Lebenseinheit“ anzeigt und das Wort „Natur“ „einen Inbegriff von Handlungsweisen oder Gesetzen, wonach die Lebenszustände“ innerhalb festgesetzter Grenzen wechseln – wie kann dann diese Einheit neben der Zweiheit solcher Naturen existieren? Wenn man an der Einheit der Person festhält, dann müssen die beiden Naturen entweder miteinander verschmelzen, oder eine der beiden muss der anderen den Platz räumen bzw. sich ihr unterordnen.18 In Schleiermacher Sicht haben deshalb alle Versuche, die Formel zu klären, entweder dazu geführt, die beiden Naturen zu vermischen, um eine dritte Größe zu schaffen, oder sie voneinander getrennt zu halten, so dass entweder die Einheit vernachlässigt wurde oder die eine Natur die andere dominierte oder mindestens limitierte. Die konzeptuellen Probleme, die die Formel beinhaltet, treten für Schleiermacher besonders deutlich im Streit um den Dyotheletismus hervor. Die gänzliche Unfruchtbarkeit dieser Darstellungsweise wird besonders deutlich anhand der Frage, ob Christus, die eine Person aus zwei Naturen, auch zwei Willen habe (gemäß der beiden Naturen) oder nur einen (gemäß der einen Person). Denn hat Christus nur einen Willen, so ist die göttliche Natur unvollständig, wenn dieser eine Wille ein menschlicher, und die menschliche Natur unvollständig, wenn der eine Wille ein göttlicher ist. Hat aber Christus zwei Willen, so ist die Einheit der Person – auch wenn man sie mit dem Gedanken aufrechterhalten will, dass er mit beiden Willen immer dasselbe wolle – doch immer nur scheinbar. Denn hieraus

17 Die Frage, ob diese Passage einen direkten Einfluss auf Barths Ausarbeitung seiner Kritik hatte, muss letztlich offen bleiben. Barth jedenfalls bezieht sich niemals direkt darauf. Immerhin wird man aber sagen können, dass die große Nähe der Überlegungen Barths zu denen Schleiermachers wahrscheinlich kein reiner Zufall war – gerade wenn man voraussetzt, dass Barth Schleiermacher in den Vorkriegsjahren ausführlich studierte. 18 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.1, 53.

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ergibt sich nur Zusammenstimmung, nicht Einheit, und man kann durch diese Antwort in der Tat eine Art Zerspaltung Christi kaum vermeiden.19 Dies ist m. E. ein durchaus plausibles Argument, zumindest, wenn man sich die Variante der Zwei-Naturen-Lehre, die Schleiermacher vorliegt, vor Augen hält. Denn er stützt sich in seinen Analysen der Formel auf deren Lesart in den reformatorischen Bekenntnissen. Hätte Schleiermacher versucht, auf das Chalcedonense direkt zurückzugreifen, müsste man wohl einige seiner Ergebnisse schärfer kritisieren. Mit dem direkten Rückgriff hätte seine Argumentation freilich wesentlich an Kraft gewinnen können. Er hätte dann nämlich bemerkt, dass die Chaledonensischen Väter nicht lehrten, dass die eine Person ‚aus‘ der Verbindung zweier Naturen erfolgte (wie er immer wieder unterstellt). Eine ähnliche Formulierung ist im Chalcedonense zwar zu finden, doch ist sie mit jener nicht identisch. „Eine Person in zwei Naturen“, nicht eine Person aus zwei Naturen – so lautet die Lehre der Väter in Chalcedon. Schleiermacher hat (allerdings ohne eigenes Verschulden) die Formel im nestorianischen Sinne, von dem sich die Konzilsväter eigentlich verabschieden wollten, verstanden. Theodor von Mopsuestia und sein Schüler Nestorius wollten im Hinblick auf das Verhältnis der beiden Naturen eher von Verbindung statt von Einung sprechen.20 Und die Bekenntnisse, die Schleiermacher benutzte, gaben ebenfalls der Sprache der Verbindung den Vorzug, obwohl sie nicht direkt von einer Person ‚aus‘ zwei Naturen sprechen.21 19 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.1, 54. 20 Vgl. dazu A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i.Br. 1979, 614–634.652–660. 21 Die Augsburger Konfession geht in ihrem III. Artikel auf die Christologie ein. Dort heißt es: „ut sint duae naturae, divina et humana, unitate personae inseparabiliter coniunctae“ („und dass die zwie Naturen, die göttliche und die menschliche, also in Einer Person untrennbar vereinigt“). Die Konkordienformel (SD) bekennt in Artikel VIII: „Credimus […] iam in una illa indivisa persona Christi duas esse distinctas naturas, divinam videlicet, quae ab eterno est, et humanum, quae in tempore assumpta est in unitatem personae filii Dei“ („Wir glauben, […] dass nunmehr in derselbigen einigen, unzertrennten Person Christi zwo unterschiedliche Naturen sein, die göttliche, so von Ewigkeit, und die menschliche, so in der Zeit in Einigkeit der Person des Sohnes Gottes angenommen“). In den 39 Artikeln lautet der christologische Passus in Artikel 2 folgendermaßen: „ita ut duae naturae, divina et humana, integre atque perfecte in unitate personae, fuerint inseparabiliter coniunctae“ („so dass die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche, in der Einheit der Personen unzertrennlich verbunden sind“). Das erste Helvetische Bekenntnis von 1536 bietet in Artikel 11: „Diser her Christus […] hat zwo underscheidne, unvermengte naturen, jn einer einigen, unzertrenten person“ und die Confessio helvetica posterior: „Agnoscimus ergo in uno atque eodem Domino nostro Iesu Christo, duas naturas aut hypostases vel substantias, divinam et humanum: et has ita dicimus coniunctas vel unitas esse, ut absorptae, aut confusae, aut immixtae non sint: sed salvis potius et permanentibus naturarum proprietatibus, in una persona, unitate vel conjuncta“ („Darum erkennen wir in einem und demselben, unserem Herrn Jesus Christus, zwei Naturen oder Wesensarten, eine göttliche und eine menschliche; von diesen sagen wir, dass sie verbunden und vereinigt seien, jedoch so, dass sie einander

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Ein vernünftiges Argument gegen die Christologie, wie sie Schleiermacher in den reformatorischen Bekenntnisse vorlag, muss also nicht notwendigerweise ein vernünftiges Argument gegen Chalcedon selbst sein. So müsste beispielsweise die Rede von den zwei Willen nicht zu einer Aufsplitterung der Person führen, wenn diese als der präexistente Logos verstanden wird. Das heißt, wenn man sich um ein genaues, tiefenscharfes Verständnis Chalcedons bemüht, wird man merken, dass Schleiermacher der alten Formel sehr viel näher steht, als es seine Kritik der Formel erwarten lässt. Ein Punkt wird bei Schleiermachers Kritik der reformatorischen Fassung von Chalcedon sofort deutlich: Seine Sympathien liegen eher bei Cyrill als bei Nestorius. Er operiert mit dem Terminus „Einwohnung“ und ist stets darum bemüht, die menschliche Seite an Jesus zu betonen – beides typische Merkmale der antiochenischen Tradition. Doch wäre es wiederum eine vorschnelle Schlussfolgerung, wenn man Schleiermachers Christologie nun einfach als nestorianisch oder gar antiochenisch ausgäbe. Denn seine härteste Kritik gilt gerade dem Gedanken einer Doppelheit der Naturen, den er vehement zurückweist. Schleiermacher besteht überall auf der Einheit der Person Christi und muss sein weder verschlungen hätten, noch vermengt oder vermischt wären; vielmehr sind sie derart vereinigt und verbunden in einer Person, dass die Eigenschaften der beiden Naturen stets gewahrt bleiben“). Das Französische Bekenntnis schließlich fasst die Zwei-Naturen-Lehre in Artikel 15 so zusammen: „Les deux natures sont vrayement et inseparablement conioinctes et unies, demeurant neantmoins chascune en sa distincte propriete“ („die zwei Naturen wahrhaft und unauflöslich verbunden und vereint sind. Nichtsdestoweniger bleibt eine jede Natur in ihrer unterschiedlichen Eigenart dergestalt“). Die Verfasser der protestantischen Bekenntnisse, die Schleiermacher benutzte, sehen sich im direkten Gefolge der Chalcedonesischen Formel, aber nur die Solida Declaratio kommt dem Anliegen der Konzilsväter nahe. Die anderen – auch Melanchthon – neigen in ihrer Interpretation zum Nestorianismus, indem sie von einer „Verknüpfung“ bzw. „Verbindung“ (coniunctio) sprechen (außer der Confessio Helvetica Prior, die an der Stelle zu knapp bleibt und das Problem umgeht). Auch in den Fällen, wo die protestantischen Verfasser von „Vereinigung“ (unio) sprechen, gibt es allerdings eine inhaltliche Nähe zur „Verbindung“. Am deutlichsten wird das in Bullingers zweitem Helvetischem Bekenntnis, wo es heißt, dass entweder „duas naturas aut hypostases vel substantias“ in einem und demselben Herren Jesus Christus existieren. Das Chalcedonense hingegen weiß nur von einer, nicht von zwei Hypostasen – nämlich der einen Person der unio. Bullingers Formulierung: „Agnoscimus ergo […] duas naturas aut hypostases vel substantias“ erweckt den Eindruck, als ob alle drei Worte angemessen wären und ihre Unterscheidung nicht viel bedeute. Interessanterweise ist das Wort „Hypostase“ in der Übersetzung des zweiten Helvetischen Bekenntnisses von Arthur C. Cochrane – die Eingang in das Bekenntnisbuch der Presbyteriansichen Kirchen in den USA gefunden hat – ganz weggelassen worden (um die Härten dieser Formulierung zu glätten?). Wie dem auch sei, meine Absicht ist es nicht, die Reformatoren und ihre Übersetzer zu kritisieren, sondern die These zu untermauern, dass Schleiermachers die Formel von Chalcedon durch die Brille der protestantischen Bekenntnistexte betrachtete Die o.g. Texte sind zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 4. Auflage (Göttingen 1959), E.F.K. Müller, Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche (Leipzig 1903), P. Schaff, The Creeds of Christendom, vol. III (Grand Rapids 1990).

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Anliegen, mit der Menschlichkeit Jesu radikal ernst zu machen, gedanklich so fassen, dass die Einheit Jesu nirgends gefährdet ist. Obwohl sein Augenmerk der „Einwohnung“ Gottes in Jesus gilt, stößt er niemals die Tür in Richtung Nestorianismus auf. Wenn Schleiermacher ein Vorbild in der Alten Kirche hatte, dann ist es Apollinaris von Laodicea – also weder Cyrill noch Nestorius.22

2.2

Schleiermachers Verständnis der Inkarnation

Worin besteht also Schleiermachers Lösung des christologischen Problems? Wie definiert er das Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem in Jesus von Nazareth? Er setzt die vereinte „Person“ mit dem Menschen Jesus gleich und versteht die Vereinigung selbst als einen übernatürlichen Einfluss des göttlichen Seins auf das Bewusstsein Jesu. „Nämlich das Sein Gottes in dem Erlöser ist als seine innerste Grundkraft gesetzt, von welcher alle Tätigkeit ausgeht, und welche alle Momente zusammenhält; alles Menschliche aber bildet nur den Organismus für diese Grundkraft.“23 Auf den ersten Blick erscheint diese Sichtweise weit 22 George Hunsinger meint, dass Schleiermachers Christologie eine „Spirit-Christology“ sei, deren Prototyp bei Theodor von Mopsuestia gefunden werden könne (vgl. G. Hunsinger, What Karl Barth Learned from Martin Luther, in: ders., Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids 2000, 283). Dieses Urteil beruht auf drei Fehleinschätzungen, die alle daraus resultieren, Schleiermacher als Vertreter eines bestimmten christologischen Typus zu deuten, statt die Spezifika des Schleiermacherischen Ansatzes direkt in den Blick zu nehmen. Die erste Fehleinschätzung liegt in Hunsingers Beobachtung, die in Schleiermachers Christologie eine adoptionistische Linie erkennen will – ein Punkt, auf den ich noch zurückkommen werde. Die zweite Fehleinschätzung hängt damit eng zusammen. Denn Hunsingers Titel „Geistchristologie“ suggeriert eine Nähe zu den späteren liberalen Christologien. Diese nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Menschheit Jesu (normalerweise rekonstruiert durch historische Analysen) und fragen auf dieser Basis, wie die Präsenz Gottes in ihm erklärt werden könne. Schleiermacher aber beginnt gerade mit dem Gegenteil, nämlich mit dem „eigentlichen Sein Gottes“ in Jesus, das dann auch konsistent zu einer vollen und ganzen Menschheit passen muss. Übrigens stellt sich Schleiermacher die Präsenz Gottes in Jesus nicht als Gegenwart des Heiligen Geistes vor, sondern, wie wir sehen werden, als eine wirkliche Vereinigung des göttlichen Wesens mit Jesus. Übereilt ist schließlich auch Hunsingers dritte Annahme – die allerdings von vielen geteilt wird –, dass nämlich Schleiermachers Gebrauch des Terminus „Einwohnung“ notwendigerweise eine Neigung zur Antiochenischen Schule impliziere. Aber so kann man nur urteilen, wenn man seine viel stärkere Affinität zu Apollinaris übersieht. Das Entscheidende bei Apollinaris besteht darin, dass der Logos das dominierende Prinzip in allem Denken, Wollen und Handeln des Menschen Jesus ist. Dass deshalb bei ihm der Logos an die Stelle des menschlichen Nous tritt, folgt aus seiner Grundeinstellung, ist allerdings keineswegs zwingend. Man kann durchaus Apollinaris’ verkürztes Verständnis der Menschlichkeit Jesu aufgeben und dennoch daran festhalten, dass Gott die innerste Kraft war, die bestimmte und kontrollierte, was Jesus dachte, sagte und tat – und genau das ist die Wendung, die Schleiermacher der Sache gibt. 23 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 96.3, 57.

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entfernt von der klassischen Logos-Christologie, die das Chalcedonense überhaupt erst ermöglichte. „Inkarnation“ wird hier nicht als Aufnahme der menschlichen Natur durch eine präexistente göttliche Person definiert, sondern vielmehr als Anwendung göttlicher Kausalität über und in dem Menschen Jesus. Man mag gegen eine solche Neuinterpretation einwenden, dass der Terminus „Inkarnation“ den Sachverhalt hier nicht mehr richtig beschreibt – weil eben gar keine göttliche Person Fleisch annimmt. Aber auch dieser Einwand scheint vorschnell. Denn Schleiermachers Bewusstseinstheologie lässt durchaus eine wirkliche Inkarnation Gottes in dieser Welt zu. Darauf gilt es nun etwas ausführlicher einzugehen. Für Schleiermacher unterscheidet das absolute und permanente Gottesbewusstsein Jesus von allen anderen Menschen. Wenn dies ein absoluter und permanenter Einfluss gewesen sein soll, musste in ihm eine „lebendige Empfänglichkeit“ gegenüber der „reinen Tätigkeit“ Gottes herrschen;24 eine „lebendige Empfänglichkeit“, die letztlich ganz „leidentlich“ gegenüber der göttlichen Wirkmächtigkeit blieb – was wiederum sein Gottesbewusstsein durchgängig „tätig“, also aktiv sein ließ gegenüber allen Stimulationen, die auf sein objektives Bewusstsein von außen einwirkten.25 Zentral ist hier der Gedanke, dass für Schleiermacher diese „lebendige Empfänglichkeit“ und die „reine Tätigkeit“, die sie hervorruft, nur als ein „Sein Gottes in ihm“ erklärt werden kann. Die „reine Tätigkeit“, die durch Jesu „lebendige Empfänglichkeit“ hervorgerufen wird, ist eine menschliche Wiederholung der „reinen Tätigkeit“, die Gott selbst ist. Es ist das Sein Gottes in dieser Welt in einem einzigen, individuellen Leben. Und daher handelt es sich in Schleiermachers Inkarnationslehre um eine reale Inkarnation – auch wenn sie nicht in der klassischen Gestalt begegnet.26 Dieser Punkt wird oft übersehen. Man unterstellt dann, dass Jesus, wie Schleiermacher ihn darstellt, sich von uns nur quantitativ, aber nicht qualitativ unterscheidet: Jesus habe Gottesbewusstsein, wie jeder Mensch auch, nur verfüge 24 Wenn man sich Gott vorstellt als entweder aktiv, „tätig“, oder passiv, „leidentlich“, würde er damit in die innerweltlichen Antithesen hineingezogen werden und das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit wäre eigentlich unmöglich. Weil es aber eben so etwas wie schlechthinnige Abhängigkeit tatsächlich gibt, muss Gott als reine Ursächlichkeit gedacht werden. Deshalb muss auch die göttliche Aktivität in der Schöpfung als unendlich verstanden werden. Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. M. Redeker, Bd. 1, Berlin 7 1960 (= Glaubenslehre I), § 41.1f, 201–204. Deshalb kann man auch die sogenannten Attribute Gottes nicht in ‚aktiv‘ und ‚inaktiv‘ teilen, weil es ja keine ‚inaktiven‘ Attribute in Gott gibt (vgl. a. a. O., § 50.3, 261: „Andere teilen zuerst alle göttliche Eigenschaften in wirksame und ruhende, welches auch wenn Gott doch nur als lebend vorgestellt werden kann, schwer zu begreifen ist, da in dem Lebenden als solchem auch alles Tätigkeit ist.“). 25 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 94.2, 45. 26 Vgl. dazu K.W. Hector, „Actualism and Incarnation: The High Christology of Friedrich Schleiermacher,“ International Journal of Systematic Theology 8 (2006), 307–322.

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er über eine vollständigere Variante dieses Bewusstseins. Diese Interpretation versteht Schleiermachers Christologie aber undialektisch und konzentriert sich einseitig auf die Beziehung zwischen Erlöser und Erlösten, anstatt ihn vorher und zuerst ‚von oben her‘ her zu begreifen, also von seiner Gottesbeziehung aus. Schleiermacher selbst hingegen bezieht die Ebenen durchaus dialektisch aufeinander und bringt die horizontale Reflexionsebene ins Spiel, um ein Kriterium geltend zu machen, mit Hilfe dessen all das begrenzt werden kann, was in Bezug auf die vertikale Ebene gesagt werden soll. Barth war nicht der erste, der diese Dialektik übersah. Das Ergebnis war dann, dass Schleiermachers Christologie gleichsam flächig erschien und auf die horizontale Reflexionsebene beschränkt wurde. Strauss resümierte seine Beobachtungen ganz ähnlich und erklärte daraufhin Schleiermachers Ansatz schlicht für falsch. In der Tat kann man zu diesem Fazit gelangen – aber nur im Hinblick auf die Probleme in Schleiermachers Differenzierung zwischen unmittelbarem und sinnlichem Selbstbewusstsein. Keinesfalls aber kann man zu diesem Ergebnis kommen, wenn man meint, Schleiermachers Christologie sei als solche unfähig gewesen, das Einzigartige und Allgemeine in Jesus zu kombinieren und beides plausibel zu demonstrieren. Denn genau das konnte er relativ gut. In den bisher erwähnten Passagen der Glaubenslehre hat Schleiermacher nur die Basis für eine genauere Analyse gelegt. Er wendet sich dem Sein Gottes in Jesus wieder in § 97 zu – in einem Paragraphen, der nun genau in das Zentrum seiner Annäherung an das altkirchliche Dogma von 451 führt. „Bei der Vereinigung der göttlichen Natur mit der menschlichen war die göttliche allein tätig oder sich mitteilend, und die menschliche allein leidend oder aufgenommen werdend; während des Vereint-Seins beider aber war auch jede Tätigkeit eine beiden gemeinschaftliche.“27 Offensichtlich umschreibt Schleiermacher hier das, was die Tradition assumptio carnis nannte bzw. die Absicht, die hinter der monenergistischen Formel von 633 steckte. Er findet für diese ehrwürdigen gedanklichen Elemente der Christologie neue Begriffe, die besser zu seiner Bewusstseinstheologie passen. Bemerkenswert ist die Unterscheidung, die hier zwischen dem Akt der Vereinigung und dem darauf folgenden Zustand des Vereinigtseins getroffen wird. Die Priorität, die dem Akt gegenüber dem Status zukommt, entspricht der Bevorzugung der assumptio carnis gegenüber der hypostatischen Union – eine gedankliche Figur, die wir auch in Barths Aktualisierung der Zwei-NaturenLehre finden werden. Der Grund für diese Gewichtung liegt darin, dass Schleiermacher zufolge der Akt der Vereinigung mit dem Beginn des Lebens Jesu nicht ein- für allemal beendet ist. Vielmehr findet die Vereinigung immer wieder statt, in jedem Moment des Lebens Jesu. Ja, Schleiermacher kann so weit gehen zu 27 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97, 58 (Leitsatz).

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sagen, dass, obwohl der Akt der Vereinigung in der Zeit stattfindet, es sich dabei um eine „ewige Tätigkeit“28 handelt. Die Beziehung zwischen Göttlichem und Menschlichem ist ihrer Natur nach dynamisch, bildet also keinen abgeschlossenen Zustand. Die Vielzahl der Probleme, die traditionell mit dem Konzept der hypostatischen Union verbunden sind, taucht ja bekanntlich erst auf, wenn in den Blick kommt, dass der Akt der Vereinigung abgeschlossen ist. Was nun den „Beginn“ der Person Jesu angeht, so kann man darüber keine sicheren Aussagen treffen; dann zumindest nicht, wenn man sich auf das beschränkt, was für Schleiermacher zur Erklärung der christlichen Erlösungserfahrung nötig ist. Denn dafür ist die Frage nach dem „Anfang“ offenbar ohne Relevanz. Aber auch hier führt der erste Eindruck in die Irre. Denn obwohl es zutrifft, dass wir nicht direkt vom „Beginn“ Jesu, sondern nur durch seine Existenz im Ganzen betroffen sind, so ist doch der Unterschied zwischen ihm und uns wirklich „ursprünglich“. Wenn seine gegenwärtige Existenz nicht die wäre, die sie ist, ohne dass jeder einzelne Moment durch dieselbe „lebendige Empfänglichkeit“ neu konstituiert würde, dann, so Schleiermacher, „entsteht die Aufgabe, auch den ersten Moment in der Stetigkeit mit jedem späteren vorzustellen“.29 Anders gesagt: Wenn der Beginn der Existenz Jesu sich von dem unsrigen gar nicht unterschiede und die Differenz zwischen ihm und uns sich nur nach und nach herausbildete, dann wäre der Unterschied kein wirklich qualitativer. Im Akt der Vereinigung war die göttliche Natur „tätig“ und „sich mitteilend“, die menschliche Natur „leidentlich“ und „nur aufnehmend“. Das heißt, dass das „Sein Gottes in Christo“ sich nicht aus einem „Vermögen“ heraus entwickelt hat, die der menschlichen Natur als solcher zu eigen wäre. Dennoch fußt es auf einer „Möglichkeit“, die „ihr allerdings miterschaffen“ war, und zwar in dem Gegebensein eines latenten Gottesbewusstseins. Solche Möglichkeit ist für Schleiermacher „weder Vermögen noch Tätigkeit“. In der menschlichen Natur gibt es nämlich kein Vermögen, „das Göttliche zu sich herabzuziehen“. Das bedeutet aber nicht, dass die menschliche Natur völlig passiv war, wo es um das Entstehen des organischen Lebens Jesu ging. Für der „Bildung“ der irdischen Person war – genau wie bei uns – eine „physische Tätigkeit“ der menschlichen Natur vonnöten: Er wurde natürlich empfangen. Seine Körper wuchs im Leib Marias – in ganz natürlicher Weise. Deshalb ist „mit und neben“ der Tätigkeit der göttlichen Seite auch die menschliche aktiv bei der Konstituierung des Menschen Jesus. Was aber

28 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 62. Der Grund dafür, dass die Vereinigungsaktivität als eine ewige verstanden wird, liegt darin, dass es für Schleiermacher in Gott keinen Unterschied zwischen „Beschluß“ und „Tätigkeit“ gibt. 29 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.1, 59.

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die „Hineinpflanzung des Göttlichen in die menschliche Natur“ angeht, so war „hiebei die letztere nur aufnehmend und konnte sich nur leidentlich verhalten“30. Vor dem Hintergrund der realen Gegenwart Gottes im Bewusstsein Jesu kann Schleiermacher sogar die Lehre von der Anhypostasie und der extraordinaria conceptio kritisch aufnehmen. Bezüglich der Anhypostasie ist sich Schleiermacher, wie seine Definition dieser Lehre zeigt, bewusst, dass sie nur mit ihrem Pendant, der Enhypostasie, schlüssig zusammengebunden werden kann. Ursprünglich bedeute die Idee einer „Unpersönlichkeit der menschlichen Natur in Christo“, dass diese „keine eigene Subsistenz habe, sondern nur durch die göttliche subsistiere“31. Damit wolle die orthodoxe Tradition andeuten, dass das Entstehen dieses konkret existierenden Individuums nicht durch die „personbildenden“ Kräfte der menschlichen Natur und durch sie allein (wie es normalerweise der Fall ist) bewirkt wurde. Aber all das, so Schleiermacher, heißt nicht, dass die menschliche Natur Christi zu irgendeinem Zeitpunkt unpersönlich war. In jedem Moment ihrer Existenz wurde also auch die menschliche Natur durch die göttliche „zur Persönlichkeit Christi“ gebildet. Schleiermacher macht zu Recht geltend, dass diese Lehre ursprünglich „mit besonderer Rücksicht auf diejenigen“ entwickelt wurde, „welche das Wort erst später, nachdem die Person Jesu längst zur Vollkommenheit gebildet war, mit derselben vereinigen wollen“32. Die Begriffe Anhypostasie und Enhypostasie sollten allen adoptianischen Tendenzen entgegenwirken. Soweit stimmt Schleiermacher diesem Gedanken zu. Die Person Jesu, meint er, hätte nicht existiert „ohne das Hinzutreten der vereinigenden göttlichen Tätigkeit“33. Das ist die gedankliche Substanz, die die alte Lehre von der Anhypostasie enthält und die auch erhalten bleibt, wenn man sie ihres „scholastischen Gewand[s]“34 entkleidet. Was Schleiermacher in seiner Bemühung um die Wiedergewinnung der alten Lehre ausdrücklich nicht übernimmt, ist deren Aussage, dass die menschliche Natur im „Logos“ (als trinitarische „Person“ verstanden) konkretisiert und realisiert wurde. Er nennt es eher unbestimmt „das Göttliche“. Damit markiert er die Grenze, die zwischen Chalcedonensischer Orthodoxie und seiner Interpretation verläuft. Jesus hat sein Sein und seine Existenz von dem Moment der Empfängnis an im „Göttlichen“, oder präziser in der „reinen Tätigkeit“, die Gott selbst ist. Einige Schlussfolgerungen sind angebracht. Denn obwohl Schleiermacher im Leitsatz des Paragraphen zunächst von „Vereinigung der göttlichen Natur mit der menschlichen“ spricht, präzisiert er später den Gedanken insofern, als er geltend macht, dass der Begriff „Wesen“ in Bezug auf Gott angemessener ist als 30 31 32 33 34

Alle Zitate: Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 61f. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 63. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 64. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 64. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 63.

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der Terminus „Natur“ – so dass man präzisieren muss: Jesus hat sein Sein und seine Existenz in der reinen Tätigkeit, die das göttliche „Wesen“ ist. Deswegen setzt Schleiermacher später, im Zusammenhang mit der Trinitätslehre, die zweite „Person“ mit der „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur […] durch die Persönlichkeit Christi“35 gleich. Damit meint er nicht die Vereinigung einer präexistenten trinitarischen „Person“ mit der menschlichen Natur, sondern setzt voraus, dass die zweite „Person“ der Trinität (wir sollten es korrekterweise die zweite „Seinsweise“ Gottes nennen) ein Ergebnis dieser ewigen Vereinigungstätigkeit ist. Dies stellt in gewisser Weise einen Abschied von der orthodoxen Trinitätslehre dar – was Schleiermacher bewusst war.36 Dennoch ist seine Christologie, von der die Trinitätslehre inspiriert wird, orthodoxer, als es den meisten Interpreten erscheint. Jesus ist nach Schleiermacher nicht nur „göttlich“ und „menschlich“ – jeweils attributiv verstanden, sondern ist in sich selber die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur – ein „Gott-Mensch“ im wirklichen Sinn. Aus dem bisherigen Gedankengang ergibt sich und es kann darum nicht wirklich überraschen, wenn nun festzustellen ist, dass Schleiermacher, obwohl er die Vorstellung der Jungfrauengeburt ablehnt, sogar an die Idee einer „übernatürlichen Zeugung“ anknüpfen kann. Wie viele zeitgenössische Theologen verweist er darauf, dass die Jungfrauengeburt nur bei Lukas und Matthäus Erwähnung findet und das auch nur zu Beginn, dass sie im Kontrast zum „Geschlechtsregister Christi“ steht etc. Aber das ist nicht der entscheidende Grund für seine Zurückweisung der Lehre. Dieser liegt vielmehr in seiner Überzeugung, dass „der dogmatische Wert dieser Annahme“ bewahrt werden kann und sie sogar stimmiger wird, wenn Jesu Empfängnis ‚normal‘ ablief. Schleiermacher nennt zwei Gesichtspunkte: die Überwindung der „Erbsünde“ und „die Einpflanzung des Göttlichen in die menschliche Natur“37. Das erste betreffend ist es Schleiermachers Ansicht, dass Sünde sozial und umweltbedingt von Generation zu Generation weitertragen wird (so hat er es in einem früheren Paragraph deutlich gemacht hat).38 Daraus folgt, dass „die natürliche Erzeugung den Erlöser nicht hervorbringen“ konnte, weil er sonst zu dem „Gesamtleben der Sündhaf35 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 170, 458. 36 Schleiermacher betont, dass wir die „Person Christi“ nicht gleichsetzen dürfen mit der „Persönlichkeit der zweiten Person im göttlichen Wesen“. Das würde in doppeltem Sinn zerstörerisch wirken: Entweder sagen wir, dass ‚Personen‘ in der Trinität ‚Personen‘ in dem Sinne waren, wie der Mensch Jesus eine ‚Person‘ war (was die Personen in der Trinität so individualisieren würde, dass Tritheismus das notwendige Ergebnis darstellte). Oder wir kehren das Argument um und sagen, dass der menschliche Jesus eine ‚Person‘ in derselben Art war, wie trinitarische Personen ‚Personen‘ sind (was seine Individualität unterminierend in Doketismus resultieren würde). Vgl. dazu Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 60. 37 Alle Zitate: Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 65f. 38 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 69.

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tigkeit“ gehört hätte. Der zweite Gesichtspunkt liegt darin, dass „die reproduktive Kraft der Gattung […] nicht hinreichen [kann], ein Einzelwesen hervorzubringen, durch welches erst etwas in die Gattung selbst hineingebracht werden soll, was noch gar nicht in ihr gewesen war“39. Und genau das geschieht, wenn die „neue Schöpfung“ in und durch Jesus realisiert wird. Folglich muss zur natürlichen Fortpflanzung, zur menschlichen Aktivität, eine göttliche Aktivität hinzukommen. Deshalb war bei der Empfängnis Jesu ein gleichsam „höherer Einfluss“ am Werk. Nur die Mitwirkung des Vaters auszuschließen genügte nicht – gewährleistet musste sein, den sündigen Einfluss beider, des Vaters und der Mutter, zu überwinden. Dabei gilt es zu beachten, dass für Schleiermacher in der sexuellen Begierde oder in deren Befriedigung nichts besonders Sündiges liegt. Nur insofern die sich Liebenden in die allgemeine menschliche Sündhaftigkeit verstrickt sind, ist es nötig, dass die Sünde, die sich ja sogar in ihren edelsten Werken niederschlägt, überwunden werden muss. „Der allgemeine Begriff übernatürlicher Erzeugung bleibt also wesentlich und notwendig, wenn der eigentümliche Vorzug des Erlösers unverringert bleiben soll“40. Schleiermacher erreicht mit dieser Gedankenführung eine Konzentration der vereinigenden Tätigkeit Gottes auf den eigentlichen Moment der Zeugung. Was das für bzw. gegen den Adoptianismus bedeutet, liegt auf der Hand. Schließlich soll nun noch der „Zustand des Vereint-Seins beider Naturen“ in Jesus zum Thema werden. Dabei können wir uns kürzer fassen. Die zentrale Frage, die Schleiermacher hier verhandelt, hat mit der lebenslangen Beziehung der göttlichen und der menschlichen Tätigkeit in Jesus zu tun. Die Vereinigung zwischen beiden muss auf eine Weise stattfinden, dass in jedem Moment „von dem Sein Gottes in Christo die Tätigkeit ausgeht, und die menschliche Natur in die Gemeinschaft derselben nur aufgenommen wird“41. Obwohl sich Schleiermacher nie direkt darauf bezieht, erinnert seine Beschreibung an die Auseinandersetzungen um die Gemeinsamkeit des Handelns der beiden Naturen im siebten Jahrhundert. Das Sein Gottes in Christus ist die Gegenwart der reinen Tätigkeit in seinem Bewusstsein, die kein Moment von Empfänglichkeit zulässt. Eine Rezeptivität, die Jesu äußeres Verhalten gegenüber Anderen prägt, gehört einzig und allein zu seiner menschlichen Natur, nicht zu dem Sein Gottes in ihm. Dennoch stehen beide miteinander in jedem Moment des Lebens Jesu in Beziehung: Jesus kannte Leidentlichkeit nur in Form des „Mitgefühl[s] mit dem Zustand der Menschen“42, das sein außergewöhnliches Gottesbewusstsein in ihm weckte. Das brachte ihn dazu, demütig Schmach, Leiden und letztlich auch den 39 40 41 42

Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 66. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.2, 67. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.3, 69. Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.3, 69.

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Tod, als eine Folge seines Mitgefühls, zu akzeptieren. Jesus war also eine höchst tätige Leidentlichkeit zu eigen, die zwar nicht vergleichbar mit dem Sein Gottes in ihm war, aber von diesem abhing. Als Resultat dieses permanenten Zusammenspiels von menschlicher und göttlicher Tätigkeit erlebte Jesus keine spirituellen Konflikte, also keinerlei Störung seines Gottesbewusstseins. Sein Leben war gekennzeichnet von Sündlosigkeit und jener „ungetrübten Seligkeit“43, die daraus resultierte, dass er keiner Versöhnung mit Gott bedürftig war.44 Aber auch wenn es Schleiermacher gelang, die Idee der communio operum in einer vorsichtigen Wiederbelebung aufzunehmen, kann dasselbe nicht von der sogenannten communicatio idiomatum gesagt werden. Die Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Tätigkeit wird nicht aus einer Vermischung von Gottes Sein mit dem Sein des Menschen resultieren. Wenn auf der einen Seite der menschlichen Natur wirklich göttliche Attribute mitgeteilt werden, „so konnte während dieser Mitteilung nicht Menschliches mehr übrig sein in Christo“. Wenn andererseits menschliche Qualitäten oder Erfahrungen (etwa Leiden) Gott zugeschrieben werden, „kann bei einer solchen Mitteilung nicht Göttliches mehr stattfinden“45. Der wahre Grund für Schleiermachers Ablehnung der Idiomenkommunikation liegt nicht in den negativen Konsequenzen diese Denkmodells begründet, sondern in seiner aktualistischen Fassung der Vereinigung in Jesus, weshalb jede Rede von einem „Zustand“ ihm letztlich unangemessen erscheint.

43 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 101, 97 (Leitsatz). 44 Dass dieses Bild eines ungetrübt seligen Jesus, der nie einen spirituellen Konflikt durchleben muss, nicht mit dem Jesus der synoptischen Evangelien vereinbar ist, war Schleiermacher bewusst. Er ist aber ein ziemlich harter Kritiker, wenn es um die Synoptiker geht. Er nimmt an, dass dort vieles berichtet wird (so auch die dramatische Szene im Garten Gethsemane), das tatsächlich keinen Anhalt am Leben Jesu hat. Außerdem hegt er große Zweifel, was die Verfasserschaft der Bücher angeht. Er glaubt nicht daran, dass Matthäus der Autor des gleichnamigen Evangeliums ist. Markus und Lukas waren ohnehin keine Apostel, so dass die späteren Zusätze niemanden verwundern sollten. Das Evangelium nach Johannes hält er als einziges für zuverlässig: es ist das Werk des Jüngers mit gleichem Namen, den Jesus berufen hatte und der zu dem inneren Kreis der Jesusleute gehörte. Vgl. dazu J.C. Verheyden, The Life of Jesus, Philadelphia 1975, XXXI. Zu Schleiermachers Verteidigung muss gesagt werden, dass zu seiner Zeit zwar die synoptische Kritik bereits gut entwickelt war, die historische Kritik am Johannesevangelium aber noch in den Kinderschuhen steckte. Wir sollten die Ansprüche, die Schleiermacher für seine Christologie erhebt, im Lichte seines eigenen historischen Kontextes beurteilen. Und dann werden wir feststellen, dass er in seiner Zeit durchaus gute Gründe für seine Bevorzugung des Johannesevangeliums hatte und dort auch vieles vorhanden ist, was sich in Schleiermachers Jesusbild findet. 45 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 97.5, 75.

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Hauptprobleme der Christologie Schleiermachers

Dass Schleiermachers Jesus-Bild nicht dem der synoptischen Evangelien entspricht, haben wir bereits erwähnt, aber diesem Befund muss nicht weiter nachgegangen werden. Exegetische Überlegungen dürfen zwar für eine kritische Würdigung eigentlich nicht einfach übergangen werden, ich möchte mich aber dennoch zwei anderen Problemen zuwenden, die in Schleiermachers Christologie auftreten, und zwar als Folge von Grundentscheidungen, die er in seiner Einleitung getroffen hat. Die erste dieser Entscheidungen zielt auf eine Art Bündelung der Tätigkeit Gottes gegenüber der Welt, d. h., dass es nicht mehrere, sondern nur einen Akt Gottes gibt, der auf das System der Natur als ganzes ausgerichtet ist.46 Demzufolge kann es keine weiteren, „neuen“ Handlungen geben. In nur einer einzigen göttlichen Tätigkeit wendet sich Gott dem System als ganzem zu, obwohl diese als ganze eine „ewige“ ist und kein Akt innerhalb der Zeit. Die zweite Festlegung Schleiermachers ist mit der ersten eng verbunden. Gott agiert nicht innerhalb des Systems der Natur, sondern im Gegenüber zu ihm oder, in Schleiermachers Terminologie: „Die göttliche Ursächlichkeit“ erscheint „der endlichen und natürlichen entgegengesetzt“47. Wenn Gott ursächlich mitten im System der Natur handelte, wäre er eine endliche Größe inmitten anderer endlicher Größen. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Mensch gegenüber irdischen Faktoren relativ frei und zugleich abhängig ist, würde es die Theorie vom schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl zunichtemachen, wenn Gott ein Akteur unter ihnen wäre. Die Probleme, die durch diese doppelte Festlegung in Schleiermachers Christologie auftreten, sind allerdings, wie zu zeigen sein wird, lösbar. Aber sie müssen angesprochen werden. Das erste Problem taucht in Verbindung mit dem „Entstehung“ des Lebens Jesu auf, oder in Schleiermachers Terminologie: der „neue[n] […] Einpflanzung des Gottesbewusstseins“48 in die menschliche Natur. Diese Rede von einem „neuen Einpflanzen“ des Gottesbewusstseins kann sofort als Verletzung des Grundsatzes angesehen werden, nicht von mehreren Tätigkeiten Gottes zu sprechen. Das trifft aber nicht zu. Denn das Auftreten eines ungetrübten Gottesbewusstseins in einem einzelnen Individuum ist nur geschichtsimmanent neuartig, weil es auf Erden einen solchen Menschen nie zuvor gegeben hatte. Aber aus Gottes Perspektive ist es nicht „neu“. Die Aufrichtung eines solchen Bewusstseins erfordert also keinen singulär neuen Akt Gottes, der von der ewigen, einfachen Tätigkeit Gottes gegenüber seiner Schöpfung abzuheben wäre. Die 46 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre I, § 38, 192. 47 Schleiermacher, Glaubenslehre I, § 51.1, 264. 48 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 94.3, 47.

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„neue Einpflanzung“ und die Vollendung der Schöpfung, die darin stattfand, sollte man also nicht als neues Werk Gottes interpretieren. Die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur gilt gewissermaßen als Ziel (Telos) des einen, ewigen Aktes Gottes gegenüber der ganzen Natur. Oder, um es in traditioneller Weise zu formulieren: Das Dekret Gottes enthält die Vollendung der Schöpfung im zweiten Adam. Wenn dieses Ereignis innerhalb der Geschichte stattfindet, bedarf es keiner neuen göttlichen Tätigkeit; es ist vielmehr deren Vollendung. Das zweite Problem, auf das wir hier eingehen, ist komplizierter. Wir haben gesehen, dass die Vereinigung des göttlichen Wesens mit dem Menschen Jesus als ewiger Akt verstanden werden soll. Wenn diese Aussage nicht in Widerspruch zu den übrigen Ausführungen der Schleiermacherischen Dogmatik geraten soll, kann dieser Akt Gottes aber nicht im menschlichen Bewusstsein Jesu stattfinden, weil Gott nicht innerhalb des Systems der Natur operieren kann, ohne sich selbst zu einem endlichen Faktor in seiner Mitte zu machen. Anders gesagt: Die Tätigkeit Gottes kann keine Aktivität in der Zeit sein, sonst würde sie den Charakter der Ewigkeit verlieren. So muss das Handeln Gottes selbst notwendig in Ewigkeit stattfinden – lediglich deren Effekte können in der Zeit erlebt werden. Wir berühren hier einen Bereich, der für mich das zentrale Problem in der Schleiermacherschen Theologie überhaupt darstellt: seine bleibende Gebundenheit an die klassische Metaphysik und die Art und Weise, wie er sie zu überwinden trachtet. Schleiermacher bleibt gedanklich den traditionellen Festlegungen der göttlichen simplicitas, aeternitas und impatientia verpflichtet. Ohne sie würde sein zentrales Konzept des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls seine Schlüssigkeit verlieren. Doch auch in anderen Hinsichten ergeben sich Probleme: Wenn beispielsweise die göttliche Kausalität von der innerweltlichen zu unterscheiden ist, kann sie dann überhaupt Wirkung in der Natur zeigen? Schleiermacher bejaht diese Frage und verwendet dabei den Ausdruck „Naturwerden des Übernatürlichen“49. Allerdings macht er von dieser Formel nicht in der wünschenswerten Klarheit Gebrauch. Sie klingt gewissermaßen zu poetisch. Damit sich das Gemeinte erschließt, muss sie genauer analysiert werden. Klar ist, dass Schleiermacher diese Redewendung realistisch versteht. Das „Übernatürliche“ ist keine reine Idee, obwohl die Andersartigkeit Gottes, die im Abhängigkeitsgefühl zur Geltung kommt, manchmal diesen Eindruck erwecken könnte. Dass Schleiermacher realistisch zu denken beabsichtigt, wird in seinem zweiten Brief an Lücke deutlich. In einer Passage voller Ironie wendet sich Schleiermacher seinem angesehenen Widersacher F.C. Baur zu und schreibt: 49 Vgl. zum Gebrauch dieser oder ähnlicher Formeln: Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 88.4, 22; § 100.3, 95; § 101.3, 100; § 108.5, 167f; § 113.2, 209; § 117.2, 221; § 120.1, 239; § 120.2, 240.

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Ist doch erst ganz kürzlich eine eigne Art von Rationalismus, ich möchte fast glauben, nur ist es mir zu viel Ehre, für mich besonders empfunden worden; mich dünkt, er hieß der ideelle Rationalismus, und soll darin bestehen, dass man zugibt, ein natürliches könne zugleich ein übernatürliches sein. So dankbar ich aber auch dafür bin, so weiß ich doch noch einen bessern Rat. Wo nämlich übernatürliches bei mir vorkommt, da ist es immer ein erstes, es wird aber hernach ein natürliches als zweites. So ist die Schöpfung übernatürlich, aber sie wird hernach Naturzusammenhang; so ist Christus übernatürlich seinem Anfang nach, aber er wird natürlich als rein menschliche Person, und ebenso ist es mit dem heiligen Geist und der christlichen Kirche. Also müßte man für mich lieber ein übernatürliches, das zugleich ein natürliches sein kann, aufstellen, also, wie jenes ein Rationalismus war, müßte dies ein Supernaturalismus sein, und warum sollte man ihn nicht reell nennen? Und so will ich denn sagen, ich setze mich als reellen Supernaturalisten.50

Für Schleiermacher ist also das „Naturwerden des Übernatürlichen“ real. Und doch darf dieser Prozess nicht den Charakter einer Metamorphose tragen, weil das Übernatürliche (schon wegen der Auswirkungen auf das Abhängigkeitsgefühl) sich nicht ändern darf. Also müssen im Fall der Inkarnation die Tätigkeit Gottes und die Tätigkeit des Menschen Jesus getrennt voneinander bleiben. Aber auch in jedem anderen der von Schleiermacher aufgezählten Fälle (Schöpfung, Christologie und Ekklesiologie) haben wir es mit einem Akt zu tun, der übernatürlich beginnt, aber als natürlicher Akt endet. Folglich muss es bei der Menschwerdung eine Art Nullpunkt geben, eine ontologische Schranke, die vom „Übernatürlichen“ nicht überschritten werden darf, um seine Identität nicht einzubüßen. Damit nun sind wir, was die Metaphorik betrifft, ganz nahe bei Karl Barth, bei dem ja das bekannte geometrische Bild im zweiten Römerbriefkommentar begegnet: „In der Auferstehung berührt die neue Welt des Heiligen Geistes die alte Welt des Fleisches. Aber sie berührt sie wie die Tangente einen Kreis, ohne sie zu berühren, und gerade indem sie sie nicht berührt, berührt sie sie als ihre Begrenzung, als neue Welt.“51 Etwas Ähnliches hat Schleiermacher vor Augen, wenn er davon spricht, dass das „Übernatürliche natürlich“ wird. Gott operiert als ein wirkmächtiger Akteur in der Geschichte, aber von einem Punkt aus, der jenseits der Geschichte liegt. In der Tat: Gott lässt sich nicht in die Geschichte verwickeln und wahrt damit jene unsichtbare Grenze. Er kann ihr aber immerhin „begegnen“52 und damit einen 50 F. Schleiermacher, Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre an Dr. Lücke, (Zweites Sendschreiben), in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. H.-F. Traulsen, unter Mitwirkung von M. Ohst (KGA I/10), 337–394, 393. 51 Barth, Römerbrief II, 51f. 52 Zu diesem Wort, das die Beziehung von Ewigkeit und Zeit in Barths zweitem Römerbrief umschreibt, vgl. M. Beintker, Die Dialektik in der „dialektischen Theologie“ Karl Barths. Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der „Kirchlichen Dogmatik“, BevTh 101, München 1987, 53: „Ewigkeit kann nicht zeitlich werden. Wohl aber

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wirklichen Einfluss innerhalb der zeitlich verfassten Welt ausüben. Zugegebenermaßen bleibt auch diese Erklärung poetisch, genau wie die Formel selbst, aber sie ist zureichend, um Schleiermachers Anliegen zu verdeutlichen. Aufgrund des Gesagten können wir also festhalten: Die Vereinigung des göttlichen Wesens mit Jesus ist ein ewiger Akt Gottes, der das ganze irdische Leben Jesu begleitet und innerhalb der Zeit seinen Widerhall in der Form eines menschlichen Lebens findet. Schleiermacher hat die Idee der Inkarnation erfolgreich rekonstruiert. Die einzigen verbleibenden Probleme haben mit der Vollständigkeit der menschlichen Natur Jesu zu tun, sind aber – im Vergleich zum bisherigen – relativ leicht auszuräumen.

2.4

Kleinere Probleme, die sich aus Schleiermachers Christologie ergeben

Kritiker von Schleiermachers Christologie, z. B. Strauss, haben in der Regel ihre Aufmerksamkeit auf das Problem der Integrität der menschlichen Natur gerichtet: Kann ein menschliches Wesen, das so umfassend von der Gegenwart Gottes dominiert wird, wirklich in vollem Sinne als menschlich gelten? Man kann diese umfassende Frage auf drei konkrete Themenkomplexe reduzieren. Der erste, offensichtlichste und am einfachsten zu behandelnde ist der der Sündlosigkeit Jesu. Kann ein Mensch ohne Sünde sein und gleichwohl wie alle anderen? Zunächst scheint Schleiermacher das Problem ganz klassisch anzugehen. Er sagt: „Dass der Erlöser von aller Sündhaftigkeit gänzlich frei gedacht wird, hindert keineswegs die vollständige Identität der menschlichen Natur, da schon festgestellt worden ist, die Sünde gehöre so wenig zum Wesen des Menschen, dass wir sie immer nur als eine Störung der Natur ansehen können; woraus folgt, dass die Möglichkeit einer unsündlichen Entwicklung mit dem Begriff der menschlichen Natur an und für sich nicht unverträglich ist“53. Doch das ist noch einmal zu ergänzen. In einer früheren Abhandlung über den Ursprung der Sünde in der menschlichen Rasse weist Schleiermacher die Idee einer paradiesischen Situation, in der die Menschen zunächst sündlos waren, zurück. Die universale Sündhaftigkeit war nicht erst das Ergebnis einer Veränderung der menschlichen kann Ewigkeit der Zeit begegnen.“ Was das Verhältnis Gott-Welt angeht, war Barth der Schleiermacherischen Glaubenslehre nie so nah wie zu Zeiten des zweiten „Römerbriefs“. Dass sich beide hier so ähneln, ist ein direktes Ergebnis ihres bis dahin nicht erfolgten Abschieds von der griechischen Metaphysik. Barth hat dies nach und nach getan. Sonst hätte er niemals sagen können, dass das, was in dem Menschen Jesus stattfand, das Leben des ewigen Gottes tangierte. Aber um das Jahr 1920 herum war er noch, wie Schleiermacher, in alten Denkmustern gefangen. 53 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 94.1, 43.

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Natur, die sich im Nachhinein einstellte. Der Keim zur Sünde war in dem Menschen von Anbeginn enthalten. Aber diese Möglichkeit ist noch keine Wirklichkeit. So entspricht diese Möglichkeit durchaus noch der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen. Denn „ursprüngliche Vollkommenheit“ besteht für Schleiermacher in einer zielgerichteten Veranlagung zum Gottesbewusstsein, das in der menschlichen Natur als solcher vorhanden ist.54 „Zielgerichtet“ kann man sie deshalb nennen, weil nach Schleiermacher das Ziel der Schöpfung die Erlösung ist. Oder, um es genauer zu sagen: Der Urgrund der Schöpfung liegt in einem göttlichen Ratschluss verborgen, der als ihr ultimatives Ziel ihre Vollendung in der Erscheinung des archetypischen Menschen vorsieht. Die „ursprüngliche Vollkommenheit“ der geschaffenen menschlichen Kreatur liegt dann in der zielgerichteten Veranlagung zum Gottesbewusstsein, die in der Geschichte zu ihrer perfekten Ausprägung eben in Jesus kam. Freilich begreifen wir unsere ursprüngliche Vollkommenheit erst, wenn wir sie vollständig ausgeprägt in Jesus von Nazareth, dem archetypischen Menschen, finden. Andererseits impliziert dies auch, dass wir die Sünde als Störung unserer Natur erst im Licht ihrer Beseitigung verstehen.55 Schleiermacher vollzieht in seiner Interpretation des „archetypischen Menschen“ eine Wendung: vom sündlosen Adam zur Sündlosigkeit Jesu. Jesus ist die Vollendung der Schöpfung; er ist der wahre Mensch. Wenn man mithin die Lehre vom Menschen derart christologisch verankert, wie Schleiermacher es hier tut, kann man in Jesu Sündlosigkeit nicht länger einen Grund für eine Art defizitärer Humanität erblicken. Denn genau die Sündlosigkeit liefert das Kriterium gerade für Menschlichkeit. Eine Position dieser Art provoziert dann vermutlich eine Diskussion über die Möglichkeit einer christozentrisch ausgerichteten Anthropologie, und von dorther könnte man das ganze Begründungsmuster in Frage stellen. Aber das Einzelargument der „Sündlosigkeit Jesu“ ist innerhalb eines solchen Systems kaum anzugreifen. Der zweite Themenkomplex, der womöglich Anlass zu Kritik gab, hängt mit Jesu Erwachsenwerden und seiner Entwicklung vom Kind zum Mann zusammen. Kann ein Mensch mit einem vollkommen ausgeprägten Gottesbewusstsein sich wirklich noch nennenswert entwickeln? Ja, sagt Schleiermacher, denn das Gottesbewusstsein in ihm konnte „sein Ansehn über das sinnliche Selbstbewusstsein nur in dem Maße ausüben, als des letzteren verschiedene Funktionen schon hervorgetreten waren“56. Das Gottesbewusstsein war also in Jesus immer vorrangig tätig. Aber auch in ihm trat es – wie bei uns – anfangs nur in Keimform auf und entwickelte sich im Gegenüber zu denjenigen Fähigkeiten seines Bewusst54 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre I, § 60, 321 (Leitsatz). 55 Vgl. Schleiermacher, Glaubenslehre I, § 68.3, 365. 56 Schleiermacher, Glaubenslehre II, § 93.3, 39.

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seins, die ihrerseits erst ausgeprägt werden mussten. Schleiermacher denkt hier in erster Linie an Intellekt und Willen. Jesus nahm zu an Weisheit, je älter er wurde (Lk 2,52). Einen Text wie diesen nimmt Schleiermacher natürlich gerne auf. Der dritte Problembereich hat mit Schleiermachers Neigung zum Apollinarismus zu tun. Doch man kann sagen, dass seine Bemühung, die Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Tätigkeit aufrechtzuerhalten, nicht nur die Andersartigkeit Gottes, sondern auch Jesu Menschlichkeit bewahrt. Wenn Gott in der Begegnung mit Jesus wirklich der Andere bleibt, gerät man kaum in gedankliche Nähe zu Apollinaris. So können wir festhalten, dass in Bezug auf das Problem der Integrität der menschlichen Natur Jesu kein Einwand gegen Schleiermacher erhoben werden kann.

2.5

Vorläufige Ergebnisse

Das kritische Element in Schleiermachers Kategorie des ‚Gefühls‘, des unmittelbaren Selbstbewusstseins, hat einen entscheidenden Einfluss in der dialektischen Interaktion der beiden Argumentationsstränge, die seine Christologie prägen. Die ‚besondere Würde‘ des zweiten Adam besitzt ontische Priorität gegenüber der ‚spezifischen Tätigkeit‘ des Erlösers (weil die ‚lebendige Empfänglichkeit‘ gegenüber der göttlichen Tätigkeit die Quelle seines Handelns bildet), und trotzdem darf das, was über den zweiten Adam gesagt wurde, diese erlösende Tätigkeit nicht außer Acht lassen. Keine Würde darf ihm zugeschrieben werden, außer der für sein erlösendes Werk nötigen. Doch ist Schleiermachers Christologie noch in einem tieferen Sinn kritisch zu nennen. Die Lokalisierung des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit auf der Ebene des unmittelbaren Selbstbewusstseins gewährleistet eine fortwährende Korrektur der Lehre – auch der Christologie. Die Bewegung von der Offenbarung zur Lehre ist eine Bewegung von der Unmittelbarkeit der Erfahrung, die alles Denken fundiert, zu einer Versprachlichung, die allerdings niemals den ganzen Inhalt des ursprünglichen Erlebnisses zu fassen vermag. Darum trägt Schleiermachers Christologie den Charakter eines Versuchs. Ihr kommt eine Offenheit zu, die zu weiterem Nachdenken einlädt. Sein Ringen mit dem überlieferten Dogma ist dafür ein Beispiel. Er nimmt es als Herausforderung der Kirche (in Geschichte und Gegenwart), die gefundenen Lösungen stets für Korrekturen offenzuhalten. Was Schleiermachers Beziehung zu Chalcedon betrifft, so steht er dessen christologischer Formel sachlich näher, als viele seiner Interpreten denken. Allerdings hat er den ‚Essentialismus‘ der Chalcedonensichen Väter nicht überschritten – weder in Bezug auf die göttliche noch in Bezug auf die menschliche

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Seite. An dieser Stelle wird sich zeigen, dass Barth wesentlich moderner denkt. Und dennoch – Schleiermacher ersetzt ‚Natur‘ durch ‚Tätigkeit‘ und erreicht damit, dass er an der chalcedonensischen Betonung der Einheit des Subjektes festhalten kann. Allerdings muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieses Subjekt der Mensch Jesus und nicht der göttliche Logos ist. Diese Umdeutung ist m. E. ein Schwachpunkt des Schleiermacherischen Entwurfs. Die wirklich großen Schwächen in Schleiermachers Christologie aber hängen mit den Schwächen seiner Bewusstseinstheologie überhaupt zusammen. Der abstrakte, metaphysische Charakter des unmittelbaren Selbstbewusstseins und die bleibende Verpflichtung auf die klassische Metaphysik, gerade in Bezug auf wichtige Themen der Gotteslehre, sind dabei in erster Linie zu nennen. Eine Theologie, die auf Schleiermachers Denken auf- und an ihm weiterbauen wollte, müsste diese Elemente aufgeben. Allerdings sollte sie ebenso kritisch und kirchlich sein, wie es Schleiermacher in seiner Theologie vorbildlich vor Augen führt.

3.

Karl Barth: Eine revidierte alexandrinische Theologie

Nach seiner Wende zur dialektischen Theologie im Jahre 1916 bewegen sich die christologischen Überlegungen Barths in drei Schritten vorwärts: 1) In einer ersten Phase ist Barth ganz und gar mit der Auferstehung Christi als einem eschatologischen Ereignis beschäftigt, so dass er der Inkarnation wenig Beachtung schenkt (so in den beiden „Römerbriefen“). 2) In der zweiten Phase, die vom „Unterricht in der christlichen Religion“ bis zur Kirchlichen Dogmatik I/2 reicht, arbeitet sich Barth an der Tradition ab, vorrangig am Chalcedonense und an dessen Rezeption bei den Reformatoren. 3) Erst in der letzten Phase präsentiert Barth seinen eigenen Entwurf, der hauptsächlich in KD IV/1 zu finden ist.57 Die erste Phase können wir hier übergehen. Wenn es um die Frage einer möglichen Überbietung Barths durch Schleiermacher gehen soll, interessiert uns hauptsächlich das zweite und dritte Stadium. Meine These dazu lautet: Barths Christologie war der Schleiermacherischen niemals so nahe wie in der genannten zweiten Phase. Und wenn Barth sich dann wieder Schritt um Schritt von diesem Entwurf entfernt, um zu seiner eigenen, reifen Christologie zu gelangen, dann hauptsächlich deshalb, weil er zu einem nicht unwesentlichen Teil Elemente des Denkens Hegels in seine Argumentation integriert. Daher kann der Unterscheid 57 Zur Entwicklung der Barthschen Christologie zwischen KD I/1 und KD IV/1 habe ich mich verschiedentlich geäußert (vgl. z. B. B. L. McCormack, Barths grundsätzlicher Chalzedonismus? ZDT 18 [2002], 138–173). Nur dies möchte ich hier anmerken: Die Christologie von KD I/2 ähnelt in ihren Grundentscheidungen mehr der Göttinger Dogmatik als die Ausführungen in KD IV/1.

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zwischen dem zweitem und dem drittem Stadium vereinfacht als wechselnde Nähe – zunächst zu Schleiermacher, dann zu Hegel – skizziert werden. Um diese These zu stützen, möchte ich zuerst die Christologie der Göttinger Dogmatik beleuchten. Dann werde ich mich ein wenig knapper der Christologie Barths in KD IV/1 zuwenden.

3.1

Christologie in der Göttinger Phase

Die Anordnung der verschiedenen christologischen Loci, wie sie Barth in seinem „Unterricht in der christlichen Religion“ vornimmt, begegnet zu einem Großteil in der „Kirchlichen Dogmatik“ wieder. Die Inkarnation als solche wird bereits in § 6 der Prolegomena behandelt.58 Sie stellt dort einen Grundstein für die Lehre von der Offenbarung dar. In § 28 konzentriert sich Barth schließlich auf die „Person“ Christi.59 Direkt spricht er dort die Probleme an, die sich aus der hypostatischen Union von göttlicher und menschlicher Natur ergeben. Doch reicht dieser Verweis auf die Gliederung nicht aus, um die Bedeutung zu ermessen, die die Lehre von der Offenbarung für Barth spielt. Diese bestimmt nämlich – was für jeden Leser Barths auf der Hand liegt – der Sache nach ausnahmslos alle christologischen Aufstellungen, auch den § 28. Bis zur Revision der Erwählungslehre in KD II/2 und der daraus resultierenden Fundierung seiner Christologie in dieser Lehre, war es ihm nicht möglich, in etwas anderem die Christologie zu verankern als in der dialektischen Verschränkung von Enthüllung und Verhüllung in der Offenbarung. Genau aus diesem Grunde stehen die Prolegomena aller drei dogmatischen Durchgänge (Göttingen, Münster, Bonn-Basel) in einer so engen Beziehung zueinander. Obwohl Barth sie kontinuierlich erweitert, kritisch ergänzt oder klärend bereinigt, ähneln sich Grundgedanken und Aufbau des gedanklichen Materials.60 Die Prolegomena sind alle in einer Zeit geschrieben, in 58 Vgl. K. Barth, „Unterricht in der christlichen Religion“. Erster Band: Prolegomena 1924, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985 (= Unterricht I), 160–206. 59 Vgl. K. Barth, „Unterricht in der christlichen Religion“. Dritter Band: Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung 1925/1926, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 2003 (= Unterricht III), 26–74. 60 Vgl. M. Beintker, „Unterricht in der christlichen Religion“, VuF 30/2 (1985) 45–49, 46: „Es fällt nicht leicht, die Unterschiede zwischen dieser Vorlesung und der umfangreichen Zweitauflage aus dem Wintersemester 1926/27, die dann als Prolegomena-Band der „Christliche(n) Dogmatik im Entwurf“ in den Druck gehen sollte, zu benennen.“ Barth hatte wahrscheinlich das Manuskript seiner Vorlesung neben sich liegen, als er die „Christliche Dogmatik im Entwurf“ schrieb. Ohne einige Modifikationen, die nach und nach Eingang in die „Kirchliche Dogmatik“ I/1 und I/2 fanden, leugnen zu wollen, würde eine synoptische Exegese aller drei Prolegomena (wie ich sie als Vorbereitung auf mein Buch über Barths theologische Entwicklung tatsächlich durchgeführt habe) viel stärkere Kontinuität als Diskontinuität zwischen ihnen konstatieren. Auch die Korrekturen, die Barth in der Kirchlichen

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der Barths Denken sich ganz auf die Idee der Offenbarung konzentriert. Erst mit der Neuformulierung der Erwählungslehre wird die Christologie zum zentralen Lehrstück.61

3.1.1 Offenbarungszentrierte Christologie Von Anbeginn ist es bei der Ausarbeitung der Offenbarungslehre das Hauptanliegen Barths, die Andersartigkeit Gottes – die Gottheit Gottes – auch gedanklich zu wahren, und zwar gerade durch den Rekurs auf das Ereignis der Offenbarung. Wenn Gott sich dem Menschen zeigt, ordnet er sich nicht gewissermaßen der epistemischen Kontrolle des Menschen unter. Daran hält Barth fest. Seine Ausführungen zur Inkarnation in § 6 beginnen mit einer Diskussion um die Verortung der Christologie in seiner Offenbarungslehre (Tei1 und 2). Aufmerksamen Lesern der frühen Arbeiten Barths sind diese Themen nicht unvertraut. Wenn Gott im Ereignis der Offenbarung wirklich Gott bleiben soll, muss die Offenbarung in Verborgenheit stattfinden.62 Denn sie kann sich nur ereignen, wenn Gott „ein freier Herr“ bleibt, und das nicht nur, was das Gegenüber zum Menschen, sondern auch, was seine Gottheit selbst angeht. Wenn aber der Charakter der verborgenen Offenbarung verlorenginge, wenn Gott also Dogmatik im Gegensatz zu „Die christliche Dogmatik im Entwurf“ vornahm, erweisen sich bei näherem Studium als Verbesserungen bestimmter Formulierungen, die Anlass zum Missverständnis gaben. Eine substantielle Kursänderung kann man in ihnen sicher nicht erblicken. Vgl. B. L. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, Zürich 2006, 366–368. 61 In seinem berühmten Buch von 1951 bietet Hans Urs von Balthasar zwei Schemata für die Periodisierung der theologischen Entwicklung Karl Barths an. Das erste bringt eine sogenannte „Wendung zur Analogie“ mit dem Anselmbuch Barths von 1931 in Verbindung. Diese Wende wird in Analogie zur zweiten „Bekehrung“ Augustins auch als „Umbruch“ bezeichnet. Das zweite Schema von Balthasars bezeichnet diese Wendung als graduellen Übergang, der sich zwischen 1927 und 1938 ereignete. „In der ‚Kirchlichen Dogmatik‘ vollzieht sich unmerklich, aber unaufhaltsam die Ersetzung des Zentralbegriffs ‚Wort Gottes‘ durch den Zentralbegriff ‚Jesus Christus, Gott und Mensch‘.“ (H.U. von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 1951, 124). Ich muss an dieser Stelle meine Kritik, die ich in meinem Buch an der Titulierung ‚Wende von der Dialektik zur Analogie‘ vorgenommen habe (vgl. McCormack, Theologie, 27f) nicht noch einmal wiederholen, sondern will stattdessen auf die Wichtigkeit des zweiten Modells, das von Balthasar liefert, hinweisen. Obwohl die Datierung m. E. noch einiger Korrektur bedürfte, ist die Charakterisierung dieser Entwicklung als nachhaltige „Ersetzung der Zentralbegriffe“ sehr wichtig. Denn die letzte bedeutsame ‚Wendung‘ in Barths Denken war tatsächlich eine Bewegung von der Betonung der Offenbarung zu einer Betonung der Erwählung. Und damit war sie auch eine Bewegung von der Konzentration auf das „Wort Gottes“ hin zur Konzentration auf Jesus Christus als Subjekt der Erwählung. Die Unterschiede zwischen der Christologie in KD I/2 und der Christologie in KD IV/1f erklären sich also v. a. aus der Revision der klassischen Erwählungslehre (KD II/2). 62 Vgl. Barth, Unterricht I, 165.

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dem menschlichen Wissen direkt zugänglich wäre, müsste er im Augenblick seines Bekanntwerdens aufhören, Gott zu sein. Er wäre nicht länger „ein freier Herr“, das „unaufhebbare Subjekt“, das er nun einmal ist. Barth geht sogar so weit zu behaupten, dass das, „[w]as wir sehen, hören, fühlen, betasten“ nicht das göttliche Subjekt ist, weil dieses nicht zu einem unserer Gegenstände werden kann. „Was wir sehen, hören, fühlen, betasten, innerlich oder äußerlich wahrnehmen, das ist immer etwas Anderes, ein Gegenüber, ein Zweites, ein Objekt, ein Ich, das nicht dieses Ich ist.“63 Offenbarung ereignet sich darin, „dass Gott seine göttliche, unnahbare Ichheit wie mit einem Schleier von menschlicher Ichheit bedeckte“64. Die Implikationen eines solchen Denkens für die Christologie liegen vor Augen. Wir verweilen aber zunächst noch bei der Offenbarungslehre Karl Barths. Laut Barth muss Gott sich in menschlicher Gestalt offenbaren. Warum? Die Frage eröffnet Raum für Spekulationen. Aber er erwägt sie trotzdem.65 Im Verhältnis zu den Objekten unseres Wissens kann man nicht ausschließen, „dass ich ihr Subjekt bin, weil sie in meinem Bewusstsein sind“66. Barth erörtert diese Dinge innerhalb der Schemata des Kantianismus bzw. Neukantianismus. Menschliches Erkennen neigt dazu, den Erkenntnisgegenstand während des Prozesses zu beeinflussen, also immer auch konstruierend zu wirken. Dieses Phänomen tritt nach Barths Ansicht allerdings nicht im Verhältnis zu anderen Menschen auf. Wenn uns ein anderer Mensch begegnet, stehen wir vor einem anderen Subjekt, das selbst entscheiden kann, ob es sich uns öffnen will. Damit wird die konstruktivistische Neigung durch die bloße Andersartigkeit des Gegenübers durchbrochen. „Wären wir nur von Dingen, von Pflanzen, von Tieren umgeben, wir könnten wähnen […], dass wir es im ganzen Kosmos nur mit einer Setzung, ja Schöpfung unseres Bewusstseins, unseres Ich zu tun haben, wir könnten uns wenigstens träumen, Gott zu sein.“67 Keine andere Kreatur als der Mensch kann uns an eine Grenze bringen, die derjenigen vergleichbar wäre, die Gottes Wirklichkeit für unsere Erkenntnis markiert. Mehr noch: „Keine andere Kreatur als der Mensch kann gerade das, was Gott in seinem reinen Gottsein 63 Alle Zitate: Barth, Unterricht I, 166. 64 Barth, Unterricht I, 166f. 65 Gleichzeitig räumt er ein, dass sein „Beweis“ der Notwendigkeit einer Inkarnation (und damit der Zwei-Naturen-Christologie) eine Konstruktion a posteriori ist. Niemand kann das Problem der Möglichkeit einer Offenbarung richtig behandeln, wenn er nicht schon von ihrer Realität wüsste (vgl. Barth, Unterricht I, 173. 174. 185). Indem Barth diesen Zugang wählt, sieht er sich im direkten Gefolge von Anselms „Cur deus homo?“ bzw. dem Heidelberger Katechismus (vgl. a. a. O., 172. 185). Ob Barth mit dem Verweis auf Anselm bzw. Ursinus richtig liegt, ob also seine Erkenntnis wirklich ausschließlich a posteriori gewonnen wurde, ist eine andere Frage. Aber es ist immerhin wichtig, seine Intention zu erwähnen. 66 Barth, Unterricht I, 167. 67 Barth, Unterricht I, 167f.

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nicht kann: dem Menschen wirklich begegnen, ihm objektiv, anschaulich, begreiflich werden als seinesgleichen.“68 Und deshalb ergibt sich von beiden Seiten dieser Beziehung, von der subjektiven (dass die konstruktive Tätigkeit der menschlichen Erkenntnis an eine Grenze stoßen muss) und von der objektiven (dass Gott ein Objekt werden muss, um dem Menschen zu begegnen), die Notwendigkeit, dass Gott in der Offenbarung die Form eines Menschen annehmen musste (Phil 2,6).69 Aus diesem Grunde also muss die Offenbarung sich in einem Menschen ereignen. Und wenn man der Logik des Barthschen Verständnisses weiter folgen will, muss Gott auch im Gewand des menschlichen Fleisches in jeder Hinsicht Gott und muss jenes Gewand eben nur Hülle bleiben. Der Mensch Jesus ist also keine direkte Offenbarung Gottes. Hinsichtlich der Christologie bedeutet das, dass Gottheit und Menschheit so zusammengebunden werden müssen, dass „weder das Eine in das Andere verwandelt noch mit ihm vermischt würde. Das Verhältnis zwischen ihnen müsste insofern immer ein offenes, loses bleiben“70. Die Einheit zwischen ihnen „müßte eine streng dialektische Einheit sein“71. Mit diesem Gedanken nun ist der Übergang zur Entfaltung einer Christologie erreicht. Im folgenden Abschnitt möchte ich Barths Göttinger Christologie in dreifacher Hinsicht beleuchten: die Identität des inkarnierten Subjekts bzw. die „Person der Vereinigung“, die assumptio carnis, die Konsequenz der Vereinigung der beiden „Naturen“ (insbesondere das Problem der Idiomenkommunikation).

3.1.2 Das Subjekt der Inkarnation Das Subjekt der Inkarnation ist der ewige Sohn. Er wird aktiv und nimmt die menschliche Natur in die Gemeinschaft mit sich auf. Barth neigt in dieser Phase dazu, nach dem Vorbild der Trinität von drei verschiedenen Subjekten zu sprechen.72 In diesem Zusammenhang ist seine Offenbarungslehre von Bedeutung. Sie erlaubte ihm nämlich, die inkarnierte „Person“ von der göttlichen „Natur“, die diese „Person“ mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist teilte, zu 68 69 70 71 72

Barth, Unterricht I, 168. Vgl. Barth, Unterricht I, 168. Barth, Unterricht I, 169. Barth, Unterricht I, 170. Vgl. Barth, Unterricht I, 121f: „Also drei Subjekte der Offenbarung? Ja, […] drei Subjekte der Offenbarung des einen Gottes, drei Personen, Prosopen, Hypostasen der einen göttlichen Wesenheit“. Erst in der „Christlichen Dogmatik im Entwurf“ arbeitet Barth dieses charakteristische Verständnis der Trinität aus und spricht von dem einen Subjekt in drei „Seinsweisen“ (vgl. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band: Die Lehre vom Worte Gottes, Prolegomena zur christlichen Dogmatik 1927, hg. v. G. Sauter, Zürich 1982, 211–224).

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unterscheiden. Die „Person“, und nicht die göttliche „Natur“, wird Fleisch73. Und genau das kommt wiederum Barths Absichten in der Offenbarungslehre zugute, weil es ihm ermöglicht, die „Naturen“ als unterschieden zu denken, wie wir in Kürze sehen werden. Der ewige Sohn wird also Fleisch, ohne eine Veränderung zu durchlaufen. Dass Barth so viel Wert auf die Unveränderlichkeit des Logos legt, resultiert nicht – wie in der Alten Kirche – aus dem Ideal der göttlichen Apathie, sondern aus den Erfordernissen von Barths spezifischem Offenbarungsverständnis. Wenn der Inhalt der Offenbarung „Gott allein, Gott ganz, Gott selber“74 ist, darf sich der Logos im Moment der Offenbarung nicht verändern. Barth versteht schon hier die Kenosis von Phil 2,7 als ‚Addition‘ und nicht als ‚Subtraktion‘:75 Der Logos nimmt die menschliche Natur zu sich auf. Er entäußert nicht etwas, was unmittelbar göttlich war. Er bleibt, wie er immer gewesen ist und bliebe es auch, wenn niemals eine Inkarnation stattgefunden hätte. „Die Menschwerdung des Sohnes ist also kein Verhältnis von Ewigkeit her wie das Verhältnis des Sohnes zum Vater, obwohl sie von der Weisheit von Ewigkeit her beschlossen ist. Sie ist ein Novum, eine Handlung wie die Schöpfung.“76 Der dreieinige Gott wäre auch ohne Inkarnation dreieinig. Und das bedeutet, dass auch der Logos derselbe bleibt – mit oder ohne Menschwerdung. Barth identifiziert also den ewigen Sohn vollständig mit der „Person der Vereinigung“. Deshalb würde man ihn wohl in der klassischen Terminologie der alexandrinischen Schule zuordnen. Denn die „Person der Vereinigung“ wird eben nicht durch die Verbindung zweier Naturen konstituiert. Die vereinigte Person ist der Logos. Das ganze Interesse ist hier auf die assumptio carnis gerichtet und nicht auf die hypostatische Union, die daraus folgt. Diese Gewichtung ist für Barth ein typisches Merkmal der reformierten Theologie (gegenüber der lutherischen). „Die alten Reformierten hatten hier insofern die lebendigere Anschauung, als für sie der ganze Nachdruck auf die Person, auf das göttliche Subjekt fiel. Die Inkarnation ist ein ‚opus personale‘, nicht ‚naturale‘.“77 Aus der Gleichsetzung des Logos mit „Person der Vereinigung“ folgt automatisch die positive Anknüpfung an die alte Lehre von der Anhypostasie bzw. Enhypostasie. So wird bei der Empfängnis durch den Heiligen Geist die menschliche Natur angenommen, kein präexistentes menschliches Individuum. Und dennoch ist die „Idee der Menschheit […] keinen Augenblick zu abstrahieren von ihrem Aufgenommensein in die Person des Logos. Das göttliche Subjekt, das sich mit ihnen eint, macht sie zur Offenbarung. Die menschliche 73 74 75 76 77

Vgl. Barth, Unterricht I, 192f. Barth, Unterricht I, 105. Vgl. Barth, Unterricht I, 192. Barth, Unterricht I, 191. Barth, Unterricht I, 192.

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Natur Christi hat keine eigene Persönlichkeit, sie ist anhypostatos […] [O]der positiv gewendet: sie ist enhypostatos, sie hat Persönlichkeit, Subsistenz, Realität nur in ihrer Einigung mit dem Logos Gottes.“78 Das heißt nicht, dass die menschliche Natur irgendwie defizitär wäre. Was angenommen wird, ist eine menschliche Natur in der Einheit von Leib und Seele. Barth will nur unterstreichen, dass diese Leib-Seele-Einheit nicht vor ihrer Verbindung mit dem Logos existierte. Schließlich muss in diesem Zusammenhang noch ergänzt werden, dass Barth ohne Schwierigkeiten auf das sogenannte Extra Calvinisticum zurückgreifen kann. Handelt es sich dabei doch lediglich um eine logische Folge des Gedankens, dass der Logos auch ohne Inkarnation Logos wäre – freilich kombiniert mit einer Zurückweisung der lutherischen Konstruktion einer communicatio idiomatum. Das menschliche Fleisch ist also nur ‚zufällig‘ mit dem verbunden, was der Logos in sich selbst schon immer war. „Er ist logos ensarkos und logos asarkos!“79

3.1.3 Die assumptio carnis Bis zu diesem Punkt unserer Ausführungen ist Barth ziemlich traditionell geblieben. Erst, wenn er die assumptio selbst behandelt, entfernt er sich grundlegend von klassischen Mustern – und nähert sich damit Schleiermachers Christologie an. Barth wendet sich der Thematik in §28 zu und überschreibt den Paragraphen mit „Versöhnungslehre“. „Versöhnung“ bedeutet dabei die Überwindung des Gegensatzes von Gott und Mensch. Aber wie soll man hier ‚Gegensatz‘ verstehen, unter metaphysischen oder soteriologischen Vorzeichen? Barth behandelt den metaphysischen Gegensatz immerhin als ein eigenständiges Problem, ja, als Vorbedingung des soteriologischen Geschiedenseins. „Was bedeutet die Lehre von der hypostatischen Union für den eigentlichen Gegensatz, um den es doch im Christentum gehen muss? Heißt denn der: Gott – Mensch, und nicht vielmehr: Gott – Sünder? […] Antwort: Jawohl, der entscheidende Gegensatz ist der: Gott – Sünder, Deus – homo peccator. Aber eben weil der peccator homo ist, ist der Gegensatz Gott – Mensch von ihm gar nicht zu trennen, und dieser ist sogar die Voraussetzung jenes. Nur wenn es eine Überwindung des Gegensatzes Gott – Mensch gibt, gibt es eine Überwindung des anderen ‚Gott – Sünder‘. Nur wenn die Person Christi wirklich jener Überwinder ist, kann er dieser sein, kann er das Werk tun, von dem das zweite Stück der Christologie reden soll.“80 Berechtigt wäre also auch, ‚Antithese‘ zu sagen, weil Barths frühere Betonung der Diastase 78 Barth, Unterricht I, 193. 79 Barth, Unterricht I, 197. 80 Barth, Unterricht III, 34.

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von Gott und Mensch (in der Phase des zweiten „Römerbriefs“) im Hintergrund der christologischen Erörterungen überall spürbar ist. Das Zusammenkommen Gottes mit den Menschen ist in erster Linie ein metaphysisches Problem und nur in dessen Gefolge ein soteriologisches. Gerade hier ist Barth Schleiermacher näher, als er denkt. Er hat nämlich in diesem Abschnitt des „Unterrichts“ die Tendenz, vom soteriologischen Problem zu abstrahieren, um sich der Person Christi als einem eigenständigen Thema zuzuwenden. Es dürfte klar sein, dass diese Aufteilung von „Person“ und „Werk“ Jesu Christi recht traditionell wirkt. Aber Schleiermachers Ausführungen an dieser Stelle waren ja auch traditionell. Wie wir sehen werden, ist der entscheidende Punkt ein anderer: Barth erklärt die in Frage stehende Überwindung des Gegensatzes metaphysisch, noch ehe er sich dem Werk Christi zuwendet. Daher ist die Überwindung der Akt der assumptio – ein Akt, den Barth als einen werdenden, nicht einen gewordenen beschreibt. Als reformierter Theologe geht er von folgendem aus: „Man sucht und findet das Wesen und die Kraft dieser Vereinigung nicht in der Gleichgesetztheit der beiden Größen göttliche und menschliche Natur, sondern sozusagen […] in der Gleichsetzung, nicht im Gewordensein, sondern im Werden des Gottmenschen, im Akt, dessen Träger und Vollbringer eben die göttliche Person […] ist.“81 Die hypostatische Union ist im Moment der Empfängnis sozusagen noch nicht komplett. Sie ereignet sich nach und nach, wenn der Logos kontinuierlich die menschliche Natur Jesu aufnimmt. Die assumptio versteht man am besten als eine Vereint-Werden, nicht als VereintSein. Ob Barth mit seiner Annahme richtig lag, in den Reformierten Ahnen für diese Sichtweise zu finden, ist sehr zu bezweifeln. Was allerdings durchaus zutrifft ist, dass Schleiermacher ihm in diesen Dingen vorausging. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass auch Schleiermacher die Vereinigung als eine fortwährenden Prozess ansah und nicht als einen Akt, der mit Jesu Empfängnis abgeschlossen wäre.82 Allerdings könnte genau die Charakterisierung dieses Geschehens als ein ewiger Akt als grundsätzliche Differenz zu Barth aufgefasst werden. Doch hier sollte man nicht vorschnell urteilen. Denn Barth konzentriert sich zwar auf den Akt des Vereint-Werdens, die daraus resultierende Vereinigung aber bezeichnet er als nicht-existent. Die reformierte Christologie „empfindet es […] nicht als störend, sondern als normal, die Einigung von Gott und Mensch sozusagen zurückzuschieben in die Sphäre des exklusiv göttlichen Handelns, die Einigung zwischen Natur und Natur also nur von dort aus, nie als gegeben, nie als bestehend, nie als seiend zu verstehen, die in der Menschheit inkarnierte Gottheit in der Menschheit als solcher immer nur indirekt anzuschauen und zu erleben, die Menschheit als solche immer nur als Erinnerung an Gott selbst, an den Sohn, 81 Barth, Unterricht III, 43. 82 Vgl. oben 2.2.

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der die Menschheit angenommen.“83 Ein Vereint-Werden, das immer stattfindet und nie zum Abschluss kommt: Wie unterscheidet dies sich von einem ewigen Akt im Sinne Schleiermachers? Gleichwohl bleiben Unterschiede zwischen Barth und Schleiermacher bestehen. Der wichtigste Unterschied besteht wohl darin, dass Barth eine ausgereifte Trinitätslehre bereits in die Prolegomena aufnimmt, was es ihm ermöglicht, die Inkarnation als einen personalen Akt einer göttlichen Person und nicht als unpersönliches Ergebnis göttlicher Kausalität zu sehen. Aber am Ende bieten beide Theologen eine aktualisierte Interpretation der assumptio carnis, auch wenn sie ihr Verständnis der Inkarnation auf verschiedenen Wegen erreichten.

3.1.4 Die communicatio idiomatum Barth erörtert die Überwindung des Gegensatzes, indem er sich auf die christologischen Kontroversen zwischen den Reformierten und deren lutherischen Gegnern bezieht. Die reformierte „These“, wie er sie interpretiert, besagt, „dass in der Person Christi die Treue Gottes triumphiert über dem nicht aufgehobenen Gegensatz von Gott und Mensch“84. Die lutherische „These“ unterscheidet sich davon gravierend: „[D]ie Treue Gottes triumphiert in dem in der Menschheit Christi aufgehobenen Gegensatz von Gott und Mensch“.85 Barth knüpft mit diesen Formulierungen, an die reformierte Zurückweisung des lutherischen Konzepts der „Kreaturvergötterung“86 der menschlichen Natur Jesu an. Dass die Überwindung des Gegensatzes in der menschlichen Natur stattfindet, bedeutet für die lutherische Christologie, dass sich das Göttliche quasi an die Menschheit preisgibt und damit für uns auf eine unmittelbare Weise zugänglich wird. Das Ergebnis ist eine „völlig undialektisch[e]“87 Konzeption, die in einem „Haben und Erleben der Gottheit in der Menschheit als solcher“88 mündet. Barth merkt an, dass „der Weg vom genus majestaticum der lutherischen Idiomenlehre zu Hegel … vielleicht nicht so weit [ist], wie es aussieht!“89 Die reformierte Tradition ruft dagegen – so Barth – immer wieder in Erinnerung, dass der Sohn Gottes, der Logos selbst, der Gott-Mensch ist. „Er ist über dem Gegensatz. In ihm ist seine Überwindung begründet, geschehen ein für allemal, durch seine Einigung mit der Menschennatur.“90 Barth artikuliert damit 83 84 85 86 87 88 89 90

Barth, Unterricht III, 44. Barth, Unterricht III, 62. Barth, Unterricht III, 62. Barth, Unterricht III, 44. Barth, Unterricht III, 44. Barth, Unterricht III, 42. Barth, Unterricht III, 57. Barth, Unterricht III, 44.

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ein grundlegend dialektisches Verständnis der Überwindung des Gegensatzes von Gott und Mensch – ein Verständnis, das zur Sprache bringt, worin die Antithese überwunden wurde, ohne sie im Geringsten zu überspielen. Freilich muss man kritisch fragen, ob Barth auf diese Weise sein Ziel erreichen kann. Wenn der Gegensatz zwischen Gott und Mensch besteht und der Logos Gott ist, warum kann der Logos in einem solchen Modell nicht ebenso ‚gefangen‘ sein? 91 Und wie kann es eine wirkliche Überwindung geben, wenn der Gegensatz weiterbesteht, wie er war, geradezu unberührt vom Logos, und – was noch bedeutender ist – der Logos von ihr unberührt bleibt? Insgesamt wirkt bei dieser ersten Beschäftigung Barths mit dogmatischer Christologie die Rede von der Beziehung von Göttlichem und Menschlichem gedanklich überladen: Es kann keine Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur geben, wenn der Logos „außerhalb“ des Gegensatzes, in dem die menschliche Natur gefangen ist, verbleibt. Weiterhin ist auch keine Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur denkbar, die nicht zumindest teilweise zu einer Form der communio naturarum und daher auch teilweise zur communicatio idiomatum führen würde. Genau hier wird die große Schwäche von Barths erster Christologie besonders deutlich. Er war nicht fähig, ein kohärentes Verständnis einer realen Kommunikation der Eigenschaften zu entwickeln, obwohl er dies offensichtlich beabsichtigte. So betont er im Anschluss an Polanus, dass die Eigenschaften beider Naturen „‚vere et realiter‘, ‚realissime‘, direkt und undialektisch“92 der Person der Vereinigung, dem Logos, zugeschrieben werden müssen. Das Problem besteht allerdings darin, dass er die Attribute der menschlichen Natur nicht ‚wahrhaftig‘ und ‚wirklich‘ dem Logos zuschreiben kann, wenn er andererseits darauf beharrt, dass der Logos ‚über‘ der Dialektik zwischen Gott und Mensch steht. Wenn der Logos wirklich das Subjekt dieser menschlichen Natur darstellt – und damit das Subjekt der Erfahrungen, die in und durch diese Natur gemacht werden (bis hin zum Tod) – dann muss sich der Logos tatsächlich innerhalb der Dialektik zwischen Gott und Mensch bewegen und nicht darüber. Barths Problem liegt darin, dass seine Offenbarungslehre ihn in erster Linie dafür sensibilisiert, was er zurückweisen muss, nämlich das lutherische genus majestaticum. Diese Ablehnung 91 Es ist möglich, dass das von Barth zu diesem Zeitpunkt enthusiastisch rezipierte Extra calvinisticum einen Einfluss auf seine Erörterungen zur ‚Person der Vereinigung‘ ausübt – allerdings wohl nicht im Sinne der ursprünglichen Verfechter des Lehrstücks: „[D]er Logos, der den Gottmenschen konstituiert, ist, obgleich er ganz die Menschheit angenommen, auch ganz außerhalb, oberhalb ihrer […], so dass vom Gottmenschen Ewigkeit, Allgegenwart etc. ausgesagt werden können, ohne dass sie deshalb auch von seiner menschlichen Natur an sich anders als eben im übertragenen Sinn ausgesagt werden müssten und dürften.“ (Barth, Unterricht III, 58). 92 Barth, Unterricht III, 51.

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der „Kreaturvergötterung“93 und der „Apotheose des geschichtlich Gegebenen“94, die aus dem lutherischen Verständnis der communicatio idiomatum logisch resultiert, ist durchaus angemessen, und die dafür verantwortliche Offenbarungslehre entfaltet an diesem Punkt der Christologie eine positive Wirkung. An einem anderen Punkt ist dies allerdings nicht der Fall – dort, wo es um die Kommunikation zwischen Menschlichem und Göttlichem geht. Hier kennt Barth nur einen Weg, die Gottheit Gottes im Ereignis der Offenbarung zu bewahren: den Logos über die Dialektik von Gott und Mensch zu stellen. Dabei beachtet er nicht, dass eine Mitteilung der menschlichen Eigenschaften an das göttliche Subjekt keinesfalls das göttliche „Inkognito“95, das für sein Konzept von der Offenbarung grundlegend ist, beseitigt. Dass Gott, die zweite Person der Trinität, das Subjekt menschlicher Erfahrungen ist, ist keine fühl- und fassbare Qualifikation – denn kein Subjekt an sich ist jemals unmittelbarer Beobachtung zugänglich. Die ‚Vergöttlichung‘ der menschlichen Natur würde zwar eine direkte Handhabbarmachung Gottes in der menschlichen Natur Jesu bewirken, aber durch die ‚Vermenschlichung‘ des Subjekts dieser Natur wird genau diese Gefahr vermieden. Weil er das übersieht, weist Barth auch die Alternative eines genus majestaticum, das genus tapeinoticum, entschieden zurück.96 Dementsprechend meint er, dass dem Satz „Gott ist gestorben!“97 die biblische Grundlage fehle. Von daher gelangt Barth zu einer unausgereiften Position, die auf der einen Seite eine reale Mitteilung der Eigenschaften festhalten will, aber andererseits jede wirkliche Kommunikation zwischen den Naturen ablehnt. „‚Communicatio idiomatum respectu naturarum‘, zwischen den zwei Naturen unter sich kann nur […] verbalis, nicht realis gemeint sein.“98 Es ist eben unmöglich, die Person des Logos von dessen göttlicher Natur so zu abstrahieren, dass menschliche Attribute zwar der Person, aber nicht der göttlichen Natur zugeschrieben werden können. Wenn man von einer „Person“ spricht, kann man nicht nur im Konzeptionellen verharren, sondern muss des Konkreten, Realen ansichtig werden. Es bedeutet eben, wie Barth selber sieht, sich auf „dieses bestimmte Individuum, nicht nur die Einzelheit, sondern diesen Einzelnen“99 zu beziehen. Dann jedoch ist es unmöglich, die Person des Logos ohne seine göttliche Natur zu denken und von einer realen Kommunikation zwischen menschlicher Natur und der Person des Logos zu sprechen, ohne dass die göttliche Natur ebenfalls involviert wäre. 93 94 95 96 97 98 99

Barth, Unterricht III, 44. Barth, Unterricht III, 57. Barth, Unterricht III, 46. Vgl. Barth, Unterricht III, 55. Barth, Unterricht III, 53. Barth, Unterricht III, 58. Barth, Unterricht III, 47.

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3.1.5 Vorläufige Ergebnisse Das wichtigste Ergebnis unserer Untersuchungen dürfte in der Einsicht bestehen, dass Barths Christologie in Göttingen auch dann noch eine Version kritischer Wort-Gottes-Theologie gewesen wäre, wenn er beispielsweise auf das genus tapeinoticum – und dementsprechend auf die Menschlichkeit Gottes, das göttliche Leiden etc. – rekurriert hätte. Denn obwohl er an diese Lehrstücke positiv anknüpfen wollte, hielt er an seiner These fest, dass sich die Offenbarung dialektisch ereignet: Gott enthüllt sich durch einen Schleier, der auch im entscheidenden Moment nicht gelüftet wird. In dieser Phase seiner dialektischen Theologie bewegte sich Barth ganz in der Nähe von Schleiermacher, indem er seine Aufmerksamkeit vollständig auf den Akt des Vereint-Werdens richtete, so dass für eine wirkliche Vereinigung der Naturen kein Raum mehr blieb.

3.2

Die Christologie der Kirchlichen Dogmatik (KD IV/1 und IV/2)

Die Entwicklung der Christologie Karl Barths zwischen dem „Unterricht in der christlichen Religion“ und der „Kirchlichen Dogmatik“ spiegelt sich in der Verlagerung der Zuordnung der Person Jesu Christi. Steht diese zu Beginn über dem Gegensatz von Gott und Mensch,100 so findet sie später in dieser Antithese ihren Platz; wurde das Geschehen des Vereint-Werdens zunächst als ewiges Geschehen interpretiert, so jetzt als Ereignis in der Geschichte; hatte Barth die communicatio idiomatum als eine Mitteilung angesehen, die nur die Person betraf, verstand er sie jetzt als eine wirkliche Kommunikation zwischen den Naturen – die ihrerseits konstitutiv für die zweite Person des einen Gottes ist, und zwar nicht nur in der Zeit, sondern bereits von aller Ewigkeit her. Diese Entwicklung der Christologie lässt sich auch mit zwei verschiedenen Referenzpunkten beschreiben: Von Schleiermacher zu Hegel. Die Entwicklung wurde erst durch Barths Revision der Erwählungslehre möglich – und notwendig. Jesus Christus erscheint darin als das „Subjekt“101 der Erwählung: das ist der überraschende Ausgangspunkt, der eine gründlichere Aufnahme und Weiterentwicklung des Chalcedonense möglich machte, als es in der Göttinger Zeit möglich war und außerdem zu einer bemerkenswerten Modifikation der Trinitätslehre führte. Jesus Christus als das Objekt der Erwählung zu verstehen, ruft keine Verwunderung hervor; die reformierte Tradition, zu der Barth gehörte, hat dies immer betont. Aber Jesus Christus als Subjekt der Erwählung? Das ist ein Gedanke, welcher jeder Logik zu entbehren scheint. Er käme der Absicht gleich, das göttliche Subjekt vor dem Akt der Erwählung zu dem zu 100 Vgl. oben 3.1.4. 101 Barth, KD II/2, 109.

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machen, was er in Konsequenz dieses Aktes werden soll – was sicher keinen Sinn ergibt. Wie also soll man dies verstehen? Barths umfassendste Antwort findet sich in einer Passage zur Menschwerdung Gottes in KD IV/1, unter der Überschrift „Der Weg des Sohnes in die Fremde“.

3.2.1 Die göttliche Selbsterniedrigung in der Ewigkeit: der „innere Moment“ Barths Diskussion der Inkarnation in § 59.1 erfolgt in drei Schritten: 1) eine anfängliche Beschreibung der zu behandelnden Tatsache, gefolgt von einer genauen Analyse des 2) „äußeren Moments“ des gegenüber dem Vater gehorsamen Sohnes innerhalb der Zeit (d. h. in seinem inkarnierten Leben auf dieser Erde) und 3) des „inneren Moments“ solchen Gehorsams in der Ewigkeit als Grundlage für dessen geschichtliche Konkretion. Der dritte Punkt, die Behandlung des „inneren Moments“, besitzt für uns die größte Brisanz. Denn hier werden die Bedingungen im ewigen Wesen Gottes angesprochen, die die Selbsterniedrigung Gottes in der Zeit ermöglichen (die im zweiten Schritt von § 59.1 behandelt werden). Schon in der Gliederung des Abschnittes ist der entscheidende Punkt zu entdecken: Für Barth ist die Erniedrigung des Sohnes, wenn sie sich in der Zeit ereignet, kein neues Ereignis im Wesen Gottes: „Die Demut, in der er in Jesus Christus wohnt und handelt, ist ihm nicht fremd, sondern eigentümlich. Ein novum mysterium ist seine Demut für uns, denen zugute er sie betätigt […] Für ihn aber ist diese seine Demut kein novum mysterium. […] [E]r [ist] in Demut in unserer Mitte, der Unsrige, Gott für uns.[…] Aber durchaus als das, was er in sich selbst, in der innersten Tiefe seiner Gottheit ist […]. Er wird damit kein anderer Gott. Er existiert, redet und handelt in der Kondeszenz, in der er sich uns in Jesus Christus hingibt, als der Eine, der von Ewigkeit her war und in Ewigkeit sein wird.“102 Außerdem findet die Niedrigkeit, von der Barth spricht, ihren konkreten Ausdruck im Gehorsam – wiederum nicht nur in der Zeit, sondern auch in der Ewigkeit. Ist die Demut Christi nicht etwa nur ein Verhalten des Menschen Jesus von Nazareth, ist sie vielmehr darum das Verhalten dieses Menschen, weil es laut dessen, was in der in ihm vollbrachten Versöhnung geschieht (laut der Offenbarung der Gottheit in ihm) eine im Wesen Gottes begründete Demut gibt, dann ist noch etwas Anderes ebenfalls im Wesen Gottes begründet: Es steht doch nach dem Neuen Testament so, dass die Demut dieses Menschen ein Akt des Gehorsams ist, keine willkürliche Wahl der Niedrigkeit, des Leidens, des Sterbens, keine eigenmächtige Entscheidung nun eben nach dieser Seite also, kein zufälliges Ausschlagen des Pendels in dieser Richtung, sondern eine freie Wahl zwar, aber vollzogen in Anerkennung einer für ihn gültigen Ordnung, in Aus102 Barth, KD IV/1, 210f.

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führung eines für ihn verbindlichen Beschlusses, in Vollstreckung eines Willens, der sich ihm gebieterisch auferlegte, der befolgt sein wollte. Ist nun Gott in Christus, ist das, was der Mensch Jesus tut, zugleich Gottes eigenes Werk, dann kann auch dieser Charakter der Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung Jesu Christi als ein Akt des Gehorsams Gott selbst nicht fremd sein. Sondern dann haben wir darin die andere, die innere Seite des Geheimnisses der göttlichen Natur Christi und also der Natur des einen wahren Gottes zu erkennen: dass er selbst auch dessen fähig, auch dazu frei ist, Gehorsam zu leisten.103

Gott ist das Subjekt des Gehorsams dieses Menschen. Wir werden im nächsten Unterabschnitt auf die Probleme zurückkommen, die dieses Verständnis für die Christologie bereitet. Aber zunächst bleiben wir bei dem Problem der ewigen Voraussetzungen für die Möglichkeit einer göttlichen Selbsterniedrigung in der Zeit. Ändert sich Gott tatsächlich nicht, wenn er auf diese Art und Weise Gehorsam übt, dann gehört ‚Gehorsam‘ nicht nur zu seiner irdischen Geschichte, sondern zu seiner Ewigkeit, als ein Ereignis in Gottes ewigem Leben. Wie kann es aber sein, dass auch Gehorsam dem innersten Wesen Gottes nicht fremd ist? Mit seiner Antwort auf diese Frage nimmt Barth eine radikale Neubestimmung der Kenosis vor. Traditionell wurde die Rede von der göttlichen Selbsterniedrigung als Beschreibung der Sendung des Sohnes verstanden; ein Akt Gottes, der ausschließlich in der Heilsökonomie Gottes stattfand. Es wurde als Teil einer Vereinbarung angesehen, sozusagen eine Arbeitsteilung innerhalb der drei Personen der Trinität, die sich im Sein gleich waren. Nach dieser Sicht hat der Gehorsam des Sohnes innerhalb der Zeit keine wirkliche Analogie im ewigen Wesen Gottes, abgesehen von dem souveränen und freien Willen des Sohnes, menschliches Fleisch anzunehmen, so dass Gehorsam dann nur im Fleisch stattfinden kann (und ganz und gar darauf beschränkt bliebe). Daher hat die Sendung des Sohnes keine ontologische Bedeutung für sein Sein als Gottes Sohn. Barth seinerseits bestreitet nicht, dass die Kenosis auch Gegenstand der Heilsökonomie sein müsse. Aber die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit göttlicher Selbsterniedrigung findet er in der ewigen Beziehung zwischen Sohn und Vater. „Gerade das Anstößige, dass es in Gott selbst ein Oben und ein Unten, ein Prius und ein Posterius, Vor- und Nachordnung geben soll, darf nicht nur nicht geleugnet, muss vielmehr als dem Sein Gottes wesentlich bejaht und verstanden werden […] [Es] gehört zum inneren Leben Gottes, dass in ihm auch dieses Ereignis ist: Gehorsam. […] [S]eine göttliche Einheit besteht vielmehr darin, in sich selbst als der, dem da gehorcht wird, Einer, und als der, der da gehorcht, ein Anderer zu sein.“104 Wenn der Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater wesenhaft zu Gott gehört, dann gehört die Logik des Gehorsams, wie 103 Barth, KD IV/1, 211. 104 Barth, KD IV/1, 219.

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ihn der traditionelle Sendungsgedanken beinhaltet, unmittelbar zur ewigen processio des Sohnes. Gehorsam ist dann nicht nur das Ergebnis einer heilsrelevanten Bewegung Gottes, sondern gehört von Natur aus zu ihm. „Für Gott ist es genauso natürlich niedrig zu sein wie erhaben, nah zu sein, wie es ist, fern zu sein, nah zu sein wie zuhause zu sein.“105 Wir müssen die Logik dieses Gedankens noch einen Schritt weiterführen. Wenn ‚Befehl‘ des Vaters und ‚Gehorsam‘ des Sohnes so sehr mit dem ewigen Hervorgehen des Sohnes ‚aus dem Vater‘ zusammenhängen, dann müsste man konsequenterweise behaupten, dass diese Ursprungsbeziehungen selbst Ausdruck einer ewigen Entscheidung und eines ewigen Aktes sind; ein immanenter Vorgang, der bereits auf das Außen, zu einer Welt hin zielt, die noch gar nicht existiert. Dann wären die Begriffe ‚Befehl‘ und ‚Gehorsam‘ – angewandt auf die Ursprungsbeziehungen – nichts mehr als leere Abstraktionen ohne Zweck oder Ziel, auf das sie sich beziehen. Die Logik von Barths Neukonzipierung von ‚Befehl‘ und ‚Gehorsam‘ scheint es erforderlich zu machen, dass der Akt der Erwählung sogar für die Dreieinigkeit Gottes grundlegend ist. Das Problem, das dieses Konzept aufwirft, liegt auf der Hand, ist aber nicht unüberwindbar: Kann es Befehl und Gehorsam geben, ohne dass dabei zwei göttliche Wesen angenommen werden müssen. Das ist das Problem. Barths Antwort: Es ist ein und dasselbe Subjekt, das befiehlt und das gehorcht. Die Einzigartigkeit des göttlichen Subjekts ist also der Grund dafür, dass die Einheit in der Differenzierung der dreieinigen Bewegung gewahrt werden kann. „Er ist als Sohn dasselbe in Demut als sich Fügender, was der Vater in Hoheit als der Verfügende ist, als Sohn in der Folge (in der Folgsamkeit!) dasselbe, was der Vater im Ursprung ist, dasselbe als Sohn, d. h. als der durch sich selbst gesetzte Gott (wie das Dogma dann sagte: als der vom Vater in Ewigkeit gezeugte Sohn), was der Vater als der in ihm sich selber Setzende (als der den Sohn von Ewigkeit her Erzeugende) ist.“106 Dass Jesus Christus das Subjekt der Erwählung ist, bedeutet dann einfach, dass das, was Gott als Konsequenz dieser Entscheidung wird, kein anderes Subjekt ist als das, das sie trifft – dasselbe Subjekt in einer anderen Seinsart, soviel ist klar, aber dasselbe Subjekt. Die Nähe zu Hegels Verständnis der göttlichen Dreieinigkeit in der gerade zitierten Passage liegt auf der Hand – in der Rede von Gott als selbstsetzend und selbstgesetzt. Auch der Unterschied zwischen Barth und Hegel ist klar. Der Gebrauch der Termini ‚Befehl‘ bzw. ‚Gehorsam‘, wenn es um die Ursprungsrelationen geht, macht deutlich, dass diese Beziehungen für Barth die Konsequenz einer Entscheidung, eines unabhängigen Entschlusses sind; eben der „Ur- und

105 Barth, KD IV/1, 210. 106 Barth, KD IV/1, 228f.

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Grundentscheidung“107 zur Selbstbeschränkung, in der Gott entschied, Gott in Jesus Christus zu sein, um die Menschheit zu erlösen und daher Sein Wesen in einem weltlichen, geschichtlichen Werden zu haben. Anders als Hegel beharrt Barth also darauf, dass das Werden Gottes in der Geschichte die Konsequenz eines freien, nicht eines notwendigen Entschlusses ist. Heißt das, dass Gott ohne diesen Entschluss, Gott für uns in Jesus Christus zu sein, nicht der Dreieinige wäre? Barth vermeidet eine Antwort auf diese Frage. Er spricht höchstens von einer „ontologische[n] Notwendigkeit, in der dieser Vater diesen Sohn, dieser Sohn diesen Vater hat“108 – was einem positiven Bescheid gleichzukommen scheint. Und doch kann aufgrund dieser Position nur eine Notwendigkeit im logichen Sinne postuliert werden, die auf der Einzigartigkeit des göttlichen Subjekts und seiner freien Entscheidung basiert. Dass Gott sich entschieden hat und noch immer entscheidet, Gott für uns zu sein, bedeutet, dass Gott notwendigerweise als Vater und Sohn existiert. Aber diese Notwendigkeit gründet allein in Gottes ursprünglichem Entschluss. Näheres dazu findet man in einer Passage in KD II/2, in der Barth der älteren reformierten Orthodoxie zustimmt, weil sie das Leben Gottes mit den opera Dei ad extra interna verbunden hat – um sie dann zu tadeln, dass sie die Konsequenzen dieser Kombination nicht klar genug gesehen habe: Man redete dort von den drei Personen, von ihrem Verhältnis untereinander, von ihrem gemeinsamen Werk nach außen, ohne sich klar zu machen, was es bedeutet, dass dieses dreieinige Wesen als rein in sich ruhendes oder bewegtes doch weder existiert noch erkennbar, dass Gott doch nicht in abstracto der Vater, der Sohn und der Heilige Geist und als dieser Dreieinige der Eine ist, sondern das Alles in bestimmter Beziehung und Entschließung: kraft der Liebe und Freiheit, in der er im Schoße seines dreieinigen Wesens von Ewigkeit her und in die Ewigkeit hinein über sich selbst verfügt hat.109

Eine Dreieinigkeit Gottes über und vor der ewigen Erwählung existiert nicht; sie wäre eine sinnlose Konstruktion. Für Barth bringt genau der ewige Akt des „Befehlens“ eine Seinsweise in Gott (den „Sohn“) hervor, der dann seinerseits den „Gehorsam“ möglich macht. Bevor wir Barths spätere Trinitätslehre verlassen, wollen wir einige Worte über die theologische Weiterentwicklung seit den diesbezüglichen Gedanken in KD I/1 verlieren. Das Grundparadigma bleibt unverändert: Ein Subjekt in drei Erscheinungsweisen – eine „repetitio aeternitatis in aeternitate“110. Aber Barth leitet seine Trinitätslehre nicht mehr aus einer fein ziselierten Analyse der Offenbarung ab, wie er es früher tat. Stattdessen dominiert die Christologie die 107 108 109 110

Barth, KD II/2, 82. Barth, KD IV/1, 229. Barth, KD II/2, 85. Barth, KD I/1, 369.

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gedankliche Bewegung. Die gerade erörterten Abschnitte der Trinitätslehre folgen auf die Behandlung des „äußeren Moments“ der göttlichen Selbsterniedrigung in der Zeit und kommen so in den Blick als Folge einer quasi-transzendentalen Reflexion, nachdem also die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit einer Inkarnation des Sohnes, seines Leidens und Todes usw. unter der Rubrik des „äußeren Moments“ behandelt worden sind.

3.2.2 Die göttliche Selbsterniedrigung in der Zeit: Der „äußere Moment“ Schon daran, wie Barth die hypostatische Einheit behandelt, ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber der frühen Christologie von Göttingen bemerkbar. Die „Person“ des Sohnes wird nicht mehr so stark von der göttlichen „Natur“ abgesetzt, weshalb nun das göttliche Subjekt als wirklich vereinigt mit dem Fleisch gedacht wird. „Er, das göttliche Subjekt, trägt und bestimmt das göttliche Wesen, nicht umgekehrt. […] [D]ie Gottheit als solche ist eben kein Existierendes, kein Wirkliches, kein Seiendes und also auch kein Handelndes, das sich mit einem anderen Existierenden, Wirklichen, Seienden (aber das ist ja auch das menschliche Wesen nicht!) vereinigen könnte. Das tut aber in und mit seinem göttlichen Wesen das göttliche Subjekt“.111 Aber wenn das göttliche Wesen nicht von der göttlichen „Person“ getrennt werden kann, in der sie ihre Wirklichkeit hat, dann ist sie auch an allem beteiligt, was das göttliche Subjekt in seiner zweiten Gestalt erlebt. „Der Sohn Gottes hat gelitten und so ist er – gerade dieses Äußerste ist ja auch und vor allem wahr – gekreuzigt, gestorben, begraben. Konkret auf Jesus Christus gesehen ist das Alles nicht etwa von einem von Gott verschiedenen Menschen namens Jesus, sondern von Gottes Sohn, der mit dem Vater und dem Heiligen Geist eines Wesens ist, zu sagen“.112 Freilich, wenn Barth die Implikationen der hypostatischen Einheit so konsequent ausformuliert, muss er seine früheren, weitestgehend traditionellen Ausführungen zur communicatio idiomatum revidieren – und diesmal nimmt er diese Revision tatsächlich vor. Dabei ist er weniger polemisch gegenüber dem lutherischen genus majestaticum. Dennoch beurteilt er die Zuschreibung der göttlichen Eigenheiten wie Allgegenwart usw. an den menschlichen Jesus als zu weitgehend, obwohl darin ein berechtigtes Anliegen verborgen sei, nämlich „die Präsenz und Wirksamkeit [Gottes] in unserer Menschenwelt“113 festzuhalten. Aber auch von seiner früheren Charakterisierung der altreformierten Position hat er sich entfernt. Jetzt kann er sagen, dass auch diese Position „die Überwindung des Gegensatzes von Gott und Mensch und also die Versöhnung der Welt mit Gott nicht anderswo 111 Barth, KD IV/2, 70. 112 Barth, KD IV/2, 81. 113 Barth, KD IV/2, 85f.

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suchen, anschauen und begreifen [wollte], als in der von Gott angenommenen Menschheit und also in dem Menschen Jesus von Nazareth.“114 Der Schritt über Schleiermacher hinaus ist abgeschlossen: die Überwindung des Gegensatzes ereignet sich im Menschen Jesus, nicht in einer „Person der Einheit“, die über dem Gegensatz schwebt, auch wenn sie sich mit menschlichem Fleisch vereint. Wie das gedacht werden kann, macht Barth mit einer originellen Interpretation der communicatio idiomatum klar. Barth spricht jetzt von einer „beiderseitigen Teilnahme und Teilhabe des göttlichen und des menschlichen Wesens in Jesus Christus [… in] zweifache[r] Differenzierung[.]“115 Die Unterscheidung weist eine gewisse Asymmetrie auf: Die Teilhabe des menschlichen Wesens am göttlichen ereignet sich nicht in gleicher Weise wie die des göttlichen am menschlichen. Diese ist eine Folge des souveränen und freien Entschlusses des göttlichen Gebens (Gottes Selbsthingabe, die Hingabe seines Lebens und seiner Existenz an das menschliche Wesen in Jesus). Die Teilhabe des menschlichen Wesens am göttlichen stellt sich hingegen als eine Folge des Empfangens der Existenz und Wirklichkeit im Sohn Gottes ein.116 Dieses asymmetrische Modell von Geben und Empfangen hat weitere Folgen. Während es korrekt ist, zu sagen, dass es „kein Moment des menschlichen Wesens [gibt], das von seiner Existenz in und mit der des Sohnes Gottes und damit von der Vereinigung mit und von der Teilnahme und Teilhabe an diesem göttlichen Wesen unberührt und ausgeschlossen wäre“117, gibt es dennoch keine Übertragung göttlicher Eigenschaften auf die menschliche Natur. Es gibt eine „Gemeinschaft“118 mit der göttlichen Natur (2. Petr. 1,4), die in der Erhöhung des menschlichen Wesens mündet. Aber die göttlichen Attribute wie Allgegenwart werden nicht geteilt. Auf der anderen Seite stellt sich die Situation allerdings anders dar. Gott bzw. Gottes Wesen, hat wirklich Anteil an menschlichen Eigenschaften: Zum ersten Mal in Barths Schriften kommt nun das genus tapeinoticum zu Ehren. Wir hörten von der Ängstlichkeit, mit der sich gerade die Lutheraner – mit den Reformierten in dieser Hinsicht im gleichen Spital – jeden Gedanken daran verbaten, dass es in der Naturengemeinschaft in Jesus Christus eine reciprocatio, so etwas wie ein ihrem genus majestaticum entsprechendes genus tapeinoticum geben möchte. Die Erinnerung an die immutabilitas Dei wirkte auch bei ihnen wie ein sowietrussisches Veto und verhinderte jedes Weiterdenken. […] Noch Schleiermacher hat sich hier für schlechterdings gebunden gehalten. Und als dann jene „Kenotiker“ des 19. Jahrhun114 115 116 117 118

Barth, KD IV/2, 74. Barth, KD IV/2, 79. Vgl. Barth, KD IV/2, 78. Barth, KD IV/2, 69. Barth, KD IV/2, 114.

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derts – das Problem erwies sich eben doch als unabweisbar – zum Weiterdenken in dieser Richtung schritten, da wußten sie jener Unveränderlichkeit Gottes doch nur eine nun allerdings erst recht untragbare Veränderlichkeit Gottes entgegenzusetzen. Es war schon etwas daran, wenn es damals in den Augen der Liberalen (etwa Biedermann) und der Ritschlianer (etwa Loofs) so aussah, als ob diese ‚Kenotiker‘ die Leute seien, die die ganze alte Christologie als solche ad absurdum geführt hätten. Ad absurdum geführt haben sie die Orientierung der ganzen alten Christologie an dem zutiefst unchristlichen Begriff eines Gottes, dessen Gottheit von ihrer Vereinigung mit der Menschheit durchaus unberührt bleiben sollte.119

Was diese Rezeption des genus tapeinoticum ermöglichte, war auch hier Barths frühere Revision seiner Erwählungslehre: Weil Gottes Wesen ein selbstbestimmtes Wesen ist, ein Wesen, das Gott sich selbst gibt, so dass er menschliche Eigenschaften und Erfahrungen teilen kann. „Es widerfährt ihm [sc. dem göttlichen Wesen] keine Verminderung damit, dass es in Jesus Christus dem Menschlichen ganz und gar zugewendet, ganz und gar auf dieses ausgerichtet wird und ist, an dessen Begrenztheit, Schwäche, ja Verlorenheit, radikalsten, konsequentesten Anteil nimmt.“120 Weit mehr könnte über Barths Christologie gesagt werden. Zum Beispiel haben wir das Thema der menschlichen Erhöhung nur gestreift. Und wir haben die Eingrenzungen, die Barth unter Berücksichtigung des Extra Calvinisticum einführt, nicht erwähnt.121 Aber unsere Erörterungen genügen, um die Entwicklung, die Barths Christologie seit der Göttinger Zeit bis in die späteren Bände der Kirchlichen Dogmatik genommen hat, zu illustrieren und ihre Gründe darzulegen. Sie sollten auch genügen, um zu verdeutlichen, dass sich Barths Christologie an zentralen Punkten von Schleiermacher weg zu Hegel hin bewegte.

4.

Zusammenfassung

Barth bietet in seiner reifen Christologie eine orthodoxe Zweinaturenlehre unter den Bedingungen der Moderne. Mit dieser Charakterisierung beziehe ich mich nicht nur auf seine wohlbekannte aktualisierende Auslegung der „Naturen“, sondern vor allem auf seine Fähigkeit, das Beste von Hegel zu adaptieren, ohne das kritische Element, das er von Schleiermacher erbte, aufzugeben. Deswegen geht Barths Christologie auch nicht vollständig in Hegel auf: Der 119 Barth, KD IV/2, 93. 120 Barth, KD IV/2, 94. 121 Dazu siehe B. L. McCormack, Grace and Being. The Role of God’s Gracious Election in Karl Barth’s Theological Ontology, in: J. Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 95–101.

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unendlich qualitative Unterschied zwischen göttlicher und der menschlicher Natur bleibt erhalten – der Mensch ist nicht ‚vergöttlicht‘ worden. Barth erreichte, was Hegel auf andere Weise erreicht hatte: Eine Betonung des göttlichen ‚Werdens‘ und ein schlüssiges Bild von einem Gott, der auch leiden kann. Aber anders als Hegel gelang er an dieses Ziel ohne die Vorstellung, dass sich ein göttliches Wesen in ein menschliches verwandelt. Er rekurrierte vielmehr auf den reformierten Begriff des genus tapeinoticum und integrierte ihn auf anspruchsvolle Weise in sein System. Und genau mit dieser Interpretationsweise der communicatio idiomatum konnte er das kritische Element, das wir bei Schleiermacher wahrgenommen hatten, festhalten. Dass Gott das Subjekt des menschlichen Denkens, Wollens und Handelns Jesu Christi ist, ist keine Sache, die dem menschlichen Verstand direkt zugänglich wäre. Sie ist von uns nicht wahrnehmbar und nicht anschaulich und bleibt dem Blick von außen verborgen. Genau das hätte mit der lutherischen Vorstellung des genus majestaticum niemals zum Ausdruck gebracht werden können. Karl Barths kritische Theologie des Wortes basiert nicht auf einem abstrakten Konzept der generellen Nicht-Aussagbarkeit Gottes. Sie ist also keine Variante einer ‚negativen Theologie‘. Derartige Theologien offenbaren vor allem die epistemische Kontrollabsicht ihrer Autoren. Obwohl sie behaupten, Gott nicht zu kennen, sichern negative (oder agnostische) Theologen die Unerkennbarkeit Gottes dadurch, dass sie ihn schlicht außerhalb der Grenzen menschlicher Erkenntnis verorten, was sie durch eine philosophische Erkenntnistheorie zu bewerkstelligen suchen. Anders ausgedrückt: Sie platzieren Gott genau dort, wo sie ihn haben möchten – wo er ihren Lieblingsideen und ihrer Frömmigkeit, ihrer Religion und ihren konkreten Vorhaben am wenigsten gefährlich werden kann. Theologie wird aber erst an dem Punkt wirklich kritisch, wo die Erkenntnis Gottes Gott allein überlassen bleibt und damit der Erfolg theologischer Reflexion grundsätzlich auf eine Initiative Gottes bezogen bleibt. Genau dies vermochte Barth mit seiner Christologie zu gewährleisten: eine Dialektik der Nicht-Gegebenheit Gottes in der geschichtlichen Existenz des Menschen Jesu; eine Dialektik, die auf die Gottheit Gottes in seiner Selbstoffenbarung hinweist; eine Dialektik, die gewährleistet, dass Gott das Subjekt der Gotteserkenntnis bleibt. Dieser Aufsatz begann mit der Behauptung, dass niemand, der heute zu Schleiermacher zurückkehren will, eine Rückkehr zu dessen Christologie im Sinn hat. Und doch stand die Christologie im Mittelpunkt von Schleiermachers Interessen und Bemühungen. Deshalb wird man sein ‚Programm‘ immer falsch verstehen, wenn man von diesem Mittelpunkt absieht. An Schleiermacher verantwortungsvoll anzuknüpfen, erfordert also eine konzentrierte Aufnahme der Anliegen, die in seiner Christologie zum Ausdruck kommen, um sie dann in anderer Weise zur Geltung zu bringen. Genau das leistete Barth (mit Unter-

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stützung von Hegel). Deswegen behaupte ich: Jeder Versuch, über Barth mit Schleiermacher hinauszugehen, wird die Theologie des letzteren in ihrem wesentlichen Anliegen ignorieren. Ich bezweifle, dass der große Berliner Theologe Interesse an solch einem Projekt gehabt hätte.

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Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder. Ein Beitrag zum Vergleich der Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths

Frag. Was glaubestu, wenn du sprichst, Ich glaub in Gott Vater, den allmechtigen, Schoepfer himmels und der erden? Antwort. Daß der ewig Vater unsers Herrn Jesu Christ, der Himmel und Erden sampt allem, was drinnen ist, auß nicht erschaffen, auch dieselbigen noch durch seinen ewigen rhat und fuersehung erhelt und regieret: umb seines Sons Christi willen, mein Gott und mein Vater sey, auff welchen ich also vertrawe, daß ich nicht zweiffel, er werde mich mit aller notdurfft leibs und der seelen versorgen, auch alles ubel, so er mir in diesem jamerthal zuschicket, mir zu gut wenden: dieweil ers thun kann, als ein almechtiger Gott: und auch thun wil als ein getrewer Vater.1

So antwortet der Heidelberger Katechismus auf die zitierte Frage 26. Hier ist danach gefragt, was denn geglaubt werde, wenn der erste Artikel des Apostolikums als Bekenntnis gesprochen wird. Gottes Allmacht ist in diesem Artikel neben seinem Vatersein und seinem Schöpfersein herausgestellt. Gottes Allmacht wird in der Antwort des Heidelberger Katechismus als die Fähigkeit Gottes genannt, mit der er sein umfängliches Schöpfersein ausübt. Dass er diese Fähigkeit anwende und dies in bestimmter Weise tue, das sei durch seine treue väterliche Verbundenheit mit seiner Schöpfung bedingt und bestimmt. Sowohl Friedrich Schleiermacher als auch Karl Barth verstehen sich selbst als reformierte Theologen, die mit dem Heidelberger Katechismus vertraut sind.2 Entsprechend kann die Antwort auf Frage 26 im Hintergrund ihrer Ausfüh1 Frage und Antwort 26 im Heidelberger Katechismus von 1563, bearbeitet von Wilhelm H. Neuser, in: Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. 2/2, 1562–1569, hg. v. Andreas Mühling und Peter Opitz, Neukirchen-Vluyn 2009, (167–212) 181f. 2 Zu Schleiermacher s. F.D.E. Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Lücke, in: KGA I/10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung v. Martin Ohst, Berlin/New York 1990, (337–394) 337. Zu Karl Barth s. seine Vorlesung: Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus; gehalten an der Universität Bonn im Sommersemester 1947.

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rungen zur Allmacht Gottes gesehen werden. Gleichwohl geben die beiden Theologen sehr differente Auskunft darüber, wie die Allmacht Gottes zu verstehen sei. Die Differenz in ihrem Allmachtsverständnis soll im Folgenden aufgezeigt werden. Denn die Allmacht Gottes ist nicht nur die einzige der Eigenschaften Gottes, die im Apostolikum ausdrücklich bekannt wird. Ein jedes Allmachtsverständnis ist auch Antwort auf die Grundfrage der Theologie, nach dem was Gott tut und was die Menschen zu tun vermögen. In der abschließenden Antwortformulierung auf Frage 26 ist die Rede vom Können, Wollen und Tun Gottes3. Allerdings scheint das Verhältnis zwischen Gottes Können, seinem Wollen und seinem Tun mit diesem Abschlusssatz4 nicht eindeutig bestimmt zu sein. Zumindest setzen die beiden reformierten Theologen in ihren Ausführungen zur Allmacht Gottes dessen Können, Wollen und Tun sehr verschieden miteinander in Beziehung. Wie weit ihre Beschreibungen der Allmacht Gottes voneinander differieren, wird vor allem dann deutlich, wenn ihr jeweiliges Wunderverständnis herangezogen und auf ihre Allmachtspositionen bezogen wird, gleich wie eine Testfrage: „Was glaubst Du, wenn Du von den Wundern des Allmächtigen sprichst?“ Das jeweilige Verständnis der Allmacht Gottes bedingt, ob und wie vom Wunder die Rede sein kann. Denn mit der Allmacht Gottes ist maßgeblich bestimmt, wie aus christlicher Sicht die Verfasstheit der Schöpfung gedacht werden kann und ob in Übereinstimmung mit ihr Wunder möglich sind. Die Gegenüberstellung der Positionen Barths und Schleiermachers zeigt, wie verschieden auf Seiten evangelischer Theologie das Verständnis der Allmacht Gottes ist. Die Wahl dieser beiden Theologen ist schon deshalb aufschlussreich, weil sich Barth selbst, insbesondere bei seiner Auseinandersetzung mit der Allmacht Gottes, in höchst kritischer Weise mit den Ausführungen Schleiermachers befasst. So kann über die von Barth behauptete Differenz zwischen seinem Allmachtsverständnis und demjenigen Schleiermachers deutlich werden, wo die Schwierigkeiten liegen, die gerade auch für das Verständnis von „Wundern“ und unausweichlich für die Einschätzung der Macht des Menschen ausschlaggebend sind. Die vorliegende Darstellung soll einen Beitrag bieten zum Vergleich der Positionen Schleiermachers und Barths, der auf entscheidende Schwierigkeiten aufmerksam macht, die auftreten, wenn Antwort gesucht wird auf die Frage, was denn die Allmacht Gottes sei. Nach einigen Vorbemerkungen (1.) sollen Schleiermachers Ausführungen zur Allmacht Gottes vorgestellt und mit seinem 3 Zum Wirken Gottes s. auch die Antwort auf Frage 27 des Heidelberger Katechismus, die zum Ausdruck bringt, dass Gott wirkt, was er gemäß seiner Vorsehung will. 4 Gemeint ist hier und im Folgenden, wenn vom letzten Satz der Antwort zu Frage 26 die Rede ist, diese Formulierung: „dieweil ers thun kann, als ein almechtiger Gott: und auch thun wil als ein getrewer Vater.“

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Wunderverständnis in Beziehung gesetzt werden; dazu wird hauptsächlich Schleiermachers Glaubenslehre5 als Bezugstext verwendet (2.1.). Daraufhin wird Karl Barths Position dargestellt; hierzu werden Barths Ausführungen in seiner Kirchlichen Dogmatik6 herangezogen (2.2.). Der Interpretation folgt ein kritischer Abschluss mit Überlegungen zu den Konsequenzen bestimmter Machtzuordnungen gegenüber Gott und gegenüber dem Menschen (3.).

1.

Vorbemerkungen

Wenn von Gottes Allmacht die Rede ist, sind drei Fragen relevant. Zum einen muss nachgedacht werden, was denn das „Alles“ ist, zu dem Gott mächtig sein soll. Zum Zweiten stellt sich die Frage, ob Gott denn alles das auch will, zu dem er mächtig ist? Will er alle seine Möglichkeiten verwirklichen? Und so schließt sich drittens die Frage an, ob Gott in seiner Allmacht wohl mächtig ist, seine eigene Allmacht zu beschränken, seine Fähigkeiten nicht zu nutzen und gar von seiner Allmacht einem anderen Wesen Macht abzugeben. Eine jede Antwort auf diese Fragen hängt entscheidend davon ab, welche Eigenschaften und welche Wesenseigentümlichkeit von Gott ausgesagt werden. Denn durch Wesen und Eigenschaften Gottes ist sowohl das Ausmaß des „Alles“ als auch die Bezogenheit Gottes auf dieses „Alles“ bedingt. Dies werden die Ausführungen zu Schleiermacher und Barth noch näher zeigen. Ebenso ist umstritten wie das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit für Gottes Wirken angemessen zu denken ist. Wenn Gottes allmächtiges Handeln, weil es Gottes Handeln ist, ausschließlich durch Gott selbst bestimmt ist, erfolgt es dann mit Notwendigkeit, aus absoluter Freiheit oder frei und notwendig zugleich? Das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit betrifft nicht allein Gottes Handeln. Ebenso ist die Beziehung zwischen Gott und Mensch durch diese Gegenüberstellung bedingt. Bei der Frage nach der Allmacht Gottes muss stets im Blick behalten sein, wie viel Freiheit und damit verbunden wie viel Macht dem Menschen als geschaffenem Gegenüber Gottes wirklich zukommt. Je umfangreicher die mächtige Wirksamkeit Gottes gedacht wird, desto geringer ist die Wirkmächtigkeit des Menschen vorgestellt. Wiederum scheint die Annahme 5 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 1999 (im Folgenden abgekürzt: GL, Paragraph, Absatz, Seite). 6 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1 bis Bd. IV/4, Studienausgabe, Zürich 1986–1991. Die parallele Verwendung der „Dogmatiken“ der beiden Theologen macht die Differenzen zwischen den Positionen besonders deutlich.

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weitreichender Handlungs- und Wahlmöglichkeiten des Menschen den Einfluss göttlicher Allmacht zu minimieren.

2.

Die Positionen Friedrich Schleiermachers und Karl Barths

2.1.

Gottes Allmacht und Gottes Wunderwirken nach Friedrich Schleiermacher

a) Nach Schleiermacher zeichnet sich Gottes Allmacht dadurch aus, dass sie mit Gottes Allwissenheit und Allwirksamkeit dem Umfang nach deckungsgleich ist, weil sie wie diese eine Eigenschaft seines göttlichen Wesens ist. Gott realisiere alles das, was er selbst denke, wisse und wolle. Denn was er denke und damit der Möglichkeit nach entwerfe, das könne und wolle er auch verwirklichen. Anderes als das, was er selbst wolle und auch zu tun vermöge, käme Gott gar nicht in den Sinn.7 Wie könnte er denken, was er nicht will, und wollen, was er nicht zu tun vermag, wenn er doch allmächtig ist? Für Schleiermacher ist unabweislich, dass Gottes Allmacht nicht hinter seiner Allwissenheit und seiner Wirksamkeit zurückstehen könne.8 Was Gottes Wissen umfasse, das müsse auch Gegenstand seiner Verwirklichungsmacht sein. Denn das Wissen Gottes sei ein bestimmtes Wissen, eben das Wissen Gottes, das ihm, das seinem Wesen völlig entsprechend und so mit ihm selbst übereinstimmend sei. Ebenso stimme auch das Wollen Gottes mit Gottes Wesen überein. Gott wolle nicht alles Mögliche, sondern all das, was er seinem Wesen gemäß denke und wisse. Sein Wollen sei nicht auf alles Mögliche, sondern auf alles ihm Mögliche, auf alle seine wesensgemäßen Gedanken gerichtet.9 Das bedeutet insofern keine Einschränkung der All-Macht oder überhaupt der Freiheit Gottes, als nach Schleiermacher grundsätzlich anderes gar nicht möglich ist, als das, was Gottes Wesen entspricht. Denn außer Gott bestehe ursprünglich und ursächlich nichts.10 In seiner schlechthinnigen Freiheit11 wisse und wolle Gott nichts als sich selbst. Er selbst aber sei wesentlich Liebe.12 Auf dem Boden dieser ihm wesentlichen Liebe sei das Wissen, Wollen und Wirken des schlechthin Freien in ewiger Liebes7 Er wisse genau das, was er auch wolle, „weil es keine Gegenstände der Betrachtung für ihn gibt, als durch seinen Willen bestehende.“ (GL 55.1, 290) 8 Vgl. GL 55.1, 291. 9 Vgl. GL 54.4, 286. 10 Vgl. GL 41.1, 200. 11 Vgl. GL 41, Zusatz, 204. 12 Vgl. GL §167 – Liebe aber sei darauf aus, „sich mit anderem vereinigen und in anderem sein zu wollen“, und dazu erschaffe Gott nicht nur ein Gegenüber, sondern mache sich seiner Schöpfung auch bekannt, indem er seine schöpferische Liebesabsicht offenbare (GL 165.1, 445).

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Treue ihm selbst verbunden. Ausdruck dieser freien Verbundenheit sei die Manifestation des göttlichen Wesens durch Gottes Schöpfertätigkeit. Entsprechend kann nach Schleiermacher (aus christlicher Sicht) für das menschliche Geschöpf der Wille Gottes kein anderer als der ewig treue Schöpferwille sein. Gott, der sich selbst wolle, habe sich selbst, sein Wissen und Wollen mit seinem Schöpferwerk manifestiert,13 und zwar in der Freiheit, in der er seiner ewigen Liebe verbunden sei; demgemäß sei seine freie Schöpfertätigkeit zugleich notwendig und frei. Schleiermacher hält fest: wir dürfen […] in Gott nichts als notwendig denken, ohne es zugleich als frei zu setzen und nichts als frei, daß es nicht zugleich notwendig sei. Ebenso wenig aber können wir auch Gottes Wollen seiner selbst und Gottes Wollen der Welt voneinander getrennt denken. Denn will er sich selbst, so will er sich auch als Schöpfer und Erhalter, so daß in dem Sich-selbst-Wollen schon das Wollen der Welt eingeschlossen ist. Und will er die Welt, so will er in ihr auch seine ewige und allgegenwärtige Allmacht, worin also das Wollen seiner selbst eingeschlossen ist; das heißt, der notwendige Wille in dem freien und der freie in dem notwendigen.14

Ebenso wie das Wollen Gottes nicht eine geringere oder größere Auswahl an Möglichkeiten betreffe als das Wissen Gottes, sei auch Gottes Tun und Wirken in völliger Übereinstimmung mit seinem Wissen und Wollen.15 Denn was Gott wisse und wolle, das vermöge er auch zu verwirklichen. „Ein Unterschied zwischen Können und Wollen ist […] in Gott ebenso wenig, wie der zwischen wirklich und möglich16. Denn welches von beiden auch größer sei als das andere, das Wollen 13 Zur Selbst-Manifestation Gottes s. Anne Käfer, „Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös“. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels (BHTh 136), Tübingen 2006, 215f. 14 GL 54.4, 286f. Vgl. hierzu Julia A. Lamm, The Living God: Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, Pennsylvania 1996, 153: „for Schleiermacher, it is most important to be clear on the usual distinction between a free and necessary divine will. The notion of a necessary self-willing of God, as opposed to the divine free will to create everything that is not God, is purely speculative ‚hair-splitting‘ and can never be traced to the feeling of absolute dependence. […] Those who emphasize the freedom of the divine will are just as mistaken as those who emphasize necessity, since each represents an imperfection, and thus each has meaning only in the finite order. If the contrast is to be used at all with regard to the divine omnipotence, it must be used dialectically.“ 15 „Lassen sich daher, weil es in Gott kein Wollen durch einzelne Antriebe gibt, und kein von außen her wachsendes und abnehmendes Können, in Gott auch beide [das Wollen und das Können] selbst in Gedanken nicht trennen: so sind auch, weil Wollen und Können zusammen notwendig Tun sind, auch weder Willen und Tun voneinander zu trennen, noch Können und Tun, sondern die ganze Allmacht ist ungeteilt und unverkürzt die alles tuende und bewirkende.“ (GL 54.3, 282f) Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth (TBT 76), Berlin/New York 1996, 48. Vgl. auch GL 55.1, 293. 16 Vgl. GL 54.2, 280–282. Vgl. auch Martin Ohst, Jesu Wunder als Thema der Dogmatik Schleiermachers, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums,

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oder das Können, es liegt darin immer eine Beschränkung.“17 Diese bestünde entweder, wenn von Gott angenommen werden müsste, er sei nicht vermögend das zu tun, wonach sein Wille strebe. Somit wären seine Fähigkeiten gegenüber seinen Absichten begrenzt und es wäre fraglich, wieso oder durch wen oder was dies möglich sein soll. Oder es müsste davon ausgegangen werden, Gott würde nicht alle Möglichkeiten, zu deren Verwirklichung er fähig ist, auch tatsächlich realisieren wollen. Zum einen aber stellt diese Annahme vor die Frage, wer oder was ihn daran hinderte oder überhaupt dazu motivierte, seine Möglichkeiten zu wollen. Zum anderen würde mit dieser Annahme der Wille Gottes dem Vermögen Gottes nachgängig vorgestellt. Damit aber wäre die von Schleiermacher festgestellte Gleichewigkeit des Wissens, Wollens und Wirkens Gottes aufgehoben. Eine Unterscheidung in der Menge des ewig von Gott Gewussten, Gewollten und Gewirkten setzt nach Schleiermacher einen Mangel in Gott und eine Macht voraus, die auf Gottes Denken, Wollen und Wirken Einfluss zu nehmen vermag. Auch eine Einflussnahme, die nicht allein die Menge an Verwirklichtem, sondern noch dazu dessen Qualität beträfe, ist nach Schleiermacher ausgeschlossen. Stets würde dann die Allmacht, die Macht über alles, und zwar alles Gott Mögliche, durch eine andere Macht, durch eine Einflussnahme von etwas beschränkt gedacht werden müssen, was nicht Gott selber, aber gottähnlich mächtig ist; eine eingeschränkte Allmacht aber wäre keine All-Macht mehr.18 Überhaupt sei eine zweite gottähnlich mächtige Macht neben Gott mit der Allmacht des einzigen Gottes, des einen allgemeinen Ursprungs nicht vereinbar. Es gibt „nirgend und niemals etwas, was ein Gegenstand für die göttliche Ursächlichkeit erst würde, vorher aber schon – mithin irgendwie unabhängig von Gott und ihm gegenübergestellt – gewesen wäre“.19 Nach Schleiermacher kann Gottes Allmacht weder unabhängig von Gottes Wesen20 noch unabhängig von den göttlichen Eigenschaften Allwissenheit, Ewigkeit und Allgegenwart adäquat beschrieben werden. Wenn von Gottes Allmacht die Rede ist, müsse berücksichtigt werden, dass die Möglichkeiten Gottes mit seiner Allwissenheit zusammenstimmten und die Verwirklichung dieser Möglichkeiten ebenso ewig und auch allgegenwärtig21 sei wie Gott selbst. Für den

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hg. v. Günter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben (TBT 51), Berlin/New York 1991, (229–245) 232: „Die göttliche Allkausalität trägt ausnahmslos und unterschiedslos die gesamte Wirklichkeit.“ GL 54.3, 282f. Ein Zugleich von Allmacht und Ohnmacht ist allerdings in Jesus Christus als wahrem Gott und wahrem Menschen möglich und in Tod und Auferstehung Christi deutlich. GL 54.1, 279. Entsprechend sei Gott auch „Urheber der Sünde“ (GL 79, Leitsatz, 424); vgl. u. Anm. 42. Vgl. dazu GL 167.2, 450. Vgl. GL 54.1, 279f.

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ewigen Urheber alles Seienden könne keine Zeit angenommen werden, zu der er Möglichkeiten verwirklichte. Vielmehr müssten Gottes Möglichkeiten ebenso ewig wirklich sein, wie sein ewiges Wissen und Wollen dieser Möglichkeiten. Die ewige Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist demnach die Schöpfung Gottes, die nicht als ein zeitlicher Akt Gottes gedacht werden könne, aus Sicht der Geschöpfe jedoch im Werden begriffen sei.22 Weil Gottes Allmacht ewig und allgegenwärtig sei, so sei durch sie „immer alles schon gesetzt, was durch die endliche Ursächlichkeit freilich in Zeit und Raum erst werden soll.“23 Durch Gottes ewige und allgegenwärtige Allmacht sei „immer alles schon gesetzt“, was von Schleiermacher Gottes Schöpfung oder der „umfassende Naturzusammenhang“ genannt wird.24 Der „umfassende Naturzusammenhang“ sei in nichts außer Gott gegründet, denn außer Gottes Gedanken, seinem Wollen und Wirken könne nichts die Ursache des Naturzusammenhanges sein.25 Dabei sei um der Allmacht Gottes willen dessen Vorstellung des Naturzusammenhangs nicht nur mit dessen Ausbildung der Größe und Qualität nach identisch; überhaupt habe Gott mit seiner Schöpfung seine sämtlichen Möglichkeiten verwirklicht.26 Entsprechend der Übereinstimmung der Gott möglichen und von ihm vorgestellten Welt mit der von ihm mit der Vorstellung zugleich ausgebildeten Wirklichkeit sei es auch nicht nötig, dass Gott nachträglich im Laufe der Zeit an der Beschaffenheit des geschaffenen Seins etwas änderte oder ergänzte. Weil Gott allwissend und seine Allmacht ewig und allgegenwärtig sei, deshalb ist es nach Schleiermacher „unstatthaft, daß zu irgendeiner Zeit etwas durch die22 Vgl. GL 41.2, 202: „Eine […] Frage über das Verhältnis der Weltschöpfung zur Zeit ist die, ob eine Zeit vor der Welt gewesen oder ob die Zeit erst mit der Welt begonnen habe. Nehmen wir aber Welt in dem weitesten Sinne, so dürfen wir das erste nicht bejahen lassen, weil eine Zeit vor der Welt sich nur könnte auf Gott bezogen haben und dieser also in die Zeit versetzt würde. […] Der Streit endlich über eine zeitliche und ewige Schöpfung der Welt, den man auf die Frage zurückführen kann, ob ein Sein Gottes ohne Geschöpfe gedacht werden könne oder müsse, […] ist […] an und für sich gleichgültig, wie er entschieden wird. Nur insofern man mit der Vorstellung einer Schöpfung in der Zeit den eines Anfangs der göttlichen Tätigkeit nach außen oder eines Anfangs göttlicher Herrschaft verbinden muß, […] so würde dadurch Gott […] zeitlich, mithin der Gegensatz zwischen ihm und dem endlichen Sein verringert“; dieser Gegensatz muss aber nach Schleiermacher als der größtmögliche zwischen Gottes schlechthinniger Freiheit und der schlechthinnigen Abhängigkeit der Schöpfung gedacht werden (s. GL 41, Zusatz, 204). 23 GL 54.1, 280. 24 GL 54, Lehrsatz, 278. 25 S.o. 2.1. Vgl. GL 54, Lehrsatz, 278f: Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gegenüber Gott sagt nach Schleiermacher aus, „daß die göttliche Ursächlichkeit […] in der Gesamtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt wird“; nichts sei, was nicht in Gott begründet sei. 26 Vgl. GL 51.1, 264. Vgl. auch GL 55.2, 297: Nach Schleiermacher kann auf Gott „die Sicherheit des vollendeten Künstlers, der im Zustand der begeisterten Erfindung nichts anderes denkt, dem sich nichts anderes darbietet, als das, was er auch wirklich hervorbringt, entschränkt und vollkommen“ übertragen werden. Vgl. auch die Interpretation von Julia A. Lamm, The Living God, 153: „God’s eternal power is fully actual in the nature system.“

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selbe erst werden soll, sondern durch sie ist immer alles schon gesetzt, was durch die endliche Ursächlichkeit freilich in Zeit und Raum erst werden soll.“27 Schleiermacher geht davon aus, dass Gott der Allmächtige von Ewigkeit her umfassend den Naturzusammenhang mitsamt seinen Gesetzen und Kausalitäten vorhergewusst, gewollt und somit unabänderlich vorherbestimmt hat. Es bestehe nichts, was Gott nicht vorhergewusst und vorherversehen habe.28 Gott habe schlechthin „alles“ vorherversehen. „Denn […] hat Gott nicht alles vorherversehen: so kann er nichts vorherversehen haben.“29 Außerdem sei der gesamte Naturzusammenhang von Ewigkeit her von Gott selbst seinem Wesen gemäß geschaffen und darum ursprünglich vollkommen geschaffen.30 Deshalb gebe es auch nichts radikal Neues, das den ewig vorherbestimmten Verlauf des Schöpfungsprozesses31 ändern oder unterbrechen könnte oder gar müsste. Alles was geschehe, geschehe im Zusammenhang des Naturzusammenhangs, der von Ewigkeit her durch den einen Willen Gottes einheitlich und Gottes Wesen gemäß geregelt sei. Gottes erhaltende Tätigkeit versteht Schleiermacher demgemäß als Gewährleistung dafür, dass alles Geschaffene unter den geschaffenen Bedingungen, insbesondere den Naturgesetzen, existiere.32 Wie fest der in Gottes Allmacht gegründete Naturzusammenhang gesetzt sein soll, das wird deutlich im Blick auf Schleiermachers Wunderverständnis. b) Wunder sollen, so gibt Schleiermacher das tradierte und verbreitete Verständnis wider, Geschehnisse sein, die sich nicht im Rahmen des Naturzusammenhangs, sondern auf übernatürliche Weise ereignen.33 Damit dies der Fall sein könnte, müsste vorausgesetzt werden, dass Gott nicht nur den Naturzusammenhang gesetzt hat, sondern zeitweise auch in Zeit und Raum verändernd eingreift. Die nicht in Übereinstimmung mit dem Naturzusammenhang gewirkten Ereignisse wären demnach Unterbrechungen des Natürlichen durch das Übernatürliche. 27 GL 54.1, 280. 28 Zu Schleiermachers Verständnis der „Vorherversehung“ s. GL 164.3, 444: Die Ausdrücke „Vorherbestimmung, Vorherversehung“ sprechen nach Schleiermacher „viel klarer die Beziehung jedes einzelnen Teiles auf den Zusammenhang des Ganzen aus, und stellen das göttliche Weltregiment als eine innerlich zusammenstimmende Anordnung dar.“ 29 F.D.E. Schleiermacher, Über die Lehre von der Erwählung, in: KGA I/10, Theologischdogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung v. Martin Ohst, Berlin/New York 1990, (145–222) 222. Vgl. dazu GL 164.3, 443f. 30 Zur Vollkommenheit der Schöpfung s. GL 57 v. a. 57.1, 309. 31 Vgl. dazu GL §164. 32 Vgl. GL 46.2, 228–230. 33 Wunder seien „Erscheinungen im Gebiete der leiblichen Natur, welche aber nicht auf natürliche Weise sollen bewirkt worden sein“ (GL 14, Zusatz, 99).

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Nach Schleiermacher jedoch kann der Begriff des Wunders nicht so verstanden werden, dass er mit wissenschaftlichen Erkenntnissen konfligiert. Nur diejenigen theologischen Aussagen könnten angemessen sein, die den Einsichten in Naturzusammenhänge nicht widersprächen. Andernfalls würde das Christentum sich gar zu einer barbarischen Gemeinschaft hin entwickeln und alle Wissenschaft gottlos enden. Warnend fragt Schleiermacher entsprechend rhetorisch: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“34 Um ein solches Auseinandergehen zu verhindern, wendet Schleiermacher seine Ausführungen zur Allmacht auf das Verständnis dessen an, was „Wunder“ genannt wird. Er verweist darauf, dass nach traditioneller Vorstellung Unterbrechungen, vermeintliche Unterbrechungen des Naturzusammenhangs, die „Wunder“ genannt würden, als Beleg für Gottes Allmacht erachtet würden. Doch es sei „schwer zu begreifen, wie sich die Allmacht größer zeigen sollte in den Unterbrechungen des Naturzusammenhanges als in dem der ursprünglichen aber ja auch göttlichen Anordnung gemäßen unabänderlichen Verlauf desselben“.35 Vielmehr würden solche Unterbrechungen doch gerade die allwissende, 34 F.D.E. Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Lücke, (s. o. Anm. 2), 347. Vgl. auch den dem Zitat voranstehenden Textabschnitt: „Und unsere Neutestamentischen Wunder, denn von den Alttestamentischen will ich gar nicht erst reden, wie lange wird es noch währen, so fallen sie aufs neue […] unter das Dilemma, daß entweder die ganze Geschichte, der sie angehören, sich muß gefallen lassen, als eine Fabel angesehen zu werden […] oder wenn sie wirklich als Thatsachen gelten sollen, werden wir zugeben müssen, daß, sofern sie wenigstens in der Natur geworden sind, auch Analogien dazu in der Natur gesucht werden. Und so ist es auch hier wieder der Begriff des Wunders, der in seiner bisherigen Art und Weise nicht wird fort bestehen können. Was soll dann werden, mein lieber Freund? […] Wollt Ihr Euch dennoch hinter diesen Außenwerken verschanzen, und Euch von der Wissenschaft blokiren lassen? Das Bombardement des Spottes, welches dann auch von Zeit zu Zeit erneuert werden wird, will ich für nichts rechnen, denn das wird auch Euch, wenn Ihr nur Entsagung genug habt, wenig schaden. Aber die Blokade! die gänzliche Aushungerung von aller Wissenschaft, die dann, nothgedrungen von Euch, eben weil Ihr Euch so verschanzt, die Fahne des Unglaubens aufstecken muß! Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben? Viele freilich werden es so machen, die Anstalten dazu werden schon stark genug getroffen, und der Boden hebt sich schon unter unsern Füßen, wo diese düstern Larven auskriechen wollen, von enggeschlossenen religiösen Kreisen, welche alle Forschung außerhalb jener Umschanzungen eines alten Buchstaben für satanischer erklären.“ (a. a. O., 346f) 35 GL 47.1, 235. Vgl. hierzu Martin Ohst, Jesu Wunder (s.o. Anm. 16), 235: „Schleiermacher hat sich rückhaltlos der Einsicht Spinozas geöffnet, daß alle Rede von Wundern als Taten Gottes, die gegen die Gesetze der Natur oder gleichsam an diesen vorbei geschehen, in unausgleichbarem Widerspruch zu einem streng durchreflektierten Gottesbegriff steht“. Vgl. dazu die Schleiermacher-Interpretation von Dawn DeVries and Brian A. Gerrish, Providence and grace: Schleiermacher on justification and election, in: The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, hg. v. Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, (189–207) 195: „For some theologians, miracles were proof of the divine omnipotence and of a divine governance that could counteract the bad effects of free causes. But neither of these claims will stand.“

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ewige und allgegenwärtige Allmacht Gottes in Frage stellen. Denn sie könnten nur dann sinnvoll sein, wenn ein „Ändernmüssen“36 und damit eine Verbesserung des Naturzusammenhanges nötig wäre. Dazu aber müsste eine „Unvollkommenheit“ des Naturzusammenhanges37 wie auch seines Urhebers angenommen werden, was wiederum der Allmacht Gottes und der Überzeugung von Gottes Vollkommenheit (seiner ewigen, allmächtigen, allgegenwärtigen und allwissenden Liebe) 38 widerspräche. Verbunden mit dieser doppelten Unvollkommenheit müsste etwas vorgestellt werden, das mächtig wäre, sich Gottes Wissen, Wollen und Wirken sowie seinem Werk entgegenzusetzen und dieses Werk änderungs- und verbesserungsbedürftig zu machen oder dessen Vollkommenheit gar nicht erst zuzulassen. Solches ist nach Schleiermacher mit der Einsicht in die Allmacht des einen Ursprungs allen Seins nicht vereinbar. Soll nicht die Allmacht des einzigen Gottes geleugnet werden, so können nach Schleiermacher Ereignisse, die als supranaturale Unterbrechungen des Naturzusammenhanges beschrieben werden, nicht adäquat beschrieben sein.39 Nach Schleiermacher ist es naheliegend, ein Ereignis als Wunder zu beschreiben, solange der natürliche Zusammenhang dieses Ereignisses noch nicht klar erkannt oder gar naturwissenschaftlich erforscht worden ist. Ein erweitertes naturkundliches Wissen jedoch würde jeglicher Wundervorstellung entgegenwirken. Insgesamt sei „die vollständigste Darlegung der göttlichen Allmacht […] in einer solchen Auffassung der Welt“ gegeben, die im Vertrauen auf Gottes Treue keine Wunder-Vorstellung nötig hat.40 Die Notwendigkeit, dass Gott den Naturzusammenhang durch Wundereingriffe verbessern müsste, weil dieser verbesserungsbedürftig geschaffen oder geworden sei, schließt Schleiermacher auch in Bezug auf die Sünde aus. Denn diese bedinge gerade keine Änderung des Naturmechanismus. Vielmehr sei zur Erlösung aus der Sünde „das eine Wunder der Sendung Christi“ geschehen, das darauf abziele, „wiederherzustellen, was die freien Ursachen, aber in ihrem eignen Gebiet, nicht in dem des Naturmechanismus und auch nicht gegen den

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GL 47.1, 235. Nach Schleiermacher ist die Welt ursprünglich vollkommen; s. dazu GL §57ff. Vgl. GL §167. Vgl. dazu Friedrich Schleiermacher, Dialektik, hg. und eingel. v. Manfred Frank, Bd. 2 (stw 1529), Baden-Baden 2001, 289: Nach Schleiermacher ist im transzendenten Grund allen Seins jeglicher Gegensatz aufgehoben. Im Ursprung der Vielfalt allen Seins besteht nach Schleiermacher Einheit; ein Gegenüber zu diesem transzendenten Grund, das ebenso ursprünglich wäre wie Gott, dessen Absichten den Absichten Gottes jedoch nicht entsprächen, ist nach Schleiermacher nicht möglich. Es würde dies doch die Frage aufwerfen, was denn der eine Grund der beiden ursprünglichen Wesen sei, aus dem erst Vielfalt und Gegensätzliches hervorgehen können. 40 GL 47.1, 235.

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von Gott ursprünglich geordneten Verlauf, geändert haben.“41 Wie „alles“ so ist nach Schleiermacher auch die Sünde vorherversehen, die Sündentaten aber seien dem Menschen als einem relativ freien Geschöpf zuzurechnen.42 Das Tätigsein des Menschen überhaupt geschehe nicht bloß nach unumstößlichen Naturgesetzen, sondern verdanke sich auch geistigen Prozessen.43 Schleiermachers Rede von „freien Ursachen“ weist auf den Unterschied zwischen der gesetzlich festgelegten Notwendigkeit des Naturgeschehens und dem geschichtlichen Prozess irdischen Seins und Werdens, der durch das Wirken der relativ freien geistigen Wesen (der Menschen) mit bewirkt werde. Doch beides, der Natur- wie der Geschichtsprozess, ist nach Schleiermacher eingebunden in den „von Gott ursprünglich geordneten Verlauf“ des gesamten Schöpfungsprozesses.44 Und indem Gott diesen Verlauf ewig vorherversehen habe, könne er 41 GL 47.1, 236. 42 Zur relativen Freiheit des Menschen s. GL 4.2, 26f. Zu Schleiermachers Sündenverständnis s. v. a. GL §79ff, insbesondere GL 81.2: Hier setzt sich Schleiermacher damit auseinander, dass einerseits Sündenschuld dem Menschen und seiner „freien“ Selbstbestimmung zugerechnet werden müsse, andererseits jedoch die Sünde ebenso wie „alles“ in Gottes Macht begründet sei; diesem Dilemma begegnet Schleiermacher damit, dass er im Blick auf den Menschen von einer „mit Ohnmacht behafteten Freiheit“ schreibt (GL 81.2, 436); vgl. dazu die ausführliche Auseinandersetzung mit Schleiermachers Sündenverständnis bei Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher (BHTh 94), Tübingen 1996, 174ff. Vgl. auch Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (TBT 151), Berlin/New York 2010, v. a. 102–109. Die Überlegungen im Folgenden weichen von der 2010 vorgelegten Interpretation ab. 43 Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz, in KGA I/11, Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin/New York 2002, (429–451) 449. Vgl. dazu Andrew C. Dole, Schleiermacher on Religion and the Natural Order, Oxford 2010, 68–69: „Indeed, Schleiermacher’s introduction of the subject of sin in his dogmatics combines theological and philosophical renditions of the notion that evil is a matter of necessity […]. […] Schleiermacher’s claims regarding the necessity of evil, […] are fully in continuity with the understanding of human activity that he articulated in the Academy address. Furthermore, this understanding in turn displays both his lifelong commitment to the ‚doctrine of necessity‘ and his reflections on the consequences of his commitment for understanding the relationship of human activity to the overall natural order. From ‚On Human Freedom‘ on, Schleiermacher regarded free human activity as something ultimately determined by the overall ‚nature-system,‘ and during his mature period he was explicitly committed to an understanding of ethics as a science that aims at uncovering the laws that govern the activity of mind or soul in the same sense in which the laws of physics describe the behavior of matter.“ 44 Nach Julia A. Lamm, The Living God, gibt es bei Schleiermacher keinen Unterschied in der göttlichen Bestimmtheit des Naturprozesses und des Geschichtsprozesses und hierin stimme er mit Spinoza überein: „both Spinoza and Schleiermacher emphasize the one, eternal divine decree that determines the whole course of nature and history and that remains unaltered.“ (a. a. O., 216) – Dawn DeVries and B. A. Gerrish, Providence and grace, halten fest: „Another mistaken notion is to distinguish between ‚free causes‘ and ‚natural causes‘, and to

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nichts ungeordnet gelassen haben; „alles“ muss seiner allwissenden Allwirksamkeit geschuldet sein. Es soll also zwar für den Menschen eine relative Freiheit bestehen. Die Macht jedoch, diese Freiheit in einer bestimmten Weise anzuwenden und auszuüben, liegt nach Schleiermacher allein bei Gott und in dessen allwirksamer Allmacht begründet. Zur Erlösung aus der Sünde bedarf es nach Schleiermacher des erlösenden Wirkens Christi durch den Heiligen Geist, das in ewig vorherbestimmter Weise vollzogen werde.45 Dieses Wirken Gottes wirke Glauben und bedinge so eine Aufklärung des menschlichen Bewusstseins, und zwar im Rahmen des Naturprozesses; das Zum-Glauben-Kommen oder auch die „Neuschöpfung“ des Menschen setze keinesfalls die geschaffenen Naturgesetze außer Kraft.46 Wie die Sendung und Menschwerdung Christi so nennt Schleiermacher auch das Zum-Glauben-Kommen des Menschen zwar „Wunder“47, jedoch versteht er darunter keineswegs ein ausschließlich übernatürliches Ereignis, das den Naturzusammenhang durchbricht. Vielmehr geschähen diese Wunder in relativer Übereinstimmung mit dem Naturzusammenhang und seien darum relativ übernatürlich und relativ übervernünftig.48 Sie bewirkten keine Änderung des

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imply that the former are somehow less dependent on God than the latter […]. Briefly, he [Schleiermacher] asserts that human freedom is not an illusion, but neither is it something that distinguishes human agency from so-called natural causes. On the contrary, all living things have some freedom to act in relation to their particular kind of being. And such relative freedom is not in contradiction to absolute dependence, either in the case of humans or in the case of other living things.“ (a. a. O., 195) Leider lösen DeVries und Gerrish nicht auf, wie eine angeblich relative Freiheit bestehen soll, wenn doch, wie sie schreiben, alles, was in der Schöpfung geschieht, mit der Verbindlichkeit von Naturgesetzen nach dem Willen des Schöpfers geschieht. Nach Schleiermacher ist von Gott die Zeit vorherversehen, zu der ein Mensch zum Glauben kommt; s. GL 118.1, 225. Derjenige, der durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Glauben gekommen sei, werde dem Willen Gottes gemäß an der Realisation des Reiches Gottes mitwirken; s. dazu GL 112.4, 203: „Ist mit dem Glauben das Wollen des Reiches Gottes entstanden: so entstehen jedem Gläubigen aus seiner Stellung in der Welt nach Maßgabe der seinem Willen zu Gebot stehenden Kräfte und seiner Kunde von dem Zustandes seines Kreises Aufforderungen zur Tätigkeit für das Reich Gottes.“ Diese Tätigkeiten müssen allerdings ebenso von Gott vorherversehen sein, wie nach Schleiermacher doch alles von Gott vorherversehen ist; s. dazu GL 49.1, 249. Zu „Neuschöpfung“ und „Wiedergeburt“ im Rahmen des Naturzusammenhanges s. GL 106.1, 148. Die „Sendung Christi“ wird von Schleiermacher als Wunder bezeichnet. Auch die Wiedergeburt durch das Wirken des Heiligen Geistes sei in gewisser Weise wunderbar; s. GL 124.3, 269f; s. dazu GL 118.1, 225: Hier parallelisiert Schleiermacher explizit die Menschwerdung Christi mit der geistgewirkten Wiedergeburt des Menschen. Vgl. dazu GL §13. Zum „Wunder“ der Menschwerdung Gottes vgl. auch Dawn DeVries and B. A. Gerrish, Providence and grace, 196: „Schleiermacher identifies the ‚one great miracle‘ as the coming of Christ into the world […]. But even this miracle is not a breach of the nature system. Christ himself does not have a different relation to the order of nature than do other free causes. In the miracle of the redeemer’s appearance, the supernatural becomes natural.“

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Naturzusammenhangs. Doch bedeuteten sie eine besondere Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen. Sie zeigten ihn als den Allmächtigen; sie offenbarten ihn als den allmächtigen und liebenden Vollender, Erlöser und Schöpfer eben der Welt, in der sie sich ereigneten. Somit sind sie Erweis der Allmacht Gottes, der aus treuer Liebe den Schöpfungsprozess als einen naturgesetzlich bestimmten vollkommen gut geschaffen hat und erhält. Das Wunder des Zum-Glauben-Kommens lässt nach Schleiermacher die Beschaffenheit der Schöpfung und ebenso Allmacht und Allwissenheit des Schöpfers erkennen und dementsprechend auch handeln. Allerdings scheint mit Schleiermachers Verständnis der allwissenden und allwirksamen, alles vorherbestimmenden Allmacht Gottes eine handlungsbestimmende menschliche Macht nicht vereinbar zu sein. Damit aber sind die Schuldfähigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen für dasjenige Handeln, das von ihm ausgeübt wird, in Frage gestellt. Die Freiheit des Menschen kann nach Schleiermachers Allmachtsverständnisses nur eine machtlose Freiheit sein; verdient diese denn aber noch „Freiheit“ genannt zu werden? 49

49 Indem der Mensch durch Gottes Wirken zum Glauben kommt, wird ihm nach Schleiermacher auch das Vertrauen gegeben, dass Gott in seiner Allmacht seinen Heilswillen – auf relativ wunderbare Weise im Rahmen des Naturzusammenhanges – vollkommen verwirklichen werde. Und von diesem Vertrauen (dem Bewusstsein, dass Gott der in Liebe Allmächtige ist) bestimmt, werde das Handeln der Glaubenden, getrieben vom Wirken des Heiligen Geistes, gottgewollt und vorherbestimmt zur Verwirklichung des Reiches Gottes als dem Ziel des Schöpfungsprozesses beitragen; s. dazu GL 124.2, 267. Angesichts des vorherbestimmten Schöpfungsprozesses besteht das ethische Problem, ob der Mensch überhaupt schuldfähig ist und von ihm bei seinem Handeln Verantwortlichkeit gefordert werden kann. Frederick C. Beiser, Schleiermacher’s Ethics, in: The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, hg. v. Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, 53–71, bemerkt dazu: „Schleiermacher was troubled by the issue of moral responsibility in a deterministic universe. Is moral responsibility illusory if a person’s actions are determined according to causal laws?“ (a. a. O., 54) Im Anschluss an Schleiermachers „Über die Freiheit“ führt Beiser aus: „Like many compatibilists, Schleiermacher contends that responsibility is not only compatible with determinism but also requires it. He argues that the assessment of the morality of an action presupposes that it derives from the person’s character, and that this assumes that there are causes for the action within the person’s character that bring about certain results on certain occasions […]. Although the concept of responsibility does not imply any specific causal account of the agent’s actions, it does imply that the action is the effect of the agent; in other words, although it does not presuppose how the agent executes his power of action, it does presuppose that he has such a power, or that he can be the cause of his action“ (a. a. O., 57f). Eben die Frage, „wie“ es zu einer Handlung des Handelnden kommt, ist doch aber die entscheidende auf der Suche nach Verantwortung!

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Gottes Allmacht und Gottes Wunderwirken nach Karl Barth

a) Barth unterscheidet deutlich Gottes Allmacht von Gottes Wirksamkeit. Gottes Allmacht sei nicht mit Allwirksamkeit gleichzusetzen; Gottes Allmacht sei weitreichender als Gottes Wirksamkeit.50 Denn die Summe der Gott möglichen Möglichkeiten sei größer als die von Gott gewirkten Realisationen. In seiner Freiheit wähle Gott aus der Fülle der Möglichkeiten, die er allesamt zu verwirklichen vermöge, nur diejenigen aus, die er tatsächlich schöpferisch realisieren wolle. Aus der „Summe des ihm Möglichen und so des echt Möglichen“51 wähle Gott in seiner Freiheit, was er dann verwirkliche.52 In seiner Allmacht sei Gott „die Möglichkeit des Unmöglichen, die Macht der Ohnmacht53 […] fremd“. Doch alles „echt Mögliche“54, „das, was ihm (und was darum echt !) möglich ist“55, vermöge er zu wissen und zu wollen oder auch nicht zu wollen; was aber seinem Willen nicht entspreche, das verwirkliche er nicht. Immer bleiben nach Barth Möglichkeiten Gottes übrig, die Gott in seiner Freiheit nicht wolle, nicht wähle und nicht verwirkliche. Mit dieser Annahme von Möglichkeiten Gottes, die dieser nicht verwirklichen wolle und darum auch nicht realisiere, bezweckt Barth, die Freiheit Gottes zu wahren. Nach Barth muss Gott frei dazu sein, die Realisation mancher Möglichkeiten nicht zu wollen und nicht zu wirken. Dadurch zeichnet sich nach Barth die Allmacht Gottes aus, dass der Allmächtige frei sei, sich sogar gegen eigene Möglichkeiten zu entscheiden. Dass er die Allmacht Gottes für weitreichender hält als Gottes Wirksamkeit,56 das streicht Barth gegen Schleiermacher heraus: „Die Frage nach einem Möglichen Gottes selbst außerhalb der Gesamtheit des Wirklichen […] hat für Schleiermacher nicht existiert […]. Weil Wollen und Können, Wollen und Tun, Können und Tun in Gott nicht zu trennen sind, darum ist ‚die ganze Allmacht ungeteilt und unverkürzt die alles tuende und bewirkende‘57, darum ist darüber hinaus, d. h. über die göttliche Allwirksamkeit hinaus nichts von ihr zu sagen! Der 50 Vgl. KD II/1, 592–596. Gottes Allmacht kann „nicht aufgehen in seiner Allwirksamkeit.“ (a. a. O., 612) 51 KD II/1, 599. 52 Gottes Allmacht ist nach Barth „eben die seines Wissens und Wollens“, nicht aber die seines Wirkens (KD II/1, 611). 53 Hier müsste weiter nachgedacht werden, wieso Barth die Ohnmacht des Gekreuzigten am Kreuz nicht mit der Allmacht Gottes zusammendenkt. 54 Vgl. dazu Claus-Dieter Osthövener, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, 192f. 55 KD II/1, 599. Ähnlich denkt Schleiermacher, der ebenfalls für Gott nicht alles Mögliche als möglich annimmt, sondern alles das, was Gottes Wesen entspricht. 56 Vgl. KD II/1, 595f. 57 Vgl. zu diesem Zitat Barths den Originaltext o. Anm. 15.

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schon bei der Orthodoxie sichtbare Fehler ist hier überboten und endgültig geworden.“58 Schleiermacher habe mit seiner Beschreibung der Allmacht Gottes die Freiheit Gottes unzutreffend beschränkt. Barth kritisiert, dass Schleiermacher „mit der Aufhebung des Unterschieds zwischen Gottes Können und Tun das Verständnis für die Freiheit Gottes gerade auch in seinem Tun zerstört und damit den Lobpreis seines Tuns als des seinigen […], als eines in freier Liebe gnädig, barmherzig und geduldig gewirkten und uns zugewendeten Tuns unmöglich macht.“59 Mit der von Schleiermacher hervorgehobenen Untrennbarkeit der göttlichen Eigenschaften (Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit und Allgegenwart) und der damit gegebenen Untrennbarkeit des göttlichen Könnens und Tuns werde Gottes Freiheit geleugnet; Gott sei zum Gefangenen seiner selbst gemacht.60 Da Schleiermacher Gottes Schöpfung als eben durch die genannten Eigenschaften bedingt erachte, binde er noch zudem Gott an dessen Schöpfung. Gott aber sei weder an seine Möglichkeiten noch auch an das von ihm geschaffene Kreaturgeschehen gebunden. Keineswegs sei er „der Gefangene der Welt“61. Seine Möglichkeiten, die Welt in bestimmter Weise und Verfasstheit schaffen zu können, legten Gott nicht darauf fest, die Welt in einer ewig festgelegten Weise zu schaffen. Jedenfalls bleiben nach Barth bei der Schöpfertätigkeit Gottes Möglichkeiten frei und übrig, die Gott nicht wolle; Möglichkeiten, die von Gott nicht gewählt und nicht verwirklicht würden oder noch nicht verwirklicht worden seien, aber während Gottes erhaltender Tätigkeit wirklich werden könnten. Barth hebt Gottes Freiheit sowohl bei der Beschreibung der schöpferischen wie auch der erhaltenden Tätigkeit Gottes hervor. Gottes erhaltende Tätigkeit beschreibt Barth als Reihe freier Schöpfungsakte; „jeden Morgen, ja jeden Augenblick, neu“ werde der Mensch „begründet, konstituiert und erhalten“.62 Es sei und bleibe allein der gnädigen Freiheit Gottes überlassen, in jedem Moment neu den Menschen „in immer neuem Schöpfungsakt“ zu erhalten oder nicht;63 wie und wie lange er seine Schöpfung erhalte, stehe Gott dem Schöpfer in jedem Augenblick aufs Neue völlig frei.64 Was Gott heute getan und dem Menschen als sein Tun sichtbar gemacht hat, das will er morgen wieder, aber vielleicht ganz neu und anders tun und dann auch dem Menschen 58 KD II/1, 596. 59 KD II/1, 597. 60 Vgl. KD II/1, 595. Zu Barths Verständnis von Gottes Eigenschaften und seinem „Wesen“, die für sein Allmachtsverständnis von maßgeblicher Bedeutung sind s. Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 244–257. 61 KD II/1, 596. 62 KD III/2, 418. 63 Ebd. 64 Vgl. KD III/2, 419.

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in einer ganz neuen und anderen Gestalt sichtbar machen. Daß er dem Kreaturgeschehen morgen wie heute seine Funktion, sein Telos, seinen Charakter geben wird, das ist die Treue Gottes, mit der wir rechnen können, dürfen und sollen: das Konstante, dem der glaubende Mensch auch im Blick auf morgen entgegensehen wird. Er wird aber darauf, wie Gott das tun wird, weder ihn noch sich selbst festlegen wollen.65

Gottes erhaltendes wie sein erschaffendes Handeln verdanken sich nach Barth der göttlichen Freiheit und zugleich auch einer Notwendigkeit, die Treue verbürge. Es sei Gottes freie Liebe selbst, die für Gott die Erschaffung und die Erhaltung von Welt und Menschen notwendig mache. Denn seine freie Liebe nötige ihn in seiner Allmacht66 zu seinem erschaffenden und treulich erhaltenden Handeln.67 Gleichwohl bleibe Gott (freier) Herr seiner Schöpfung, und zwar „so, daß er der Richter über Sinn und Unsinn, Mögliches und Unmögliches, so, daß er heilig und gerecht ist und bleibt in seinem Tun. Die Sünde aber, von ihm nicht gewollt und nur insofern Gegenstand seines Willens und Wissens, ist und bleibt die Sünde“.68 Ebenso wie die Sünde von Gott nicht gewollt und dennoch oder eben deshalb wirklich sei,69 sei das „Nichtige“70 insgesamt von Gott nicht gewollt, als dieses Nichtgewollte aber wirklich. Barth nimmt an, dass es Möglichkeiten gebe, um die Gott zwar wisse, die er aber nicht realisieren wolle, weil sie seiner Liebe und schlicht seinem Willen widersprächen. Barth geht von nichtgewollten Möglichkeiten aus, weil er Wirkliches vorfindet, von dem er nicht für möglich hält, dass es von Gott gewollt und realisiert worden sei. Nach Barth ist dieses Wirkliche real als 65 KD III/3, 65. 66 „Die Allmacht Gottes ist die Allmacht seiner freien Liebe“ (KD II/1, 597). 67 Zwar kann nach Barth einerseits „nicht gezeigt werden, daß Gott die Welt schaffen mußte, daß diese also von Gott her gesehen notwendig existiert und ihr Wesen hat“ (KD III/1, 3). Nach Barth ist es „freie Gnade, Überströmen seiner Liebe, daß er [Gott] unser Schöpfer und Herr sein wollte“ (KD IV/1, ,41). Doch sei „der echte Realgrund der Schöpfung“ eben Gottes Liebe, derentwegen er die Welt habe schaffen müssen: „kraft keiner anderen Notwendigkeit gewiß als der seiner Liebe, aber kraft der Notwendigkeit, in der er die Welt ( Joh 3, 16) so: in der Hingabe seines eingeborenen Sohnes lieben wollte und von Ewigkeit her schon liebte.“ (KD III/1, 54) Auch seiner erhaltenden Tätigkeit und seinem Bundesschluss mit den Menschen liege seine freie Liebe zugrunde. Vgl. dazu und zu den Konsequenzen dieser theologischen Grundannahme Karl Barths: Matthias Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election. A Systematic-Theological Comparison, Oxford 2007; s. v. a. a. a. O., 165: „God’s decision to establish and maintain a covenant with humankind is a show of mercy and righteousness as well as constancy and omnipotence. It is also an act of free love.“ 68 KD II/1, 612. 69 Zu Schleiermachers Sündenverständnis im Zusammenhang mit seinem Verständnis der Allmacht Gottes vgl. auch Claus-Dieter Osthövener, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, 196. 70 Zum „Nichtigen“ s. v. a. KD III/3, §50. Vgl. auch Matthias D. Wüthrich, Gott und das Nichtige. Eine Untersuchung zur Rede vom Nichtigen ausgehend von § 50 der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, Zürich 2006.

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das „Nichtige“. Es ist nach Barth ein ‚Nebenprodukt‘ oder ‚Abfallprodukt‘ der Schöpfung Gottes, d. h. das, was Gott bei der Auswahl aus seinen Möglichkeiten verworfen habe. Das Nichtige ist „das, was Gott nicht will. Nur davon lebt es, daß es das ist, was Gott nicht will. Aber eben davon lebt es: weil und indem nicht Gottes Wollen, sondern auch Gottes Nichtwollen kräftig ist und also nicht ohne reale Entsprechung sein kann. Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist das Nichtige.“71 Als solches ist es für Barth ein Ausdruck davon, „daß Gottes Macht größer ist als Gottes Werk“. Denn das Nichtige bringe nicht nur zum Vorschein, dass Gott mehr Möglichkeiten möglich sind, als er verwirklicht. Auch mache es deutlich, dass sogar Gottes mächtiges Nichtwollen so mächtig ist, dass dieses die Realisation derjenigen Möglichkeiten wirkt, die Gottes (gewolltem) Werk nicht zuzurechnen sind. Nach Barth umfasst Gottes Schöpfungswerk gerade auf Grund der Allmacht Gottes auch Realitäten, die nach Gottes Willen gar nicht wirklich sein sollten. Er hält es für ausgemacht, „daß Gottes Macht größer ist als Gottes Werk, in welchem er [d.i. Gott] auch Anderes außer ihm Macht haben läßt.“72 Anders als Schleiermacher nimmt Barth an, dass in der Welt wirklich sei, was Gott nicht gewollt habe. Dabei schließt er aus, dass eine zweite (gottgleiche) Macht neben Gott – „irgendwie unabhängig von Gott und ihm gegenübergestellt“73 – grundlegend die Wirklichkeit des Nichtigen bedinge; es sei eben das kräftige Nichtwollen Gottes selbst, dem die Macht des Nichtigen verdankt sei. Ebenso wie Schleiermacher geht also auch Barth davon aus, dass letztlich Gott der Grund allen Seins ist. Nach Barth jedoch ist Gott zwar in seiner Macht der Grund allen Seins, nicht aber nach seinem Willen, der die Differenz zwischen Gottgewolltem und Nichtgewolltem bedinge. Und Gott sei in seiner Liebe zwar genötigt zu seiner Schöpfung, zugleich verwirkliche er aber in aller Freiheit deren Beschaffenheit und ihren Fortbestand. Nach Schleiermacher können Freiheit und Notwendigkeit, wie bereits gezeigt, im Blick auf Gott adäquat nur als Einheit gedacht werden, wenn in Gott nicht eine Zweiteilung oder gar eine Entmächtigung des Wirkens Gottes behauptet werden soll. b) Nach Barth ist Gottes Schöpfungswerk nicht die umfassende Manifestation der freien göttlichen Allmacht. Einerseits verzichte Gott auf die Verwirklichung von Möglichkeiten, andererseits wirke er während seiner erhaltenden und regierenden Tätigkeit im Kreaturgeschehen immer wieder neu, und dabei auch außergewöhnliche Ereignisse, die erst seine Allmacht als die eine alles bestimmende Allmacht zeigten. Diese außergewöhnlichen Ereignisse, die als „Wunder“ be71 KD III/3, 406. 72 KD II/1, 612. 73 S.o. Anm. 19.

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zeichnet werden könnten, dienten zum einen dem Erweis der Allmacht Gottes. Zum anderen wirkten sie der Macht des Nichtigen und der Sünde insbesondere entgegen. „Wunder“ wird nach Barth ein unmittelbar von Gott gewirktes Ereignis genannt, das dem „gewöhnlichen“ Naturverlauf widerspreche.74 „Wunder“ würden Geschehnisse genannt, von denen angenommen werde, sie geschähen „supra et contra naturam“75, also übernatürlich und dem Naturzusammenhang entgegen. Zugleich wird durch sie die Ordnung der Natur nicht grundsätzlich in Frage gestellt oder gar beseitigt.76 Denn diese Ordnung sei ganz ausschließlich an Gott gebunden. Gott selbst sei in seiner freien Liebe „das Gesetz alles Geschehens“; und Gott bestimme den gesamten Lauf der Welt „unmittelbar“ nach seinem freien Willen, der aus seinen Möglichkeiten immer wieder neu bestimmte wähle.77 „Gewisser als jedes Naturgesetz und als jedes mathematische Axiom gilt in der Kreaturwelt dieses Gesetz: daß Gott ihrem Geschehen gegenwärtig und in ihrem Geschehen wirksam ist.“78 Zwar seien angesichts des von Gott gewirkten Weltgeschehens Naturgesetze erkennbar. Doch seien diese letztlich nicht verlässlich. Sie seien bloßer Ausdruck der menschlichen Sicht auf den Weltverlauf.79 Gottes Wirken und Ordnen sei „nicht identisch mit den uns bekannten Gesetzen, sondern vielmehr identisch mit dem freien Schalten und Walten seines eigenen Wohlgefallens.“80 Weil Gottes Wirken weder von menschlichen Ordnungsbegriffen erfasst werden könne noch gar an sie gebunden sei,81 wirke Gott immer wieder auch Ereignisse, die dem „gewöhnlichen Verlauf[] der Dinge“82 widersprächen. Durch 74 KD II/1, 607. 75 KD III/3, 146. 76 Barth bemerkt, dass „die Wunder zwar unerwartete und unerklärliche, weil direkt von Gott herbeigeführte Zusammenhänge geschöpflichen Wirkens und geschöpflicher Wirkungen, aber durchaus nicht deren Beseitigung bedeuten.“ (KD III/3, 214) 77 KD III/3, 146. „Man mache sich nur klar, daß gerade in solchen [Wunder-]Ereignissen nicht eine ‚wunderliche‘ Ausnahme, sondern die Regel des göttlichen Wirkens, nämlich der freie gute Wille Gottes selbst, sichtbar wird“ (a. a. O., 147). 78 KD III/3, 123. 79 Dass Barth naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Naturgesetze im Rahmen seiner Theologie für nicht ergiebig hält, bemerkt er ausdrücklich in seinem Vorwort zu KD III: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat.“ Ihm sei klar geworden, „daß es hinsichtlich dessen, was die heilige Schrift und die christliche Kirche unter Gottes Schöpfungswerk versteht, schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfsstellungen geben kann.“ (KD III/1, Vorwort) 80 KD III/3, 146. 81 Nach Barth „wird man es ihm [d.i. Gott] erlauben müssen, an den uns bekannten Gesetzen, d. h. an unserem Verständnis der ontischen Gesetze des geschöpflichen Geschehens u. U. rücksichtslos vorbeizugehen.“ (KD III/3, 146) 82 KD II/1, 607.

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diese außergewöhnlichen Ereignisse, durch „radikal Neues“, das den gewöhnlichen Lauf des Weltgeschehens unterbreche (nicht aber zerstöre) und das auch „Wunder“ genannt werde, zeige Gott seine Allmacht in besonderer Weise.83 Anders als Schleiermacher hält Barth jederzeit ein „Wunder“-Wirken Gottes für möglich. Dieses Wirken sei kein Wirken, das Gottes Schöpferwirken widerspreche. Denn Gottes Wirken an und in der geschaffenen Natur sei stets und „jeden Augenblick[] neu“ eben das Wirken Gottes und als solches supranaturales Wirken. Die sogenannten Wunder widerstreben nach Barth ebenso wenig dem Naturverlauf wie alle anderen Naturereignisse, da dieser Verlauf als solcher ja kein festgelegter und kein verlässlich erkennbarer ist. Konsequenterweise dürfte nach Barth kein einziges Ereignis in der Welt als widernatürlich (contra naturam), ein jedes aber könnte als übernatürlich (supra naturam) bezeichnet werden.84 Nach Barths Beschreibung kann es nur mehr oder weniger gewöhnliche Weltereignisse geben. Das vom Menschen für Wunder gehaltene außergewöhnliche Geschehen zeige in besonderer Weise die übernatürliche Bedingtheit allen Seins. Nach Barth ist es dem Menschen verwehrt, einzelnes, radikal Neues mit dem gewohnten Allgemeinen in Übereinstimmung zu bringen. „Was wir sehen, ist immer […] Kontinuität und Diskontinuität […] in ihrem Nebeneinander und Gegeneinander. Nur schon deshalb lacht Gott jedes Versuches, seine Regierung mit den Augen unserer Vernunft nachzuprüfen“.85 Gott, der lachende Allmächtige, aber sei Herr über diesen Gegensatz von Kontinuität und Diskontinuität, von Allgemeinem, Gewohntem und Außergewöhnlichem. Denn er wirke ihn selbst und halte ihn zusammen. In seiner Allmacht wirke er diesen Gegensatz, um mit der Uneinsehbarkeit und Nichterkennbarkeit des Weltgeschehens seinen Geschöpfen seine Allmacht, seine unverfügbare Macht zu zeigen. Doch dienten solche Allmachtsbekundungen nicht allein dem Erweis der göttlichen Allmacht. Sie bedingten vielmehr auch die Überwindung des Nichtigen und der Sünde insbesondere. Ebenso wie Schleiermacher nimmt Barth an, dass das für das christliche Leben grundlegend entscheidende „Wunder“ das Wunder der Menschwerdung (aber auch der Auferstehung) und das des Zum-Glauben-Kommens sei, mit dem die Befreiung von der Sünde einhergehe.86 Nach Barth ist es die übernatürlich ge83 Vgl. dazu KD II/1, 608: „Das Wunder ist […] nicht der Erweis einer besonderen, sondern nur der besondere Erweis der einen göttlichen Allmacht. Es ist wohl ein radikal Neues, aber darum nicht ein Anderes und Fremdes im Raume der Schöpfung“. Vgl. auch KD III/3, 181: Gott wirke immer wieder „Einzelnes, das sich in das Allgemeine nicht fügen will und nicht auflösen läßt“, das vielmehr als Besonderes Erweis der Allmacht Gottes sei. 84 KD III/3, 146. 85 KD III/3, 181. 86 Zum Wunder des Zum-Glauben-Kommens s. KD I/1, 190: „Das Wort Gottes ist […] in seinem

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wirkte totale und radikale Neuschöpfung des Menschen, die dem Menschen den Allmächtigen als den Schöpfer vergegenwärtige.87 Nach Barth wie nach Schleiermacher eröffnet das Wunder der „Neuschöpfung“ den Blick auf Gott den Schöpfer und seine Schöpfung.88 Allerdings jedoch wird nach Schleiermacher dem Glaubenden deutlich, dass das gesamte Weltgeschehen von Gott dem Allmächtigen vorherversehen ist. Nach Barth hingegen ist dem Glaubenden offenbar, dass Gott in seiner Allmacht jeden Augenblick neu an und in der Schöpfung wirksam ist, und zwar in einer Weise, die ein Rechnen mit naturgesetzlicher Verlässlichkeit und innerweltlichen Kausalzusammenhängen nicht zulässt; es muss nach Barth stets angenommen werden, dass Gott immer wieder immer noch anders auf seine Schöpfung einwirken kann. Indem Barth die Uneinsehbarkeit und Unberechenbarkeit des göttlichen Wollens und Vorherwissens auf die Beschaffenheit der Welt überträgt, ist in Folge seines Allmachtsverständnisses ein bewusstes und planendes Handeln an und in der Welt für den Menschen nahezu unmöglich.

3.

Kritik und Konsequenzen

Die dargestellte Interpretation der Positionen Barths und Schleiermachers soll abschließend in drei Hinsichten ausgewertet werden, denen weiter nachzugehen lohnt. Zum einen soll das wunderbare Handeln Gottes, von dem Barth schreibt, der „Wunderarmut“, die Schleiermacher annimmt, gegenübergestellt werden. Zweitens werden Schleiermachers und Barths Rede von Freiheit und Notwendigkeit bezogen auf das Handeln Gottes vergleichend nebeneinandergestellt. Entscheidend vor allem in ethischer Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Gottes Allmacht und der Macht und der Freiheit des Menschen. Barths wie Schleiermachers Ausführungen scheinen in dieser Hinsicht problematisch zu sein; das soll in einem dritten Abschnitt kritisch aufgezeigt werden. a) Nach Barth und Schleiermacher ist es dem Wunder eigentümlich, Erweis der Allmacht Gottes zu sein. Allerdings führen nach Schleiermacher die relativ übernatürlichen Ereignisse der Inkarnation und des Zum-Glauben-Kommens zur Einsicht in die Allmacht Gottes, durch die in Ewigkeit das Wollen Gottes verwirklicht sei. Nach Barth führt das Wunder des Zum-Glauben-Kommens zum Ziel Kommen beim Menschen, im Ereignis des menschlichen Glaubens an das Wort Gottes Gottes Wundertat.“ Der Glaube ist nach Barth „Wunder des heiligen Geistes“ (ebd.). Vgl. auch KD I/1, 433. 87 Vgl. KD II/1, 569, KD IV/2, 166.200f und KD IV/3, 586; s. zum hier genannten Sachverhalt ausführlich Anne Käfer, Inkarnation und Schöpfung, 310–318. 88 KD III/1, 30.

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dazu, dass der Mensch in und an der Schöpfung Gott als den Schöpfer stets neu wirksam sieht und stets neue Werke als möglich erkennt, die immer wieder neu Gottes Allmacht erweisen. Das Wunder, das Gott in Christus durch den Heiligen Geist vollzieht, scheint Barth als Erweis der Allmacht Gottes nicht zu genügen. Es bedeutet allerdings eine Relativierung des genuin christlichen Wunders (des Christusgeschehens in seiner Verbundenheit mit der Neuschöpfung), wenn mit Barth das gesamte Handeln Gottes als Aneinanderreihung supranaturaler Realisationen angenommen wird.89 Mit der Annahme dieses stets supranaturalen Wirkens wird das eine Heilsereignis zu bestimmter Zeit schlicht bloß eingereiht in eine Reihe möglicher Aktivitäten Gottes; seine Einzigartigkeit ist nicht im Blick. Barths Bestreitung der Verlässlichkeit von Naturgesetzen und sein Verständnis des „Wunders“ als eines stets möglichen außergewöhnlichen Wirkens des Allmächtigen führt dazu, dass Naturwissenschaft und Theologie beziehungslos nebeneinander stehen. Schleiermacher begegnet der von ihm selbst geschilderten Gefahr, dass der Knoten der Geschichte mit der Trennung von Wissenschaft und Christentum auseinandergehen könne, mit seinem Allmachts- und Wunderverständnis. Seine Darstellung der göttlichen Allmacht und des Wunders gründet in seiner Einsicht, dass Gottes liebende Treue und Verlässlichkeit nur dann den Menschen zugute kommen, wenn sie von den Geschöpfen in der Schöpfung und im Rahmen des Naturzusammenhangs erlebt werden. Entsprechend nimmt er an, dass das Wunder des Zum-GlaubenKommens auch den Naturzusammenhang und den Schöpfungsprozess insgesamt (die Verbundenheit von Natur- und Geschichtsprozess in Gottes Schöpferhandeln) zu erkennen gibt, und zwar als vollkommen und gut geschaffenen. b) Maßgeblich für das jeweilige Allmachtsverständnis der beiden Theologen ist ihre Beschreibung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit bezogen auf Gottes Wissen, Wollen und Wirken. Nach Barth müssen Freiheit und Notwendigkeit auseinandergehalten werden. Dies bedingt allerdings, dass nach Barth, um der Freiheit Gottes willen, kein von Gott selbst verbindlich gesetzter Naturzusammenhang gegeben ist. Entsprechend kommt jeglichem Wirken Gottes Wundercharakter zu, weil es nicht im Zusammenhang mit geschaffenen Gesetzen der Schöpfung stehe, sondern stets neu von Gott gewählt und bestimmt werde. 89 Indem Barth eine unmittelbare Bezogenheit des Menschen auf den allmächtigen Grund allen Seins verwirft (s. z. B. KD I/1 349 und III/2, 182), setzt er Schleiermachers Annahme eines unmittelbaren Gottesbewusstseins (s. GL §4) unzählige mögliche Selbsterweise Gottes entgegen.

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Zudem hält Barth das Wirklichsein des von Gott Nichtgewollten für möglich, weil er, um der Freiheit Gottes willen, für Gott eine Wahl zwischen möglichen Möglichkeiten annimmt. Barths deutliche Unterscheidung zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Handeln Gottes bedingt sein energisches Differenzieren zwischen Gottes Wissen, Wollen und Tun. Indem er Gott eine freie Auswahl aus den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zuschreibt und Gottes Wollen und Tun von seinem Können scheidet, gibt er dem „und“ im letzten Antwortsatz zur Frage 26 des Heidelberger Katechismus satzteilende Funktion. Dort heißt es, wie bereits eingangs zitiert, über Gottes schaffendes, erhaltendes und regierendes Tätigsein, dass er dieses „thun kann, als ein almechtiger Gott: und auch thun wil als ein getrewer Vater.“ Nach Barth ist klar, dass Gott in Treue dem Kreaturgeschehen zugewandt ist. Doch wie er seine (väterliche) Treue umsetze, dass sei ihm völlig frei.90 Gottes Tätigsein aus väterlicher Liebe sei jedenfalls keinesfalls seiner Allmacht untrennbar verbunden. Nicht alles, was der Allmächtige könne, wolle und verwirkliche der Vater auch; Barth unterscheidet im Blick auf Gott deutlich dessen Handlungsmöglichkeiten von dessen Wahlfreiheit. Nach Schleiermacher ist das „und“ des Antwortsatzes als ein verbindendes zu lesen. Die beiden Satzhälften des Antwortsatzes sind nach Schleiermacher ebenso eng zusammenzudenken wie Freiheit und Notwendigkeit im Blick auf Gott. Nur dann sei Gottes Handeln weder als beliebig noch als erzwungen gedacht. Dies bedingt jedoch, dass nach Schleiermacher nur genau eine Welt möglich und wirklich ist, nämlich diejenige, die Gottes Wesen, seiner Allwissenheit und Allmacht entspricht. Das gesamte Ausmaß seines Wissens und Könnens habe Gott in seiner einen Schöpfung zum Ausdruck gebracht. Andere Welten als die eine geschaffene seien (für Gott) nicht möglich.91 Eben mit dieser Annahme scheint jedoch die freie Kreativität des allmächtigen Ursprungs unmäßig eingeschränkt zu sein. Die Vorstellung, dass Gott mehrere Welten möglich sind, die allesamt seinem Wesen, Wissen und Wollen entsprechen, würde eine erweiterte Freiheit Gottes, nämlich seine Ungebundenheit an einzig eine Weltverwirklichung, bedeuten.92 Entsprechend dieser Freiheit könnte von Gott auch angenommen werden, dass er seinem Wesen gemäß den Schöpfungsprozess zum ewigen Heil führen wird und dass die Verwirklichungs90 S.o. Anm. 65. 91 Zur Vorstellung möglicher Welten s. die hierzu maßgeblichen Überlegungen von Gottfried Wilhelm Leibniz, kritisch dargestellt bei Friedrich Hermanni, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, 171–182. 92 Das Kriterium zur Wahl einer der möglichen Welten könnte dann allerdings nicht die Unangemessenheit von Welten gegenüber dem Wesen, Wissen und Wollen Gottes sein. Vielmehr dürfte allein ihre Funktionstüchtigkeit für die Realisierung des ewigen Heilswillens Gottes ausschlaggebend sein (vgl. dazu o. 2.1.)

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Gottes Allmacht und die Frage nach dem Wunder

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möglichkeiten in diesem Prozess entsprechend beschränkt, nicht aber schlechthin bestimmt sind. Mit einer weiter bestimmten Freiheit Gottes ginge eine erweiterte Mächtigkeit des Menschen einher. c) Barths und Schleiermachers Positionen zur Allmacht Gottes gleichen sich letztlich darin, dass sie für den Menschen nahezu keine Macht und damit keine Handlungsmöglichkeiten übriglassen. Nicht nur in Heilsdingen und im Gegenüber zu Gott wird jegliche Entscheidungsfreiheit des Menschen verneint. Auch für das Handeln des Menschen in der Welt scheint in ihren Theorien zwar eine Auswahl von Möglichkeiten, jedoch Macht weder über das Wählen noch über das Tun übrig zu sein. Nach Schleiermacher sind der gesamte Schöpfungsprozess und damit auch das Handeln der menschlichen Geschöpfe vorherbestimmt.93 Und ebenso eng wie von ihm Können und Wollen, Macht und Freiheit Gottes zusammengedacht werden, versteht er Freiheit und Macht des Menschen aneinandergebunden. Mit der Macht des Menschen ist nach Schleiermacher auch dessen Freiheit beschränkt; nicht nur das Können des Menschen, auch dessen Wollen(können) ist vorherbestimmt. Nach Barth kann von einem Menschen eine bestimmte Handlung in Raum und Zeit schon deshalb nicht frei gewählt werden, weil dazu verlässliche und konstante Bedingungen sowohl der Verfasstheit des Menschen wie der Welt insgesamt vorausgesetzt sein müssen, die nach Barth nicht gegeben sind. Barth denkt Macht und Freiheit Gottes als derart different, dass der Mensch in seiner Angewiesenheit auf Gottes freie Liebe selbst nicht frei wählen kann, sondern eben dieser Liebe machtlos ergeben ist. Indem Barth und Schleiermacher die menschliche Macht als die Möglichkeit, zwischen Handlungsoptionen zu wählen, völlig beschränken, scheinen sie nicht nur das Verantwortungsgefühl des Menschen, insbesondere in problematischen Entscheidungssituationen, wenig ernst zu nehmen. Auch nehmen sie mit ihrer Darstellung der Allmacht Gottes dem Menschen Verantwortlichkeit. Nach Barth könnte jederzeit ein mehr oder weniger wunderbares Eingreifen des Allmächtigen beispielsweise menschlichen Gräueltaten ein Ende setzen; solange dieses Eingreifen ausbleibt, scheint Gott selbst für das Ausmaß des Leidens in der Welt verantwortlich zu sein. Nach Schleiermacher ist letztlich entscheidend die Vorherbestimmung des Allmächtigen verantwortlich für alles Tun des Menschen. Beide Theologen beschreiben Gottes Allmacht in einer Weise, die Macht und Verantwortung des Menschen überaus weitreichend reduziert und den missbräuchlichen Verweis auf gottgewollten Machtgebrauch erleichtert.

93 Vgl. allerdings GL §49 und GL 55.3, 300f.

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Bei allen Unterschieden und Fragwürdigkeiten im Verständnis der Allmacht Gottes heben Schleiermacher wie Barth hervor, dass Gottes Allmacht in Gottes Liebe begründet sei. Liebe allerdings zeichnet sich dadurch aus, dass dem geliebten Gegenüber Freiheit im Sinne von möglichem Machtgebrauch gelassen wird. Eben um der Liebe Gottes willen müssten darum beide Theologen in ihren Ausführungen zur Allmacht Gottes eine gewisse Macht des Menschen, eine gewisse machtvolle Handlungsfreiheit des Menschen annehmen. Und die Liebe Gottes wäre dann nicht nur der Maßstab seines väterlichen Wirkens, sondern auch der Grund für mächtige Freiheit des Menschen.

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Georg Plasger

Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch. Erwägungen zu Schleiermachers und Barths anthropologischer Christologie

„[…] so ergiebt sich wol, daß nur die Urbildlichkeit der angemessene Ausdrukk ist für die ausschließliche persönliche Würde Christi.“1 Der „Mensch Jesus […] ist das Bild Gottes.“2

Mit diesen beiden Zitaten ist eine zumindest begriffliche christologische Nähe zweier Theologen angezeigt, deren Christologien häufig tendenziell als einander konträr gegenüberstehend verstanden werden. So stellt sich die Frage, ob sich aus der Beobachtung, dass sowohl Schleiermacher als auch Barth zentrale christologische Aussagen im Verständnis von Jesus Christus als Urbild3 formulieren können, nur eine semantische Nähe ergibt oder ob auch sachliche Berührungen eruierbar sind.

1.

Das im Menschen Jesus geschichtlich gewordene Urbild

Schleiermacher verwendet für Christus den Begriff des Urbildes. Da Schleiermacher sich intensiv mit Immanuel Kant auseinandergesetzt hat, könnten hier Anleihen vermutet werden, da auch Kant den Begriff des Urbildes verwandt hat. Kant nannte Christus „das Urbild aller Moralität“4, in dem „das Urbild des Gott wohlgefälligen Menschen und als solches Grund und Kriterium allen rechten Handelns“5 deutlich wird. Freilich ist es für Kant nicht die historische Person Jesu von Nazareth, dem diese Aussage – vielleicht sogar exklusiv – zukommt, sondern 1 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. von Rolf Schäfer, Bd.2. 2., aktual. Aufl. Berlin 2008 (De-Gruyter-Texte), 44. 2 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, 228. 3 Wenn Barth von Jesus Christus als Bild spricht, inkludiert das auch das „Urbild“ (KD III/1, 226–230). 4 Immanuel Kant, Vorlesungen über Metaphysik, Akademieausgabe XXVIII. 2,1, 577. 5 Oswald Bayer, Autorität und Kritik, Tübingen 1991, 75.

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er ist an der Idee des Urbildes im Blick auf die Moralität interessiert.6 Wenn Schleiermacher Christus ebenfalls als Urbild kennzeichnet, so sind zwei grundsätzliche und essentielle Differenzen zu Kant zu kennzeichnen. Einerseits „nimmt bereits der frühe Schleiermacher Abschied von einer moraltheologischen Fassung der Christologie.“7 Und andererseits betont Schleiermacher vehement die Geschichtlichkeit Jesu als Urbild: „das urbildliche musste in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zugleich das urbildliche in sich tragen.“8 Methodischer Ausgangspunkt Schleiermachers ist das menschliche Selbstbewusstsein als Ort der Frömmigkeit. Von dieser anthropologischen Grundkonstituente aus fragt Schleiermacher nach den spezifischen Inhalten christlicher Lehre – und die ist im Zentralbegriff der „Erlösung“ zu finden. Je stärker das Bewusstsein der eigenen Unseligkeit ist, und je klarer die Unfähigkeit vor Augen steht, dass die Sünde zu vermeiden oder zu beseitigen sei,9 um so deutlicher wird nach Schleiermacher der Stellenwert der Erlösung. Je stärker also die Notwendigkeit einer nicht-natürlichen Beendigung des sündigen Zustandes des Menschen ins Bewusstsein rückt, umso klarer wird der „Gehalt der Erlösung“ und „je größer der Antheil des Erlösers“.10 Schleiermacher kann die gesamte Christologie unter dem Oberbegriff der „Gesammtwirkung Christi“11 in der Vorstellung der Erlösung kulminieren lassen. Aber inwiefern ist Christus als Erlöser zu denken? Auch wenn Schleiermacher letztlich einen deutlich stärkeren Akzent auf das „Geschäft Christi“ und auf die Relevanz beim zu erlösenden und dann auch erlösten Menschen legt, so ist doch auch die Frage nach der Besonderheit der Person Jesu Christi entscheidend und muss zunächst geklärt werden. Und hier arbeitet Schleiermacher mit der Dialektik von Urbildlichkeit und Geschichtlichkeit Jesu Christi. Was macht Christus zum Urbild? Den Erlöser unterscheidet von allen anderen Menschen die „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“12. Dieses Vorhandensein des stetigen Gottesbewusstseins ist als „eigentliches Sein Gottes in ihm“13 6 Vgl. Jan Rohls, Mensch versus Gott – Die Entzauberung des christologischen Dogmas, in: Ludwig Mödl / Jan Rohls / Gunther Wenz (Hg.), Das Wesen des Christentums (Münchener Theologische Forschungen 1), Göttingen 2001, 231–257, 247: „Kant lag also nichts ferner, als das Urbild der moralisch vollkommenen Menschheit mit der Person Jesu von Nazareth zu identifizieren.“ 7 Jan Rohls, Vorbild, Urbild und Idee. Zur Christologie des 19. Jahrhunderts, in: Jörg Frey / Jan Rohls / Ruben Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie, Berlin 2003 (Theologische Bibliothek Töpelmann, 120), 219–241, 223. 8 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 41. 9 Vgl. a. a. O., 13. 10 A.a.O., 17. 11 A.a.O., 28. 12 A.a.O., 52. 13 Ebd.

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Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch

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zu verstehen. Das lässt sich auch hamartiologisch fassen, denn das in Christus vorhandene Gottesbewusstsein ist als Sündlosigkeit zu kennzeichnen, wohingegen die Sünde des Menschen im nicht vorhandenen oder nicht ausreichend starken Gottesbewusstsein besteht. Es ist also „die Urbildlichkeit nicht auf sämtliche Funktionen ausgedehnt, sondern auf die singuläre Kraft seines Gottesbewußtseins eingeschränkt“.14 Wichtig für Schleiermacher ist die Differenz zwischen Urbild und Vorbild. Ein Vorbild kann prinzipiell erreicht oder sogar überboten werden, während ein Urbild keineswegs komparatistisch verstanden werden kann. Anders gesagt: Jesus Christus alleine ist sündlos und das kann auch kein anderer Mensch aus sich heraus erreichen. Diskutiert wird aber dennoch, ob die Differenz zwischen Christus und den Menschen als qualitativ oder doch nur quantitativ zu verstehen ist, weil die Sündlosigkeit als ein in diesem Leben nicht zu erreichendes Ideal verstanden werden könnte. Der entscheidende Einwand gegen diese Anfrage ist, mit Rohls, in der Betonung der Geschichtlichkeit Jesu Christi zu sehen,15 die bei Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre besonders in den Fokus rückt. Aber man sollte hier nicht nur adversativ verfahren, weil die Dimension des Idealen als schöpfungsgemäße Bestimmung des Menschen im Urbild Christus durchaus angelegt ist. Dass sie vom (sündigen) Menschen nicht aus sich heraus erreicht werden kann, hindert nicht daran, das geschichtliche Urbild Christus auch als eschatologische Verheißung aller Menschen zu verstehen.

2.

Die Urbildlichkeit Jesu Christi als Schleiermachers Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre

Ohne Brüche und Entwicklungen in Schleiermachers Theologie ignorieren oder minimieren zu wollen, so ist es doch möglich, seine christologischen Reflexionen in lebenslanger Kontinuität zu sehen. In einem Brief an seinen Vater aus dem Jahre 1787 schreibt Schleiermacher in einer Glaubenskrise, dass er „Zweifel gegen die Versöhnungslehre und die Gottheit Christi“16 habe. Er wehrt sich in diesem Brief ausdrücklich dagegen, dass dies als Verleugnung Gottes anzusehen sei – vielmehr seien es produktive Zweifel, die ihn zu einer intensiven Arbeit an der Zwei-Naturen-Lehre herausforderten. Die Lehre vom Urbild Jesus Christus ist genau in diesem Zusammenhang zu verorten. 14 Maureen Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der 1. zur 2. Auflage der Glaubenslehre (Schleiermacher-Archiv 8), Berlin/New York 1990, 179. Vgl. auch Rohls, Vorbild, Urbild und Idee, 224f: „Die Urbildlichkeit der geschichtlichen Person Jesus besteht somit in ihrer Sündlosigkeit.“ 15 Vgl. Rohls, Vorbild, Urbild und Idee, 224. 16 Zitiert nach: Heinz Bolli (Hg.), Schleiermacher-Auswahl, München / Hamburg 1968, 267.

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Die zweite Auflage der Glaubenslehre zeigt, wie intensiv Schleiermacher die altkirchlichen, reformatorischen und teilweise auch altprotestantisch-orthodoxen christologischen Aussagen durchdacht hat. Sein Ausgangspunkt ist das christliche Selbstbewusstsein, seine Aufgabe die des Befragens altkirchlicher und anderer Terminologie auf ihre bleibende Relevanz hin. Intentional sieht er17 bei der Befragung der Zwei-Naturen-Lehre einerseits die soteriologische Grundausrichtung als entscheidend, weil keine isolierte ontologische Aussage intendiert war: Christus soll so beschrieben werden, „daß in dem neuen Gesammtleben eine Lebensgemeinschaft zwischen uns und ihm möglich sei“.18 Andererseits betont die Zwei-Naturen-Lehre zu Recht das Sein Gottes in Christus. Aber die Verwendung des Naturbegriffes ist für Schleiermacher theologisch problematisch. Erstens werde hier, weil „Natur der Inbegriff alles endlichen Seins“19 sei, ein Gattungsbegriff auf Gott angewendet, obwohl doch Gott jenseits jeglichen endlichen Seins stehe. Und zweitens ist „Natur“ nach Schleiermacher „Inbegriff von Handlungsweisen oder Gesezen“20 und impliziert von daher einen Gegensatz von Gott und Mensch in Christus.21 Deshalb kann er die Ausdrucksweise letztlich nur unfruchtbar nennen und verabschiedet sich von ihr. Zu fragen bleibt allerdings, ob Schleiermacher sich damit auch von der Sache der Zwei-Naturen-Lehre verabschiedet. Wilhelm Dilthey setzt darauf, wenn er behauptet: „Schleiermacher weist jede Gottmenschheit auch in spekulativer Form ab“22. Auch Falk Wagner tendiert in diese Richtung, wobei er weniger auf Schleiermachers Kritik an der Zwei-Naturen-Lehre als auf dessen Ansatz, die Urbildlichkeit Jesu Christi im stetigen Gottesbewusstsein zu sehen, abhebt: „Fällt nämlich das Sein Gottes in Christo mit seinem schlechthin kräftigen Gottesbewußtsein zusammen, so unterscheidet sich sein Gottesbewußtsein von dem des frommen Selbstbewußtseins allein dadurch, daß es ins Vortreffliche und Urbildliche gesteigert wird. Somit bleibt das Sein Gottes in Christo von der einseitigen Beziehung Christi zu Gott abhängig, so daß der Unterschied zwischen der begründenden Christologie und dem zu begründenden frommen Selbstbewußtsein auf die Differenz zwischen einem vollkommenen und einem unvollkommenen Gottesbewußtsein zusammenschrumpft.“23 Wagner wirft Schleier-

17 18 19 20 21 22

Ich beziehe mich hier vor allem auf § 96 der Glaubenslehre. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 61. A.a.O., 63. A.a.O., 64. Hierin sieht Schleiermacher auch spätere dyotheletistische Auffassungen präpariert. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, hg. v. Martin Redeker, Bd. 2, Berlin 1966, 544. Auch Paul Tillich, Systematische Theologie, Band 2, Stuttgart 1958, 162, spricht davon, dass Schleiermacher die Zwei-Naturen-Lehre „ersetzt“ habe „durch eine Lehre von einer göttlichmenschlichen Beziehung.“ 23 Falk Wagner, Theologie im Banne des religiös-frommen Selbstbewusstseins, in: Selge,

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macher letztlich eine Inkonsequenz vor. Er habe irgendwie die Sache der ZweiNaturen-Lehre beibehalten wollen, aber aufgrund seines Vorgehens vom Selbstbewusstsein aus sei letztlich die Besonderheit der Person Jesu nur in idealistischer Steigerung eines allgemeinen Humanum zu sehen. Ohne an dieser Stelle bereits zu fragen, ob Wagners Analyse ganz zutrifft, ist doch zwischen Dilthey und Wagner eine Differenz in der vermuteten Intention Schleiermachers zu sehen: Nach Dilthey will Schleiermacher die Zwei-Naturen-Lehre komplett verabschieden, nach Wagner möchte er das nicht (obwohl es in seinen Augen letztlich geschieht). Schleiermacher macht sich die Sache nicht leicht. Wer die Paragraphen 98 und 99 seiner Glaubenslehre aufmerksam liest, stellt fest, wie sehr er sich an den altkirchlichen und altprotestantischen Positionen abarbeitet und der Auffassung ist, eine Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre, die wesentliche Aporien klassischer Formulierungen umgeht, zu entwickeln. Er verzichtet dabei keineswegs vollständig auf die Verwendung des Naturbegriffs, lehnt sowohl doketische wie ebionitische Auffassungen kategorisch ab und akzeptiert eine Adoptionschristologie ebenfalls nicht. Stattdessen sucht Schleiermacher nach einer Möglichkeit, die aus seiner Sicht vorhandenen richtigen theologischen Erkenntnisse dessen, was der Ausdruck der „göttlichen Natur“ besagt, beizubehalten. Er spricht deshalb immer wieder vom „Sein Gottes in dem Erlöser“24. Es wäre eine Verkennung der Schleiermacherschen Argumentation, wollte man dieses göttliche Sein in Christus nur als Additiv zur menschlichen „Natur“ Jesu Christi verstehen. Vielmehr unterscheidet sich Christus wesentlich von allen anderen Menschen durch seine Urbildlichkeit, die wiederum in ihrer Sündlosigkeit besteht. Die Sünde ist bei Schleiermacher dabei nicht ontologisch zu fixieren, sondern ist relational zu verstehen. Dafür steht die Begrifflichkeit des „stetigen Gottesbewusstseins“ des sündlosen Christus. Deshalb ist es zu einfach, Schleiermachers Christologie nur als Überwindung der Zwei-Naturen-Lehre zu verstehen – ihm liegt an einer Interpretation derselben. Maureen Junker formuliert deshalb zu Recht: „Damit wird Christus statt als Spezialfall eines immer schon Gegebenen nunmehr als Vermittler einen unendlich Werdenden begreifbar: ein Einzelner, der Gottes tätiges Sein dadurch vermittelt, daß er es ungehemmt in sich tätig sein läßt.“25

Kurt-Victor (Hg.), Internationaler Schleiermacher Kongreß Berlin 1984 (SchleiermacherArchiv 1), Berlin / New York 1985, 923–944, 923f. 24 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 69. 25 Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins, 184. Jan Rohls formuliert auf derselben Linie, wenn Schleiermacher „das Urbild nicht als ein der Vernunft immanentes Ideal begreift, sondern als ein geschichtliches Einzelwesen“ ( Jan Rohls, Vorbild, Urbild und Idee, 224).

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3.

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Die Menschlichkeit des Menschen Jesus Christus als Bild Gottes und Urbild des Menschen – Karl Barths Lehre vom königlichen Menschen

Wie am Anfang schon angedeutet ist für Barth die Bezeichnung Jesu Christi als das Bild Gottes kennzeichnend. Doch findet sich bei ihm auch der für Schleiermacher typische Terminus „Urbild“. Barth verwendet ihn in seiner Interpretation von Genesis 1 zunächst allgemein: „Das in jenem Urbild nach diesem Vorbild geschaffene Wesen ist der Mensch.“26 Im weiteren Argumentationsverlauf wird dann deutlich, dass Barth das Urbild mit Jesus Christus identifiziert: „Der unsichtbare Gott selbst ist in ihm sichtbar geworden. Das Bild ist in ihm auf den Plan getreten, angesichts dessen die Frage nach dem Original schlechterdings und restlos beantwortet ist.“27 Mit dieser Aussage ist zunächst die für die Barthsche Theologie klassische Erkenntnis zu konnotieren, dass – wie es in der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung formuliert worden ist – „Jesus Christus das eine Wort Gottes ist“, das der Kirche verbindliche Gottesaussagen allererst ermöglicht. Die gesamte Gotteslehre Barths, wie sie vor allem in Band II der Kirchlichen Dogmatik zu finden ist, basiert deshalb darauf, dass alle Gottesprädikationen als göttliche Vollkommenheiten zu verstehen sind, die ihrerseits (nur) Explikationen der einen Offenbarung Gottes in Jesus Christus sind. Dass Gott der in Freiheit Liebende ist, ist an der Geschichte und der Person Jesu Christi abzulesen – und nirgends anders.28 Deshalb ist das „vere“ beim „vere deus“ des Chalcedonense für Barth auch entscheidend: „Gott ist, der er ist, in der Tat seiner Offenbarung.“29 Aber Jesus Christus ist für Barth nicht nur „vere deus“, sondern auch „vere homo“, wobei auch hier das „vere“ eine wichtige Funktion einnimmt, denn erst hier wird wirklich erkennbar, wer der Mensch in Wirklichkeit ist. In der Schöpfungslehre verdeutlicht Barth dies zunächst mit Hilfe des Naturbegriffs: „Wir sind der menschlichen Natur teilhaftig, weil und indem Jesus ihrer zuerst teilhaftig ist. Eben darum ist sie unsere Natur, ist sie uns unverlierbar und unveränderlich zu eigen, kann sie durch des Menschen Sünde zwar verstört und verkehrt, aber in aller Zerstörung und Verkehrung nicht aufgehoben und vernichtet werden.“30 Aufgrund der Tatsache, dass Gott selber in Jesus Christus Mensch geworden ist, ist nach Barth zu sehen, dass die Sünde nicht in der Lage 26 K. Barth, KD III/1, 206. 27 A.a.O., 227. 28 Eine vermeintliche Relativierung dieser „steilen“ Christologie findet auch in der sogenannten Lichterlehre in KD IV/3, 40–188, nicht statt, weil die dort genannten „Lichter“ nur Selbstexplikationen Jesu Christi sind. 29 K. Barth, KD II/1, 288. 30 K. Barth, KD III/2, 58.

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war, die menschliche Natur vollständig zu zerstören. Es gibt also eine ontologische Kontinuität des empirisch vorfindlichen Menschen mit der Schöpfung,31 die allerdings für Barth nur christologisch begründet werden kann: Die Inkarnation verdeutlicht nach Barth das „dass“ der christologischen Würdigung der Humanität. Die Frage aber, worin denn genau das „vere“ besteht, in dem sich der Mensch Jesus Christus von allen anderen Menschen unterscheidet, ist für Barth letztlich erst im Blick auf das Versöhnungsgeschehen aussagbar. Bekanntlich ist Barths Versöhnungslehre in der Kirchlichen Dogmatik in drei voneinander zu unterscheidenden Akzenten konzipiert (KD IV/1–3). Der erste Band reflektiert den Weg Gottes in die Fremde bis hin zum Tod am Kreuz. Interpretiert wird hier das „vere deus“, weil sich Gott gerade als der in die Fremde begebende, Gemeinschaft mit dem Menschen Suchende und Schaffende erweist: So zeigt Gott in Freiheit seine Liebe. Der dritte Band reflektiert Jesus Christus als den wahren Zeugen; er allein vermag in der Kraft des Heiligen Geistes den Menschen so zu erreichen, dass er dem Handeln und dem Weg Gottes glaubt. Der zweite Band und hier insbesondere § 64 („Die Erhöhung des Menschensohnes“) nimmt in versöhnungstheologischer Perspektive das „vere homo“ auf: Jesus Christus ist der königliche Mensch; aber das ist er nicht nur für sich, sondern die im Versöhnungsgeschehen einbezogenen Menschen sind – und hier greift die Dimension der Stellvertretung – in dieses Geschehen einbezogen. Wer also ist der wahre Mensch? Es ist der Mensch Jesus; „der königliche Mensch der neutestamentlichen Überlieferung ist ‚nach Gott‘ (κατὰ ϑεόν) geschaffen. Will sagen: er existiert als Mensch analog zur Existenzweise Gottes. Sein Denken und Wollen, sein Tun und seine Haltung geschehen in Entsprechung, bilden in der Geschöpfwelt eine Parallele zum Plan und zur Absicht, zum Werk und zum Verhalten Gottes. Er bildet Gott ab, er ist als Mensch seine ει᾿κών (Kol. 1,15).“32 Er ist der Gott ganz entsprechende Mensch – der Mensch Jesus lebt in Konformität „mit der Existenzweise und dem Verhalten Gottes“33 – und so kann Barth das Leben Jesu zusammenfassen: „In der Tat seines Lebens wurde […] seine Gottebenbildlichkeit wirklich und damit anschaulich und begreifbar.“34 Damit geht Barth über alle theologischen Engführungen hinaus, die das vor allem von den Synoptikern geschilderte Leben Jesu zwischen Geburt und Kreuzigung ausblenden und beispielsweise das „dass“ des Gekommenseins für ausreichend 31 Hier ist beispielsweise der niederländische Theologe Oepke Noordmans deutlich kritischer. Vgl. G. Plasger, Alltagserfahrung oder kritischer Begriff. Das Verständnis von Schöpfung bei den niederländischen Theologen H. M. Kuitert und O. Noordmans, in: Reformierte Kirchenzeitung 140 (1999), 216–222. 32 K. Barth, KD IV/2, 185f. 33 A.a.O., 191. 34 A.a.O., 214.

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halten. Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Bedeutung der Wunder Jesu ausdrücklich reflektiert wird. Gleichwohl geht Barth hier nicht den Weg der historischen Leben-Jesu-Forschung, weil ihm am Zeugnis der Evangelien gelegen ist, die ihren „Standort, von dem aus sie Jesus gesehen und von dem aus sie von ihm Kunde gegeben haben, […] jenseits der zeitlichen Grenze seines Lebens“35 haben. Deutlich wird in der gesamten Darstellung Barths die Inklusivität: Jesus Christus ist nicht allein dieser Mensch, sondern in ihm, in seinem Leben ist zu erkennen, wie der Mensch von Gott gedacht ist. Isoliert könnte dieser Gedanke als ethischer Impuls verstanden werden, wie Jesus werden zu wollen. Diese Vorstellung geht aber an Barth vorbei, weil ihm daran gelegen ist, den Standpunkt der sich mit Jesus Christus Identifizierenden vom Standpunkt der „nova creatio“ her zu sehen: Stellvertretend sind die Menschen in ihm der Sünde gestorben und als solche bereits in einer anderen Wirklichkeit als der rein empirischen lebend. Eine andere Wirklichkeit, die nach Barths Verständnis die eigentliche Wirklichkeit ist, bestimmt die Sicht auf die gesamte in Christus versöhnte Welt und damit auch auf den Menschen: Er ist in Christus bereits neue Schöpfung – freilich nur mit den Augen des Glaubens sichtbar und deswegen empirisch auch nicht verifizierbar. Gleichwohl hat diese Wahrnehmung des Menschen – und da von der Versöhnung der Welt auszugehen ist die Wahrnehmung jedes Menschen – auch ethische Implikationen.36

4.

Die Geschichte Jesu Christi als Barths Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre

Die Konzeption der Versöhnungslehre Karl Barths zeigt, dass er die Geschichte Jesu Christi als Erniedrigung Gottes und Erhöhung des Menschen konzipiert hat. Im Weg Jesu Christi ist zu erkennen, wer und wie Gott ist: In Jesus Christus ist Gott dem Menschen bis in die äußerste Tiefe solidarisch, weil er selber in Jesus Christus die Schuld des Menschen an der Menschen Statt übernahm. Aber ebenso ist im Weg Jesu Christi der Mensch zu erkennen, wie er von Gott gewollt und – de iure, nicht de facto37 – bereits ist: Der aufrecht gehende und vom Kreisen 35 A.a.O., 274. 36 Diese können aber an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden; vgl. aber zum Beispiel: Dominik Becker, Sein in der Begegnung. Menschen mit (Alzheimer-)Demenz als Herausforderung theologischer Anthropologie und Ethik, überarbeitet und hg. v. G. Plasger, Münster 2010, 117–277; Marco Hofheinz, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Münster 2008, 434–484. 37 Die von Barth immer wieder gebrauchte Begrifflichkeit „de iure – de facto“ ist nicht ganz unproblematisch. Wenn ich recht sehe, will er mit dem „de iure“ auf die von Gottes Seite aus

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Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch

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um sich selbst befreite und also gehorsame, Gott entsprechende Mensch. „Der Vorzug dieser Konzeption besteht darin, dass es Barth auf diese Weise gelingt, die traditionelle Weise der Zwei-Naturen-Lehre mit der Zwei-Stände-Lehre Jesu Christi („status exinanitionis“ und „status exaltationis“) zu vereinigen und die Versöhnung in geschichtlichen Kategorien zu denken.“38 Dabei versteht Barth beide Lehren als sich gegenseitig interpretierend. Das ist nötig, denn „eine selbständige Zweinaturenlehre – eine Lehre von Jesus Christus als Gott und als Mensch, die nicht mehr oder noch nicht das in ihm geschehene Tun Gottes gegenüber und mit dem Menschen zum Gegenstand hätte – kann es nach unserem Verständnis allerdings nicht geben.“39 Damit zeigt Barth, dass er einem isolierten Naturbegriff skeptisch gegenübersteht, weil hier „Natur“ als Gattungsbegriff und also dem konkreten Sein und Handeln Gottes und dem konkreten Sein und Handeln des Menschen übergeordnet verstanden werden kann und also als „Rahmen“, in den Gott und Mensch einzupassen wären.40 Auch ist beim Naturbegriff das Problem gegeben, dass er trinitarisch kaum zu denken ist. Bruce McCormack weist zu Recht darauf hin, dass Barth zwischen Person und Natur grundlegend differenziert: „Nicht die göttliche Natur (das allen drei göttlichen Personen Gemeinsame) wurde Mensch, sondern die zweite Person der Trinität.“41 Deshalb ist der Weg Jesu Christi als Geschichte des dreieinigen Gottes und Geschichte des Menschen zu sehen – substanzontologische Spekulationen können so vermieden werden.42

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längst geschehene Versöhnung hinweisen, beim „de facto“ verweist er auf die Sichtbarkeit – oder anders gesagt: „de iure“ bezieht sich auf das „Glauben“, „de facto“ auf das „Schauen“. Die Frage ist: Gibt er, wenn er „de facto“ auf die „empirische Realität“ bezieht, dieser nicht begrifflich einen Anstrich von „Realität“, die er theologisch sonst eher ablehnt? Ingolf U. Dalferth (Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, in: Evangelische Theologie, 46 [1986], 402–422, 410) nennt Barths Realismus-Konzept, das konträr zu landläufigen Wirklichkeitsempfindungen steht, ein „Attentat auf (nicht nur) unser neuzeitliches Wirklichkeitsbewußtsein“. Yong Sun Kim, Theodizee als Problem der Theologie und der Philosophie. Zur Frage nach dem Leiden und dem Bösen im Blick auf den allmächtigen und gütigen Gott, Münster 2002, 159. K. Barth, KD IV/1, 146. Es ist hier nicht der Ort, um auf die Diskussion der Verhältnisbestimmung zwischen dem Versöhnungsgeschehen und der Zwei-Naturen-Lehre in der Theologie Barths einzugehen; vgl. dazu etwa Bertold Klappert, Gott in Christus – Versöhner der Welt. Die Christologie Karl Barths als Anfrage an die Christologie der Gegenwart, in: ders., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen 1994, 141–165 und die dort angeführte Literatur. Bruce L. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, Zürich 2006, 308. Vgl. dazu auch Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 153–159.

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Ohne damit die gesamte Intention Barths aufzuzeigen können wir also festhalten, dass Barth in seiner Versöhnungslehre die Zwei-Naturen-Lehre interpretiert. Die Dimensionen von Anhypostasie und Enhypostasie sind notwendig, um Gott und den Menschen zu verstehen – und wiederum: beide Begriffe sind ihrerseits nur als Ausdruck der im Weg Jesu Christi vorhandenen und also geschichtlichen Relationalität von Gott und Mensch zu erkennen:43 Gott kann nicht ohne seinen Weg zum Menschen verstanden werden und der Mensch nicht ohne seine (in der Versöhnung, aber auch in der Schöpfung existierenden) in Jesus Christus bestehende ontologische Gottesrelation – Eberhard Jüngel weist zu Recht darauf hin, dass En- und Anhypostasie als zwei verschiedene und aufeinander bezogene Relationen zu verstehen sind.44 Wer also ist der Mensch? Der Mensch ist als versöhnter Mensch „zwar nicht Gott oder wie Gott, aber zu Gott erhöht, an seine Seite, nicht in eine Identität, wohl aber in wahre Gemeinschaft mit ihm versetzt und in dieser Erhöhung und Gemeinschaft ein neuer Mensch“.45 Denn der Mensch hat den Weg Gottes in Jesus Christus, hat die Versöhnung Jesu Christi nicht nur als für sich geschehen zu verstehen, sondern darf sich auch selbst in ihm verstehen: „In ihm [sc. Jesus Christus] wird der Mensch zum neuen, mit Gott versöhnten Menschen.“46 Die ganze Dimension der Stellvertretung ist also nach Barth nicht allein als Rechtfertigungsgeschehen im engeren Sinne, d. h. als „fröhlicher Wechsel“ (M. Luther) zu verstehen: als Sünder bin ich mit Christus gekreuzigt worden. Vielmehr kann sich der Mensch integral in Jesu Christi wahrem Menschsein sehen: Wer ich wirklich bin, ist dort zu sehen – und nicht, indem ich mich mit empirischen oder anderen Mitteln zu beschreiben oder erkennen versuche. Der versöhnte Mensch ist die Wirklichkeit, von der aus jeder Mensch sich und andere sehen darf. Dass von der Wahrnehmung dieser (geglaubten) Identität die Differenz zur Wahrnehmung meiner empirisch gestützten Identität deutlich wird, steht auf einem anderen Blatt, welches die Überschrift „Sünde“ trägt – diese aber ist nach Barth nur im Horizont der Wirklichkeit des neuen Menschen zu verstehen.

43 Vgl. Eberhard Jüngel, Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes, in: ders., Unterwegs zur Sache, Tübingen ³2000, 126–144. 44 Vgl. a. a. O., 137. In dieser doppelten Linie ist bereits Johannes Calvins Vorstellung vom Ineinander von Gottes- und Menschenerkenntnis zu sehen. 45 K. Barth, KD IV/2, 4. 46 A.a.O., 19.

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Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch

5.

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Barths und Schleiermachers Intention, die Zwei-Naturen-Lehre zu interpretieren

Ohne die fundamentalen Unterschiede beider Entwürfe zu nivellieren ist doch festzustellen, dass sowohl Schleiermachers Urbildchristologie als auch Barths Verständnis von Jesus Christus als Abbild Gottes und Urbild des Menschen dahingehend zu verstehen sind, dass ihre Intention nicht die Ablehnung, sondern die einer Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre ist. Ob es ihnen freilich gelungen ist, diese nur zu interpretieren und nicht zu eliminieren, ist zu diskutieren. Der Barth nahestehende Hans-Joachim Iwand zeigt 1959 nach der Lektüre von Barths christologischem Ansatz in KD IV/2 eine gewisse Unsicherheit und schreibt in einem Brief an Karl Gerhard Steck: Mich bewegt freilich neben manchem anderen vor allem die Frage, ob es ihm wirklich gelungen ist, die Zwei-Naturen-Lehre wieder in der Theologie, freilich nun in seiner neuen Weise, zu verankern. … Und zuweilen entdecke ich mich dabei, daß mir der Schleiermachersche Ansatz, der sich eben als Wirkung und Fortsetzung versteht, näher zu liegen scheint – obschon ich ihn nicht mag! – als die Lehre vom Gottmenschen.47

Ich möchte im Folgenden versuchen, einige Hinweise zur Erhellung der Differenz zwischen Barths und Schleiermachers christologischen Überlegungen zu geben. Insbesondere die Lektüre Schleiermachers steht dabei unter dem von Barth selbst mitgeteilten Vorbehalt, ob er „nicht vielleicht anders verstanden werden“48 müsste.

5.1

Geschichte – Schöpfer- oder Schöpfungsdimension?

Es ist deutlich, dass Barth vehement und in den Augen mancher Kritiker geradezu anthropomorph von Gottes Handeln und Gottes Geschichte reden kann. Dabei ist die Geschichte Gottes nach Barth nicht mit der Geschichte der Schöpfung zu identifizieren, sondern ist ihr vor-, über- und nachgeordnet. Die Geschichte und also das Handeln Gottes ermöglicht die Geschichte der Schöpfung, begleitet und versöhnt die Schöpfung in der Geschichte und ist auch „nach“ dem Ende der Schöpfung und mit ihr der Zeit entscheidende christliche Hoff47 Zitiert nach: Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biographie, Gütersloh 1999, 572. Diese Anfrage überrascht denjenigen, der Iwands Christologie-Vorlesungen (Hans Joachim Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, Gütersloh 1999) kennt. Denn Iwand hatte dort (vgl. etwa a. a. O., 175–182. 225. 444) in kritischer Auseinandersetzung mit Schleiermachers Ansatz eine im Blick auf den wahren Menschen ähnliche christologische Grundentscheidung wie Barth getroffen. Aufgrund des letztlich kryptisch bleibenden Briefzitates bleiben alle Antworten hier spekulativ. 48 Karl Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, 290–312, 307.

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nung. Diese Geschichte ist nach Barth als im Weg Jesu Christi sich ereignende und zu erkennende Bundesgeschichte zu charakterisieren, in der Gott sich seiner Schöpfung liebend zuwendet und sich mit ihr verbindet, ja sogar in sie eingeht. Für Schleiermacher hingegen ist Geschichte eine Schöpfungs- und keine Schöpferdimension. In seiner Glaubenslehre vermeidet er konsequent die Rede vom Handeln Gottes und spricht bei den göttlichen Eigenschaften vor allem von Ewigkeit, Allgegenwart, Allmacht und Allwissenheit. Er sieht die Gefahr, dass in der Dogmatik nicht zu abstrakt, sondern zu konkret von Gott geredet wird. In der ersten Auflage der Glaubenslehre meldet er, „wie schwer es ist, diese Vorstellung zu vermeiden, wenn man nicht ein zeitliches Handeln Gottes annehmen will“.49 Jørgensen schreibt deshalb – unter teilweiser Berufung auf Barth – zu Recht, dass Schleiermacher „nicht ein besonderes geschichtliches Handeln Gottes in Christus annehmen kann, sondern die Präsenz Gottes in der Geschichte Jesu auf dieselbe Weise verstanden haben will wie seine Präsenz in der Geschichte überhaupt“.50 Es ist deshalb konsequent, wenn Schleiermacher vom Prozess der Bewusstwerdung der völligen Gottesabhängigkeit und Sündlosigkeit bei Jesus spricht. Für Schleiermacher gibt es also nur eine einzige Geschichte: Die Geschichte dieser Welt.51 Bei Barth hingegen ist sowohl von der Geschichte Gottes wie von der Geschichte dieser Welt zu reden.

5.2

Immanente und / oder ökonomische Trinität?

Die sich von dorther stellende Frage ist die nach dem Sein und Wesen Gottes. Schleiermacher hat, das ist in der Glaubenslehre zu sehen, Mühe mit der kirchlichen Trinitätslehre. Er will sie nicht verabschieden, doch fragt er sich, ob nicht die sabellianische Argumentation ebenfalls, wie die athanasianische, in der Lage sei, die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur auszusagen. Ein Vorteil dabei sei nämlich, dass man keine „Veränderlichkeit in das höchste Wesen“52 einzeichnen müsse. Schleiermachers sabellianische Tendenzen53 werden hier deutlich, weil er allenfalls an einer ökonomischen, nicht aber an einer immanenten Trinitätslehre wirklich interessiert ist. Bei Barth sieht das be49 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821/22, hg. v. Hermann Peiter, Band I, Berlin 1984, 146. 50 Theodor H. Jørgensen, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher (Beiträge zur historischen Theologie 53), Tübingen 1977, 318. 51 Vgl. dazu Michael Roth, Gott im Widerspruch? Möglichkeiten und Grenzen der theologischen Apologetik, Berlin 2002, 53–57. 52 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 532. 53 Vgl. a. a. O., 72. Auch Christoph E. Luthardt, Kompendium der Dogmatik, Leipzig 41873, 93, versteht Schleiermachers Trinitätsauffassung als sabellianisch.

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Jesus Christus als Urbild des Menschen und wahrer Mensch

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kanntlich anders aus. Er stellt die Trinitätslehre nicht an den Schluss, sondern an den Anfang seiner Dogmatik und behauptet so ihre profunde Rolle. Barths gesamte Christologie kann auch als Fanal verstanden werden, immanente und ökonomische Trinitätslehre als unabdingbar aufeinander bezogen zu sehen, denn die Offenbarung ist als Selbstinterpretation Gottes die „Wurzel der Trinitätslehre“54. Gottes Offenbarung in Jesus Christus ist Selbstoffenbarung Gottes.

5.3

Gehört die Sünde zum Wesen des Menschen? Folgerungen aus dem Verständnis der Stellvertretung

Aus dieser Differenz folgen grundlegende Unterschiede in der Vorstellung des Menschen. Bei Schleiermacher zielt seine ganze Theologie auf die Vervollkommnung der Welt und darin auch die Vervollkommnung des Menschen. Ein heiler Urzustand des Menschen oder der Welt ist für Schleiermacher nicht denkbar, vielmehr ist das Ziel die Überwindung der Sünde durch Erlösung, d. h. in der Anteilhabe an der Sündlosigkeit Christi, die in einem vollkommenen Gottesbewusstsein besteht. Je stärker die Empfindung der Erlösungsbedürftigkeit und also das Bewusstsein der eigenen Sünde ist, um so höher steigt der Stellenwert der Erlösung. Der Mensch wird also zunächst als Sünder wahrgenommen, dem in der Anteilhabe an der Erlösung die Sünde vergeben wird. Der Mensch ist primär als Sünder anzusehen, nach Michael Roth ist für Schleiermacher sogar „die Sündlichkeit die Heimatstätte des Menschen, […] das schöpfungsmäßige Sein des Menschen.“55 Bei Barth hingegen ist aufgrund seiner christologischen Anthropologie deutlich, dass der sündige Mensch der defizitäre und nicht der eigentliche Mensch ist. Barth traktiert konsequenterweise die Abschnitte zur Sünde deshalb auch immer erst im Anschluss an die Behandlung des neuen Seins des Menschen. Dass der Mensch Sünder ist, kann natürlich auch Barth sagen. Aber das ist nicht der Ausgangspunkt. Gott hat den Menschen gut geschaffen und die Sünde ist „dazwischen“ gekommen. Diese Sichtweise setzt den Grundansatz der Stellvertretung konsequent um und bezieht ihn nicht allein auf die Sündenübertragung, sondern auf das ganze menschliche Sein: Jesus Christus ist nicht nur am Kreuz Stellvertreter gewesen, indem er die Sünde des Menschen stellvertretend getragen hat. Barth stimmt dem zu, weitet aber diese Ebene auf den ganzen Jesus Christus und also den ganzen 54 Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986, 27. 55 Roth, Gott im Widerspruch?, 29. Er folgert – etwas überscharf – daraus, dass bei Schleiermacher Gott selber als „Ursprung der Sünde“ (a. a. O., 30) anzusehen sei.

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Menschen aus. Das ermöglicht ihm, wie Wolf Krötke treffend bemerkt hat, die synoptische Wahrnehmung Jesu Christi ernst- und aufzunehmen, wobei er „christologisch von der paulinischen-johanneischen Perspektive her“56 kommt. Jesus Christus ist der wahre Mensch, und in ihm können sich die Christen schon jetzt als in dieses wahre Menschsein hineingenommen verstehen und erkennen. Auch Schleiermacher hat die Dimension der Stellvertretung aufgenommen – im leidenden Christus.57 Dieser zeigt einerseits Empathie, andererseits „lässt er sich von den anderen Sünden so treffen, als sei er selbst der Schuldner.“58 Schleiermachers Stellvertretungsverständnis bedeutet also nicht, dass das Leiden Christi den Christen das Leiden oder die Sünde abnehme. Die gänzliche „Überwindung der Sünde in dem menschlichen Gesamtleben durch Leiden“59 bleibt den Christen nicht erspart. Stellvertretung heißt also bei Schleiermacher nicht Ersetzung, sondern Ermöglichung und Befähigung, der Sünde zu begegnen.60 Deshalb formuliert er: „Da nun das Einzelleben eines jeden in dem Bewusstsein der Sünde und der Unvollkommenheit verläuft: so können wir uns in der Gemeinschaft des Erlösers nur finden, sofern wir unseres Einzellebens nicht bewusst sind, sondern wie Er uns die Impulse giebt, wir das, wovon in ihm alles ausgeht, auch als die Quelle unserer Tätigkeit finden.“61 Schleiermacher vertritt also nicht bloß eine Vorbildchristologie. Vielmehr hilft uns Christus bei der Erlösung, indem er uns unserer schlechthinnigen Abhängigkeit bewusst macht: Er bewirkt das rechte Bewusstsein, die rechte Einstellung. Aber es ist doch zu fragen, ob ausgehend von dieser Vorstellung der Stellvertretung nicht eine gerade Bahn hin zur Vorbildchristologie und also zu einer ethischen Christologie verläuft. Denn wenn Schleiermacher von „Gott in Christus“ spricht, so meint das eben doch nur begrenzt ein Gegenüber. Hans-Joachim Iwand folgert sehr scharf:

56 Wolf Krötke, Die Christologie Karl Barths als Beispiel für den Vollzug seiner Exegese, in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie (unio und confessio 26), Bielefeld 2009, 179–202, 191. Nach Krötke (a. a. O., 190) ist die Darstellung des königlichen Menschen Jesus bei Barth sogar als Entfaltung der synoptischen Fragestellung zu verstehen. 57 Vgl. Karlheinz Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Freiburg 1991. 58 Hans-Friedrich Daub, Die Stellvertretung Jesu Christi. Ein Aspekt des Gott-Mensch-Verhältnisses bei Dietrich Bonhoeffer, Münster 2006, 498. 59 Menke, Stellvertretung, 498. 60 Menke bemerkt richtig, dass sich Schleiermacher in der ersten Auflage der Glaubenslehre in dieser Hinsicht schärfer ausdrückt. Ob es dort nur „ungeschützter“ (a. a. O., 123) gesagt ist oder ob sich nicht doch eine vorsichtige Entwicklung bei Schleiermacher andeutet (worauf Menke nicht eingeht), muss hier offen bleiben. 61 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 105.

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Schleiermacher hat dieser idealistischen Epoche dadurch klassischen Ausdruck gegeben, daß er Christus das Urbild nennt. Denn es geht in dieser ganzen Richtung, die auf die Aufklärung folgte, um das Bild des Menschen und seine Verwirklichung. Das Bild als solches tragen wir in uns, aber seine Verwirklichung erfolgt außer uns und doch in unserer Geschichte. Das ist der ethische Ansatz.62

Kritisch sieht Iwand vor allem, dass die Grenze zwischen Christus und den Christen bei Schleiermacher fließend verläuft: Auch Schleiermacher hatte ja Jesus den urbildlichen Menschen genannt und hatte den Geschichtszusammenhang mit diesem einen Menschen als erlösend angesehen. Aber er kannte auch eine Gottesbeziehung des Menschen auf Grund des Existenzverhältnisses, das dieser in sich selbst trägt. Er kannte die Dialektik zwischen Adam und Christus. Christus ist für ihn der Mittelpunkt der neuen Menschheit. Ihr steht die gefallene Menschheit gegenüber, deren Gottesbewusstsein gehemmt ist. Dieses Gegenüber wird bei Barth aufgehoben. Der Mensch Jesus ist – sofern er als der Mensch gilt, in dem Gott Mensch geworden ist – der Anfang und das Ende, das A und das O. Die Menschheit hat nur einen Mittelpunkt, es gibt in Wahrheit nur einen Menschen, der wirklich der Mensch ist, das ist Jesus von Nazareth.63

5.4

Jesus Christus – Urbild des Menschen oder wahrer Mensch?

Beide, Schleiermacher und Barth, interpretieren die Zwei-Naturen-Lehre neu. Zu fragen ist am Ende, ob beider Weg wirklich „nur“ als Interpretation oder letztlich doch als Auflösung der Zwei-Naturen-Lehre zu verstehen ist. Schleiermacher wollte, wie oben herausgestellt, die grundlegenden Erkenntnisse beibehalten. Aber es bleibt doch zu fragen, ob bei ihm nicht zu viel an Substanz auf der Strecke bleibt. Denn die Beseitigung aller geschichtlichen Kategorien im Hinblick auf Gott selber und die strikte Ablehnung der Vorstellung von En- und Anhypostasie64 – weil das Menschsein Jesu alleiniger Maßstab für Schleiermachers christologische Reflexionen ist – zwingen ihn letztlich dazu, die menschliche Erfahrung als Maßstab für das Gottes- und Christusverständnis zu sehen. Diese Erfahrung ist im Bewusstsein der Sündigkeit zu verankern. Schleiermacher kann deshalb die Dimension des „vere deus“ in Christus nicht denken und löst damit letztlich doch die Zwei-Naturen-Lehre auf. Hermann Fischer urteilt trotz großer 62 Hans Joachim Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, hg. v. Eberhard Lempp (Nachgelassene Werke Neue Folge Bd. 2), Gütersloh 1988, 288. 63 Iwand, Christologie, 279. 64 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 162. Hier nicht untersucht aber auch noch zu erwähnen ist Schleiermachers Relativierung der Relevanz der Auferstehung, die ihm nur als „Thatsache“ Bedeutung und darum Nebenschauplatz zu sein scheint.

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Sympathie für Schleiermachers Christologie – er sieht in ihr einen „ausgesprochenen neuzeitlichen Zuschnitt“ – im Blick auf seine Würdigung der historischen christologischen Aussagen kritisch: „Letztlich werden die historischen Fragestellungen […] aus systematisch-theologischen Gründen in unzulässiger Weise verkürzt.“65 Die altkirchliche und orthodoxe Vorstellung von der An- und Enhypostasie hat das Ziel, zwei christologische Momente zu betonen. Die Lehre von der Anhypostasie betont, dass vom Menschen Jesus nichts anderes gesagt werden kann, als dass er ganz Gott war – die menschliche Natur Jesu ist losgelöst davon nicht zu denken. Und die Lehre von der Enhypostasie betont, dass Gott ganz Mensch geworden ist und wehrt damit doketische Denkstrukturen ab. Es ist möglich, in den Formulierungen des frühen Barth66 hier die von Otto Weber angedeutete Gefahr zu wittern, dass versucht wird, „von allgemeinen Seinskategorien her das schlechthin Besondere der Person Jesu Christi zu erfassen.“67 Aber auch beim frühen Barth ist bereits der Ausgangspunkt das Ereignis der Menschwerdung Gottes.68 Und noch stärker zeigt sich der die Versöhnungslehre bedenkende spätere Barth in der Ablehnung jeglicher geschichtsloser Wahrheit. Denn gerade Gottes Weg mit dem Menschen und des Menschen Weg mit Gott findet in der Geschichte Jesu Christi statt. Damit gelingt es Barth besser als Schleiermacher, in seiner Interpretation der Zwei-Naturen-Lehre biblische Vorgaben und die Dynamik der göttlichen Geschichte aufzunehmen. Gerade in seinem Weg in die Tiefe und in die Höhe ist Christus „vere deus et vere homo“. Barth denkt der Geschichte Gottes in Christus nach und versucht nicht, mit eigenen Kategorien Gottes Handeln zu begrenzen. „Die Humanität Jesu ist nicht nur die Wiederholung und Nachbildung seiner Divinität, nicht nur die des ihn regierenden Willens Gottes, sondern die Wiederholung und Nachbildung Gottes selber: nicht mehr und nicht weniger. Sie ist das Bild Gottes, die imago Dei.“69

65 66 67 68

Hermann Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001, 115. Vor allem ist an KD I/2, 178–180 zu denken. Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2, Neukirchen 51977, 143. Die mit der Lehre von der Anhypostasie verbundene Rede vom „logos asarkos“ ist deshalb sowohl unentbehrlich als auch problematischer Grenzbegriff. Vgl. Georg Plasger, Art. Präexistenz Christi, in: RGG4, Bd. VI, 1538–1541. 69 K. Barth, KD III/2, 261.

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Jürgen Boomgaarden

„Eine Theologie vom Menschen aus ist an sich nichts Unmögliches“: Anthropologische Grundeinsichten Schleiermachers und Barths im kritischen Dialog

1.

Triumph des Menschen oder der Gnade?

In seiner Vorlesung über die Theologie Schleiermachers im Wintersemester 1923/24 gibt Barth als kritische Würdigung seines Vorlesungsgegenstandes zu bedenken: Eine Theologie vom Menschen aus ist an sich nichts Unmögliches, wenn auch die Aufgabe einer christlichen Theologie damit noch nicht erreicht wäre. Aber sie müßte auf alle Fälle die Geschichte der ‚Krankheit zum Tode‘ sein, an der der Mensch in bezug auf Gott leidet.1

Nicht in einer generellen Anthropozentrik, sondern in der fehlenden Reflexion des von Kierkegaard angemahnten, vom Menschen nicht zu heilenden Sündenschadens liegt für Barth ein wesentlicher Mangel der Theologie Schleiermachers. Schleiermacher stimme ein „Triumphlied des Menschen“ an, wenn dieser meine „seine mystische Vereinigung mit Gott und seine Kulturtätigkeit gleichzeitig feiern“ zu können.2 Ironischerweise ist aus heutiger Sicht der Begriff des Triumphes in der neueren Theologiegeschichte mit der Theologie Karl Barths verknüpft. Gerrit Cornelis Berkouwers Buch Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths, 1954 auf Niederländisch und 1957 auf Deutsch erschienen, hat schon im Titel prägnant ein mit Unbehagen gemischtes Gefühl der Bewunderung artikuliert, das auch in der nachfolgenden Rezeption der Theologie Barths immer wieder zu spüren ist. Barth selbst hat Berkouwers Einwände in seiner Kirchlichen Dogmatik ausführlich dargestellt: Es erweise sich ja bei mir die Gnade und ihr Triumph als eine schon in Gott selbst […] bereits gefallene Entscheidung, von der her sich dann mit allem Geschehen in der 1 Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923–24, hg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 410. Hervorhebungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Autor des Zitats. 2 Ebd.

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Jürgen Boomgaarden

Geschöpfwelt und also in der Zeit auch jene Auseinandersetzung nur eben unaufhaltsam, gefahrlos, im letzten tief unproblematisch abwickeln, vielleicht nur wie ein aufgezogenes Uhrwerk abspielen könne. Die Möglichkeit dazu hätte ich mir nach Berkouwer auf eine sehr eigentümliche Weise verschafft – indem ich nämlich das Böse […] als ‚unmögliche Möglichkeit‘ bzw. als ‚ontologische Unmöglichkeit‘ bezeichnet und beschrieben [habe].3

So setzt sich der gegen Schleiermacher vorgebrachte Einwand Barths gegen ihn selbst fort. Nicht nur der Triumph des Menschen, sondern auch ein von Anfang an als überlegener Sieger dargestellter Jesus Christus scheint eine sachgerechte Darstellung der Sünde unmöglich zu machen. Wird Kierkegaards Rede von der heillosen Krankheit zum Tode zu einer Krankheit zum Tode Jesu Christi umgebogen, in der jene in der Sünde wurzelnde Verzweiflungskrankheit immer schon zur Heilung bestimmt, ja diese schon vollzogen ist? Damit ist zugleich das Problem der Geschichte berührt. In der Perspektive Barths überhöht Schleiermacher den Menschen in seiner eigenen Geschichte und vergisst die „Geschichte der ‚Krankheit zum Tode‘“, die ihn an Kreuz und Auferstehung Jesu Christi weist. Doch auch Barth verfehlt nach Berkouwer den Menschen in seiner Geschichte, wenn er diese angesichts der schon vollbrachten Gottestat wie ein ‚aufgezogenes Uhrwerk‘ abspielen lässt. Die Frage nach der Geschichte des Menschen wird sich als ein entscheidendes Differenzkriterium zwischen der Anthropologie Schleiermachers und Barths herausstellen. Um das Verständnis des Menschen bei beiden Theologen würdigen zu können, ist zuerst auf die jeweiligen anthropologischen Grundbestimmungen und ihre Stellung im dogmatischen Zusammenhang einzugehen. Schleiermachers anthropologischer Ansatzpunkt ist das Verlangen des Menschen nach Gemeinschaft mit Gott.4 Es macht den Menschen erst zu einem solchen. Seine Empfänglichkeit, sich durch das Bewusstsein Gottes bestimmen zu lassen, ist schon auf eine Mitteilung Gottes an den Menschen zurückzuführen, auf einen „schöpferischen Act“, durch den die „Leidentlichkeit“ der menschlichen Natur „in personbildende Selbstthätigkeit verwandelt wurde“.5 In diesem Sinne wäre die Anthropologie der Schöpfungslehre zuzuordnen, die Personalität aus einem schöpferischen Akt Gottes verstanden, auch wenn der so geschaffene 3 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik [=KD], Zürich 1932ff, Bd. IV/3.1, 199. 4 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage 1830/31 [=CG], hg.v. R. Schäfer (KGA I/13), Berlin / New York 2003, Teilband II, 190, Zeile 17 – 21. 5 CG, II, 191,6 – 11. Diese Verwandlung gehört für Schleiermacher nicht einem vergangenen Zustand der Welt an, sondern ist in jedem Moment gegeben. Er grenzt sich in seinen Lehrstücken von der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt und des Menschen von dem Missverständnis einer im historischen Sinne ursprünglichen Schöpfung ab und versteht die ursprüngliche Vollkommenheit „für jeden gegebenen Moment […] in dem, was ihm als reine endliche Ursächlichkeit zum Grunde liegt“ (CG, I, 359,29ff).

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„Eine Theologie vom Menschen aus ist an sich nichts Unmögliches“

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Mensch seine ihm gemäße Natur noch nicht erreicht hat. Erst wo er die seiner Natur entgegengesetzte göttliche Gnade empfängt, ist durch diese seine menschliche Natur in ihrer eigentlichen Bestimmung konstituiert. Der Mensch ist in seiner Natur auf das nicht in ihr liegende Gottesbewusstsein angewiesen, das er nur durch die Selbstmitteilung Jesu Christi erlangen kann. Wenn die ursprüngliche göttliche Mitteilung an den Menschen durch das Christusereignis zur bestimmenden Kraft erhoben wird, ist sie für die menschliche Natur konstitutiv. Schleiermacher hat in der Bestimmung des Menschen Schöpfungslehre und Christologie miteinander verbunden. Die berühmten Ausführungen zum schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl am Anfang von Schleiermachers Glaubenslehre arbeiten die Struktur heraus, in welcher der Mensch als Geschöpf und Christ zu Gott steht. Sie sind also keine Schöpfungslehre des Menschen, auf die dann durch das Christusereignis eine Neubestimmung des Menschen folgt, sondern beschreiben die bleibende Struktur des Menschseins, die als solche erst in der Beziehung auf Christus hervortritt. Weil der Mensch erst im Glauben an Christus ein angemessenes Bewusstsein Gottes hat, findet allein in ihm das Menschsein seine Erfüllung. Das Menschsein des Menschen vor der Berührung mit dem Christusereignis wird von einem kaum bewussten Verlangen nach der Gemeinschaft mit Gott getragen. Das sich darin schon ausdrückende Abhängigkeitsgefühl kennzeichnet den Menschen als extra se, weil es genauer gesagt als „Vorgefühl“ auf eine „von anderwärts her kommende Aufregung“,6 wie sie sich dann in der Selbstmitteilung Christi vollzieht, hinweist und auf sie angewiesen ist. So ist der auch außerhalb der Selbstmitteilung Christi stehende Mensch in seinem Menschsein doch schon ‚bewusst-unbewusst‘ von Christus bestimmt. Schleiermachers Anthropologie ist auch in ihren schöpfungstheologischen Implikationen konsequent christologisch ausgerichtet. Sie kann es gar nicht anders sein, weil in der urbildlichen ‚Kräftigkeit des Gottesbewusstseins‘ Jesu Christi sich „der Begriff des Menschen als Subject des Gottesbewußtseins vollendet“.7 Eine Verortung der Anthropologie im Horizont von Schöpfungslehre und Christologie hat auch Barth vorgenommen. Zwar ist seine Anthropologie ausdrücklich in der Schöpfungslehre niedergelegt, aber ihre Begründung findet die Bestimmung des Menschen allein in der Christologie.8 Diese christologisch be6 CG, II, 190,28f. 7 CG, II, 47,1f. 8 KD III/2, 50. So kommt dem Offenbarungsgeschehen bei Barth eine ähnliche Begründungsfunktion für die Bestimmung des Menschen zu, wie sie von Schleiermacher dem menschlichen Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit zugeschrieben wird, jener „Grundbeziehung […], welche alle anderen in sich schließen muß“ (CG, I,40,7f). Ihr Quellcharakter wird bei Schleiermacher und Barth daran deutlich, dass es neben der Offenbarung keines zusätzlichen Wissens um Gott bedarf. Barth sieht den Menschen in der Kirche schon in die sich vollziehende

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Jürgen Boomgaarden

stimmte Schöpfungslehre des Menschen führt zu einer Anthropologie, die nach dem sich auch trotz der Sünde durchhaltenden Kontinuum des Menschseins fragt. Wir haben also die theologische Frage nach der menschlichen Natur folgendermaßen zu stellen: Welches ist des Menschen geschöpfliches Wesen, sofern wie in diesem – im Blick auf Gottes offenbare Gnade und konkret im Blick auf den Menschen Jesus – ein auch der Sünde gegenüber durchhaltendes Kontinuum, ein auch durch die Sünde unverändertes und unveränderliches Wesen zu erkennen haben? 9

Hat Schleiermacher das Problem, wie ein vom Christusereignis nicht berührter Mensch dennoch kontinuierlich von ihm bestimmt sein kann, durch die Einführung eines mehr oder weniger ‚unbewussten Verlangens‘ gelöst, so geht Barth das Problem durch eine besondere Verortung des Menschseins an. Die menschliche Natur ist zuerst die Natur Jesu Christi. „Sie ist urbildlich in ihm, sie ist nur abbildlich auch in uns verwirklicht.“10 Die Begründung der urbildlichen Würde Jesu liegt ähnlich wie bei Schleiermacher in Jesu unvergleichlichem Verhältnis zu Gott. Aber dieses besondere Gottesverhältnis Jesu beläuft sich nicht auf ein bloßes Bewusstsein Gottes, sondern besteht in dem „seiner Erwählung entsprechenden Werk seines Lebens, Sterbens und Auferstehens“.11 Die darin dem Menschen zugewendete Gottesgnade macht das Menschsein aus. Dass die Gottesgnade das Menschsein konstituiert, würde auch Schleiermacher sagen, doch mit einer Einschränkung versehen: Die Konstituierung der menschlichen Natur durch die göttliche Mitteilung geschieht nicht „an und für sich sondern nur sofern sie [sc. die göttliche Mitteilung] zur bestimmenden Kraft erhoben wird“.12 Eine solche Einschränkung kann es bei Barth nicht geben, weil das geschichtliche Werk Jesu selbst geschichtsübergreifend bestimmt ist. Nicht nur in der uns offenbaren geschichtlichen Zeit Jesu, sondern auch schon in der „Ewigkeit jenes göttlichen Ratschlusses, der der Sinn und Grund der ganzen Schöpfung ist“,13 wurde über das Menschsein jedes Menschen entschieden. In

9 10 11 12 13

Gotteserkenntnis hineingenommen. Der Versuch, jenseits dieser Wirklichkeit nach Gott und seiner Erkennbarkeit zu fragen, wäre schon der Unwahrheit verfallen (KD II/1, 5). Schleiermacher tritt der Meinung entgegen, dass das Abhängigkeitsgefühl selbst durch irgendein vorheriges Wissen um Gott bedingt sei. Ein ursprüngliches, gefühlsunabhängiges Wissen um Gott wird nicht abgestritten, aber für die christliche Glaubenslehre als Fremdkörper angesehen (CG, I, 39,21 – 25). Nur ausgehend von der Frömmigkeit des Abhängigkeitsgefühls ist die christliche Glaubenslehre zu entwickeln. KD III/2, 50. KD III/2, 58. Ebd. CG, II, 191,3f. KD III/2, 58. Zur Problematik dieser erwählungstheologischen Grundlegung der Anthropologie vgl. Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung, München 1980, 70ff.

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„Eine Theologie vom Menschen aus ist an sich nichts Unmögliches“

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diese Vorherbestimmung der Geschichte ist die Geschichte jedes Menschen in die Geschichte Jesu hineingenommen.14 Die entscheidende Abweichung Barths von Schleiermachers Ansatz ist schon in dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zu suchen. Die Urbildlichkeit Jesu liegt in seiner in die Ewigkeit ‚eingewickelten‘ Geschichte, während für Schleiermacher das Urbildliche in Jesus Christus vollkommen geschichtlich wird.15 Stellt man so beide Ansätze in anthropologischer Hinsicht gegenüber, lautet die Frage: Hat der Mensch in seiner Geschichte sein ursprüngliches Sein in der Geschichte Jesu oder vervollkommnet sich in seiner Geschichte sein ursprüngliches Sein in Jesus? Die sich hier andeutenden Unterschiede dürfen nicht den Blick auf die gleichermaßen christologische Orientierung der Anthropologie bei Schleiermacher und Barth verstellen, die in den folgenden Erörterungen weiter vertieft werden wird. Doch je stärker die Frage nach der Geschichte des Menschen und ihrem Verhältnis zu Gott in den Mittelpunkt rückt, desto deutlicher wird das Unterscheidende sichtbar und auch der von Barth an Schleiermacher und dann im Anschluss an Berkouwer wiederum gegen Barth erhobene Vorwurf mangelnder Reflexion der Sünde interpretierbar werden. Es liegt in der Sache eines Vergleichs zweier herausragender theologischer Entwürfe, dass er – inspiriert vom jeweiligen anderen – Raum für Kritik an beiden Konzeptionen eröffnet. Auch diese soll im Folgenden zur Darstellung kommen, um gerade damit Schleiermachers und Barths Leistung für weitere Überlegungen auf dem Gebiet der christlichen Anthropologie fruchtbar zu machen.

14 Diese Hineinnahme in die Geschichte Jesu betrifft nicht nur „unser virtuelles und aktuelles Verhältnis zu Gott“ (KD III/2, 58) – wie es dem Bewusstsein zu eigen sein könnte –, sondern unsere menschliche Natur als solche. Schleiermacher hätte eine solche Unterscheidung nicht gelten lassen, weil die menschliche Natur für ihn nur in einer nicht anders als ‚bewusste‘ zu denkenden Gottesbeziehung Gestalt anzunehmen vermag. 15 Vgl. CG, II, 41,10 – 15. Schleiermacher hat in seiner Theologie die selbst geschichtslose Ewigkeit auf die Geschichte bezogen, ohne sie darin zu ‚vergeschichtlichen‘. Weil die Menschwerdung Christi als göttliche Tätigkeit zu beschreiben ist, hat sie selbst ewigen Charakter, so dass Schleiermacher sagen kann, dass Christus „auch als menschliche Person schon immer mit der Welt zugleich werdend gewesen“(CG, II, 75,27f) sei. Der Bezug der Ewigkeit zur Geschichte ist selbst ewig, verwirklicht sich aber in der Zeit in einem Moment. Während für Barth die Entscheidung über das Menschsein in der Ewigkeit des göttlichen Ratschlusses getroffen und „noch einmal“ (KD III/2, 58) in der Mitte der Zeit vollzogen wird, ist für Schleiermacher das zeitliche Ereignis nur die zeitliche Erscheinung der uns zugewandten Seite des göttlichen Ratschlusses.

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2.

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Schleiermacher: Der Mensch im Übergang – Die Verzeitlichung des höheren Bewusstseins

Schleiermachers Deutung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls bindet Gottesbewusstsein und Selbstbewusstsein des Menschen auf besondere Weise zusammen. Das „sich schlechthin abhängig fühlen“ und das „sich seiner selbst als in Beziehung mit Gott bewußt sein“16 sind eins, aber die schlechthinnige Abhängigkeit macht die Grundbeziehung aus, die an sich selbst weder ein klares Selbstbewusstsein noch ein deutliches Gottesbewusstsein ist. „Das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl wird nur ein klares Selbstbewußtsein, indem zugleich diese Vorstellung [sc. von Gott] wird.“17 Erst das „Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls“ entlässt eine „ursprünglichste Vorstellung“,18 die in dem Ausdruck ‚Gott‘ artikuliert wird. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ist noch ein unmittelbares Selbstbewusstsein, dem es an Klarheit gebricht, erst „aus der Beziehung auf die Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewußtseins“19 wird es fassbar und klar. Schleiermacher ist also nicht so zu verstehen, dass ein ursprüngliches Fühlen nur unvollkommen durch eine von ihm entstehende Vorstellung wiedergegeben werden kann, vielmehr wird die Vollendung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls gerade durch die Beziehung auf die sinnlichen Vorstellungen erreicht. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ist kein höherer Gefühlszustand, dem dann nur noch auf derivater Weise Ausdruck verliehen werden kann, noch ist es ein niederer Gefühlszustand, eine „thierähnliche Verworrenheit“,20 die auf ein höheres Reflexionsniveau zu bringen wäre. Die Frömmigkeit des Menschen besteht gerade darin, dass das absolute Abhängigkeitsgefühl in das sinnliche Selbstbewusstsein „einschießt“.21 Dem höheren Selbstbewusstsein ist es eigen, „zeitlich zu werden und zur Erscheinung zu kommen“,22 und in diesem Übergang, in dieser Bewegung hat der Mensch ein klares Selbst- und Gottesbewusstsein. Damit ist für Schleiermacher der Mensch gleichsam ein Wesen des Übergangs, bei dem sinnliche Gefühle mit Gefühlen des höheren Selbstbewusstseins – „ein Schmerz des niedrigen und eine Freudigkeit des höhern Selbstbewußtsein“23 – in einem Moment zusammengebunden sind. In diesem 16 17 18 19 20 21 22 23

CG, I, 40,5f. CG, I, 40,11ff. CG, I, 39,30. CG, I, 47,5f. CG, I, 47,9. CG, I, 47,20f. CG, I, 49,21f. CG, I, 49,18f. Peter Grove zeigt an der Erstauflage der Glaubenslehre auf, wie Schleiermacher seinen zentralen Gedanken des konkreten religiösen Selbstbewusstseins in Kontinuität und

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Moment ist der Mensch bei sich selbst und in seiner Frömmigkeit auf Gott bezogen. Die Deutung der Übergangsbewegung wurzelt in der Christologie. In Jesus Christus ist das absolute Abhängigkeitsgefühl vollkommen in das sinnliche Selbstbewusstsein eingegangen. In seinem Gottesbewusstsein ist Gott selbst. Die Gleichsetzung des Gottesbewusstseins mit der Präsenz Gottes in ihm liegt in der Auffassung des göttlichen Seins als reiner Tätigkeit begründet.24 Man hat nicht ein Bewusstsein von einem jenseits des Bewusstseins liegenden Gott, sondern dem Bewusstsein von ihm ist es eigentümlich, dass Gott selbst im Bewusstsein tätig ist. Das bestimmende Gottesbewusstsein ist Gott selbst in seinem Tätigsein. Die Struktur dieser Tätigkeit wird von Schleiermacher durch die beiden Momente der Vereinigung und des Vereintseins dargelegt. Bei der Vereinigung ist die göttliche Natur allein tätig und die menschliche leidend, während im Vereintsein die Tätigkeit eine gemeinschaftliche ist.25 Diese christologischen Bestimmungen schließen sich mit den anfänglich gegebenen anthropologischen zusammen, weil sie im Sinne des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls den Menschen in seiner Gottesbeziehung als bloß „leidentlich“ auffassen, der darin ganz von Gottes Tätigkeit abhängig ist. Der Mensch besitzt zwar die Möglichkeit, in eine Vereinigung mit dem Göttlichen aufgenommen zu werden, aber nicht das Vermögen, seinerseits das Göttliche aufzunehmen. Wird so Gott im Vorgang der Vereinigung an dem ihn nur empfangen könnenden Menschen tätig, so kann dann aber im Vereintsein auch von einer menschlichen Tätigkeit gesprochen werden. Der Vorgang des ‚Einschießens‘ des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls in das sinnliche Selbstbewusstsein korrespondiert mit der in der Christologie entfalteten Vereinigungsbewegung und zeigt, wie es zu einem klaren Gottesbewusstsein im Menschen kommen kann. „[A]lle Thätigkeit des Erlösers [ist] als eine Fortsezung jener personbildenden göttlichen Einwirkung auf die menschliche Natur“26 zu begreifen. Die göttliche Tätigkeit in der Bildung der Persönlichkeit Christi setzt sich in der Tätigkeit Christi fort und schließt andere Menschen in einem neuen Gesamtleben mit ihm zusammen. Die Gleichsetzung von Sein Gottes und Bewusstsein Gottes durch den Tätigkeitsbegriff ermöglicht es Schleiermacher, das Inkarnationsereignis nun auch zum soteriologischen Ereignis für den Menschen zu machen. Die Vereinigung mit Gott setzt sich beim Christen darin fort, dass ihm mittels Christi

Differenz zu seinen Reden entwickelt hat (Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin 2004, 575–583). 24 CG, II, 55,4f. 25 CG, II, 70,20 – 25. 26 CG, II, 107,13ff.

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„Selbstdarstellung in Wort und Werk“27 dieser als der Mittelpunkt seines Lebens bewusst wird.

3.

Barth: Der Mensch im Übergang – Überschrittensein von Gott und Überschreiten auf Gott hin

Auch Barth begreift das Menschsein im Sinne eines Übergangs, wenn er es als eine Geschichte auffasst.28 Der geschichtskonstituierende Übergang besitzt eine fest umrissene Form: „Überschrittensein von einem Anderen und Neuen her und Überschreiten in der Richtung nach diesem Anderen hin und im Verhältnis zu ihm.“29 Barth versteht Geschichte von der Widerfahrnis eines Neuen her, zu dem hin sich das betroffene Wesen dann selbst transzendieren kann. Es handelt sich um eine zweifache Bewegung, in der der Mensch als solcher ist. Der Vorrang des Überschrittenseins von einem Anderen weist schon darauf hin, dass der Mensch hier nicht im Sinne einer Möglichkeit auf Anderes hin verstanden wird, in der er zu sich selbst käme, sondern dass Menschsein wesentlich vom Anderen her bedingt ist. Könnte man für ein menschliches Individuum ein anderes Individuum als das Andere verstehen, so ist doch für den Menschen in seinem Geschöpfsein allein Gott als „das schlechthin Neue und Andere“30 anzusehen. Nur so ist der ‚strenge‘ Begriff der Geschichte erfüllt.31 Inwiefern kann hier aber von Geschichte angemessen gesprochen werden, wenn es sich nicht um ein zeitliches Fortschreiten innerhalb des weltlichen Raumes zu handeln scheint, sondern um eine den innergeschichtlichen Raum transzendierende Bewegung? Barth gewinnt den Verlaufscharakter der Geschichte dadurch, dass die Begegnung mit Gott als Bewegung und Veränderung verstanden wird. Der Mensch ist in seiner Gottesbeziehung selbst als geschichtlich zu bezeichnen, weil Gott nicht in einer zeitlosen Ewigkeit auf einen geschichtlichen Menschen trifft, sondern in seiner Zeit für den Menschen diesen als geschichtlichen, als Gott Begegnenden erschafft. In der Geschichte der Begegnung mit Gott ist das menschliche Wesen vollendet. Weil der Mensch im Überschrittensein von Gott her ist und in diesem Sein eben nichts anderes als dieses Von-Gott-her-sein ist, kann er zugleich nicht anders als zu Gott hin sein. In der reinen Rezeptivität des Von-Gott-her-seins liegt seine Möglichkeit auf Gott hin zu sein und also zu sein. Nur so kann sich „die 27 28 29 30 31

CG, II, 119,32f. KD III/2, 188. KD III/2, 190. Ebd. Ebd.

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einzige Verwirklichung seiner ontologischen Möglichkeit“32 vollziehen. Diese Möglichkeit ist zu Gott hin reine Spontaneität und liegt begründet in reiner Rezeptivität aus Gottes Gnade.33 Barths anthropologische Grundlegung besteht in einer Kreisbewegung, bei der in der von Gott ausgehenden Bewegung zugleich die Bewegung zurück angelegt ist, ohne darin eine exklusive Bewegung Gottes zu sein. Die Wortgestalt der Bewegung vermag beides zu vereinen. Das Wort geht an den Anderen, der hinhörend sich dem Sprecher zuwendet. Das Wort Gottes ist ein Aufruf. Die Begegnung des Menschen mit Gott hat sich in Jesus Christus erfüllt. „Ihm [sc. dem Geschöpf] widerfährt es, daß Gott sich ihm bezeugt und offenbart und daß es selber zu Gottes Zeugnis und Offenbarung wird. Diese Geschichte ist die Existenz des Menschen Jesus. Sie geht auf in dieser Geschichte.“34 In Jesus ist das beschriebene Überschrittensein und Überschreiten Wirklichkeit.35 Von ihm ist das schlechthin Andere des Schöpfers gegenüber dem Geschöpf auszusagen. Zugleich ist aber auch diese Differenz in der in Jesus bestehenden Identität des Schöpfers mit dem Geschöpf überschritten worden und dieses Geschöpf auf den Schöpfer ausgerichtet. Aber in welcher Weise haben nun die anderen Menschen an der an Jesus und durch ihn sich ereignenden Geschichte Anteil? Barth führt hier einen abgeleiteten, sekundären Begriff von Geschichte ein, der sich von jenem strengen Geschichtsbegriff darin unterscheidet, dass hier die Existenz Jesu nicht wiederholt werden kann, aber die Wahrheit dieser einen Existenz auch die anderen Menschen umfasst, sie angeht.36 Dies geschieht im Wort Gottes, das dem Menschen gilt. „Ein jeder Mensch ist darin Mensch, dass Jesus auch für ihn da ist, daß der in

32 KD III/2, 170. Zur Problematik der Barthschen Formulierung vgl. Stock, Anthropologie der Verheißung, 90. 33 KD III/2, 207. 34 KD III/2, 191. 35 Das Überschrittensein des Menschen durch Gott wird verstanden als „Zusage und Verheißung der ihn bewahrenden und rettenden Gnade“, die „dem am Rande des Abgrunds des Unheils existierenden Geschöpf“ (KD III/2, 202) gilt. Sieht Barth hierin schon das Christusereignis, so ergibt sich eine Verwicklung der Folge von Sündenakt und dessen Überwindung durch Christus, wie sie K. Stock an Barths Interpretation der Sünde als Hochmut aufzeigt. „Die unaufgebbare Einsicht, daß das Urverhältnis der Gnade Gottes und der Bestimmung menschlichen Seins in der Geschichte Gottes mit dem sündigen Menschen aufrecht erhalten wird, hat in ihrer christologischen Interpretation den Zirkel zur Konsequenz, daß der sündige Existenzakt als der hochmütige Widerspruch des Menschen gegen den Demutsakt Gottes definiert wird, der doch zunächst als Gottes überlegener Widerspruch gegen den Widerspruch des Menschen bestimmt war“ (Anthropologie der Verheißung, 91). Das Problem wird in anderer Gestalt bei der Zeitkonzeption Barths wiederkehren, welche sich gegen die Beschreibung der Heilserfahrung des Menschen als Ereignis in seiner Lebensgeschichte sperrt (s. u. 8.). 36 KD III/2, 192f.

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ihm ergehende Aufruf Gottes auch ihn angeht.“37 Barth achtet streng darauf, dass der Begründung des Menschen in dem an ihn ergehenden Aufruf nicht durch vorausgehende Bedingungen seitens des Menschen unterlaufen wird. Das Überschrittensein des Menschen durch Gott ereignet sich durch dessen schöpferisches Wort, dessen Hören den Menschen sein lässt: „Dass er Ohr und Vernunft und Logoscharakter hat, das macht ihn [sc. den Menschen] noch nicht zu diesem Geschöpf, das gehört nur dazu, daß er nun eben dieses Geschöpf ist. Daß er es ist, das geschieht, indem er Gottes Wort hört, in diesem Akt also, in der Geschichte, die so nur die seinige ist. Er ist Mensch, indem er von Gott aufgerufen ist.“38 Vergleicht man den Barthschen Ansatz mit dem Schleiermachers, dann ist für beide der Akt des Überschreitens konstitutiv, sei es dass der Mensch von außen überschritten ist und wiederum nach außen sich selbst überschreitet, sei es dass das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl in das sinnliche Selbstbewusstsein übergeht. Diese Gemeinsamkeit ist der christologischen Begründung geschuldet. Der Mensch ist als Mensch nicht nur auf Christus bezogen, sondern die Verortung des Menschseins im jeweiligen Vorgang des Überschreitens der Grenze zwischen Gott und Mensch bringt das Menschsein selbst in größte Nähe zum Inkarnationsereignis. Bei Barth leitet sich aus der Geschichte Jesu die Geschichte jedes anderen Menschen ab, bei Schleiermacher setzt sich die göttliche Tätigkeit Gottes in Christus in der Tätigkeit Christi an den anderen Menschen fort. In dieser Ableitung oder Fortsetzung ist der Mensch in seinem Menschsein konstituiert. Die christologische Begründung des Menschseins, seine Gründung in einem Anderen, wird bei beiden Theologen durch die Auflösung des Seinsbegriffs in eine transzendierenden Bewegung erreicht – „Sein ist hier Überschrittensein und Überschreiten“39 (Barth) und Gottes Sein tritt als eine ihn mit dem Menschsein vereinende Tätigkeit in Erscheinung (Schleiermacher). Beide Theologen haben aber diese grundsätzliche Bindung der Anthropologie an die Christologie jeweils anders ausgestaltet, einerseits geleitet von dem Begriff der Begegnung und andererseits von dem des Bewusstseins. Beide Begriffe scheinen freilich zusammenzugehören. Eine wirkliche Begegnung dürfte ohne Bewusstsein schwer vorstellbar sein. Umgekehrt ist eine Präsenz des Anderen im Bewusstsein nicht hinreichend für die Beschreibung einer Begegnung.

37 KD III/2, 196. 38 Ebd. 39 KD III/2, 190.

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4.

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Begegnung zwischen Gott und Mensch? Eine kritische Anfrage an Barth

Ist Barth in seinen anthropologischen Ausführungen der Darstellung des Menschen als Wesen der Begegnung gerecht geworden? Barth hat den für eine Begegnung wechselseitigen Bezug durch die Vorstellung des Überschrittenseins und des Überschreitens gestaltet. Die gegenseitige Spontaneität stellt den Raum der Freiheit her, der für eine echte Begegnung notwendig ist. Der Gedanke des Überschreitens macht auch auf eigentümliche Weise deutlich, dass es nicht darum geht, nur eine Vorstellung vom Anderen zu haben und damit noch im Zustand der eigenen Möglichkeiten zu verharren, sondern beim Anderen zu sein, indem man sich nach außen selbst überschreitet. So wird eine jeweilige Präsenz im Anderen konstituiert, die auch für unser allgemeines Verständnis einer Begegnung notwendig ist. Sonst ist man vielleicht jemandem begegnet, aber man ist ‚sich‘ nicht begegnet. Barth will diese Begegnung als Geschichte verstehen, in der auf ein Aufgerufensein ein Hören folgt. In dem Nacheinander von Überschrittensein und Überschreiten ereignet sich die Geschichte einer Begegnung. Der Mensch ist von Gott aufgerufen und hört daraufhin sein Wort. „Darin ist es [sc. das Geschöpf] Aufgerufensein: daß ihm dieser Wurf der Zuversicht auf seinen Schöpfer aufgegeben ist. Darin und so ist es in Gottes Wort. Darin und so, daß es diesen Wurf wagt und tut, ist es geschichtliches Sein. Und eben in diesem Sinn ist es überhaupt, indem es aufgerufen ist.“40 Der Mensch ist in seinem Menschsein durch das göttliche Aufgerufensein begründet. Doch hat Gott darin schon das Menschsein überschritten? Oder bedarf es dazu erst ein sein Wort empfangendes Hören? Barth deutet an, dass ein Nichthören den Menschen auch nicht sein lässt. Das Hören äußert sich als dankbares Tun, dessen Fehlen den Menschen um sein geschichtliches Sein bringt – „in dem [sc. dem nicht dankbaren Tun] bricht ab die Geschichte, in der das menschliche Sein besteht und außerhalb derer es keinen Bestand haben kann“.41 Aber weil Gott selbst in seinem Überschritt das Geschöpf öffnet, „kann es kein durch die Grenzen seiner eigenen Möglichkeit verschlossenes Geschöpf“42 sein. Sein durch Gott Überschrittensein lässt dem Geschöpf keine andere Möglichkeit, seinerseits sich auf Gott hin zu überschreiten. Aber wird ein solches Folgegeschehen dem Charakter einer Begegnung gerecht? Begegnung verweist auf einen Moment, in dem man sich begegnet, auf einen Moment, der seine Geschichte haben kann, aber als Moment der Begeg40 KD III/2, 198. 41 KD III/2, 204. 42 KD III/2, 197.

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nung selbst nicht in ein geschichtliches Nacheinander zu zerlegen ist. Versteht Barth die Wirklichkeit der Begegnung als Wirklichkeit der Geschichte, „in der diese Begegnung Ereignis wird“,43 so will er die Begegnung gerade nicht als ein Ereignis in der Geschichte verstanden wissen, sondern die Geschichte, die Gott und der Mensch miteinander haben, ist die Begegnung. Und diese Geschichte ist geprägt durch die Folge von Überschrittensein und Überschreiten. Barth überspielt die im Begegnungsmoment stattfindende Gleichzeitigkeit der sich Begegnenden, indem er das empfangende Hören des Menschen vor allem im Sinne einer der göttlichen Aktivität folgenden menschlichen Aktivität, eines Hinhörens und Dankens deutet. Aber nicht die zeitlich-geschichtliche Folge von Aufruf und Hören ist für eine Begegnung entscheidend – es bliebe ansonsten bei einer Weitergabe von Gesagtem –, sondern das im Rufen und Hören sich ereignende Begegnen beider Personen, das im hörenden Sich-Öffnen für den Aufrufenden Gestalt gewinnt. In diesem unverfügbaren Moment der Begegnung sind Rufender und Hörender zugleich präsent. Barth versteht die Begegnung als ein die Grenze des Menschen überschreitendes Geschehen, das den Menschen zur Anerkennung Gottes bringt: „[I]ndem es ein durch das Wort von außen, von Gott her geöffnetes Geschöpf ist, […] kann es nicht bei sich sein, ohne daß es auch wahr ist und ohne daß es dessen gewahr wird, […] daß Gott ja schon bei ihm ist.“44 Die im Überschrittensein liegende Konsequenz des Überschreitens oder Hinausgerufenseins, das aus dem Aufgerufensein sich nicht anders ergeben könnende Hinhören verzeichnet das Wesen einer Begegnung, bei der man sich für das Kommen des Anderen, für seinen Ruf öffnet und nicht von diesem in sich selbst schon geöffnet ist. Dass der Mensch das Wort hört, sich den Anspruch Gottes gefallen lässt, ja selbst dass er seine Zuversicht auf Gott setzt, würde nicht dem von Barth intendierten Begegnungscharakter gerecht werden, wenn der Mensch nicht das Wort in sich ‚hineingelassen‘ hätte. Eine Begegnung im Wort ist nicht im Sinne einer unvermeidlich hinhörenden Reaktion auf das Wort des Anderen hin aufzufassen, sondern einer hörenden Annahme des Anderen in seinem und durch sein Wort. Barths Überführung des Begegnungsgeschehens selbst in eine Geschichte der Begegnung führt zu einer Marginalisierung jener ‚passiven Aktivität‘ des SichÖffnens und Empfangens, die für eine gelungene Begegnung unverzichtbar ist. Der Mensch kann als Geschöpf nicht sein „ohne in eben der Richtung in Bewegung zu sein, von der her es ist.“45 Bei Barth folgt auf eine Spontaneität die nächste, aber sie treffen einander nicht.

43 KD III/2, 195 Hervorhebung J.B. 44 KD III/2, 197. 45 Ebd.

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Die Empfänglichkeit des Menschen scheint von Barth an anderer Stelle thematisiert zu werden, wenn er die menschliche Natur als auf Gottes Liebe hin ausgerichtet beschreibt.46 Von Gott her frei zu sein und für ihn frei zu sein macht „die Natur, das Wesen des Menschen, den wirklichen Menschen aus“.47 Hier werden nun die zuvor als Geschichte entwickelten Bestimmungen der von Gott eröffneten und daraus sich ergebenden Freiheit für Gott als unabhängig von des Menschen individueller Geschichte behauptet. Handelt es sich bei der zuvor beschriebenen Geschichte doch um eine ungeschichtliche, dem Menschen mitgegebene Empfänglichkeit für Gott, ein Freisein für Gott, durch die er in seiner Geschichte in Gottes Gemeinschaft kommen kann? Aber Barth will damit die zuvor herausgestellte Geschichtlichkeit des Menschen nicht relativieren, vielmehr ist das ungeschichtliche Verständnis nur im Sinne einer Unveränderlichkeit seitens des Menschen aufzufassen. Es handelt sich, beide sich scheinbar widersprechenden Aussagen zusammennehmend, um eine für den Menschen unveränderliche – ewige – Geschichte, die er mit Gott durchläuft.48 Als ewig entschieden, muss sie sich dann auch geschichtlich erweisen. Wenn sich in der Geschichte des Menschen entscheide, „ob und inwiefern er im Verhältnis zu dem, was er in seinem Zusammensein mit Gott wirklich ist, sich selbst (in dieser Hinsicht: seinem Sein von Gott her und zu Gott hin) treu oder untreu ist, entspricht oder widerspricht“,49 dann kann es auch hier nur um die Durchsetzung jenes einen Geschehens handeln, in dem Gott den Menschen öffnet und ihn zu ihm hin frei sein lässt. Scheint sich hier auf den ersten Blick der Raum zu öffnen für einen freien Empfang des Heilsgeschehens durch den Menschen, so ist doch von Barth das Heilsgeschehen so in die Geschichte jedes Menschen eingeschrieben, dass er darin schon der auf Gott hin Freie ist. Barth will nicht neben der den Menschen konstituierenden Geschichte noch eine zweite Geschichte inaugurieren, in der nun jene Heilsgeschichte nochmals zur Disposition stände und sich in einer anderen Geschichte, der Lebensgeschichte eines Menschen, entscheiden müsste.50 Dessen eigene Geschichte ist in ihrem Wesen 46 KD IV/2, 843f. 47 KD IV/2, 843 mit Verweis auf KD III/2 § 44, 3. 48 Barth macht diese Ewigkeit der Geschichte mittels des Ostergeschehens deutlich, das die Zeit zu einem einzigen Raum entschränkt. Damit ist gleichsam in jedem Moment der Geschichte die ganze Geschichte präsent. 49 KD IV/2, 844. 50 K. Stock kann angesichts des Befundes jedoch auch zu Recht sagen, dass es zu einem ungeklärten doppelten Geschichtsbegriff kommt (Stock, Anthropologie der Verheißung, 86). Die Spannung zwischen den Aussagen zur Natur und zur Geschichte des Menschen lässt sich nicht beheben. „Es gelingt Barth nicht, die mit ihr [sc. der Unterscheidung von Zustand und Geschichte] bekräftigte Negation einer dem Menschen eigenen Möglichkeit für Gott mit der ja gerade im dialogischen Geschichtsbegriff intendierten These, die Humanität sei die für die Gnade vorbereitete Natur des Menschen, wirklich zu vermitteln“(Ebd.).

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keine andere als die ihn konstituierende Heilsgeschichte Gottes, in der Gott ihm und er Gott begegnet. Gott hat in diesem Versöhnungsgeschehen dem Widerspruch des Menschen widersprochen. Der Mensch kann der schon geschehenen Begegnung nur noch durch sein eigenes Tun, seine eigene Hingabe an Gott entsprechen. Warum sollte er Gott noch empfangen, wenn sein Zusammensein mit ihm immer schon Wirklichkeit ist? Barths Aussagereihen rufen geradezu nach einer Thematisierung menschlichen Bewusstseins, durch die erst das Wesen einer Begegnung verständlich gemacht werden könnte.51 Aber Barth kann entsprechend seinen Prämissen das Thema in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigen, ohne die christologische Grundlegung seiner Anthropologie zu gefährden. Die Wirklichkeit des Menschen in der Begegnung mit Gott müsste erst in der bewussten Begegnung mit ihm wirklich werden und nähme so selbst potentiellen Charakter an. Der Mensch gründete auf dem Christusgeschehen und dessen Annahme durch ihn selbst. Aber wäre die von Barth intendierte exklusive Begründung der Begegnung im göttlichen Tun mit dem Verweis auf das menschliche Empfangen preisgegeben? Die Aufhebung menschlichen Empfangens im göttlichen Tun erscheint nicht zwingend, um die exklusive christologische Begründung zu wahren. Dass der Mensch sich frei auf Gott hin öffnet, bedarf nicht eines Geöffnetseins des Menschen durch Gott, sondern kann auch in der Offenheit des kommenden Gottes begründet liegen, nicht in seinem „Anspruch“ an den Menschen, sondern in seinem ‚Sich-Ansprechen-lassen“ durch den Menschen. Auf die Offenheit Gottes für den Menschen hin kann der Mensch sich selbst für eine Begegnung im Glauben öffnen.

5.

Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott? Eine kritische Anfrage an Schleiermacher

Schleiermachers theologische Fokussierung auf das Bewusstsein vermeidet schon im Ansatz die Problematik des Barthschen Ansatzes, weil ein Überschrittensein seitens Gottes zugleich seine Bewusstwerdung seitens des Menschen impliziert. Eine dem geschichtlichen Prozess unterlegte Gemeinschaft von 51 Wilfried Härle kommt von der Gewissheitsproblematik ausgehend zu einem ähnlichen Befund: „Wenn die Gewißheit für Barth darin begründet liegt, daß dem Menschen Erkenntnis mitgeteilt wird, so ist dabei offensichtlich übersehen, daß das Gewißheitsproblem sich nicht erst bei der Frage nach der Gültigkeit dieser Mitteilung stellt, sondern schon bei den Fragen, ob denn der Empfänger dieser Mitteilung überhaupt existiert und ob er überhaupt eine Mitteilung empfängt“ (Sein und Gnade, Die Ontologie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, Berlin 1975, 319).

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Mensch und Gott in Christus, an der jeder Mensch jenseits ihrer Bewusstwerdung teilhat, ist nicht denkbar, weil die Präsenz Gottes per se ihre Bewusstwerdung bedeutet. Die Tätigkeit des Erlösers wird an die Bedingung geknüpft, „daß die Einzelnen in seinen geschichtlichen Wirkungskreis treten, wo sie ihn in seiner Selbstoffenbarung wahrnehmen“.52 Aber vermag dieser Ansatz beim Bewusstsein des Menschen eine Begegnung zwischen Gott und Mensch zu begründen? Schleiermacher benutzt den von der späteren Dialogphilosophie geprägten Ausdruck der Begegnung nicht, aber es geht ihm um eine „Lebensgemeinschaft mit Christo“,53 die durch das Bewusstsein von dessen Selbstoffenbarung hergestellt wird. Die erlösende Tätigkeit wird „gedacht unter der Form einer eindringenden Thätigkeit, die aber von ihrem Gegenstand wegen der freien Bewegung mit der er sich ihr zuwendet als eine anziehende aufgenommen wird“.54 Schleiermacher beschreibt ein Verhältnis, bei dem zwar die Aktivität bei dem Sein Gottes liegt, aber doch auch ein Annehmen seitens des menschlichen Bewusstseins thematisiert wird. Die natürliche Selbsttätigkeit, das Auffassen des Wortes Gottes, soll nicht als menschliche Mitwirkung bei der ‚Einwirkung‘ Christi noch als Widerstand gegen sie verstanden werden, aber angesichts einer vorauszusetzenden ‚organischen‘ Mitwirkung seitens des Menschen ist nicht zu leugnen, dass „jene Mitwirkung der psychischen Organe zur Auffassung des Wortes auch eine Zustimmung des Willens in sich schließt“.55 Damit ist eine Aktivität im Empfangen der Einwirkung Christi enthalten, die zwar den ‚leidentlichen‘ Zustand des Menschen nicht aufhebt, aber ihm ein „Minimum von Selbstthätigkeit“56 zugestehen muss. Mit den beiden Begriffen Einwirkung und Empfänglichkeit beschreibt Schleiermacher wichtige Bedingungen einer Gemeinschaft, die nur unter der Voraussetzung der Freiheit eines Gebens und Annehmens denkbar ist. Hierbei wird zugleich ein Anknüpfungspunkt für das Christusgeschehen sichtbar,57 den Barth um der Reinheit der christologischen Begründung willen ausschließen wollte. Die Konstitution des Menschen, die Bestimmung seiner Natur durch die göttliche Mitteilung, wird bei Schleiermacher in eine zweifache Tätigkeit differenziert, bei der jene ursprünglich empfangende Tätigkeit die Möglichkeit schafft, dass der Mensch dann von jener Tätigkeit des Erlösers ganz durchdrungen werden kann. Aber kommt mit dem Empfang des göttlichen Seins durch Christus der Mensch in Gemeinschaft mit Gott? Die Empfänglichkeit geht durch die vereinende göttliche Tätigkeit in die belebte Selbsttätigkeit des Menschen über, in der 52 53 54 55 56 57

CG, II, 106,26ff. CG, II, 108,5. CG, II, 107,5 – 8. CG, II, 189,18f. CG, II, 189,23f. CG, II, 190,21f.

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er gemeinsam mit Gott in der Tätigkeit begriffen ist. Diese bedeutet die Aufhebung der Abgeschlossenheit des Gefühls im sinnlichen Bewusstsein. Von der göttlichen Tätigkeit durchdrungen ist das sinnliche Bewusstsein nicht mehr ihr gegenüber gehemmt, sondern in sie aufgenommen. Die Versöhnung Gottes mit dem Menschen wird von Schleiermacher im Sinne eines Vereintseins beschrieben, das keine Gegenseitigkeit impliziert. Bei Barth eröffnet das Überschrittensein ein Überschreiten seitens des Menschen, während bei Schleiermacher der erste Schritt Barths gleichsam in die beiden Momente Vereinigung und Vereintsein differenziert wird, aber daraufhin keine ‚Einwirkung‘ des Menschen auf Gott hin erfolgt. Schleiermacher macht deutlich, dass das Moment der Vereinigung noch im Vereintsein präsent ist – schließlich handelt es sich ja um zwei Momente einer Bewegung – und so das Bewusstsein von Christus als Mittelpunkt des eigenen Lebens immer nur als Gabe besteht,58 aber eine Rückgabe oder besser Hingabe des Menschen an Gott durch sein neu gewonnenes Tätigsein nicht denkbar ist. Der Mensch müsste sich ansonsten mit Gott vereinen können, was im Widerspruch zu seiner geschöpflichen Abhängigkeit steht. Er ist nicht zurück auf Gott, sondern sogleich auf seinen Nächsten verwiesen. Bei Schleiermacher ist eine aus der göttlichen Bewegung sich heraussetzende Gegenbewegung seitens des Menschen nicht möglich, weil durch sie Gott nicht nur als reine Tätigkeit, sondern auch als Empfänglichkeit vorgestellt werden müsste. Gott würde zu einem Wesen gemacht, das in einer es selbst begrenzenden „Wechselwirkung“59 mit anderen stände. Seine Empfänglichkeit gegenüber dem Anderen bedeutete eine Einschränkung der eigenen freien Selbsttätigkeit. Die Begründung dafür schließt sich an Schleiermachers Überlegungen zum Freiheitsund Abhängigkeitsgefühl an. Das Freiheitsgefühl des Menschen drückt sich in der aus ihm herausgehenden Selbsttätigkeit aus, deren Gegenstand, auf den sie aus ist, auf seine Empfänglichkeit einwirkt und ihm zugleich ein Abhängigkeitsgefühl gibt. Doch hebt sich für Schleiermacher die durch den Gegenstand bewirkte Einschränkung der Freiheit dann auf, „wenn der Gegenstand überhaupt durch unsere Thätigkeit erst würde“.60 Damit ist implizit Gottes Tätigkeit im Hinblick auf den Menschen beschrieben, die diesen setzt, ohne von ihm abhängig zu sein. In dieser Setzung ist der Mensch Gott aber nicht entgegen gesetzt, sonst wäre auch Gott dem Menschen als Gegenüber gegeben. „Hingegen bleibt jedes irgendwie Gegebensein Gottes völlig ausgeschlossen, weil alles äußerlich gegebene immer auch als Gegenstand einer wenn auch noch 58 CG, II, 115,14 – 18. 59 CG, I, 35,26f. 60 CG, I, 37,25 – 38,1.

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so geringen Gegenwirkung gegeben sein muß.“61 Der Mensch stände nicht mehr im Verhältnis der Abhängigkeit zu Gott, sondern könnte auf ihn einwirken und ihm gewissermaßen ein Abhängigkeitsgefühl anhängen. Schleiermacher hat deshalb sorgfältig darauf geachtet, die Empfänglichkeit des Menschen aus der ursprünglichen Tätigkeit Gottes selbst abzuleiten und dieses ‚Minimum an Selbsttätigkeit‘ „nichts weiter“ sein zu lassen „als das sich hingeben in die Einwirkung oder das Freilassen der lebendigen Empfänglichkeit für dieselbe“.62 Aber müsste eine Gegenwirkung seitens des Menschen notwendigerweise die Selbsttätigkeit Gottes einschränken? Das Problem liegt in Schleiermachers Auffassung einer Gegenwirkung im Sinne einer Einwirkung, durch die der Empfangende diese auf ihn einwirkenden Kräfte auch in sich repräsentiert. Diese Schlussfolgerung ist schon in Hinblick auf den Menschen zu bezweifeln. Empfänglichkeit für das Andere im Sinne eines bloßen Sich-Öffnens zu verstehen, so dass wie durch ein geöffnetes Tor die anderen Kräfte in einen hineinströmen und damit ein Abhängigkeitsgefühl mitgesetzt würde, verzeichnet das Phänomen. Sie ist eher im Sinne einer nach innen gehenden Kraft zu verstehen, durch die etwas Eigenes aus dem Anderen entsteht. Gerade in der Christologie würde sich die Einführung einer schlechthinnigen Empfänglichkeit anbieten, wenn der Gekreuzigte das Leid der Welt trägt. Weil aber nach Schleiermacher Empfänglichkeit trotz des konzedierten Minimums an Selbsttätigkeit als grundsätzlich leidentlicher Zustand angesehen wird, steht sie der Bestimmung Gottes als reine Tätigkeit entgegen und findet auch im Leben des Erlösers keinen gebührenden Platz: „so kann auch in der Gemeinschaft seines Lebens kein Moment bloß Leiden sein, weil alles, was darin von ihm ausgeht und Impuls wird, notwendig Thätigkeit ist“.63 Die Unmöglichkeit für den Menschen, in ein tätiges Verhältnis zu Gott zu treten, wirkt sich besonders problematisch auf Schleiermachers Gebetsverständnis aus. Ausgehend von der „Grundvoraussezung, daß es kein Verhältnis der Wechselwirkung giebt zwischen Geschöpf und Schöpfer“,64 wird eine Ge61 CG, I, 40,22 – 25. 62 CG, II, 189,20f. 63 CG, II, 190,2 – 5. D. Lange urteilt über Schleiermachers Beschreibung Jesu als des Urbildes des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls: „So sehr dieses nun als Gottesverhältnis reines Empfangen ist, so sehr ist es zugleich im Verhältnis zu den Menschen reine ‚Selbsttätigkeit‛ Jesu“ (Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 157). Allerdings kennt Schleiermacher auch eine „Empfänglichkeit Christi für alles, was ihm aus dem Gesammtleben der Sünde kam“ (CG, II, 136,15f), und schreibt ihr mit der Selbsttätigkeit Christi erlösende und versöhnende Bedeutung zu (vgl. Lange, Historischer Jesus, 158ff). Doch diese Empfänglichkeit steuert nur als Leiden empfundene „Veranlassungen“ oder „Beschränkungen“ (CG, II, 136,2 – 7) zu der Erlösungs- und Versöhnungstätigkeit Christi bei, die dann durch das ‚kräftige Gottesbewusstsein‘ Jesu erfolgt. 64 CG, II, 423,4f.

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betserhörung „als das aus der Gesamtthätigkeit des göttlichen Geistes entwikkelte christliche Vorgefühl“65 interpretiert und damit jede Einwirkung des Menschen auf Gott verneint. Weil das wahre Gebet selbst auf einem göttlichen Tätigkeitsmoment beruht, an dem der Betende durch Christus Anteil hat, ist es der durch diese Tätigkeit bewirkten Erfüllung verbunden. So kann wohl gesagt werden, dass die Erfüllung ohne das Gebet nicht stattgefunden hätte, aber ebenso ist deutlich, dass das Gebet selbst nicht seine Erfüllung bewirkt hat. Der Beter geht ganz in der Einstimmung mit der Tätigkeit Gottes auf und ist jeden Charakters eines Gott Gegenübertretenden entkleidet, wie es für die Beschreibung einer echten Gemeinschaft des Menschen mit Gott von Nöten wäre. Wie anders hingegen ist Barths Gebetsverständnis ausgerichtet! Barth spricht von einer durch das Gebet des Glaubens bewirkten Bestimmung Gottes, die ihren Grund in der Freiheit Gottes hat.66 In seiner Argumentation wird implizit Schleiermachers Argument gegen eine Einwirkung des Menschen auf Gott gerade zugunsten der Göttlichkeit Gottes gewendet. Schleiermachers Bindung des Freiheitsbegriffs an die Vorstellung schlechthinniger Tätigkeit muss die Einwirkung des Menschen auf Gott als Minderung der göttlichen Freiheit erscheinen lassen. Diese Minderung stellt sich aber schon mit der Fixierung Gottes auf eine schlechthinnige Tätigkeit ein. Eine Freiheit Gott anzutragen, die jeder Bestimmung von Außen entgegengesetzt sein soll, muss ihn selbst in Unfreiheit setzen. „Wenn es einen kümmerlichen Anthropomorphismus gibt, dann die Zwangsvorstellung von der Unveränderlichkeit Gottes, die es ausschließe, daß er sich durch sein Geschöpf so oder so bestimmen lassen könne!“67 Schleiermachers Alternative zwischen einer zwangsläufigen Brechung des göttlichen Willens durch menschliche Einwirkung und einer Einstimmung beider wird schon durch die christologische Begründung des Gott-Mensch-Verhältnisses überholt. Weil Gott seine Bestimmung durch sein Geschöpf selbst in Jesus Christus vollzogen hat, handelt er in seinem Sich-Bestimmen-lassen „in tiefster Übereinstimmung mit sich selbst“.68 Durch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus ist ein Raum der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch eröffnet, in dem das Überschreiten der göttlichen Grenze den Menschen selbst an Gottes Herrschaft aktiv teilnehmen lässt. Durch Christus ist die Statik des Machtgefälles zwischen Gott und Mensch durchbrochen, ohne dass damit der Mensch Gott etwas von seiner Göttlichkeit nehmen würde. Die Erhöhung des Menschen durch Christus macht das Gebet zum „Akt der Geburt echten menschlichen Selbstbewußtseins“.69

65 66 67 68 69

CG, II, 424,6ff. KD II/1, 574. KD III/4, 119f. Ebd. KD II/2, 197.

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6.

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Schleiermacher: Die Erfahrung Gottes in der Geschichte eines Menschen

Auch wenn Schleiermacher in seiner Theologie Gott nicht in ein geschichtliches Verhältnis zu dem Menschen setzt, so ist ihm doch kein unhistorisches Verständnis des Menschen in seiner Gottesbeziehung zu unterstellen. In der im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl mitgegebenen „lebendige[n] Empfänglichkeit“70 liegt die Besonderheit des Menschen gegenüber anderen Geschöpfen, die ihm nach Schleiermacher in seiner Geschichte die ungebrochene Gemeinschaft mit Gott ermöglicht. Gott ist zwar in seiner reinen Tätigkeit ewig und zeitlos und damit selbst keiner geschichtlichen Entwicklung unterworfen, doch seine Vereinigung mit der menschlichen Natur lässt sein Tätigsein in dieser zur Erscheinung und damit in die Zeit kommen. Eine Beziehung zwischen Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit ist bei jedem Menschen zu finden und begründet seine Geschichtlichkeit. Dem Selbstbewusstsein ist ein „Irgendwiegewordensein“71 verbunden, das durch seine Empfänglichkeit ihm zugekommen ist. Dem freien ‚Ich‘ ist in zeitlicher Perspektive etwas vorausgesetzt, das ihm seine spezifische Gestalt verleiht. Es ist das nicht in der Zeit werdende „Sichselbstsetzen“ des Menschen, das in der Zeit als ein „Irgendwiegewordensein“ erscheint. Schleiermacher entwirft den Menschen als geschichtliches Wesen, ohne ihn in seiner Geschichtlichkeit aufgehen zu lassen. Weil das „Sichselbstsetzen“ nicht geschichtlich eingeholt werden kann, bleibt der Mensch als freiheitliches Wesen in der Geschichte gewahrt, aber mehr noch: die Inkongruenz, dass die Selbsttätigkeit nicht als solche in der Zeit bewusst wird und nachvollzogen werden kann, sondern als ihr Gegenteil, als „Sichselbstnichtsogesezthaben“72 im Bewusstsein identifiziert wird, eröffnet eine Abhängigkeit jenseits der Geschichte. Schleiermacher hat in seiner Konzeption den Menschen weder seiner Geschichtlichkeit gänzlich preisgegeben noch ihn seiner Geschichte enthoben. Eine geschichtsimmanente Auffassung seiner Selbsttätigkeit hätte den Menschen schlechthin abhängig von seiner Geschichte gemacht. Er wäre nicht mehr als das, was er in seiner Geschichte geworden ist. Die Christusbeziehung des Menschen würde sich in geschichtlicher Überlieferung erschöpfen. Die unmittelbare – nicht nachträgliche – Bewusstwerdung der Selbsttätigkeit in einem zeiterfüllenden Augenblick hätte hingegen den Menschen der Geschichte enthoben. Dem Menschen wäre ein nicht in die Geschichte eingehendes und dort erfahrbares Selbstbewusstsein eigen. In seinem Abhängigkeitsgefühl besäße er ein jenseits 70 CG, II, 55,11. 71 CG, I, 33,17. 72 CG, I, 33,16.

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des Christusereignisses bestehendes ungebrochenes Gottesbewusstsein. Allein die Identifizierung der freien Selbsttätigkeit in ihrer geschichtlichen, ihr entgegengesetzten Gestalt macht das geschichtliche Bewusstsein zugleich zum Bewusstsein einer nicht in der Geschichte wurzelnden schlechthinnigen Abhängigkeit. „Allein eben das unsere gesamte Selbstthätigkeit […] verneinende Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthiniger Abhängigkeit“.73 Die im Selbstbewusstsein verneinte Selbsttätigkeit, deren ständiges Bewusstsein – sie ist ja „niemals Null“74 – im Sinne ihrer Verneinung kann beim Menschen nicht anders als mit einem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit einhergehen. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl kommt von keiner geschichtlichen Erfahrung her, aber es ist auf geschichtliche Erfahrung bezogen, es stellt sich mit dem Bewusstwerden der Wandlung von Selbsttätigkeit in Gewordensein und damit dem Zur-Erfahrung-werden des Gewordenseins eigener Selbsttätigkeit ein. Ausgehend von dieser Analyse kann Schleiermacher verständlich machen, wie durch die Geschichte hindurch, durch ein Gewordensein, die ungeschichtliche göttliche Selbsttätigkeit in Christus vermittelt wird. Die Geschichte hebt die Selbsttätigkeit nicht auf, sondern macht sie in ihrer gegenteiligen Gestalt erfahrbar. Die Selbsttätigkeit Christi wird von anderen Menschen aufgenommen, deren Christwerden als Christgewordensein in der Zeit erfahrbar wird. Die Vereinigung der göttlichen Selbsttätigkeit mit der leidentlichen menschlichen Natur stiftet geschichtliche Erfahrung, ohne dass die göttliche Tätigkeit selbst eine geschichtliche würde. Das Tun Jesu Christi selbst kann nicht „als ein zeitliches mit entstehender und vergehender Thätigkeit beschrieben“75 werden. Im Vereintsein des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur soll gewahrt bleiben, „daß […] das göttliche Wesen in Christo sich selbst gleich bleibend, nur auf zeitlose Weise thätig gewesen, und nur die schon vermenschlichte in das Gebiet der Erscheinung übergehende Seite dieser Thätigkeit zeitlich sei“.76 Gott selbst wird in Jesus Christus nicht geschichtlich, aber er macht sich geschichtlich erfahrbar. Gott ist in der Geschichte Jesu ständig präsent durch sein Tun, aber was er getan hat, ist nicht mehr sein Tun, sondern nur die menschliche Seite seines Tuns. So bleibt sein Tun im striktesten Sinne unvergänglich. Nicht in der Geschichte seines Tuns, sondern darin, dass sein Tun Geschichte wird, liegt das Heil des Menschen. Auch in seiner Menschwerdung bleibt Gott in seinem Wesen unveränderlich. So kann es um des Gottseins Gottes willen keine Geschichte 73 74 75 76

CG, I, 38,19 – 23. CG, I, 38,20. CG, II, 83,27f. CG, II, 83,31 – 34.

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zwischen Gott und Mensch geben – ganz im Gegensatz zu Barth, für den Gott gerade in einer solchen Geschichte seine Göttlichkeit zeigt.

7.

Barth: Gottes Geschichte als Geschichte jedes Menschen Daß der Mensch von Gott abhängig, und zwar schlechthin abhängig, ganz und gar seine Wirkung ist, das hat er mit allen Geschöpfen gemein. Er ist aber – und das ist sein Besonderes – in der Weise von ihm abhängig, daß Gott zwischen sich selbst und ihm jene Geschichte inauguriert, dass Gott sich gerade in ihm seines bedrohten Geschöpfs annimmt.77

In dieser unausgesprochenen, aber deutlich erkennbaren Abgrenzung Barths gegenüber Schleiermacher wird der Mensch durch die von Gott in Gang gesetzte, in einer Geschichte sich entfaltende Beziehung mit ihm von der übrigen Geschöpfwelt abgehoben. Barth übergeht Schleiermachers entscheidende Einschränkung, dass die Auszeichnung des Menschen nicht in einer bloßen Abhängigkeit von Gott, sondern in einem Abhängigkeitsgefühl besteht, durch das der zugleich empfangen wird, von dem man abhängig ist. „[N]ur wenn die leidentlichen Zustände nicht rein leidentlich […], sondern durch lebendige Empfänglichkeit vermittelt“78 sind, ist Gott selbst in dieser Abhängigkeit präsent. Die „lebendige Empfänglichkeit“, nicht die Abhängigkeit, hebt den Menschen über das Tier hinaus. Durch sie kommt die Ewigkeit in die Zeit eines Menschen. Wenn Barth das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als Geschichte strukturiert, ist Gott schon in einer Weise mit der Zeit verbunden, die eine grundsätzliche Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit nicht zulässt. Die Ewigkeit ist nicht zeitlos, sondern „das Miteinander und Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“.79 Sie ist als ungeschaffene von ihrem Wesen her der geschaffenen Zeit verbunden, welche die Existenzform des Menschen darstellt. Gott geht zeitliche Beziehungen mit dem Menschen ein, „Aktionen, deren Wirklichkeit schlechterdings in ihrem Vollzug und also in der Folge ihres Anhebens, Fortgehens und zum Ziel Kommens besteht“.80 In diese zeitliche Folge ist auch das den Menschen in seinem Sein begründende Überschrittensein und Überschreiten einzuzeichnen. Aber muss nicht die Gott involvierende Geschichte mit dem Menschen selbst zur Geschichte werden, der Vergangenheit anheimfallen?

77 78 79 80

KD III/2, 195. CG, II, 55,9ff. KD III/2, 635. KD III/2, 630.

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Barth verhindert eine solche Konsequenz dadurch, dass er die in seinem Ewigkeitsbegriff mitgedachte ‚ewige Zeit‘ auf das Leben Jesu bezieht. In der Osterzeit wird offenbar, dass in der Zeit des Menschen Jesu die „Schranken ihres Gestern, Heute und Morgen“81 aufgehoben sind. Diese Aufhebung zeitlicher Schranken betrifft die zerfallene Zeit des sündigen Menschen, die sich als ständiger Zeitverlust darstellt. Barth kann unter der Fragestellung, wie ein Mensch ein Christ wird, das Leben eines solchen, an dem die in der Auferstehung Jesu gegründete Verheißung ewigen Lebens wirksam ist, von einem menschlichen Leben ohne diese Kraft der Auferstehung abheben. Dieses bleibt eine „fortgesetzte Flucht aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft“, während der Christ „ein dem Tod schon trotzendes, in der Diskontinuität sich schon erhaltendes, in jener Flucht durch die Zeiten schon beständiges Leben leben darf“.82 Aber nicht nur den Christen, sondern alle Menschen betrifft die im Leben Christi offenbare wahre Natur der Zeit. Die Zeit des Menschen zeigt sich in Jesus Christus in ihrer natürlichen Gestalt und damit in Entsprechung zu Gottes Ewigkeit.83 Weil Jesus Christus an unserer Stelle steht, ist auch unsere Gegenwart ein dauerndes Sein, die Vergangenheit kein nicht mehr Seiendes, sondern in der Gegenwart mitgegenwärtiges Sein und die Zukunft ein nicht noch nicht Seiendes, sondern schon Gegenwart und Vergangenheit erfüllendes Sein. Ist so der natürliche Mensch offenbar – und wird es „jenseits aller Zeit“ sein –, dann ist er „gewiß viel mehr als der natürliche Mensch, der als solcher den Gefahren der Sünde, der Zerstörung und des Irrtums ausgesetzt ist“.84

8.

Der geschichtliche Mensch angesichts von Sünde und Heil

Barth macht deutlich, dass die Geschichte Jesu auf die Geschichte jedes Menschen übergreift. Auch der im ständigen Zeitverlust vergehende Mensch ist schon in die in Christus offenbarte Zeit eingeholt. Entsprechend der christologischen Grundlegung der Anthropologie kann jeder Mensch nur im Lichte der Auferstehung verstanden werden. In Gott sieht sich der Mensch in seiner wahren Natur, „die also aller sündigen Zerstörung und allem sündigen Irrtum zum Trotz nicht aufgehört hat“,85 während wir in uns selbst nur unsere verkehrte und zerstörte Natur in ihrem Zeitverlust sehen können. Gottes Gericht und Gnade 81 82 83 84 85

KD III/2, 557. KD IV/2, 354f. KD III/2, 625. KD III/2, 670. Ebd.

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stehen hier nicht in einer Folge, sondern in einem perspektivischen Verhältnis zueinander. Doch wie verhält sich diese Darlegung zur Erfahrung des Christusgeschehens in der Geschichte des einzelnen Menschen? Dass ein Mensch aus seiner nichtigen Existenz herausgerissen und in die neue Zeit Christi gestellt wird – diese Geschichte in der Lebensgeschichte eines Menschen ist im Horizont der Barthschen Konzeption schwerlich verständlich zu machen. Die individuelle Geschichte des Menschen ist überblendet von dem schon immer geschehenen Heil. Wenn in jedem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Moment Gottes Gericht und Gnade sind, wie kann sich dann Gnade für einen Menschen in seiner Geschichte ereignen? Barth stellt die Verbindung von Zeit und Ewigkeit durch deren Vorstellung als Zeitraum her. Sind in Gottes Lebensraum der Ewigkeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander gesetzt, so bilden sie für den Menschen in ihrem Nacheinander dessen Lebensraum. Das zentrale, beide verbindende Ereignis ist Jesu Auferstehung, welche die Zeitschranken aufhebt und aus des Menschen Zeit eine „ewige Zeit“86 macht. Gottes Geschichte mit dem Menschen besitzt dann zwar die Gestalt einer Folge, aber ist in Wahrheit, im Blick auf Gott, ein ewiges Geschehen. Ein Vergehen des Vergangenen ist nicht möglich. Weil Barth in seiner Theologie wohl nicht die Ewigkeit verzeitlicht, aber die Zeit verewigt hat, ist das Heilsereignis für den Menschen jederzeit da – im Raum ewiger Zeit. Dem Heil geht damit seine Dynamik in der Geschichte des Menschen verloren. Die ausdrücklich als Geschichte bezeichnete Umkehr des Menschen,87 dessen simul iustus et peccator im Sinne eines Noch und Schon, bleibt bei Barth ein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Zeit schaffendes Geschehen. Das Heil Christi eröffnet dem Menschen einen Zeitraum, durch den das Vergehen der Zeit gleichsam angehalten wird. Der Zeit ist damit aber auch ihre sich in der Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrückende Bewegung, durch die sie zum geschichtlichen Prozess wird, genommen. Aber nur in dieser Bewegung, in deren Gegenwart das Vergangene noch reinragt und doch schon Zukünftiges ist,88 könnte die Umkehr eines Noch-Sünderseins und Schon86 KD III/2, 557. 87 KD IV/2, 647. 88 Barths an der räumlichen Vorstellung orientiertes Gegenwartsverständnis bleibt abstrakt, wenn unsere Gegenwart in unserer Zeit so beschaffen sei, dass „das Gewesene ‚nicht mehr‘, das Künftige ‚noch nicht‘ und darum das ‚Jetzt‘ jene dauer- und ausdehnungslose Mitte zwischen beiden ist“ (KD III/2, 639). Gegenüber Barths Zeitverständnis ist kritisch einzuwenden, dass das Zeiterleben auf ein das räumliche Denken überschreitendes dynamisches Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweist. Nicht dass die Gegenwart keine Zukunft ist, lässt sie „Gelegenheit“ (KD III/2, 641) sein, sondern vielmehr dass sie Zukunft hat. Sie ist kein „Greifen nach dem Künftigen, das jetzt ‚noch nicht‘ ist“ (KD III/2, 639), sondern weil das Künftige schon ist, kann man auch nach ihm ‚gegenwärtig‘ greifen.

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Gerechtseins zum je neuen geschichtlichen Ereignis werden. So bleibt die Heilsgeschichte letztlich der je eigenen Geschichte des Menschen fremd. Auch Schleiermacher legt nahe, dass dem Menschen in jedem Moment durch die göttliche Tätigkeit „die Ewigkeit ins Herz gegeben“89 ist, aber das Ereignis der göttlichen Gnade im geschichtlichen Leben des Menschen wird hiervon deutlich abgehoben, wenn es als ein Einschnitt in einer Entwicklung des Bewusstseins betrachtet wird. Die Aufhebung des Zwiespaltes zwischen dem zeitbezogenen sinnlichen Bewusstsein und dem von Gottes zeitloser Tätigkeit kündenden höheren Bewusstsein trifft das Bewusstsein in seiner Geschichtlichkeit – im doppelten Sinne. Die ‚Einwirkung‘ Christi ereignet sich in einem – freilich nicht genau zu bestimmenden90 – geschichtlichen Moment, und sie trifft gerade das „Nacheinander so wie das vereinzelte und zerstükkelte“91 in der Entwicklung, wenn sie deren Einheit fördert und das zeitliche Nacheinander im Geist zusammenbringt. Diese, die Zeit vereinheitlichende, Wirkung ließ sich auch bei Barth beobachten, wenn in der Zeit Jesu die Schranken des „Gestern, Heute und Morgen“92 aufgehoben werden, aber er geht darin weiter als Schleiermacher, dass in diesem Offenbarungsgeschehen nicht nur die Zeit entschränkt, sondern auch der Zeitverlust aufgehoben wird, in dem der sündige Mensch im Widerspruch zu Gott lebt. Durch die im Ostergeschehen entschränkte Zeit ist das „in seinem Zerfall der Nichtigkeit entgegeneilende Sein“93 des Sünders überwunden. Das Heilsgeschehen trifft auf eine negative Entwicklung des Menschen, die aufgehalten und kraft jener Heilsverheißung nun von einer kontinuierlichen Lebensbewegung durchzogen ist.94 Damit bildet das Heilsgeschehen nicht einen Einschnitt in einer Entwicklung, sondern setzt eine sich selbst pervertierende Entwicklung, „eine beständig sich erneuernde Diskontinuität“95 durch Einheit und Kontinuität

89 90 91 92 93 94 95

Auch Barths Beschreibung der Auferstehungszeit, die einem solchen Ineinander der Zeitmodi nahe kommt, bleibt darin räumlich-statisch, dass sie den jeweiligen Zeitraum der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf die jeweils anderen hin erweitert, aber nicht miteinander ‚in Bewegung‘ bringt. Zu Barths Zeitverständnis vgl. die Darstellungen von Gotthard Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, Neukirchen/Vluyn 1988, Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen 1992, und Ingolf U. Dalferth, Der Mensch in seiner Zeit ZDTh 16/2, 2000, 152–180, der ausgehend vom Zeitverständnis McTaggarts den Entwurf Barths kritisch würdigt. KD III/2, 632. CG, II, 180,9 – 16. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821/22, hg. v. H. Peiter, Bd. 1 (KGA I/ 7.1), 269,19. KD III/2, 557. KD III/2, 626. KD IV/2, 355. KD IV/2, 354.

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außer Kraft.96 Während Schleiermacher das Zerstückelte der Zeit noch als zerstückelte Einheit – und darin als Entwicklung – zusammenhält, sieht Barth diese Fragmentierung als ständigen Abbruch der Einheit an. So wird bei Schleiermacher durch die Zerstückelung der Zeit die Einheit im Bewusstsein nur gehemmt, während bei Barth durch die Zerstückelung der Zeit die Einheit menschlicher Wirklichkeit ihrer Zerstörung preisgegeben ist. Die Ursache für dieses divergierende Verständnis ist in der unterschiedlichen Begründung des Erlösungs- bzw. Versöhnungsgeschehens zu suchen. Weil Schleiermacher die Erlösung des Menschen an der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus orientiert, beruht sie auf einem Vereinigungsgeschehen, das die Annahme des Menschseins durch Gott als Grund hat. Die Vereinigung könnte nicht gelingen, wenn auch der Mensch als Empfangender nicht schon auf sie hingebildet wäre. Das Nacheinander der Zeit führt schon die zeitlose Einheit mit sich. Barths Grundlegung des Gott-Mensch-Verhältnisses als geschichtliche Beziehung ordnet die Menschwerdung Gottes dem Versöhnungsgeschehen von Kreuz und Auferstehung zu, das den sündigen Menschen im Tod Jesu Christi der Vernichtung ausliefert und den mit Gott versöhnten Menschen heraufführt.97 Der ständige Zeitverlust wird von einer ewigen Zeit abgelöst. Barth hat die bei Schleiermacher vermisste ‚Krankheit zum Tode‘ in seiner Dogmatik eingelöst, wenn der sündige Mensch im Tod Jesu Christi vernichtet wird.98 Seine Kritik an Schleiermacher besteht zu Recht, wenn in dessen Glaubenslehre die Überwindung der Sünde des Menschen eine Wende, aber keinen wirklichen Neuanfang bildet. Barth hat durch seine Gestaltung des Gott-MenschVerhältnisses als gegenseitiges Beziehungsgeschehen die Grundlage für das geschichtliche Heilsdrama geschaffen, in dem Gott in Jesus Christus den von ihm abgefallenen Menschen durch den Tod hindurch wieder in seine Gemeinschaft bringt. Aber ist damit eine Geschichte der Krankheit zum Tode, als eine Theologie vom Menschen aus, geschrieben? Barth hat selber eine solche Theologie nicht schreiben wollen, wäre doch damit die Aufgabe einer ‚christlichen‘ Theologie noch nicht erreicht.99 Wenn Barth über Geschichte spricht, dann spricht er über Jesus – „Wer ‚Jesus‘ sagt, der sagt doch eben sofort und unvermeidlich: Geschichte“100 – und von dieser Geschichte her ist auch die Geschichte jedes einzelnen Menschen zu verstehen. Schleiermachers Theologie, als eine „Theologie vom Menschen aus“ (Barth) genommen, lässt wohl die Heilsgeschichte Jesu Christi nicht zur entscheidenden 96 Dabei ist zu beachten, dass die Außerkraftsetzung der beständigen Diskontinuität nicht selbst in einem zeitlichen Kontext stehen kann, weil sie selbst erst dem Menschen Zeit gibt. 97 KD IV/1, 280. 98 S.o. Anm.1. 99 Ebd. 100 KD IV/3, 205.

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Geltung kommen, aber das Heil in der Geschichte des einzelnen Menschen. Das Heil Gottes ereignet sich in der individuellen Lebensgeschichte und kann nur so in seinem Heilscharakter aufleuchten. Gerade darin ist Jesu Geschichtlichkeit ernst genommen und entgegen Barths Votum eine christliche Theologie entworfen, die aufzeigt, dass Gott sich in seiner Heilsmacht zu einem Ereignis in der Geschichte des einzelnen Menschen macht. Während nach Barth Gott die Geschichte des einzelnen Menschen „zur Geschichte seiner eigenen großen Taten gemacht“,101 in seine Heilsgeschichte erhoben hat, geht nach Schleiermacher Gottes Heil in die individuelle Geschichte des einzelnen Menschen ein und schreibt mit ihm Heilsgeschichte. Der anfangs gegen beide Theologen erhobene Vorwurf eines mangelnden Sündenbegriffs deckt das Defizit des jeweiligen Ansatzes auf. Wie soll Schleiermacher die Heillosigkeit der Sünde erfassen können, wenn er die Geschichte von Kreuz und Auferstehung nicht zum anthropologischen Zentralort macht? Wie soll Barth die Gottlosigkeit des Menschen in der Sünde glaubhaft vermitteln können, wenn er das Heil Gottes nicht zuerst als Wende in der Geschichte des Menschen beschreibt? Doch sind diese Fragen nur die Kehrseite grundlegender Einsichten, die für weitere anthropologische Entwürfe unverzichtbar sind. Dass Gott in Jesus Christus in unsere Geschichte kommt und damit die christliche Anthropologie in der Geschichte des von Christus durchdrungenen Menschen ihre Erfüllung findet, hat Schleiermacher in höchster Reflexion deutlich gemacht. Dass Gott in Jesus Christus sich selbst in eine geschichtliche Beziehung zum Menschen setzt und die christliche Anthropologie nur in dieser Geschichte gründen kann, hat Barth nicht minder eindrucksvoll beschrieben. Hat nicht Schleiermacher darin Recht, dass allein in dem durch Jesus Christus zu empfangenden wahren Gottesbewusstsein des Menschen, in dem das Heil ihm solches sein kann, die christliche Anthropologie begründet ist und das Proprium des Menschen in solcher Empfänglichkeit liegt – und hat nicht Barth darin Recht, dass allein die Heilsgeschichte Jesu Christi, in der allein das Heil zu solchem wird, als Grund christlicher Anthropologie zu gelten hat und das Proprium des Menschen nur in dieser mit dem Menschen geschriebenen Geschichte Gottes besteht?

101 KD III/2, 632.

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Martin Hailer

Wiedergeburt. Schleiermacher und Barth zu einem Kernthema der Soteriologie1

1.

Eine leidgeprüfte theologische Metapher: Vorbemerkung in systematischer Absicht

Der Begriff, die Metapher der Wiedergeburt hat, wie Otto Weber treffend bemerkte, „in der Dogmatik eine wahre Leidensgeschichte durchgemacht“.2 Weber bezieht das auf weitgehende Ignoranz dem Terminus gegenüber einerseits und eine für seine Begriffe falsche Interpretation andererseits. Die Ignoranz erlaubt sich, die Metaphorik der Wiedergeburt, obwohl sie neutestamentlich gut belegt ist, weitgehend nicht zur Kenntnis zu nehmen und – so etwa in der evangelischen Theologie – zu behaupten, alles Entscheidende sei in der Rede von der Rechtfertigung bereits gesagt. Das aber ist eine Verkürzung, die eine biblische Metapher mit eigenem sachlichen Gehalt ohne Not abblendet. Das Fehlurteil wiederum sieht Weber in einer problematischen Verinnerlichung: Wiedergeburt wird hier verstanden als Momentum, das sich in der Seele bzw. im Bewusstsein einer Person abspielt. Dieser Vorgang ist nach außen unanschaulich, für die ‚betroffene‘ Person aber unabweisbar. Zudem wird sie als für die Beziehung zwischen Gott und Mensch notwendig oder gar hinreichend beschrieben: So etwa beim mystischen Topos von der Gottesgeburt in der Seele,3 bei der pietistischen 1 Vgl. Wiedergeburt, hg. von R. Feldmeier, Göttingen 2005. Die systematisch-theologischen Beiträge des Bandes (M. Hailer, Wiedergeburt und Weltfremdheit. Ein Versuch, Nietzsches „Fluch auf das Christentum“ ein wenig Segen abzugewinnen, 101–148; W. Schoberth, Zur neuen Welt kommen. Überlegungen zur theologischen Logik der Metapher „Wiedergeburt“, 149–164) gehen nur kurz auf Schleiermachers Erwägungen ein und erwähnen Barths nicht. Beides muss ihre Ergebnisse nicht ungültig machen, legt aber die Weiterarbeit nahe. 2 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik, Band 2, Neukirchen 1962, 401. 3 Ab dem 13. Jahrhundert lässt sich die Rede von der dreifachen Geburt Christi nachweisen. Sie wird in den drei Weihnachtsmessen versinnbildlicht: Die ewige innertrinitarische Geburt, das Weihnachtsereignis und die Geburt Christi in der gläubigen Seele, vgl. J. Weismayer, Art. Wiedergeburt III, LThK3 10, 1149f. Paradigmatisch sind hierfür Meister Eckhart und Angelus Silesius zu nennen. In einer Predigt zu 1. Joh 4,16 führt Meister Eckhart aus: „Bin ich ‚aber‘ selig, so sind alle Dinge in mir und Gott ‚dazu‘. Wo ich bin, da ist Gott; so ‚also‘ bin ich in Gott

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Betonung des Wiedergeburtserlebnisses,4 nicht zuletzt in den Soteriologien der lutherischen und reformierten Orthodoxie, die regeneratio als ein Momentum des Rechtfertigungsgeschehens ausweisen. An dieser Vorstellung findet Weber zweierlei problematisch: Zum einen vergisst die verinnerlichte Vorstellung von Wiedergeburt den eschatologischen Akzent: Die regeneratio vergegenwärtigt für den Täufling Gottes neue Welt hier und jetzt. Wenn das so ist, dann ist regeneratio als Vorgang im inneren Leben eines Menschen aber zumindest dramatisch unterbestimmt, weil es das menschliche Leben als Ganzes neu und endgültig ausrichtet. Und zweitens kritisiert Weber, dass dem Vorstellungskomplex regeneratio die Glocke der Erfahrbarkeit umgehängt werde: Zwar verinnerlicht die gängige Vorstellung das Geschehen, zugleich aber lädt sie es so auf, dass die Person, der sie widerfährt, als Erfahrungstatsache von ihr sprechen können muss. Das aber bindet Gottes freie Gnade an die Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen und macht Gott so zum Erfüllungsgehilfen des homo religiosus.5 Die hier folgenden Überlegungen nehmen Otto Webers erste Kritik auf und bemühen sich, seine in der zweiten ausgedrückte Sorge qualifiziert zu zerstreuen. Ihm ist zunächst darin Recht zu geben, dass Wiedergeburt/regeneratio Gottes heilvolles und damit endgültiges Handeln bezeichnet, das anders als eschatologisch nicht sachgerecht in den Blick genommen werden kann. Von hier aus fällt in der Tat kritisches Licht auf nicht geringe Traditionsbestände zum Thema und Webers Stoßseufzer von der Leidensgeschichte zeigt sich als gut begründet. Mit seiner Abstinenz dem Erfahrungsthema gegenüber verhält es sich aber anders. So recht er damit hat, dass Gottes Handeln niemals als durch menschliche Erfahrungsmöglichkeiten limitiert gedacht werden darf, hält er sich eine Pointe der Wiedergeburtsmetaphorik damit doch vom Leibe: In ihr ist mitgesetzt, dass Gott mit Menschen zu tun haben will, dass er sie anfasst, ihr Leben erneuert und verändert. Und das ist ohne Rekurs auf menschliche Erfahrung nicht sachgerecht auszusagen. Im Vorgriff gesagt: Der Erfahrungsbezug wird sich anders darstellen, als es die theologischen Traditionen vom unabweisbaren innerlichen Erlebnis nahe legen. Aber der provozierenden theologischen Sachlichkeit, dass Gott den Menschen in der Wiedergeburt verändert, und zwar spürbar verändert, ist damit das Ende nicht bereitet, sondern das Thema vielmehr gestellt: Wer erfährt was auf welche Weise, wenn zu Recht von Gottes Handeln als regeneratio die Rede ist? Beide Fragen werden beiden Protagonisten zur Prüfung und Entfaltung vorgelegt. Es ist also die Behauptung mitgesetzt, sowohl Friedrich Schleiermacher als und wo Gott ist, da bin ich.“ Werke I, übers. von J. Quint, hg. von N. Largier, Frankfurt/M. 2008, 679. 4 Ph. J. Spener veröffentlichte 66 Wochenpredigten unter dem Titel „Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt“, vgl. ders., Schriften VII.1–2, hg. von E. Bayreuther, Hildesheim u. a. 1994. 5 Weber, Grundlagen, 400 bzw. 403.

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Wiedergeburt

auch Karl Barth machten mit der eschatologischen Dimension der Rede von Wiedergeburt ernst und nähmen sich zudem seiner Erfahrungsbezogenheit an. Diese Behauptung ist nicht selbstverständlich. Landläufige Meinung ist, dass Schleiermacher unter die Ignoranten bezüglich der Eschatologie zähle und Barth – hierin Lehrer seines Schülers Otto Weber – den Erfahrungsbezug programmatisch vom Tisch wische. Ich möchte zeigen, dass beides nicht wahr ist und dass im Blick auf zentrale Ausführungen der beiden Theologen wertvolle Erkenntnisse zu erzielen sind. Eine teils womöglich überraschende Neuvermessung des Verhältnisses der beiden könnte die Folge sein. Freilich läuft das nicht darauf hinaus, beide nun als identisch zu betrachten. Die Differenzen werden sich deutlich genug zeigen und die Aufforderung zu wohl begründeter theologischer Positionalität erneuern.

2.

Gott vereinigt sich mit der menschlichen Natur: „Wiedergeburt“ in Friedrich Schleiermachers reifer Glaubenslehre

Es verdient zunächst einmal Beachtung, dass Schleiermacher dem Thema Wiedergeburt/regeneratio überhaupt konzentrierte Aufmerksamkeit schenkt. Denn es hatte einen festen Ort im altprotestantischen Lehrstück vom ordo salutis, welches die Aneignung des in Christus geschenkten Heils in eine Reihe von Momenten oder Stadien auseinanderlegte. Bei Johann Andreas Quenstedt heißt die Reihung: vocatio – regeneratio – conversio – iustificatio – poenitentia – unio mystica – renovatio/sanctificatio. David Hollaz ordnet anders an: vocatio – illuminatio – conversio – regeneratio – iustificatio – unio mystica – renovatio – conservatio – unio mystica. Die regeneratio wird bei beiden als Wiederherstellung des geistlichen Lebens und der geistlichen Erkenntnis verstanden. In der Deutung umstritten ist, ob es sich beim ordo salutis um eine Abfolge von Stadien oder ob um die analytische Aufgliederung des einen und nicht in Stadien aufzugliedernden Vorgangs der Rechtfertigung handelt.6 Gemeinsam ist beiden Interpretationslinien, dass sie auf der Objektivität des Vorgangs beharren: Gottes Heil ist eine Tatsache, deren Tatsächlichkeit sich auch darin zeigt, dass sie begrifflich dargestellt werden kann. Das Lehrstück vom ordo salutis verfiel ab der Aufklärungszeit der Kritik, dass es sich um eine rationalistische Deutung handle, die vor allem durch die Reihung 6 Vgl. Johann A. Steiger, Art. Ordo Salutis, TRE 25, 371–376 und Eilert Herms, Die Wirklichkeit des Glaubens. Beobachtungen und Erwägungen zur Lehre vom ordo salutis, EvTh 42 (1982), 541–566. Einschlägige Zitate bei H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Frankfurt/M. 1876, 337–353.

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mehr Probleme schaffe als sie löse. Man sah in ihm eine objektivistische Festlegung und ein Bestehen auf der Faktizität von Heilsereignissen, die, wenn überhaupt, nur durch strikt supranaturalistische Interpretation gehalten werden könnte – und dieser Preis war fraglos zu hoch. Auch der junge Schleiermacher lässt keinerlei Neigung zu diesem Lehrstück erkennen. Die allgemeine Theorie religiöser Erfahrung, wie er sie in den Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern vorlegt, kann geradezu als Kritik der ordo-salutisTheologie gelesen werden: Diese ist denkbar nur als Auslegung des christlichen Glaubens und denotiert für ihn begrifflich bestimmbare Zustände und/oder Aspekte. In der zweiten Rede aber geht es um eine Weise des sich-Vorfindens in der Welt, die allen Menschen gilt und die in provokativer Weise den Bereich des Christentums überschreitet. Freilich denkt Schleiermacher dies nicht als Ermöglichungsstrategie individualistischer Religiosität alleine, wie er gerade im Gefolge der zweiten Rede gern verstanden wird:7 „Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen.“8 Auch und gerade die allgemeine Religionstheorie ist theologische Propädeutik – und hat sich das von Schleiermachers frühromantischen Freunden ja auch negativ ankreiden lassen müssen. Gleichviel: Die ‚Reden‘ exponieren einen Religionsbegriff, der vom ordo-salutisDenken vernehmlich entfernt ist und bauen zu einer Theologie, die an deren Bestände anzuknüpfen versucht, gleichwohl Verbindungen auf, auch wenn diese sehr vorsichtig ausfallen. Warum und worin diese Verbindungen bestehen, muss die Analyse der entsprechenden Passagen aus der Glaubenslehre selber zeigen. Schleiermachers Interesse an Begriff und Thema der Wiedergeburt hängen mit der theologischen Grundentscheidung der Glaubenslehre überhaupt zusammen. Sie lautet: Es hat Gott gefallen, nicht bei sich in seiner Göttlichkeit allein zu bleiben, sondern in der Wirklichkeit der Welt anwesend und wirksam zu sein. Gott ist tatsächlich in Christus wirksam und er ist in der Kirche so anwesend, dass er die Welt verändert. Es handelt sich um die „Hauptangelpunkte der christlichen Lehre, Sein Gottes in Christo und in der christlichen Kirche“. (GL 2, 461) Alles andere ist diesen ‚Hauptangelpunkten‘ gegenüber sekundär, so z. B. die über dies Grundsätzliche hinausgehenden Bestimmungen der Trinitätslehre. (bes. GL 2, 458f. 469) Dieses Verdikt ist wohlbekannt. Interessanterweise gilt es nicht für die 7 Vgl. exemplarisch W. Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006, 52–55.185–189. 8 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg. von R. Otto, Göttingen 82002, 163. In der Glaubenslehre heißt es entsprechend: „In der Wirklichkeit des christlichen Lebens ist also beides immer ineinander; kein allgemeines Gottesbewußtsein, ohne daß eine Beziehung auf Christum mitgesetzt sei, aber auch kein Verhältnis zum Erlöser, welches nicht auf das allgemeine Gottesbewußtsein bezogen würde.“ F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. von M. Redeker, Berlin 71960, Bd. 1, 344 (im Folgenden mit dem Kürzel GL, Band- und Seitenzahl im Text nachgewiesen).

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Wiedergeburt

Rede von der Wiedergeburt. Warum? Schleiermacher bestimmt die Gegenwart Gottes in der Welt wesentlich als seine Wirksamkeit, also als Kausalität. Diese Wirksamkeit nun ist nicht ‚irgendwie‘ in der Welt am Werke, sondern manifestiert sich für Menschen durch eine Affektion und Veränderung des menschlichen Bewusstseins. Damit ist die entscheidende Bestimmung erreicht: Es geht um die „göttliche Wirksamkeit, durch welche das Gottesbewußtsein zur Herrschaft gelangt“. (GL 1, 351) Gottes weltverändernde Wirksamkeit ist für Menschen von der Art, dass sie ihr Bewusstsein von ihm her affiziert und verändert finden, so dass man es wagen kann, von einem Gottesbewusstsein zu sprechen. Widersprechende Anteile finden sich zurückgedrängt und alle weiteren Bestimmungen des christlichen Lebens – so etwa die in der Sittenlehre zu verhandelnden – sind von der Art, dass sie als Konsequenz des so veränderten Bewusstseins aussagbar sind. Damit ist diejenige Sachlichkeit umrissen, die Schleiermacher mit dem biblischen Begriff der Wiedergeburt näher beschreiben wird. Er ist wie folgt eingeordnet: Schleiermacher verhandelt durchaus konventionell zuerst die Christologie und danach die Soteriologie. Deren Thema heißt: „Von der Art, wie sich die Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers in der einzelnen Seele ausdrückt.“ (GL 2, 147, Leitsatz § 106) Unterteilt ist der Passus in die Lehrstücke von der Wiedergeburt und von der Heiligung. Christologie und Soteriologie sind eng miteinander verknüpft, die Zäsur zum weiteren Verlauf wird deutlich, es geht dann um die Lehre von der Kirche. Schon diese Anordnung zeigt: Schleiermacher arbeitet hier auf reformatorischer Linie. Das Beieinander von Christologie und Soteriologie ist sein Vers auf Melanchthons Dictum: Christus erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen. Und mit Wiedergeburt und Heiligung rückt er dafür zwei Begriffe in den Mittelpunkt, die reformatorisches Urgestein sind. Und so zeigt der Blick auf die Verortung des Themas: Schleiermacher entfaltet hier ein reformatorisches Lehrstück mit reformatorischer Begrifflichkeit und Thematik. Das ganze Vorgehen zeigt Schleiermacher als Autor einer kirchlichen Dogmatik. Die Rede vom neuen Menschen nun ist hohe Rede. Einige Beispiele: „Der neue Mensch also eignet sich die Sünde nicht mehr an und arbeitet auch gegen sie als ein Fremdes (…).“ (GL 2, 175) Es geht um das „Wachstum des neuen Menschen“ (GL 2, 186), ja es geht um nichts weniger als den „göttliche[n] Vereinigungsakt mit der menschlichen Natur“. (GL 2, 187) und entsprechend das „Entstehen des göttlichen Lebens in uns“. (GL 2, 170) Kurz und thetisch schreibt er: „der Wiedergeborene [ist] der neue Mensch“. (GL 2, 191) Die Wiedergeborenen und also neuen Menschen wissen um die „Unverlierbarkeit der rechtfertigenden göttlichen Gnade“. (GL 2, 194) Sie sind „Selbsttätige[r]“ (GL 2, 202) in Sachen der guten Werke geworden. Das Sein des alten Menschen im Gesamtleben der Sünde hat aufgehört, sein Sein als neuer Mensch in der Lebensgemeinschaft mit Christus hat angefangen. (GL 2, 156.158) Diese Zitat-Collage allein ist natürlich

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noch kein hinlänglich analysiertes Argument. Aber sie macht doch den Ton und den Argumentationsanspruch deutlich, mit dem Schleiermacher die Rede vom neuen Menschen angeht. Und der heißt: Es geht buchstäblich um alles. Dieses ist nun näher zu betrachten. Dabei zeigen sich folgende Aspekte von Schleiermachers Theologie der Wiedergeburt: (1) Der formale Charakter der Bewusstseinstatsache, (2) die inhaltliche Näherbestimmung als Hemmung und Überwindung des Sündenbewusstseins, (3) der Charakter der Stetigkeit und (4) die mitgesetzten Annahmen über Art und Weise des Handelns Gottes in diesem Vorgang. Ad (1): Die Wiedergeburt ist „der Zustand des Einzelnen im Übergang aus dem Gesamtleben der Sündhaftigkeit zur Lebensgemeinschaft mit Christo“. (GL 2, 150) Damit ist zunächst gesetzt: Wiedergeburt ist als eine Phase zu verstehen, wohl nicht als isoliertes Momentum – dagegen wird Schleiermacher sich später noch explizit verwahren –, jedoch als eine Phase, die nicht das ganze Leben des Christen ausmacht. Wie hat man sich diese Phase nun formal vorzustellen? Es handelt sich um eine grundlegende Neuorientierung der passiven wie der aktiven Momente des Selbstbewusstseins. Den Lesern der einleitenden Paragraphen der Glaubenslehre ist vertraut, dass Schleiermacher für das menschliche Selbstbewusstsein ein In- und Miteinander solcher Momente annimmt: Es gibt sowohl Freiheitsakte als auch Momente der Passivitität und die skrupulöse Analyse des Zusammenhangs der beiden führt dazu, die Freiheitsmomente als endlich zu begreifen, dem Momentum der Passivität aber den Status des Grundlegenden einzuräumen: Das Sich-selbst-nicht-so-gesetzt-haben ist unhintergehbar und führt zur Formulierung der wohlbekannten Theorie von der schlechthinnigen Abhängigkeit. Diese beiden Elemente der Passivität und der Aktivität kehren in Schleiermachers Rede von der Wiedergeburt wieder. Der Begriff beschreibt, wie beide Momente des Selbstbewusstseins grundständig neu ausgerichtet werden. Im Zustand der Sünde gibt es sehr wohl einen Bezug der beiden Momente des Selbstbewusstseins auf Gott, dieser ist aber „nicht willenbestimmend, sondern nur durchlaufend.“ (GL 2, 150) Das ändert sich beim Wechsel vom Gesamtzusammenhang der Sünde in die Lebensgemeinschaft mit Christus. Das Wovon der Abhängigkeit wird ein anderes und zugleich damit auch die Grundierung der Freiheitsakte. Das Wovon der Abhängigkeit tritt aus dem Gesamtzusammenhang der Sünde heraus und geht über zur Lebensgemeinschaft mit Christus, es wandelt sich von der sinnlichen Bestimmung hin zum Bestimmtseinlassen durch Gottes Aktivität in der Welt. Das hat unmittelbare Konsequenzen auch für die freiheitlichen Akte des Menschen. Sie werden, weil sie auf dem neu gepolten passiven Selbstbewusstsein des Menschen beruhen, zu Akten der Zustimmung zu dem Werk und Willen Christi

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und damit zu nichts weniger als zu denen einer cooperatio hominis cum Christo. Schleiermacher ist dabei wichtig – und das als letzte kurze Bemerkung zum bewusstseinstheoretischen Aspekt – dass das neue Bewusstsein der Gemeinschaft mit dem Lebenszusammenhang Christi nicht völlig unvorbereitet auf den Menschen trifft. Es gibt inferiore Momente des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit, an denen das neu geschenkte und gehörte Bewusstsein der Zugehörigkeit zu Christus anknüpfen kann. Was sich von heute aus betrachtet wie ein Vorgriff auf den Streit zwischen Emil Brunner und Karl Barth über den „Anknüpfungspunkt“ ausnimmt,9 ist Schleiermachers Parteinahme im synergistischen Streit des Reformationsjahrhunderts: Gegenüber der Gnade Gottes verhalten Menschen sich nicht nicht – also in der geläufigen Terminologie wie ein Stein –, sondern durch eine vorgängige Empfänglichkeit für die Gnade Gottes, die ihrerseits auf Gottes vorauslaufende Gnade zurückzuführen ist.10 Entsprechend kann sich Schleiermacher den Vorgang Erlösung nur vorstellen, wenn ihm die Anerkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit voraus geht. (vgl. GL 1, 349) Ad (2): Die inhaltliche Bestimmung des Wiedergeburt genannten Neubeginns besteht in der Hemmung des Sündenbewusstseins und dem Hervortreten des Gottesbewusstseins. Der Vorgang Wiedergeburt ist also darstellungspragmatisch die Schaltstelle des Gegensatzes in der Entwicklung des frommen Selbstbewusstseins – abgesehen von dessen aus einleuchtenden Gründen zuvor zu verhandelnder Grundlegung im Christusereignis.11 Schleiermacher skizziert den 9 Vgl. den Satz: „auch in der menschlichen Natur [muss] die Möglichkeit liegen, das Göttliche, wie es eben in Christo gewesen ist, in sich aufzunehmen.“ (GL 1, 89) 10 Die ökumenische Chance dieses Gedankens (vgl. die Rede von der gratia praeveniens bei Thomas v. Aquin, Summa totius theologiae I – II, q. 111.3) greift Schleiermacher nicht auf. Die durchgängig innerprotestantisch angelegten Verweise und Debatten in den entsprechenden Paragraphen der Glaubenslehre machen es wahrscheinlich, dass ihm dies schlicht nicht wichtig war. Zum in der Glaubenslehre stetig geführtem Dialog mit Basisdokumenten des Reformationsjahrhunderts, untersucht an den Einleitungsparagraphen, der Sünden- und Abendmahlslehre, vgl. M. Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989, 195–267. Vgl. auch die Kongressbeiträge zu Schleiermachers Reformationsdeutung von G. Ebeling, Luther und Schleiermacher, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von K.-V. Selge, Berlin/New York 1985, Band 1, 21–38; O. Bayer, Schleiermacher und Luther, ebd. 1005–1016; W. Sommer, Schleiermachers Stellung zu den reformatorischen Bekenntnisschriften, vor allem nach seiner Schrift „Über den eigentümlichen Wert und das bindende Ansehen symbolischer Schriften“, ebd. 1061–1074. 11 Zur Christologie Schleiermachers insgesamt: Th. Siegfried, Zur Christologie Schleiermachers, ZThK 40 (1932), 223–235; R.R. Niebuhr, Schleiermacher on Christ and Religion, London 1965 (zuerst New York 1964), bes. 210–259; W. Sommer, Schleiermacher und Novalis. Die Christologie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum Christusbild des Novalis. Bern und Frankfurt a.M. 1973; D. Lange, Historischer Jesus oder mythischer

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Gesamtzusammenhang der Sünde als eine grundsätzliche Fehlorientierung des Bewusstseins. Diese Fehlorientierung kann aber nicht an sich beschrieben werden, sondern nur in ihrem sowohl fatalen als auch zum gänzlichen Verschwinden bestimmten Verhältnis zum Gottesbewusstsein. Einschlägig ist § 66 der Glaubenslehre:12 „Wir haben das Bewußtsein der Sünde, sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt, und begreifen deshalb die Sünde als einen positiven Widerstreit des Fleisches gegen den Geist.“ (GL 1, 355) Der erste Teil dieses Paragraphenleitsatzes erläutert den zweiten. Der seinerseits spricht traditionelle Kirchensprache und ist gewiss als absichtliche Anknüpfung an sie gemeint. Wie stets ist Schleiermacher aber erst zufrieden, wenn der gemeinte Umstand nicht als ‚Heilstatsache‘ behauptet ist, sondern wenn diese objektivierende und also falsche Rede in die Phänomenologie der Affektation des Selbstbewusstseins überführt wurde. Und das gelingt, wenn man das Zugleich sündlicher Orientierung mit dem dann notwendig rudimentären Gottesbewusstsein denkt: Dieses tritt dann als störend und lästig, eben: als Unlust hervorrufend auf den Plan. Dabei ist wichtig, dass Sünde nicht eine Bewusstseinstatsache ist, wiewohl sie erst im Bewusstseinsakt der Unlust zum Gottesbewusstsein merkbar wird: Das Bewusstsein der Sünde folgt auf die Sünde selbst. (GL 1, 356, vgl. 351) Wiedergeburt ist nun der strikt gegenläufige Prozess, der diesen Widerstreit aufzulösen beginnt. Eine „Sinnesänderung“ (GL 2, 158) hat stattgefunden, „das Sein des Menschen im Gesamtleben der Sünde [wird] aufhören und das Sein desselben in der Gemeinschaft Christi anfangen.“ (GL 2, 156) Man kann das so verstehen: Das Wovon der Abhängigkeit beginnt sich zu ändern. Das trotz aller Hemmnisse stets vorhandene Gottesbewusstsein beginnt die Oberhand zu bekommen und entsprechend ändert sich die Ausrichtung der gesamten Person. Schleiermacher erläutert das mit dem Begriff der Lebensform. Lebensform ist die Grundausrichtung des menschlichen Daseins, das, was den Faktoren des bewussten Lebens die Richtung angibt und damit die Basis des Gefühlslebens wie die Basis des rationalen Lebens. Jemandes Lebensform ist deshalb auch die Basis Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975; M. Junker, Das Urbild des Gottesbewußtseins. Zur Entwicklung der Religionstheorie und Christologie Schleiermachers von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre, Berlin/New York 1990. 12 Zu Schleiermachers Hamartiologie vgl. H. Fischer, Subjektivität und Sünde. Kierkegaards Begriff der Sünde mit ständiger Rücksicht auf Schleiermachers Lehre von der Sünde, Itzehoe 1963; A. Scierzyn, Das Sünden- und Schuldproblem im dogmatischen Denken Schleiermachers, Diss. Erlangen 1973; C. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, 174–237.298–303; dies., Art. Sünde VII, TRE 32, 400–436, hier 418–420; Niebuhr, Schleiermacher on Christ and Religion, 196–204.

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seines Willens. Und auf diese Grundlage des Willens zielt Schleiermacher ab. Denn da zeigt sich: Es gibt eine Lebensform, in welcher der Wille nur von sinnlichen Eindrücken angeregt wird, also äußerlich bestimmt ist. Bezug auf Gott kann es in dieser Lebensform durchaus geben. Aber der Bezug auf Gott ist, wie Schleiermacher plastisch schreibt „nicht willenbestimmend, sondern nur durchlaufend“. (GL 2, 150) Diese Lebensform nennt Schleiermacher auch „Gesamtleben der Sündhaftigkeit“. (ebd.) Sie ändert sich grundlegend in dem Augenblick, in dem der Lebenszusammenhang mit Christus beginnt. Die Elemente kehren sich jetzt um: Die Lebensform ist nun nicht mehr sinnlich bestimmt. Sie ist vielmehr durch Gottes Gegenwart angeregt und verändert. Der Mensch ist anders geworden. Er findet sich in einer neuen Lebensform vor, besser: als neue Lebensform. Entsprechend ändert sich alles: die Ziele, die Prioritäten, die Wünsche. Das Wiedergeburt zu nennen, dürfte in der Tat nicht verfehlt sein. Schleiermacher besteht darauf, dass diese fundamentale Sinnesänderung als von der „persönlichen Wirksamkeit Christi“ ausgelöst gedacht werden muss und also aus der Predigt kommen muss. (GL 2, 167) Wäre es anders, dann fehlte erstens die Verlässlichkeit, dieser Sinnesänderung als Gottes Tat gewiss zu sein und zweitens der konstitutive Gemeinschaftsbezug des christlichen Lebens. – Auch an diesem Punkt ist die reformatorische Positionierung Schleiermachers mit Händen zu greifen: Er streitet für die Äußerlichkeit und Leiblichkeit des Wortes und in eins damit für die ekklesiologische Verknüpfung der Rechtfertigungslehre.13 Ad (3): Spürbar eigene Wege geht Schleiermacher mit seinen Überlegungen zur Stetigkeit und Prozesshaftigkeit der Wiedergeburt. Die Gewissheit, die mit ihr einher geht ist nach seiner Ansicht wesentlich Gewissheit über die „Unverlierbarkeit der rechtfertigenden göttlichen Gnade“. (GL 2, 194) Wiedergeburt, so Schleiermacher, „drückt den Anfang eines zusammenhängenden Lebens“ aus. (GL 2, 152) Der Wechsel vom Gesamtzusammenhang der Sünde in die Lebensgemeinschaft mit Christus ist nicht insular oder sprunghaft, er ist stetig. Das ist nicht nur eine Behauptung von theologischer Richtigkeit, sie gilt auch für alltägliche Selbstbeobachtung: „daß die Äußerungen des neuen Lebens auch erfahrungsmäßig immer stetiger werden und hierdurch auch die Zuversicht zur Fortdauer dieser Lebensvereinigung mit Christo mehr und mehr ins wahrnehmbare Selbstbewußtsein treten muß (…).“ (GL 2, 192) Ein ängstliches Hinhorchen, es könne morgen anders sein, ist unnötig. Der Begriff vom Wachstum 13 Vgl. die detaillierte Analyse bei Th.H. Jørgensen, Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, bes. 203ff. Jørgensen entwickelt den Offenbarungsbegriff von den Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre her. Die Möglichkeit, ihn gleichsam in actu zu analysieren, wie sie z. B. an dieser Sachstelle gegeben ist, harrt demgegenüber noch der Bearbeitung.

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im Glauben ist nicht falsch, wenn man ihn differenziert genug verwendet. Stetigkeit ist dabei etwas, was sich rückblickend als gewiss einstellt, nicht in actu – und deswegen ist der Ausweis eines Momentums der Wiedergeburt auch nicht nötig, weil er Gottes Gnade auf ein augenblickshaftes Handeln einengen würde. (GL 2, 160) Das Gleiche gilt für Wachstum im neuen Leben. Es ist nicht linear und es gibt Pendelausschläge nach oben wie nach unten. Von Wachstum aber darf gesprochen werden, wenn man es „zeitlicherweise allmählich“ denkt. (GL 2, 179) In diesem Sinne ist die rechtfertigende göttliche Gnade unverlierbar und vollkommen zuverlässig. (GL 2, 194) Und in diesem Sinne kann mit Gunther Wenz davon gesprochen werden, dass es bei Schleiermacher eine Rede vom ordo salutis gibt.14 Glaube schließlich ist zu denken als Bewusstsein der Tatsache in der Gnade zu sein. Ér ist ein „beständig fortdauernder Gemütszustand“ und in Sachen der Begnadigung durch Gott das „beginnende beharrliche Bewußtsein des Besitzstandes“. (GL 2, 155) Dies ist ein für Schleiermachers Soteriologie wichtiger Zug: Es kommt Gottes Gnade und Gegenwart gerade zu, stetig zu sein und nicht ereignishaft und der Glaube ist zu verstehen als Bewusstsein hierüber. Auf die Voraussetzungen dafür in Schleiermachers Gotteslehre ist hier gleich im letzten Unterpunkt einzugehen. Er verdient auch deshalb Hervorhebung, weil sich bei aller Sympathie im theologischen Anliegen, das Thema Wiedergeburt zu bearbeiten, hier vernehmliche Unterschiede zur Theologie Karl Barths zeigen werden. Ad (4): Schleiermacher denkt Gott und Stetigkeit zusammen. Gottes Wohlgefallen findet nicht das, was bald ist, bald nicht ist. Deutlicher noch: Gott kann das, was wechselt, nicht in sein Wohlgefallen binden. (GL 2, 202) Weil Christi Präsenz und Wirkung aber stetig ist, findet sie Gottes Wohlgefallen. Und deswegen ist der Zweifel am eigenen Sein im neuen Leben vielleicht modisch oder existenzialistisch. Aber er zweifelt letztlich an Gottes Gottsein und Beharrlichkeit und das ist nicht wohlgeraten. Das ist ein reformatorisches Argument in neuzeitlichem Gewande. Auch Luther spricht davon, dass Menschen von der Introspektion gnädig abgerückt werden und Gottes Verheißungstreue auch da vertrauen dürfen. Das Heil ist extra nos, wiewohl zugleich pro nobis. Schleiermacher fängt nun umgekehrt an und spricht vom in nos und pro nobis des Heils, dessen wir gewiss sein dürfen, weil es im extra nos der Beständigkeit und Unwandelbarkeit Gottes verankert ist. Wie weit die Prämissen in der Gotteslehre auseinandergehen und wie weit Schleiermacher hier platonisierend oder mit dem Gott Spinozas denkt, 14 G. Wenz, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Sinn und Geschmack fürs Unendliche, in: Theologen des 19. Jahrhunderts, hg. von G. Wenz, Darmstadt 2002, 21–38, 35. Es wird noch zu fragen sein, ob dies Motiv der Stetigkeit nicht in schwerwiegende Probleme führt und ob insofern Schleiermachers energische Zurückweisung des ordo-Gedankens in der Phase der Reden über die Religion nicht zielführender ist als ihre Restitution in der Glaubenslehre.

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das muss man fragen. Aber dass das Motiv eine Relektüre reformatorischen Denkens ist, sollte deutlich sein. Weil Gott stetig ist, ist das neue Leben stetig. Schleiermacher plädiert für die Stetigkeit des neuen Lebens und damit gegen die Vorstellung, das neue Leben sei aktualistisch. Einmal präsent, einmal nicht, einmal gewiss, dann wieder nicht. Dieser Aktualismus, so will er einschärfen, stimmt nicht für das Leben der Wiedergeborenen, er stimmt auch nicht für Gottes Präsenz und Gnade. An diesem Punkt zieht Schleiermacher eine wichtige Unterscheidung ein: Er differenziert zwischen dem schöpferisch-wirksamen Handeln Gottes und dem deklaratorischen Handeln Gottes. Das Schöpferische oder Wirksame ist die Präsenz Christi und die Umkehrung des Selbstbewusstseins, wie wir sie hatten. Unter deklaratorisch versteht Schleiermacher, dass Gott gerecht spricht. Es geht um ein Rechtfertigungsurteil. Und genau diesen Gedanken, diese Vorstellung unterzieht er einer deutlichen Kritik. Gottes deklarierendes Handeln – nicht geeignet, das unterscheidend Evangelische gegen die römische Theologie zu betonen. Gottes deklarierendes Handeln – verführt zur irrigen Idee, es gebe mehrere Akte der Rechtfertigung. Gottes deklarierendes Handeln – im Grunde lässt es sich verlustfrei mit dem schöpferisch-wirkenden zusammen denken. Das Wirksame und das Deklaratorische sind nicht zu trennen, ja man kann sagen: „es verschwindet uns das Deklaratorische wieder in dem Schöpferischen“. (GL 2, 180) Es ist nicht nötig, von Gott als dem zu denken, der das Rechtfertigungsurteil spricht. Vielmehr ist es so: Gott ist in Christus wirksam und gegenwärtig im umgewandelten Selbstbewusstsein. Das kann man dann auch deklaratorisch nennen, aber diese Vokabel fügt der Wirksamkeit Gottes nichts Neues hinzu. Gerechtfertigt wird der Mensch, weil der Glaube in ihm bereits wirksam ist. So weit eine Skizze von Schleiermachers Gedankengang. Er versteht Wiedergeburt als im Bewusstsein antreffbare Folge von Gottes sich mit der Welt verbindendem Handeln, das die Gläubigen in sich hineinnimmt, sie effektiv verändert und das Zutrauen in Gottes stetige Gnade und Gegenwart stärkt.

3.

Entsprechung zu Gott: Begriff und Thema der Wiedergeburt in Karl Barths Versöhnungslehre

Das Parallelstück in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik weist formal signifikante Unähnlichkeiten auf, so dass ein einfacher Vergleich der Termini und ihres direkten argumentativen Kontextes bei den beiden Protagonisten dieses Bandes und Beitrags allein nicht zielführend wäre. Das liegt vor allem an dem Umstand, dass Barth weit weniger konzeptuell vorgeht als Schleiermacher es tut: In Barths diskursivem Universum ist die Zuordnung von Sache und Begriff viel weniger

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eindeutig als bei Schleiermacher. Der Entzogenheit des Gegenstands der Theologie korrespondiert für ihn die Vorgehensweise, in immer neuen Anläufen mit immer neuen Begriffen und Metaphern das zu sagen, was man sagen muss, ohne es doch eigentlich sagen zu können. Das gilt ganz generell für die Lektüre der Kirchlichen Dogmatik, bei der sich nicht ohne Grund der Eindruck einstellen dürfte, dass jeweils aus dem Blickwinkel eines Themas das Ganze der Theologie in den Blick genommen wird – und das nicht nur da, wo Barth explizit ankündigt, Positionsänderungen vorgenommen zu haben. Es gilt mit engerem Fokus auch für das hier vorgelegte Thema: „Wiedergeburt“ ist in der Versöhnungslehre der KD ein Begriff von einiger Prominenz, er wird aber ausdrücklich als einer unter mehreren möglichen, ja als ein austauschbarer eingeführt. Barth schreibt: „Es könnte das, was mit ‚Heiligung‘ (sanctificatio) auch mit dem selteneren biblischen Begriff der Wiedergeburt (regeneratio) oder Erneuerung (renovatio) oder mit der Bekehrung (conversio) oder mit dem im Alten und Neuen Testament so wichtigen Begriff der Buße (poenitentia) oder umfassend mit dem für die Synoptiker bezeichnenden Begriff der Nachfolge Jesu bezeichnet werden. Der Gehalt all dieser Begriffe wird tatsächlich auch unter dem Titel ‚Heiligung‘ zur Geltung und zur Sprache kommen müssen.“15 Bei diesem Zitat – mit dem Barth die Exploration des Themas „Rechtfertigung und Heiligung“ beginnt – ist folgendes impliziert: Eine Theologie des ordo salutis im Sinne zeitlich aufeinander folgender Bestimmungen des Menschen kann es nicht geben. Allenfalls ließe sich anknüpfen an die analytische Betrachtungsweise der ordo-Lehre, die mit der Begrifflichkeit einzelne Aspekte eines zeitlich nicht auseinanderzulegenden Ereignisses meint. Aber auch hier dürfte Vorsicht geraten sein. Denn die im Zitat genannten Begriffe decken die traditionelle Begrifflichkeit des Lehrstücks nur teilweise ab und ergänzen sie zudem mit biblischer Begrifflichkeit, die im Lehrstück sonst nicht auftauchen. Mindestens wird es also einer biblisch-theologischen Revision unterzogen. Dazu kommt dann noch, dass Barth den Begriff Heiligung bevorzugt, weil „es in ihm um ein Sein und Tun Gottes geht“, wie aus dem lateinischen Äquivalent erhellt. (ebd.) Der Fokus liegt damit auf Gottes Tat und Wirklichkeit und erst dann auf dem Tun und Ergehen des Menschen, wenn dieser Themaregel Genüge getan ist. Schließlich legt das Zitat nahe, dass jeder der Termini Gottes entsprechendes Handeln ganz ausdrückt, es also um Total- und nicht Partialaspekte geht. Wenn das Ganze also eine Anknüpfung an der Tradition des ordo-salutis-Denkens sein sollte, dann

15 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV/2, Zürich 21964, 566, im Original gesperrt gedruckte Worte hier kursiv. Im Folgenden wird dies beibehalten und wird die Kirchliche Dogmatik mit der Sigle KD und unter Angabe von Band- und Seitenzahl im Text zitiert.

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jedenfalls eine sehr distanzierte, bei der die Kritik und Neuinterpretation deutlich überwiegt. Zugleich ergibt sich aus dem Zitat, dass die Sache der Wiedergeburt nicht nur dort verhandelt wird, wo ihr Begriff auftaucht. Man hat es vielmehr damit zu tun, dass der Terminus auch das meint, was das grundlegende Thema der Versöhnungslehre in der KD überhaupt ist.16 Das hier darzustellen, ist natürlich unmöglich. Deswegen geht es im Folgenden um die Analyse ausgesuchter Passagen der Versöhnungslehre, die deren Sache besonders deutlich auf das hin fokussieren, was mit ‚Wiedergeburt‘ primär zu assoziieren ist. Eine letzte Vorbemerkung: Durchmustert man die Register der IVer-Bände der KD und das Gesamtregister – sämtlich bekanntermaßen leider lückenhaft – so stellt sich folgender Leseeindruck ein, der den gegenüber Schleiermacher so deutlich veränderten Gebrauch von Termini ergänzt: Wo Barth explizit von ‚Wiedergeburt‘ spricht, tut er dies im unmittelbaren textlichen Zusammenhang mit der Rede vom Christusereignis. Wie Menschen sich als Wiedergeborene vorfinden ist nicht auszusagen, ohne gleichsam im selben Atemzug von Gottes Tat und Sein in Christus zu sprechen. Dieser Befund markiert einen vernehmlichen Unterschied zu Schleiermachers Darstellungsweise, für den das Hintereinander der Darstellung – erst Christologie als Lehre von Sein und Werk Jesu Christi und dann die von Rechtfertigung und Heiligung – möglich und sogar folgerichtig ist. Barth kann dies nur ineinander und in wechselseitiger Interpretation zur Darstellung bringen. Hier spiegelt sich im Kleinen der Verwendung eines Begriffs die Architektur der Versöhnungslehre als Ganzer wieder und dieser architektonische Unterschied wird sich als einer erweisen, bei dem erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen beiden Theologen zu Tage treten. Die Darstel16 Ein Überblick über die Architektur bei E. Jüngel, Art. Barth, Karl, TRE 5, 251–268, hier 264– 266. Jüngels Eindruck, es bei der Versöhnungslehre mit dem eigentlichen Hauptwerk der KD zu tun zu haben (ebd. 266), ist m. E. zutreffend. Aus der Fülle der Literatur zu ihr vgl. Y. Amano, Karl Barths Ethik der Versöhnungslehre, Frankfurt/M. 1994; A. Dahm, Der Gerichtsgedanke in der Versöhnungslehre Karl Barths, Paderborn 1983; Karl Barths Schriftauslegung, hg. von M. Trowitzsch, Tübingen 1996; D.F. Ford, Barth and God’s Story: Biblical Narrative and the Theological Method of Karl Barth in the Church Dogmatics, Frankfurt/M. 1981; B. Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, bes. Teil I; D. Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, bes. 178ff; W. Krötke, Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, bes. 109ff. 179ff.249ff; D.L. Mueller, Foundation of Karl Barth’s Doctrine of Reconciliation. Jesus Christ Crucified and Risen, Lewiston NY 1990; G. Obst, Veni Creator Spiritus. Die Bitte um den Heiligen Geist als Einführung in die Theologie Karl Barths, Gütersloh 1998; W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, 266ff; H.-W. Pietz, Das Drama des Bundes. Die dramatische Denkform in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, Neukirchen-Vluyn 1998, bes. 76ff; R. Schwager, Der Richter wird gerichtet. Zur Versöhnungslehre von Karl Barth, in: ZKTh, 107 (1985), 101–141; M. Trowitzsch, Karl Barth heute, Göttingen 2007, 356–420.

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lung erfolgt in drei Schritten: Zunächst (1) ein inhaltlicher Umriss der im eben gegebenen Zitat genannten Begriffe/Metaphern, sodann (2) ein Blick auf Barths Ausführungen zum Zusammenkommen von Gott und Mensch und schließlich (3) eine kurze Reflexion auf die Bedeutung der Theologie der Stellvertretung für Barths Versöhnungslehre und damit auch für sein Verständnis von Wiedergeburt. Ad (1): Den hier fälligen Überblick erhält man am besten, indem man die wichtigsten Bestimmungen aus KD § 66 zusammenzieht. Der Paragraph heißt „Des Menschen Heiligung“ und handelt, so ist im Paragraphenleitsatz zu lesen, von der „Erhebung des Menschen“, die nichts weniger ist als „die Erschaffung von dessen neuer Existenzform als Gottes getreuer Bundesgenosse“. (KD IV/2, 564) Entsprechend dieser Ankündigung wird im soeben skizzierten Sinne die Sache der Wiedergeburt verhandelt, obwohl ihr Begriff nur mitunter und durchaus nicht leitend auftaucht. Es bleibt mit dem Menschen nicht so, wie es war, wenn – auf welchem Wege auch immer – er mit Gottes Wirklichkeit und Zuspruch in Berührung kommt. Diese Provokation ist nach Barth in den eingangs des Abschnitts zitierten Metaphern mitgesetzt, die er, wie berichtet, unter der Heiligung subsumiert. Formal ist der Paragraph ein Lesegespräch mit Johannes Calvins Lehre von der participatio Christi, inhaltlich wird ein Geflecht von Bestimmungen entfaltet, das diese Partizipation als etwas vorstellt, das gänzlich von Gott ausgeht, den Menschen gleichwohl und präzise deshalb ergreift und verändert, wobei es als Ereignis der Partizipation am Handeln Gottes vorgestellt werden soll. Im Einzelnen und zugleich in starker Raffung: Wie häufiger in der KD beginnt Barth mit einer Art theologischer Sicherungsmaßnahme. Er stellt zunächst klar, dass Heiligung und Rechtfertigung zwei Seiten einer Medaille und zwei Aspekte einer Sache sind und dass es sich bei beiden um Gottes Tat handelt: „Im simul des einen göttlichen Wollens und Tuns Rechtfertigung als Grund, Heiligung als Ziel das Erste, und wiederum: Rechtfertigung als Voraussetzung und Heiligung als Folge das Zweite – in diesem Sinne beide über- und beide untergeordnet.“ (IV/2, 575) Ebenfalls zu dieser Grundbestimmung gehört, dass Rechtfertigung/Heiligung als Ereignis von Gott her zu denken sind. Im simul der Heilstat Gottes werden sie wirksam und das ist nichts anderes als die Gegenwart Gottes, also das Ereignis Heiliger Geist. (KD IV/2, 574, vgl. 590) – Mit dieser Bestimmung ist noch geradezu provozierend wenig gesagt: Sie klingt nach theologischer Richtigkeit und zugleich – das ist dann der provozierende Anteil – gibt sie dem Verstehen mit auf den Weg, dass des Menschen Heiligung und also auch seine Wiedergeburt Gottes Tat selbst ist: „Sein Handeln ist des Menschen Heiligung.“ (KD IV/2, 579) Was immer von Menschen als Heilige oder Wiedergeborene auszusagen ist, das kann nur ausgesagt werden, wenn klar ist: Heilig im eigentlichen und ursprünglichen Sinne ist Gott allein.

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Um was also kann es bei ‚heiligen‘ oder ‚wiedergeborenen‘ Menschen also gehen? Ausschließlich um solche, deren Heiligkeit bzw. Wiedergeborensein in strikter Weise von der Heiligkeit Gottes herkommt. Das ist die Sachstelle, an der Barth das Gespräch mit der Vorstellung von der participatio an Christus bei Calvin aufnimmt. Freilich geht er selbst mit diesem Begriff sehr vorsichtig um und ersetzt ihn nahezu durchgehend durch den der „Entsprechung“. (KD IV/2, 599. 670 u. ö.) Das ließe sich nun – mit den entsprechenden Debatten um den Analogiebegriff im Hinterkopf 17 – als vorlaufende Depotenzierung des Themas verstehen, so als ginge es eben nur um Entsprechung und nicht um ein wie auch immer auszusagendes „Mehr“. Das ist richtig und zugleich nicht richtig. In der Tat geht es für Barth um nicht mehr als um menschliche Entsprechungen zur Treue und Güte Gottes. Aber bereits diese Entsprechungen sind von der Art, dass sie die Existenz des neuen Menschen betreffen und damit ein schöpferischer Akt Gottes sind. Es geht in Gottes Handeln an den Menschen um „eine reale Veränderung ihres Daseins“ (KD IV/2, 598), um „das neue Leben eines neuen Menschen“. (KD IV/2, 634) Dies veränderte Dasein und neue Leben ist von der Art, dass es „seinem Dasein, dem Dasein ihres Herrn konform wird und ist“. (KD IV/2, 599) In zwei Reihen von Bestimmungen wird diese Feststellung ausgeführt. Die erste ist vergleichsweise formal, kennt zwei Stichworte und heißt: Gottes Handeln macht aus Sündern zum einen gestörte Sünder, also solche, die zwar nicht aufhören Sünder zu sein, aber in ihrem sündigen Weiter-so durch Zweifel und Bedenken aufgestört und geweckt werden. (KD IV/2, 593) Ferner sind sie zur gemeinschaftlichen Existenz mit Gott Aufgerufene und Aufgerichtete. (KD IV/2, 596–599) Beides, und darauf legt Barth wert, ist vorläufiges und noch nicht vollendetes Handeln Gottes: „Heiligung ist ja kein letztes, sondern ein vorletztes Wort.“ (KD IV/2, 600) So weit, wie gesagt, noch recht formal. Im größeren Teil des Paragraphen – 91 von 141 Seiten – wird das bislang Erarbeitete vorausgesetzt und werden mit seiner Hilfe eine Reihe von inhaltlichen Bestimmungen erarbeitet, wie dieser Ruf in die Entsprechung aussehen soll, der doch, obwohl er nur Entsprechung ist, neu-geschöpflichen Charakter haben soll. Barth nennt:

17 Vgl. als markante Wortmeldung Barths KD I/1, 293ff und die Beiträge der katholischen Gesprächspartner E. Przywara, Analogia Entis. Schriften III, Einsiedeln 1962 sowie G. Söhngen, Analogia entis in analogia fidei, in: Antwort. Festschrift für Karl Barth zum 70. Geburtstag am 10. Mai 1956, hg. von R. Frey u. a., Zollikon-Zürich 1956, 266–271, zum Konzept des Letzteren M. Hailer, Theologie als Weisheit. Sapientiale Konzeptionen in der Fundamentaltheologie des 20. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1997, 45–78, zum Analogiebegriff 49–52. Ein vorzüglicher Überblick über die Analogiedebatte bei J. Track, Art. Analogie, TRE 2, 635–650.

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den Ruf in die Nachfolge die Erweckung zur Umkehr das Lob der Werke und die Würde des Kreuzes.

Hierzu ist in Kürze zu erläutern, dass das „Lob der Werke“ meint, dass Gott die gute Tat gutheißt und anerkennt, so wie das gelingende Werk nicht etwa den menschlichen Aktvollzieher sondern vielmehr Gott lobt. (KD IV/2, 661. 675) Mit der „Würde des Kreuzes“ ist gemeint, dass die Heiligung ein begrenztes Unterfangen ist und die Lebensbewegung der Christen „unweigerlich und radikal aufgehalten“ eben durchkreuzt ist. (KD IV/2, 680) Darin ist unter anderem die Rede von der Anfechtung sachgerecht. (KD IV/2, 692) Aus der Aufzählung sei an allgemeinen Merkmalen zweierlei hervorgehoben: Barth betont, zum einen, den Ereignischarakter von Heiligung bzw. Wiedergeburt. Er ist nicht darauf aus, einen Zustand des ‚wiedergeborenen‘ Menschen zu beschreiben und er hebt auch nicht darauf ab, dass es sich um eine Bewusstseinstatsache oder einen Zustand des Bewusstseins handeln könnte. Die Frage, was Menschen denken und/oder wessen sie sich bewusst sind, wenn das eben stichwortartig Benannte mit ihnen geschieht, wird nicht ausgespart. Sie steht aber nicht im Fokus und sie hat folgenden Charakter: Menschen finden sich in einem Vorgang, in einem Ereignis vor, eben z. B. in dem Vorgang, in die Nachfolge gerufen worden zu sein. Der neue Mensch findet sich „unter seiner [Gottes, M.H.] Verantwortung und Disposition“ stehend. (KD IV/2, 634) Das ist nun, zum anderen, mit einem spezifischen Freiheitsbegriff verbunden: Unter Gottes Verantwortung und Disposition zu stehen, ist nicht als die im mechanistischen Sinn automatische Tat eines Getriebenen zu verstehen, wohl aber in folgendem: Gott eröffnet ein Dürfen und eine Freiheit, die von so bezwingender Art sind, dass der mit ihnen Beschenkte nicht anders kann und nicht anders will, als eben zu dürfen und sich dieser Freiheit zu bedienen: Wer frei ist, kann nur seine Freiheit in die Tat umsetzen, und indem er oder sie das tut, findet er oder sie sich bereits vom dämonischen Müssen des alltäglichen Getriebenseins befreit. (KD IV/2, 654) Das wird man so verstehen sollen: Heiligung/Wiedergeburt ist Tat und Präsenz Gottes so, dass die alltägliche Getriebenheit des Alltags durchbrochen und – nebenbei – als Herrschaft gottfremder Mächte erkannt wird. (KD IV/2, 615f) Das sich dann eröffnende Reich der Freiheit ist nicht primär von der Art, dass Freiheit als Wahlfreiheit im Blick wäre, eines nun zu tun oder zu lassen. Vielmehr ist dies Reich der Freiheit eines, in dem der Befreite sich vorfindet und in dem er gar nicht anders kann als das freiheitlich Naheliegende zu vollziehen. Freiheit ist: Der Mensch darf mit seinem Werk am Werk Gottes teilnehmen. (KD IV/2 671. 675) Mit anderen Worten: Die passive, das Subjekt allererst-konstituierende Struktur dieser Freiheit ist offensichtlich.

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Ad (2): Man darf Auskunft darüber erwarten, wie genau denn Gott und Mensch im Ereignis Heiligung/Wiedergeburt zusammenkommen. In einer Passage aus KD § 71 (Des Menschen Berufung) legt Barth die Rede von der unio cum Christo aus. Zunächst einmal lässt Barth keinen Zweifel daran, dass „des Christen u n i o cum Christo“ ein Lehrstück ist, das etwas Richtiges sagt und das in diesem Sinne sogar mit dem Etikett „sachlich notwendig“ versehen werden darf. (KD IV/3, 620) Einiges soll aus dieser Aussage ausgeschlossen werden, manche mystische Exaltation etwa oder die Vorstellung, bei der unio cum Christo ginge es um ein in besonderer Weise anzustrebendes Einheitserlebnis, das den tiefen vom weniger tiefen Christen scheide. Die gemeinte Sachlage ist die: Gott tritt „jederzeit und in jeder Hinsicht für den Menschen ein“ und der Mensch ist „jederzeit und in jeder Hinsicht frei […] zu dem Wagnis, sich selbst im Leben und Sterben zu Gott zu rechnen.“ (KD IV/3, 636) Dasselbe sagt – hier handelt es sich offenbar um eine wahrheitswertkonservierende Ableitung – der Begriff/das Bild von der Gemeinschaft von Christus und dem Christen. Unter dieser Sachlichkeit geht es nicht und deswegen darf, ja muss von dieser unio gesprochen werden. Systematisiert man die Ausführungen des Abschnitts aus KD § 71, dann zeigen sich drei inhaltliche Aspekte von Barths unio-Lehre. Die ersten beiden erläutern einander wechselseitig, sie kritisieren und begrenzen sich aber auch, der dritte dürfte als der Kern und vernehmlich eigene Zungenschlag Barths in der Sache gelten können. Aber der Reihe nach: Der erste Aspekt betont, dass es sich um wirkliche Gemeinsamkeit, um das Zusammensein von Gott und Mensch handelt. Es geht um wirkliche Berufung des Menschen zum Christen, nicht um bloße Information. Gott erschließt sich den Menschen wirklich und bleibt nicht in sich und bei sich allein. Und die, denen er sich erschließt, sind nicht „zu bloßer Passivität bestimmte Zuhörer und Zuschauer“, die „dem sich ihnen erschließenden bloß gaffend gegenüberstehen“. (KD IV/3, 623) Barth geht noch weiter und zitiert die Formeln vom wechselseitigen In-Sein aus den johanneischen Abschiedsreden und – Kernstelle dieses Unternehmens überhaupt – Gal 2, 20: Nun nicht mehr ich, sondern Christus in mir. Die Folge ist: Der Christ erkennt Christus als sein wahres Selbst. (KD IV/3, 626) Entsprechend richtig ist es auch, davon zu sprechen, dass Christus in den Christen ist und sie in ihm – über einen einfachen lokalen Sinn dieses Wortes hinaus. Nicht nur der Möglichkeit nach, sondern faktisch richtet der Heilige Geist das Sein und Tun der Christen in Übereinstimmung mit dem Sein und Tun Christi aus. (KD IV/3, 629) Die Ausrichtung auf Übereinstimmung im Sein und Tun ist der Hauptaspekt der hier vorgelegten unio-Lehre. Aber Barth wäre nicht Barth, hätte er nicht ein Widerlager in seine Betrachtung eingebaut. Das ist der zweite Aspekt und in der Tat kontrollieren und erklären die beiden einander wechselseitig. Barth betont, dass die Gegenüber-Struktur von Gott und Mensch nicht verschwindet. (KD IV/3,

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620) Auf keiner der beiden Seiten geht es um ein Verstummen oder um Entpersonalisierung. Es bleiben bestehen: Der Anredende und der Angeredete, Wort und Antwort. Beide Seiten existieren exzentrisch. (KD IV/3, 629) Und dass der Herr nicht ohne die Seinen sein will – wie Barth in unausgewiesener Aufnahme eines Schleiermacher-Diktums sagt – heißt ja nun genau, dass weder der Herr noch die Seinen ihren Status und ihren Aggregatzustand ändern. In diesem Sinne ist der Aspekt 1 nicht ohne den Aspekt 2 zu denken, die Einheit des Christen mit Christus nicht ohne den Zusatz und die kräftige Korrektur, dass es sich um die Einheit zweier bleibend Unterschiedener handelt. Nach Art eines Vexierspiels kann man die beiden Aspekte gegeneinander lesen: Es ist das Wunder des Heiligen Geistes, dass die bleibend Getrennten in Gemeinschaft kommen und dass es dabei um das Phänomen der Ausrichtung des Seins und Tuns der Christen auf das Sein und Tun Christi geht. Das aber ist nur dann wahr, wenn bedacht wird, dass es nicht um Entpersonalisierung geht. Der Anredende bleibt er selbst, die Angeredeten auch. Auch umgekehrt darf und soll man das denken: Wir sind nur Angeredete, aber als solche der Gemeinschaft gewürdigt und der Entsprechung zu Christus. Leicht könnte das Bild sofort wieder umschlagen. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, was das Vexierbild über eine geschickte Aspektkombination hinaus eigentlich soll. Die Antwort steckt nach meinem Dafürhalten im dritten, bislang noch nicht genannten Aspekt: Es ist das Thema der Freiheit. Wie ein roter Faden zieht es sich durch die Passage aus KD IV/3. Barth betont, dass die Christen durch die unio cum Christo nicht die Marionette Gottes werden. Die Verbindung aus beiden ist eine „Verbindung in ihrer beiderseitigen Selbständigkeit, Eigenart und Eigentätigkeit“. (KD IV/3, 621) Was vom Regieren Christi in den Christen zu sagen ist, ist so zu sagen, dass das Denken und Tun der Christen nicht aufhört, deren eigenes Denken und Tun zu sein. In einer pointierten Formulierung zu Beginn der Passage: Gott ist der verfügende Herr über den Menschen und schlägt in ihm seinen Thron auf, so „daß sein Verfügen als Eigentümer über sein Eigentum dieses Menschen Eigenstes wird: Mittelpunkt und Ausgangspunkt seiner menschlichen Existenz, Axiom seines freiesten Denkens und Redens, Ursprung seines freiesten Wollens und Wirkens, kurzum: Prinzip seines spontanen Daseins.“ (KD IV/3, 618) Das ist die Pointe von Barths einander wechselseitig in Schach haltenden Vorstellungen: Menschen handeln aus sich selbst und als sie selbst. Und doch sind sie genau darin in Gemeinschaft mit Christus, ist er ihr Herr, der sie leitet. Wenn und weil das geschieht, sind Menschen Christenmenschen. Ad (3): Die beiden ersten Aspekte – dass Heiligung/Wiedergeburt sich ereignet und wie Gott und Mensch dabei zusammenkommen – sind nicht denkbar ohne einen Grundgedanken, der die gesamte Barth’sche Versöhnungslehre durch-

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Wiedergeburt

zieht: Stellvertretung.18 Die Architektur der Versöhnungslehre – wohl wesentlich an Hand von Phil 2, 5–11 und Joh 1, 1–18 erdacht – ist so angelegt, dass Gott seine Stelle verlässt und die Stelle des Menschen einnimmt. Indem er das tut, geschieht zweierlei: a) Der Mensch an seiner Stelle wird als der sichtbar, der er vor Gott eigentlich ist – und das unterscheidet sich ebenso peinvoll wie gewaltig von seiner Selbstwahrnehmung. Das ist der Ort der in die Versöhnungslehre eingelassenen Hamartiologie. b) Gott zieht, lockt und ruft den Menschen zu sich, so dass dieser die Stelle, deren Dumpf- und Hohlheit ihm nun bewusst ist, verlassen kann. Beide Aspekte, a) wie b), sind Akte der Stellvertretung: Gott am Ort des Menschen zeigt stellvertretend, wie es um diesen in seinem Gespinst aus Hochmut, Trägheit und Lüge eigentlich bestellt ist und er ermöglicht ihm stellvertretend, so zu werden, wie es einem Leben im Angesicht Gottes entspricht: Barths Leitbegriffe hierfür sind Rechtfertigung, Heiligung und Berufung.19 Gott ist und handelt an der Stelle des Menschen, damit dieser – nun nicht Gott werde, wie es eine bis zur Unverständlichkeit gekürzte Variante der altkirchlichen, näherhin athanasianischen Soteriologie sagt –, wohl aber damit er zu dem werden kann, wie er von seinem Schöpfer gedacht und was zu werden ihm verheißen ist. Dieser Gedanke ist für Barths Theologie grundlegend. Er ist in den früheren Werken und in den Bänden I–III der KD durchaus angelegt bzw. vorhanden,20 kommt in der Versöhnungslehre aber besonders deutlich zum Vorschein, weil Gottes Positionswechsel zu Gunsten des Menschen Strukturmerkmal des Teilstücks ist. Für unseren argumentativen Zusammenhang besagt das insbesondere: Dass Wiedergeburt/Heiligung jetzt geschehen, ist nicht die Folge einer früher stattgefundenen Handlung Gottes, sondern sein aktives stellvertretendes Handeln jetzt. Der Ereignischarakter der Wiedergeburt, auf den oben hinzuweisen war, ist wesentlich stellvertretendes Ereignis: Gottes schöpferische Tat so, dass er an der Stelle des Menschen steht, damit dieser nicht in der gegenwärtigen Not bleiben und sie sich also schön lügen muss, sondern in die „Existenz eines Gott treuen Menschen“ (KD IV/4, 45) gerechtfertigt, geheiligt und berufen ist. In diesem Sinne kommen in Barths Theologie der Wiedergeburt die Momente des 18 Vgl. die phänomenologisch wie theologisch aspektreiche Untersuchung der Logik der Stellvertretung bei C. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001. Gestrich weist wiederholt auf die Zentralität des Stellvertretungsgedankens bei Barth (vgl. 232) und bietet u. a. die Grundlegung einer „vokativen Theologie“ (328–343), die sich als kritische Entfaltung und Weiterentwicklung der Barth’schen Passagen über den Ruf in die Nachfolge (KD IV/2, 603–626) und die über das Zusammenkommen von Gott und Mensch (KD IV/3, 618–636) samt der dort skizzierten Rede von der Freiheit lesen lässt. 19 Dies stets zusammen mit den entsprechenden Aspekten der Ekklesiologie und der Ethik, die hier aus Übersichtsgründen außen vor bleiben müssen. 20 Vgl. nur: „Das geschieht nämlich in der Wahrheit, das ist ja geradezu die Wahrheit: was vor Gott durch Gott an unserer Stelle geschieht.“ (KD II/1,170)

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stellvertretenden Handelns Gottes und der Ereignischarakter der Wiedergeburt zusammen. Das muss als Skizze der Barth’schen Theologie der Wiedergeburt genügen: Es handelt sich um eine Lesart, die wie diejenige Schleiermachers von der christologischen Grundlegung herkommt, diese aber anders als er aktualistisch und unter Zentralstellung des Stellvertretungsgedankens akzentuiert. Was sich aus den so unterschiedlichen Ausführungen eines zumindest ähnlich klingenden Grundlegungsgedankens lernen lässt, soll im Schlussabschnitt erwogen werden.

4.

Mutmaßungen über die Inhalte eines nicht stattgefundenen Gesprächs

„Wer erfährt was auf welche Weise, wenn zu Recht von Gottes Handeln als regeneratio die Rede ist?“ – Dies wurde vor Beginn der Darstellungen als Leitfrage ausgegeben und zugleich behauptet, an Hand ihrer ließen sich überraschende Gemeinsamkeiten der als programmatisch verschieden bekannten Theologen sehen lernen. Für diese Behauptung gibt es in der Tat Gründe. Sie sollen hier kurz beleuchtet werden, wobei der argumentative Weg von den erstaunlichen Gemeinsamkeiten hin zu den bleibenden Differenzen führen wird. „Ich hatte den guten Instinkt, in der Kirchlichen Dogmatik IV/1–3 wenigstens die Kirche und dann den Glauben, die Liebe und die Hoffnung ausdrücklich unter das Zeichen des Heiligen Geistes zu stellen. Aber hätte nicht schon die Rechtfertigung, die Heiligung und die Berufung unter dieses Zeichen gestellt sein können und müssen?“21 Diese Selbstkritik Barths in einem seiner letzten Texte 21 K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 290–312, 311, vgl. die einführende Darstellung bei D. Lütz, Homo Viator. Karl Barths Ringen mit Schleiermacher, Zürich 1988, 334–356. Hans W. Frei ist zuzustimmen, wenn er die Substanz des (möglichen) Dialogs ausgehend von diesem Aufsatz – von ihm netterweise „abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu Schleiermacher“ genannt – anlegt, vgl. H. W. Frei, Barth and Schleiermacher. Divergence and Convergence, in: Barth and Schleiermacher. Beyond the Impasse?, hg. von J.O. Duke und R.F. Streetman, Philadelphia 1988, 65–78, 74. Ihr gegenüber treten die Schleiermacher-Vorlesung und die bekannte Totalkritik in Barths „Protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts“ zu Recht in den Hintergrund. Insofern ist der Einschätzung des Herausgebers der Schleiermacher-Vorlesung zu widersprechen, die Kritik habe sich über die Jahrzehnte nicht verändert, vgl. D. Ritschl, Vorwort, in: K. Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, Zürich 1978, VII–XII, VIII. Frei zeigt u. a., dass Barths Frage im Nachwort, ob Schleiermacher primär Theologe oder Philosoph sei, eindeutig zu Gunsten der ersten Option beantwortet werden kann. (ebd. 76–79. 83) Diese Überzeugung liegt auch der vorliegenden Untersuchung zu Grunde: Schleiermacher gilt ihr als Autor einer kirchlichen Dogmatik – und wo die Auseinandersetzung gesucht wird, geht es um materialdogmatische Fragen und nicht um die wohlfeile Empörung, es möglicherweise mit nur nachrangiger Theologie zu tun zu haben.

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kann als erfahrungstheologische Leseanweisung für seine eigene Theologie der Wiedergeburt gelten, die sich – wie gezeigt – als Implikation der Rede von der Heiligung verstehen lässt. In dieser Richtung hätte Barth, ein Gelehrtenleben lang um Neuansätze und Korrektur des zuvor Gedachten nicht verlegen, neu justiert und seine heutigen Rezipienten sollten daraus die Leseanweisung für das Vorgelegte nehmen. Nun fehlt die pneumatologische Besinnung ja nicht und also ergibt sich daraus das Recht, an Hand ihrer den erfahrungstheologischen Gemeinsamkeiten nachzuspüren. Es handelt sich mindestens um eine Strukturparallele: Schleiermacher spricht davon, dass das Gesamtleben der Sündhaftigkeit nicht mehr willenbestimmend sein wird und vom Zusammensein mit Christus verdrängt wird, Barth macht Momente aus, in denen es Entsprechungen zwischen Gott und seinen Menschen gibt, so dass man von dem einen Heiligen und seinen Heiligen sprechen kann. Das ist jeweils ein Grundzug effektiver Rechtfertigungslehre. Es sollte möglich sein, diese beiden Argumente im Sinne wechselseitiger Interpretation auf einander zu beziehen: Wer hier mit Schleiermacher beginnt, hat ein nachvollziehbares, aber ein doch weitgehend formales Argument bei der Hand. Es verlangt geradezu danach, mit inhaltlicher Konkretion gefüllt zu werden. Und hier müsste auch im Rahmen von Schleiermachers Prämissen das materialdogmatische und materialethische Angebot aus KD § 66 als Ensemble hilfreicher Beispiele dienen können. Denn es geht doch um Concreta des Lebensvollzugs, wenn das Gesamtleben der Sündhaftigkeit zurückgedrängt wird. Was Schleiermacher separat verhandelt – in der Sittenlehre, im Brouillon zur Ethik und anderswo – das integriert Barth im Rahmen seiner Auffassung des Ineinanders von Dogmatik und Ethik im Rahmen der materialdogmatischen Erörterung der Heiligung. Und in diesem Sinne müsste sich sein Themenkatalog ‚schleiermachersch‘ lesen lassen – unbeschadet der Frage, ob er in sich schlüssig oder vollständig ist.22 Barths Lernprozess in der Kritik sollte sich insoweit bewährt haben. Zu Frei ist allenfalls noch zu bemerken, dass die Theologizität des Schleiermacher’schen Werks nicht, wie er das im Gespräch mit Edward Farley anlegt, allein über die enzyklopädischen Erwägungen der Theologie als praktischer Wissenschaft zu gewinnen ist, (ebd. 80 u. ö.) sondern durch das Eintreten in den materialdogmatischen Diskurs. 22 Letzteres zu behaupten käme der auch in sich als Revisionsanstrengung des jeweils zuvor Gedachten angelegten KD allerdings nicht in den Sinn. Dass Barth im zuvor gegebenen Zitat den nächsten Schritt der Selbstkritik andeutet, ist nur ein deutlicher Beleg dafür, dass die KD kein „System“ ist, sondern ein in sich mehrperspektivisches und nachgerade vielstimmiges Album. Eingehende KD-Interpretationen haben das jederzeit zu beachten: Man trifft bei ihrer Analyse viel weniger auf eine ‚Lehre‘ zu einem Thema – auch und gerade da, wo Barth selbst den Begriff gebraucht, was er mit einiger Sorglosigkeit tut – und viel eher auf ein Ensemble skrupulöser Gedankengänge, mit denen ein Thema erarbeitet wird. Der Vorgang des Theologietreibens ist in diesem Werk durchaus wichtiger als das vermutete propositionale Ergebnis. Diese methodische Behauptung ist an Barths eigenem Methodenwerk, dem AnselmBuch, zu belegen, in dem ihm der Vorgangscharakter des anselmischen intelligere klar vor

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Auch die Gegenprobe klingt plausibel: Liest man den Barth’schen Katalog von Ereignissen, in denen sich Entsprechungsverhältnisse zwischen dem Heiligen und seinen Heiligen einstellen sollen, dann drängt sich die Frage auf, ob nicht alle diese von der Art sind, dass sie die Realität der Sünde zurückdrängen und in einen Lebenszusammenhang des Geheiligten mit Christus hineinführen. In diesem Sinne sind sie Ideologiekritik des allgemeinmenschlichen Weiter-so und können auch so formalisiert werden.23 Es handelt sich dabei auch um einen Konsens im Rahmen der theologischen Thematisierung von Erfahrung. Denn um Erfahrungszusammenhänge im Leben der betroffenen Menschen geht es ja nun evidentermaßen. Schleiermacher behauptet, sie seien auf die geschilderte Situation des Wechsels und Neubeginns hin lesbar und Barth behauptet, dass es sie gibt und coram Deo mit ausweisbaren Kriterien geben kann. So weit mindestens reicht der Konsens. Das ist, lässt sich das halten, kein geringer Gewinn. Denn man wäre unter anderem nicht mehr gezwungen, das eingangs geschilderte Verdikt Otto Webers mitzugehen, von Wiedergeburt dürfe nur erfahrungsfern die Rede sein, weil man sonst in die Aporie der Rede vom homo religiosus und seiner (Selbst-)Bestätigungsroutinen verfalle. Der Gewinn bezieht sich wahrscheinlich auch auf die Theologie des Heiligen Geistes. Barth hatte in seinem zitierten Nachwort zur SchleiermacherAusgabe völlig zu Recht darauf verwiesen, dass Schleiermacher ein Theologe des dritten Glaubensartikels sei, dem es um das ‚Ankommen‘ Gottes beim (gläubigen) Menschen zu tun sei. Zugleich behauptete Barth, dass Schleiermacher diese Ausrichtung nicht recht bewusst gewesen sei.24 Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist eine doppelte: In Schleiermacher’schen Bahnen ist das Bewusstsein vom Aufhören der Sündhaftigkeit als Vorgang der Gegenwart des Heiligen Geistes zu beschreiben, und in der Tat besteht Barths Selbstkritik als jemand, der der Pneumatologie das gebührende Gehör nicht schenke, durchaus zu Recht. Die in neueren Pneumatologien eingeforderte Erfahrungsnähe der Theologie gerade dann, wenn sie der Pneumatologie den gebührenden Raum lässt, wäre von beiden Theologen her entfaltbar – und zugleich mit wichtigen Sicherungen zu versehen. So ginge es etwa mit der Behauptung von Jürgen Moltmann, der gleich zu Beginn seines entsprechenden Werks die „Einheit von Gotteserfahrung und Lebenserfahrung“ postuliert und dadurch einer nicht geringen Unschärfe des Augen steht: „Man bemerke vor allem, daß Anselm durchaus nicht nur etwa diese Wirkung des intelligere kennt und bezweckt. Indem das intelligere sich vollzieht kommt es auch zur Freude.“ K. Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Rahmen seines theologischen Programms, Gesamtausgabe Abtlg. II, hg. von E. Jüngel und I. U. Dalferth, Zürich 32002, 11. 23 Vgl. H. Peiter, Theologische Ideologiekritik. Die praktischen Konsequenzen der Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher, Göttingen 1977, 15ff. 50ff. 24 Barth, Nachwort, 310–312.

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Erfahrungsbegriffs in seinem Werk den Boden bereitet.25 Schleiermacher würde hier mindestens auf der Differenzierung an Hand der Hamartiologie bestehen und Barth auf der Ereignishaftigkeit und damit Unverfügbarkeit der Entsprechungsereignisse bestehen. Für Schleiermacher wie Barth gilt: Es gibt Gottes Gegenwart in der Lebenserfahrung. Von einer Einheit der beiden zu sprechen, ist aber strikt unmöglich. In der Tat – und selbst das ist noch als Konsens zwischen Schleiermacher und Barth reformulierbar – leitet der Heilige Geist zur Unterscheidung der Geister an.26 Die zur Stellungnahme herausfordernden Unterschiede beginnen bei der Frage, wie die Gegenwart Gottes im oder mit dem Wiedergeborenen zu denken ist. Die wichtigsten Stichwörter aus Schleiermachers Glaubenslehre hierfür sind das der Bewusstseinstatsache und der Stetigkeit. Er legt, und damit zum ersten Moment, dass das mit Wiedergeburt Gemeinte im Rahmen der „Erregungen des Selbstbewußtseins“ (GL 2, 150) merkbar werde, nämlich so aus, dass das Gottesbewusstsein diese Erregungen dominiert und das nicht mehr als Gefühl der Unlust. Als Modus der Erfahrung, die Wiedergeburt mit sich bringt, ist also die Auffindung in der Introspektion des Subjekts zu benennen. Kombiniert wird das, zweitens, mit Schleiermachers Rede von der Stetigkeit dieses in Wandlung befindlichen Bewusstseins: Oben war gezeigt worden, dass seine Behauptungen über die Stetigkeit des erneuerten Bewusstseins sachlogisch mit dem Gedanken der Stetigkeit des Eingehens Gottes in die Welt zusammenhängen und damit letztlich mit der Vorstellung, dass Gott und Stetigkeit schlechterdings zusammengehören. Hier sind die Unterschiede zur Barth’schen Konzeption allerdings massiv. Sie beginnen damit, dass Barth die Erfahrung der Wiedergeburt nicht als Introspektion konzeptualisiert, sondern diese geradezu kritisiert: Die Introspektion würde jederzeit dazu neigen, das je Eigene für in Ordnung zu halten und sich auf dessen Stetigkeit verlassen zu wollen – allerdings ist damit der Verstoß gegen das erste Gebot bereits Wirklichkeit und sind falsche Götter inthronisiert worden.27 (KD IV/2, 615) Entsprechend ist die Erfahrung der Wiedergeburt auch kein Datum für das Selbstbewusstseins und auch keiner seiner Zustände. Das 25 Vgl. J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 9. 26 Das ist der Skopus der zu Unrecht vergessenen Pneumatologie von W. Dantine, Der heilige und der unheilige Geist. Über die Erneuerung der Urteilsfähigkeit, Stuttgart 1973, bes. 104ff.168ff. 27 Zu diesem für Barth wichtigen Thema vgl. M. Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2004, 11–33; ders., Gott und die Götzen. Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte, Göttingen 2006, 275–303.332–361; ders., Gottes Macht und die Mächte des Politischen. Politische Theologie mit Franz Rosenzweig und der Barmer Theologischen Erklärung, in: Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, hg. von W.H. Ritter und J. Kügler, Münster 2006, 135–156.

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Ereignis der Entsprechung zu Gott ist etwas, das mit Menschen geschieht: Es ist Geschehenszusammenhang, nicht Bewusstseinsmomentum. Barth ist dabei, wie gesehen, durchaus daran gelegen, den Menschen als Aktvollzieher im Blick zu behalten und ihn nicht – oder jedenfalls nicht nur – als Getriebenen und BeGeisterten in den Blick zu nehmen. Aber präzise den Schritt zur Verortung der Wiedergeburt in der inneren Erfahrung geht er nicht. Dafür gibt es zwei Gründe, eine theologische Kritik der Introspektion und Annahmen über den Ereignischarakter der Gegenwart Gottes. Barths Kritik der Introspektion ist bekannt genug und muss hier nicht erneut ausgebreitet werden.28 Interessanter, weil direkter zur christologischen Grundlegung des Wiedergeburtsthemas führend, ist die Differenz beim Thema Ereignischarakter Gottes. Dafür ist noch einmal auf Schleiermachers Differenzierung zwischen schöpferisch-wirksamem und deklaratorischem Handeln Gottes zurückzukommen, einschließlich der deutlichen Kritik an letzterem. Gottes Handeln deklaratorisch zu verstehen, so führt er es aus, führt entweder in den Irrtum, mehrfache Rechtfertigungsakte anzunehmen und deshalb die Gewissheit zu unterminieren oder aber es lässt sich verlustfrei in die Vorstellung seines schöpferisch-wirksamen Handelns integrieren. Hier freilich beginnen Probleme, die es letztlich mit einem spinozistischen Hintergrund von Schleiermachers Gotteslehre zu tun haben und die nicht geraten lassen, ihm darin zu folgen. Schleiermacher begründet seine Kritik am deklaratorischen Verständnis der Rechtfertigung unter anderem damit, dass dieses zur Vorstellung von Gott als willkürlich führen würde. Er koppelt das an starke Voraussetzungen aus der allgemeinen Gotteslehre. Weil diese für ihn unhintergehbar sind, zeigt sich in Sachen Nichtwillkürlichkeit und schließlich in Sachen Zurückweisung des Deklaratorischen ein Systemzwang, dessen nachteilige Konsequenzen auf die Prämissen zurückschlagen. Im Überblick gesagt verhält es sich so: Schleiermacher denkt eine starke und stetige Verbindung aus Gott und Welt, nach der das Natürliche geeignet ist, das Übernatürliche in sich aufzunehmen. (GL § 13) Diese Natürlichwerdung ist als ein fortschreitender Prozess zu denken, im Rahmen dessen alles, was geschieht, von Gott her und als sein Werk geschieht, der sog. Naturzusammenhang: Nichts in innerweltlichen Kausalitätszusammenhängen ist derart, dass es „ein Gegenstand für die göttliche Ursächlichkeit erst würde“ (GL 1, 279) Im Rahmen dieses geschlossenen Bildes bleibt für ereignishafte Denkfiguren kein Raum und Schleiermacher kann keinen Unterschied zwischen primitiven gedanklichen Ereignisfiguren (‚Gott greift in die Welt ein und heilt das Haustier‘) und Ereig28 Bei dieser Gelegenheit wäre die Auseinandersetzung mit der These von Stephen Sykes zu führen, Barths Theologie sei contra intentionem interioristisch angelegt, vgl. Schleiermacher and Barth on the Essence of Christianity, in: Barth and Schleiermacher. Beyond the Impasse?, 88–107, 98–100.

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nisfiguren machen, die Gottes aktuale Gegenwart denken. Beides zugleich und in eins damit die Idee, es könne die aktive Kommunikationsrichtung des Menschen hin auf Gott geben, verfällt dem Verdikt, hier werde magisch gedacht.29 (z. B. GL 2, 164. 381) Zugleich gilt, dass Gottes Allmacht nicht über dieses Verhältnis hinaus reicht: Weil die Auffassung der göttlichen Allmacht nur durch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit möglich ist, muss man sagen, dass „es uns also an jedem Anknüpfungspunkt fehlt, um an die göttliche Ursächlichkeit Ansprüche zu machen, welche über den Naturzusammenhang, den eben jenes Gefühl umfaßt, hinauszugehen.“ (GL 1, 280) In diesem Sinne besteht zwischen dem Naturzusammenhang und der göttlichen Ursächlichkeit/Allmacht eine strenge Reziprozität. Im Zitat des Kopfsatzes von § 54: „… daß die göttliche Ursächlichkeit, wie unser Abhängigkeitsgefühl sie aussagt, in der Gesamtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt wird.“ (GL 1, 279) Das freilich ist problematisch. Nicht nur, dass, wie Wolf Krötke zu Recht sagt, Gott gegenüber seiner eigenen Macht nicht mehr frei ist – er ist ihrer sozusagen selbst nicht mächtig, weil er mit ihr identisch ist –,30 nicht nur, dass ‚Macht‘ dann vor jeder inhaltlichen Klärung in abstrakter Form als Allkausalität gedacht werden muss, nicht nur, dass die Möglichkeit einer angemessenen Rede von der Freiheit und Geheimnishaftigkeit Gottes hier glattweg bestritten wird: Des Menschen Neuwerdung muss als Momentum des Naturzusammenhangs gedacht werden. Gottes Werk ist keine freie Zuwendung, sondern Ereignismomentum im dichten und notwendigen Ereigniszusammenhang zwischen Gott und Mensch. (GL 2, 148) Deus sive natura – so weit geht Schleiermacher nicht und er ist in der Glaubenslehre trotz aller trinitätstheologischer Unterkomplexität viel expliziter als in den berühmt-berüchtigten Sätzen aus den Reden, Gott sei nicht alles in der Religion.31 Aber er begibt sich der Möglichkeit, Gottes Freiheit und Souveränität zu denken, konsequenterweise gibt es auch die Gegenwart Gottes als Ereignis nicht und so gerät das Beharren darauf, man dürfe Neuwerden nicht katholischprozessual denken, in die Nähe der Selbstbestreitung. (GL 2, 184–187) Deus sive natura also nicht, aber natura naturans und natura naturata, nach diesem Doppel Spinozas klingt es eben doch.32 29 Zum Begriff vgl. M. Hailer, Wie viel Magie verträgt der Glaube? Systematisch-theologische Reflexionen, in: Alles fauler Zauber? Beiträge zur heutigen Attraktivität von Magie, hg. von G. Lademann-Priemer, R. Schmitt und B. Wolf, Münster 2007, 103–136. 30 Vgl. W. Krötke, Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes „Eigenschaften“, Tübingen 2001, 206–208. 31 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, 95.97.99. 32 Vgl. zur Frage von Schleiermachers Spinoza-Rezeption allgemein G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988, 181–217; K. Cramer, „Anschauung des Universums“. Schleiermacher und Spinoza, in: 200 Jahre „Reden über die

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Mit Bezug auf die Ethik Spinozas ist zu nennen, ohne dass hier eine literarische Abhängigkeit unterstellt würde: Schleiermacher teilt die Eingangsbestimmungen über Gottes notwendige Existenz, ohne Spinozas Bestimmung, dass nur Gott oder die Substanz existiert, mitzugehen.33 Freilich übernimmt er die Bestimmungen über den dichten Zusammenhang von Gott und Welt: In der Welt der endlichen Dinge gibt es keinen Zufall, vielmehr ist Existenz, Wesen und Funktionsumfang der Dinge göttlich verursacht.34 Der entscheidende Schritt ist nun der, dass Gott bei der Erschaffung der Dinge selbst den Notwendigkeiten seiner Natur unterworfen ist, so dass ein dichter Zusammenhang zwischen der Ordnung der Natur und der Notwendigkeit in Gott besteht: „In rerum naturâ nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum, et operandum.“35 „Res nullo alio modo, neque alio ordine à Deo produci potuerunt, quàm productae sunt.“36 Spinoza denkt also einen dichten Gott-Welt-Zusammenhang, in eins mit der Abwesenheit von Freiheit in Gott. Die Nähe dieser Bestimmungen zu § 54 der Schleiermacher’schen Glaubenslehre ist mit Händen zu greifen. Beide können geschöpfliche Freiheit nicht im angemessenen Maß zur Geltung bringen. Vor allem aber gibt es bei beiden so etwas wie eine Notwendigkeit der göttlichen Gnade.37 Das aber kürzt um die grundlegende Einsicht, dass Gottes Gnade von uns aus gesehen Zufall ist und uns unverdient und unvorhersehbar zukommt. Dass Karl Barth diese theologische Einsicht zu Recht betont hat, wird man selbst dann sagen dürfen, wenn man die sich für ihn daraus ergebenden Schlussfolgerungen nicht teilt.

33 34 35 36 37

Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle, 14.–17. März 1999, hg. von U. Barth und C.-D. Osthövener, Berlin /New York 2000, 118– 141. B. de Spinoza, Ethik, De Deo Propositiones 13.14, nach der Ausgabe Opera II, hg. von K. Blumenstock, Darmstadt 41989, 104–107. Ebd. prop. 25–27 (S. 127–129). Ebd. prop. 29 (S. 130). Ebd. prop. 33 (S. 136). Das ist die notwendige Folge, wenn Schleiermacher, wie G. Meckenstock schreibt, „seinen Angriff auf den exklusiven Geltungsanspruch der personalistischen Theologie“ mit Hilfe Spinozas profiliert. (Meckenstock, Deterministische Ethik, 2, vgl. 229f) Entgegen der Ausführung ebd. 3 gerät die Gottesvorstellung dann allerdings nicht „in das Kraftfeld der Freiheitsthematik“, sondern kann exakt die Freiheitsthematik nicht mehr adäquat abbilden. Das Gegenteil wäre nur dann wahr, wenn eine personalistische Gottesvorstellung notwendig mit einem naiven dezisionistischen Freiheitsverständnis identisch wäre. Das aber ist angesichts des biblischen cantus firmus von der Treue Gottes völlig abwegig. – Die unbefriedigende Bearbeitung des Freiheitsthemas wird auch im Rahmen anderer als der hier bezogenen Prämissen gesehen, vgl. von Fichteanischen Voraussetzungen her kommend H. Verweyen, Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, Darmstadt 2005, 353.

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Wiedergeburt

5.

Wiedergeboren werden oder in Wiedergeburt leben? Nachbemerkung in systematischer Absicht

Divergenz und Konsens zwischen den beiden großen Theologen in Sachen der Metapher der Wiedergeburt sollten zumindest gezeigt haben: Es ist nicht wohlgeraten, sie weiterhin mit der Missachtung zu belegen, die ihr bislang weitgehend zuteil wird. Denn wer das weiter pflegt, steckt gleich in zwei Irrtümern/Problemen zugleich: Er oder sie prolongiert das Missverständnis, als habe der Begriff nicht mindestens einen eigenen Akzent und er überlässt der fundamentalistischen Okkupation weiterhin das Feld. Dagegen zeigte sich: Setzt man sich dem Begriff aus, so ist Rechtfertigungslehre nur so möglich, dass sie das ‚Ankommen‘ der Gnade Gottes beim Menschen in den Blick nimmt, verbunden mit der Aussage, dies verändere ihn und führe ihn zum neuen Leben. Eine evangelische Rechtfertigungslehre, seit der vielleicht nicht nur seligen begrifflichen Distinktion in forensische und effektive Rechtfertigungslehre durch Melanchthon gewohnt, sich im Zweifelsfall auf den forensischen Aspekt allein zu verlassen, wird hierdurch in heilsamer Weise an ihr Thema erinnert: Rechtfertigungstheologie, die den neuen Menschen und die neue Welt nicht zu explorieren unternimmt, bleibt unterkomplex und darf sich darüber auch nicht mit als konfessionellen Markern ausgegebenen Formulierungen wie der Formel vom simul iustus et peccator beruhigen lassen:38 Die Formel gilt, wenn und weil sie nicht nur nach dem Gesetz des Achtergewichts eingesetzt wird, mit welcher Absicht sie allzu oft als unterscheidend evangelisch im Munde geführt wird.39 Freilich ist die bleibende Differenz nicht zu übersehen und fordert in der Tat zur Stellungnahme heraus. Schleiermachers Konzeption zeigte sich als der überlieferten Idee des ordo salutis doch überraschend verwandt: Auch wenn er mit guten Gründen gegen die Idee eines benennbaren punktuellen Bekehrungserlebnisses streitet und der entsprechenden Rhetorik überzeugend den Wind aus den Segeln nimmt, so denkt er doch einen unumkehrbaren und unverlierbaren Prozess der Wiedergeburt. Die Allmählichkeit des Prozesses und seine Unverlierbarkeit und 38 Vorkommen bei Luther erstmals in der Römerbriefvorlesung von 1515/16: „simul peccator et Iustus; peccator re vera, Sed Iustus ex reputatione et promissione“, WA 56, 272, vgl. WA 57, 165. Dies allein würde die Prominenz der Formel nicht ausreichend rechtfertigen. Später nimmt Luther aber wieder Bezug darauf, vgl. die dritte Antinomerdisputation von 1538, WA 39 I, 507. 523. 542. 563f. 39 Energischer Protest dagegen wird von der finnischen Lutherdeutung der Theologen um Tuomo Mannermaa geäußert, vgl. einführend T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover 1989; R. Saarinen, Partizipation als Gabe. Zwanzig Jahre neue finnische Lutherforschung, ÖR 57 (2008), 131–143. Eine Diskussion dieses Zweigs der Lutherdeutung bei M. Hailer, Rechtfertigung als Vergottung? Eine Auseinandersetzung mit der finnischen Luther-Deutung und ihrer systematisch-theologischen Adaption, Lutherjahrbuch 77 (2010), 239-267.

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Gewissheit sind für ihn gerade wechselseitige Garanten und Erklärungshilfen. Das Barth’sche Szenario sieht anders aus: Zwar wagt er es – für selbsternannte Barthianer unerhört, die meinen, ihn bei anderen Formulierungen festlegen zu sollen – von Entsprechungsverhältnissen zwischen dem Heiligen und seinen Heiligen sprechen zu sollen, die den letzteren das Leben real verändern.40 Von einem Progress in diesen Veränderungen ist jedoch nicht die Rede. Sie ereignen sich Deo volente, weil und sofern Christus an die Stelle seiner Menschen tritt und für sie das tut, was sie mitgehen und sich und andere anders werden lässt. Das aber hat Ereignischarakter: Es geschieht oder nicht, es kommt Menschen zu, die sich post festum die Augen reiben mögen und sich fragen, was und wie denn mit ihnen geschehen sei. Pointiert: Sie sind nicht Wiedergeborene, es geschieht Wiedergeburt mit und um sie. Mit einer glücklichen Formulierung von Wolfgang Schoberth: Es geht nicht darum, dass eine/r von sich sagt, eine/r Wiedergeborene/r zu sein, es geht darum, dass er oder sie die Augen reibt und feststellt, in Gottes neuer Welt zu leben – wie anfangshaft, wie fragmentarisch auch immer.41 Der Vorgang, das Ereignis steht im Zentrum und dies, dass es um und mit der Person geschieht, nicht jedoch als Datum des Selbstbewusstseins in ihr antreffbar sein muss. Die letztere, die Barth’sche Variante hat Vorteile für sich. Denn sie kürzt um kein bisschen die Realität der Wiedergeburt – Ausflüchten und Ent-Realisierungen des Rechtfertigungsereignisses wie der falschen Verwendung der simul-Formel sind geradewegs der Boden entzogen. Zugleich aber entlastet sie das Subjekt davon, verifizierende Instanz der Gnade und Gegenwart Gottes sein zu müssen. Wer das für einen theologischen Gewinn hält, setzt zugleich, dass Wiedergeburt und Wiedergeborensein im Modus des Ereignisses stattfinden: Als progrediente Größen im Subjekt sind sie nicht da, wohl aber als Geschehnisse, an denen und in denen Subjekte sich vorfinden. Dass sie gewiss sind, liegt nicht als Bewusstseinsdatum vor, wohl aber ist es – und sei es ex post – benennbar und jederzeit um der Treue Gottes zu seinen Verheißungen willen Gegenstand der Bitte an ihn. Beim Aufweis dieser vernehmlich unterschiedlichen Optionen in Sachen Wiedergeburt inklusive Bewerbung der letzteren muss es sein Bewenden haben. Dass nicht allein an dieser Sachstelle selber entschieden wird, die Begründungslinien vielmehr bis hinein in unterschiedliche Optionen im Herzen der Gotteslehre laufen, ist hoffentlich deutlich geworden. Eine Diskussion um Schleiermacher und Barth wird dann sinnvoll, wenn sie nicht isolierte Themen konfrontiert, sondern wenn sie diese Vernetzungen beachtet.

40 Zum komplexen Thema ‚Erfahrung‘ bei Barth vgl. KD II/1,188, wo davon die Rede ist, dass die Offenbarung sehr wohl Inhalt unserer Erfahrung wird, dies freilich so, dass sie die Kriterien ihrer Erfahrbarkeit selbst mitbringt, so dass gilt: „Wir meistern nicht in dieser Erfahrung, sondern wir werden gemeistert.“ (ebd.) 41 Vgl. W. Schoberth, Zur neuen Welt kommen, 149.

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Hans-Martin Rieger

Schleiermacher und Barth über die Kirche und ihre Gestalt

1.

Kontexte der Frage nach Ort und Gestalt von Kirche

In völlig unterschiedlichen historischen Kontexten sahen sowohl Schleiermacher als auch Barth die real existierende Kirche ihrer Zeit in einer Krise. Barth hatte bekanntlich eine ihre kulturpraktische Selbstständigkeit vor sich her tragende Kircheninstitution der Weimarer Republik, dann eine ideologisch gleichgeschaltete und schließlich eine in der deutschen Nachkriegsgesellschaft funktional ersetzbare Kirche vor Augen. Diesen unterschiedlichen Situationen ist gemeinsam, dass Barth sie als Herausforderung zu einer Existenz- und Auftragsvergewisserung der Kirche begreift. Schleiermacher hatte eine unter dem Einfluss des preußischen Staates politisch-gesellschaftlich funktionalisierte und eine ihrer spezifisch religiösen Substanz beraubte Kirche vor Augen, deren Verfall er in seinen frühen ‚Reden über die Religion‘, dann aber auch im Zusammenhang seines konstruktiven Vorschlags zu einer neuen Kirchenverfassung anprangerte.1 In einer solchen Situation sah er die Herausforderung in der Frage nach der Selbstständigkeit einer ihrer religiösen Kompetenz bewussten Kirche.

1 F. Schleiermacher beginnt seinen „Vorschlag zu einer neuen Verfaßung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat“ (1808) mit einer schonungslosen Diagnose: „Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen. Der lebendige Antheil an den öffentlichen Gottesverehrungen und den heiligen Gebräuchen ist fast ganz verschwunden, der Einfluß religiöser Gesinnungen auf die Sitten und auf deren Beurtheilung kaum wahrzunehmen, das lebendige Verhältniß zwischen den Predigern und ihren Gemeinde so gut als aufgelößt, die Kirchenzucht und Disciplin völlig untergegangen, der gesamte geistliche Stand in Absicht auf seine Würde in einem fortwährenden Sinken begriffen“ (F. Schleiermacher, Kirchenpolitische Schriften, hg. v. G. Meckenstock, KGA I/9, Berlin / New York 2000, 3). Den „Grund aller dieser Uebel“ sieht Schleiermacher im durch die Reformation legitimierten landesherrlichen Kirchenregiment. Interessanterweise teilt der mit der staatlichen Begutachtung beauftragte J.W. Süvern die Rückführung des Verfalls auf den staatlichen Einfluss nicht ganz: „Denn der geistliche Stand ist weit tiefer gesunken durch eignes Aufgeben seines Wesens, als seine Abhängigkeit und Unterordnung unter den weltlichen Staat ihn trieb.“ (a. a. O., XXVIII, Anm. 55).

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Man wird also feststellen können, dass sich beide, Schleiermacher wie Barth, in unterschiedlichen Kontexten auf eine ihnen fragwürdig gewordene geschichtliche Sozialgestalt von Kirche beziehen.2 Beide durchlaufen auch eine analoge Entwicklung, insofern beide den Weg von einer frühen Kirchenkritik („Reden“ bzw. „Römerbrief“) zu einer positiv ausgeführten Kirchentheorie beschreiten. Diese will zur Wahrnehmung der unsichtbaren Kirche in ihrer partikular-soziohistorisch realisierten Gestalt und zur „bessere[n] Gestaltung der bestehenden Kirche“ anleiten.3 Insofern lässt sich für beide sagen, dass sie sich vom „kirchlichen Bilderstürmer“4 in unterschiedlicher Weise zum Anwalt einer ihrem Wesen entsprechend gestalteten empirischen Sozialgestalt von Kirche entwickeln. Insbesondere zu Barth ist zu bemerken, dass ihn die kontextuellen und situativen Herausforderungen weit über Deutschland hinaus führen.5 Im Fokus der folgenden Analysen steht dieses reife Stadium der jeweiligen Position, wie es in den ethischen Schriften und in der Glaubenslehre Schleiermachers und in der ab KD I/2 ausgeführten christologisch konzentrierten Ekklesiologie Barths zu greifen ist. Gegenüber einer insbesondere in der neueren Barthforschung diskutierten funktionalistischen Interpretation, deren Ergebnis im Blick auf die Kirche von einem Verlust der Empirie bis zu einer neuen Erzeugung von Empirie reicht, wird der inhaltlichen Bestimmung, d. h. der material-dogmatisch ausgeführten Theorieanlage hohe Bedeutung beigemessen.6

2 Das ist dann auch Ausgangspunkt des Vergleichs von W. Gräb, Die sichtbare Gestalt der Versöhnung. Überlegungen zur Möglichkeit einer empirischen Ekklesiologie bei F. Schleiermacher und K. Barth, in: D. Korsch / H. Ruddies (Hg.), Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, 232–256. 3 Für Schleiermacher lässt sich dies schön an seinen Erläuterungen ersehen, die er den weiteren Auflagen seiner ‚Reden‘ beigibt: F. Schleiermacher, Über die Reden. Monologen, hg. v. G. Meckenstock, KGA I/12, 229 (Zit.). Für Barth ist erhellend dessen eigene Wahrnehmung in: ders., How my mind has changed, in: ders., „Der Götze wackelt“, Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930–1960, hg. v. K. Kupisch, Berlin 21964, 181–209 (186 wird die Vertiefung seiner Theologie in den Prolegomena als „christologische Konzentration“ bezeichnet). 4 Vgl. für Schleiermacher: K. Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 112. 5 Vgl. M. Leiner / M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008. 6 Um von da aus, und nicht unter Marginalisierung material-dogmatischer Gehalte, die historische Funktion eines theologischen Begriffsgebildes zu bestimmen. Hier liegt auch der Unterschied zwischen einer Funktionsbestimmung und einer funktionalistischen Betrachtungsweise. Methodisch ließe sich dies etwa anhand der Barthdeutung von G. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, BHTh 115, Tübingen 2000, diskutieren. Dieser bestimmt die Funktion der (frühen) Theologie Barths überhaupt in der Erzeugung bzw. dem Aufbau eines starken Handlungssubjekts ‚Kirche‘ im Sinne eines kollektiven Geschichtssubjekts. Vgl. dazu meine Anmerkungen in H.-M. Rieger, Theologie als Funktion der Kirche, Eine

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Schleiermacher und Barth über die Kirche und ihre Gestalt

2.

Friedrich Schleiermacher

2.1

Die Kirche als Kommunikationsgemeinschaft individuellen Symbolisierens (ethische Perspektive)

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Für Schleiermachers wissenschaftsmethodische Vorgehensweise ist es grundlegend, spekulativ-philosophische Konstruktion einer Konstitutionstheorie einerseits und Explikation bzw. Verortung geschichtlich gegebener Erscheinungen andererseits aufeinander zu beziehen. Der Struktur nach entspricht eine solche Vorgehensweise I. Kants Doppelstämmigkeit der Erkenntnis.7 Sie konkretisiert sich im theologischen Unternehmen, die Erscheinung der Religion und konkret die geschichtlich gegebene Erscheinung der Kirche in ein konstruktiv ermitteltes Begriffsnetz einzustellen. Denn nur auf eine solche Weise können sie in ihrem Wesen bzw. in ihrer Identität erfasst werden.8 Und nur auf eine solche Weise können sie kulturellen bzw. sozialen Größen zugeordnet werden, die „als ein für die Entwikkelung des menschlichen Geistes nothwendiges Element nachgewiesen werden können.“9 Abhängig davon, von welcher Seite ausgegangen wird, ergeben sich auf diesem Hintergrund auch unterschiedliche und in Wechselwirkung stehende Perspektiven der Thematisierung von Kirche: eine kultur- bzw. sozialphilosophische und eine dogmatisch-ekklesiologische.10 Die Interpretationen und Bewertungen der Position Schleiermachers gehen in der Beantwortung der Frage, wie diese beiden Perspektiven zugeordnet bzw. integriert werden, mitunter erheblich auseinander. Bestimmt Schleiermacher die Besonderheit der christlichen Kirche bereits kultur- bzw. sozialphilosophisch? 11 Deduziert er sie gar? Handelt es sich nur um

7

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9 10

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systematisch-theologische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirche in der Moderne, TBT 139, Berlin / New York 2007, 97–100. Zum Verfahren einer kritischen Begriffsbildung im Blick auf die Wesensbestimmung des Christentums vgl. grundlegend F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/21830), hg. v. D. Schmid, KGA I/6, Berlin / New York 1998, § 32 (338) u. § 42 (342); dazu M. Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, BHTh 96, Tübingen 1996, 46ff. Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. 1830/31, hg. v. R. Schäfer, 2 Bde., KGA I.13, Berlin / New York 2003 [abgek. CG2, zit. nach Paragraph, Bd., Seite und ggf. Zeile], § 2.2 (I, 15f). Schleiermacher, Kurze Darstellung, § 22 (334, 11–13). Vgl. H.-J. Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1968, 60: „Schleiermacher ist in der Lage gewesen, das Christentum, die christliche Kirche, den christlichen Glauben zugleich von innen und von außen zu sehen.“ So fasst es K. Barth auf: K. Barth, Kirchliche Dogmatik [=KD] IV/3, 826.

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ein hypothetisches Koordinatensystem? Oder ist die kultur- bzw. sozialphilosophische Beschreibung eine von den geschichtlichen Erscheinungen abstrahierende Darstellung der konstitutiven Vollzüge ethischen Lebens? 12 Die kultur- und sozialphilosophische Perspektive auf die Kirche lässt sich in Schleiermachers Ethikvorlesung von 1812/13 fassen. Ethik wird dabei verstanden als Prinzipientheorie der in der Geschichte wirksamen prinzipiellen Handlungsund Gemeinschaftsformen. Schleiermacher geht dazu auf elementare Funktionen der Vernunft zurück. Im Verhältnis zur Natur werden zwei Grundformen vernünftigen Handelns ausgemacht, das organisierende und das symbolisierende (oder erkennende).13 Aufgrund der in der sittlichen Persönlichkeit vorauszusetzenden Differenz von gattungsmäßiger Allgemeinheit und individueller Besonderheit kommt es dabei zu zwei charakteristischen Ausprägungen des Handelns, dem identischen und dem individuellen.14 Durch die Kreuzung beider Gegensätze erhält Schleiermacher vier prinzipielle Handlungsformen: identisches Organisieren, individuelles Organisieren, identisches Symbolisieren und individuelles Symbolisieren. Um diese ausbilden und vollziehen zu können, sind vier entsprechende kulturell-gesellschaftliche „Sphären“ für Schleiermacher konstitutiv: 1. Recht und Staat, 2. Geselligkeit und Ökonomie, 3. Wissenschaft (Akademie, Universität), 4. Kirche (Kunst).15 Ersichtlich ist auf den ersten Blick, dass Schleiermacher mit dieser Konstruktion einer hierarchisch geordneten Gesellschaftstruktur den Abschied gibt zugunsten einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gleichberechtigter Kultursphären. Zur Erreichung des sittlichen Ziels des höchsten Guts – das ist die Pointe – bedarf es für jede Kultursphäre vollkommen entwickelter Institutionen. Im zeitgenössischen Kontext wendet sich Schleiermacher gegen eine vereinnahmende Einflussnahme des Staates auf Kirche und Wissenschaft. Deutlich grenzt er sich deshalb von der Meinung ab, der Staat sei die hinreichende Bedingung zur Förderung bzw. Hervorbringung des höchsten Guts.16 Dieses verwirklicht sich vielmehr im Miteinander von selbstständigen und gleichberech-

12 So fasst es E. Herms auf: ders., Reich Gottes und menschliches Handeln, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 101–124, 121. 13 F. Schleiermacher, Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. v. H.-J. Birkner, 2., verb. Aufl. Hamburg 1990, § 6 (19). 14 Vgl. Ethik (1812/13) § 11f (20). 15 Vgl. Ethik (1812/13) § 21. 24. 27. 30 (26f). 16 Ethik (1812/13) § 97 (97). Vgl. zu Schleiermachers Kulturphilosopie der Ethik v. a. G. Scholtz, Ethik als Theorie der modernen Kultur. Mit vergleichendem Blick auf Hegel, in: ders., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1995, 35–64; zum Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik: M. Leiner, Philosophische und theologische Ethik bei Friedrich Schleiermacher, in: E. Gaziaux (Hg.), Philosophie et théologie, FS E. Brito, Leuven 2007, 171–194.

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tigten und zugleich im Miteinander von aufeinander angewiesenen Kultursphären samt den ihr zugehörigen Institutionen. Wie stellt sich im Rahmen dieser Kulturphilosophie der Ethik die Institution Kirche dar? Ihr Wesen besteht, so fasst Schleiermacher zusammen, „in der organischen Vereinigung“ von Menschen, deren identisches religiöses Gefühl in Kommunikationsvollzügen des individuellen Symbolisierens äußerlich dargestellt und mitgeteilt wird – und dies alles „unter dem Gegensaz von Klerus und Laien“.17 Die kirchentheoretische Reichweite dieser ‚Wesensbestimmung‘ ist zu beachten: Die philosophische Ethik vermag weder die eigentümlich christliche Form der Religion noch die eigentümlich christliche Gestalt der Kirche bestimmen; sie muss solches dem christlichen Leben und der darauf bezogenen christlichen Sittenlehre zuweisen. Die philosophische Ethik schafft so gewissermaßen selbst Raum für eine Bestimmung der christlichen Religion und für eine Bestimmung der christlichen Kirche, die einer theologischen Ethik (Sittenlehre) obliegt. Diese selbst ist nichts anderes als eine Beschreibung des christlichen Lebens und Handelns, sofern es auf die Gemeinschaft mit dem Erlöser Jesus Christus zurückgeht.18 Innerhalb des so geschaffenen Raums behält die philosophische Ethik gleichwohl eine normativ-kriteriologische Funktion: Die Institutionen der religiösen Kultursphäre (die Kirchen) müssen so verfasst sein, dass sich solche Handlungs- und Kommunikationsvollzüge ausbilden können, die dem religiösen Bewusstsein selbst gemäß sind.19 Fragt man auf diesem Hintergrund, welche näheren kirchentheoretischen Ausführungen einer theologischen Ethik bzw. einer christlichen Sittenlehre zu geben möglich sind, muss also einer Differenz verschiedener Standpunkte bzw. Perspektiven Rechnung getragen werden: Im Blick auf die wesentlichen inhaltlichen Elemente besteht zwischen philosophischer und theologischer Ethik Widerspruchsfreiheit; beide unterscheiden sich jedoch in ihrem eigentümlichen konstituierenden Prinzip. Die christliche Sittenlehre findet dieses im christlichen Selbstbewusstsein. Ihm entstammt der Impuls, der allem christlichen Handeln zugrunde liegt. Seine spezifische Christlichkeit bekommt dieses Bewusstsein als Bewusstsein einer Gemeinschaft mit Gott, welche durch die Erlösung Christi 17 Ethik (1812/13) § 209 (121). 18 F. Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1822/23), hg. v. L. Jonas (SW I/12), Berlin 1843, 34. 75f. Zum Problem dieser Ausgabe, die auf Kollegnachschriften beruht, vgl. die Einleitung von H. Peiter in: F. Schleiermacher, Christliche Sittenlehre. Einleitung (1826/27), hg. v. H. Peiter, Nachw. v. M. Honecker, Stuttgart / Berlin u. a. 1983, XXVI. 19 Vgl. Christliche Sitte (1822/23), 75. Schleiermacher fordert eine Kompatibilität und gegenseitige Anerkennung von philosophischer und christlicher Sittenlehre, denn es könne unmöglich nach der einen sittlich sein, was nach der anderen Sünde ist (a. a. O., 76f).

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bedingt ist.20 Die christliche Sittenlehre ist so Beschreibung derjenigen christlichen Handlungs- und Kommunikationsvollzüge, wie sie sich aus der durch Christus vermittelten Gottesgemeinschaft entwickeln lassen, in der Kirche indes nur unvollkommen realisiert sind.21 Zwischen dem Ansatz der philosophischen und theologischen Ethik, das ist nun auch für die Kirchentheorie bedeutsam, gibt es dementsprechend Differenzen, aber auch Entsprechungen: Beim Übergang von Bewusstsein, Impuls und Handlung und bei der Einteilung verschiedener Handlungs- und Kommunikationstypen lassen sich Entsprechungen ausmachen. Die Einteilung in organisierendes und symbolisierendes Handeln entspricht der Einteilung in wiederherstellendes und verbreitendes Handeln einerseits und darstellendes Handeln andererseits.22 Was sich „vom allgemein menschlichen Standpunkte aus“ als Duplizität von Vernunft und Sinnlichkeit beschreiben lässt, erscheint „vom eigentümlich christlichen Standpunkte aus“ als Duplizität von Geist und Fleisch.23 Der christlichen Auffassung einer bleibenden Sündhaftigkeit des Menschen ist es dann auch geschuldet, dass Schleiermacher in seiner theologischen Ethik mit der Explikation des reinigenden und wiederherstellenden Handelns beginnt und dessen Bedeutung für Kirche und Staat entfaltet. Darunter fällt interessanterweise auch die Thematisierung der „Kirchenverbesserung“.24 Während dieser Handlungstypus des reinigenden und wiederherstellenden Handelns seinen Impuls aus einem Zustand der Unlust bezieht, bezieht ihn der Handlungstypus des verbreitenden Handelns aus dem Zustand der Lust.25 Die „eigentliche Basis“ für die Kirche selbst bildet indes die Kommunikationsform des darstellenden Handelns.26 Dieser Handlungstypus bezieht seinen Impuls nicht aus dem Zustand der Unlust oder Lust, sondern aus dem Bewusstsein der Seligkeit und der „Freude an Christo“. Anders als beim wirksamen Handeln als eines Handelns, das auf Veränderung aus ist, liegt der Zweck des darstellenden Handelns nicht außerhalb der Handlungs- und Kommunikationsvollzüge. Es ist ein Handeln, 20 21 22 23

A.a.O., 32. 45. Zur Formulierung des Impulses vgl. Christliche Sittenlehre (1826/27), 84. Christliche Sitte (1822/23), 34. A.a.O., 50–55; Christliche Sittenlehre (1826/27), 57–61. 89f. Christliche Sitte (1822/23), 60f, wobei Geist im christlichen Sinne heißt: „Princip, das nur durch die Verbindung mit Christo im Menschen einheimisch wird.“ 24 Ebd, 186f fordert er hierzu als Strukturbedingung eine größtmögliche Öffentlichkeit für denjenigen Einzelnen, der den Impuls zu einem reinigenden Handeln in sich verspürt. 25 Schleiermacher unterscheidet dabei eine extensive und intensive Richtung: „Die erste bewirkt, daß immer mehr Menschen Christen werden, die andere, daß in allen, welche zur Gemeinschaft der christlichen Gesinnung schon gehören, die Gewalt des christlichen Geistes immer vollständiger wird.“ (a. a. O., 373) Der Sache nach handelt es sich beim ersten Moment um Mission (der Schleiermacher allerdings aufgrund seiner Vorstellung eines Abbruchs natürlicher Lebensverhältnisse kritisch gegenübersteht), beim zweiten Moment um christliche Erziehung bzw. Bildung. 26 A.a.O., Beilage B, 147.

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„welches die Idee des Lebens als eines Gemeinsamen, die Circulation des Lebensäußerungen und die Mittheilung derselben zum Zweck hat.“27 Durch symbolische Darstellungsmittel, die allen vernünftigen Menschen eigen sind, tritt das Selbstbewusstsein der Seligkeit – das Selbstbewusstsein, „in welchem die Herrschaft des göttlichen Geistes über das Fleisch schlechthin gesezt ist“ – aus dem Inneren nach außen.28 Als vorzügliches Darstellungsmittel kommt für einen vernünftigen Menschen dabei die Sprache (und die Musik) in Betracht. Die damit nur grob skizzierte Grundlegung in der christlichen Sittenlehre ist in mindestens dreierlei Hinsicht von weitreichender Bedeutung: 1. Sie bietet einen inneren Begründungszusammenhang, um ausgehend vom erwähnten konstituierenden Prinzip des christlichen Selbstbewusstseins die Notwendigkeit der Institution Kirche darzutun. Diese resultiert aus der Notwendigkeit eines darstellenden Handelns, das von anderen Handlungsformen des wirksamen Handelns unterschieden, nicht aber getrennt werden kann.29 Zu beachten ist ferner: Darstellendes Handeln und Gemeinschaft sind gleichursprünglich. Darstellendes Handeln bringt Gemeinschaft hervor und beruht zugleich auf Gemeinschaft.30 2. Das Identifikations- und Regenerationszentrum der Kirche ist dort zu suchen, wo dieses darstellende Handeln seinen bevorzugten Ort hat: im Gottesdienst. Die christliche Sittenlehre bietet nichts weniger als eine ethische Begründung für diesen Sachverhalt. Sie macht zugleich deutlich, dass die dabei zum Zuge kommenden symbolischen Darstellungsmittel dem allgemeinen Vernunftleben des Menschen entstammen und daher einer Betrachtung nach Grundsätzen einer allgemeinen Kunstlehre offen sind.31 3. Im Rückgriff auf die dogmatische Differenz von streitender und triumphierender Kirche gewinnt die christliche Sittenlehre schließlich eine dynamische Zuordnung von wirksamem und darstellendem Handeln. In der triumphierenden Kirche, in welcher sich die reine Gemeinschaft mit Gott ausdrückt, hat allein darstellendes Handeln statt. Anders in der streitenden, die sich noch im Gegensatz zur Welt befindet. In ihr richtet sich das wirksame Handeln darauf, die Differenz zur triumphierenden aufzuheben. Die symbolische Kommunikati27 28 29 30 31

Christliche Sittenlehre (1826/27), 61. Christliche Sitte (1822/23), 515. A.a.O., 516. Vgl. a. a. O., 510–513. A.a.O., 537. Es entspricht dabei der Herrschaft des Geistes über das Fleisch, dass leibliche und bildliche Darstellungsmittel zugunsten der ‚vernünftigen‘ Darstellungsmittel Sprache und Musik zurücktreten (a. a. O., 539f).

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onsform religiöser Kommunikation erfordert es, dieses wirksame Handeln auch in einem darstellenden zu denken – wie auch umgekehrt das darstellende Handeln der streitenden Kirche immer auch ein wirksames sein muss.32

2.2

Die Kirche als Gestalt von Welt in der Welt (dogmatische Perspektive)

Die äußere Perspektive des ethischen Kirchenbegriffs taucht in verkürzter Form und in anderer Funktion zunächst in den Lehnsätzen der Glaubenslehre auf. Denn es muss auch für die Dogmatik nach außen vermittelbar sein, dass der Bezugspunkt der in ihr statthabenden Explikation des christlich-frommen Selbstbewusstseins dort zu finden ist, wo er in der eigentümlich christlichen Verfasstheit vorliegt: in der Kirche. Der dazu erforderliche allgemeine Kirchenbegriff müsse von der Ethik genommen werden, „da auf jeden Fall die Kirche eine Gemeinschaft ist, welche nur durch freie menschliche Handlungen entsteht und nur durch solche fortbestehen kann.“33 Der intersubjektive, in Handlungs- und Kommunikationsvollzügen bestehende Vermittlungszusammenhang des frommen Selbstbewusstseins ist damit ebenso präsent wie die kriteriologische Bedeutung dieser Handlungs- und Kommunikationsvollzüge für den Kirchenbegriff selbst. Die ausdrückliche Rückbindung erfolgt in § 6: „Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes andere wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwiklung nothwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits ungleichmäßig fließende andrerseits bestimmt begrenzte d. h. Kirche.“34 Angedeutet werden von Schleiermacher im Folgenden die bereits skizzierten Implikationen eines ethischen Kirchenbegriffs: Es entspricht einem dem Menschen innewohnenden Gattungsbewusstsein, dass Inneres (Gefühl) Äußeres wird – mittels „Gesichtsausdrukk Gebehrde Ton, und mittelbar durch das Wort“.35 In 32 Christliche Sittenlehre (1826/27), 88f. 96f. 33 CG2 § 2.2 (I, 16, 5–7). Zum Kirchenverständnis Schleiermachers in der Glaubenslehre und zum Folgenden: A. Weirich, Die Kirche in der Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers, EHS.T 398, Frankfurt a.M. 1990; W. Christe, Kirche und Welt. Eine Untersuchung zur ihrer Verhältnisbestimmung in der Theologie Friedrich Schleiermachers, Frankfurter Theologische Studien 50, Frankfurt a.M. 1996; D. Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin / New York 1999; M. Ohst, Schleiermacher und die Kirche, in: F. Huber (Hg.), Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsverständnis, Veröffentlichungen der Kirchlichen Hochschule Wuppertal NF 3, Neukirchen-Vluyn 2000, 50–81; E. Brito, Pneumatologie, ecclésiologie et éthique théologique chez Schleiermacher, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 77 (1993), 23–52 34 CG2 § 6 Lehrsatz (I, 53, 4–8). 35 CG2 § 6.2 (I, 55, 2–13).

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dieser Weise ist „ihr wesentliche[s] Geschäft […] das Erhalten, Ordnen und Fördern der Frömmigkeit“.36 Implizit wendet sich Schleiermacher auch mit dieser kurzen Skizzierung wieder gegen eine vereinnahmende Einflussnahme seitens Staat und Wissenschaft, gegen eine Reduktion der Kirche auf eine äußere Anstalt, aber auch gegen einer Marginalisierung der Institution Kirche im Sinne einer natürlichen Religion. Selbst wenn dies noch nicht umfänglich deutlich ist: Wie in der Ethik wird die institutionelle Gestalt der Kirche an die Realisierbarkeit von konstitutiven Handlungs- und Kommunikationsvollzügen zurückgebunden. Nach diesen ethisch konstruierbaren Vollzügen ist die kirchliche Sozialität allerdings erst als eine „fließende[.] und eben deshalb streng genommen unbegrenzte[.] Gemeinschaft“ demonstriert.37 Ihre Begrenzung kann lediglich aus der empirischen Wahrnehmung nachgewiesen werden – etwa indem die Mechanismen der Mitgliedschaftsregulierung näher betrachtet werden. Die eigentliche Erfassung der Kirche als einer empirisch begrenzten und geschichtlich sich verändernden Sozialgestalt der Welt – das ist zu beachten – bietet Schleiermacher sodann erst innerhalb der dogmatischen Ekklesiologie, also aus der Perspektive des christlich bestimmten Bewusstseins. Wie die Überschrift und der erste ekklesiologische Lehrsatz38 deutlich machen, handelt es sich um eine „Beschreibung dessen, was durch die Erlösung in der Welt gesezt ist“.39 Das durch Christus wirksam gewordene „Gesammtleben besteht nämlich allerdings nur aus den erlösten Einzelnen; was es aber in der Welt bedeutet, das ist es durch seine Organisation.“40 Zwei Sachverhalte dieser Anlage bzw. dieses Ansatzes sind hervorzuheben: Erstens wird die Ekklesiologie strikt an die Christologie zurückgebunden und dieser Zusammenhang wiederum strikt pneumatologisch expliziert. Das heißt zunächst: Die wesentlichen Tätigkeiten der Kirche, ihre Handlungs- und Kommunikationsvollzüge müssen als Abbild und Fortsetzung der Tätigkeit Christi in und auf die Welt dargetan werden können.41 Genauer heißt es: Die in Christus statthabende Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur und die lebensbestimmende Kraft des Gottesbewusstseins über das Weltbewusstsein werden qua Heiliger Geist in jenem „Gesammtleben der Gläubigen“

CG2 § 3.1 (I, 21, 21–22, 2). CG2 § 6.4 (I, 57, 21–22). CG2 § 113 (II, 229, 4–8). CG2 § 90.1 (II, 32, 19–20). Nach § 30 (I, 193f) ist dies der zweiten dogmatischen Lehrform (Beziehung auf die Welt) zuzuordnen. 40 CG2 § 90.1 (II, 33, 7–9). 41 CG2 § 127.3 (II, 314).

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wirksam.42 „Und so ist eben dieses, daß wie das göttliche Wesen mit der menschlichen Person Christi verbunden war, so es auch, seitdem Christi persönliche Einwirkungen aufgehört haben, und es folglich in keinem Einzelnen mehr persönlich wirksam ist, sich in der Gemeinschaft der Gläubigen als deren Gemeingeist wirksam erweist, die Art und Weise wie das Werk der Erlösung sich in der Kirche fortsetzt und verbreitet.“43 Zweitens: Wenn Schleiermacher nunmehr die Kirche als eine Gestalt der Welt thematisiert, so ist unbeschadet dessen, dass ihre eigentümlichen konstitutiven Handlungs- und Kommunikationsvollzüge allgemein demonstriert werden können, von einer nur den Glaubenden zugänglichen Perspektive auszugehen.44 Denn um die Kirche als Gestalt der Welt theologisch angemessen zu begreifen, um sie als „Organismus“ bzw. „Organisation“ (!) angemessen zu begreifen, muss ihr Bezug auf die Tätigkeit Christi und muss ihr „Gegensaz zur Welt“ begriffen werden. Schleiermacher ist an dieser Stelle überaus deutlich: „Nun aber ist es so, daß diejenigen, welche den Glauben an Christum nicht mit uns theilen, auch die christliche Gemeinschaft in ihrem Gegensaz gegen die Welt nicht erkennen. Wo das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit ganz zurükkgedrängt ist, da wird die christliche Kirche gewiß auf alle Weise mißverstanden.“45 Die in der Teilnehmerperspektive gewonnene theologische, näherhin christologisch-pneumatologische Perspektive bezieht sich – das gilt es festzuhalten – nicht lediglich auf die geglaubte Kirche, sie bezieht sich insbesondere auf die geschichtlich-reale Sozialgestalt der Kirche. Schleiermachers Grundentscheidungen werden deshalb vor allem in denjenigen beiden (Gelenk-) Stellen transparent, in denen das Bestehen der geschichtlichen Kirche im Zusammenhang mit der Welt und die Unter42 Vgl. die Definition des Heiliges Geistes in CG2 § 123, Lehrsatz (II, 288, 1–4): „Der heilige Geist ist die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesammtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.“ Schleiermacher expliziert die Zweinaturenlehre bereits pneumatologisch, so dass die universale Bedeutung Christi für die gesamte Menschheit als lebensbestimmende Größe am Ort des Subjekts und zugleich als ‚Gemeingeist‘ für das christliche Gesamtleben bereits präfiguriert ist. Zu diesen Zusammenhängen und zum ‚Gemeingeist‘ vgl. D. Schlenke, a.a.O., 319–357. 382f. Die Explikation des Heiligen Geistes durch ‚Gemeingeist‘ macht jenen zwar in Analogie zum ‚Volksgeist‘ der Erfahrbarkeit zugänglich (CG2 § 121.2 [II, 280f.]), dies jedoch in einer ekklesiologisch bedenklichen Weise, insofern die geschichtlich gewordene Faktizität als geistgewirkt betrachtet werden kann (z. B. CG2 § 131.1 [II, 333]: „daß wir nämlich der allgemeinen christlichen Erfahrung als dem Zeugniß des heiligen Geistes vertrauen.“ 43 CG2 § 124.2 (II, 296, 28–33). 44 Dieser Sachverhalt wird oft übersehen. Die Rede von einer ‚empirisch identifizierbaren Sozialgestalt‘ (vgl. W. Gräb, a.a.O., 240) ist also präzisierungsbedürftig. 45 CG2 § 113.4 (II, 233, 13–17), auch § 114.1 (II, 235, 1–3): „so kann auch über die christliche Kirche nur von denen, die ihr inneres Leben aus eigner Theilnahme kennen, richtiges ausgesagt werden.“

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scheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche reflektiert werden. Wir wenden uns beiden Stellen im Folgenden zu. Das fortwährende Bestehen der geschichtlichen Kirche nimmt in Schleiermachers Ekklesiologie den meisten Raum ein; seine Thematisierung führt auf das Gebiet „unserer täglichen Erfahrung“.46 Es wird, wie gesagt, aus der Perspektive des glaubenden Bewusstseins heraus begriffen, nämlich einerseits in seiner Beziehung auf die Tätigkeit Christi, andererseits in seiner Beziehung auf die ‚Welt‘. Geschichtliche Identität und geschichtliche Variabilität bzw. Veränderbarkeit werden nun diesen beiden Beziehungsmomenten zugeordnet: „Die von dem heiligen Geist beseelte Gemeinschaft der Gläubigen bleibt in ihrem Verhalten zu Christo und zu diesem Geist immer sich selbst gleich, in ihrem Verhältniß zur Welt aber ist sie dem Wechsel und der Veränderung unterworfen.“47 Die Identität der Kirche, das durch alle geschichtlichen Veränderungen hindurch Gleiche, beruht auf der gleichbleibenden Wirksamkeit des mit der Kirche verbundenen Heiligen Geistes. Er repräsentiert nämlich nichts weniger als die gleichbleibende Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen in Christus. Die Identität der geschichtlich fortbestehenden Kirche erscheint als Fortsetzung der unio personalis Christi.48 Die identitätswahrenden „wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche“ müssen sich darum als Abbild und Fortsetzung der unio personalis Christi und als Handlungs- und Kommunikationsvollzüge des Heiligen Geistes, der diese unio in der Form des Gemeingeistes repräsentiert, nachweisen lassen. Als solche identitätswahrende und in der geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche identifizierbare Grundvollzüge expliziert Schleiermacher sechs: Heilige Schrift, Dienst am Wort, Taufe und Abendmahl, Schlüsselamt und Gebet.49 Die Variabilität bzw. Veränderlichkeit resultiert aus einer Beziehung der Kirche zur Welt, die Schleiermacher differenziert auffasst. Die eben erwähnte Fortsetzung der unio personalis Christi erhält dadurch eine Brechung. Die Wiedergeborenen nämlich, die den „inneren Kreis“ der Kirche ausmachen, erweisen sich nämlich nicht nur als vom Heiligen Geist, sondern auch als von der Welt bestimmt.50 Im Unterschied also zur „personbildenden Thätigkeit“ des Göttlichen in der unitio personalis Christi ist bei der durch den Gemeingeist vermittelten Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen in den Wie-

CG2 § 114.1 (II, 234, 17). CG2 § 126 Lehrsatz (II, 303, 16–20). Vgl. CG2 § 126,1 (II, 305), auch § 124.1 (II, 294f), § 124.2 (II, 296). Die Explikation dieser sechs Grundvollzüge macht die erste Hälfte des ekklesiologischen Hauptstücks vom Bestehen der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt aus: §§ 127–147. 50 CG2 § 126.1 (II, 305). 46 47 48 49

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dergeborenen auch von einem „Getrenntsein“ auszugehen.51 Die Folge: Die ‚Welt‘ tritt nicht nur außerhalb der Kirche auf, sondern auch innerhalb ihrer. „Wenn wir nun die menschliche Natur in dem ganzen Umfang, in welchem sie nicht durch den h. Geist bestimmt ist, Welt nennen: so werden wir auch sagen können, alles Veränderliche in der Kirche sei als solches durch die Welt bestimmt, nur nicht alles auf dieselbe Weise.“52 Was dabei ‚Welt‘ heißt, muss von der Kirche her gewonnen und zweifach gefasst werden: die vom heiligen Geist ergriffene und durch die Erscheinung Christi zum Ort der Vollkommenheit gewordene Welt – die dem Heiligen Geist widerstrebende Welt als Ort der Sünde und des Übels. Diese Differenz findet sich innerhalb und außerhalb der Kirche, und zwar als eine dynamische: Innerhalb und außerhalb der Kirche soll die Welt abnehmen und die Bestimmungskraft des Geistes bzw. des Gemeingeistes zunehmen.53 Insofern es zwei Formen der Welt sind, die in und auf die Kirche wirksam sind, ist auch die Variabilität bzw. Veränderlichkeit der Kirche als eine doppelte zu denken: Die geschichtliche Sozialgestalt der Kirche bedarf einerseits der Veränderung, um ihre Identität zu bewahren. Es gibt aber auch Veränderungen der Sozialgestalt, die durch eine Welt bestimmt sind, welche dem Heiligen Geist widerstrebt. Es gibt dementsprechend eine legitime Form von Pluralität und konfessioneller Vielfalt – es gibt aber auch eine sündlich-fleischliche Form derselben. Ob etwas als unvermeidlich und der raumzeitlichen Verschiedenheit der geistigen Natur des Menschen entsprechend anzuerkennen ist oder ob etwas als fehlerhaft zu bekämpfen ist, muss danach beurteilt werden, ob und inwiefern es auf die Wirksamkeit Christi oder auf den Eingriff der Welt zurückzuführen ist.54 Der bleibende Einfluss der Welt auf und in der Kirche begründet nicht nur deren geschichtliche Veränderlichkeit, er begründet für Schleiermacher auch den Gegensatz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Kirche.55 ‚Sichtbare Kirche‘ bezeichnet die geschichtlich-wahrnehmbare Kirche, die es nicht anders denn als „Gemisch von Kirche und Welt“ gibt; ‚unsichtbare Kirche‘ bezeichnet die nicht als solche fassbaren Wirkungen des Heiligen Geistes.56 Damit opponiert Schleiermacher gegen eine Vorstellung, welche die ‚unsichtbare Kirche‘ in der Gesamtheit der Wiedergeborenen erblickt, die ‚sichtbare Kirche‘ hingegen in einem corpus permixtum, das auch diejenigen einschließt, die „sich äußerlich zur Kirche bekennen.“ Denn, so lautet Schleiermachers Begründung, erstens könne dieser 51 Vgl. CG2 § 97.2 (II, 73f) und § 123.3 (II, 293): „eine Mischung von Getrenntsein und Vereinigtsein“. 52 CG2 § 126.1 (II, 305, 21–25). 53 Vgl. CG2 § 113.4 (II, 233f); § 126.1 (II, 306). 54 Schleiermacher kann solches durchaus konkretisieren, vgl. CG2 § 133.1 (II, 343f) im Blick auf die Predigt, § 151 (II, 437–440) im Blick auf die Kirchengemeinschaft. 55 CG2 § 148 Lehrsatz (II, 427, 5–9). 56 CG2 § 148.1 (II, 427f).

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äußere Kreis nicht als Kirche bezeichnet werden (er muss Kirche erst werden), und zweitens sei die Gemeinschaft der Wiedergeborenen sichtbar in dem Sinn, dass in ihr selbst Bestimmtsein und Gegensatz zur Welt sichtbar werden.57 Sichtbare und unsichtbare Kirche markieren deshalb zwei Betrachtungsweisen, die im Hinblick auf die Gemeinschaft der Wiedergeborenen selbst geltend zu machen sind. Es gilt die unsichtbare Kirche bzw. die Gemeinschaft der Glaubenden nicht abgesondert von der sichtbaren, sondern in dieser und „vermittelt durch die sichtbare“ wahrzunehmen.58 Die explizierten unveränderlichen Grundvollzüge sind dabei von kriteriologischer Bedeutung, denn sie sind „die vorzüglichsten Organe der unsichtbaren Kirche und repräsentiren am meisten die Kräfte derselben in der sichtbaren.“59 Auf diese Weise verwahrt sich Schleiermacher dagegen, die wahre Kirche außerhalb ihrer geschichtlich-veränderlichen Sozialgestalt aufzusuchen. Die Bemühungen einer besseren Gestaltung der Kirche zielen vielmehr darauf, dass die sichtbare Kirche immer mehr zur Repräsentation und Vermittlung der unsichtbaren wird. Ein Letztes: Das dynamische Verhältnis, das zwischen Kirche und Welt statthat, ist nicht nur ebenfalls in der unio personalis Christi präfiguriert, ihm entspricht auch eine spezifische Verhältnisbestimmung von Kultur und Kirche:60 Durch die Kirche – nicht ohne sie! – kommt es zu einer „fortschreitende[n] Verwirklichung der Erlösung in der Welt“, durch sie vollzieht sich die Vollendung des Humanum.61 Denn die christliche Dominanz des Geistes über das Fleisch bzw. des Gottesbewusstseins über das Weltbewusstsein vermittelt die Dominanz 57 Vgl. die Zusammenfassung CG2 § 148.2 (II, 429, 22–24): „Was sonach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch gemäß die unsichtbare Kirche heißt, davon ist das meiste nicht unsichtbar, und was die sichtbare, davon ist das meiste nicht Kirche.“ Mit diesem Hinweis auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch trifft Schleiermacher eher die reformierte, aber keineswegs die – häufig ebenfalls missverstandene – lutherische Form der Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche. Vgl. nur die Hinweise bei W. Härle, Art. „Kirche VII. Dogmatisch“, in: TRE 18 (1989), 277–317, 286f; G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung ins Konkordienbuch, Bd. 2, Berlin / New York 1997, 272–276. Er träfe aber sehr wohl die Umdeutung durch den „freien Protestantismus“, welcher die reformatorische Differenz meint benutzen zu können, um eine selbstbewusste religiöse Individualität außerhalb der Kirche zu denken: vgl. D. Korsch, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997, 158f. 58 CG2 § 149.1 (II, 431f). 59 CG2 § 148.2 (II, 430, 4–6). 60 Die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christus wird in CG2 § 124.1 (II, 294, 32) als „Begabung der gesammten menschlichen Natur“ aufgefasst. Nach Christliche Sitte, Beilage A (1809), 8, wird die „werdende Einheit der Vernunft“ als „zunehmende Macht der Vernunft und abnehmende der Sinnlichkeit“ bestimmt; sie werde vermittelt durch die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur. 61 CG2 § 127.3 (II, 314, 12–14). Zu diesem Zusammenhang ausführlicher: H.-J. Birkner, a.a.O., 87–93; W. Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, GTA 14, Göttingen 1980, 132–135; W. Christe, a.a.O., 191–241.

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der Vernunft über Sinnlichkeit und Natur. Die allgemeine Vernunftkultur ist daher auf eine christliche Religion angewiesen – auf eine christliche Religion, welche sich nicht anders als vermittelst einer sich durch spezifisch religiöse Handlungs- und Kommunikationsvollzüge auszeichnenden eigenen Kultursphäre der Kirche bildet und verbreitet.

3.

Karl Barth

Das Profil der Kirchentheorie Barths in den 30er und 40er Jahren muss auf dem Hintergrund einer sich als selbstständige Kulturpotenz darstellenden Kirche, wie sie nach dem Ende des Staatskirchentums 1918 propagiert wurde, verstanden werden. Das zeigt bereits sein Streit mit Otto Dibelius, der in seinem berühmten Werk „Das Jahrhundert der Kirche“ (1926) die Selbstpositionierung einer institutionellen Kirche vertrat, deren kulturell-gesellschaftliche Leistungen als unverzichtbar angesehen werden müssten.62 Durch eine solchermaßen auf kulturpraktische Leistungen abgestellten Sichtbarkeit der empirischen Institution Kirche sah Barth einem ideologischen Missbrauch Tür und Tor geöffnet; die Instrumentalisierung dieser Kirche durch die ‚Deutschen Christen‘ bestätigte ihm dies nur noch. Man wird sagen können: Schleiermachers kultur- und sozialphilosophische Begründung einer selbstständigen Kultursphäre und einer selbstständigen Institution Kirche war bereits Geschichte geworden; brennend wurde die Frage, ob und inwiefern in der geschichtlich realisierten Kultur- und Sozialgestalt der Kirche tatsächlich die Wirklichkeit der Kirche oder nicht doch vielmehr das „Phänomen der Scheinkirche“ sich manifestiert. Als ekklesiologische Frage im engeren Sinn trat daher die Frage nach der „Wirklichkeit“ und die Frage nach der „Sichtbarkeit“ der Kirche hervor; im weiteren Sinn war damit die Frage nach der theologischen Erfassung von „Welt“ und „Kultur“ gestellt. Für Barths Denkweg ist es dabei entscheidend, im Blick auf die Kirche mit einer theologischen Identitätsreflexion anzuheben und die Reflexion der soziohistorischen Realisierung von Kirche sachlogisch nachzuordnen.63 Wie zu sehen sein wird, bindet 62 Vgl. K. Barth, Die Not der evangelischen Kirche (1931), in: ders., „Der Götze wackelt“, a.a. O., 33–57 (v. a. auch das dazugehörige Nachwort a. a. O., 58–62). Zum Streit mit Dibelius vgl. E. Lessing, „Selbständigkeit“ und „Freiheit“ der Kirche. Eine Notiz zum Kirchenverständnis Dibelius‘ und Barths, in: „Quousque tandem …?“ Zum evangelischen Kirchenverständnis in diesem Jahrhundert, KZG 2/2 (1989), 426–436. Zur Entwicklung der Ekklesiologie Barths grundsätzlich W. Greive, Die Kirche als Ort der Wahrheit. Das Verständnis der Kirche in der Theologie Karl Barths, FSÖTh 61, Göttingen 1991 (mit weiterer Lit. zu älteren Arbeiten). 63 Zu diesen Zusammenhängen neben der erwähnten Schrift ‚Die Not der evangelischen Kirche‘ dann insbesondere KD IV/2, 698–701.

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auch Barth die Ekklesiologie ganz an die Christologie; er legt aber Wert darauf, dass die Kirche und deren Handlungs- bzw. Kommunikationsvollzüge in keiner Weise als „Fortsetzung“ der Inkarnation bzw. der unio personalis Christi zu stehen kommen.64

3.1

Der Innenaspekt und die dritte Dimension der Kirche

Eine grundlegende Weichenstellung im Blick auf die Frage nach „der Wirklichkeit“ und der „Sichtbarkeit“ der Kirche pointiert Barth in § 16 der Prolegomena seiner Kirchlichen Dogmatik. Sie zeitigt Folgen für die später entfaltete Besetzung der Begriffe „wirkliche Kirche“ und „wirkliche Welt“; auf ihrem Hintergrund lassen sich dann auch eventuelle Entwicklungen bei Barth wahrnehmen. Grob gesagt besteht diese Weichenstellung darin, dass die fundamentaltheologische Frage nach „der Wirklichkeit“ und so auch die Frage nach der „wirklichen Kirche“ und ihrer Identität nur von der Christuswirklichkeit her beantwortet werden können, weil nur von ihr her gesagt werden kann, was „wirklich“ ist. Genauer zu explizieren versucht Barth dies im erwähnten Paragraphen mittels der christologischen Denkfigur der Anhypostasie: Es entspricht der Anhypostasie der menschlichen Natur Christi, dass die Kirche keine gegenüber Jesus Christus selbstständige Wirklichkeit hat, sondern diese von ihm empfängt.65 Dieser ontologischen Positionierung korrespondieren die noetischen Grundsätze von Barths Kirchentheorie: In negativer Hinsicht wird eine funktionale sozial- oder kulturphilosophische Begründung und Ortsbestimmung der Institution Kirche zurückgewiesen und einer wie immer gearteten empirischen Perspektive die Zuständigkeit für die Realitätskonformität streitig gemacht; in positiver Hinsicht werden die praxisorientierenden Leitlinien der Kirchengestaltung aus der theologisch-christologischen Innenperspektive heraus gewonnen. An der von Barth benutzten metaphorischen Differenz von „innen“ und „außen“ lässt sich dabei ablesen, dass vor dem Zweiten Weltkrieg stärker die Differenz, in den 50er Jahren dann stärker der Zusammenhang im Sinne einer Bestimmungsrichtung „von innen nach außen“ im Vordergrund steht. Im Folgenden soll dies etwas näher beleuchtet werden.

64 KD I/2, 235; KD IV/3, 834. 863. 878 u. ö. 65 KD I/2, 234. 236. Die klassisch dazugehörende Enhypostasie schiebt sich, wie noch zu sehen sein wird, in den späteren Bänden der KD nach vorne. Durchgehend beibehalten wird aber die in dieser christologischen Denkfigur der Zweinaturenlehre angelegte Asymmetrie: Christus ist das Subjekt, die Kirche das Prädikat – nicht umgekehrt (vgl. KD I/2, 234 mit KD IV/3, 863f). Zur Verteidigung der klassischen Lehre von der Anhypostasie und Enhypostasie Christi vgl. KD I/2, 178–180.

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Schon in seinem 1926 gehaltenen Vortrag „Die Kirche und die Kultur“ unterscheidet Barth einen „theologischen Innenaspekt“ und einen „geschichtlichtheologischen Außenaspekt[.] der Kirche“ und fordert dabei eine methodische Überordnung des Ersteren.66 Die Pointe dabei: Er fordert diese Unterordnung, um Kirche als Gestalt der Kultur angemessen begreifen zu können. Vom theologischen Innenaspekt aus entwickelt er dazu zunächst einen eigenen Kulturbegriff.67 Diese Vorgehensweise versucht er auch erkenntnistheoretisch einsichtig zu machen, insofern eine neutrale „Zuschauerstellung“ als menschliche Unmöglichkeit, mithin als Anmaßung des Standpunkts Gottes dargestellt wird.68 Für die Fragestellung nach dem Auftrag der Kirche in der Kultur bedeutet dies dementsprechend, dass Kirche sich dem „Kulturproblem“ – das heißt dem Verlangen nach vollkommener Humanität – auf die ihre eigene Weise zu stellen hat: In ihrer Kulturarbeit steht sie gleichnishaft für die Menschlichkeit des Menschen vor Gott und die Menschenfreundlichkeit Gottes ein.69 Sie hat sich aber auch selbst als Gestalt der Kultur zu begreifen, insofern sie als eine soziokulturell-relative Gestalt im Strom der Kulturgeschichte auftritt und darin an einem bestimmten Ort gleichnishaft zu existieren hat.70 Die kritische Stoßspitze eines solchen theologischen Zugangs zur Kirche als Gestalt der Kultur zeigt sich fünf Jahre später in der Auseinandersetzung mit Dibelius: Wenn Kirche ihrem Wesen nach „Kirche unter dem Kreuz“ ist, dann hat die Erkenntnis des „Draußenseins des gekreuzigten Christus“ vor den Toren Jerusalems für die Bestimmung ihres Ortes in der Kultur konstitutive Bedeutung. Einen (angeblich) unverzichtbaren Ort in der Mitte des Kulturganzen zu beanspruchen bleibt ihr ebenso verwehrt wie die Flucht in eine Sichtbarkeit, die Zweideutigkeiten und Schwächen überspielt.71 66 K. Barth, Die Kirche und die Kultur (1926), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925– 1930, hg. v. H. Schmidt, Karl Barth Gesamtausgabe Abt. III: Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1994, 10–40, 12. 15. 67 A.a.O., 15–33. Zur Kritik an diesem Kulturbegriff vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, HUTh 38, Tübingen 2000, 213–268. Moxter sieht Barths Kulturbegriff ganz auf die Handlungsdimension („Kulturarbeit“) reduziert und wirft ihm einen Verlust der Phänomene des Menschlichen vor. Dabei wird allerdings der historische Kontext der Vortrags bzw. die konkrete auf ‚Praxis‘ zielende Fragestellung der Adressaten ausgeblendet (der „Kontinentale Verband für Innere Mission und Diakonie“ stand mit der Weltkirchenkonferenz für Praktisches Christentum in Verbindung). Nicht bedacht wird auch die später von Barth stärker formulierte Rolle der Enhypostasie. 68 K. Barth, Die Kirche und die Kultur, 19f. 69 A.a.O., 25 mit der Abgrenzung von Schleiermacher: „Eine allgemeine Heiligsprechung der Kulturarbeit, wie sie in idealer Weise Schleiermacher vollzogen hat, kann nicht in Betracht kommen, aber eine grundsätzliche Blindheit für die Möglichkeit, daß sie gleichnisfähig, daß sie verheißungsvoll sein könnte, fast noch weniger.“ 70 A.a.O., 33–35. 71 Ders., Die Not der evangelischen Kirche, a.a.O., 34f. 45f. In anderen Kontexten mag die

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Die Unterscheidung eines Innen- und Außenaspekts von Kirche geht dementsprechend mit einer differenzierten Auffassung der Sichtbarkeit der Kirche einher. Theologisch gesehen entspricht es der Menschwerdung Christi, dass „die Kirche immer auch in der Ebene der zeitlichen, sichtbaren, denk- und erfahrbaren Dinge zu suchen“ ist. Die christologische Rückbindung führt so auch in den Prolegomena der KD zu einer Unterscheidung zweier Formen der Sichtbarkeit. Der Grundsatz lautet hier: „Ohne ihn [den Sohn Gottes; H.-M. R.] wird das, was als Kirche sichtbar wird, in Wirklichkeit nie die Sichtbarkeit der Kirche sein.“72 Weiter fortgeführt und terminologisch präzisiert wird die zweifache Auffassung der Sichtbarkeit der Kirche später in § 62: Der Glaubende sieht die geglaubte Kirche nicht jenseits, sondern in der sichtbaren Kirche. Er nimmt in dem, „was vor aller Augen ist“, die ecclesia invisibilis wahr, die „nun allerdings nicht vor aller Augen ist.“73 Was für den Glaubenden Sichtbarkeit ist, ist darum nicht mit der Sichtbarkeit der Kirche im Sinne ihrer allgemein zugänglichen empirischen Vorfindlichkeit identisch. Barth unterscheidet zwischen einer „allgemeinen Sichtbarkeit“ und einer „besonderen Sichtbarkeit“: Der Glaubende erblickt in dem, was in der Außenbetrachtung als Religionsgemeinschaft bzw. als Sozialform neben anderen allgemein sichtbar wird, die verborgene Entsprechung der Menschwerdung Christi. Er hat Erstere darum zu bejahen – allerdings kritisch zu bejahen.74 Barth expliziert die beiden Formen der Sichtbarkeit auch mithilfe der Unterscheidung zwischen einer zweidimensionalen und dreidimensionalen Sicht: Die zweidimensionale Sicht bekommt die Kirche als vielfach deutbaren irdisch-geschichtlichen Faktor unter anderen zu Gesicht; die dreidimensionale hingegen nimmt die darin verborgene raum-zeitliche Existenzform der in Christus begründeten Gemeinde wahr.75 Im Unterschied zu Schleiermacher hält es Barth nicht für geboten, auf der Ebene der zweidimensionalen Sicht im Sinne einer sozial- oder kulturtheoretischen Explikation der Kirche und ihres Auftrags tätig zu werden: „Es ist klar, daß die Kirche sich zu dem Bild, das sie in dieser Sicht bietet, grundsätzlich bekennen muß. Es ist ihr ja eben wesentlich, auch äußerlich zu sein, auch in den Dimen-

72 73 74 75

entgegengesetzte Gefahr im Vordergrund stehen: die Flucht in ein Ideal von Kirche (vgl. KD IV/3, 737). KD I/2, 240. KD IV/1, 730; Fortsetzung: „Er emanzipiert sich also nicht vom allgemein Sichtbaren der Kirche. Er fliegt nicht von ihm weg in irgendein Wunderland.“ A.a.O., 730f. A.a.O., 732. Damit bewegt sich Barth auf der Grundlinie der lutherischen Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Denn nach dieser muss die missverständliche Rede einer ecclesia invisibilis durch die Redeweise einer verborgenen Kirche präzisiert werden: Diese schließt die leibhaft-soziale Gestalt immer schon ein. Sie ist in diesem Sinn also gerade nicht unsichtbar. Vgl. CA Apol VII, BSLK 238; dazu auch G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften, a.a.O., 273f.

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sionen jener Ebene zu existieren und also auch dieses Außenbild zu bieten. Es ist aber ebenso klar, daß sie sich ihrerseits nicht damit abfinden kann, als das, was sie ist, in diesem Außenbild als solchem gesehen und verstanden zu werden. Sie muss um die dritte Dimension ihrer Existenz wissen. Sie muß aber auch wissen, daß sie den Deutungen, die ihr in jener zweidimensionalen Sicht widerfahren, wehrlos ausgeliefert ist.“76 Barths kritische Reserve gegenüber einer eigenen, aus der theologischen Positionalität heraus erfolgenden Arbeit an jenem „Außenbild“ (etwa im Sinne einer christlichen Sozial- oder Kulturphilosophie) ist auf dem Hintergrund einer darin unvermeidlich mitgegebenen „Versuchung“ verstehen. Diese besteht darin, dass es der Kirche dann naheliegt, „sich selber ihrerseits auch nur in jenem Außenbild zu sehen und zu verstehen“, dass also die äußere Perspektive unversehens in die eigene Perspektive eingeht, sie bestimmt oder es gar zur Identifikation kommt.77 Pointiert formuliert: Man meint theologisch zu reden und redet doch kulturphilosophisch, sozialwissenschaftlich oder organisationstheoretisch.78

3.2

Kirche als vorläufige Darstellung der universalen Christuswirklichkeit

Innerhalb der dreifach untergliederten Versöhnungslehre werden die Kirche und ihr Auftrag an drei Orten und zwar jedesmal unter dem Gesichtspunkt des Wirkens des Heiligen Geistes thematisiert. Deutlich gemacht werden soll damit zweierlei: Es sind erstens menschliche Kommunikations- und Handlungsvollzüge, durch welche und in welchen Gott selbst in Jesus Christus durch den 76 KD IV/1, 732. Der Unterschied zu Schleiermacher besteht nicht darin, dass dieser die von Barth genannte dreidimensionale Sicht einer dogmatischen Sichtbarkeit nicht kennen würde, wie dies Barth im Folgenden mit Schleiermachers Lehnsätzen aus der Glaubenslehre belegen zu können meint. Wie zu sehen war, unterscheidet Schleiermacher sehr wohl eine Sichtbarkeit in der ethischen Perspektive von einer Sichtbarkeit in der dogmatischen Perspektive. Er hält beide aber in Kompatibilität zueinander, so dass der Gedanke einer Verborgenheit unter dem Schein des Gegenteils nicht in Betracht kommen kann. 77 Ebd. 78 Vgl. dazu auch KD IV/3, 828. Der späte Bonhoeffer hatte, um der von Barth skizzierten Gefahr Rechnung zu tragen, von der Unterscheidung ‚Letztes – Vorletztes‘ methodischen Gebrauch gemacht. Mit ihr ließ sich nicht nur ein komplexeres Verhältnis von Innen und Außen denken. Mit ihr konnte Bonhoeffer den Perspektivenstreit auf der Ebene jener von Barth genannten „zweidimensionalen Sicht“ weiterführen und so etwa auch einer allgemein zugänglichen Sicht demonstrieren, dass das Natürliche (im Gegensatz zum Unnatürlichen) nicht Sache willkürlicher Setzung einer – hier: nationalsozialistischen – Wirklichkeitsauffassung sein kann. Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, München 1992, 142–168; zur ‚vorletzten‘ Bedeutung anderer Perspektiven für die Kirche bei Barth, KD IV/3, 805. 820f. Die Entlehnung soziologisch beschreibbarer Gestaltungsmöglichkeiten wird dabei als unumgänglich erklärt (z. B. a. a. O., 847).

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Heiligen Geist als Subjekt wirkt.79 Aufgabe der Gestaltung dieser Kommunikations- und Handlungsvollzüge ist es daher zweitens, sie nicht als Akt der kirchlichen Selbstdarstellung, sondern als über sich selbst hinausweisende Akte der Darstellung der göttlichen (Versöhnungs-) Wirklichkeit zu konzipieren.80 Formuliert man es mithilfe des doppelten Sichtbarkeitsbegriffs, dann geht es darum, dass die Kirche ihre allgemein sichtbaren und vielfältig deutbaren menschlichen Vollzüge so gestaltet, dass sie über sich hinaus auf die besondere Sichtbarkeit der Wirklichkeit Christi verweisen können. Programmatisch werden Auftrag und Dienst der Kirche daher so bestimmt, dass in der geschichtlichen Sozialgestalt, in deren institutioneller Partikularität und deren Kommunikations- und Handlungsvollzügen es zur „vorläufigen Darstellung“ der universalen Christuswirklichkeit – der in Christus geschehenen Versöhnung, Rechtfertigung und Heiligung – kommen kann.81 Die dabei vorausgesetzte Partikularität mag in der Außenperspektive in Entsprechung zur faktisch gewordenen neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft gedeutet werden, begründend ist für Barth indes auch hier die theologische Bestimmung: Die Kirche erscheint hier als von Gott in Anspruch genommener, mit „beweglicher Grenze“ von der Welt unterschiedener „Raum“, durch den Gott in der Welt wirkt, d. h. zu dieser redet und so seine Kirche in der Welt wachsen lässt.82 Mithilfe des Denkens einer christologischen Entsprechung ist sie als „Sonderexistenz“ zu begreifen, welche „nicht sich selbst, sondern Gott und im Dienste Gottes der Welt“ dient. Sie tut dies also, indem sie mittels eines begrenzt-partikularen Geltungsraums des göttlichen Wortes und im Gewahrsein ihrer ebenso begrenzten Zuständigkeit für die Bezeugung dieses Wortes die Universalität der Versöhnung bezeugt und zur vorläufigen Darstellung bringt.83 Dass die Geltung der universalen Christuswirklichkeit nur in einer partikular-begrenzten Sozialgestalt Anerkennung findet, darf daher nicht im Sinne einer funktionalen Selbstbeschränkung oder gar als Vorwand zur Selbstabschließung aufgefasst werden; aufgrund der universalen (anders gesagt: der systemübergreifenden) Reichweite der Christuswirklichkeit

79 KD IV/2, 697f. 80 Vgl. a. a. O., 698. 81 KD IV/2, 701ff. 723; KD IV/3, 906. Schleiermachers Anliegen einer Vollendung der Humanität taucht dementsprechend unter dem zweiten Aspekt als „Heiligung der ganzen Menschenwelt“ auf (KD IV/2, 702). 82 KD I/2, 768f. Aufgrund seiner Bestimmung der Grenze von Kirche und Welt ist für Barth ist eine Vergesellschaftung der Kirche ebenso wenig möglich wie einer Verkirchlichung der Welt. 83 Vgl. KD I/2, 768f; KD IV/3, 968. Der Begriff einer „begrenzten Zuständigkeit“ darf also nicht als Regionalisierung der Universalität des Wahrheitsanspruchs aufgefasst werden. Vgl. dazu die Interpretation von Th. Gundlach, Selbstbegrenzung Gottes und Autonomie des Menschen. Karl Barths Kirchliche Dogmatik als Modernisierungsschritt evangelischer Theologie, EHS. T 471, Frankfurt a.M. / Berlin 1992, 252f.

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greift die Kirche über ihren eigenen Raum hinaus und hat einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag.84 Die in den letzten Bänden der KD im Vordergrund stehende Beziehung der Kirche zur Welt zielt auf eine Existenz der Kirche für die Welt, auf ihren Auftrag und ihren Dienst an der Welt.85 Der cantus firmus aller kirchentheoretischen Ausführungen ist diesbezüglich derselbe: Der Ort der Kirche in der Welt, ihre Funktion und ihr Auftrag werden bestimmt dadurch, dass diese Kirche sich als Anwalt der (Versöhnungs-) Wirklichkeit, dass sie sich selbst als vorläufige Darstellung dieser Wirklichkeit begreift. Die Variabilität, genauer: die Freiheit der Gestaltungsmöglichkeiten, die in der Ausführung dann selbst zum Zuge kommt, resultiert aus dem Sachverhalt, dass die Kirche nicht nur im Gegenüber zur Welt für diese Welt existiert, sondern dass die Kirche zugleich auch selbst am Weltgeschehen und an den sozialen und kommunikativen Möglichkeiten ihrer Umwelt partizipiert, mehr noch: dass sie die Welt in sich selbst vorfindet. Das hat Folgen für die Frage, in welcher Weise nun die geschichtlich existierende Kirche ihren gesellschaftlichen Ort, ihre konkrete Gestalt und ihre Funktion bzw. ihren Auftrag wahrnimmt: Im Blick auf das Kirche-Welt-Verhältnis wird die Dialektik von Teilnahme und Gegenüber, im Blick auf strukturelle Gestaltungsfragen wird die Dialektik von Abhängigkeit und Freiheit für Barth grundlegend. Demonstriert werden soll das hiermit grob Umrissene an drei Gedankenkreisen, die in KD IV/3 deutlich hervortreten: 1. Die Kirche ist „Gemeinde für die Welt“ darin, dass sie diese Welt über sich selbst aufklärt. Ihr ist es gegeben, „um die Welt, wie sie ist, zu wissen. Die Welt weiß nicht um sich selber. […] Sie ist blind für ihre eigene Wirklichkeit. Ihr Existieren ist ein Tappen im Dunkeln. Die Gemeinde Jesu Christi ist in dem ersten Grundsinn für die Welt da, in die Welt gesendet, daß es ihr, indem sie Gott und den Menschen und den zwischen Gott und den Menschen aufgerichteten Bund erkennen darf, gegeben wird, die Welt, wie sie ist, zu erkennen.“86 Die Handlungs84 Zur terminologisch hilfreichen Unterscheidung zwischen (universaler) Reichweite und (partikularer) Geltung vgl. G. Sauter, Zugänge zur Dogmatik. Elemente einer theologischen Urteilsbildung, Göttingen 1998, 236–242. 85 Hier koinzidieren der gewissermaßen innere Theoriekontext – gemäß dem dritten Aspekt der Versöhnung muss in KD IV/3 der Berufungs- und Sendungsaspekt der Kirche Thema werden – und der äußere Kontext der Arbeit an einer am öffentlichen Leben teilnehmenden und ihren gesellschaftlichen Auftrag wahrnehmenden Kirche der Nachkriegsgesellschaft. 86 KD IV/3, 880. Die Positionalität besteht darin, anderen Beschreibungen zu bestreiten, sich auf die „wirkliche Welt“ zu beziehen; sie bleiben lediglich „Weltbild“ (a. a. O., 882). Damit ist kein naiver Realismus intendiert, der um die symbolische Vermittlung der eigenen Wirklichkeitskonzeptualisierung nichts wüßte. Eher diejenige Grundüberzeugung, die sich auch bei Bultmann findet: „Der Glaube ist nur ernstgenommen, wenn er als die Sicht verstanden wird, die Welt und Mensch so sieht, wie sie wirklich sind, wenn er also von jeder anderen Be-

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und Kommunikationsvollzüge der Kirche haben, so fordert Barth, abzubilden und sichtbar zu machen, dass der Welt in der Gemeinde Christi vermittelst jener ‚vorläufigen Darstellung‘ eine andersartige Auffassung von Wirklichkeit gegenübertritt. Es handelt sich hier „auch um eine richtige notae ecclesiae“.87 Bei dieser Art des Gegenüberseins soll sich die Kirche nicht in überlegener Besserwisserei über die Welt erheben; sie soll vielmehr solidarisch-teilnehmend neben sie treten. Mehr noch: sie soll sich nicht für den eigenen Bestand und die eigene Zukunft sorgen, sondern für die Welt und deren Zukunft mitverantwortlich sehen.88 2. Für die im Kirche-Welt-Verhältnis statthabende Dialektik von Gegenübersein und Teilnahme ist ebenfalls die christologische Entsprechung entscheidend. Als eine menschliche Gemeinschaft und Institution unter anderen ist Kirche diesen ganz gleichartig. Sie ist zugleich aber auch als eine besondere Gemeinschaft und Institution diesen menschlichen Gemeinschaften und Institutionen gegenüber ganz ungleichartig – sofern sie ganz „von innen existiert“.89 An dieser Stelle tritt nun das enhypostatische Korrelat der in den Prolegomena beschriebenen anhypostatischen Existenzweise der Kirche Christi in den Vordergrund. Von innen her existieren heißt: „Sie existiert […] ganz allein in der Kraft der göttlichen, der in Jesus Christus geschehenen und wirksamen Entscheidung, Tat und Offenbarung.“90 Soll solches das Selbstverständnis der Kirche tatsächlich bestimmen, muss es nach außen drängen und ihre sichtbaren Handlungs- und Kommunikationsvollzüge prägen: „Eben was sie von innen ist, soll und wird sie nach außen werden.“91 Barth verweist dabei nachdrücklich auf die Tragweite der christologisch gefassten Innenbestimmtheit: Sie bezieht sich nicht nur darauf, dass die Gemeinde nur ist, weil Christus ist, sondern auch darauf, dass die Gemeinde nur

87 88

89 90 91

trachtungsweise, die das gleiche beansprucht, getrost sagt, daß sie falsch ist.“ (R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel / K. W. Müller, Tübingen 1984, 197; im Gleichklang damit G. Ebeling, Glaube und Unglaube im Streit um die Wirklichkeit, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 31967, 393–406, 401) KD IV/3, 883. A.a.O., 884, vgl. 888 mit christologischer Entsprechung: Auch Jesus Christus stand der Welt nicht „als bloß allwissender Betrachter“ gegenüber, er hat vielmehr, „indem er in der Welt, mit ihr, für sie gelitten hat, für sie und an ihr gehandelt.“ Ein ähnlicher Zusammenhang findet sich a. a. O., 948–950. Barth bearbeitet damit das Problem der Bevormundung seiner Adressaten. Offen bleibt hingegen das Problem der Rückkopplung, inwiefern von anderen Wirklichkeitskonzeptualisierungen etwas zu lernen ist. „[V]ielleicht a posteriori“ lautet seine Antwort im Blick auf die existentielle (Selbst-) Analyse des Menschen (a. a. O., 919). Denn zunächst gehe es um die Situation des Menschen coram Deo, angesichts derer sich die Frage nach seiner soziokulturellen und seiner existentiellen Verfasstheit als akzidentiell erweist. A.a.O., 832. Ebd. A.a.O., 833.

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ist, indem Christus ist.92 Das impliziert ein unaufhebbares Subjekt-PrädikatGefälle zwischen Christus und seiner Gemeinde: „Sie ist, indem ihr Sein ein Prädikat, eine Dimension des seinigen ist. Ja nicht umgekehrt! Das Sein Jesu Christi ist also nicht, wie Schleiermacher es in seiner Weise genial verstanden und erklärt hat, ein, das höchste, entscheidende und charakteristische Prädikat seiner Gemeinde, das Urbild, der geschichtliche Beziehungspunkt der in ihr lebendigen Frömmigkeit.“93 Um jede Umkehrungsmöglichkeit auszuschließen, betont Barth, dass das Sein der Gemeinde nicht das einzige Prädikat des Seins Christi sei.94 Das Sich-Bestimmen-Lassen von innen heraus ist für Barth eine notwendige Grundausrichtung der Kirche insbesondere deshalb, weil die Kirche im Weltgeschehen die Welt nicht nur außer sich, sondern auch in sich selber vorfindet.95 Die Gefahr, von der Welt bestimmt zu werden, besteht in einem Doppelten: Die Neigung zur Fremdhörigkeit führt zur Selbstsäkularisierung der Gemeinde, die Neigung zur Selbstbehauptung inmitten der Welt führt zur Selbstsakralisierung.96 Dieses Gefährdungspotential erhellt, warum die Kirche zu ihrer Erhaltung bleibend auf den Heiligen Geist angewiesen ist. 3. Der Sachverhalt, dass die Kirche als geschichtliche Sozialgestalt an einer soziokulturellen Welt in einer bestimmten geschichtlichen Situation teilhat und dieser Welt zugleich gegenübersteht, hat weitere Implikationen. Er führt im Blick auf die Frage nach der soziologischen Struktur von Kirche zu einer Dialektik von gänzlicher Abhängigkeit und gänzlicher Freiheit gegenüber der Welt.97 Zunächst nimmt Barth gegenüber einer wie immer gearteten Festschreibung einer Form bzw. einer soziologischen Gestalt eine Relativierung vor und fordert „gänzliche

92 A.a.O., 863. 93 Ebd. 94 Ebd., „Wir müssen betonen und festhalten: ein Prädikat des seinigen. Nicht das einzige also! Wir sagten schon: Er ist nicht nur, indem seine Gemeinde ist. Sonst könnte der Satz ja doch wohl im Sinne Schleiermachers auch umgekehrt werden.“ (Hervorheb. im Orig.) Dass eine solche Umkehr an Schleiermachers Ekklesiologie Anhalt hat, belegt CG2 § 124.1f (II, 294– 296). Schleiermacher wahrt die Differenz zwischen dem Sein Jesu Christi und dem Sein der Kirche dadurch, dass er die „personbildende Tätigkeit“ des Göttlichen nur für die unio personalis Christi, nicht aber für das Verhältnis von Gemeingeist und Kirche geltend macht. Denn hier gibt es, wir erwähnten es schon, „eine Mischung von Getrenntsein und Vereinigtsein des göttlichen und menschlichen“ (a. a. O., § 123.3 [II, 293, 2–3]). 95 KD IV/2, 753. 96 A.a.O., 754–758; er lässt dabei keinen Zweifel, dass seiner Meinung nach Schleiermacher eher einer Selbstsakralisierung Vorschub leistet: „Nun soll ihr eigener Gemeingeist der Heilige Geist, nun soll ihr eigenes Werk das Werk Gottes sein: ihre Ämter, ihre Sakramente“ (a. a. O., 757) 97 KD IV/3, 845.

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Freiheit“.98 Es handle sich hier um eine menschliche Ermessensfrage, welche in ihrer „gänzliche[n] Abhängigkeit“ von der jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt zu stellen ist. Zu ihrer Beantwortung brauche man sich auch der Entlehnung von „profanen Möglichkeiten soziologischer Gestaltung“ nicht zu schämen.99 Man wird sagen können, dass Barths Ausrichtung auf eine von allem menschlichkirchlichen Handeln unterschiedene Gotteswirklichkeit dieses menschlichkirchliche Handeln nicht nur vor seiner Überhöhung bewahrt, sondern es zugleich als ein sich seiner Zweideutigkeit und Unabgeschlossenheit bewusstes Handeln „in seiner Freiheit und Verantwortung freisetzt“.100 Dabei bleibt festzuhalten, dass die gewählte Sozialgestalt und auch die gewählten, mitunter entlehnten profanen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, derer sich die Kirche in ihrer Freiheit bedient, dem theologischen bestimmten Wesen und Auftrag der Kirche entsprechen müssen. Dass die Kirche vorläufige Darstellung der göttlichen Versöhnungswirklichkeit zu sein beansprucht, soll in der Art und Weise ihrer Darstellung und in der Art und Weise ihres Umgangs mit der sie umgebenden Welt sichtbar und spürbar werden.101 Bei aller Variabilität und Gestaltbarkeit macht Barth für den Zeugendienst der Kirche in der Welt schließlich 12 Grundformen von Handlungs- und Kommunikationsvollzügen aus, „die immer, überall und unter allen Umständen“ gelten:102 Gotteslob, Predigt, Unterricht, Evangelisation, Mission, Theologie, Gebet, Seelsorge, anregende Vorbilder, Diakonie, prophetisches Handeln und Gemeinschaftsbildung.103 Diese hier gebotene Skizze der Bestimmung des Orts, der Gestalt und des Auftrags der Kirche bliebe unvollständig, wenn eine folgenreiche Abgrenzung unerwähnt bliebe: Indem Barth dies alles „von innen“ her, also theologisch, 98 Ebd. Dazu die gegensätzliche Beurteilung dieser Position bei W. Krötke, Die Ekklesiologie Karl Barths im Kontext der Aktualität. Ein Beitrag zur theologischen Problemlage, in: ZDTh 7 (1991), 11–27, 19f (positiv) und W. Gräb, Karl Barths Ekklesiologie im Kontext der Problemgeschichte des neuzeitlichen Kirchenverständnisses, in: ZDTh 7 (1991), 29–46, 44f (kritisch)! 99 KD IV/3, 845. 847. 100 A. Grözinger, Offenbarung und Praxis. Zum schwierigen praktisch-theologischen Erbe der Dialektischen Theologie, in: E. Jüngel (Hg.), Zur Theologie Karl Barths. Beiträge aus Anlaß seines 100. Geburtstags, ZThK Beih. 6, Tübingen 1986, 176–193, 191 (Hervorheb. H.-M. R.). Vgl. dazu KD IV/3, 848. 101 Vgl. a. a. O., 883. 102 A.a.O., 991. 103 Ein inhaltlicher Vergleich mit den von Schleiermacher angeführten „wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen“ kann hier nicht geboten werden. Diskussionswürdig wäre der hohe Stellenwert von Evangelisation und Mission, aber auch die ungewöhnliche Einbeziehung von Theologie und Diakonie. Auffallend ist indes, dass für den späten Barth die Sakramente nicht unter diese Grundvollzüge fallen. Sie erscheinen subsumiert unter die Begründung der Gemeinschaft: a. a. O., 1033.

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bestimmt wissen will, vollzieht er eine Abgrenzung von einer kultur- oder sozialphilosophischen Begründung der Kirche, ihres Orts, ihrer Gestalt und ihres Auftrags. Kirche kann und soll für sich selbst keinen notwendigen Ort im Kulturganzen beanspruchen, sie kann und soll sich nicht als ein für die Gesamtgesellschaft konstitutives Teilsystem behaupten und ihre Funktionen nicht als für diese Gesamtgesellschaft unverzichtbare Leistungen darstellen.104 Die Kirche begäbe sich nämlich einem Schein hin, wenn ihre Existenz „mitten im Dorf“ sie zur Sicht verleiten würde, ein wesenskonstitutiver Faktor der Kulturwelt oder gar deren Mitte zu sein.105 Sie drohte zu vergessen, dass die kulturelle und gesellschaftliche Kraft der Kirche auch in der Schwachheit ihres geschichtlich kontingenten Orts wirksam werden kann – sie ist darin der Kraft des vor den Toren Jerusalems Gekreuzigten analog.106

4.

Der Kirchenbegriff als kritisch-kreative Antwort

Wollte man die skizzierten Entwürfe von Schleiermacher und Barth direkt miteinander vergleichen, würde man deren unhintergehbare Kontextualität missachten. Das Folgende soll daher vorrangig im Sinne einer wechselseitigen Konfrontation verstanden werden. Eine solche erfordert es, die unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen und Herausforderungen (den äußeren Kontext) ebenso zu berücksichtigen wie die material ausgeführte Begriffsfassung samt deren innerem Begründungszusammenhang (den inneren Kontext). Es ist also nicht damit getan, material-dogmatische Inhalte – in diesem Fall: ekklesiologische Aussagen – einander gegenüber zu stellen; es ist aber ebenso wenig mit einer lediglich auf äußere Kontexte bezogenen funktionalen Interpretation der verschiedenen Ekklesiologien getan. Im zuletzt genannten Fall könnte man lediglich, aber immerhin feststellen: Schleiermacher zielt auf die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit einer Kirche, die unter dem Einfluss des gesellschaftspolitischen Interesses des (preußischen) Staates ihre genuin religiöse Kulturfunktion aus den Augen zu verlieren drohte – Barth zielt auf die allein theologische Identifizierung einer wirklichen Kirche, die am Vorabend des Kirchenkampfes unter einer sich selbstständig gebärdeten Kulturmacht verdeckt zu

104 Vgl. a. a. O., 850f. 105 A.a.O., 851. 106 Vgl. a. a. O., 852, die kreuzestheologische Fassung der Dialektik von 2 Kor 12,9f mit der früheren Wesensbestimmung einer „Kirche unter dem Kreuz“: K. Barth, Die Not der evangelischen Kirche, a.a.O., 35. Vgl. weiterhin die kritische – gewissermaßen die Kritik Nietzsches verarbeitende – Sicht auf die funktionale Bedeutung der Kirche und des Christentums als Geburtshelfer der europäischen Kultur und Zivilisation: KD IV/3, 856.

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werden drohte und die nach dem Zweiten Weltkrieg in einer ohne sie auskommenden Gesellschaft ihren Auftrag wieder neu finden musste. Eine solche Interpretation ist durchaus zutreffend. Im Unterschied zu einer Interpretation, die ihr Rekonstruktionsprinzip aus der historischen Beobachterposition gewinnt und mitunter Differenzen nivelliert,107 hat sie Anhalt an der textlich fassbaren Intention der Autoren. Problematisch erscheint indes, dass der jeweils inhaltlich ausgeführten (Kirchen-) Theorie bzw. Ekklesiologie mitunter nur akzidentielle oder illustrative Bedeutung zugemessen werden kann.108 Im vorliegenden Versuch einer wechselseitigen Konfrontation wird von der Zusammengehörigkeit von innerem und äußerem Kontext und von einer theoretisch-inhaltlich bestimmten Frage-Antwort-Korrelation ausgegangen: Die politisch-gesellschaftliche Realität (der Kirche) provoziert Fragen, die sich als spezifisch theoretisch-inhaltliche explizieren lassen und daher auch theoretischinhaltliche Antworten erfordern. Für einen gelingenden Verständigungsprozess ist dabei wohl erforderlich, dass diese Antworten sich für die Rezipienten in einem historischen Problemkontext als funktional erweisen.109 Unter solchen Voraussetzungen muss es zunächst auffallen, dass Schleiermacher sich durchgehend um eine Kompatibilität bzw. Integration von theologischer und nichttheologischer Betrachtungsweise der Kirche bemüht, während Barth auf deren Differenz und auf eine von der theologischen Position ausgehenden unumkehrbaren Bestimmungsrichtung abhebt. Wie ersichtlich wurde, treten hier im Bereich der Kirchentheorie unterschiedliche erkenntnistheoretische Grundansätze hervor, die selbst wiederum zu unterschiedlichen Strukturelementen der Erkenntnistheorie I. Kants in Entsprechung stehen: Schleiermacher integriert die Perspektiven im Sinne von Kants Doppelstämmigkeit der Erkenntnis; Barth expliziert die Überlegenheit der theologischen Betrachtungsweise im Sinne der Unterscheidung von Noumenon und Phainomenon.110 Für 107 Eine solche Vorgehensweise mag es dann als Ergebnis mit sich bringen, es sei sowohl Schleiermacher als auch Barth lediglich um die Selbstständigkeit der Religion gegangen. 108 So geht die Interpretationsmethode G. Pfleiderers von einer „illustrativen Bedeutung“ der material-dogmatischen Topoi aus, sie werden als Signale einer bestimmten Art von Funktionalisierung aufgefasst: a.a.O., 164. 109 Dass dieser Problemkontext immer symbolisch vermittelt ist und daher inszeniert werden kann, liegt auf der Hand. Doch auch hier muss die Steuerungs- bzw. Orientierungsleistung der Antwort im Blick auf eine konkret-vorfindliche Realität (von Kirche) erkannt werden können. 110 Die direkte Rezeption (neu-) kantianischer Denkfiguren in den verschiedenen Entwicklungsphasen Barths ist bekanntlich ein Thema für sich: J.F. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im „Römerbrief“ und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, TBT 72, Berlin / New York 1995; B.L. McCormack, Der theologiegeschichtliche Ort Karl Barths, in: M. Beintker / Ch. Link / M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 15–40.

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Barth ist damit aber nichts weniger angesprochen als die strittige Frage nach der Wirklichkeit.111 Genau diese Frage führt bei Barth wie bei Schleiermacher zu einem unterschiedlichen Theoriekern ihrer material-dogmatischen Ausführungen über die Kirche. Es liegt nahe, an dieser Stelle zunächst die Pneumatologie zu nennen. Barths Auseinandersetzung mit Schleiermacher lässt sich an ihr – insbesondere an der Explikation des Heiligen Geistes als ‚Gemeingeist‘ – tatsächlich gut greifen: Die exklusive Verortung des Heiligen Geistes qua Gemeingeist in der Ekklesiologie gestattet es Schleiermacher, sein Wirken in der kulturellen Selbstdurchsetzung der Kirche beschreiben zu können – nämlich als Selbstdurchsetzung der Wirksamkeit Christi, als „fortschreitende Verwirklichung der Erlösung in der Welt“.112 Eine solche Position erwies sich für Barth angesichts einer sich als Kulturpotenz behauptenden evangelischen Kirche in den 30er Jahren, genauer: angesichts der Gefahr einer Gleichschaltung der faktisch vorfindlichen soziokulturellen Mächtigkeit von Kirche mit dem Wirken des Geistes, als ausgesprochen problematisch. Seine eigene Pneumatologie hält fest: Das Wirken des Geistes darf nicht auf die Wirksamkeit eines Gemeingeistes zusammengezogen werden, für die als innertrinitarische Person zu explizierende Kraft des auferstandenen und unsichtbaren Herrn Jesus Christus ist vielmehr eine unaufhebbare Asymmetrie geltend zu machen. Es geht darum, dass die Kirche „ihres unsichtbaren Herrn und seines unsichtbaren Geistes bedürftig bleibt: daß er über die Kirche verfügt, ohne daß die Kirche auch nur im Geringsten über ihn verfüge.“113 Die unterschiedlichen Theoriekerne sind allerdings erst dann erfasst, wenn der jeweiligen christologischen Grundierung gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für Barth ist die christologische Konzentration seiner Ekklesiologie spätestens seit KD I/2 bekannt. Es ist aber auch für Schleiermacher letztlich die Christologie, die die exklusive Verortung des Gemeingeistes in der Ekklesiologie begründet.114 Man muss es daher klar sagen: Sowohl Schleiermacher als auch Barth bieten eine Ekklesiologie, die dezidiert christologisch grundiert und konfiguriert ist. Man muss freilich ebenso klar sagen: In der Frage, in welcher Art und Weise dies geschieht, gehen beide getrennte Wege. Die vorangegangenen Textanalysen zeigen: Schleiermacher setzt auf die Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die er in der christologischen unio personalis Christi vorfindet; Barth setzt auf Differenz und einlinige Bestimmungsrichtung zwischen Göttli111 Das ist, wie zu sehen war, in den ekklesiologischen Partien der KD durchweg präsent. Ähnliches gälte für den Ansatz der Anthropologie: KD III/2, 26f. 86–88 112 CG2 § 127.3 (II, 314, 13–14). 113 KD IV/1, 735. 114 Das zeigt bereits die erwähnte Definition des „Gemeingeistes“ in CG2 § 123 Lehrsatz (II, 288, 1–4), vgl. dazu auch D. Schlenke, a.a.O., 382f.

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chem und Menschlichem, die er in der Lehre von der An- und Enhypostasie vorfindet.115 Schleiermacher führt sein Ansatz dazu, dass die Identität der geschichtlich fortbestehenden Kirche als Fortsetzung der unio personalis Christi zu stehen kommt – allerdings als eine von Barth so nicht wahrgenommene gebrochene Fortsetzung. Barth führt sein Ansatz dazu, mit der soziokulturellen Selbstständigkeit und Sichtbarkeit der Kirche kritisch-dialektisch umzugehen und dabei zu pointieren, dass die Kirche gegenüber dem Subjekt Christus keine selbstständige Wirklichkeit und Sichtbarkeit besitzt. Ihr Wesen, ihr Ort in der Gesellschaft, ihr Auftrag und ihr Dienst müssen ganz von innen her wahrgenommen werden. Das Antwortpotential des jeweiligen christologischen Ansatzes auszuschöpfen kann hier abschließend nicht geboten werden. Ich begnüge mich damit, drei mit einander zusammenhängende Momente herauszustellen, die auch im Blick auf die ekklesiologischen Herausforderungen der gegenwärtigen Moderne ihre Bedeutung behalten dürften. Es wird dabei von der Überzeugung Gebrauch gemacht, dass von beiden Positionen zu lernen ist – auch dann, wenn man ihnen zu widersprechen sich genötigt sieht. 1. Schleiermacher zeigt, dass und inwiefern das Wirken des Heiligen Geistes als ein solches expliziert werden kann, das sich in den geschichtlich-realen Handlungs- und Kommunikationsvollzügen selbst vollzieht. Ob etwas als Durchsetzung des Heiligen Geistes entdeckt werden, hängt dabei von der Wahrnehmungsperspektive des Glaubens ab. Gleichwohl betritt Schleiermacher das Feld einer kultur- und sozialphilosophischen Thematisierung (mit Barth gesprochen: das Feld einer „zweidimensionalen Sicht“), um diese nicht anderen Professionen zu überlassen: Was als Kriterium religiöser Kommunikation auch für die Kirche Gültigkeit hat, lässt sich zwar nicht umfassend und prinzipiengemäß, wohl aber in elementaren Aspekten demonstrieren. Barth hingegen rechnet mit einer stärkeren Divergenz der Wirklichkeitskonzeptualisierungen und damit auch mit einer Divergenz im Blick auf die Sichtbarkeit der Kirche: Was in der menschlichen Selbstdarstellung allgemein sichtbar 115 Für Schleiermacher ist neben den angeführten §§ 123f noch einmal auf den christologischen § 97 hinzuweisen, in dem die Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen unter Abweisung der Anhypostasielehre formuliert wird. Festgehalten wird aber die „personbildende Tätigkeit“ der göttlichen Natur – um gerade darin dann die Differenz zur Vereinigung bzw. zum Vereintsein des Göttlichen mit dem Menschlichen in der Gemeinschaft der Wiedergeborenen markieren. Für Barth ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Verwendung bzw. die Anwendung der Begrifflichkeiten der An- und Enhypostasie in den späteren Bänden der KD zurücktritt (vgl. aber noch KD IV/2, 52f im engeren christologischen Zusammenhang), sachlich indessen der Gedanke der enhypostatischen Existenz der Kirche durchaus zu greifen ist. Ein Grund für das Zurücktreten könnte darin liegen, dass auch ein solcher Gedanke die starke Brechung, die darin besteht, dass die Gemeinde nicht das einzige Prädikat des Seins Christi ist, nicht einzuholen vermag.

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wird, könnte nicht die wirkliche Kirche, sondern eine Scheinkirche sein. Die Entscheidungen über die Identität der Kirche und der ihr entsprechenden Gestaltung der Handlungs- und Kommunikationsvollzüge fallen nicht dort, wo sie sich als eine den anderen menschlichen Wirklichkeiten „gleichartige“ Wirklichkeit darstellt. In der Theoriebildung macht sich deshalb immer wieder das christologisch präzisierte Motiv der Verborgenheit bemerkbar. 2. Im Blick auf die empirisch vorfindliche Sozialgestalt erbringt die Theoriebildung Schleiermachers eine Steuerungsleistung, indem sie es zum Gegenstand einer empirischen Bearbeitung macht, wie die Handlungs- und Kommunikationsvollzüge gemäß dem Proprium religiöser bzw. religiös-christlicher Kommunikation zu gestalten sind. Sie sind zugleich auch so zu gestalten, dass es der allgemeinen subjektiven und intersubjektiven Verfasstheit des Menschen entspricht, sie sich insofern also – das ist zumindest die Behauptung – als dem menschlichen Personsein angemessene Vollzüge erweisen können. Angesichts dessen, dass es weit verbreitet ist, Barth eine Wirklichkeitsferne oder eine „Dysfunktionalität“ im Blick auf die Erfassung der real-existierenden Kirche und ihrer Herausforderungen zu unterstellen, ist zu fragen, ob nicht gerade in der Nichtentsprechung zu dieser real-existierenden Kirche das kreativkritische Potential des Kirchenbegriffs – und zwar auch und gerade zu ihrer Selbststeuerung – zum Ausdruck kommt.116 Insbesondere in Kontexten, in denen das Unwesen der Kirche das Wesen der Kirche zu verdrängen droht, können im Rückgriff auf material-dogmatisch kondensierte Begriffs- und Orientierungsmuster, welche sich letztlich durch einen Erfahrungsüberschuss auszeichnen, neue Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven induziert werden, die selbst wiederum auf neue Erfahrungen – und das heißt im konkreten Fall auch auf Umkehr und Buße – drängen.117 Insofern kann durchaus auch gesagt werden, dass Nichtempirie Empirie bewirkt.118 3. Schleiermachers Theoriebildung ist darin zu würdigen, dass sie sich der Aufgabe der Explikation dessen stellt, was die Kultur verliert, wenn sie die Kirche verliert. Über diese Explikation hinaus meinte Schleiermacher allerdings in seiner Kultur- und Religionsphilosophie eine Begründungsleistung dahingehend 116 P. Steinacker (ders., Kirchenbegriff und kirchliche Wirklichkeit, in: T. Rendtorff [Hg.], Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 430–437, 436) plädierte dafür, die „gängige Klage, Kirchenbegriff und kirchliche Wirklichkeit entsprächen einander nicht,“ zu modifizieren: „Sollen sie denn überhaupt einander einfach entsprechen? […] Wenn Begriff und Wirklichkeit sich nicht decken, kann ihre Differenz auch ein utopisches Potential enthalten. Sie müssen immer wieder auseinandertreten, sonst versandet jeder schöpferische Prozeß.“ Vgl. für Barth auch J. Ritz, Die Präsenz der Empirie im Kirchenbegriff bei Karl Barth und Hans Küng, Freiburg (CH) 1981, 267–269. 117 Vgl. dazu auch M. Beintker, „Kirche spielen – Kirche sein“. Zum Kirchenverständnis heute, in: ZThK 93 (1996), 243–256, 255. 118 So G. Pfleiderer, a.a.O., 19.

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erbringen zu können, dass Kultur ohne Religion keine Kultur und der Mensch ohne Religion kein Mensch sei. Barth hat das Ansinnen eines solchen Notwendigkeitserweises unter den Theoriebedingungen nach Nietzsche zu Recht kritisiert,119 damit allerdings die explikative Aufgabe einer christlichen Sozial- und Kulturphilosophie überhaupt bestritten.120 Sein eigener Theorieentwurf ist darin zu würdigen, dass er der Dialektik einer Ortsbestimmung der Kirche inmitten der Kultur und der Kontingenz dieses Ortes Rechnung trägt: Eine Kirche unter dem Kreuz wird nicht gut daran tun, einen notwendigen Ort in der menschlichen Kultur zu beanspruchen; auch und gerade als Randexistenz vermag sie in exemplarischer Proexistenz deutlich zu machen, dass zu wahrer Humanität die Anerkennung des Kontingenten gehört.121

119 Vgl. etwa K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1952, 394. 120 Kirche sei den Deutungen der zweidimensionalen Sicht „wehrlos ausgeliefert“ (KD IV/1, 732). 121 Vgl. KD IV/3, 853.

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Cornelis van der Kooi

Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

1.

Pneumatologie als Horizont der christlichen Theologie

Obwohl der Glaube an den Heiligen Geist erst als der dritte Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses erscheint, kann man sagen, dass gemäß der Ordnung der menschlichen Gotteserkenntnis, also secundum hominem recipientem, das Dritte das Erste ist. In der Schöpfung, im Werk der Erhaltung, in der Erlösung und in der Erneuerung hat der Mensch es mit dem Geiste Gottes zu tun. Es gibt auch gute biblische Gründe, die Pneumatologie als Voraussetzung der ganzen christlichen Theologie zu betrachten. Nach dem biblischen Zeugnis ist der Geist im Werk der Schöpfung und Erhaltung wirksam als lebenspendender Geist. Und auch in der Geschichte Jesu Christi gilt nach den synoptischen Evangelien, dass Jesus durch den Geist Gottes empfangen, mit der Gabe des Geistes ausgestattet und dass zudem der Geist von dem erhöhten Christus gesendet wird. Es ist dieser Geist Jesu Christi, der in der Schwachheit hilft (Römer 8:26) und zur Vollendung hintreibt. Dass Menschen in der Gegenwart Gottes leben und dass der Mensch von Gott erreicht und angesprochen ist, wird im Satz vom Glauben an den Heiligen Geist entwickelt. Mit diesen kurzen Andeutungen ist der weiteste Horizont für die Pneumatologie umrissen und eine Aufgabe für die Theologie gesetzt, um näher zu bestimmen, wie, wo und wann Gott den Menschen erreicht und sich mit ihm in Zusammenhang bringt. In der Pneumatologie handelt es sich um das Geheimnis, dass der Mensch sich in der Gegenwart Gottes befindet, oder auch andersherum, dass Gott sich in die Gegenwart des Menschen begibt. In der Geschichte der reformierten Theologie ist die Aufgabe einer pneumatologisch verfassten Theologie wohl am eindrücklichsten von Calvin versucht worden und Schleiermacher ist ihm auf seine Weise gefolgt. Gerade an diesem Punkt aber ist auch der Gegensatz zwischen Schleiermachers pneumatologischem Entwurf und Barths christologischem Entwurf anzusetzen. Der Gegensatz und die Übereinkunft zwischen Schleiermacher und Barth kommen auf prägnante Weise in den Blick, wenn wir den Ort der Lehre des Heiligen Geistes in

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Cornelis van der Kooi

beiden Entwürfen in Augenschein nehmen. Schleiermacher hat sich von seinen Frühschriften bis zu seinem Spätwerk bemüht, die Gegenwart des Geistes Gottes im menschlichen Leben aufzuspüren. Das bedeutet, er hat bewusst und absichtlich versucht, eine Verbindung zwischen dem, was der göttliche Geist tut, und dem, was der menschliche Geist tut, aufzuweisen. Eine philosophische Geistlehre wird damit Voraussetzung von dem, was Schleiermacher theologisch vom Geist zu sagen hat. Es kann damit der Schein erweckt werden, dass das, was er vom Heiligen Geist sagt, nur eine nähere Bestimmung ist von dem, was auch sonst Geist genannt wird. Die frühere Kritik der dialektischen Theologie hat in diesem Sinn geurteilt, aber diese Beurteilung hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Es stimmt zwar, dass Schleiermacher bewusst und absichtlich die Verbindung von menschlichem Geist und göttlichem Geist sucht. Sie sind wie in einer Ellipse miteinander verbunden, aber ohne deckungsgleich zu sein. Barth hingegen betont vor dem Hintergrund seiner Kritik des theologischen Liberalismus, dass die Gegenwart des Heiligen Geistes, seines Kommens und Dabeiseins, ein Wunder ist, paradoxe Wirklichkeit, etwas, das dem Menschen nicht zur Verfügung steht und um das gebetet werden soll. Zwischen menschlichem und göttlichem Geist existiert keine natürliche Verbindung. Es gibt keine Empfänglichkeit auf menschlicher Seite, sondern eine Kluft. Nur wenn die Kluft durch den Geist Gottes überbrückt wird, ist das Wunder einer Verbindung da. Bei Schleiermacher dominiert die Verbindung zwischen beiden, bei Barth der Unterschied. Mit diesen kurzen Andeutungen ist jedoch nicht das Urteil bestätigt, an dem Barth lebenslang über Schleiermacher festgehalten hat, sei es auch zunehmend fragenderweise. Wie bekannt war Barth der Meinung, dass Schleiermachers Theologie für die Anthropologisierung der neuzeitlichen Theologie paradigmatisch sei. In Schleiermachers Theologie werde im Grunde in erhöhtem Ton vom Menschen gesprochen, werde und Gott, als der Andere und Gnädige, dem der Mensch in der Offenbarung begegnet, werde zur Seite gerückt. Auch in seinem Nachwort zur Schleiermacher-Auswahl von Heinz Bolli stellt Barth Fragen, die in diese Richtung gehen: „Ist der den fühlenden, redenden, denkenden Menschen bewegende Geist, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, ein schlechthin partikularer, spezifischer, von allen anderen Geistern sich immer wieder unterscheidender, ein ernstlich ‚heilig‘ zu nennender Geist?“ Oder ist er „zwar individuell differenziert, aber doch universal wirksam, im Einzelnen aber eine diffuse geistige Dynamis?“1 Diese eindringlichen Fragen Barths dürfen nicht die Augen dafür verschließen, dass Schleiermacher mit seiner Aufmerksamkeit für den menschlichen Geist Fragen aufgeworfen hat, denen ein pneumatologischer Entwurf nicht entkom1 Karl Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 309.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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men kann. Wenn Paulus in Römer 8:17 schreibt: „Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind“, dann muss auf jeden Fall irgendwo, vielleicht nicht an erster Stelle, aber doch irgendwo und irgendwie die Frage aufgeworfen werden, wer denn der menschliche Geist ist, der das Zeugnis des Heiligen Geistes vernimmt. Wenn wir von Gott reden, reden wir als in diesem Ereignis Angeredete, Befragte, Qualifizierte, aber irgendwie muss auch der hörende und vernehmende Mensch als Gegenstand in dem Ereignis der Offenbarung theologisch zur Sprache kommen. Entscheidend ist dabei die Frage, in welcher Rangordnung der hörende, angesprochene Mensch zur Sprache kommt. Oder kann man sagen, dass hier das Schlagwort ‚methodus est arbitraria‘ angebracht ist? In diese Richtung geht wohl Barths Aussage von der „Möglichkeit einer Theologie des 3. Artikels, beherrschend und entscheidend also des Heiligen Geistes.“2

2.

Friedrich Schleiermacher

Schleiermachers Theologie steht formal Calvins Pneumatologie am nächsten, weil er einen Geistbegriff entwickelt, der sein ganzes Denken umspannt. Er hat eine Auffassung des Geistes gesucht, die nicht nur das christliche Denken über den Geist umbildet, sondern auch die theologische Pneumatologie mit einem damals akzeptablen philosophischen Geistbegriff in Zusammenhang bringt.3 Anders gesagt, die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Schleiermacher kann nur in Verbindung mit seiner Subjektivitätstheorie erhoben werden.4 Schon in seinen romantischen Frühschriften Monologen und Reden bietet Schleiermacher philosophische und psychologische Überlegungen zum Begriff des Geistes, denen er später treu geblieben ist. Das Wesen des menschlichen Geistes ist, dass dieser danach strebt sich selbst durchsichtig zu werden und die Gabe der eigenen Freiheit kennenzulernen.5 Das Wissen über den Menschen und sein Wesen ist daher nicht jenseits vom individuellen Leben zu finden, sondern 2 A.a.O., 311. 3 Vgl. Martin Diederich, Schleiermachers Geistverständnis. Eine systematisch-theologische Untersuchung seiner philosophischen und theologischen Rede vom Geist, Göttingen 1999, 341, und Ilka Werner, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit. Das Verhältnis von christlichem Wahrheitsanspruch und allgemeinem Wahrheitsbewusstsein, Neukirchen 1999, 276–278. 4 Vgl. Dorothee Schlenke, ‚Geist und Gemeinschaft‘. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin/ New York 1999, 5. 5 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Friedrich Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: KGA I/3, hg. von G. Meckenstock, Berlin/New York 1988.

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genau in diesem. Das Selbst des menschlichen Subjektes wird Fundort der Wirkung des Geistes, und die Welt wird der Spiegel, in dem sich die Unendlichkeit dieses Geistes buchstäblich reflektiert. Kennzeichnend für die menschliche Geistesaktivität ist, dass sie immer in Polaritäten verläuft, wie der Gegensatz von Innen und Außen, Denken und Handeln, Rezeptivität und Spontanität, Assimilierung und Exteriorisierung. Das darin erscheinende Leben ist eine permanent durch diese Gegensätze oszillierende Bewegung, in der die Polaritäten immer aufeinander bezogen und ineinander enthalten sind. In diesem Prozess bemüht der Geist sich seiner selbst klar zu werden. Der Geist bewegt sich also durch die Polarität von Vernunft und Natur, wird sich im leiblichen Wirkungsraum bewusst, um endlich anzukommen im religiösen Bewusstsein, wo der Geist sich als in absoluter Abhängigkeit bewusst wird. In jedem seiner Akte wird der menschliche Geist sich also selbst bewusst, bis zu dem Moment, in dem er sich selbst im Unendlichen befindet. Ein zweites Charakteristikum dieser allgemeinen Geistlehre ist, dass sie als Gesetzeslehre dient und ein wesentliches Defizit zur Erscheinung bringt. Die menschliche Geistesaktivität ist eine Bewegung von empfänglichen und selbsttätigen Geistestätigkeiten und entwickelt sich in polaren Gegensätzen, wie das ganze Wissen gegenüber einzelnem Wissen. Sein und Wissen können nicht als einander ausschließender Gegensatz verstanden werden und sind immer auf einander bezogen. Der Gegensatz hat damit nur relative Bedeutung. Jedes Wissen entwickelt sich als Wechselspiel aus Wissen und Gewusstem, aus Geist und Gegenstand. Das Geistige an sich zu erfassen ist nicht möglich; Natur und Vernunft sind aufeinander bezogen. In dieser Auffassung des Geistes wird nicht nur das Sein der Vernunft, sondern auch das der Natur thematisiert. Beide sind immer ein Ineinander von Geist und Dinglichkeit. Die Vernunft hat als Geistiges immer das Dingliche ursprünglich in sich. Sieht man auf die Vernunft, dann ist deutlich, dass in ihr das geistige Sein in seiner umfassendsten Selbstrealisierung gedacht ist. In der Vernunft bezieht der Geist sich als Seinsrelation auf die Totalität des Seins. Der in der Vernunft waltende Geist ist damit die vereinende, produktive und progressive Macht, die das geteilte Sein zu seiner höchsten Einheit führt. Der Geist ist damit die wirksame Macht in einem umfassenden Prozess von Kultur und Geschichte. Ziel dieser Bewegung ist die ganzheitliche Durchdringung und Einheit von Natur und Vernunft. In dieser Bewegung greift der menschliche Geist auf das Ganze voraus. Es gibt also eine Bewegung und Entwicklung des Bewusstseins und sogar auch ein Fortschritt, aber dennoch kommt der Geist nicht zu Ruhe. Er schafft sich immer ein Gesetz, einen Gegensatz zwischen Willen und Gekanntem, zwischen Gesetz und Erfüllung. Das natürliche Bewusstsein stößt also immer auf eine Grenze, die es nicht überschreiten kann. Es gibt in dieser Geschichte des menschlichen

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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Geistes ein wesentliches Defizit, ein hoffnungsloses Unvermögen.6 Innerhalb des Horizontes des menschlichen Geistes erscheint also ein Ideal von Erfüllung, aber er selbst kann es nicht erreichen oder zustande bringen. Im religiösen Bewusstsein findet das Selbstbewusstsein jedoch seine höchste Entwicklung, weil dort der Gegensatz von Sein und Bewusstsein aufgehoben ist.7 Religionsphilosophisch wird Gott also als absolute Einheit von allen Unterschieden gedacht und in diesem Sinn als abstrakter Gesetzgeber vorgestellt. Auch religionsphilosophisch kann die höchste Erfüllung nur als kreatives, neues Moment gedacht werden. Der Umschlag von dem sich Finden des Geistes zum sich selbst gefunden haben, kann nur das Ergebnis eines ursprünglichen, unableitbaren Moments sein. Es muss also klar sein, dass Schleiermacher dieses neue, kreative Moment nicht als etwas gedacht hat, das aus sich selbst, in einer gleichmäßigen Erhöhung der Geschichte stattgefunden hat. Schleiermachers Denken kann hier nur verstanden werden auf der Linie seines zweiten Sendschreibens an Lücke: „die Darstellung [ist] zugleich die Begründung.“8 Seine Theologie und seine Pneumatologie wollen letztendlich verstanden sein als eine Darstellung der neuen dynamischen und gnadenvollen Wirklichkeit, die sich in Jesus vollzogen hat. Der Umschlag hat in Jesus stattgefunden. Das christlich-fromme Selbstbewusstsein ist sich bewusst, dass dieser heilvolle Umschlag, in dem der Geist Gottes ursprünglich gegenwärtig ist, in Jesus stattgefunden hat und dass es sich selbst in der Gegenwart dieses Geistes befindet. Schleiermacher setzt also in seinem Suchen nach einer Verbindung zwischen allgemeiner Geistlehre und christlicher Pneumatologie eine Geschichtswende voraus, die für die ganzheitliche Entwicklung der menschlichen Humanität produktiv zu werden beansprucht. Hier ereignet sich Gottes Geist. Heiliger Geist ist nach einem programmatischen Leitsatz „die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Form des das Gesammtleben der Gläubigen beseelenden Gemeingeistes.“9 Schleiermachers Pneumatologie ist zu verstehen als eine Explikation dieses Gemeinbewusstsein. Die Explikation hat eine christologische, eine ekklesiologische und auch eine ethische Dimension, in der die Auswirkungen in der Geschichte als Reich Gottes thematisiert werden.

6 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von R. Schäfer, KGA I/ 13, 2 Bde., Berlin/New York 2003, Bd. 1, 407, Z.12ff (§ 66.2). 7 Vgl. Diederich, Geistverständnis, 137 und Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke, Band III/6, hg. von L. George, Berlin 1862, 213. 8 Friedrich Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: KGA I.10, hg. von H.-F. Traulsen, Berlin/New York 1990, 373, Z. 17. 9 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 288, Z. 1–4 (Leitsatz § 123).

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Christologie

Schleiermachers Christologie ist im strengsten Sinne als Pneuma-Christologie zu begreifen. Das Göttliche in Jesus ist der Geist Gottes, der sich in ihm als ein vollkommenes Gottesbewusstsein verwirklicht. In Jesus Christus findet der Umschlag statt, auf den die ganze Geschichte des Geistes intentional ausgerichtet ist. Die voranstrebende und sich entwickelnde Humanität bekommt in Jesus eine vollkommene Verwirklichung. Die Verwirklichung des Geistes ist also als Geschichtswende zu denken, die nicht aus dem Vorangehenden erklärt werden kann. Schleiermacher ist darüber völlig klar: Jesu „eigenthümlicher geistiger Gehalt nämlich kann nicht aus dem Gehalt des menschlichen Lebenskreises, dem er angehörte, erklärt werden, sondern nur aus der allgemeinen Quelle des geistigen Lebens durch einen schöpferischen göttlichen Act, in welchem sich als einem absolut größten der Begriff des Menschen als Subject des Gottesbewußtseins vollendet.“10 Im Lichte dieser Aussagen muss das Urteil Barths über eine Anthropologisierung als Fehlurteil betrachtet werden. Diese pneuma-christologischen Aussagen zeigen, dass Schleiermacher, innerhalb seiner eigenen Begrifflichkeit und mit dem Ziel einer Abweisung der Angemessenheit des Naturbegriffes, eine ‚hohe‘ Christologie repräsentiert. Seine Christologie ist im eminenten Sinne Geistchristologie. Damit meinen wir nicht eine ‚niedrige‘ Christologie, die Jesus nur paradigmatische Bedeutung zurechnet, sondern Schleiermacher hält innerhalb seiner eigenen Begrifflichkeit an die Partikularität Jesu fest. Vor und nach Jesus gibt es eine unzureichende Gegenwart des Geistes, aber in Jesus gibt es eine „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war.“11 Alle Äußerungen von Jesus und seine ganze psychische Aktivität sind somit auf einen Impuls des göttlichen Geistes zurückzuführen. In Jesus ist alle Beschränktheit, die den Geist unter dem Gesetz kennzeichnet, aufgehoben. Das Göttliche in ihm ist „der ihm ohne Maaß mitgetheilte göttliche Geist“.12 Göttlicher Geist und menschliches Gottesbewusstsein bilden ein Ganzes. Das menschliche Bewusstsein ist enhypostatisch, ganz und gar vom Geist Gottes bestimmt.

10 A.a.O., 46f, Z. 26ff (§ 93.3). 11 A.a.O., 52, Z. 11–13 (Leitsatz § 94). 12 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1843), in: Sämmtliche Werke I/12, hg von L. Jonas, Berlin 1843, 113.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

2.2

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Ekklesiologie

Schleiermachers Pneumatologie artikuliert sich auch in seiner Ekklesiologie. Die urbildliche Gegenwart des Geistes Gottes in Jesus hat einen direkten Einfluss auf den menschlichen Geist unter dem Gesetz. Jesus erfährt dank seines vollkommenen Gottesbewusstseins den Mangel des menschlichen Selbstbewusstseins unter dem Gesetz und zugleich trägt er die Erfüllung in sich selbst. Die Darstellung seines Selbstbewusstseins wird zu einer Mitteilung des Geistes, die in dem Menschen zur eigensten Erfüllung des Selbstbewusstseins wird. Der erste Schritt ist also, dass der Geist ins Gefühl eindringt und der zweite Schritt ist, dass der Geist zur Macht im Menschen wird. Dadurch dass er sich mitteilt, kommen die Menschen zu ihrem höchsten Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein wird hier also zum Ort der Gegenwart Gottes im Menschen. Der Unterschied zwischen den Gläubigen und Jesus ist jedoch, dass die Durchwirkung bei ihnen immer allmählich und langsam geschieht. Der Geist ist von Anfang an eine kommunale Wirklichkeit; Schleiermacher bezieht den Heiligen Geist zuerst auf die Kirche und nur an zweiter Stelle auf den Einzelnen. Der Geist erzeugt ein gemeinschaftliches Handeln, in dem die Glieder der Gemeinschaft den Geist für einander darstellen und mitteilen, wie Schleiermacher in seiner Weihnachtsfeier (1806) in Form einer Erzählung dargelegt hat.13 Die produktive Funktion der Intersubjektivität, die Schleiermacher schon in seiner Psychologie dargestellt hat, wendet er hier auf die Entstehung von Frömmigkeit und fromme Gemeinschaften an. Der in diesen Gemeinschaften waltende Geist wird von Schleiermacher definiert als „die Lebenseinheit der christlichen Gemeinschaft als einer moralischen Person“.14 Weil alles Gesetzliche dort ausgeschlossen ist, nennt er diese Lebenseinheit den Gemeingeist. Sie ist „ein wahres Gesammtleben, eine zusammengesetzte nach gewöhnlicher Benennung moralische Person“15. Dieser Geist der Gemeinde ist mit Gott in Jesus eins, weil er derselbe Geist ist, der sich nur in Erscheinungsform anders, nämlich als Gemeinbewusstsein vollzieht. Das ist das Geheimnis der christlichen Glaubensgemeinschaft. In dem Leitsatz zum § 121 schreibt er: „Alle im Stande der Heiligung lebenden sind sich eines innern Antriebes, im gemeinsamen Mit- und gegenseitigen Aufeinanderwirken immer mehr Eines zu werden als des Gemeingeistes des von Christo gestifteten neuen Gesamtlebens bewußt.“16 Wie Wilfried Brandt wohl zu Recht schreibt: „Hier wird nichts postuliert, hier wird Wirklichkeit festgestellt.“17 Auf dem Hintergrund von 13 Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachstfeier. Ein Gespräch (1806), in: KGA I/5, hg. von H. Patsch, Berlin/New York 1995, 39–100. 14 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 243, Z. 24f (§ 116.3). 15 A.a.O., 299, Z. 14f (§ 125.1). 16 A.a.O., 278, Z. 3–7 (Leitsatz § 121). 17 Wilfried Brandt, Der Heilige Geist und die Kirche bei Schleiermacher, Zürich 1968, 34.

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Begriffen wie Gemeingeist und Gesamtleben können nicht nur politische Assoziationen mitklingen, sondern vor Allem Schleiermachers Erfahrungen als Herrnhuter Zögling in Barby und Niesky. Schleiermachers Pneumatologie hat eine lineare, horizontale Ausrichtung. Der Geist bewegt sich immanent durch die Geschichte. Der Geist kommt vom geschichtlichen Jesus her, und wird selbst eine wirksame Gestalt, die sich in eigener Kraft und Macht in Differenziertheit und Bezogenheit mitteilt. Schleiermachers Begriff des ‚Gemeingeistes‘ ist dabei in erster Linie vor dem Hintergrund von allgemeinen Entwicklungen des Geistbegriffs zu verstehen. Nachdem am Ende des 18. Jahrhundert der Geistbegriff von seiner Beziehung auf das individuelle Subjekt gelöst war, konnten alttestamentliche und vitalistische Bedeutungskomponenten wieder aufgenommen werden. Schon bei Nikolaus L. Zinzendorf findet man den Begriff ‚Gemeingeist‘, also einen Geist, der einer Gemeinschaft von Menschen inne ist, sie durchdringt, aktiviert und mobilisiert. Der begriffsgeschichtliche Hintergrund darf die Augen nicht dafür verschließen, dass gerade diese Bestimmung des Heiligen Geistes als Gemeingeist bei Schleiermacher einen eigenen Grund und Gehalt bekommt. Sie weist auf eine Intersubjektivität, die jedes Mitglied der Gemeinschaft und die Gemeinschaft als solche bildet und bestimmt. So bildet sich in Familie, Kirche, Schule und Staat ein Gemeinsinn, in dem aus dem Gefühl der Zugehörigkeit sich spontan der Gemeingeist als Selbsttätigkeit des Einzelnen für das öffentliche Gemeinwesen ergeben kann.18 Dieser Gedanke eines Gemeingeistes, an dem jedes Mitglied beteiligt ist und durch den das Gemeinwesen bestimmt wird, macht auch deutlich, wie sehr Schleiermachers Pneumatologie bestimmte demokratisierende Tendenzen in der modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts inspirieren und fördern konnte, wie es z. B. bei dem jungen Abraham Kuyper hervortritt. In dieser Bestimmung des Heiligen Geistes als Gemeingeist wird deutlich, dass die Pneumatologie bei Schleiermacher nicht nur eine Funktion der Christologie ist, wie bei Barth, sondern eigene Wirkungspotentialität hat. In der Gemeinde, in dem Gemeingeist, bekommt der Geist sozusagen eine eigene Personalität. In diesem Gesamtleben ist jedes Glied notwendig und alle Eigentümlichkeiten verdienen ohne Einschränkung oder Ausnahme Anerkennung (mit Berufung auf 1 Kor 12,19–26). Auf diese Weise bietet Schleiermacher eine Antwort auf Lessings Frage nach dem ‚garstigen breiten Graben der Geschichte‘. In dem Gemeingeist, der in der empirischen christlichen Gemeinde lebt und webt, ist derselbe Geist Gottes gegenwärtig, der in Jesus gegenwärtig war. Schleiermachers Pneumatologie sollte unter keinen Umständen eine individualistische Engführung, wie sie etwa in der Pneumatologien der Heiligungsbewegung oder in der klassischen Pfingsttheologie zu finden ist, vorgeworfen 18 Vgl. Schlenke, ‚Geist und Gemeinschaft‘, 344.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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werden. Wie in der Apostelgeschichte ist die Gabe des Heiligen Geistes ein Ereignis, das an erster Stelle die Gemeinschaft betrifft. Erst in der Bezogenheit und in dem Einwirken aufeinander gibt es ein gemeinschaftliches Bewusstsein, in dem die vollendete Gegenwart des Geistes da ist. Die Intersubjektivität ist in dieser Pneumatologie fundamental. Mit der Intersubjektivität hängt es auch zusammen, dass Schleiermacher sich der Kontextsensitivität und Polyphonie des Heiligen Geistes – um Begriffe von Michael Welker zu verwenden – gewidmet hat. Die Einheit des Geistes bewährt sich in einer Vielheit von äußerlichen, empirischen Sachen und ist prinzipiell umweltbezogen. Die Mitglieder der Gemeinschaft unterscheiden sich einerseits voneinander in unendlicher Verschiedenheit, aber nicht weniger in vielfältiger Bezogenheit aufeinander. Auf diese Weise verliert das Individuum sich in der Gemeinschaft, die in diesem Prozess von Unterscheiden und aufeinander Bezogensein mehr und mehr Leib Christi wird oder auch, mit dem anderen von Schleiermacher benutzten Begriff, ein Organismus, der selbst wirksam ist und Kraft ausübt. „Denn da das göttliche Wesen nur Eines und überall sich selbst gleich ist, wenn auch die Art zu sein desselben in dem Einzelwesen Christo und in dem Gesammtleben nicht dieselbe ist: so können doch die davon ausgehende Impulse in beiden Fällen nur die nämlichen sein.“19 Schleiermacher hat diese Polyphonie und Kontextsensitivität in der schon genannten Weihnachtsfeier literarische Form geben wollen. Jedes Mitglied in der dort beschriebenen Gemeinschaft ist mit dem Ganzen verbunden und hat etwas beizutragen. Kinder und Frauen sind von dieser Gemeinschaft und ihrem Bedeutungszusammenhang nicht ausgeschlossen. Unterschiede zwischen Mann und Frau, alt und jung, Differenzen von musikalischer und rationaler Begabung, bilden keine Hemmungen und Hindernisse, sondern machen vielmehr den Reichtum der vielfältigen Aspekte des göttlichen Geistes anschaulich. Die Wirkung des Heiligen Geist umfasst und durchdringt Leib und Seele, sie ist nicht nur in der personalen Begegnung da, sondern hat auch leibliche, materiale und sensorische Komponenten.

2.3

Reich Gottes

Von hier aus kann dann auch verstanden werden, dass auf der Linie von Schleiermachers Pneumatologie ein Reich-Gottes-Begriff entwickelt werden kann, der seinen Ausgangspunkt im Gesamtleben der Gemeinde hat. Der Heilige Geist ist der menschlichen Natur immanent, er will diese Natur durchdringen und sich aneignen. Diese Intentionalität des Geistes beschränkt sich aber nicht 19 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 299, Z. 20–24 (§ 125.1).

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auf einzelne Personen, sondern will sich gemäß ihrer gemeinschaftlichen Art über die Gemeinschaft der Menschheit ausbreiten, das heißt über die ganze Kultur. Diese sich selbst weiterbringende Bewegung und Dynamik des Geistes findet ihr Ziel und Vollendung in den Gedanken des Reiches Gottes. Es ist der Selbstbewegung des Geistes eigen, dass er sich auch alle anderen Bewusstseinsfunktionen aneignet. Das ganze natürliche Leben, das psychische und kulturelle Leben wird auf diese Weise zum Organ der Selbstrealisation des Heiligen Geistes. Was Schleiermacher dabei immer voraussetzt, ist eine Empfänglichkeit für den Heiligen Geist. Das natürliche Leben besitzt eine Empfänglichkeit und Rezeptivität für die Vollendung durch den Geist, und so sind auch andere natürliche, affektive, psychische und geistige Vermögen für diese Durchdringung und Vollendung offen. Die Sünde wird daher bei Schleiermacher nicht als Rebellion gegen Gott verstanden, sondern als noch existierende und zu überwindende Selbständigkeit des natürlich-vernünftigen Lebens. Das Christentum steht darum nicht rechtwinklig auf der humanen Kultur, sondern die humane Kultur ist Voraussetzung des Christentums. Von daher lassen sich auch Schleiermachers kulturelle, politische, pädagogische und ethische Ideale verstehen. Die in Jesus Christus realisierte Dominanz des Gottesbewusstseins soll in allen Lebensbereichen eine sittliche Selbstbestimmung realisieren, die alle Handlungen der Beteiligten in diesem Gesamtleben faktisch von diesem Gemeingeist als „innerste [n] Impuls des Einzelnen“20 bestimmt sein lässt. Christliche Frömmigkeit wird die Bildung einer durch und durch humanen und wesentlich christlichen Kultur realisieren. Gerade an diesem Punkt, am Verhältnis von göttlichem Geist und Kultur, ist Karl Barth andere Wege gegangen. Voraussetzung bedeutet aber nicht einfach Erhöhung der humanen Kultur. Man sollte – gegen die Interpretation Barths – vielmehr sagen, dass das Denken Schleiermachers über den Geist seinen Ausgangspunkt in der Vollendung nimmt, die sich in Jesus Christus realisiert hat. Schleiermacher versucht „von dieser Vollendung herkommend das philosophische Geistverständnis von rückwärts her, d. h. von der ewigen Vollendung des humanen Geistes in Christus her, einzuholen.“21 Man verfehlt das Anliegen Schleiermachers, wenn man die Einschätzung seiner Theologie unter der Alternative Theologie oder Philosophie bringen will. Schleiermacher hat diese Alternative gerade überwinden und die Unableitbarkeit des Glaubens verteidigen wollen und von daher auf eindrucksvolle Weise das Gespräch mit den Zeitgenossen gesucht.22 Auffallend und bedeutungsvoll ist jedoch, dass dem Tod Jesu Christi in Schleiermachers Denken über den Geist gar keine Bedeutung zukommt. Der Geist ist mit der Fleisch20 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 244, Z. 9 (§ 116.3). 21 Diederich, Geistverständnis, 355. 22 Vgl. Werner, Weltweisheit, 149.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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werdung schon voll verwirklicht. Schleiermacher kann über den Tod nur als natürliches Lebensende etwas sagen, aber nichts über den Tod als Strafe Gottes und Verkehrung aller Lebensrelationen. Damit versagt „dieses Denken gerade dort, wo die christliche Theologie die tiefste Spannung sieht, wenn sie von Erlösung spricht.“ Für Schleiermacher gelte, dass er „über die Grenzen der philosophischen Vorbedingungen seines Geistverständnisses in deren materialtheologischer Neuinterpretation sachlich nicht hinausgeht.“23 Damit sind wir bei dem Punkt angekommen, an dem die Kritik von Barth zutrifft.

2.4

Das Beieinander von Gott und Mensch

Schleiermacher und Barth haben auf je eigene Weise behaupten wollen, dass man theologisch Gott und Mensch nicht voneinander gelöst denken kann. Ihr Denken versucht dieses Beieinander-Sein von Gott und Mensch zu denken. Barth hat diese Zugehörigkeit in der Kirchlichen Dogmatik in seiner Erwählungslehre verankert: Gott entscheidet sich dafür, nicht ohne den Menschen sein zu wollen. Schleiermacher hat diese Zugehörigkeit in einer umfassenden Neuinterpretation der Pneumatologie verwurzelt, in der der menschliche Geist als eine Wirklichkeit gedacht wird, die intentional auf die Erfüllung der Lebensproblematik gerichtet ist, und die sich erst in Jesus realisiert hat. Bei Barth besitzt der menschliche Geist diese Empfänglichkeit nicht. Der Heilige Geist ist einfach ein ‚Wunder‘. Damit ist die Pneumatologie eines der Themen, an denen der Gegensatz zwischen beiden theologischen Konzepten am schärfsten zum Ausdruck kommt. Der alternative Ansatz von Barth soll jedoch nicht verdecken, dass auch Barth, sowohl in seinen frühen kritischen Arbeiten als auch in der Reifegestalt seiner Theologie, gerade die Relation von Gott und Mensch angemessen zum Ausdruck bringen will.

3.

Karl Barth

Von Barth gilt, dass man auch bei ihm von einer umfassenden pneumatologischen Perspektive sprechen muss: das Ganze seines Denkens kann im Lichte der Bitte um den Heiligen Geist gelesen werden. Dass der Mensch und die Gemeinde den lebendigen Gott erkennen, ist in keinem Moment selbstverständlich. Theologie geschieht unter dem Vorzeichen des Gebetes oder der Epiklese. Die frühen Predigtbände, die er mit E. Thurneysen zusammenstellte, weisen schon in diese Richtung hin. Ihre Titel (Suchet Gott, so werdet ihr leben und Komm, Schöpfer Geist) machen deutlich, dass das Reden von Gott in der Kirche unter der 23 Diederich, Geistverständnis, 357.

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Voraussetzung der Anrufung Gottes und seines lebendig machenden Geistes geschieht. Von diesen frühen Publikationen her ist ein Bogen zum letzten (posthum veröffentlichten) Band der Kirchlichen Dogmatik zu ziehen, in dem Barth die Ethik im Rahmen einer Auslegung des Vaterunsers unternimmt. Damit ist seine Theologie als eine Theologie der Epiklese zu bezeichnen. Das Gebet wird in dieser Theologie zur Voraussetzung der Theologie. Im Allgemeinen kann man sagen, dass in Barths Theologie die Pneumatologie vor allem innerhalb der Offenbarungsproblematik fungiert. Dass der Mensch von Gott angesprochen und gerettet wird, ist das Wunder. Während in der Theologie Schleiermachers der Heilige Geist als Gemeingeist in der christlichen Glaubensgemeinschaft immanent anwesend ist und seine Wirkungen ausübt, nimmt Barth nach der ersten Auflage seines Römerbriefes (1919) diese horizontale Ausrichtung des Geistes nicht mehr an. Dominant ist vielmehr das Bild der Vertikale. Die im Anschluss an F. Zündels Paraphrase über Apostelgeschichte 2,1–13 gebildete Wendung ‚senkrecht von oben‘ charakterisiert in der zweiten Auflage des Römerbriefes (1922) das Wunder der Offenbarung, „das ‚Einsetzen‘ jenes Punktes von oben und die entsprechende Einsicht von unten.“24 In demselben Kommentar wird zu Römer 8,1 (“Wir haben den Geist“) die Gegenwart des Geistes bei den Menschen nicht geleugnet, aber die Art, wie sich diese Gegenwart zum Selbst des Menschen verhält, problematisiert: Wer auf die Existentialität des Geistes gestoßen ist, der ist eben damit auf seine eigene Existenz in Gott gestoßen. Wir können, wir wollen nicht leugnen, nicht verbergen, nicht verundeutlichen, dass wir das Brausen vom Himmel gehört [vgl. Apg. 2,2], das neue Jerusalem gesehen [vgl Offb. 21,2], die ewige Entscheidung gefunden haben, dass wir ‚im Christus Jesus‘ sind. Aber was heißt ‚gesehen‘, ‚gehört‘, ‚sind‘? Was heißt ‚wir haben‘? Ob wir das ‚wir‘ oder das ‚haben‘ betonen, wir bewegen uns damit, gerade damit typisch auf dem Gebiet der Religion. Wir meinen nicht den Geist, sofern wir ihn mit ‚wir‘ und mit ‚haben‘ in Verbindung bringen. Und müssen es doch, weil wir nicht anders dürfen und auch nicht anders – können. […] Wir müssen jedenfalls wissen um seine Unzulässigkeit, wissen, dass ‚wir‘ nur ‚nicht wir‘ und ‚haben‘ nur ‚nicht haben‘ bedeuten kann.25

Während nach Schleiermacher der menschliche Geist vom göttlichen Geist angeeignet wird und sich selbst durchsichtig wird, wird ein solches zu Ruhe gekommenes Selbst bei Barth ganz und gar unmöglich. Der Geist Gottes bewegt sich nicht immanent im menschlichen Lebenskreis, sie ist „ein Jenseits der Grenze unsres Menschenlebens, [ein] fremdes Auge, das uns schaut im Diesseits.“26 Von dem Heiligen Geist kann also nur in Begriffen der Nicht-Identität gesprochen 24 Karl Barth, Der Römerbrief. Zweite Fassung (1922), in: Ders., Gesamtausgabe II, hg. von C. van der Kooi und K. Tolstaja, Zürich 2010, 51. 25 A.a.O., 275f. 26 A.a.O., 273.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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werden. Sie ist eine Prädikation des neuen Menschen, die nie anschaulich wird, sondern nur als Ereignis, das er sich selbst nicht sagen kann, sondern es wird ihm gesagt, bevor er gerufen hat. Geist ist also „die ewige Entscheidung, in Gott gefallen für den Menschen, im Menschen gefallen für Gott“.27 Von daher lässt sich die scharfe Kritik an Schleiermacher verstehen. Schleiermacher verstehe nicht, dass das menschliche Sein ‚Fleisch‘ ist, d. h. unter der Sünde steht, und dass Gnade und Geist nie zum Besitz des Menschen werden können. Wenn etwa das Gesetz, mein religiöses Sein und Haben, selbst der Geist wäre, wenn etwa ‚Anschauung und Gefühl des Universums‘, ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘ (Schleiermacher) im Ernst als mögliche Möglichkeiten ins Auge gefasst werden dürften, wenn es etwa sein sollte, dass Gott und der Mensch, der ich bin, doch irgendwie zusammengehen sollten, dann müsste ich in der Lage sein, mich selbst […] von da aus zu erkennen, zu verstehen […] in seiner Kontinuität und Konformität mit dem Geist, […] als neue gottgeweihte Wirklichkeit.28

Das epistemologische Gefälle von Barths früher Pneumatologie setzt sich in der Kirchlichen Dogmatik fort. Barth spricht dort von dem Heiligen Geist als der subjektiven Seite im Ereignis der Offenbarung,29 aber auch hier gilt dieses Ereignis als etwas ‚Unbegreifliches‘: Der Heilige Geist ist „Gott selbst, sofern er in unbegreiflich wirklicher Weise, ohne darum weniger Gott zu sein, dem Geschöpf gegenwärtig sein und kraft dieser seiner Gegenwart die Beziehung des Geschöpfs zu ihm selbst realisieren und kraft dieser Beziehung zu ihm selbst dem Geschöpf Leben verleihen kann.“30 Dass der Mensch zur Erkenntnis Gottes kommt, ‚ja‘ sagen kann und tatsächlich ‚ja‘ sagt, ist als solches ein Werk des Heiligen Geistes. Gott ist also als Heiliger Geist beim Menschen gegenwärtig. Der Heilige Geist wird darum, so darf man sagen, bei Barth mit der Freiheit, sich zu offenbaren, verbunden. Die Asymmetrie zwischen Gott und Mensch ist kennzeichnend. In der Begegnung mit dem Heiligen Geist geht die Initiative vom Heiligen Geist aus. Er macht in unmittelbarer Gegenwärtigkeit seinen Herrschaftsanspruch auf uns geltend. Die Anerkennung der Gottheit des Heiligen Geistes ist darum darin begründet, dass nur so des Menschen „Dabeisein bei der Offenbarung, die Wirklichkeit seiner Begegnung mit dem Offenbarer, nicht sein, des Menschen, sondern noch einmal ganz und gar Gottes eigenes Werk“ ist.31 Die Pneumatologie bleibt bei Barth sowohl in den ersten Bänden der KD als auch in der Versöhnungslehre (KD IV) ein Artikel, der im Rahmen des zweiten Artikels entwickelt 27 28 29 30 31

A.a.O., 388. A.a.O., 357. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Band I/1, Zürich 91975, 472. A.a.O., 472f. A.a.O., 490f.

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wird, also streng im Rahmen der Soteriologie. Der Geist ist der Geist des Christus, des Sohnes und des Wortes, und hat keinen selbständigen Inhalt. Es handelt sich nicht um „eine neue über Christus, über das Wort hinausgehende Belehrung, Erleuchtung und Bewegung des Menschen“.32 Thematisch ist vom Heiligen Geist in der Versöhnungslehre die Rede, wenn expliziert wird, dass die Geschichte Jesu Christi wirklich bei uns ankommt. „In ihr geschieht der Übergang und Eingang der Prophetie Jesu Christi zu uns, in unseren Bereich, in ihr werden wir alle, die in diesem Bereich existierenden Christen und Nicht-Christen, in die Heilsgeschichte einbezogen, an ihr beteiligt.“33 Die Lessingfrage wird von Barth beantwortet mit einem Verweis auf die Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi.34 Der Leitsatz zu Par 72 lautet: „Der Heilige Geist ist die erleuchtende Macht des lebendigen Herrn Jesus Christus, in der er sich zu der von ihm berufenen Gemeinde als zu seinem Leib, d. h. als zu seiner eigenen irdisch-geschichtlichen Existenzform damit bekennt, daß er ihr den Dienst an seinem prophetischen Wort und damit die vorläufige Darstellung der in ihm ergangenen Berufung der ganzen Menschenwelt, ja aller Kreaturen anvertraut.“35 Der Heilige Geist bekommt keine eigene Subjektivität oder Personalität. Er ist Macht und Kraft, und die Pneumatologie hat eine Hilfsfunktion für die Christologie. Christian Link hat nicht zu Unrecht geurteilt, dass bei Barth die Funktion des Geistes beinahe auf eine noetische Funktion beschränkt wird: „Der Heilige Geist ist irdischer Stellvertreter des Erhöhten und hat als solcher kein eigenes theologisch namhaft zu machendes Gegenstandsfeld.“36 Über den Heiligen Geist kann Barth also nur als Wiederholung des von Jesus Christus verkündigten Wortes sprechen. Jesus Christus ist der Verkündiger, der sich selbst in der menschlichen Geschichte zur Sprache bringt. Man kann darum auch sagen, dass Barth hier auf die Narrativität als Grundstruktur der Selbstoffenbarung Jesu Christi hinweist. Barth hat diese Funktionalität der Pneumatologie dann weiter entwickelt in seiner Lehre der dreifachen Parusie.37 Das Auferstehungsereignis darf also nicht als ein neues Strukturmoment der Taten Gottes gelten; Auferstehung ist Offenbarung der geschehenen Versöhnung. In der Auferstehung Jesu Christi, in der Sendung des Heiligen Geistes und in der Vollendung handelt es sich um das Eine, das sich im Sterben Christi ereignet hat. „Es geschieht aber das Eine je anders.“38 32 33 34 35 36

A.a.O., 475. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Band IV/3, Zürich 1959, 405. Vgl. a. a. O., 330. A.a.O., 780. Christian Link, Der Horizont der Pneumatologie bei Calvin und Karl Barth, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen 2009, 171–195, 186. 37 Vgl. Barth, KD IV/3, 338–340. 38 A.a.O., 338.

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Der Heilige Geist bei Schleiermacher und Barth

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Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen Barth und Schleiermacher, indem Schleiermacher eher auf der Linie des von Calvin umzogenen Horizonts einer reformierten Pneumatologie bleibt und im Gegensatz zu Barth eine eigene Funktionalität des Geistes denken kann. In Barths Versöhnungslehre hingegen dient der Heilige Geist der Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi und hat kein eigenes Gegenstandsfeld. Der Unterschied hat auch einen biblisch-theologischen Hintergrund. In den synoptischen Evangelien ist der Geist eine Gabe Gottes. Jesus wird durch den Geist empfangen, mit dem Geist ausgerüstet und sendet seinen Geist als Gabe. Bei Johannes und Paulus wird der Geist vor allem als Geist Jesu Christi prädiziert. Aber diese christologische Funktionalisierung des Geistes rechtfertigt nicht eine Identifikation von Christus und Geist, auch nicht unter Berufung auf 2 Kor. 3,17: „Der Herr aber ist der Geist.“39 Der von Jesus gesandte Geist ist nicht nur die Selbstvermittlung Jesu Christi, sondern er gibt auch seine Gnadengaben an das Volk Gottes. Das in der Auferstehung an Jesu Christi realisierte Eschaton wird nach Paulus durch den Geist für die Gläubigen realisiert (Römer 8). Zusammenfassend kann man sagen: Der Geist ist für Schleiermacher, wie bei Calvin, eine initiierende Macht, die in der Menschheit auf vielfältige Weise wirkt. Die Wirksamkeit des Geistes geht nicht in der Offenbarungsgeschichte Jesu Christi auf, sondern breitet sich auf vielfältige Weise aus. Barth hat die Aktivität des Geistes Gottes in der Gemeinde, die für Schleiermacher zentral ist, vor allem mit seiner Ausarbeitung der Lehre vom prophetischen Amt Christi, einschließlich seiner sog. Lichterlehre auszudrücken versucht. Auch Barth kennt eine voranschreitende Wirksamkeit Gottes. Wenn er die Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi im Geist als Wiederholung beschreibt, dann ist diese Aktivität nur unzureichend mit dem Wort ‚noetisch‘ bezeichnet. Das Noetische bei Barth beinhaltet mehr als nur einen epistemischen Gewinn: „Er, der Versöhner, Erlöser und Vollender … ist auch noch Streiter und als solcher auch noch Pilger auf dem Weg nach jenem Ziel“.40 Der größte Unterschied zu Schleiermacher ist wohl darin zu sehen, dass bei Schleiermacher der Heilige Geist eingegangen ist in eine sich horizontal entwickelnde Kirche und darum auch in dieser Gemeinschaft eingeschlossen sein kann.41 Seine Lehre des Heiligen Geistes ist strukturell eine Einladung zur Aufmerksamkeit für das Wirken des Heiligen Geistes im empirischen Bereich der christlichen Gemeinschaft. Barth hat mit seiner Betonung der Selbstverkündigung Jesu Christi der bleibenden Subjektivität Christi das Primat gesetzt und damit auf die bleibende kritische und normative Aufgabe der Theologie hingewiesen. Schleiermacher hat auf die 39 Vgl. Johannes Pieter Versteeg, Christus en de Geest. Een exegetisch onderzoek naar de verhouding van de opgestane Christus en de Geest van God volgens de brieven van Paulus, Kampen 1971, 390f. 40 Barth, KD IV/3, 380. 41 Vgl. Brandt, Der Heilige Geist, 313.

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Vielfältigkeit, Kontextbezogenheit und polyphone Konkretheit des Wirkens des Heiligen Geistes hingewiesen und damit die differenzierten Möglichkeiten, die im Wirken des Geistes gegeben sind, verdeutlicht.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Ein Vergleich

Will man die Ethik des Politischen von Schleiermacher und Barth vergleichen, so stößt man auf ein grundsätzliches Problem. Beide sind zeitlich durch mehr als 100 Jahre getrennt, in denen mehr politisch Bedeutsames geschehen ist als jemals zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum der Weltgeschichte. Für Schleiermacher war es zu seiner Zeit selbstverständlich, die Ethik des Politischen als Staatslehre zu betreiben; seine sechs universitären Vorlesungen, die die Politik zum Thema machen, sind über die Jahre hinweg alle entlang der Frage nach angemessener Ordnung des staatlichen Lebens konzipiert.1 Barth erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Apotheose und danach den beginnenden Niedergang von Staatlichkeit als dominierendem politischem Ordnungsmuster. Entsprechend sind in seinem Werk nicht- und überstaatliche Phänomene des Politischen stärker reflektiert. Wo für Schleiermacher der Reflexionshorizont verständlicherweise kaum über Preußen und seine Stellung in Europa hinausging,2 galt es für Barth, den globalen Imperialismus, zwei Weltkriege und den Ost-WestKonflikt in seinen weltweiten Auswirkungen einzubeziehen. Für Schleiermacher war die angestammte Staatsform die Erbmonarchie. Elektrisiert von der Französischen Revolution, von der er als junger Mann Kunde erhielt,3 und dadurch zugleich sensibilisiert für die Ambivalenzen des demokratischen Gedankens, galt 1 Vgl. Walter Jaeschke, Schleiermacher als politischer Denker; in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006. Hg. v. A. Arndt, U. Barth u. W. Gräb, Berlin/New York 2008 (SchlA 22), 303–315, 309: „‚Politik‘ ist für Schleiermacher ‚Staatslehre‘ – sei es philosophische Staatslehre, sei es die Lehre der ‚Staatskunst‘.“ 2 Gelegentlich ist Schleiermacher freilich auch hier, wie an so vielen anderen Stellen, seiner Zeit voraus. Vgl. etwa folgenden frühen Gedanken, der das Wesen des Kolonialismus präzise erfasst: „Ueber die Lage eines Staates der nur Fabricant für einen andern ist. Koloniensystem“ (F. D.E. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat. Hg. v. W. Jaeschke, Berlin/ New York 1998 [KGA II/8], 31). 3 Zum Thema „Schleiermacher und die Französische Revolution“ vgl. Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Teil I, Berlin/New York 2004, 114–131.

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Friedrich Lohmann

sein politisches Wirken demokratischen Reformen innerhalb der Monarchie. Der in der Ur-Demokratie Schweiz groß gewordene Barth musste den Niedergang der europäischen Monarchien und zugleich die Selbstauflösung des demokratischen Gedankens in den beiden totalitären Systemen von Nationalsozialismus und Stalinismus miterleben und reflektierte von diesem ganz anderen Ausgangspunkt aus über die angemessene Staatsform. Wo zu Schleiermachers Zeiten militärische Konflikte als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln in Reiterschlachten ausgetragen wurden, steigerte sich das Waffenarsenal zu Barths Lebzeiten bis hin zur Wasserstoffbombe. Angesichts solch vollkommen unterschiedlicher Zeitlagen ist bei einem Vergleich, der lediglich gegenüberstellen und analysieren wollte, was Barth und Schleiermacher zu diesem oder jenem Thema der Politik zu sagen gehabt haben, Vorsicht geboten. Es passiert durchaus, dass eine beiden gemeinsame ethische Intention, unter den unterschiedlichen politischen Zeitumständen, sich in eine scheinbar gegenteilige Stellungnahme verwandelt. Ein Beispiel ist die Einschätzung des Nationalstaatsgedankens. Während Schleiermacher zur Zeit der französischen Besatzung als patriotischer Prediger den Nationalstaat als Mittel der Befreiung des deutschen Volkes propagiert, sieht Barth im Nationalstaat – aus seinerzeit nahe liegenden Gründen – gerade ein Mittel politischer Unterdrückung.4 Beiden geht es also um den ethischen Imperativ der Befreiung von Unterdrückung, doch ergibt sich daraus eine gegenteilige Einschätzung der konkreten Größe Nationalstaat. Oder nehmen wir die Bewertung der Kategorie „Öffentlichkeit“. Matthias Wolfes hat in seiner monumentalen Studie zu Schleiermachers politischer Wirksamkeit überzeugend nachgewiesen, dass diese entscheidend an der Leitvorstellung einer demokratischen und kritischen Öffentlichkeit orientiert war.5 Auch Barth setzt sich in diesem Sinn für eine öffentliche Politik ein.6 Er ist sich aber – wiederum: aus nahe liegenden Gründen – stärker als Schleiermacher dessen bewusst, dass diese Öffentlichkeit immer eine Mixtur von Einzelinteressen und -ansprüchen ist und daher selbst wieder kritisch 4 Vgl. Karl Barth, Ethik II. Hg. v. D. Braun, Zürich 1978 (Karl Barth-Gesamtausgabe II), 336 (es handelt sich um einen handschriftlichen Nachtrag für die Wiederholung der Vorlesung im Wintersemester 1930/31): „Fast jeder konkrete Staat ist Nationalstaat, d. h. Staat eines bestimmten in ihm herrschenden Volkes, dem in irgend einem Umfang eine Irredenta, d. h. völkische Minderheiten gegenüberstehen, deren Volkstum in diesem Staat mehr oder weniger vergewaltigt wird.“ 5 Vgl. Wolfes, Öffentlichkeit, 7: „Die zentrale Rolle in der Herbeiführung einer solchen Staatsorganisationsform spielte die ‚öffentliche Meinung‘, von der Schleiermacher sich für den politischen Prozeß eine fördernde und zugleich korrigierende Wirkung versprach. An der Herstellung und Ausbildung dieser Öffentlichkeit mitzuwirken, sah er als die Hauptaufgabe seiner praktischen politischen Wirksamkeit an.“ 6 Vgl. Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946); in: ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich 41989 (ThSt[B] 104), 49–82, 71f.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

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eingebunden werden muss.7 Eine Öffentlichkeit, die von machtgestützten Partikularinteressen missbraucht und usurpiert wird, kann ihre demokratische und freiheitsfördernde Funktion nicht mehr wahrnehmen. Schleiermachers Intention muss nach dem „Strukturwandel“ von der räsonierenden zu einer weithin manipulierten Öffentlichkeit8 anders implementiert werden. Das ist bei Barth zumindest angedacht. Jeder Vergleich zwischen Barth und Schleiermacher muss also das eigentlich Gemeinte, die argumentative Tiefenstruktur, einbeziehen, wenn er der jeweiligen ethischen Position gerecht werden will. Es bietet sich daher an, die Untersuchung von vornherein jener Tiefenstruktur zuzuwenden und nach den Grundorientierungen zu fragen, die dem jeweiligen, durchaus zeitbedingt wandelbaren politischen Urteil zugrunde liegen. Was eine hermeneutische Selbstverständlichkeit sein sollte, erhält bei unseren beiden Protagonisten besonderes Gewicht, da eine „ethische Kleinmalerei“9 ohnehin nicht ihre Sache war. Zwar haben beide immer wieder engagiert in die politischen Debatten ihrer Zeit eingegriffen und haben Auseinandersetzungen mit den verantwortlichen Regierungsbehörden nicht gescheut. So wurde Schleiermacher 1813 nach der Publikation eines Artikels Hochverrat vorgeworfen, und im Rahmen der Demagogenverfolgung nach dem Mord an Kotzebue wurde gegen ihn ermittelt.10 Barth wiederum wurde – ganz abgesehen von seiner bekannten Entlassung aus deutschem Staatsdienst 1935 – während des Zweiten Weltkriegs mit politischem Redeverbot in der Schweiz 7 Vgl. a. a. O., 70. Vgl. auch Barths kritische Position zu einem Öffentlichkeitsanspruch der Kirche: Karl Barth, An einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik (1958); in: ders., Offene Briefe 1945–1968. Hg. v. D. Koch, Zürich 1984 (Karl Barth-Gesamtausgabe V), 401–439, 430.433. 8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Frankfurt (Main) 121990. 9 So Barth in einem Brief; zit. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths (1972), München/Mainz 31985, 63. Für Schleiermacher vgl. die Feststellung Jaeschkes zu den universitären Vorlesungen: „Sie blenden die Tagespolitik offensichtlich bewußt aus und entwerfen statt dessen Grundlinien eines allgemeinen, nahezu zeit- und ortlosen Verständnisses des Staates – sowohl der inneren Struktur des Staates wie auch seines Zusammenhangs mit den anderen Bereichen sittlichen Lebens: der freien Geselligkeit, der Wissenschaft und der Kirche“ (Walter Jaeschke, Einleitung des Bandherausgebers; in: Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, XVII–LXIII, XXVII). Dankfried Reetz hat gegen Jaeschke nachgewiesen, dass Schleiermachers Politik-Vorlesung von 1817 immerhin viele konkrete, kritisch gemeinte Anspielungen auf die damalige preußische Politik enthielt (Dankfried Reetz, Schleiermacher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002, 93–121). Diese Anspielungen nehmen die preußische Verfassungsdebatte aus der Perspektive einer allgemeinen Staatstheorie in den Blick. 10 Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, 378–385. Für Details: Wolfes, Öffentlichkeit, Teil I, 487–528; Teil II, 133–270; Reetz, Schleiermacher im Horizont, 223–534.

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belegt; weitere unliebsame Stellungnahmen nach dem Krieg führten dazu, dass kein Mitglied des Schweizer Bundesrats an seiner Trauerfeier teilnahm.11 Doch die so scharf sanktionierten konkreten politischen Einlassungen waren bei beiden eingebettet in einen weit darüber hinausgehenden Gedankenkontext. Schleiermacher und Barth sind beide zutiefst systematische Denker, deren Einmischungen in die konkrete Politik vielleicht gerade deshalb so unmissverständlich vorgetragen wurden (und entsprechend provozierten), weil sie nicht das Produkt vorübergehender Befindlichkeitslagen waren, sondern Konkretionen einer umfassend angelegten, präzise strukturierten Anschauung der Wirklichkeit im Ganzen. Hier stoßen wir auf eine Gemeinsamkeit jenseits aller Schulbildungen und zeitgeschichtlichen Kontexte, die noch dadurch gesteigert wird, dass beide diese Wirklichkeitsauffassung theologisch begründeten. Diese Bemerkung mag manche hinsichtlich Schleiermachers überraschen, dem gerade Karl Barth bei aller Hochschätzung vorgeworfen hat, seine christliche Glaubens- und Sittenlehre werde vorgetragen „im Rahmen und auf Grund einer beiden grundsätzlich übergeordneten Geisteswissenschaft […], die Schleiermacher wiederum – Ethik nennt“.12 Doch schon der Hinweis Barths an gleicher Stelle, dieser Ansatz Schleiermachers sei von Wilhelm Herrmann fortgeführt worden, mahnt zur Vorsicht, an diesem Punkt mit Barths Deutung Schleiermachers konform zu gehen. Denn Herrmann setzt sich zu Beginn seiner Ethik ausdrücklich von Schleiermachers Ausarbeitung einer christlichen Sittenlehre ab.13 Das tut Herrmann, weil er den von Barth inkriminierten übergeordneten Standpunkt tatsächlich einnehmen will. Wenn er aber auf dieser Basis Schleiermacher kritisiert, so zeigt das, dass man nicht ohne weiteres mit Barth eine direkte Linie von Schleiermacher zu Herrmann ziehen sollte. Herrmann hat Recht, dass sich Schleiermachers besonderes Interesse an der dezidiert christlichen Sittenlehre

11 Vgl. Frank Jehle, Lieber unangenehm laut als angenehm leise. Der Theologe Karl Barth und die Politik 1906–1968 (1999), Zürich 22002, 9–11; 90–103. Zu Barths Auseinandersetzung mit dem Berner Regierungsrat und späteren Schweizer Bundesrat Markus Feldmann vgl. Daniel Ficker Stähelin, Karl Barth und Markus Feldmann im Berner Kirchenstreit 1949–1951, Zürich 2006. Schon 1927 wurde im Rahmen einer Berufung Barths nach Bern in der dortigen Presse „gegen seinen angeblichen Pazifismus und überhaupt gegen seine mangelnde Staatstreue“ agitiert (Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten [1975], München 41986, 188). 12 Karl Barth, Ethik I. Hg. v. D. Braun, Zürich 1973 (Karl Barth-Gesamtausgabe II), 9. 13 Vgl. Wilhelm Herrmann, Ethik (1901), Tübingen 51913 (GThW 5/2), 1: „In der Theologie ist es üblich, eine philosophische und eine theologische oder christliche Ethik zu unterscheiden. Es gilt zunächst, diesen Begriff einer besonderen theologischen Ethik als unhaltbar aufzulösen.“ Zu Herrmanns Grundlegung der Ethik vgl. Friedrich Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte, Berlin/New York 2002 (TBT 116), 17–33.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

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nur schlecht mit dem eigenen und von Barth auch Schleiermacher unterstellten14 apologetischen Anliegen vereinbaren lässt. Will man hier Schleiermacher vor dem Vorwurf der Inkohärenz bewahren, so muss man ihm offenbar ein anderes Anliegen unterstellen und seine philosophische Ethik nicht als geheime Voraussetzung seines gesamten, auch theologischen, Denkens interpretieren, sondern sie als auf andere Weise in seine Wissenschaftssystematik eingebaut deuten. In diesem Sinne lässt sich zeigen, dass auch bei Schleiermacher, wie bei Barth, der Primat der Theologie zukommt, wenn auch einer signifikant anders verstandenen Theologie. Gerade das macht den Vergleich beider ethischer Positionen, wie er hier stellvertretend für die Ethik des Politischen durchgeführt werden soll, reizvoll. Mit diesem Vergleich wird die vorstehende Abhandlung enden. Vorausgehen werden zwei Kapitel, in denen ich jeweils für Schleiermacher und Barth getrennt das fundamentale Wirklichkeitsverständnis skizziere, die daraus abgeleitete ethische Grundorientierung darstelle und deren Bedeutsamkeit für die jeweilige Konzeption einer Ethik des Politischen illustriere.

1.

Friedrich Schleiermacher

1.1.

Die Frage nach der programmatischen Grundlage von Schleiermachers Ethik des Politischen in der Forschung

Schleiermachers Ethik des Politischen wurde lange Zeit von seinem patriotischen Wirken aus gedeutet,15 wobei ihre ethische Bewertung weitgehend vom politischen Standpunkt des jeweiligen Interpreten abhing. Hier wie an so vielen anderen Stellen der Schleiermacher-Interpretation hat sich die Debatte mit der Entstehung einer ernstzunehmenden Schleiermacher-Forschung seit den 1960er Jahren versachlicht. Gleichwohl bleibt die Bewertung von Schleiermachers Äußerungen zur Politik in der Forschung strittig: Wo es früher um die Bewertung seines Patriotismus ging, so wird heute über seine Liberalität diskutiert.16 Miriam Rose, die den, soweit ich sehe, letzten Beitrag zu dieser Diskussion geliefert hat, beklagt dabei, dass von den Interpreten bisher „die Gesamtanlage der Staatslehre 14 Vgl. z. B. die Darstellung Schleiermachers in: Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und Geschichte (1947), Zürich 51985, 379–424. 15 Zum „‚vaterländischen‘ Schleiermacher“ vgl. Matthias Wolfes, Schleiermachers politische Theorie zwischen dem autoritären Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit und dem deliberativen Konzept einer Bürgerlichen Öffentlichkeit; in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses im März 2006, 375–393, 376–383. 16 Vgl. Miriam Rose, Schleiermachers Staatslehre, Tübingen 2011 (BHTh 164), 286–299.

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Friedrich Lohmann

bewusst abgeblendet“ wurde.17 Freilich kommt auch Rose in ihrem Streben nach Horizonterweiterung kaum über Schleiermachers Staatslehre hinaus; sie bringt als neuen Aspekt lediglich die (Meta-) Frage nach deren „Theorieform“18 in die Debatte ein. Sucht man nach Arbeiten zu Schleiermachers Theorie des Politischen, die über diesen eingeschränkten Horizont hinausgehen und sie konsequent in den Kontext von Schleiermachers Gesamtwerk rücken, so muss man rund 40 Jahre zurückgehen. Es war Yorick Spiegel, der in seiner 1967 an der Kirchlichen Hochschule Berlin eingereichten Dissertation anhand Schleiermachers „die Demonstrierung eines Modellfalles über das Verhältnis von christlicher Glaubensaussage und Sozialphilosophie“19 in Angriff nahm. „Was sich bei anderen Autoren oft nur vermuten läßt, in welchem Ausmaß gesellschaftliche Aussagen bewußt oder unbewußt in die Theologie eingegangen sind, und umgekehrt, welche religiöse Metaphysik bestimmte Staats- und Gesellschaftslehren mitgeformt hat, läßt sich bei Schleiermacher deutlich belegen.“20 Spiegels Auslegung Schleiermachers ist allerdings von dem hier anklingenden gleichberechtigten Verhältnis von Sozialphilosophie und Theologie, wonach „sich beide wechselseitig bestimmen“21, meilenweit entfernt. Das Interesse seiner Dissertation besteht deutlich sichtbar darin zu zeigen, dass Schleiermacher „seine theologischen Vorstellungen in der Analogie zur liberalen bürgerlichen Tauschgesellschaft“ entwickelt.22 „Nur in einer Gesellschaft des Austausches können diese Kategorien von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, Rezeptivität und Spontaneität ein solches Gewicht bekommen, wie sie es im Denken Schleiermachers erhalten.“23 Auch wenn Spiegel einräumt, dass Schleiermacher „Recht und Grenze der analogia socialis“ bewusst gewesen seien24, zieht er doch sehr weitgehende Folgerungen: Schleiermachers Theologie sei „die einer herrschenden Schicht“25. „Dort hat seine Theologie jenen viel-zitierten ‚Sitz im Leben‘, von daher ist sie entscheidend geprägt.“26 Richard Crouter hat in einer „Kritik der Kritiker“ eine solche, Schleiermacher gegen den Strich bürstende Auslegung „ein Beispiel für den intellektuellen

17 A.a.O., 287. 18 A.a.O., 293. 19 Yorick Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und Glaubenslehre bei Friedrich Schleiermacher, München 1968 (FGLP 10/37), 17. 20 A.a.O., 17f. 21 A.a.O., 17. 22 A.a.O., 64 (Original kursiv). 23 A.a.O., 42. 24 A.a.O., 106. 25 A.a.O., 246. 26 A.a.O., 248.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

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Bankrott der Soziologie des Wissens“ genannt27, zugleich aber die von Spiegel in ihrer Bedeutsamkeit erstmals vor Augen gestellte Frage nach dem Zusammenhang von Schleiermachers politischen und (fundamental-)theologischen Aussagen unbeachtet gelassen. So ehrenvoll Schleiermachers Engagement gegen soziales Unrecht ist,28 so unbefriedigend bleibt es, die Frage nach dem inneren Zentrum von Schleiermachers Theorie des Politischen auf dem Niveau der Symptome abzuhandeln. Es verdient daher besondere Würdigung, dass Heino Falcke in einer kleinen, auf die beiden eigenen akademischen Qualifikationsschriften zu Schleiermachers Gesellschaftslehre zurückgreifenden Abhandlung die Frage Spiegels aufgegriffen und in ausgewogenerer Weise beantwortet hat. Ausgehend von der auch in der neueren Forschung vertretenen29 These, dass Schleiermachers Denken entscheidend durch die Auseinandersetzung mit und Fortschreibung von Kants Philosophie geprägt ist, findet Falcke das bestimmende Moment von Schleiermachers Stellungnahmen zur Politik „in einer evolutionären teleologischen Weltsicht“ als „einer Ontologie, die es ermöglicht, die sittlichen Kriterien für die menschliche Existenz in all ihren Bereichen und Dimensionen zu bestimmen, und d. h. jetzt für Selbstbildung und Weltgestaltung, für das Individuelle und Allgemeine“.30 Mit der Behauptung einer der konkreten Ethik Schleiermachers zugrunde liegenden „Ontologie“ knüpft Falcke unausgesprochen an die für die gesamte neuere Schleiermacher-Forschung bahnbrechende Habilitationsschrift HansJoachim Birkners an, die die in diesem Sinne grundlegende Bedeutung der abstrahierenden und deduzierenden philosophischen Ethik Schleiermachers eindrucksvoll herausgearbeitet hat.31 Allerdings hat Birkner gemeint, diese ethische 27 Richard Crouter, Schleiermacher und die Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Eine Kritik der Kritiker; in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hg. v. K.-V. Selge, Berlin/New York 1985 (SchlA 1), 1075–1097, 1076. 28 Auf dieses Engagement verweist Crouter, a. a. O., 1093.1095. 29 Vgl. z. B. Andreas Arndt, Die Metaphysik der Dialektik; in: Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie. Hg. v. Chr. Helmer, Chr. Kranich u. B. Rehme-Iffert, Tübingen 2003 (RPhTh 6), 135–149. 30 Heino Falcke, Theologie und Philosophie der Evolution. Grundaspekte der Gesellschaftslehre F. Schleiermachers, Zürich 1977 (ThSt[B] 120), 11: „Die Lösung der Kantschen Antinomie der praktischen Vernunft findet Schleiermacher in einer evolutionären teleologischen Weltsicht. Die Einheit von Sollen und Sein ist im Werden, im Prozeß und Progreß. Sie ist immer zugleich gegeben und aufgegeben. Schleiermachers Denken stellt sich dar als Philosophie und Theologie der Evolution.“ 31 Vgl. Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964 (TBT 8), 84: „Die philosophische Ethik ist in Schleiermachers Konzeption eine deduktiv verfahrende spekulative Wissenschaft. Sie beschreibt in abstrakt-allgemeiner Weise das Ganze der Strukturen und Formen menschlich-geschichtlichen Lebens, den Gesamtbereich menschlichen Handelns, die Gesamtwirksamkeit der irdischen Vernunft auf die irdische Natur. Sie ist damit die spekulative

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Grundwissenschaft sei auch für die Christentumsdeutung Schleiermachers bestimmend,32 während Falcke umgekehrt hinter dem die politische Wirklichkeit auf der Basis seiner Ontologie evolutionär deutenden Sozialethiker Schleiermacher „den christlichen Prediger“33 stehen sieht. Näherhin sieht Falcke die Grundlage für die evolutionäre Wirklichkeitsauffassung Schleiermachers – und in Zusammenhang damit im Übrigen auch für dessen Glauben an die heilsame Wirkung einer freien, räsonierenden Öffentlichkeit – in einer christlich gespeisten „Geistgläubigkeit“34. Ich habe eben, mit dem Hinweis auf die grundlegende Differenz zwischen Schleiermacher und Herrmann hinsichtlich ihres Grundanliegens, bereits angedeutet, dass aus meiner Sicht das Denken Schleiermachers umfassend – und damit auch in seinen deduzierenden, philosophischen Teilen – von einem christlichen Ausgangspunkt geprägt ist. Daher erscheint mir an diesem Punkt die Deutung Falckes überzeugender. Dabei bleibt unbenommen, dass sich „Schleiermachers Christliche Sittenlehre […] an die in seiner philosophischen Ethik entwickelten Kategorien an[lehnt]“ und beide „nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz [stehen]“.35 Alles andere als eine solche tiefgreifende Übereinstimmung wäre unverständlich und im Gesamtsystem Schleiermachers inkohärent, wenn denn, wie von mir (und Falcke) behauptet, seine philosophische Deutung der „Kulturentwicklung […] als ethischer Prozeß, der in der Herstellung der Herrschaft des Menschen über die Erde die Einigung von Vernunft und Natur allseitig verwirklicht“,36 selbst wieder im Sinne einer Abstraktion von theologischen Vorgaben abhängig ist. Ich habe diese Behauptung an anderer Stelle begründet37 und fasse das dort Gesagte hier nur darin zusammen, dass die Ausrichtung an einem „allgemeinen Wahrheitsbewußtsein“38, die Birkner unter unverkennbarem terminologischem Rückgriff auf Hirsch Schleiermacher zuschreibt, der Einsicht in die perspektivische Abkünftigkeit jeder menschlichen

32 33 34

35 36 37 38

Grundwissenschaft für alle historischen Wissenschaften, sie stellt ihnen die Verstehenskategorien bereit.“ Vgl. a. a. O., 64; 85 („Schleiermachers Christliche Sittenlehre […] ruht – wie das Ganze seiner Theologie – auf der in der philosophischen Ethik gegebenen Deutung des menschlich-geschichtlichen Lebens.“). Falcke, Theologie und Philosophie der Evolution, 25. Vgl. a. a. O., 24: „Der Streit kann jedoch die allen Gegensätzen zugrunde liegende ursprüngliche Einheit nicht aufheben. Er ist getragen von dem ‚Frieden‘, der im Erlöser erschienen ist und sich durch seinen Geist kräftig erweisen will. […] Aus dieser Geistgläubigkeit heraus hat Schleiermacher gepredigt und trat er in seinen Predigten dafür ein, daß in offener, freier geistiger Auseinandersetzung um die Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gerungen wird.“ Birkner, Schleiermachers Sittenlehre, 85.87. A.a.O., 91. Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus, 359–371. Birkner, Schleiermachers Sittenlehre, 64.

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Erkenntnis und Handlungsintention widerspricht, wie sie Schleiermacher in der Dialektik unter Hinweis auf die unhintergehbare Leiblichkeit des Menschen herleitet – und auch bereits im apologetisch geprägten Frühwerk „Über die Religion“, nämlich in der Fünften Rede, vertritt. Ein Widerspruch zwischen der Kritik an einem „natürlichen“ Religionsbegriff in der Fünften Rede und der „allgemeinen“ Religionsdeutung in der Zweiten Rede lässt sich nur vermeiden, wenn man letztere als Abstraktion aus der konkret gelebten Wirklichkeit der Religion, und das war für Schleiermacher die christliche, versteht. Nur so, aber so auch zwingend, ergibt sich die kriteriologisch nachvollziehbare Möglichkeit zu einer evolutionär wertenden Einschätzung der Religionen, wie sie Schleiermacher in der Einleitung zur Glaubenslehre vorgenommen hat. Schleiermacher steht durchaus dem Gedanken einer Verallgemeinerung und Universalisierung offen,39 doch handelt es sich dabei eben um ein individuelles Allgemeines,40 das sich einer bestimmten Anschauung des Universums verdankt, nach der Idee in der geschichtlichen Entwicklung fragt und sich von dorther in einer ausgreifenden Zirkelbewegung kritisch-wertend dieser Entwicklung wiederum zuwendet.41 So sind auch die allgemeinen Aussagen der philosophischen Ethik zu verstehen, die zwar – mit Birkner – nicht aus der christlichen Sittenlehre abgeleitet sind, aber auch nicht – gegen Birkner – aus einem „allgemeinen Wahrheitsbewusstsein“, sondern aus einem christlich geprägten Verständnis der menschlichen Wirklichkeit als ganzer. Diesem Wirklichkeitsverständnis als programmatischer Grundlage nicht zuletzt von Schleiermachers Ethik des Politischen werde ich mich nun zuwenden und dabei den Schwerpunkt, den Falckes „Ontologie“ auf den Entwicklungsgedanken legt, erweiternd modifizieren.

39 Vgl. auch Friedrich Lohmann, Universale Menschenrechte – partikulare Moral. Eine protestantische Sicht; in: Universelle Menschenrechte und partikulare Moral. Hg. v. G. Ernst u. S. Sellmaier, Stuttgart 2010, 149–170. 40 Vgl. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt (Main) 1977, Taschenbuch 1985. 41 Diese Zirkelbewegung wird besonders deutlich an Schleiermachers Überlegungen zum Verhältnis von philosophischer und historischer Theologie in der „Kurzen Darstellung“. Vgl. insbesondere deren einleitenden §32: „Da das eigenthümliche Wesen des Christenthums sich eben so wenig rein wissenschaftlich construiren läßt, als es bloß empirisch aufgefaßt werden kann: so läßt es sich nur kritisch bestimmen […] durch Gegeneinanderhalten dessen, was im Christenthum geschichtlich gegeben ist, und der Gegensäze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können von einander verschieden sein“ (F.D.E. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe [1830]; in: ders., Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Hg. v. D. Schmid, Berlin/New York 1998 [KGA I/6], 317–446, 338).

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Das der Ethik Schleiermachers programmatisch zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis

Zu diesem Wirklichkeitsverständnis gehört die von Falcke betonte evolutionäre Sicht der Geschichte, der „Fortschrittsoptimismus“, der Schleiermachers philosophische und dann auch politische Ethik auszeichnet. Es sei hier dahingestellt, ob Schleiermacher ihn tatsächlich als „problemlos“ verstand und „mit allen seinen Zeitgenossen teilt“42. Jedenfalls erscheint diese philosophisch-vernünftige Deutung der Wirklichkeit bei Schleiermacher deutlich genug als abkünftig von der (christlichen) Vorstellung vom Reich Gottes (wobei auch diese von Schleiermacher durchaus individuell angeeignet wird; man denke an apokalyptisch geprägte Reich-Gottes-Vorstellungen innerhalb der christlichen Theologie, die alles andere als fortschrittsoptimistisch sind). „Wie nun alles, was auch von der herrlichsten und vollkommensten Gestalt des göttlichen Reiches gesagt wird, für uns nicht bloß Gegenstand unserer Hoffnung ist, sondern das, wonach wir auch schon hier streben, und von dem wir voraussetzen sollen, es könne die Annährung desselben nur durch unsere Treue und Wirksamkeit erreicht werden, davon halten wir uns alle überzeugt.“43 Der Fortschrittsglaube von Schleiermachers Ethik ist begründet in seinem Verständnis des Christentums, in seiner „Geistgläubigkeit“44. Wie könnte es auch anders sein, wenn „die Vernunft nur in der Form der Persönlichkeit ist“, was gleichbedeutend mit kontextueller, raum42 Birkner, Schleiermachers Sittenlehre, 92. Schleiermacher spricht vom „Prozeß der werdenden Einigung“ (F.D.E. Schleiermacher, Ethik [1812/13] mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. u. eingel. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1990, 10). 43 F.D.E. Schleiermacher, Predigten 1809–1815. Hg. v. P. Weiland unter Mitwirkung von S. Paschen, Berlin/Boston 2011 (KGA III/4), 386 (Predigt vom 10. 11. 1811). 44 S.o. Anm. 34. Für die Verbindung der Vorstellung von einem Fortschritt in der Geschichte mit dem Wirken des Heiligen Geistes vgl. z. B. den folgenden Satz Schleiermachers: „Wir wissen aber, meine Freunde, nichts auf dieser Welt ist im Gebiete menschlicher Dinge schon rein und vollendet, überall finden wir göttliches und ungöttliches was erst gebildet werden soll und vom göttlichen Geiste durchdrungen“ (F.D.E. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung [1801–1820] mit den Varianten der Neuauflagen [1806–1826]. Hg. v. G. Meckenstock, Berlin/Boston 2012 [KGA III/1], 273 [Predigt vermutlich vom 7. 12. 1806]). Es entspricht der Christozentrik von Schleiermachers Theologie, wenn an die Stelle des Geistes auch direkt das Wirken der Person Jesu Christi treten kann: „Wenn wir unsere Kinder betrachten und wahrnehmen, wie sie jetzt leichter gebildet werden, ist es nicht, als ob seit dem [sc. seit der Geburt Jesu] die menschliche Natur sich mehr gereinigt hätte von Roheit; sehen wir nicht viel weniger wilde Triebe und Begierden in unserer Jugend, und viel weniger grausenerregende Ausbrüche der Leidenschaft und thierischer Sinnlichkeit; ist es nicht als ob durch die Länge des Zusammenlebens der Menschen, das Fleischliche sich mehr befreundet hätte mit dem Geiste, als ob die menschliche Natur schon offener wäre und empfänglicher für das Göttliche? Und das ist es, was ihr Christo zuzuschreiben, wofür ihr ihn zu preisen habt, das was jeden zur herzlichen Freude an ihn aufmuntern soll“ (Schleiermacher, Predigten 1809–1815, 413 [Predigt vom 25. 12. 1811]).

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zeitlicher Bedingtheit ist.45 Man wird dem Hermeneutiker Schleiermacher keine erkenntnistheoretische Naivität, sondern die Einsicht in den (partikularen) Wertgesichtspunkt, der die Voraussetzung jeder Rede von „Entwicklung“ ist,46 und zwar gerade der kulturellen Entwicklung,47 unterstellen dürfen. Und dieser alle vernünftigen Erwägungen bedingende Ausgangspunkt ist für Schleiermacher ein christlicher, geprägt vom Gedanken eines im Christusgeschehen grundgelegten und durch den Geist Gottes allmählich Wirklichkeit werdenden Reiches Gottes. Außer dem Entwicklungsgedanken als solchem gehört nun aber, über die Skizze Falckes hinaus, auch die inhaltliche Bestimmung der Leitvorstellung, zu der sich die Gesellschaft laut Schleiermachers philosophischer Ethik hinentwickelt, zu ihren dezidiert christlich, vom Reich-Gottes-Gedanken geprägten Anteilen: Das Höchste Gut wird von Schleiermacher als „Inbegriff“ von Verschiedenem und Form der Gemeinschaftsbildung interpretiert.48 Zwar denkt Schleiermacher das Höchste Gut nicht kollektivistisch, doch eine Spannung zum Individualitätsgedanken, der sein Denken anerkanntermaßen von seinen Anfängen her durchaus prägt, besteht an dieser Stelle. Die Spannung lässt sich am besten so beseitigen, dass man Schleiermachers Insistieren auf den „Gemein45 Vgl. Schleiermacher, Ethik 1812/13, 15. Analog dazu heißt es in Schleiermachers Ausarbeitung zur Dialektik: „Die Thätigkeit der Vernunft wenn man sie ohne alle Thätigkeit der Organisation sezt wäre kein Denken mehr“ (F.D.E. Schleiermacher, Ausarbeitung zur Dialektik [1814/15 mit späteren Zusätzen]; in: ders., Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 1. Hg. v. A. Arndt, Berlin/New York 2002 (KGA II/10.1), 73–197, 94). Das Stichwort „Organisation“ steht dabei für das persönliche, standpunktbezogene Moment des Denkens. Vgl. a. a. O., 91 („Wenn und sofern jedes Denken ein gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden ist, ist das Wissen dasjenige Denken welches Product der Vernunft und der Organisation in ihrem allgemeinen Typus ist“); 96 („In jedem Denken ist die Vernunftthätigkeit der Quell der Einheit und Vielheit, die organische Thätigkeit aber der Quell der Mannigfaltigkeit.“). Es gibt daher eine unhintergehbare „Relativität des Wissens“ (a. a. O., 99), sofern das Leben immer unter der „Duplicität“ von organischer und Vernunfttätigkeit steht (vgl. a. a. O., 101). 46 Vgl. Wilhelm Windelband, Nach hundert Jahren (1904); in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Erster Band, Tübingen 61919, 147–167, 163f: „Die Bedeutung des Prinzips der Entwicklung für die moderne Naturwissenschaft ist allgemein bekannt: weniger verbreitet und anerkannt ist die Einsicht, daß es ein Wertprinzip ist. […] Gerade da, wo man gemeint hat, nun endlich das Wunder aus der Welt des Mechanismus verjagt zu haben, dem Geheimnis der Zweckmäßigkeit auf der Spur zu sein, – gerade da hat man dem Gast aus der Welt der Werte das Bürgerrecht im Reiche der Gesetzeswissenschaften gegeben.“ 47 Vgl. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2001, 38: „Ein Evolutionismus, der dem eigenen Standpunkt Mittelmäßigkeit oder gar ‚Primitivität‘ bescheinigt, ist mir jedenfalls bisher nicht begegnet.“ 48 Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (1830); in: ders., Akademievorträge. Hg. v. M. Rössler unter Mitwirkung v. L. Emersleben, Berlin/New York 2002 (KGA I/11), 659–677.

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geist“49 als theologischen Hintergrund der in seiner philosophischen Ethik vorliegenden Darstellung der Strukturen menschlicher Wirklichkeit interpretiert. „Nicht in sich, sondern nur in der Gemeinschaftlichkeit aller Menschen ist die Individualität gesichert und aufgehoben.“50 Das gilt zum Einen für die Idee gelingender Gemeinschaft in der Kirche, die Raum für individuelle Glaubensausprägungen lässt und gerade so wahre Gemeinschaft verwirklicht.51 Es gilt aber genauso für die Gemeinschaftsvorstellung im Höchsten Gut, in der das Individuelle vom Identischen zwar nicht absorbiert, aber doch übertönt wird. Nicht nur Schleiermachers Theologie ist „von seinem Kirchenbegriff her strukturiert“52; sein gesamtes, auch philosophisches Denken, erweist ihn an diesem Punkt als Herrnhuter höherer Ordnung. Wenn Schleiermacher in seiner Jugend auch die schlechten, autoritären Seiten des Herrnhuter Gemeinschaftsdenkens kennenund überwinden-gelernt hat, so bleibt er doch vom kommunitären Paradigma so stark geprägt, dass für ihn die Idealform des Lebens, das Höchste Gut, nur als Leben in versöhnter Gemeinschaft denkbar ist. Seine Ethik ist programmatisch durch das Ideal gemeinschaftlichen Lebens ausgezeichnet: Die Einzelwesen sind nur als die ursprünglichen Organe und Symbole der Vernunft zu sezen; das Handeln der Vernunft auf die Natur aber ist ein Handeln der ganzen Vernunft auf die ganze Natur; der ethische Prozeß ist nicht vollendet / als indem die ganze Natur vermittelst der menschlichen der Vernunft organisch oder symbolisch angeeignet ist, und das Leben der Einzelwesen ist kein Leben für sie selbst, sondern für die Totalität der Vernunft und die Totalität der Natur.53

Zur Herrnhuter Prägung Schleiermachers gehört, dass sein Gemeinschaftsbegriff entscheidend als gemeinsame Teilhabe am Geist Christi zu verstehen ist. Das „Sein Gottes in Christo“54 bedingt durch das Einwohnen seines Geistes in den Gläubigen, das der irdischen Wirksamkeit Christi folgt, das Sein Gottes im Ge49 Vgl. Dorothee Schlenke, „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin/ New York 1999 (TBT 86). Als Beleg vgl. z. B. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 252 (Predigt vom 24. 8. 1806): „Gesellig ist der Mensch erschaffen, und einzeln nicht hinreichend das auszuführen, was er in sich und um sich her bilden soll“. Vgl. auch Birkner, Schleiermachers Sittenlehre, 93: „Schleiermachers Christliche Sittenlehre stimmt mit seiner philosophischen Ethik darin überein, daß der einzelne in ihr zurücktritt.“ 50 Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft, 137. 51 Diese Idee gelingender Gemeinschaft in individueller Vielfältigkeit im Geiste Christi ist exemplarisch dargestellt in: F.D.E. Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch (1805); in: ders., Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807. Hg. v. H. Patsch, Berlin/New York 1995 (KGA I/5), 39–100. 52 Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft, 228. 53 Schleiermacher, Ethik 1812/13, 15. 54 F.D.E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31). Teilband 2. Hg. v. R. Schäfer, Berlin/New York 2003 (KGA I/13.2), 244 (§116,3).

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samtleben der von ihm gestifteten Kirche als – der Idee nach – Vorbild gelingenden Gemeinschaftslebens auf Erden.55 Hier zeigt sich, dass die von Schleiermacher selbst hervorgehobene Relevanz der Inkarnation Gottes in Christo für seine gesamte Theologie56 im Sinne der oben geschilderten Abstraktionsmethode für sein gesamtes Denken relevant wird. In der philosophischen Ethik spricht er analog zum Sein Gottes in den Gläubigen vom Sein der Vernunft in der Natur57 und verwendet dafür ebenfalls die biblisch geprägte Bildlichkeit der „Einwohnung“58. In den Vorlesungen zur Dialektik, die gegenüber der philosophischen Ethik eine nochmalige Abstraktionsstufe auf das repräsentieren, was vor der Trennung von Physik und Ethik Sein und Denken im Innersten ausmacht, betont Schleiermacher gleichfalls, dass die Vernunft nur als organisch inkarnierte existiert,59 und erwähnt in diesem Zusammenhang das „uns eingeborne Sein Gottes in uns“60 oder auch „das einwohnende Sein Gottes als das Princip alles Wissens“61, wobei die von Schleiermacher in den gleichen Vorlesungen vorgebrachte Reserve gegenüber dem Gedanken des Eingeborenseins (und der platonischen Vorstellung eines Lernens als bloßem Wiedererinnern) wichtig ist: Die potentiell in uns existierende – und insofern „eingeborene“ – Vernunft benötigt

55 Vgl. z. B. Schleiermacher, Predigten 1809–1815, 54f (Predigt vom 25. 2. 1810): „Eben der, der das große Wort aussprach, daß eine Zeit kommen werde, wo die, die den Herrn anbeten ihn nicht im Tempel und auf den Höhen sondern im Geist und in der Wahrheit anbeten werden, eben der verband danach seine Jünger in einer äußeren Gesellschaft und legten [sic] den Grundstein zur Christlichen Kirche. Darum lasst uns festhalten an diesem Band der Gemeinschaft, mit dem Christus uns umfangen hat. […] jeder soll seine Stimme erheben, handeln oder folgen, helfen die [sic], damit das große Werk der Menschheit gefördert werde. Wir sind ein priesterliches Volk, dazu berufen, den großen geistigen Tempelbau rein zu halten und zu schmücken.“ 56 Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben (1829); in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften. Hg. v. H.-F. Traulsen unter Mitwirkung v. M. Ohst, Berlin/New York 1990 (KGA I/10), 337–394, 343: „[…] daß der Spruch Joh. 1,14. der Grundtext der ganzen Dogmatik ist.“ Für die Christozentrik der Theologie Schleiermachers ist außer dem Zweiten Sendschreiben vor allem das Predigtwerk relevant. Vgl. Schleiermacher, Predigten 1809– 1815, 214 („Christus muß immer der erste und letzte seyn, der alleinige Zweck und alles andre nur Mittel, um ihn darzustellen“); 598 („Der Erlöser ist der Mittelpunkt unserer Weltbetrachtung.“); 601; 658 („Und dieses Leben in Gott ist uns Christen immer ganz besonders ein Leben durch Christum und mit ihm, denn niemand kann den Vater sehen ohnedem ihn der Sohn will offenbaren, er ist es allein, der uns den Vater zeigt und in dem wir ihn sehen.“). 57 Vgl. Schleiermacher, Ethik 1812/13, 13. Vgl. a. a. O., 11: „die Anschauung der Natur gewordenen Vernunft“. 58 Vgl. a. a. O., 18: „Der ethische Prozeß geht erst an, nachdem das ideelle Princip dem reellen einwohnend unter der Form des vollendeten Bewusstseins, d. h. des Erkennens, also als Vernunft gegeben ist.“ 59 S. die Belege o. Anm. 45. 60 Schleiermacher, Dialektik, Teilband 1, 144. 61 A.a.O., 81.

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eine reale „Veranlassung der organischen Affection“62, um tatsächlich aktiv zu werden. Das führt zurück auf die Fünfte Rede und ihr Betonen des kontingenten Auftretens konkreter Religionsstifter, die genau diese Veranlassung abgeben, und belegt den Zusammenhang zwischen Schleiermachers Dialektik und seinem religionstheoretischen Frühwerk. Es ist daher folgerichtig, den im JohannesEvangelium formulierten Gedanken von der Fleischwerdung des Wortes nicht nur als Grundtext von Schleiermachers Dogmatik, sondern als argumentativen Ausgangspunkt seines gesamten, auch philosophischen Denkens anzusehen. Und wenn im Johannes-Evangelium das Eingehen Gottes in die irdische Wirklichkeit als Akt der Liebe interpretiert wird, so findet auch das in Schleiermachers philosophischer Ethik seinen Widerhall: „Die Liebe ist das Seelewerdenwollen der Vernunft, das Hineingehen derselben in den organischen Prozeß, so wie das Hineingehen der Materie in den organischen Prozeß Leibwerdenwollen ist.“63 Der Naturwerdung der Vernunft in der philosophischen Ethik entspricht in der Theologie die Fleischwerdung Gottes. Drei Gedankenkreise liegen somit im Sinne eines Wirklichkeitsverständnisses der Ethik Schleiermachers programmatisch zugrunde: der Entwicklungsgedanke, der Gemeinschaftsgedanke und der Inkarnationsgedanke. Fragt man nun, welchem der drei der eigentliche Primat bei Schleiermacher zukommt, so muss die Wahl auf den letzteren fallen. Jede Entwicklung setzt einen Ausgangspunkt voraus, in dem das, was sich prozesshaft entwickeln soll, zumindest keimhaft bereits angelegt ist. Aus einem Nicht-A kann sich keine Entwicklung zu A hin vollziehen. Gerade weil ihm der Entwicklungsgedanke wichtig ist, legt Schleiermacher in der Dialektik und der philosophischen Ethik so viel Wert darauf, dass die Vernunft immer schon der menschlichen Natur und Geschichte einwohnt: „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme. Die Ethik stellt also nur dar ein potenzirtes Hineinbilden und ein extensives Verbreiten der Einigung der Vernunft mit der Natur, beginnend von dem menschlichen Organismus als einem Theil der allgemeinen Natur, in welchem aber eine Einigung mit der Vernunft schon gegeben ist.“64 Daraus folgt, dass der Entwicklungsgedanke den Inkarnationsgedanken voraussetzt. Gleiches gilt für den Gemeinschaftsgedanken. Das Gesamtleben, das als Höchstes Gut Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist, muss 62 A.a.O., 116. Vgl. Schleiermacher, Ethik 1812/13, 31f: „Da der ganze sittliche Prozeß nicht mit dem Eintreten der Vernunft in die Natur ursprünglich beginnt, sondern die Vernunft schon in der Natur seiend gefunden wird, so kann auch das Eintreten der Glieder der Gegensäze in einander nicht beginnen, sondern muß schon ursprünglich gefunden werden, und dieses Gegebene muß die Basis des ethischen Prozesses sein.“ 63 Schleiermacher, Ethik 1812/13, 146f. 64 A.a.O., 9f (Hervorhebung FL). Vgl. a. a. O., 210: „Alles ethische Wissen also ist Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft.“

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einen Anhalt in der gegebenen Wirklichkeit haben, in dem die angestrebte Gemeinschaft bereits keimhaft Realität ist. Im Blick auf die christliche Vorstellung des Höchsten Gutes hat Schleiermacher dies folgendermaßen formuliert: „Wir sind uns aller im christlichen Leben vorkommenden Annäherungen an den Zustand der Seligkeit bewußt als begründet [!] in einem neuen göttlich gewirkten Gesammtleben, welches dem Gesammtleben der Sünde und der darin entwikkelten Unseligkeit entgegenwirkt.“65 Dieses „neue[] göttlich gewirkte[] Gesammtleben“ als Gemeinschaft der mit Gott versöhnten Menschen hat seinen Ursprung und zugleich sein maßstabsetzendes Urbild in der Person Jesu Christi, wobei diese, wie Schleiermacher gegen ein idealistisches Missverständnis seiner Theologie explizit betont, nicht als bloße Idee, sondern als geschichtlich wirksame, inkarnierte Erscheinung anzusehen ist.66 Das Identischwerden der Vernunft im Gesamtleben des Höchsten Guts setzt die individuelle, geschichtlich wirksame Inkarnation des Logos in Jesus Christus voraus. Dass diese Inkarnation geschehen ist und seither die Wirklichkeit prägt, begründet sowohl Schleiermachers Fortschrittsoptimismus wie auch sein Gemeinschaftsideal.

1.3

Schleiermachers Ethik des Politischen als Konsequenz dieses Wirklichkeitsverständnisses

Schleiermacher hat in einem Brief von seiner ersten Vorlesung zur Staatstheorie gesagt, sie sei „ein natürlicher Ausfluß meiner Ethik“67, und in der Tat liegt das so charakterisierte Wirklichkeitsverständnis auch seiner Ethik des Politischen zugrunde. Die auffälligste programmatische Beschreibung, die Schleiermacher seiner als Staatslehre konzipierten Ethik des Politischen gegeben hat, ist die Rede von der Entstehung und Entwicklung des Staats als Element im „Naturbildungspro65 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Teilband 2, 18 (Leitsatz §87). 66 Vgl. a. a. O., 41 (Leitsatz §93); 186 (§108,5). Im Anschluss schlägt Schleiermacher sehr schön den Bogen von der geschichtlichen Einwohnung Gottes in Jesus Christus zur „geschichtsbildenden“ Tätigkeit, d. h. zur Ethik: „Die Wirksamkeit Christi ist also hier nur in der menschlichen Mittheilung des Wortes, aber nur in der dieser, sofern sie das Wort Christi fortbewegt, einwohnenden göttlichen Kraft Christi selbst […]. Ist nun in diesem Sinn alles von dem ersten Eindrukk der Verkündigung Christi auf das Gemüth bis zur Befestigung im Glauben, was nur zur Bekehrung beiträgt, Wirksamkeit Christi: so sind auch diese göttlichen Gnadenwirkungen übernatürlich, sofern sie auf dem Sein Gottes in der Person Christi beruhn und von diesem auch wirklich ausgehen; aber sie sind zugleich geschichtlich und geschichtbildend also natürlich, sofern sie im allgemeinen an das geschichtliche Leben Christi naturgemäß gebunden sind, und auch einzeln jede eine neue Persönlichkeit begründende Wirkung auch ihr Werk an den geschichtlichen Zusammenhang aller Wirkungen Christi anknüpft“ (a. a. O., 187). 67 Zit. Jaeschke, Einleitung, XXIV. Vgl. Jaeschke, Politischer Denker, 311.

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zeß“.68 Dass sich hierin Schleiermachers entwicklungsgeschichtliche Sicht der Wirklichkeit widerspiegelt, ist offensichtlich. Es handelt sich um einen Prozess, der sich „in beständiger Entwikkelung“69 befindet. Innerhalb dieses Prozesses der Vernunftwerdung der Natur steht der Staat – unterschieden von Religion und Wissenschaft, die mehr auf die Gestaltung der inneren Seite des Menschen zielen – für die „Bearbeitung der Natur“70. „Auf der äusserlichsten Spitze ist also der Staat die Bezähmung der äussern Natur und die Dienstbarmachung derselben, so weit nur irgend eine Möglichkeit in ihr liegt, dem menschlichen Daseyn dienen zu können.“71 Insofern ist seine Entstehung ein entscheidender Schritt in der Freiheitsgeschichte, in der der Mensch zu sich selbst kommt.72 Schleiermachers Lehre von der Staatsentstehung gehört in die Tradition der Bewusstseinsphilosophie des Deutschen Idealismus, doch markiert er ihre Stellung in dieser Tradition, indem er betont, dass „wir die Entstehung des Staats als einen Schöpfungsproceß ansehen[,] als etwas misterieuses (was auf Religion beruht)“, ohne dass damit gesagt sein soll, „daß die Entstehung ein Wunder sey, und außer der natürlichen Bildung, Entwikkelung, liege“.73 Der Vorgang ist nicht widervernünftig, aber auch nicht rein vernünftig, sondern braucht ein kontingentes Moment, das Schleiermacher mit dem Schöpferwirken Gottes in Verbindung bringt. Im Hintergrund deutlich sichtbar ist der Gedanke der „Veranlassung der organischen Affection“ aus Schleiermachers Dialektik.74 Der Staat trägt aktiv zum guten Leben, zur Menschwerdung des Menschen bei. Schleiermacher bezieht sich in diesem Zusammenhang positiv auf die aristotelische Staatsphilosophie, mit der wichtigen Einschränkung allerdings, dass der Staat allein „die äussere Seite“ betrifft.75 Hierin liegt die systematische Wurzel von Schleiermachers Eintreten für Meinungsfreiheit und für seine Kritik an einer 68 Der Begriff begegnet gehäuft in den ersten Abschnitten der Vorlesung von 1817, Nachschrift Varnhagen (vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 213; 216; 222; 224; 227; 255). Beleg im Manuskript Schleiermachers: a. a. O., 86. 69 A.a.O., 216. 70 A.a.O., 211. 71 A.a.O., 212. 72 Vgl. a. a. O., 390: „Der Staat ist der Anfangspunkt eines ganz neuen Lebens, der Punkt von welchem erst die persönliche Freyheit des Menschen selbst anfängt, indem er früher nur Sache der Natur war.“ 73 Ebd. Für das „Mysteriöse“ der Staatsentstehung vgl. noch ebd.: „Das Entstehen des Staats, des Gegensazzes zwischen Obrigkeit und Unterthan können wir nur einem höhern Impuls zuschreiben, und in so fern dieses ein Recht begründet, so ist das Recht ein göttliches Recht.“ 74 S.o. bei Anm. 62. Hier liegt zugleich die Wurzel für die von Jörg Dierken hervorgehobene Differenz zwischen Schleiermachers und Hegels Staatstheorie: Der Staat wird bei Schleiermacher nicht deduziert ( Jörg Dierken, Staat bei Schleiermacher und Hegel. Staatsphilosophische Antipoden?; in: Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses im März 2006, 395–410, insbes. 402). 75 Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 211.

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von Seiten des Königs forcierten Liturgiereform. Die Regierung muss sich der Grenzen staatlicher Tätigkeit bewusst sein. Dennoch: Der Staat hat für Schleiermacher eine wichtige positive Kulturfunktion, und das theologisch weit verbreitete Verständnis als bloßer „‚Sicherungs-Anstalt gegen Unrecht von aussen und von innen‘“ lehnt er ausdrücklich ab.76 Der Staat ist notwendiges Element in der sittlichen Entwicklung der Menschheit hin zum Höchsten Gut.77 Auch die Orientierung von Schleiermachers Staatslehre am Gemeinschaftsideal ist deutlich, denn innerhalb des allgemeinen Naturbildungsprozesses steht die Staatsbildung für ein bedeutsames Moment der Vergemeinschaftung, der „Vereinigung der Kräfte“.78 Der Gemeinschaftsgedanke ist für Schleiermachers Vorstellung von der vorzugswürdigen Gestaltung des staatlichen Lebens enorm wichtig. Vieles, wenn nicht alles in seiner Staatsethik steht unter dieser Prämisse. Zwar ist der Staat gegenüber anderen Gemeinschaftsformen durch den „Gegensaz von Obrigkeit und Unterthanen“79 charakterisiert, doch besteht das Ziel gelingender Politik gerade darin, innerhalb dieses Gegensatzes eine größtmögliche wechselseitige Identifikation mit dem Staat als gemeinsam geteilter und geschätzter Lebensform herbeizuführen. In diesem Sinne hat sich Schleiermacher beispielsweise für eine Steuerpolitik ausgesprochen, die von Seiten der Untertanen das Besteuert-Werden geradezu als ein Recht empfinden lässt.80 Der normative Anspruch, dem die Ethik Schleiermachers jeden Menschen unterwirft – selbstzentrierte Interessen zugunsten des gemeinschaftlichen Werks zurückzustellen81; nicht eine „Beute des Augenblikes“82 zu werden, sondern, dem Vor-

76 A.a.O., 210. Da dieses Verständnis das traditionell reformatorische ist, wird es der Sache nicht ganz gerecht, wenn Leonhardt Schleiermachers Staatstheorie auf die Formel bringt: „die reformatorische Obrigkeitsauffassung durch partizipative Elemente angereichert“ (Rochus Leonhardt, Politische Ethik bei Schleiermacher und Luther; in: ders./Chr. Danz [Hg.], Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2008 [TBT 134], 95–121, 120). Ohne Anhalt an den Reformatoren ist Schleiermachers Auffassung gleichwohl nicht, und es wäre interessant, einen Vergleich durchzuführen, der auf das Thema „Bildungsverantwortung des Staates“ zugespitzt ist. 77 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 267: der „Ursprung des Staates“ ist „eine nothwendige, unbewußte, sittliche Naturerscheinung“. 78 A.a.O., 213: „Die Vereinigung der Kräfte zur Naturbildung für die Vernunft bildet also den Staat.“ Vgl. a. a. O., 390: „Der erste Anfang des Staats kann in nichts anderm gesucht werden, als in einem Bewußtseyn der geselligen Verhältniße.“ 79 Schleiermacher, Ethik 1812/13, 94. 80 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 351: „Auch hört bei einer solchen Besteuerung [sc. nur gewisser Gewerbe] das allgemeine Bewußtseyn auf, das in jedem Einzelnen über seine Verbindung mit dem Ganzen seyn soll, und das seine Vaterlandsliebe eben durch das gegenseitige Geben und Empfangen anfachen soll. Von dieser Seite aus darf sich der Einzelne sogar nicht das Recht nehmen lassen, besteuert zu werden.“ 81 Vgl. Schleiermacher, Predigten 1809–1815, 73 (Gebet am Ende der Predigt vom 16. 5. 1810). 82 A.a.O., 171 (Predigt vom 30. 9. 1810).

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bild Jesus Christus folgend83, eine Haltung der stetigen, dienenden Liebe zu praktizieren; der Gerechtigkeit als heiligster Pflicht zu dienen und das Recht zu achten84 – gilt a fortiori auch dem Menschen als Bürger und Untertan seines Staates. Er gilt aber auch für den König: Auch er hat sich von den „Verblendungen des Eigennuzes“ freizuhalten und stets „die Wohlfahrt des Ganzen“ als Ziel seiner Tätigkeit im Auge zu behalten.85 Schleiermacher argumentiert denn auch mit der Sorge für eine „Gemeinschaftlichkeit […] in der Gesetzgebung“, die dem König obliegt, für eine gesetzgebende Verfassungsversammlung,86 nicht ohne hinzuzufügen, dass eine Verfassung auch in dessen eigenem Interesse liegt, „indem sie gerade das Interesse zu Revolutionen gegen die Dynastie zerstört“87. Die Zuerkennung politischer Mitverantwortung an ein Parlament bedeutet keine Schwächung des Königs, sondern seine Stärkung durch die dadurch bewirkte Identifikation der Bürger mit der staatlichen Ordnung. Analog verläuft die Argumentation für die Zuerkennung bürgerlicher Rechte durch den König. Schleiermacher erinnert an das Eintreten Friedrichs II. für Gewissensfreiheit und beschwört seine Zeitgenossen: „Darum war auch soviel Liebe zu dem Ganzen herrschend welches diese edle Freiheit sicherte, eine Liebe die noch in uns Allen lebt und am mächtigsten wieder erwachen wird wenn jemals jener Freiheit Gefahr drohen sollte.“88 Gelingende Politik geschieht mit den Bürgern, nicht gegen sie.89 Es ist Aufgabe des Staates, zur Weiterentwicklung dieser „Liebe zu dem Ganzen“ beizutragen. Eine Auffassung, die den Staat im Sinne der Vertragstheorie als Aggregat von Einzelinteressen versteht, lehnt Schleiermacher daher ab: Der Staat ist keine „kunstreiche Maschine“90; dem Wesen seiner Entstehung 83 Vgl. a. a. O., 83f (Predigt vom 31. 5. 1810); 269 (Predigt vom 17. 2. 1811). 84 Vgl. a. a. O., 194 (Predigt vom 11. 11. 1810) und 196 (Predigt vom 11. 11. 1810). Zum Gemeinschaftsaspekt des Rechts vgl. z. B. Schleiermachers Rede vom Gesetz als „Willen der Gesammtheit“: Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 218. 85 Zitate: Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 405f (Predigt vom 24. 1. 1808). 86 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 307: „Hier muß es nun dem Könige die erste Sorge seyn, eine Gemeinschaftlichkeit, zur Befestigung der Ruhe und Sicherheit, in der Gesetzgebung zu erhalten, und es zeigt sich neuerdings wie irrig ist, hierin eine Beschränkung seiner Macht zu finden, die ebendadurch befestigt und begründet wird.“ 87 A.a.O., 311. 88 Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 414 (Predigt vom 24. 1. 1808). 89 Hier steht auch Schleiermachers Bildungstheorie im Hintergrund. Vgl. Schleiermacher, Ethik 1812/13, 101: „Der Staat, welcher nur in der Lebendigkeit und dem Reichthum des Bildungsprozesses sich fühlt, muß nothwendig wollen die Erhaltung und das Wachsthum der Sphäre jedes Einzelnen.“ 90 Vgl. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 248 (Predigt vom 24. 8. 1806): „Man hält den Staat für eine kunstreiche Maschine, um von außen die Gewalt abzuhalten, und von innen den nachtheiligen Folgen fehlerhafter Neigungen entgegenzuarbeiten“. Demgegenüber Schleiermacher (a. a. O., 249): „Laßt uns vielmehr sehen wie er uns Anhänglichkeit und Diensteifer für das Vaterland empfiehlt, und laßt uns suchen ein Vorurtheil zu zer-

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als „nothwendige, unbewußte, sittliche Naturerscheinung“91 wird die Vertragstheorie nicht gerecht. Dies führt uns auf das inkarnatorische Element in Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis, das ebenfalls in seiner Theorie des Politischen voll präsent ist. Wenn oben in der Einleitung gesagt wurde, Schleiermacher verstehe das Politische konsequent als Staatslehre, so ist das nur die halbe Wahrheit. Denn hinter dem Staat – sofern er jedenfalls nicht schon ab ovo ein misslingender Staat ist – steht, als seine „natürliche“ Grundlage, „die Einheit des Volkes“92. Nur als Nationalstaat in diesem Sinn wird der Staat seiner Bestimmung gerecht. Hier liegt die systematische Wurzel von Schleiermachers Patriotismus. Auch wenn dieser in der heutigen Auslegung von Schleiermachers Theorie des Politischen – gerade im Gegensatz zu seinem emphatischen Lob im deutschen Kulturprotestantismus vor 100 Jahren93 – eher ausgeblendet wird,94 so muss man doch seinen Fürsprechern darin Recht geben, dass dieser Patriotismus zutiefst in Schleiermachers Denken angelegt ist. „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme.“95 Der natürliche Anknüpfungspunkt für die Ethik im Bereich der Politik ist das Volk. Es ist „der Grund und die Bedingung des Staates […]. Alle Völker sollen Staaten werden und werden es auch, und es ist daher das wichtigste Ereigniss ihrer Entwikkelung der Staat, oder der festgestellte Gegensatz zwischen Unterthanen und Obrigkeit.“96 Insofern Gott „in den Veranstaltungen der Natur redet“97, erhalten Volk und Staat auf der Basis des Gedankens der inkarnierten

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streuen, das gewiß jezt mehr als je mit den verderblichsten Folgen droht.“ Explizit zur Vertragstheorie: z. B. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 276; Schleiermacher, Ethik 1812/13, 95f. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 276. „Aus dem bisher abgeleiteten geht aber hervor, daß der volle Begriff des Staats sich an die Einheit des Volkes knüpfe, und daß dies die Regel, jene abweichenden Erscheinungen aber die Ausnahmen sind“. A.a.O., 263. Vgl. Johannes Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren, Gießen 1908, z. B. 129; 304 („Schleiermachers Größe dagegen zeigte sich in den Tagen der tiefsten Erniedrigung seines Volks. Was er damals in glaubensfreudigem Optimismus und in klarer Erkenntnis der Schäden und Heilmittel des religiösen wie des nationalen Lebens als Prediger im evangelischen Gottesdienst für die Wiedergeburt Preußens geleistet hat, soll ihm vor allem die evangelische Kirche Deutschlands nie vergessen!“). Symptomatisch ist die einseitige Rede von „Schleiermachers Kosmopolitismus“ bei Dierken, Staat bei Schleiermacher und Hegel, 406. S.o. bei Anm. 64. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 224. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 262 (Predigt vom 24. 8. 1806): „Hierhin, würde sie [sc. die Kirche] sagen, bist du durch Gott selbst, der in den Veranstaltungen der Natur redet, gewiesen.“

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Vernunft göttliche Dignität. Schleiermacher geht in einer seiner Predigten so weit zu behaupten, daß jede menschliche Einrichtung inwiefern sie den Geist eines Volkes wesentlich und unverfälscht ausspricht, insofern eben so sehr ein göttliches Gesez und eine Offenbarung göttlicher Macht und Herrlichkeit ist wie jenes Gesez und jene Ordnungen denen das Volk des alten Bundes diesen Namen gab. Denn Gott ist es ja allein und unmittelbar der jedem Volk seinen bestimmten Beruf auf Erden anweiset, seinen besonderen Geist ihm einflößt [!] um sich so durch jedes auf eine eigenthümliche Weise zu verherrlichen.98

Auch wenn Schleiermacher vor dem Vorwurf geschützt ist, durch diese Vergöttlichung der Naturbasis des Staates jede Form obrigkeitlicher Politik religiös zu legitimieren – „dem Geist und der wahren [!] Bestimmung des Volkes gemäß“99 zu handeln, ist ihm gerade ein kritischer Maßstab der Politik; Herrschende können ihr göttliches Recht verwirken, und die eigentliche „sittliche Kraft“ liegt bei der Masse des Volks100 –, so zeigen sich an dieser Stelle doch die Gefahren eines Denkens, das die Präsenz Gottes im Gegebenen zum Ausgangspunkt nimmt. Keines der Argumente, die Schleiermacher zugunsten des Patriotismus und gegen den Kosmopolitismus101 anbringt, kann auch nur im Ansatz überzeugen. Wenn Schleiermacher die „Natur der Sache“102 anführt und in diesem Sinne mit der „gemeinschaftlichen Abstammung“103 argumentiert, um 98 A.a.O., 408 (Predigt vom 24. 1. 1808). Diese Predigt wird von J. Bauer ausführlich besprochen. Seine Auslegung ist völlig richtig: „Der Staat ist eine Einrichtung Gottes. Denn er beruht auf der Natur des Menschen: der Mensch ist ‚gesellig erschaffen‘. Ebenso ist der nationale Staat eine göttliche Einrichtung, denn er beruht auf der natürlichen und daher von Gott bestimmten Verschiedenheit der Sprache und Lebensweise der Völker“ (Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger, 217). 99 Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 408 (Predigt vom 24. 1. 1808). 100 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 276f: „Sagt man endlich, der Staat habe sein göttliches Recht, so ist dies allerdings wahr, denn es ist eine unbewußte sittliche Kraft, die in die Masse vordringen will; die Herrschenden verwirken aber dies göttliche Recht, wenn sie aufhören, die Masse zu durchdringen, und die in der Masse hervorgehende sittliche Kraft ist dann ein eben so göttliches Recht.“ 101 Vgl. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 255f (Predigt vom 24. 8. 1806): „Wessen Kurzsichtigkeit oder Hochmuth dieses [sc. das Volk] zu klein ist, wer anstatt auf sein Volk und mit seinem Volke zu wirken sich weiter ausstrekt und es gleich auf das Ganze des menschlichen Geschlechtes anlegt, der wird in der That erniedriget anstatt erhöhet zu werden. […] Die nun so mit weltbürgerlichem Sinne erfüllt auftreten, was haben sie wol hervorgebracht, als einzelne Verbesserungen in Dingen die zur Bequemlichkeit dienen, zum Erwerb, zur Sicherheit? […] wem zeigen sie sich verwandter in ihrem ganzen Wesen, als auf irgend eine geheime Art immer denen, die wegen eines unstäten Sinnes, wegen eines unüberwindlichen Mangels an Tüchtigkeit und Beharrlichkeit sich keines Vaterlandes erfreuen.“ 102 A.a.O., 256. 103 A.a.O., 253. Vgl. Schleiermacher, Predigten 1809–1815, 8f (Predigt vom 15. 1. 1809): „Dies aber ist die Gesinnung, welche unter allen Völkern, in deren Adern deutsches Blut wallet, alle

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das gottgewollte Zusammenhörigkeitsgefühl in einer Volksgemeinschaft zu belegen, so ist das ein Biologismus, der schon in sich unplausibel ist und innerhalb von Schleiermachers eigenen Überlegungen – die gerade auf den Volksgeist abstellen – höchst inkohärent erscheint. Ein zweites Argument rekurriert ausdrücklich auf die Erfahrung: Nur diejenigen hätten Großes geschaffen, „die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen“104, was bei einem unparteiischen Blick auf die Menschheitsgeschichte als eine petitio principii Schleiermachers erscheint. Und drittens mobilisiert Schleiermacher die Bibel: Christus und Paulus hätten sich beide in besonderer Weise ihrem eigenen Volk verpflichtet gefühlt105 – ein Argument, das die Ausweitung des Geltungsanspruchs des Evangeliums auf alle Menschen, die gerade bei Jesus und Paulus geschieht, unzulässig beiseite lässt. Diese emphatische Verherrlichung der gottgegebenen Volksgemeinschaft, die sich nicht nur in den Predigten Schleiermachers findet106 und bis zur Rede vom „heiligen Krieg“ gegen die Truppen Napoleons gesteigert werden kann107, stellt

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Theile der Gesellschaft, die nur nicht in den bedauernswürdigsten Zustand der Abhängigkeit versunken sind, beherrscht“. In einer neueren Arbeit heißt es: „‚Völker‘ definierte Schleiermacher über deren Beruf, weder als ‚organische Einheit‘ noch durch einen Blutmythos. Vielmehr verband er über die Idee des Berufs des deutschen Volkes aufklärerische Geistesfreiheit mit lutherischer Gewissensfreiheit“ (Roland Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation, Gütersloh 2007 [Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 24], 32). Daran ist sicher richtig, dass Schleiermacher in der Tat keinen Blutmythos vertrat. Aber schon die Rede von einem spezifischen „Beruf“ des deutschen Volkes (samt des entsprechenden Überlegenheitsgestus gegenüber z. B. Franzosen oder Slawen) ist problematisch genug. Dass der Biologismus Schleiermachers an dieser Stelle verschwiegen oder schön geredet wird, ist wohl dem hagiographischen Zug der gegenwärtigen Schleiermacher-Renaissance geschuldet (s. auch o. bei Anm. 94). Das hat Schleiermacher nicht nötig. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 256. A.a.O., 264. Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 325f: „Jedes Volk hat seinen besondern Typus, d. h. ein verschiedenes Maass geistiger Functionen. Einen andern Typus aufdringen hiesse also nur, ein anderes Maass derselben erzwingen. Wie wenig dies möglich ist, zeigt sich schon historisch an den slawischen Nationen, die trotz der gleichen Bildungsmittel und des speculativen Characters des Christenthums niemals eine philosophische Tendenz wie die germanischen Nationen geäussert haben. Bei einem einzelnen Menschen möchte eine solche Bildung seines Naturtypus gelingen, bei einem Volke niemals.“ Vgl. Schleiermacher, Predigten 1809–1815, 565f (Predigt vom 28. 3. 1813): „Dieses nun, der Durchzug unsers Heeres zum Kampf, zum entscheidenden Kampf um das höchste und edelste, ist der Gegenstand, der, wie er gewiß uns Alle erfüllt und bewegt, uns besonders in dieser Stunde beschäftigen soll, damit auch für uns dieser heilige Krieg beginne mit demüthigend erhebenden Gedanken an Gott, damit ihm unsere Hoffnung und unsere Freude geheiliget werde.“ Dass gerade der demokratische Nationalismus, den Schleiermacher in solchen Aussagen vertritt, zu verheerenden Übersteigerungen Anlass geben kann, hat Michael Mann auf beklemmende Weise an Beispielen aus der politischen Geschichte des

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nicht schlechthin einen Fremdkörper innerhalb seiner Ethik dar. Dazu ist Schleiermacher ein viel zu systematischer Denker. Sein Patriotismus hat einen Anhaltspunkt in seiner Ethik, in Gestalt der Überzeugung, dass ein „Gegebenes“ die „Basis des ethischen Prozesses“ sein muss.108 Das zeigt einmal mehr, wie stark seine Ethik des Politischen in seiner allgemeinen Wirklichkeitsauffassung verankert ist. Es macht aber auch auf eine grundlegende Unklarheit im System Schleiermachers aufmerksam: Wird der normative Maßstab aus dem unabdingbaren naturhaften Ausgangspunkt des ethischen Prozesses entnommen oder aus dessen Zielpunkt, der universalen Gemeinschaft im Reich Gottes? Im Rahmen des prozessualen Reich-Gottes-Gedankens dürfte zwischen beidem eigentlich kein Widerspruch bestehen, und dass auch Schleiermacher dies so sieht, wird an den Stellen deutlich, wo er durchaus ein Menschheitsethos vertritt.109 Auch dafür gibt es einen naturhaften Anknüpfungspunkt: „das allgemeine Gefühl für alles was Mensch heißt“110. Es ist jedoch deutlich, dass sich in der normativen Orientierung an der Idee einer allgemeinen Menschheit die Vernunftwerdung der Natur viel besser ausdrückt als im Rekurs auf die Abstammungsgemeinschaft, dessen kruder Biologismus die Natur als solche zur Norm erhebt. Schleiermacher hat daher konsequenterweise seine Theorie des Politischen als Staats- und nicht als Volkstheorie entwickelt, wobei er die Staatenbildung als Stufe der Vernunftwerdung interpretiert. Gleichwohl hält er auch in den Vorlesungen an der engen Bindung der Staatsethik an die individuelle Bestimmung eines Volkes fest. Kosmopolitische Gedanken finden sich dort bestenfalls angedeutet, wo es um das Verhältnis der Staaten untereinander geht, und auch da bleibt Schleiermacher im Blick auf die Verwirklichungsmöglichkeit skeptisch.111 Dass gerade hier sein Glaube an die Überformbarkeit der natürlichen Antagonismen durch die einigende Kraft des Geistes Halt macht, stellt wenn auch keinen Fremdkörper, so doch eine Inkohärenz innerhalb seiner Ethik des Politischen dar. Die religiöse Aufladung des partikularen Volksgeistes als göttliche Offenbarung wie im obigen Zitat ist im inkarnatorischen Moment in Schleiermachers Denken zwar angelegt, verwechselt aber fälschlich den unvermeidlichen naturalen Ausgangspunkt des ethischen Prozesses mit diesem selbst. Dass Schleiermacher hier ein solcher Kategorienfehler unterlaufen ist, lässt sich aus den

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20. Jahrhunderts gezeigt. Vgl. ders., The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge UK/New York 2005. S. o. Anm. 62. S. o. Anm. 39. Schleiermacher, Predigten. Erste bis Vierte Sammlung, 258 (Predigt vom 24. 8. 1806). Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, 83: „Der allgemeine Staatenbund, der die gegenseitigen Verhältnisse der einzelnen Staaten ordnen sollte (abweichend von dem frühern Gebrauch) sezt eine große Kraft der Gesinnung voraus, wird aber selbst wenn diese wirklich da ist überflüssig und erscheint deshalb als eine unhaltbare Fiction. An die Sache selbst aber giebt es eine immer zunehmende Annäherung.“

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weltanschaulichen Voraussetzungen seiner Ethik des Politischen nicht erklären, sondern durch die nationale Erhebung in der Zeit der Befreiungskriege und durch die Popularität der Rede vom „Volksgeist“ in der romantischen Bildungswelt, namentlich in einer Rezeption entsprechender Vorstellungen Herders.112 Darin bleibt Schleiermachers Ethik des Politischen Kind ihrer Zeit – was auf seine Weise gerade einen zentralen Gedanken Schleiermachers bestätigt: das Verhaftetsein allen Denkens in seine „organisatorischen“, raum-zeitlichen Bedingungen.

2.

Karl Barth

2.1.

Die Frage nach der programmatischen Grundlage von Barths Ethik des Politischen in der Forschung

Auch Barths Ethik des Politischen soll zunächst von einem forschungsgeschichtlichen Blickwinkel aus betrachtet werden. Insgesamt steht die Ethik Barths rezeptionsgeschichtlich deutlich im Schatten seiner Dogmatik. Weiterhin ergibt sich bei einem Blick auf die relevanten Arbeiten, dass es – bis auf eine Ausnahme – kein Thema gibt, das bezüglich Barths Ethik des Politischen kontrovers diskutiert würde. Im Zentrum der vorhandenen Studien stehen die historisch-biographische Aufarbeitung von Barths Stellungnahmen zum Politischen oder vergleichsweise unkontroverse Einzelthemen.113 Die eine Ausnahme ist Barths Stellung zum Sozialismus. Hierüber wurde Barth selbst zu Lebzeiten immer wieder zur Rechenschaft gezogen. Die arbeiterfreundlichen bzw. unternehmerkritischen Einlassungen als Pfarrer von Safenwil oder das entschiedene Nein zum Antikommunismus in der Zeit des aufkommenden Kalten Krieges114 machten Barth bei vielen seiner Zeitgenossen zur persona non grata. Sie wirken bis in die Gegenwart nach.115 112 Zu Herders Theorie der Individuierung der Vernunft in verschiedenen Volkscharakteren vgl. Thomas Kirchhoff, Kultur als individuelles Mensch-Natur-Verhältnis. Herders Theorie kultureller Eigenart und Vielfalt; in: M. Weingarten (Hg.), Strukturierung von Raum und Landschaft. Konzepte in Ökologie und der Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse, Münster 2005, 63–106. Die Parallelen zu Schleiermacher sind mit Händen zu greifen. 113 Beispiele: einerseits Günther van Norden, Die Weltverantwortung der Christen neu begreifen. Karl Barth als homo politicus, Gütersloh 1997; Jehle, Lieber unangenehm laut; andererseits: Herbert Lindenlauf, Karl Barth und die Lehre von der „Königsherrschaft Christi“. Eine Untersuchung zum christozentrischen Ansatz der Ethik des Politischen im deutschsprachigen Protestantismus nach 1934, Spardorf 1988. 114 Der bekannte Spitzensatz Barths lautet: „Ich halte den prinzipiellen Antikommunismus für das noch größere Übel als den Kommunismus selber“ (Karl Barth, How My Mind Has

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In der theologischen Forschung verbindet sich die Kontroverse um Barths Stellung zum Sozialismus mit der Habilitationsschrift von Friedrich-Wilhelm Marquardt, die 1972 unter dem Titel: „Theologie und der Sozialismus. Das Beispiel Karl Barth“ veröffentlicht wurde.116 Marquardt stellt in dieser Arbeit zwei miteinander verbundene Hauptthesen auf. Zum einen behauptet er, Barths gesamte Theologie habe ihren Primat und ihr Ziel in der gesellschaftlichen, politischen Praxis.117 Zum anderen versucht Marquardt zu belegen, dass die so ausgerichtete Theologie Barths unter einem „deutlich erkennbaren und nachzuweisenden Einfluß des Sozialismus“ gestanden habe.118 Marquardts Versuch, die Theologie Barths in dieser Weise und in bewusster Einseitigkeit vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist in der Barth-Forschung auf

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Changed. 1948–1958; in: ders., „Der Götze wackelt“. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960. Hg. v. K. Kupisch, Berlin 1961, 200–209, 201). Vgl. das Kapitel „Kirche im Sozialismus: Karl Barths Engagement für den Sozialismus in der DDR“ in: Erwin Bischof, Honeckers Handschlag. Beziehungen Schweiz – DDR 1960–1990. Demokratie oder Diktatur, Bern 2010, 135–155. Fazit: „Dass dazu [sc. zur atheistischen Kirchenpolitik der DDR] der weltbekannte Schweizer Theologe Karl Barth nicht nur geschwiegen, sondern durch seine unbedachten Äusserungen und kommunistenfreundliche Haltung noch einen aktiven Beitrag geleistet hat, ist mehr als ein öffentliches Ärgernis, es ist eine beschämende Fehlleistung eines hoch gebildeten Theologen“ (a. a. O., 150). Replik: Wolf Krötke, Die Religion wollte partout nicht absterben. Dem Theologen Karl Barth (1886– 1968) ist der Vorwurf gemacht worden, sich in den Dienst des Kommunismus gestellt zu haben. Eine Korrektur; in: ders., Karl Barth und der „Kommunismus“. Erfahrungen mit einer Theologie der Freiheit in der DDR, Zürich 2013, 9–20. Dass die Arbeit im gleichen politisch fiebrigen Zeitraum – Ende der 1960er Jahre – und am gleichen Ort – Kirchliche Hochschule Berlin – wie die oben angeführte SchleiermacherUntersuchung Yorick Spiegels entstanden ist, ist ein erwähnenswertes Faktum. Beiden gemeinsam ist die Kritik an einer „bürgerlichen“ Theologie: Schleiermachers Theologie wird von Spiegel als eine solche identifiziert und dafür gerügt, während Marquardt Barth als Kritiker des „Bourgeois“ (Marquardt, Theologie und Sozialismus, 189) und dessen Bemächtigung Gottes darstellt und lobt: „Ein in diesem Sinne a-seistischer ‚Gott‘ wäre in Wirklichkeit bürgerlicher aggiornamento-, Anpassungs-Gott“ (ebd.). Dass in der Bestreitung bürgerlich-konservativ-liberaler Anpassung das eigentlich leitende Interesse seiner Beschäftigung mit Barths Theologie besteht, hat Marquardt in aller wünschenswerten Deutlichkeit attestiert: „It is of both scholarly and political interest to rescue Karl Barth from the clutches of conservative or liberal social forces which misuse his theology as an apolitical legitimation for existing relationships or for the glossing over of real political conflicts through a cheap reconciliation“ (Friedrich-Wilhelm Marquardt, Socialism in the Theology of Karl Barth; in: Karl Barth and Radical Politics. Edited and Translated by G. Hunsinger, Philadelphia PA 1976, 47–76, 74 [das Zitat entstammt einem 1974 geschriebenen „Afterword“]). Spiegel und Marquardt gemeinsam ist auch, wie wir hinsichtlich Marquardts noch sehen werden, die Frage nach dem in der jeweiligen Theologie vorausgesetzten allgemeinen Wirklichkeitsverständnis. Vgl. z. B. Marquardt, Theologie und Sozialismus, 280 („Es ist unmöglich, die dialektische Theologie nicht aus der ihr entsprechenden und sie begründenden Praxis verständlich zu machen.“); 313 („die Allgewalt des Gesellschaftlich-Politischen im Denken Barths“). A.a.O., 15. Vgl. a. a. O., 37: „Die Inversion des Sozialismus in die Theologie Barths“.

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wenig Gegenliebe gestoßen. Die Arbeit wurde an der Kirchlichen Hochschule Berlin trotz der Fürsprache von Marquardts Lehrer Helmut Gollwitzer nicht als Habilitationsleistung angenommen, und auch nach der Veröffentlichung hagelte es Kritik.119 Bis heute haben nur wenige die Thesen Marquardts positiv rezipiert.120 Zu deutlich steht es – bei aller fraglosen Sympathie Barths für den Sozialismus – im Widerspruch zum Selbstzeugnis Karl Barths, eine politische Richtung als Hauptimpulsgeber seines gesamten theologischen Schaffens zu betrachten. Dennoch lassen sich zwei Punkte benennen, an denen der Gang der jüngeren Barth-Forschung Marquardt unausgesprochen Recht zu geben scheint. Die erste genannte These – Primat der Praxis über die Theorie – ist nachträglich in eigenständiger Weise erneuert worden durch Georg Pfleiderer, der die gesamte Theologie Barths als praktische, auf Veränderung zielende Theologie deutet. Allerdings ordnet Pfleiderer Barth politisch eher den „antimodernen“ Kritikern der Weimarer Republik zu und sieht Barths Veränderungsimpuls primär nicht auf die politische Welt, sondern auf die Kirche zielen.121 Ein zweites Indiz für ein neu erwachtes Interesse an der Praxisrelevanz von Barths Theologie ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Monographien zu Barths Ethik erschienen ist.122 Dabei zeichnet sich nicht nur der Trend ab, dass die BarthForschung ihr Zentrum heute nicht mehr in Deutschland, sondern in den angelsächsischen Ländern hat. Systematisch wichtiger ist die Beobachtung, dass dieses neue, ja eigentlich nie da gewesene Interesse an Barths Ethik mit deren Praxisrelevanz zu tun hat. Die Zuwendung zu Barth geschieht explizit in einer Zeit der Krise123, in einer „world at risk“124, weil man sich von einer Theologie, die 119 Vgl. z. B. Hermann Diem, Der Sozialist in Karl Barth: Kontroverse um einen neuen Versuch, ihn zu verstehen; in: EvKomm 5 (1972), 292–296. 120 Vgl. z. B. George Hunsinger, Conclusion: Toward a Radical Barth; in: Karl Barth and Radical Politics. Edited and Translated by George Hunsinger, Philadelphia PA 1976, 181– 233; Ulrich Dannemann, Theologie und Politik im Denken Karl Barths, München/Mainz 1977 (GT.S 22); Sabine Plonz, Die herrenlosen Gewalten. Eine Relektüre Karl Barths in befreiungstheologischer Perspektive, Mainz 1995. 121 Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000 (BHTh 115): „Theologie als Konstituierung der theologischen Avantgarde (1917–1924)“ bzw. „Theologie als Konstituierung der kirchlich-dogmatischen Elite“ (a. a. O., 447; 449). Die Verbindung von Theologie und gesellschaftsverändernder Praxis dürfte die einzige Gemeinsamkeit der Arbeiten von Marquardt und Pfleiderer sein. 122 Vgl. den Überblick bei Alexander Massmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden. Karl Barths Ethik, Leipzig 2011 (ÖTh 27), 11f Anm. 2. Maßmanns Buch gehört selbst in diese Reihe. 123 David Clough, Ethics in Crisis. Interpreting Barth’s Ethics, Aldershot UK/Burlington VT 2005. 124 David Haddorff, Christian Ethics as Witness. Barth’s Ethics for a World at Risk, Cambridge UK 2010.

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Dogmatik und Ethik eng miteinander verbindet125, theologisch begründete Handlungsimpulse verspricht.126 Auch im Blick auf dieses zweite Indiz sind die Autoren von Marquardt denkbar weit entfernt – sie sind an Barth gerade als Ausleger der theologischen Tradition und nicht als inversiertem Sozialisten interessiert. Und doch besteht Gemeinsamkeit darin, dass Barths Theorie eminent als Theorie für die Praxis gedeutet wird. Der zweite Punkt, an dem Marquardt durchaus als Vorreiter heutiger Interessen der Barth-Forschung angesehen werden kann, ist die Frage nach der Ontologie, die Barths Theologie zugrunde liegt.127 Marquardts Suche galt dem „Einheitspunkt“128 von Barths theologischem und politischem Engagement, und er fand ihn in der These vom „Vorrang des Handelns vor dem Sein“129. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Barthschen ‚Ontologie‘“130, setzt den Begriff „Ontologie“ allerdings in Anführungszeichen, um die Differenz zur Tradition deutlich zu machen, wenn Barth „den politischen Wirklichkeitsbegriff allen philosophischen und ontologisch-metaphysischen vorzieht“131. 125 Vgl. z. B. Daniel L. Migliore, Commanding Grace: Karl Barth’s Theological Ethics; in: Commanding Grace. Studies in Karl Barth’s Ethics. Edited by Daniel L. Migliore, Grand Rapids MI/Cambridge UK 2010, 1–25, 3: „through all the phases of his theological work, Barth viewed dogmatics and ethics as a seamless garment.“ 126 Vgl. für diesen zeitbedingt, „bedürfnisorientierten“ Zugang zu Barths Ethik Clough, Ethics in Crisis, XIII; 137 („We need more from ethics than a postmodern contentless norm, providing no power to identify injustice and no shape for our obedience, but we need less from ethics than a system that stands in the way of our listening for the Word of God by convincing us we already know what it will be.“). Maßmann hat das in den letzten 20 Jahren stark gestiegene Interesse an Barths Ethik in der englischsprachigen Theologie zu Recht mit einer postliberalen Relecture Barths in Verbindung gebracht (Massmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden, 334f), die insofern ein Krisenphänomen ist, als sie von vornherein auf eine argumentative, „öffentliche Theologie“ verzichtet und sich auf das Nach- und Neuerzählen der „story“ der Kirche und des sie begründenden Wortes Gottes beschränken will. Maßmanns eigener Versuch, im Gegensatz zur postliberalen Theologie gerade zu betonen, dass sich beim reifen Barth ein Aufbrechen der „fideistische[n] Isolation“ (a. a. O., 331) und ein Anknüpfen an „allgemeine[] empirische[] Arbeitshypothesen“ (a. a. O., 336) nachweisen lasse, ist freilich genauso krisen- und bedürfnisorientiert. Auch bei Maßmann steht die Wahrnehmung eines öffentlichen Bedeutungsverlusts der christlichen Kirche und Theologie im Hintergrund. Aber wo die postliberale Theologie aus dieser Not eine Tugend zu machen versucht, plädiert Maßmann für eine Rückgewinnung der öffentlich-diskursiven Dimension der Theologie. Dass beide Strategien sich auf Barths Ethik berufen, ist ein Beispiel für die enorm vielfältige Barth-Rezeption in der Gegenwart. 127 „Was durch das Marquardtsche Buch angestoßen worden ist, ist die Rekonstruktion der Konstruktion der Theologie Barths“ (Falk Wagner, Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth; in: Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths. Hg. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1975, 10–43, 10). 128 Marquardt, Theologie und Sozialismus, 28. 129 A.a.O., 19. 130 Ebd. 131 A.a.O., 313.

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Es geht Marquardt also entscheidend – wie Spiegel hinsichtlich Schleiermachers – um das Wirklichkeitsverständnis, das die konkrete Ethik des Politischen und gesamte Theologie Barths unterschwellig bestimmt. Die Barth-Forschung ist ihm nicht hinsichtlich der Antwort gefolgt, dass diese „Ontologie“ durch den Sozialismus geprägt ist. Wohl aber hat Marquardt hier eine Fragestellung benannt, die schon zuvor in einzelnen Studien in ihrer Relevanz für die BarthInterpretation erkannt worden war und auch seither immer wieder thematisiert worden ist.132 Eine Barth-Interpretation, die nicht einfach der Legende folgen will, Barth habe seine Inspiration allein aus der Bibel bezogen133, kann sich gar nicht davon dispensieren, nach den impliziten Leitgedanken zu fragen, die seine Theologie über die Jahre und in aller thematischen Vielfalt geprägt haben. Mit der Frage nach Wirklichkeitsverständnis und „Einheitspunkt“ sind wir nach dem Einstieg über die Forschungsgeschichte auch für Barth bei der Frage nach dem programmatischen Zentrum seiner Ethik angelangt.

132 Nachdem die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis Barths bereits in verschiedenen polemischen Entgegnungen auf die Dialektische Theologie in den 1920er Jahren erörtert worden war, wurde sie 1931 in wegweisender Sachlichkeit, wenn auch von der damaligen theologischen Öffentlichkeit weithin unbeachtet, zum Thema der Habilitationsschrift Dietrich Bonhoeffers (Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie [1931]. Hg. v. H.-R. Reuter, München 1988 [DBW 2]). Öffentlichkeitswirksam zum Thema gemacht wurde sie 20 Jahre später in von Balthasars einflussreicher Barth-Monographie (Hans Urs von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie [1951], Einsiedeln 41976). Weitere wichtige Arbeiten in chronologischer Folge: Manfred Josuttis, Die Gegenständlichkeit der Offenbarung. Karl Barths Anselm-Buch und die Denkform seiner Theologie, Bonn 1965 (AET 3); Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase (1965), Tübingen 41986; Horst Georg Pöhlmann, Analogia entis oder Analogia fidei? Die Frage der Analogie bei Karl Barth, Göttingen 1965 (FSÖTh 16); Wilfried Härle, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths kirchlicher Dogmatik, Berlin/New York 1975 (TBT 27); Bruce McCormack, Grace and being: the role of God’s gracious election in Karl Barth’s theological ontology; in: J. Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge UK 2000, 92–110; Paul T. Nimmo, Being in Action. The Theological Shape of Barth’s Ethical Vision, London/New York 2007. 133 Diese Legende ist zwar hier und da auch von Barth selbst, primär aber von seinen Freunden und Schülern verbreitet worden: „Als ein Ablesender und Auslegender steht Karl Barth schon in dieser Frühzeit vor uns: Die Tafeln der Heiligen Schrift sind vor ihm aufgerichtet, und die Bücher der Ausleger von Calvin über die Biblizisten bis hin zur modernen kritischen Bibelerklärung liegen aufgeschlagen. Das ist die Quelle damals und bis heute, aus der seine ganze Theologie schöpft“ (E. Thurneysen, Die Anfänge. Karl Barths Theologie der Frühzeit; in: Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon/Zürich 1956, 831–864, 832). Eine solche Sicht widerspricht sowohl dem tatsächlichen Sachverhalt im Blick auf Barths Römerbrief-Auslegung als auch Barths eigenen hermeneutischen Überlegungen hinsichtlich der Unvermeidbarkeit des Rückgriffs auf „philosophische“ Kategorien.

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Das der Ethik Barths programmatisch zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis

„Die eigenartige Barthsche ‚Ontologie‘ muß sich eben auch in der Analyse seines Denkens, und diese wieder in der Beachtung des inneren Zusammenhangs von früh und spät, Römerbrief-Denken und dogmatischem Denken auswirken.“134 Dieser Forderung Marquardts an die Barth-Interpretation muss auch die Analyse von Barths Aussagen zur Ethik des Politischen gerecht werden. Die Analyse darf nicht bei den einzelnen, nicht immer widerspruchsfreien Einlassungen – der „ethischen Kleinmalerei“135 – stehen bleiben, sondern sie muss diese als zeitbedingte Konkretionen einer einheitlichen Sicht auf die Wirklichkeit im Ganzen herausarbeiten. Marquardt ist auch insoweit Recht zu geben, als dieses grundlegende Wirklichkeitsverständnis als „Einheitspunkt“ des Barthschen Denkens durch einen Primat des Dynamisch-Kontingenten („Handeln“) vor dem Statischen („Sein“) gekennzeichnet ist. Marquardts Analyse wird erst dort schief, wo er diesen Primat aus Barths Eintreten für den politischen Sozialismus ableitet. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis würde nicht nur dem lebenslangen Trachten Barths nach einer Selbstständigkeit des theologischen Denkens widersprechen, wobei dieses Trachten selbst wieder theologisch motiviert ist, nämlich in Barths durchgängigem Interesse, in seiner Theologie der Souveränität Gottes gerecht zu werden.136 Auch die durchaus kritische Solidarität Barths mit sozialistischen Ideen bliebe bei einer grundlegenden Abhängigkeit Barths von diesen Ideen unerklärt. Die Kritik Barths wird nur nachvollziehbar, wenn gezeigt werden kann, dass sein Eintreten für den Sozialismus Ergebnis einer höher bewerteten Überzeugung war, aus der sich ein kritischer Maßstab für das Pro und Contra zum Sozialismus erst ergab. Dies zu zeigen, ist in der Tat möglich und wird im nächsten Abschnitt unternommen. An dieser Stelle soll jedoch zuvor, bevor es um Barths konkrete politische Stellungnahmen geht, diese höherwertige Überzeugung in Form eines umfassenden Wirklichkeitsverständnisses beschrieben werden. Oben im Text wurde es im Anschluss an Marquardt thetisch bestimmt als: Primat des Dynamisch-Kontingenten („Handeln“) vor dem Statischen („Sein“). Eine solche Grundentscheidung wird nicht nur durch Marquardts Analyse, sondern durch die gesamte Literatur, die sich überhaupt mit Barths „Ontologie“ beschäftigt, bestätigt. Das relevante Stichwort lautet „Aktualismus“. Schon Dietrich Bonhoeffer hatte in „Akt und Sein“ Barths Theologie gegenüber Bultmann durch eine 134 Marquardt, Theologie und Sozialismus, 29. 135 S.o. Anm. 9. 136 Vgl. [ Johann] Friedrich Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im „Römerbrief“ und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, Berlin/New York 1995 (TBT 72), 361–375.

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„Auslegung der Offenbarung auf Aktbegriffe“ charakterisiert.137 Direkt von einem „Aktualismus“ sprechen dann von Balthasar und Pöhlmann in ihren Barth-Interpretationen.138 Viel ist über den möglichen ideengeschichtlichen Hintergrund spekuliert worden. Pöhlmann etwa meint, der „Aktualismus“ Barths „könnte […] im deutschen Idealismus, aber auch in der Theologie Luthers wurzeln“.139 Ich selbst habe auf die auch biographisch nahe liegende Verbindung zum „Dynamismus“ der Marburger Neukantianer aufmerksam gemacht, zugleich aber auf das theologische Motiv hingewiesen, das allen Rezeptionsleistungen Barths zugrunde liegt.140 Nichts spricht dagegen, die These vom Vorrang des Aktes vor dem Sein im originären Zusammenhang von Barths eigenen systematisch-theologischen Reflexionen zu verorten. Der bereits erwähnte Gedanke der Souveränität Gottes machte Barth skeptisch gegen jede Sicht auf die Wirklichkeit, die der Freiheit Gottes Schranken von außen her auch nur auferlegen könnte. Hier liegt der Hintergrund von Barths Vorbehalten gegenüber der Rede von einer analogia entis zwischen Gott und seiner Schöpfung, denn in Barths Augen würde es eine empfindliche Einschränkung der göttlichen Selbstbestimmung in seinem Handeln bedeuten, wenn dieses Handeln von vornherein von den Strukturen des geschöpflichen Seins aus gedacht würde.141 Gottes Freiheit wäre dann eingeschränkt durch das, was im Rahmen der Strukturen dieses Seins als denkmöglich erscheint – auch dann, wenn im Sinne der traditionellen Gotteslehre via negationis oder via eminentiae bewusst versucht wird, diese Einschränkung aufzuheben. Auch die als pure Negation der geschöpflichen Endlichkeit gedachte UnEndlichkeit bleibt dieser Geschöpflichkeit verhaftet und insofern eine „schlechte Unendlichkeit“ – ein Terminus, den schon lange vor Barth Hegel geprägt hat.142 137 138 139 140 141

Bonhoeffer, Akt und Sein, 75–99. Von Balthasar, Karl Barth, z. B. 73; Pöhlmann, Analogia, 110. Pöhlmann, Analogia, 110. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, v. a. 309; 403. Zu Barths langjährigem Ringen mit dem Konzept der analogia entis vgl. als neuere Veröffentlichung: Amy Marga, Karl Barth’s Dialogue with Catholicism in Göttingen and Münster. Its Significance for His Doctrine of God, Tübingen 2010 (BHTh 149). Im Sinne der oben vorgeschlagenen Interpretation vgl. vor allem a. a. O., 175, mit Bezug auf die Erwählungslehre von KD II/2: „The prior reality to creaturely life is not a general notion of being, but the reality of God’s electing and reconciling action. God’s free act of grace is sovereign even over the concept of ‚being‘ itself.“ 142 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Neu hg. v. F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg 61959 (PhB 33), 112 (§94): „Diese Unendlichkeit ist die schlechte oder negative Unendlichkeit, indem sie nichts ist als die Negation des Endlichen“. Anzumerken ist, dass auch Schleiermacher eine solche vom Endlichen aus gedachte negative Vorstellung von Unendlichkeit vermeidet, wenn er in der Zweiten Rede formuliert, das Endliche sei aus dem Unendlichen „herausgeschnitten“ (vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band I, Göttingen 1988, 154f).

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Der Akzent auf dem Handeln Gottes versucht demgegenüber, Einschränkungen der göttlichen Handlungsfreiheit, die durch solche Vor-Bestimmungen gegeben wären, zu vermeiden. Barth ist sich bewusst, dass auch dieser Versuch schnell umschlagen kann in eine denkerische Bemächtigung Gottes.143 Seine Vorbehalte gegenüber einem theologischen „System“ – auch wenn es nun dezidiert nicht beim Sein, sondern beim kontingenten Handeln Gottes ansetzt – sind hier verortet. Die Rede von einem Barthschen „Aktualismus“, die wie bei jedem „-ismus“ eine gedankliche Verabsolutierung ausspricht und latent zum Vorwurf macht, ist daher jedenfalls im Blick auf Barths eigene Intentionen unangebracht. Auch das Denken der Wirklichkeit vom göttlichen Handeln aus wird bei Barth nicht zum „System“, nicht zum „-ismus“. Denn Barth betont das göttliche Handeln gerade als SelbstBestimmung, wodurch den Handlungsmöglichkeiten Gottes Grenzen gesetzt werden und insofern einem „Aktualismus“ widersprochen wird. Nur sollen diese Grenzen eben keine sein, die durch die menschlichen Denkmöglichkeiten oder die Strukturen des geschöpflichen Seins, sondern von Gott selbst in seiner Souveränität sich selbst gesetzt werden. Entscheidende Kategorie dieser Selbstbestimmung und -beschränkung ist für Barth der Bund. Bruce McCormack hat daher mit Recht ausgehend vom Gedanken des „eternal divine act [!] of Selfdetermination“ den Bundesgedanken ins Zentrum des Barthschen Wirklichkeitsverständnisses gerückt und die Barthsche „covenant ontology“ der „essentialist ontology presupposed by the Catholic tradition“ gegenübergestellt.144 Barth führt diesen Primat des erwählenden Handelns bis in das Sein Gottes selbst zurück, nämlich in das Verhältnis der trinitarischen Personen zueinander.145 Barths „aktualistische“ Ontologie ist eine Konsequenz seiner Gotteslehre, die ganz von der Ur-Handlung des freien Sich-Bestimmens geprägt ist, in der die göttliche Freiheit von jeder Form geschöpflicher Freiheit geschieden ist. Das heimliche Zentrum der gesamten Barthschen Theologie ist die Gotteslehre.146 143 Der Vorwurf der Bemächtigung ist der argumentative Kern von Barths Kritik am Kulturprotestantismus: Dessen „ethisch-religiöse“ Einbettung der Theologie wird von Barth als Bemächtigung gedeutet, wobei ihm der Hinweis auf „Gott“ zur Legitimation der deutschen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg als augenfälligster Beleg dient. 144 McCormack, Grace and being, 109. 145 „Sodaß jene [innertrinitarische] Partnerschaft nicht etwa ein Erstes, Statisches ist, dem dann die so stattfindende Geschichte als ein Zweites, Dynamisches erst folgte, sondern indem da Partnerschaft ist, geschieht da auch Geschichte und indem da Geschichte geschieht, entsteht, erneuert sich da – fern von aller Erstarrung eines Seins, das nicht als solches auch Akt wäre – ewig auch die Partnerschaft: Gottes Sein als Vater und Sohn mit dem Heiligen Geist, der ihrer Beider Geist ist, in dessen ewigem Ausgang sie Beide tätig vereinigt sind. Diese Geschichte in Partnerschaft ist das Leben Gottes vor und über allem kreatürlichen Leben“ (Karl Barth, KD IV/2, Zürich 21964, 385). Vgl. Nimmo, Being in Action, 7. 146 An diesem Punkt stimme ich mit der Grundthese der „Münchener“ Barth-Interpretation überein. Vgl. z. B. Wagner, Theologische Gleichschaltung, 38: „Ansatz[] bei der unbe-

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Da mit dem Bund bzw. der Erwählung eine – von Gott kontingent herbeigeführte – neue Situation für den Menschen entstanden ist, kann auf dieser Basis auch das Sein des Menschen wieder neu eine Rolle für Theologie und Ethik spielen. „Da hat die Forderung ganz und gar den Charakter einer Erlaubnis, da mutet Gott ja dem Menschen wirklich nichts ihm Fremdartiges zu, sondern gerade nur das, daß er sei, was er ist: der von ihm geliebte Mensch, daß er sich aus freien Stücken bekenne als der, dem er sich aus freien Stücken zuerst zugewendet hat.“147 An Aussagen wie diesen zeigt sich die scheinbare Legitimität einer Auslegung von Barths Ethik, die sie an die Seinsethik des Aquinaten annähert. Matthew Rose hat einen entsprechenden Versuch vorgelegt.148 Sie bleibt gleichdingten Subjektivität Gottes“. Der Dissens beginnt dort, wo Rendtorff und seine Mitstreiter damit eine Tendenz zur (politischen) Illiberalität bei Barth verbinden („Züge von Gewaltherrschaft“, ebd.), und setzt sich fort in der daraus abgeleiteten Deutung des Verhältnisses Barths zur Neuzeit: Das spezifisch Neuzeitliche der Theologie Barths besteht aus meiner Sicht nicht im Ansatz bei der Freiheit Gottes (das gab es schon lange vor der Neuzeit, wenn man die Dinge nicht durch eine offenbarungsgeschichtliche Brille liest), sondern in der dadurch induzierten, alles beherrschenden Frage nach Gewissheit theologischer Erkenntnis. Vgl. Friedrich Lohmann, Gewissheit der Erkenntnis. Karl Barths Auslegung der reformierten Lehre im Kontext seines theologischen Programms; in: ThZ 63 (2007) 148–170. 147 Karl Barth, KD IV/1, Zürich 1953, 543. 148 Vgl. Matthew Rose, Ethics with Barth: God, Metaphysics and Morals, Farnham UK/Burlington VT 2010, z. B. 10: „In contrast to those who see Barth espousing act-deontology, situationalism or intuitionism, I understand him as endorsing a version of the Augustinian and Thomistic view that right living is in accord with created nature. To be good is to live in the truth about ourselves, to live in conformity with God’s intentions for created order. On my reading Barth thus holds God ought to be obeyed not out of mindless obedience but out of regard for our own good and true happiness.“ Vgl. schon zuvor Nigel Biggar, The Hastening that Waits. Karl Barth’s Ethics. With A New Conclusion, Oxford UK 1995, 162: „Creaturely being is not displaced by ‚Christian‘ conduct in Barth’s ethics. Nature is not abolished by grace; it is perfected by it.“ Beide Autoren interpretieren die Intention von Barths Ethik entsprechend. „Barth’s ethics, completely unmotivated by otherworldly aspirations, has almost therapeutic intentions“ (Rose, Ethics with Barth, 135). „At this point [sc. bei Beginn der Arbeit an der KD] the Kantian character of Barth’s ethic recedes even further, and reveals something basically eudaimonist: we should obey God’s command […] out of regard for our own best good, which this gracious God alone truly understands and which he intends with all his heart“ (Nigel Biggar, Barth’s Trinitarian Ethic; in: The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge UK 2000, 212–227, 215). Die Intention dieser seinsethischen, therapeutischen bzw. eudaimonistischen Lesart der Ethik Barths ist deutlich: Einerseits soll Barth an die aristotelisch-thomistische Tradition angenähert, andererseits der Vorwurf, Barths Theologie und Ethik habe einen autoritären Gestus, bestritten werden. Dieser an Barth gerichtete Vorwurf hat ja in der Tat eine lange Geschichte, die von den ersten Rezensionen des Barthschen „Römerbriefs“ über Bonhoeffers Diktum vom Offenbarungspositivismus („Friss, Vogel, oder stirb“) bis zur Rendtorff-Schule (für Belege vgl. Massmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden, 13 Anm. 5) reicht. In der Form des Verdachts und direkt auf Barths Ethik des Politischen bezogen begegnet diese kritische Lesart jüngst bei Rochus Leonhardt: „Das Fehlen jedes Versuchs, seine christologische Begründung des demokratischen Rechtsstaats zu säkular-naturrechtlichen Fundierungsansätzen in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, nährt aus gegenwärtiger Sicht den Verdacht, dass Barth

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wohl nur eine scheinbare Legitimität, weil für Barth die Möglichkeit, in dieser Weise auf die Strukturen des geschöpflichen Seins zurückzugreifen, die kontingente Bestimmung Gottes für seine Schöpfung im Akt des Bundesschlusses voraussetzt. Die „covenant ontology“ setzt – auch im Blick auf die Schöpfung als äußerer Grund des Bundes149 – eine „Auslegung der Offenbarung auf Aktbegriffe“150 voraus. Das Denken in situationsjenseitigen „Ordnungen“, mit dem die thomanische Ethik steht und fällt, hat gerade der Barth der Zeit der „Kirchlichen Dogmatik“ ausdrücklich verworfen. Wie Rose hat Alexander Maßmann die vom reifen Barth innerhalb der Schöpfungslehre entwickelte Ethik (KD III/4) ins Zentrum seiner Interpretation gerückt. Maßmann ist allerdings einen Schritt weiter gegangen, indem er KD III/4 als fundamentalen Neuansatz von Barths Ethik im Gegensatz zum in Barths Theologie zuvor vorherrschenden „aktualistischen Offenbarungsbegriff“ interpretiert, Barth ein Interesse am rationalen Diskurs mit den empirischen Wissenschaften zuschreibt und auf dieser Basis die nicht-autoritäre, „emanzipatorische Dimension“ der reifen Theologie Barths betont.151 Im Hintergrund steht dabei Maßmanns Interesse an einer „öffentlichkeitsfähigen Position […], die weder auf einem unhintergehbaren, je neuen Gebieten Gottes beruht noch auf der Annahme von allgemein verpflichtenden Schöpfungsordnungen“.152 Allerdings: so einsichtig dieses Interesse ist, so gewagt wirkt Maßmanns Interpretation. Er muss nicht nur einräumen, dass die postulierte „Beisetzung des Ak-

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an einem das Faktum des modernen Pluralismus theologisch ernst nehmenden christlichen Beitrag zum ‚Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen‘ (Eilert Herms) nicht ernsthaft interessiert war“ (Rochus Leonhardt, Äquidistanz als Götzendienst? Überlegungen zur politischen Ethik im deutschen Nachkriegsprotestantismus; in: Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie [11.–15. September 2011 in Zürich]. Hg. v. Chr. Schwöbel, Leipzig 2013 [VWGTh 38], 657–674, 662f). Zum Verhältnis von Schöpfung und Bund bei Barth vgl. Eberhard Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie. Eine Untersuchung zum Analogieverständnis Karl Barths (1962); in: ders., Barth-Studien, Zürich/Köln/Gütersloh 1982, 210–232, 218f. Jüngel deutet das Verhältnis als wechselseitiges Ermöglichen im Sinne der von Barth auch sonst hervorgehobenen analogia relationis und gibt dabei – so meine Deutung der Deutung Jüngels – dem Handeln Gottes im Sinne des inneren Grundes den Primat. Vgl. a. a. O., 219: „Die Schöpfung hat ‚als nach außen gewendetes Werk Gottes Anteil‘ an dem ‚Ja, in welchem er durch sich selbst Gott ist‘.“ Jüngel zitiert hier Karl Barth, KD III/1, Zollikon-Zürich 1945, 378. S.o. Anm. 137. Vgl. Maßmann, Bürgerrecht im Himmel und auf Erden, 197; 329 („Während der aktualistische Offenbarungsbegriff von einem weltlosen Gott handelt, ist im Gegensatz zur aktualistischen Ethik die emanzipatorische Dimension des Konzepts ‚Evangelium und Gesetz‘ neu zu entdecken.“); 336 („Barth meint in der Schöpfungsethik, dass eine einseitig christologisch argumentierende Ethik grundsätzlich nicht durchführbar ist, die von allgemeinen empirischen Arbeitshypothesen absieht“). A.a.O., 27.

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tualismus“153 in KD III/4 keine vollständige ist.154 Auch entwicklungsgeschichtlich wirkt es im Blick auf die Kontinuität im Denken Barths wenig plausibel, dass er in dieser Weise innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit zu einer völligen Revokation eines entscheidenden Moments seines vorausgehenden Theologisierens fortgeschritten sei. Hermeneutisch überzeugender ist es daher, nach Kontinuitäten im Denken Barths zu fragen und mit Paul Nimmo in der bisher umfassendsten Arbeit zu dem in Barths Ethik vorausgesetzten Wirklichkeitsverständnis im Anschluss an McCormack den Akt- und Bundesgedanken hervorzuheben.155 Allerdings spricht Nimmo durchgehend von Barths „actualistic ontology“ und übersieht damit die Vorbehalte, die oben aus Barths Sicht gegen die Rede von einem aktualistischen Wirklichkeitsverständnis geltend gemacht wurden. Nimmo kann sich zwar darauf berufen, dass die Worte „Ereignis“ und „Akt“ von Barth tatsächlich als ultimative Kategorien der Rede von Gottes Sein geltend gemacht worden sind.156 Doch will Barth gerade damit die souveräne Transzendenz Gottes zum Ausdruck bringen, die sich menschlichen Festlegungen entzieht. Es empfiehlt sich daher, anstelle von einem aktualistischen nur von einem akt-orientierten Wirklichkeitsverständnis bei Barth zu sprechen und den Aspekt der Akt-Orientierung durch den der Transzendenz-Orientierung zu ergänzen, wobei letzterer sogar der Primat zukommt, insofern Barths Insistieren auf dem frei handelnden Gott erst Ergebnis seines Pochens auf die Transzendenz Gottes ist. Gerade so lässt sich die Kontinuität im Denken Barths über die Jahrzehnte hinweg gut erfassen. 153 A.a.O., 201. 154 Vgl. z. B. a. a. O., 28: „Einzelne Akzente einer aktualistischen Ethik“. 155 Vgl. Nimmo, Being in Action, 13: „This book offers a systematic engagement with the ethical vision of Karl Barth as it follows the actualistic ontology with which he operates into his theological ethics. The book shows that, in the case of the Church Dogmatics, the structure and logic of his concerns are closely controlled by his actualistic ontology in three different spheres of theological ethics – the noetic, the ontic, and the telic.“ Zum Bundesgedanken vgl. Nimmos häufige Rede vom „covenant of grace“, z. B. a. a. O., 168: „In construing the Christian life in this way, Barth brings to the fore the truth that the Christian life is a life lived in action and self-determination in which the ethical agent is continually called to receive and correspond to her election. As such, it is a life lived in a history of continuous and continuing encounter with the God of the covenant of grace.“ Trotz der Überschneidungen in den Konkretionen ist gegen Rose die Differenz zwischen der „created nature“ oder dem „created order“ und dem „covenant of grace“ festzuhalten. Zur Unvereinbarkeit von Barths Ethik des Politischen mit römisch-katholischem Ordnungsdenken vgl. die Barth-kritischen Äußerungen in: Alexander Schwan, Karl Barths dialektische Grundlegung der Politik; in: Civitas 2 (1963) 31–71. 156 „Es geht um das Sein Gottes; aber eben hinsichtlich des Seins Gottes ist das Wort ‚Ereignis‘ oder ‚Akt‘ jedenfalls auch ein letztes, ein nicht zu überbietendes, noch irgendwoher in Frage zu stellendes Wort. Gottes Gottheit besteht bis in ihre tiefsten Tiefen hinein jedenfalls auch darin, daß sie Ereignis ist: nicht irgend ein Ereignis, nicht Ereignis im Allgemeinen, sondern eben das Ereignis seines Handelns, an welchem wir in Gottes Offenbarung beteiligt werden“ (Karl Barth, KD II/1, Zollikon-Zürich 1940, 294).

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Friedrich Lohmann

„Wenn ich ein ‚System‘ habe, so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den ‚unendlichen qualitativen Unterschied‘ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. ‚Gott ist im Himmel und du auf Erden.‘ Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem.“157 In diesem Sinn zunächst einmal von der kategorischen Differenz zwischen Gott und Mensch auszugehen, bestimmt nicht nur den Dialektischen Theologen Karl Barth in den 1920er Jahren. Es bestimmt ihn durch alle Phasen seines Schaffens hindurch, wobei die Differenz zugleich eine Wertungsdifferenz ist: Der widersprüchlich-sündigen Welt des Menschen wird die gute Welt Gottes als Urbild gegenübergestellt, dem sie im besten Fall „entsprechen“ kann.158 Sie ist „nur“ ein „Gleichnis“ der ewigen Wahrheit Gottes, die allein von Gott aus aufgerichtet und erkannt werden kann.159 Noch in den letzten Aufzeichnungen für die „Kirchliche Dogmatik“ hat Barth in diesem Sinne die zweite Bitte des Vater Unser ausgelegt. Das Reich Gottes ist „in seinem konkreten Inhalt und Umriß keinem sonstigen Geschehen gleich und vergleichbar, kein schon Dagewesenes. Es ereignet sich, von der Möglichkeit alles sonstigen Geschehens her gesehen, schlechthin unerwartet und unbegreiflich. Es durchbricht die Ebene alles Bisherigen senkrecht von oben her.“160 Dieses Distanzpathos ist in den späten Aufzeichnungen wie immer bei Barth gegenüber menschlichen Bemächtigungsversuchen begründet im Wahrenwollen der Souveränität Gottes, das dann gleichzeitig der Grund dafür ist, dass die Kategorie des göttlichen Handelns gegenüber der des Seins auch hier ins Zentrum rückt: Das 157 Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922. Hg. v. C. v. d. Kooi u. K. Tolstaja, Zürich 2010 (Karl Barth-Gesamtausgabe II), 16f (ältere Ausgaben: XIII). 158 Zur insbesondere für Barths Ethik entscheidenden Kategorie der „Entsprechung“ vgl. z. B. Karl Barth, KD III/2, Zürich 1948, 390f: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, in Entsprechung zu diesem seinem eigenen Sein und Wesen, nach eben dem Bilde, das auch in seinem Werk als Schöpfer und Herr des Bundes sichtbar wird. […] Über die Ungleichheit in der Gleichheit dieses Gleichnisses soll nun kein Wort mehr verloren sein. Es liegt auf der Hand, daß es um mehr als um Analogie, d. h. aber um mehr als Gleichheit in der Ungleichheit nicht gehen kann.“ Zur Aufhellung der verschiedenen Ebenen, in denen Barth von Entsprechung und Analogie spricht, vgl. Jüngel, Möglichkeit theologischer Anthropologie. 159 Karl Barth, Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief; in: Anfänge der dialektischen Theologie Teil I. Hg. v. J. Moltmann, München 51985 (ThB 17/I), 333–345, 343: „Gleichnis nur kann alles ‚Werden‘ sein gegenüber der Geburt vom Tode zum Leben, durch die wir allein – aber nur auf dem Wege, den Gott selbst geht und ist – von der Wahrheit des Menschen zu der Wahrheit Gottes kommen.“ 160 Karl Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961. Hg. v. H.-A. Drewes u. E. Jüngel (1976), Zürich 21979 (Karl Barth-Gesamtausgabe II), 402. Die gesamte Auslegung der zweiten Bitte ist in diesem Sinn von einem Distanzpathos gekennzeichnet. Vgl. vor allem noch a. a. O., 405f: „Das Reich Gottes ist die große Neuigkeit am Rande – aber nicht innerhalb, sondern außerhalb des Randes des Horizontes alles unseres Anschauens und Begreifens“.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

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Reich Gottes ist und bleibt „Gottes eigenes, selbständiges, die ganze menschliche Geschichte von außen begrenzendes, ihr gegenüber souveränes und so sie bestimmendes und beherrschendes Handeln. Der Mensch kann und mag Vieles in Griff bekommen – das Reich Gottes niemals.“161 Gott selbst ist „diese dynamische Wirklichkeit sondergleichen“: sein Kommen.162 Es ist das Bestehen auf der Souveränität Gottes und das daraus abgeleitete zugleich transzendenz- wie akt-orientierte Wirklichkeitsverständnis, das Barths gesamter Theologie seit dem Bruch mit seinen akademischen Lehrern 1914163 das Gepräge gibt. Dass dies auch für Barths Aussagen zur Ethik des Politischen gilt, soll im nächsten Abschnitt exemplarisch gezeigt werden.

2.3

Barths Ethik des Politischen als Konsequenz dieses Wirklichkeitsverständnisses

Es kann hier nicht Aufgabe sein, Barths konkrete Stellungnahmen zu Themen des politischen Lebens entwicklungsgeschichtlich nachzuerzählen. Das würde den Rahmen sprengen und ist auch bereits von anderen unternommen worden.164 Es soll vielmehr versucht werden, ausgehend von Barths Stellung zum Sozialismus nachzuweisen, wie das eben umrissene Wirklichkeitsverständnis Barths seinen politischen Aussagen in all ihrer Vielfältigkeit und Sprunghaftigkeit165 zugrunde liegt. 161 A.a.O., 409f. 162 A.a.O., 404. Zum – nach menschlichen Begriffen – kontingenten Charakter dieser „Tat Gottes“ vgl. a. a. O., 401: „Stellen wir vor allem fest: wie die erste, so blickt und richtet sich auch diese zweite Bitte, die Jesus den Seinen in den Mund gelegt hat, auf eine in ihrer Tragweite freilich alle Zeiten und Räume umfassende, aber einmalige, so zuvor nicht geschehene und so auch keiner Wiederholung bedürftige und fähige Tat Gottes.“ 163 Zu der stärker am „Deus in nobis“ orientierten Theologie Barths vor diesem Bruch vgl. Lohmann, Gewissheit. 164 Vgl. vor allem Jehle, Lieber unangenehm laut. In kritischer Absicht werden die Stationen Barths nachgezeichnet in: Hermann E. J. Kalinna, War Karl Barth „politisch einzigartig wach“? Über Versagen politischer Urteilskraft, Berlin 2009. 165 Friedrich Wilhelm Graf attestiert „irritierende politische Ambivalenzen“ bei Barth (Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik; in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 1–110, 24). Schon zuvor hatte Graf für „eine heilsame Unterbrechung in der allzu selbstsicher gewordenen Urteilsbildung über die besondere ethische Orientierungskraft und politische Leistungskraft der Theologie Barths“ plädiert (Friedrich Wilhelm Graf, „Der Götze wackelt“? Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik [1986]; in: ders., Der heilige Zeitgeist, 425–446, 440). Schärfer noch als Graf geht Hermann Kalinna mit Barth und den Barthianern ins Gericht: „Die Karl Barth testierte ‚politisch einzigartige Wachheit‘ ist als Begriff so diffus wie sein politisches Reden und Handeln es waren“ (Kalinna, War Karl Barth? 130). Auf der anderen Seite steht eine Interpretation, die die Geschlossenheit der politischen Einlassungen Barths betont. Vgl. z. B.

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Friedrich Lohmann

Schon als Student macht Barth die soziale Frage in einem Vortrag vor der Berner Ortsgruppe seiner Studentenverbindung „Zofingia“ engagiert zum Thema, wobei er sich nicht zuletzt auf Leonhard Ragaz als Vertreter des Religiösen Sozialismus bezieht.166 Als Pfarrer in dem von Industriebetrieben geprägten Dorf Safenwil167 tritt die soziale Frage auch in ihren konkreten Auswirkungen auf die Arbeiterschaft in sein Blickfeld und veranlasst ihn schon nach kurzer Zeit zur pro-gewerkschaftlichen Kritik an den örtlichen Unternehmern. Nachdem sich Barth zunächst – „vorläufig“ – gegen einen Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei der Schweiz entschieden hatte, wird er im Januar 1915 deren Mitglied.168 1931 tritt Barth, seit zehn Jahren in Deutschland lebend, der SPD bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg erregen seine Stellungnahmen gegen den damals in der westlichen Hemisphäre opportunen Anti-Kommunismus Aufsehen. Und noch am Ende seines Lebens verteidigt Barth seine lebenslange Sympathie mit dem Sozialismus. Marquardt hat aus dieser Kontinuität die Impulse für seine politische, näherhin sozialistische Deutung der gesamten Theologie Barths bezogen. „Die Theologie Karl Barths hat ihren Sitz im Leben in seiner sozialistischen Aktivität.“169 Bei dieser These berief Marquardt sich nicht zuletzt auf unveröffentliche Reden aus der Safenwiler Zeit.170 Seit 2012 liegen diese Reden bzw. deren zum Teil stichwortartige Manuskripte endlich im Rahmen der Karl Barth-Gesamtausgabe der Öffentlichkeit vor und erlauben eine Prüfung der Verbindung zwischen Barths Theologie und dem Sozialismus.171

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Daniel Cornu, Karl Barth und die Politik. Widerspruch und Freiheit, Wuppertal 1969, 162: „Durch ein sachliches Studium der Texte werden all diese Einwände weggefegt.“ Cornus Übersetzer Rudolf Pfisterer bringt die Einzigartigkeit von Barths Ethik des Politischen mit der religiösen Kategorie der „Vollmacht“ in Verbindung und kann so aus der „Beweglicheit“ von Barths Urteilen eine Tugend machen: „In dem vorliegenden Buch wird gezeigt, wie Barth in seiner Stellungnahme zu konkreten politischen Fragen nur von der Mitte des Evangeliums, von der Person Jesu Christi, her argumentierte. Die heute noch erstaunliche Aktualität seines Redens und Handelns liegt darin begründet. Daraus stammt die überzeugende Vollmacht und erfreuliche Originalität, die großartige Beweglichkeit und die bestürzende Treffsicherheit seines Urteils“ (a. a. O., 6). Vgl. Jehle, Lieber unangenehm laut, 28–35. „Nach einer Statistik aus dem Jahr 1920 waren in Safenwil zu dieser Zeit von 780 Erwerbstätigen 587 mit industrieller Arbeit beschäftigt“ (Busch, Lebenslauf, 81). Vgl. Jehle, Lieber unangenehm laut, 40. Das „vorläufig“ findet sich in einem Brief an Thurneysen vom Juni 1913. Vgl. a. a. O., 41. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Sozialismus bei Karl Barth; in: Junge Kirche 33 (1972) 2– 15, 3. Vgl. ebd.: „Ich bin z. Z. damit beschäftigt, den Nachlaß sozialistischer Reden K. Barths zu entziffern und für die Veröffentlichung vorzubereiten. Er erlaubt, was man aus dem schon Publizierten auch ohnedies hätte entnehmen können, eine genauere Anschauung von den Anfängen der Barthschen Theologie. Sie wurzelt faktisch – und Barth selbst auch theoretisch bewußt – in seiner Praxis.“ Vgl. zum Folgenden: Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921. In Verbindung mit F.-W. Marquardt (†) hg. v. H.-A. Drewes, Zürich 2012 (Karl Barth-Gesamtausgabe

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Wie so oft geht Barth auch bei seiner Beschäftigung mit dem Sozialismus ins Grundsätzliche und gibt in den Reden Rechenschaft über den Grund, warum ihm der Sozialismus wichtig erscheint. Er rezipiert den Sozialismus zunächst von seiner ethischen Seite her und erblickt das „Wesen“ des Sozialismus in der Forderung einer „Gesellschaftsordnung, die aufgebaut ist auf die Wertschätzung des Menschen gegenüber dem toten Kapital, auf die solidarische Verpflichtung der Menschen gegeneinander, auf die Gerechtigkeit in ihren gegenseitigen Beziehungen. In alle diese Gedanken ist die Beseitigung des Krieges mit eingeschlossen“ (87). Barth deutet den Sozialismus nicht als Variante des Materialismus, sondern als humane, geradezu personalistische Freiheitsbewegung,172 womit der besondere, über die ethischen Werte Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit hinausführende Hintergrund von Barths Sozialismus-Rezeption bereits anklingt: Der Sozialismus lenkt den Blick über die Mängel der bestehenden Gesellschaftsordnung hinaus auf eine andere Welt, in der der Mensch in Freiheit zu sich selbst kommen kann. Barth interpretiert den Sozialismus als „höheren politischen Glauben“, und das „sozialdemokratische Wollen zeichnet sich dadurch vor allen andern Arten von Politik aus, dass da mit dem Absoluten, mit Gott politisch Ernst gemacht wird. Die Gerechtigkeit ist hier die einzige, die revolutionäre Wirklichkeit“ (73f). Der Sozialismus ist von den anderen politischen Optionen gerade religiös unterschieden,173 und es geht beim Ja oder Nein zu ihm um nichts weniger als die „Gottesfrage“174. Deshalb gilt: „Das soz[ialisIII). Seitenzahlen im Text der nächsten beiden Absätze beziehen sich auf diese Veröffentlichung. 172 Vgl. Karl Barth, Christus und die Sozialdemokraten (1915); in: a. a. O., 132–137, 134 („Denn was will der Sozialismus? Die Freiheit des Menschen vom Gelde. Nicht die Sachen sollen den Menschen beherrschen, sondern der Mensch soll leben. Seine Würde, die er in der Jagd nach Besitz verloren, soll ihm in gemeinsamer Arbeit zurückgegeben werden. Zweitens eine Neuordnung der Gesellschaft auf Grund der Gerechtigkeit. Durch Ersetzung der Macht durch das Recht und der Klassen- u. Völkergegensätze durch den Frieden[.] Weg dazu: der Glaube“.); ders., Die innere Zukunft der Sozialdemokratie (1915); in: a. a. O., 152–160, 153 („Der histor[ische] Materialismus im Sinn von Marx hat nicht den Sinn eines rein ökonomischen Ablaufs, sondern gerade des Selbständigwerdens der lebendigen Menschen gegenüber der Materie.“); 156 („Der angebl[iche] Materialismus rückt gerade den lebendigen Menschen in den Mittelpunkt, gegenüber dem Egoismus des Einzelnen, dem Privatinteresse“); 157 („Das Realste vom Realen sind wir selbst. Unser Menschentum muß zu Ehren kommen. Die Persönlichkeit ist das Prinzip des Kommunismus, der Komm[unismus] das Reich der Persönlichkeit. Individuelle u. soziale Besonderheit mag bleiben, aber der Besitz darf nicht mehr aller Werte Maßstab sein.“). 173 Vgl. a. a. O., 75: „Diesen religiösen Unterschied versteht Naumann nicht, er verflacht ihn zu einem bloß politischen.“ 174 Karl Barth, Politik, Idealismus und Christentum bei Friedrich Naumann (1914); in: a. a. O., 48–60, 60: „Kern des Problems für uns: Sich Naumann gegenüber nicht auf die praktischen Fragen einlassen. Es handelt sich nicht um diese. Entscheidend ist die Gottesfrage. Wir möchten von Gott mehr erwarten, – stellen uns darum kritischer zum Bestehenden, positiver zum Seinsollenden in der Politik.“ Weist der letzte Satz bereits auf die spätere Theologie der

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tische] Programm ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Jesu Programm: dein Reich komme!“ (135). Deshalb gilt aber auch, nachdem die nationale Kriegsbegeisterung auf viele Sozialisten übergegangen ist: „Enttäuschung: diese innere Verbindung mit der bestehenden Welt ist viel stärker, als wir dachten“ (88). Will man diese Aussagen einordnen, so fällt zunächst auf, dass Barth schon die innerweltlichen Ansprüche des Sozialismus höchst originell interpretiert: Anders als die übliche kollektivistische und materialistische Deutung175 sieht er den Sozialismus gerade um Würde und Rechte der Einzelpersönlichkeit bemüht. Auch den Atheismusvorwurf lässt er nicht gelten: Gegenüber dem „Egoismus“ und der „Genußsucht des Bürgertums“ geht es im Sozialismus um „Erlösung“ (163), die im Bezug auf die ganz andere, „die bestehenden Ordnungen u. Verhältnisse“ (114) revolutionär umstoßende Welt Gottes gefunden wird. Weil sein Interesse einem „weltfreien und weltüberwindenden Christentum“ (115) gilt, kann Barth als Safenwiler Pfarrer die These formulieren: „Ein wirklicher Sozialist muß Christ sein u. ein wirklicher Christ muß Sozialist sein“ (93; vgl. 117). Barth lobt den Sozialismus, wo er der „transzendenten Kraft der sozialistischen Wahrheit“ (155) Raum gibt; er kritisiert ihn, wenn im real-existierenden Sozialismus die „innere Verbindung mit der bestehenden Welt“ (88) die Oberhand behält. Ja, es gibt im „Safenwiler Material“ eine „Identifikation von Reich Gottes und wahrem Sozialismus“176, aber man kann nicht laut genug betonen, dass es Barth dabei um den wahren Sozialismus geht, hinter dem der gelebte Sozialismus immer zurückbleibt. All dies zeigt, dass es Barth in dieser Zeit nicht um den Sozialismus als solchen geht. Schon gar nicht lässt sich aus den Manuskripten der Safenwiler Zeit die Marquardtsche These erhärten, Barths Sympathie für den Sozialismus habe seine Theologie geprägt. Das Umgekehrte ist der Fall: Barths Theologie und Ethik war von Anfang an transzendenz-orientiert, und im Religiösen Sozialismus fand er einen willkommenen Bundesgenossen, dem er genau so lange treu blieb, wie er den Eindruck hatte, dass dort diese Transzendenz-Orientierung in der politischen und gewerkschaftlichen Arbeit zum Ausdruck kam. Nach der Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten und nach der Wahrnehmung nationaler, die gegebene Ordnung der Nation verherrlichender Stimmungen auch bei anderen europäischen Sozialdemokraten verlor Barths BeKrisis voraus, so taucht das entsprechende Stichwort „Krisis“ weiter vorne im Manuskript sogar als Überschrift auf (vgl. a. a. O., 54). 175 Vgl. etwa die 1937 promulgierte Einschätzung des Kommunismus durch Pius XI.: „Es ist Entrechtung, Entwürdigung und Versklavung der menschlichen Persönlichkeit.“ 176 Zitate: Helmut Gollwitzer, Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth (1972), München 2 1978 (TEH 169), 9. Gollwitzer räumt selbst ein: „Es ist etwas anderes, ob wir die Identität von Reich Gottes und Sozialismus erkennen, oder ob wir unseren Sozialismus (als Idee, Bewegung und schließlich erreichten Zustand) mit dem Reiche Gottes identifizieren“ (ebd.).

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geisterung für den real-existierenden Sozialismus rasch an Fahrt. Der Eintritt in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz im Januar 1915 steht damit nicht im Widerspruch, denn für Barth war die Kritik an der sozialdemokratischen Kriegsunterstützung mehr denn je Anlass zum Eintreten für eine Reform des Sozialismus von innen heraus. Die Idee des Sozialismus blieb für Barth lebenslang ein vorzugswürdiges politisches Programm, selbst unter der Maske des totalitären Kommunismus. Es ist aufschlussreich, Barths umstrittene Aussagen zum Kommunismus nach 1945 mit seinen sozialistischen Texten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu vergleichen. Auch hier möchte Barth hinter die Fassade auf das Wesen schauen und erblickt es im Ernstnehmen der sozialen Frage.177 Zwar fehlt eine religiöse Überhöhung des Kommunismus – „Er ist brutales, aber wenigstens ehrliches Gottlosentum“178 –, aber man wird den Verdacht nicht los, dass Barth weiterhin ein offen zur Schau getragener, „ehrlicher“ Atheismus samt seiner Kritik an der „Unmenschlichkeit unserer Absichten, unseres durch unseren heillosen Respekt vor den Sachwerten grundverdorbenen Denkens und Wollens“179 gegenüber einer selbstgerechten und konfrontativen Kreuzzugsmentalität des „christlichen Abendlands“180 gerade auch theologisch vorzugswürdig erscheint. Der Spitzensatz Barths in diesem Kontext – „Ich halte den prinzipiellen Antikommunismus für das noch größere Übel als den Kommunismus selber“181 – ist Barths Erleben dieser Selbstgerechtigkeit geschuldet, etwa „in meiner schweizerischen Heimat, wo es merkwürdigerweise ganz auffallend viele kleine McCarthy’s gibt“.182 Man kann hier durchaus eine Enttäuschung Barths über die Entwicklung des „freien Westens“ 177 Vgl. Karl Barth, Die Kirche zwischen Ost und West (1949); in: ders., „Der Götze wackelt“, 124–143, 137: „[…] dann ist es am Platz, auch im Blick auf den Kommunismus von heute das Unterscheiden nicht zu unterlassen: das Unterscheiden zwischen seinen totalitären Greueln als solchen und dem, was dabei positiv gemeint und beabsichtigt ist. […] Was in Sowjetrußland – es sei denn: mit sehr schmutzigen und blutigen Händen, in einer uns mit Recht empörenden Weise – angefaßt worden ist, das ist immerhin eine konstruktive Idee, immerhin die Lösung einer Frage, die auch für uns eine ernsthafte und brennende Frage ist und die wir mit unseren sauberen Händen nun doch noch lange nicht energisch genug angefaßt haben: der sozialen Frage.“ 178 A.a.O., 138. 179 A.a.O., 137. 180 Vgl. a. a. O., 139: „Wo ist denn unsere Legitimation, von einem ‚christlichen Abendland‘ zu reden und diesem auf einmal mit dem Aufruf zum geistigen, politischen und eines Tages auch militärischen Kreuzzug zu Hilfe kommen zu wollen?“ Zum „christlichen Abendland“ vgl. noch die folgende charakteristische Aussage Barths aus dem Jahr 1963: „Es gibt ein religiöses, es gibt aber kein christliches Abendland, es gibt nur mit Jesus Christus konfrontierte abendländische Menschen“ (zit. Busch, Lebenslauf, 485). Die eigentliche Konfrontation geschieht also in Barths Augen nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Gott und Mensch. 181 S. o. Anm. 114. 182 Barth, How My Mind Has Changed. 1948–1958, 204.

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heraushören, die der 45 Jahre früher geäußerten Enttäuschung über die „innere Verbindung mit der bestehenden Welt“ im Sozialismus parallel geht. Bei alledem bleibt Barth dem Sozialismus als der relativ besten Form menschlicher Politikgestaltung verbunden, ordnet aber jedes menschliche Bemühen in der sozialen Frage dem Hinweis auf das Handeln des souverän sein Reich herbeiführenden Gottes unter: Die christliche Gemeinde kann und muß wohl auch für diese und jene Gestalt des sozialen Fortschrittes oder auch des Sozialismus – immer für seine zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort in bestimmter Situation gerade hilfreichste Gestalt – eintreten. Ihr entscheidendes Wort kann nicht in der Verkündigung des sozialen Fortschrittes oder des Sozialismus, es kann nur in der Verkündigung der Revolution Gottes gegen alle ‚Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen‘ (Röm. 1, 18), d. h. aber eben in der Verkündigung seines gekommenen und kommenden Reiches bestehen.183

Auch im Bereich des Politischen gilt der oben zitierte Vorbehalt: Menschliches Erkennen und Handeln kann zwar, aber eben doch nur Gleichnis für die eigentliche Welt Gottes sein.184 Dass der Sozialismus die damit verbundene Kritik am Bestehenden stärker als andere politische Ideen zum Ausdruck bringt, ist neben seinem ethischen Interesse an der sozialen Frage sein zweiter Pluspunkt. Auch darin bleibt sich Barth über die Jahre bei allen Veränderungen treu. Die gerade zitierte Passage aus KD III/4 zeigt, dass Barth die Terminologie der „Revolution Gottes“ gegenüber dem Bestehenden, die in der Periode der beiden „Römerbriefe“ stark präsent ist185, durchaus in sein Alterswerk übernimmt, wenn auch eingeklammert durch den Hinweis auf das schon gekommene Reich Gottes. „Die in R II formulierte Theologie ist, wie auch die des R I und die der KD, antiideologisch motiviert; sie widerstreitet falschem Bewußtsein.“186 Hier schlägt die Transzendenz-Orientie183 Karl Barth, KD III/4, Zollikon-Zürich 1954, 626. 184 Vgl. Barth, Christengemeinde, 65 (Punkt 14): „Die Richtung und Linie des christlich politischen Unterscheidens, Urteilens, Wählens, Wollens und Sicheinsetzens bezieht sich auf die Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens. Das politische Wesen kann weder eine Wiederholung der Kirche noch eine Vorwegnahme des Reiches Gottes darstellen. […] Eine Gleichung zwischen ihm und der Kirche auf der einen, dem Reich Gottes auf der anderen Seite kann darum nicht in Frage kommen. […] die Gerechtigkeit des Staates in christlicher Sicht ist seine Existenz als ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes.“ 185 Vgl. z. B. Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919. Hg. v. H. Schmidt, Zürich 1985 (Karl Barth-Gesamtausgabe II), 196: „Was der Christus bringt, ist tatsächlich die Revolution, die Auflösung aller Abhängigkeiten. Denn die Abhängigkeit, in die uns der Christus versetzt, ist gerade die Freiheit in Gott.“ Weitere Belege für die Revolutionsterminologie und ihre Bedeutung in den verschiedenen Phasen von Barths Werk in Dannemann, Theologie und Politik. 186 A.a.O., 99f. In diesen Kontext gehört auch Barths Einstufung des „Amerikanismus mit

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rung von Barths Theologie voll auf seine Ethik des Politischen durch. Besonders deutlich wird das in der Tambacher Rede. Barth spricht dort von der „Sozialdemokratie, in der unserer Zeit nun einmal das Problem der Opposition gegen das Bestehende gestellt, das Gleichnis des Gottesreiches gegeben ist“187, verwahrt sich aber zugleich nur wenige Sätze später „gegen den Irrtum, als wollten wir durch Kritisieren, Protestieren, Reformieren, Organisieren, Demokratisieren, Sozialisieren und Revolutionieren, und wenn dabei das gründlichste und umfassendste gemeint wäre, etwa dem Sinn des Gottesreiches Genüge leisten“188. Ist schon Barths Option für den Sozialismus als einer politischen Auffassung, die – anders als etwa der „Amerikanismus“ – die „Opposition gegen das Bestehende“ zum Ausdruck bringt, in voller Übereinstimmung mit seiner transzendenz-orientierten Sicht auf die Wirklichkeit, so gilt dies auch für die Vorbehalte, die er trotz allem geltend macht. Am Vor und Zurück in Barths Einschätzungen von Sozialismus und Sozialdemokratie zeigt sich exemplarisch, wie seine Ethik des Politischen, gerade in den Ambivalenzen von Barths konkreten Einlassungen, von der Transzendenz-Orientierung geprägt ist, die seine gesamte Theologie auszeichnet. Barths Eintreten für politische Mitverantwortung und Freiheit189 ist Indiz genug dafür, dass seine Sympathie der demokratischen Staatsform gehört. Doch auch demokratische Systeme sind „menschliche Erfindungen“, und deshalb wird sich die Christengemeinde „wohl hüten, ein politisches Konzept – und wenn es das ‚demokratische‘ wäre – als das christliche gegen alle anderen auszuspielen“.190 Erst recht würde die vorbehaltlose Bindung an ein bestimmtes politisches Parteiprogramm dem ideologiekritischen Auftrag von Kirche und Theologie widersprechen. „Gerade repräsentiert durch eine christliche Partei

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seinen undiskutierten Göttern Gesundheit und Behaglichkeit“ als Religion in einem Aufsatz von 1931, die nicht so gehaltlos ist, wie Kalinna, War Karl Barth? 20–23, kritisiert. Die ideologiekritische Zielrichtung gilt im Übrigen nicht nur für Barths theologische Deutung des Politisch-Gesellschaftlichen, sondern besonders auch für die Kirche. „Seine [sc. Barths Ansatz] Stärke liegt in der kirchlichen Selbstkritik“ (Lindenlauf, Karl Barth und die „Königsherrschaft Christi“, 415). Vgl. dazu besonders den Einwurf „Quousque tandem…?“ von 1930 und die berühmt-berüchtigte Religionskritik in KD I/2, die zunächst einmal als Kritik an der „Religion“ in der christlichen Kirche zu lesen ist, nicht als Beitrag zur Theologie der Religionen. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919); in: Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, 546–598, 592. A.a.O., 593. Vgl. Barth, Christengemeinde, 59f (Punkt 10); 69 (Punkt 18). A.a.O., 58f (Punkt 9). Vgl. Barth, Ethik II, 333f: „Damit ist gesagt, daß Gott sich je und je Gehorsam fordernd zu dieser und dieser bestimmten Staatsform bekennen kann. Damit ist freilich auch gesagt, daß Gott an keine Staatsform, wohl aber jede Staatsform an Gott gebunden ist, daß also keine Staatsform vor einer von Gott her jederzeit möglichen teilweisen oder gänzlichen Infragestellung sicher ist.“

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kann die Christengemeinde der Bürgergemeinde das politische Salz nicht sein, das zu sein sie ihr schuldig ist.“191 Damit ist eine zweifache Auswirkung der transzendenz-orientierten Wirklichkeitsauffassung auf Barths Ethik des Politischen nachgewiesen: Sie steht im Hintergrund seines Eintretens für Sozialismus und Sozialdemokratie, aber auch – als Motor der Ideologiekritik – hinter seinen Vorbehalten nicht nur gegenüber dem Sozialismus, sondern gegenüber jeder politischen Festlegung der Kirche. Indem nun auch noch, im letzten Zitat bereits anklingend, die politische Aufgabe der Christenheit gerade in dieser an einem Jenseits der Politik orientierten Ideologiekritik gesehen wird, zeigt sich eine dritte Auswirkung. Nunmehr geht es um Barths generelle Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Den – in seiner Wichtigkeit aus seiner Sicht kaum zu überschätzenden – „politischen Gottesdienst“192, den die Christenheit zu leisten hat, bestimmt Barth darin, „daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt“, d. h. „ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die staatlichen Belange, das kommende Königreich Christi und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben verkündigt“193. Indem sie so – mit der Barmer Theologischen Erklärung gesprochen – den Staat an seine Grenzen „erinnert“, nimmt sie diesen zugleich in die Verantwortung. Denn gerade indem er zulässt, dass die Abhängigkeit des Politischen von einem Jenseits der Politik in seinem Raum zu Wort kommen kann, erfüllt der Staat seine (beschränkte) Aufgabe: „die Sicherung sowohl der äußeren, relativen, vorläufigen Freiheit der Einzelnen als auch des äußeren, relativen, vorläufigen Friedens ihrer Gemeinschaft und insofern die Sicherung der äußeren, relativen, vorläufigen Humanität ihres Lebens und Zusammenlebens“.194 Barth sieht daher im „Freiheitsrecht“ der Religionsfreiheit und in der damit einhergehenden Unterscheidung zwischen Staat und Kirche die Quelle jedweder ihrem Auftrag angemessenen staatlichen Gesetzgebung.195 Denn gerade wo das

191 Barth, Christengemeinde, 78 (Punkt 30). 192 Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (1938); in: ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, 5–48, 5. 193 A.a.O., 46. 194 Barth, Christengemeinde, 50 (Punkt 1). Diese Auflistung der Staatsaufgaben macht deutlich, dass Barth genau diejenige Auffassung des Staats als (bloßer) Erhaltungsordnung vertritt, die Schleiermacher abgelehnt hat. Vgl. ausführlicher: Barth, Ethik II, 333 (Der Staat „ist eine Ordnung der erhaltenden Geduld Gottes, die darum nötig und heilsam ist, weil auch die in Christus begnadigten Menschen ganz und gar Sünder sind.“); 335 („Als menschliches Werk nimmt auch der Staat teil an der Verkehrtheit, in der der Mensch, weit entfernt, Sünde zu vergeben, mit List und Gewalt im Kampf ums Dasein das Seinige sucht, ein Tun, das durch die kollektive Form, in der es hier stattfindet, nicht anders und nicht besser wird.“). 195 Vgl. Barth, Rechtfertigung, 47: „Und was menschliches Recht ist, das mißt sich nicht an irgend einem romantischen oder liberalen Naturrecht, sondern schlicht an dem konkreten Freiheitsrecht, das die Kirche für ihr Wort, sofern es das Wort Gottes ist, in Anspruch

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Politische seiner Grenzen bewusst ist, „da steigt auf die Ordnung der menschlichen Dinge, die Gerechtigkeit, die Weisheit und der Friede, die Billigkeit und die Fürsorge, die zu dieser Ordnung vonnöten sind“196. Und diese Grenzen werden der Bürgergemeinde von der Christengemeinde auf der Basis ihrer Transzendenz-Orientierung vorgehalten: „Sie weiß, daß deren in ihrer Eigentlichkeit, Ursprünglichkeit und Endgültigkeit zu offenbarende Gestalt das ewige Königreich Gottes ist und die ewige Gerechtigkeit seiner Gnade.“197 Dabei hat Barth die Kirche in ihrer an das Reich Gottes erinnernden Funktion im Blick. Insofern – also beim Blick auf die eigentliche Funktion der Kirche, nicht etwa beim Blick auf ihre sichtbare Gestalt – gilt: „Zwischen Kirche und Staat besteht nicht Gleichordnung, sondern Überordnung zugunsten der Kirche.“198 Auch diese Überordnung versteht Barth in erster Linie im Sinne einer Kritik eines Festhaltens am Bestehenden. „Sie [sc. die Kirche] will, daß die Gestalt und die Wirklichkeit des Staates inmitten der Vergänglichkeit dieser Welt auf das Reich Gottes hin und nicht von ihm wegweise.“199 Barth unterstreicht explizit die anti-nationalistische Pointe dieser Kritik.200 Die so zusammengefasste Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche ist völlig kohärent im Rahmen von Barths transzendenz-orientiertem Wirklichkeitsverständnis, in dem die immanent-menschlichen Strukturen permanent an ihrer eigentlich-himmlischen Gestalt gemessen und ausgerichtet werden. Wenn es nun innerhalb dieser allgemein abgesteckten Sicht auf das Politische um konkrete Entscheidungen geht, so macht sich auch in Barths Ethik des Politischen das Moment der Kontingenz geltend, das oben unter dem Stichwort „Akt-Orientierung“ verhandelt wurde. Barth möchte „das Handeln Gottes am Handeln des Menschen den Zentralbegriff, den Ausgangs- und Endpunkt der theologischen Ethik sein lassen“201. Daraus folgt zum Einen (negativ) die Ablehnung der Aufstellung von vorzugswürdigen Handlungsprinzipien, denen Barth dann (positiv) das Gebot Gottes in seiner Konkretheit, aber auch Kon-

196 197 198 199 200 201

nehmen muß. Dieses Freiheitsrecht bedeutet die Begründung, die Erhaltung, die Wiederherstellung alles – wirklich alles Menschenrechtes.“ Ebd. Barth, Christengemeinde, 53 (Punkt 5). Barth, Ethik II, 339. Für den in der Paenthese ausgesprochenen Vorbehalt vgl. z. B. Barth, Christengemeinde, 65 (Punkt 13): „Die Kirche steht aber mit dem Staat ‚in der noch unerlösten Welt‘.“ Barth, Christengemeinde, 67 (Punkt 14). Vgl. a. a. O., 72 (Punkt 25): „Indem die Christengemeinde von Hause aus ökumenisch (katholisch) ist, widersteht sie auch im Politischen allen abstrakten Lokal-, Regional- und Nationalinteressen.“ Karl Barth, Ethik I, 81. Vgl. a. a. O., 81f: „Wir meinen ja in der theologischen Ethik die Güte menschlichen Handelns suchen und finden zu müssen in dem Ereignis einer Handlung Gottes selbst am Menschen, nämlich in der Handlung seines Redens, Sprechens, SichOffenbarens ihm gegenüber.“

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tingenz gegenüberstellt.202 Prinzipien sind per se etwas Menschliches und stehen der göttlichen Souveränität im Weg. Als Grundlage theologischer Ethik und Dogmatik sind sie ungeeignet.203 Die „Oberherrschaft des Gebotes Gottes über den ganzen Bereich der ethischen Problematik“204 geschieht demgegenüber „in Form von lauter geschichtlich eigenartigen und einmaligen konkreten Befehlen, Verboten und Weisungen“205. „Mit einem Wort: das göttliche Gebot ist gerade in der Bibel eine geschichtliche Wirklichkeit und nicht, wie es vom nachbiblischen Judentum und Christentum im Sinne kasuistischer Ethik verstanden worden ist, eine zeitlose Wahrheit.“206 Faktisch läuft das hinaus auf den „Typ einer christonom gebundenen Situationsethik, die zur rechten Entscheidung zum rechten Zeitpunkt anleiten will“.207 Dies spiegelt sich in Barths Ethik des Politischen, wenn er z. B. das „je und je“ der geforderten Staatsform208 betont oder für die „zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort in bestimmter Situation gerade hilfreichste Gestalt“209 des Sozialismus eintreten will. Umgekehrt hat Barth eine Orientierung des Politischen im

202 Vgl. Karl Barth, KD II/2, Zollikon-Zürich 1942, 578f: „Wir können die Wahrheit und Wirklichkeit des göttlichen Gebotes nicht übersetzen in ein notwendiges Moment des menschlichen Geisteslebens oder in die Verwirklichung der menschlichen Vernunft oder in die durch den Menschen zu vollbringende Verwirklichung des Guten oder in eine im Transzendenten verankerte Wertposition. Wir könnten das nur tun, wenn wir es gar nicht mehr mit dem Gebot Gottes zu tun hätten und also das Unternehmen theologischer Ethik zum vornherein verfehlt hätten.“ Beim Übergang zur „speziellen Ethik“ in KD III/4 zitiert Barth gleichsinnig aus Bonhoeffers Ethik-Manuskripten (die ihrerseits durch Barths Unterscheidung zwischen Prinzip und Gebot aus KD II/2 stark beeinflusst sind): „Wie wird der Wille Gottes konkret? Antwort: der Wille Gottes ist immer konkret oder er ist nicht der Wille Gottes. Also der Wille Gottes ist nicht ein Prinzip, aus dem deduziert werden müßte, das angewendet werden müßte auf die ‚Wirklichkeit’. Ein Wille Gottes, der erkannt werden kann, ohne sofort ins Tun zu führen, ist ein allgemeines Prinzip, aber nicht Gottes Wille“ (zit. Karl Barth, KD III/4, Zollikon-Zürich 1951, 14f). 203 Zur der Ethik ganz analogen Argumentation Barths in der Dogmatik vgl. Barth, KD II/2, 78: „Eben welches die benevolentia, die Liebe Gottes zu allen Menschen ist, das fragt sich ja, das ist allerdings in der Wirklichkeit Jesu Christi beantwortet, das darf aber nicht von dieser gelöst, das darf also nicht systematisiert und zu einem Prinzip erhoben und damit nun doch eingeschränkt werden durch den vorwegnehmenden und über jene Wirklichkeit heimlich disponierenden, Gott im voraus verpflichtenden Satz von der benevolentia Dei universalis.“ 204 A.a.O., 579. 205 Karl Barth, KD III/4, 11f. 206 A.a.O., 12. 207 Michael Beintker, Die politische Verantwortung der Christengemeinde im Denken Barths (1996); in: ders., Krisis und Gnade. Gesammelte Studien zu Karl Barth. Hg. v. S. Holtmann u. P. Zocher, Tübingen 2013, 172–199, 179. Vgl. Anselm Günthör, Entscheidung gegen das Gesetz. Die Stellung der Kirche, Karl Barths und Helmut Thielickes zur Situationsethik, Freiburg 1969. 208 S.o. Anm. 190. 209 S.o. Anm. 183.

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„Rückgriff auf die problematische Instanz des sogenannten Naturrechts“210, die ja gerade für über-kontextuelle Normen steht, vehement abgelehnt. Dieser situationsethische Zug ist im Rahmen von Barths tranzendenz-orientierter Wirklichkeitssicht erneut völlig konsequent. Er zeigt aber auch eine Gefahr, die mit dieser verbunden ist: Die Ethik droht ihrer orientierenden Aufgabe verlustig zu gehen, wenn sie sich ihre Kriterien nur „je und je“ „senkrecht von oben“ gesagt sein lassen muss. Die Festlegung dessen, was jeweils als das konkrete Gebot Gottes in einer bestimmten Situation zu beachten ist, droht dann zu einem Willkürakt zu werden, mit entsprechender Ideologieanfälligkeit. Barth hat dem zu entgehen versucht, indem er die gerade auch ethische „Bestimmtheit“ des Wortes Gottes behauptet hat. Doch können seine entsprechenden Überlegungen nicht überzeugen.211 „Bestimmtheit“ und ethische Relevanz lassen sich nicht per Machtspruch herstellen. Barth hat dieses Problem offenbar gesehen oder doch intuitiv gespürt, denn er hat über die Jahre verschiedene argumentative Versuche unternommen, eine Brücke vom transzendenten Wort Gottes zur ethischen Frage nach konkreter Lebensorientierung zu schlagen: die Orientierung an den Gleichnissen Jesu in der Tambacher Rede; eine ordnungstheologische Ableitung in der Münsteraner und Bonner Ethik-Vorlesung; das Modell der christologischen „Entsprechung“ in den zu Lebzeiten veröffentlichten Teilen der Kirchlichen Dogmatik; dessen Konkretisierung über das Vater Unser, die sich in den posthum erschienenen Manuskripten zu KD IV/4 andeutet. Konkret aus dem Raum der Ethik des Politischen stammt der Versuch, in „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ aus dem Christusgeschehen „zwar keine Idee, kein System, kein Programm, wohl aber eine unter allen Umständen zu erkennende und innezuhaltende Richtung und Linie der im politischen Raum zu vollziehenden christlichen Entscheidungen“212 abzuleiten. Die entsprechenden Überlegungen Barths haben viel Kritik erfahren, und Barth selbst räumt ein, „daß die Übersetzungen und Übergänge von dort nach hier im Einzelnen immer diskutabel, mehr oder weniger einleuchtend sein werden“.213 Mit dem Stichwort „Übergang“ ist der Punkt genannt, an dem eine dezidiert transzendenz-orientierte Wirklichkeitsauffassung wie die Barthsche an ihre Grenze kommt. Das Denken in platten Alternativen wie „Jesus Christus oder Naturrecht?“214 hat seinerzeit zweifellos zur großen Popularität der Barthschen 210 Barth, Christengemeinde, 60 (Punkt 11). 211 Vgl. KD II/2, 737–791 und Barth, Christengemeinde, 74 (Punkt 27): „Eindeutigkeit der biblischen Botschaft“. Dazu kritisch: Lohmann, Naturrecht, 76–78. 212 Barth, Christengemeinde, 60 (Punkt 11). 213 A.a.O., 74 (Punkt 27). 214 Karl Barth, Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien (1941); in: ders., Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zollikon-Zürich 1945, 179–200, 192.

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Theologie beigetragen; im Rückblick erweist sich die vermeintliche Stärke jedoch als Schwäche. Erkenntnistheoretischen Vermittlungsinstanzen wie Vernunft, Erfahrung, Natur oder Geschichte will Barth keinen Raum geben, und doch zeigt seine Ethik gerade dort, wo sie konkret werden will, dass menschliches Leben ohne einen Rückgriff auf solche Instanzen, im vollen Bewusstsein ihrer Zwiespältigkeit,215 nicht auskommt.216 Man kann das, was menschliches Leben in seinem Unterwegscharakter ausmacht, nicht aus dem Leben hinausdekretieren. Genau hier setzt Schleiermacher an, allerdings, wie sich vor allem an seinen nationalistischen Äußerungen zeigt, mit der Gefahr, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen.

3.

Ergebnis: Der Vergleich

Ein Vergleich von Schleiermachers und Barths Ethik des Politischen zeigt überraschend viele Gemeinsamkeiten. Beide bestimmen das Politische maßgeblich über die Instanzen Recht und Staat. Beide sehen im Reich Gottes, wie es in Leben und Verkündigung Jesu Christi bezeugt ist, das Vorbild für die Gestaltung des politischen Lebens und erklären Humanität, Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit und Orientierung am Gemeinwohl zu den Leitwerten der Politik. Beide sprechen sich für einen Verfassungsstaat, Gewaltenteilung und demokratische Mitbestimmung (bei Schleiermacher im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie, bei Barth konsequent basisdemokratisch) aus. Beide sind Fürsprecher einer Unterscheidung zwischen Kirche und Staat und sehen in der Gewährung von Religionsfreiheit das entscheidende Signum eines seiner Grenzen bewussten Staates und die Quelle von Rechtsstaatlichkeit überhaupt. Die markantesten Unterschiede bestehen im Blick auf das grundsätzliche Verständnis des Staates und die Einschätzung der Kategorie der Nation. Wo Barth das traditionell christliche Verständnis des Staats als (bloßer) post-lapsarischer Erhaltungsordnung mit der Funktion „Sicherung“ vertritt, gibt Schleiermacher dem Staat zusätzlich eine Aufgabe im allgemeinen menschlichen Bil215 Barth attestiert naturrechtlichen Argumenten mit Recht einen „Januskopf“ (a. a. O., 191). Als Theologe, der sich der Dialektik jeder theologischen Aussage bewusst war, hätte ihn das jedoch nicht prima facie stören dürfen. „Auch der Theologe kann ja mit seinen Begriffen nur zweidimensional reden, entsprechend dem gemeinsamen Raum, in dem er sich mit allen Menschen befindet. Es gibt nur dialektische Theologie, wie es nur weiße Schimmel gibt (Gogarten)“ (Barth, Ethik II, 99). 216 Vgl. hierzu meine Kritik an der mit Barth in vielem analogen phänomenologischen Erkenntnistheorie Jean-Luc Marions: Friedrich Lohmann, Subjekt und Offenbarung. Theologische Überlegungen zur phänomenologischen Erkenntnistheorie Jean-Luc Marions; in: Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas. Hg. v. I.U. Dalferth u. P. Stoellger, Tübingen 2005 (Religion in Philosophy and Theology 18), 361–391.

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Die Ethik des Politischen bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

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dungsprozess. Zwar grenzt sich auch Schleiermacher von der Idee eines Kulturstaats dahingehend ab, dass er die Kompetenz des Staats auf das „Äußere“ beschränken will, während das „Innere“ in die Domäne von Familie, Wissenschaft und Kirche fällt. Dennoch zeigt seine Rede von der „natürlichen“ Funktion des Staats im „Naturbildungsprozess“, dass Schleiermacher im Miteinander dieser Domänen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede sieht. Entsprechend sind aus seiner Sicht weniger die „Androhung und Ausübung von Gewalt“ (Barmen V) als die Vernunft, weniger das Schwert als das Wort anzustrebende Herrschaftsmittel der politischen Exekutive. Im Blick auf eine politische Bedeutsamkeit der Kategorie der Nation ist Barth äußerst skeptisch. Schleiermacher hingegen vertritt, allen kosmopolitischen und universalistisch-menschheitlichen Anklängen in seinem Denken zum Trotz, im Raum der Politik eine konsequente Bindung des Staats an eine gemeinsame Abstammung im Sinne des Nations- bzw. Volksgedankens. Das Verhältnis der beiden Positionen lässt sich in seinen Gemeinsamkeiten und Differenzen daraus erklären, dass Schleiermacher und Barth beide auf dezidiert christlicher Grundlage argumentieren, dabei aber eine gegensätzliche Schwerpunktbildung vornehmen. Wo Schleiermacher inspiriert durch den Inkarnationsgedanken die Kontinuität zwischen menschlicher Natur und Reich Gottes in den Vordergrund rückt, betont Barth die bleibende Transzendenz des Reiches Gottes, die jede irdische Institution – Nation, Staat, aber auch Kirche – in ihren Ansprüchen fragwürdig werden lässt. Diese unterschiedliche Schwerpunktbildung bestimmt nicht nur die jeweilige Ethik des Politischen, sondern sie ergibt sich aus der gesamten Wirklichkeitsauffassung der beiden Theologen. Die kritische Analyse der Ethiken des Politischen, wie sie Schleiermacher und Barth vorgelegt haben, ermöglicht daher exemplarisch, die Geschlossenheit des jeweiligen Denkens, aber auch vorliegende Engführungen wahrzunehmen. In ihrer Komplementarität können die Theologien von Schleiermacher und Barth zugleich als wechselseitige Korrektive dienen.

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Gregor Etzelmüller

Die christliche Hoffnung und die prophetischen Lehrstücke. Eschatologie bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth

Indem Karl Barth der Wiederentdeckung der eschatologisch-apokalyptischen Ausrichtung des Neuen Testamentes grundsätzliche theologische Bedeutung zuschrieb, hat er sich von der Theologie des 19. Jahrhunderts, als dessen Kirchenvater ihm Friedrich Schleiermacher galt, abgesetzt. Spätestens im 19. Jahrhundert sei die Eschatologie zu einem harmlosen Kapitelchen am Ende der Dogmatik verkommen, anstatt die gesamte Theologie an das Ende, an jene Krisis zu erinnern, der alles menschliche Handeln und Denken ausgesetzt ist. Barth wollte dabei keineswegs die harmlose Eschatologie des 19. Jahrhunderts durch eine dramatische ersetzen. Es ging ihm nicht um eine Revision der Lehre von den letzten Dingen, sondern um einen Neuaufbau der Theologie von der christlichen Hoffnung her.1 Doch die christliche Hoffnung hat nicht nur eine Bedeutung für die gesamte Theologie, sondern wird in dieser an einem spezifischen Ort, eben innerhalb der Eschatologie, inhaltlich bestimmt und reflektiert. Dieser Aufgabe haben sich weder Schleiermacher noch Barth entzogen. Der hier zu rekonstruierende Diskurs zwischen Schleiermacher und Barth beschränkt sich deshalb nicht auf die Bedeutung der Eschatologie für die Theologie im Ganzen, sondern nimmt zugleich material-eschatologische Fragestellungen in den Blick. Bringt man auf diese Weise Schleiermachers Lehre von den letzten Dingen ins Gespräch mit der Eschatologie Barths, zeigt sich, dass Schleiermachers Eschatologie keineswegs – wie Emanuel Hirsch, Barths Göttinger Kollege in den zwanziger Jahren, meinte – „peinlich“ ist,2 sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen darstellt, 1 Vgl. exemplarisch Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, hg. von C. v. d. Kooi u. K. Tolstaja, Zürich 2010, 668f. 2 Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Fünfter Band, Gütersloh 1954, 329: „Nichts ist peinlicher, als einen unerbittlichen und wahrhaftigen Denker dahin gelangen zu sehen, daß er aus Mangel an Härte zu einem klaren Nein Gedanken und Bilder, die er selbst für mythisch und visionär erkennt, in einem gewundenen vorbehaltsreichen Lehrvortrag dialektisch halbwegs erträglich zu machen sucht.“

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die nicht nur hundert Jahre später auch noch Barth beschäftigten, sondern die bis heute der Theologie zur Beantwortung aufgegeben sind. Der folgende Beitrag rekonstruiert zunächst Barths Kritik an Schleiermachers Theologie von der Eschatologie aus (1.) und stellt sodann Barths Kritik an Schleiermachers Eschatologie im Besonderen dar (2.). Anschließend werden angesichts dieser Kritik überraschende Übereinstimmungen in zentralen Fragestellungen der Eschatologie aufgedeckt (3.), vor deren Hintergrund Barths Kritik an Schleiermachers Eschatologie ihrerseits kritisiert und in einen konstruktiven Dialog zwischen Schleiermacher und Barth transformiert wird (4.). Ein Blick auf die Grabreden Schleiermachers hilft abschließend, Barths Vorbehalt gegen Schleiermachers Eschatologie zu plausibilisieren (5.).

1.

Die Eschatologie in Barths Auseinandersetzung mit Schleiermacher

In seiner Auseinandersetzung mit der Theologie Friedrich Schleiermachers weiß Karl Barth sich einerseits zwar mit Emil Brunner darin einig, dass diese Theologie „von seiten der Eschatologie anzugreifen“3 sei, spielt aber andererseits die Eschatologie Schleiermachers nur eine geringe Rolle. In seiner Göttinger Vorlesung über Schleiermachers Theologie von 1923/24 erwähnt Barth Schleiermachers Eschatologie nur im Rahmen der Darstellung des Aufbaus der Glaubenslehre: Unter „dem Titel ‚Vollendung‘ der Kirche [werde] endlich nicht mehr und nicht weniger als die ganze Eschatologie [abgehandelt], sofern bei Schleiermacher etwas davon übrig bleibt“.4 Die Bedeutung des Nebensatzes „sofern bei Schleiermacher etwas davon übrig bleibt“ wird von Barth nicht erläutert. Da Schleiermacher in seiner Glaubenslehre mit den Lehrstücken von der Wiederkunft Christi, der Auferstehung der Toten, vom Gericht und der ewigen Seligkeit die großen Themen der Tradition aufgreift, wird man den Ne3 Karl Barth, Brunners Schleiermacherbuch (1924), in: ders., Vorträge und Kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von H. Finze, Göttingen 1990, 401–425, 402; vgl. 421. Barth greift dabei eine Formulierung Schleiermachers aus dem zweiten Sendschreiben an Lücke auf: „Ein Freund versprach mir schon vor ein paar Jahren, meine Glaubenslehre von Seiten der Eschatologie anzugreifen, und das wäre gewiß geistvoll und lehrreich geworden; er hat aber nicht Wort gehalten.“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, in: ders., Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von H.-F. Traulsen, Berlin/New York 1990, KGA I/10, 307–394, 386, 7–10) Dass dieser ungenannte Freund damals nicht Wort gehalten hat, ist nach Barth „bezeichnend für das Schicksal der modernen protestantischen Theologie“ (Barth, Brunners Schleiermacherbuch, 402). 4 Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, hg. von D. Ritschl, Zürich 1978, 341.

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Die christliche Hoffnung und die prophetischen Lehrstücke

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bensatz nur so interpretieren können, dass Schleiermachers Entfaltung der Eschatologie, die zu dem Eingeständnis führt, dass wir keine „festbegränzte und wahrhaft anschauliche Vorstellung“ des Zustands der Vollendung gewinnen können,5 letztlich zu einer Auflösung der Eschatologie führe.6 In der Tat betont Schleiermachers Darstellung der eschatologischen Lehrstücke durchgehend,7 dass wir in der Eschatologie darauf verzichten müssten – wie es im abschließenden Zusatz zu den prophetischen Lehrstücken heißt –, „eine Erkenntniß im eigentlichen Sinne hervorzubringen“ (CG2, II, 493, 15f). Insofern die Eschatologie den Aussagen über die Beschaffenheit der Welt zugeordnet wird, gehört sie zudem zu jenen Themen, von denen die Dogmatik nach Schleiermacher – worauf Barth in seiner Vorlesung hinweist – „einmal lernen wird, sich ohne sie zu behelfen“8. Diesem Ansatz entspricht es, dass Schleiermacher die Lehre „von der Wiederkunft zum Gericht nicht zum eigentlichen wesentlichen Bestand der Lehre von Christi Person, nicht zu den ursprünglichen Elementen des Glaubens“9 rechne. Barth beobachtet also eine dreifache Marginalisierung der Eschatologie bei Schleiermacher: zuerst im Verzicht darauf, in diesem Lehrstück Erkenntnisgewinne erzielen zu wollen, sodann in der Zuordnung der Eschatologie zu jenen Nebensätzen, auf welche die Dogmatik letztlich verzichten könnte, und schließlich in der Ausgliederung der Lehre von der Wiederkunft Christi aus der eigentlichen Christologie. Dass Barth den Eindruck gewinnt, bei Schleiermacher bleibe von der Eschatologie kaum etwas übrig,10 hängt nicht zuletzt an seinem methodischen und durchaus legitimen11 Vorgehen, sich die Theologie Schleiermachers von seinen 5 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von R. Schäfer, Berlin/New York 2003, KGA I/13 [fortan: CG2], II, 492, 27–493, 1. 6 Vgl. Emil Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924, 278: „Ist einmal die christliche Hoffnung unter den Gesichtspunkt gerückt: Eine Tendenz, den Zustand nach dem Tod vorzustellen, so hat der Kritiker natürlich leichtes Spiel. Es wird ihm nicht schwer fallen – und das ist der Inhalt der Schleiermacherschen Eschatologie –, die Unhaltbarkeit aller dieser Vorstellungen nachzuweisen und damit seine negative Haltung zu rechtfertigen.“. 7 Vgl. CG2, II, 465, 25–466, 4 (Leitsatz zu § 159); 467, 20–22; 469, 17–30; 472, 17–473, 9; 476, 22– 477, 2; 479, 10–21; 480, 33f; 484, 31f; 489, 27–34; 492, 15–18. 8 Schleiermacher, Über die Glaubenslehre, KGA I/10, 362, 1; vgl. Barth, Die Theologie Schleiermachers, 372; ders., Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 41981, 408f. 9 Barth, Die Theologie Schleiermachers, 176; vgl. CG2 § 99. 10 Vgl. auch noch das in der Form der Frage vorgetragene Urteil des späten Barth im Nachwort zur Schleiermacher-Auswahl: „War nicht schon seine Eschatologie aller konkreten Inhalte ebenso bar wie das, was sich heute ‚Theologie der Hoffnung‘ nennt?“ (Karl Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli, München/Hamburg 1968, 290–312, 302). 11 Vgl. zur Legitimität dieses Vorgehens Martin Weeber, Schleiermachers Eschatologie. Eine

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Predigten her zu erschließen.12 In seinen Predigten vollzieht Schleiermacher anders als in seiner Glaubenslehre eine weitreichende Transformation der klassischen Eschatologie. In seiner vorzüglichen Tübinger Dissertation zu Schleiermachers Eschatologie fasst Martin Weeber seine an den Totensonntagspredigten Schleiermachers gewonnenen Beobachtungen wie folgt zusammen: „Martin Kählers Beobachtung, daß ‚Schleiermacher die individuelle Zukunft hinter dem schon gegenwärtigen ewigen Leben zurückstellte‘, trifft zwar kaum die Eschatologie der Glaubenslehre, beschreibt aber zutreffend die Eigenart der in den Predigten vorgelegten Konzeption der Eschatologie.“13 Dieser Distanzierung von der klassischen Eschatologie in den Predigten der Reifezeit entspricht auch eine auffällige Selbstkorrektur Schleiermachers bei der Überarbeitung der Eschatologie seiner Glaubenslehre, auf die ebenfalls Weeber aufmerksam gemacht hat: Während Schleiermacher im Leitsatz zum zweiten Paragraphen der Eschatologie in der ersten Auflage formuliert, dass für den Christen aus dem Glauben an die ewige Fortdauer der menschlichen Persönlichkeit die Aufgabe folge, „sich den Zustand nach dem Tode vorzustellen“,14 korrigiert er in der zweiten Auflage seine Wortwahl, indem er schreibt: „so entsteht hieraus dem Christen die Tendenz, den Zustand nach dem Tode vorzustellen“ (CG2 II, 459, 3f).15 Ist es also nach der ersten Auflage dem Christen geboten, sich den Zustand nach dem Tode vorzustellen, wird dieser normative Anspruch in der zweiten Auflage zugunsten einer beschreibenden Aussage zurückgenommen: Weil Christen an die Fortdauer der menschlichen Persönlichkeit glauben, haben sie die Tendenz, sich den Zustand nach dem Tode vorzustellen. Weil Barth sich der Theologie Schleiermachers zunächst von dessen Predigten her nähert und sodann mit dem Text der zweiten Auflage der Glaubenslehre

12

13 14 15

Untersuchung zum theologischen Spätwerk, BEvTh 118, Gütersloh 2000, 26–45. Weeber hat in seiner Arbeit nicht Barths Schleiermacherrezeption vor Augen, sondern argumentiert allein von der Eigentümlichkeit der Dogmatik Schleiermachers her: Weil nach Schleiermacher zwischen dogmatischen Sätzen und Glaubenssätzen „nur ein gradueller, und nicht etwa ein kategorialer, Unterschied“ hinsichtlich ihrer Bestimmtheit bestehe, dürften „die inhaltlichen Aussagen der Glaubenslehre in eine direkte Beziehung zu denen der Predigten“ gesetzt werden (29; vgl. 170). Vgl. Barth, Die Theologie Schleiermachers, 10: „Und nun habe ich mir die Sache so zurechtgelegt: Schleiermacher ist 1. Pfarrer gewesen, 2. Theologieprofessor, 3. Philosoph. Danach hätten wir 1. von Schleiermachers Predigten zu reden. Wir können nicht besser in Schleiermachers eigenem Sinn und Interesse handeln, als indem wir sie an den Anfang stellen.“; vgl. 13–243: I. Kapitel Die Predigt. Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 193. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), hg. von H. Peiter, KGA I/7.2, Berlin/New York 1980 [fortan: CG1], 315, 3f. Vgl. Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 193.

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arbeitet, gewinnt er den Eindruck, dass bei Schleiermacher von der klassischen Eschatologie kaum etwas übrig bleibe. Schärfer als bei Barth ist diese Bobachtung in Emil Brunners Werk „Die Mystik und das Wort“ von 1924 formuliert, dessen Manuskript Barth im Herbst 1923 erhalten und zur Vorbereitung seiner Vorlesung benutzt hat. Nach Brunner dokumentiert Schleiermachers Eschatologie dessen „Verzicht auf jene Hoffnung, die die Bibel und die Reformatoren allein im Auge haben, wenn sie von Hoffnung sprechen“.16 Angesichts der Kritik, die Barth in seiner Rezension von 1924 an Brunners Buch übt,17 darf nicht die grundlegende Übereinstimmung in der Kritik an Schleiermacher übersehen werden, die Barth als Kritik „von der Eschatologie aus“ versteht (402). Das die verschiedenen Angriffe Brunners Verbindende ist nach Barth „die Eschatologie, das Bedenken des ‚Letzten‘, der Grenze, von der her der Mensch gerichtet und begnadigt wird, des Futurum Gottes, in dem ihm alles verheißen ist, aus dem er aber eben darum kein Präsens zu machen versuchen soll, bei Strafe ebenso sicher alles zu verlieren“ (405). Weil der Angriff in Brunners Schleiermacherbuch von der Eschatologie aus geführt wird, deshalb gilt für Barth: „Es ist gut, daß dieses Buch da ist. […] Seine These ‚sitzt‘, und das Entweder-Oder, zu dem [Brunner] auffordert, schwebt nicht in der Luft“ (407; vgl. 411, 421).18 Barths Wendung, dass der Angriff gegen Schleiermacher von der Eschatologie her zu führen sei, lässt sich mit Hilfe von Brunners Argumentation noch präzisieren: Nach Brunner ist der modernen Theologie im Gefolge Schleiermachers ob „ihrem geschichtlichen Denken […] das endgeschichtliche abhanden gekommen“.19 Der modernen Theologie mangele nicht eine jede Form von Eschatologie, sie kenne durchaus – wie gerade auch ein Blick in Schleiermachers Glaubenslehre zeigt – eine geschichtliche Eschatologie, aber eben – zumindest in der Sicht Barths und Brunners – keine endgeschichtliche. Schleiermacher themati16 Brunner, Die Mystik, 267; vgl. 268–287: Das eschatologische Loch. 17 Barth kritisiert vor allem Brunners Verzicht auf die Auswertung von Schleiermachers Predigten (Brunners Schleiermacherbuch, 408f), außerdem die Konzentration auf die Mystik (413–417), die verhindere, Schleiermachers apologetische und kulturtheologische Interessen hinreichend wahrzunehmen, und drittens den Gestus des siegreichen Kämpfers, der die wahre Not der Situation verstelle, indem er suggeriere, man könne sich einfach so von Schleiermacher absetzen, obwohl doch in Wirklichkeit „der rettende Kahn, der uns von Schleiermacher weg in ein besseres Land […] bringen müßte, keineswegs zur Abfahrt bereit steht, sondern im Schweiße unseres Angesichtes und unter Lebensgefahr erst zu bauen ist“ [423f; vgl. dazu auch die Erwiderung Brunners in einem Brief an Barth vom 31. Juli 1924, in: Karl Barth – Emil Brunner, Briefwechsel 1916–1966, hg. von der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung Eberhard Busch), Zürich 2000, 96–101]. 18 Zu Barths Rezension von Brunners Schleiermacherbuch vgl. auch Sung Hyun Oh, Karl Barth und Friedrich Schleiermacher 1909–1930, Neukirchen 2005, 158–167. 19 Brunner, Die Mystik, 269.

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siere zwar die Vollendung der Geschichte, aber nicht „das Ende der Geschichte“20. Dass die Erlösung der Versöhnung gegenüber ein Neues schafft,21 „das Wunder der neuen Welt und der Auferstehung der Toten“,22 das ist es, was Schleiermacher – nach Barth und Brunner – verkannt hat. Insofern überrascht es nicht, dass Barth 1927 in einem autobiographischen Text ausführt, er sei nicht bereits durch seine erste Kommentierung des Römerbriefs, sondern erst 1919/20, also im Kontext seiner Zuwendung zur apokalyptischen Eschatologie, in offene „Opposition gegen Schleiermacher“ geraten. Als erstes Dokument dieser Wendung hat Barth seinen Vortrag „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke“ von 1920 bezeichnet.23 In diesem Vortrag entfaltet Barth ein konsequent endgeschichtliches, auf das Ende der Geschichte konzentriertes Verständnis der biblischen Eschatologie: „‚Es ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt‘, consummatio mundi, die Aufhebung alles Gegebenen, der Abbruch von allem Werden, das Vergehen dieser Weltzeit, das ist die Bedeutung des ‚Reiches Gottes‘, wie es sowohl vom Täufer als von ‚Jesus von Nazareth‘ als von Paulus als von der Apokalypse verkündigt wird.“24 Konnte Barth in der ersten Auflage des Römerbriefes von einem Wachstum in Christus reden25 und damit eine Art „Progreßeschatologie“26 entfalten, tritt nun – mit weitreichenden Folgen für Barths Überarbeitung seines Römerbriefkommentars27 – an die Stelle der organologischen Metaphorik des Wachstums die Konzentration auf das Ende. Erst durch diese Wendung gerät Barth in offene „Opposition“ gegen Schleiermachers Theologie.28 Schleiermacher selbst wird in dem Aargauer Vortrag zwar nicht namentlich erwähnt, aber von der endgeschichtlich verstandenen biblischen Eschatologie 20 Ebd. 21 Unterricht in der christlichen Religion. Dritter Band. Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung 1925/26, hg. von H. Stoevesandt, Zürich 2003 [fortan: UCR III], 438f, 446. 22 Brunner, Die Mystik, 271. 23 Vgl. Karl Barth, Autobiographische Skizze aus dem Fakultätsalbum der Ev.-Theol. Fakultät in Münster (1927), in: ders. – Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, hg. von B. Jaspert, Zürich 21994, 290–300, 297f. 24 Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1: Karl Barth. Heinrich Barth. Emil Brunner, TB 17/1, Gütersloh 61995, 49–76, 66f. 25 Vgl. nur Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, hg. von H. Schmidt, Zürich 1985, 295: „Im Christus aber ist das Göttliche, das in unserem Dasein erscheinen muß, Natur, Gabe, Wachstum.“, 316: „Geist ist Wachstum“. 26 Vgl. Michael Beintker, Die Dialektik in der „dialektischen Theologie“ Karl Barths. Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der „Kirchlichen Dogmatik“, BEvTh 101, München 1987, 110. 27 Vgl. dazu Gregor Etzelmüller, … zu richten die Lebendigen und die Toten. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen 2001, 87–102. 28 Vgl. Oh, Karl Barth, 62–65.

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her wird die Kritik der Religion zugespitzt: „Die Religion vergißt, daß sie nur dann Daseinsberechtigung hat, wenn sie sich fortwährend aufhebt. Sie freut sich stattdessen ihres Daseins und hält sich selbst für unentbehrlich. […] Sie erträgt ihre eigentliche Relativität nicht. Sie hält das Warten, die Pilgrimschaft, das Fremdlingsein, das allein ihr Auftreten in der Welt rechtfertigt, nicht aus.“29 Dass sich diese Kritik der Religion auch auf Schleiermacher bezieht, lässt sich anhand des Schleiermacher-Kapitels der Münsteraner Vorlesung zur neueren Theologie aus dem Sommersemester 1926 zeigen. Barth entfaltet dort, dass der Glaube für Schleiermacher nicht Hoffnung, sondern Besitz des Höchsten ist, in dem die radikale Diastase von Gegenwart und Zukunft aufgehoben ist: ‚Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn‘ ( Joh 1, 51); diesen Text hat Schleiermacher ausdrücklich bestätigt gefunden durch die ‚vollkommenste und seligste Erfahrung eines gläubigen Gemüts‘, für das zwischen Himmel und Erde keine Trennung mehr besteht. Frömmigkeit sucht nicht nur, erwartet nicht nur, betet nicht nur an, sondern ist […] jener Friede, der höher ist als alle Vernunft.30

Obwohl Barth auch in dieser Vorlesung – seiner Kritik an Brunners Schleiermacherbuch entsprechend – allein das Denken Schleiermachers nachzeichnet, ohne zugleich seine eigene Position zu entwickeln bzw. darzustellen,31 also keine explizite Kritik vom Standpunkt der Eschatologie aus vollzieht, wird doch deutlich, dass für Barth Schleiermachers Religionsverständnis im Widerspruch zur apokalyptischen Eschatologie des Neuen Testamentes steht. Er weist auf Schleiermachers Unbehagen an den apokalyptischen Texten des Neuen Testaments32 und der Person Johannes des Täufers33 hin, in dessen Wort von der Axt, die den Bäumen an die Wurzel gelegt sei (Mt 3, 10/Lk 3, 9), Barth selbst die ganze neutestamentliche Eschatologie zusammengefasst sieht. Für Barth ist Schleiermacher von der Eschatologie her zu kritisieren. Eben deshalb kommt er nach eigener Einschätzung in dem Moment in offene Oppo29 Barth, Biblische Fragen, 59. 30 Karl Barth, Schleiermacher, in: ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, 136–189, 153; vgl. Die Theologie Schleiermachers, 27; Die protestantische Theologie, 406; vgl. Brunner, Die Mystik, 286: Die fromme Empfindung „hofft nicht auf den Himmel, sie ist der Himmel.“. 31 Nach Barth hätte Brunner dem Zweck seines Buches besser gedient (vgl. Brunners Schleiermacherbuch, 413), wenn er einerseits darauf verzichtet hätte, en passant „seine eigene historische Position zu entwickeln“ (417), und andererseits, „einfach ein liebevoll minutiöses Bild“ Schleiermachers gezeichnet hätte (412). 32 Vgl. Barth, Schleiermacher, 147: „Eschatologische Texte, denen er etwa auf seinem Wege durch das Markusevangelium begegnet, werden ihm hauptsächlich Anlaß, vor allem eschatologischen Enthusiasmus dringend zu warnen.“; vgl. Die Theologie Schleiermachers, 22–24, 84. 33 Vgl. Barth, Schleiermacher, 148; vgl. Die Theologie Schleiermachers, 82f.

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sition gegen Schleiermacher, als er beginnt, die biblische Eschatologie konsequent endgeschichtlich zu interpretieren. Dass Barth selbst Schleiermacher nicht explizit von der Eschatologie aus angegriffen hat, dürfte zwei Gründe haben, die beide mit Brunners Schleiermacher-Buch zu tun haben: Zum einen war sich Barth bewusst, dass er selbst über diesen Standpunkt nicht so verfüge, dass er von ihm aus andere kritisieren könne, sondern vielmehr gemeinsam mit seinen Gegnern von der Eschatologie, vom Ende her, kritisiert werde.34 Im Lichte des Eschaton ist für ihn auch seine Differenz zu Schleiermacher nur eine relative. Zum anderen war Barth durch Brunners Schleiermacher-Buch von der Notwendigkeit entbunden, das Entweder-Oder, das auch in seinen Augen zwischen seiner und Schleiermachers Theologie bestand, plakativ zu markieren. Es dürfte gerade Brunners Schleiermacher-Buch gewesen sein, das es Barth ermöglichte, „den Weg einer zurückhaltenden, – sit venia verbo –, ‚raffinierteren‘, einer immanenten Kritik an Hand einer gelassenen systematischen Entwicklung des Gegenstandes“ zu wählen.35

2.

Barths Kritik an der Eschatologie der Glaubenslehre

Während Barth sich – wohl auch aufgrund der von ihm beobachteten Marginalisierung der Eschatologie bei Schleiermacher – weder in seiner Göttinger Schleiermacher-Vorlesung noch in den Schleiermacher-Kapiteln seiner Darstellungen der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert explizit mit Schleiermachers Eschatologie auseinandergesetzt hat, kommt es in Barths Münsteraner Eschatologie-Vorlesung von 1925/26, mit der Barth seinen ersten Dogmatik-Zyklus abschließt, an drei Stellen zu einer direkten Auseinandersetzung mit Schleiermachers Eschatologie. Barth kritisiert zunächst, dass sich Schleiermacher durch die Unterscheidung der altprotestantischen Orthodoxie zwischen einer mikrokosmischen, also anthropologischen und einer makrokosmischen, also kosmologischen Eschatologie zu einer „ganz unsachgemäßen dialektischen Eschatologie, kreisend um den 34 Vgl. Barth, Brunners Schleiermacherbuch, 421: Es müsse deutlich werden, „daß der Angriff gegen Schleiermacher wirklich nicht von irgendwelcher ‚Orthodoxie‘ […], sondern von der Eschatologie herkommt, von der aus gesehen auch Luther und Calvin (und noch viel mehr wir Angreifer selbst) Schleiermacher nicht nur – gegenüberstehen!“ Vgl. auch Barth, Schleiermacher, 180. 35 Diesen Weg hätte nach Barth Brunner wählen sollen; vgl. Brunners Schleiermacherbuch, 412; vgl. auch Brunners Erwiderung in einem persönlichen Brief an Barth vom 31. Juli 1924: „Es scheint mir: es gibt vieles, was du nicht schreiben solltest, was aber unbedingt doch geschrieben werden muß. […] Es ist die öffentliche Aufgabe von ‚Barth‘, den leider notwendigen ‚Brunner‘ öffentlich immer wieder abzuschütteln, wenn auch so, daß er immer wieder aufstehen und wiederkommen soll.“ (Barth – Brunner, Briefwechsel, 99f)

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Begriff der Kirche einerseits, des individuellen Selbstbewusstseins andererseits, verlocken lassen“ habe (UCR III, 432). Demgegenüber gehöre der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele, sofern er überhaupt theologisch bedeutsam sei, in die Anthropologie, nicht in die Eschatologie, die sich allein auf Christus und sein Kommen zu konzentrieren habe (vgl. UCR III, 432–435). Barth kritisiert sodann, dass Schleiermacher verkannt habe, dass die Erlösung gegenüber der Versöhnung ein Neues sei (vgl. UCR III, 446). So, wie Christus „in der Parusie kommen und dasein wird, so ist er noch nie gekommen und dagewesen“ (UCR III, 438). Indem Schleiermacher als Werk des wiederkommenden Christus allein die Vollendung der Kirche und damit die Vollendung des Handelns Christi durch den Geist betrachte, gehe bei Schleiermacher die Erlösung „über den Rahmen der Versöhnung nicht hinaus“ (UCR III, 439). Schließlich stellt Barth der von Schleiermacher vertretenen Lehre der Allversöhnung das Bekenntnis gegenüber: „Nicht Alle haben die Verheißung, sondern die von [Christus] Erwählten, Versöhnten, zum Ziel Geführten, nicht die Welt, sondern, so unangenehm partikular das wiederum klingen mag, die Kirche, der Leib, da Christus das Haupt und wir seine Glieder. Denn nicht die Welt, sondern die Kirche preist Gottes Ehre, und um sie geht es in der Erlösung“ (UCR III, 491). Damit begegnet in der Eschatologie noch einmal der Grundvorwurf Barths an die Adresse Schleiermachers, dass es in dessen Theologie zuerst und zuletzt um den Menschen36 und dessen Lebensgefühl37 und nicht zuerst und zuletzt um Gott und dessen Ehre gehe.

3.

Überraschende Übereinstimmungen

Angesichts der von Barth in Münster vorgetragenen Kritik an Schleiermachers Eschatologie überraschen bei einem unvoreingenommenen Vergleich der Eschatologien Schleiermachers und Barths38 zwei Analogien, deren erste im ge36 Vgl. Die protestantische Theologie, 424: „daß hier der Mensch insofern allein auf dem Platz geblieben ist, als er allein hier Subjekt, Christus aber sein Prädikat geworden ist.“. 37 Vgl. Karl Barth, Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ (1924), in: ders., Vorträge und Kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von H. Finze, Göttingen 1990, 458–489, 489: „Dilthey hat recht: das letzte Wort für dieses Letzte, was Schleiermacher über die Weihnacht zu sagen hat, ist das Wort Lebensgefühl.“ 38 Da Barth keine ausgearbeitete Eschatologie zur Veröffentlichung gebracht hat, kann sich der Vergleich nur auf Barths Münsteraner Eschatologie-Vorlesung von 1925/26 beziehen, die zwar in ihrem christozentrischen Aufbau wohl auch für die Eschatologie der Kirchlichen Dogmatik vorbildgebend gewesen wäre (vgl. Karl Barth, Briefe 1961–1968, hg. von J. Fangmeier und H. Stoevesandt, Zürich 1975, 373–379, 377), deren materiale Entscheidungen – insbesondere in der Bestimmung der ewigen Verwerfung und damit an einem für den Vergleich mit Schleiermachers Eschatologie entscheidenden Punkt – in der Kirchlichen Dogmatik aber anders vollzogen worden wären.

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meinsamen Aufbau der jeweiligen Eschatologien zu erkennen ist: Sowohl Schleiermacher als auch Barth beginnen die materiale Entfaltung der Eschatologie mit dem Lehrstück „Von der Wiederkunft Christi“ (CG1, II, § 176; CG2 II, § 160) bzw. der „Gegenwart Jesu Christi“ (UCR § 36). Wenn Barth allein Jesus Christus als Inhalt der Hoffnung bestimmt „und Alles, was sonst zu nennen ist, als seine Tat, als Prädikat an diesem Subjekt“ (UCR III, 437), dann entspricht dem auch Schleiermachers Aufbau der Eschatologie, die mit der Lehre von der Wiederkunft Christi beginnt und dann alles weitere – die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht und die ewige Seligkeit – als „Wirkungen dieser Wiederkunft“ (CG1, II, 322, 3f) thematisiert. Ihre Einheit erhalten die unterschiedlichen eschatologischen Lehrstücke nach Schleiermacher „dadurch, daß die neue Form des Daseins bedingt wird durch die Wiederkunft Christi, auf den ja alles zurückgeführt werden muß, was zur Vollendung seines Werkes gehört“ (CG2, II, 470, 26–28). Im Aufbau der Eschatologie Schleiermachers zeigt sich einmal mehr, dass dieser – wie Barth formuliert – „christozentrischer Theologe“39 sein wollte und war. Die Christozentrik zeigt sich dabei nicht nur im Aufbau, sondern auch in der Entfaltung der materialen Eschatologie: So ist nach Schleiermacher die Vollendung der Kirche nicht als Ergebnis eines Wachstumsprozesses zu verstehen, sondern nur durch einen „Act der königlichen Gewalt Christi“ möglich (CG1, II, 323, 32f; CG2, II, 473, 15f). Auch die „innere Scheidung“, durch die im Jüngsten Gericht die Gläubigen von dem Sündlichen, das ihnen gegenwärtig noch anhänge, gänzlich getrennt werden, könne nur durch „die mit seiner Wiederkunft verbundene vollkommene Erkenntniß Christi“ bewirkt werden (CG1, II, 330, 18f; vgl. CG2, II, 482, 18f). Indem die Wiederkunft Christi durch die innere Scheidung das Böse „für uns nicht mehr als solches vorhanden“ sein lässt (CG1, II, 332, 7; vgl. CG2, II, 485, 18), vollendet sie unsere Lebensgemeinschaft mit Christus (vgl. CG1, II, 332, 4–7; vgl. CG2, II, 485, 15–18) und schaffe so „die Seligkeit der Gläubigen in dem neuen Leben“ (CG1, II, 331, 9f; CG2, II, 483, 20f). Doch nicht nur für Schleiermacher, sondern auch für Barth gehört die Parusie Christi mit ihren Wirkungen zusammen. Die christliche Hoffnung richtet sich nach Barth zwar darauf, dass Christus „seine Verborgenheit im Himmel aufgibt und die Herrlichkeit der menschlichen Natur in seiner Person direkt, unmittelbar, schaubar zur Offenbarung“ kommt (UCR III, 469), doch darf diese Offenbarung – wie es Barth oft vorgeworfen worden ist – nicht als rein noetische Apokalypse verstanden werden. Denn der „neuen Gegenwart Jesu Christi in der Herrlichkeit seines Vaters entspricht sein neues und abschließendes Werk“: die Auferstehung der Toten (UCR III, 464).40 Die die Versöhnungslehre der Kirch39 Die protestantische Theologie, 385; vgl. Die Theologie Schleiermachers, 195. 40 Damit bestätigt die Veröffentlichung der Münsteraner Eschatologie-Vorlesung das Ergebnis

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lichen Dogmatik prägende Einsicht, dass Person und Werk Christi in der Christologie nicht getrennt werden dürfen, wird in der Münsteraner Vorlesung bereits für die Eschatologie fruchtbar gemacht: Die Person Christi darf nicht ohne ihr Werk – und deshalb auch die Parusie Christi nicht ohne die Auferstehung der Toten – gedacht werden. Es zeigt sich also im Aufbau der materialen Eschatologie eine Einigkeit darin, dass alle eschatologischen Lehrstücke auf das Lehrstück von der Parusie Christi zurückbezogen werden müssen, dass aber zugleich die Eschatologie nicht auf das Lehrstück von der Parusie Christi reduziert werden darf. Es geht also sowohl Schleiermacher als auch Barth um eine christologische Konzentration der Eschatologie – bei gleichzeitiger Vermeidung einer christologischen Reduktion der Eschatologie. Die zweite bedeutende Analogie besteht darin, dass sowohl Schleiermacher als auch Barth den Gedanken nahe legen, dass sich für den einzelnen Menschen die Parusie Christi in seiner Todesstunde ereignet. Beide nähern sich der Vorstellung einer Auferstehung im Tode. Schleiermacher hält zwar die Vorstellung einer individuellen Auferstehung im Tode gegenüber derjenigen einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Zeiten für biblisch geringer begründet (vgl. CG1, II, 327, 15–32; CG2, II, 479, 1–21), aber es sei doch jene Vorstellung, der man – wie Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre hinzufügt – „eine naturwissenschaftliche Bewährung wünschen müsste“ (CG2, II, 479, 17f). Angesichts Schleiermachers Sorge einer zunehmenden Trennung von Christentum und Naturwissenschaft41 lässt diese Formulierung seine Tendenz zugunsten der biblisch geringer bezeugten Vorstellung deutlich erkennen.42 Entsprechend heißt es in einer Predigt am Totensonntag 1826: Was für die Apostel „ihrer Meinung nach die Wiederkunft des Herrn sein sollte, das ist für uns alle der Augenblick unseres Abschiedes aus diesem Leben.“43 Auch Barth empfiehlt, sich die Dringlichkeit der letzten Stunde dadurch zu verdeutlichen, daß die „letzte Stunde der Arbeit Gotthard Oblaus zur Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik, dass nämlich Barths Verständnis des eschatologischen Heilsgeschehens als Offenbarung der Versöhnung eine materiale Eschatologie nicht ausschließt, sondern vielmehr bedingt. Zurecht hat Oblau herausgestellt, dass „Barths Offenbarungsbegriff sich eben nicht in noetischer Apokalypse erschöpft, sondern daß er höchst ontisch, mit geschichtlich-schöpferischer Konstruktivität geladen ist“ (Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, NBST 6, Neukirchen 1988, 10, vgl. 238–253). 41 Vgl. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre, KGA I/10, 347, 8–10. 42 Schleiermacher hat sich in seiner Glaubenslehre ausdrücklich dazu bekannt, dass es aufgrund von Entwicklungen in den „realen Wissenschaften“ (CG2, I, 223, 26f) notwendig sein könne, Glaubenssätze zu revidieren und nötigenfalls ihren „symbolischen Ausdrukk auch ganz zu verlassen.“ (CG2, I, 223, 28f) Vgl. Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 163f. 43 Friedrich Schleiermacher, Predigt über I Thess 5, 1–11 am Totensonntag, 26. 11. 1826, in: ders., Sämtliche Werke [fortan: SW] II/4, Berlin 1835, 157–170, 158; zu dieser Predigt vgl. Weeber, a. a. O., 186–192.

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aller Menschen, der ganzen Natur und der ganzen Geschichte, die Stunde der Gegenwart Jesu Christi für den einzelnen Menschen zusammenfallen dürfte mit seiner Todesstunde“ (UCR III, 458). So hält es Barth – der Entwicklung der paulinischen Eschatologie zwischen dem 1. Thessalonicherbrief und dem 2. Korintherbrief folgend – für den „Weg der Weisheit […], die kommende Begegnung mit Christus […] mehr und mehr auch als den Sinn seines eigenen Sterbens aufzufassen“ (UCR III, 458f). Obwohl Schleiermacher und Barth der Vorstellung einer Auferstehung im Tode zuneigen, halten sie beide an der Leiblichkeit der Auferstehung fest. Nach Schleiermacher können wir uns ein individuelles Geistesleben ohne einen organischen Leib nicht vorstellen (vgl. CG2, II, 474, 14f). Eben deshalb sei auch die Auferstehung im Tode als leibliche zu verstehen (vgl. CG2, II, 479, 4–6), auch wenn diese Vorstellung uns an den Rande des uns Vorstellbaren führt. Entsprechend wird auch von Barth die Auferstehung im Tode in der Münsteraner EschatologieVorlesung als „leibliche Auferstehung“ gedacht (vgl. UCR III, 479). Dabei soll die betonte Leiblichkeit – sowohl bei Schleiermacher als auch bei Barth – inmitten der Diskontinuität der Auferstehung die Identität (Selbigkeit) der Person sichern (vgl. CG1, II, 325, 3–6; CG2, II, 474, 20–475, 2; UCR III, 479).44 Auffälligerweise können Schleiermacher und Barth sogar denselben Vorbehalt gegenüber der von ihnen bevorzugten Vorstellung einer Auferstehung im Tode benennen: die Vorstellung birgt die Gefahr, die Vollendung der Kirche gegenüber der Erlösung des einzelnen als sekundär erscheinen zu lassen und damit der Sozialität des Menschen nicht hinreichend gerecht zu werden. So kann die Vorstellung einer Auferstehung im Tode nach Schleiermacher „die Vollendung der Kirche nicht rein“ zur Darstellung bringen (CG1, II, 327, 32). Entsprechend konnte Barth in einem Gespräch einmal formulieren, dass dem einzelnen im Tod „noch die Vollendung der ‚Bruderschaft‘, die erst am Letzten der Tage erfolgt“45, fehle.

44 Eine Differenz besteht freilich darin, dass Barth am naturalen Eingebundensein des Menschen durch seinen Leib auch eschatologisch festhalten will und deshalb die leibliche Auferstehung mit der Neuschöpfung dieser Welt verknüpft (vgl. UCR III, 480), während Schleiermacher – aufgrund der Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in Christus – „das Gebundensein des menschlichen Geistes an die Erdscholle“ leugnet (CG2, II, 475, 12f; vgl. CG1, II, 324, 1–5; CG2, II, 473, 19–23), weshalb die menschlichen Leiber den „nach kosmischen Gesezen erfolgenden Untergang“ des Universums überleben können (CG2, II, 473, 21–23). Schleiermacher entwickelt also eine Hoffnung für die einzelnen Menschen und die Kirche, nicht aber für die Welt, die ihren kosmischen Gesetzen unterworfen bleibt und deshalb auf ihre annihilatio zusteuert. 45 Zitiert nach Gisbert Greshake, Auferstehung der Toten. Ein Beitrag zur gegenwärtigen theologischen Diskussion über die Zukunft der Geschichte, Koin. 10, Essen 1969, 76.

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4.

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Kritisches und Konstruktives zu Barths Kritik an Schleiermachers Eschatologie

Auf dem Hintergrund der dargestellten Analogien möchte ich mich nun noch einmal Barths Kritikpunkten an Schleiermachers Eschatologie zuwenden.

4.1

Zum Verhältnis von Parusie und Auferstehung

Schon die Gliederung der eschatologischen Lehrstücke bei Schleiermacher verdeutlicht, dass dieser nicht in den Spuren der altprotestantischen Orthodoxie gefangen bleibt, sondern, wie Barth es später gefordert hat, konsequent mit der Wiederkunft Christi einsetzt und die Auferstehung als Wirkung dieser Wiederkunft versteht. Gerade in der systematischen Darstellung des Zusammenhangs der individuellen und der ekklesiologischen Vollendungsperspektive unterscheidet sich Schleiermacher deutlich von der altprotestantischen Orthodoxie. Der Zusammenhang beider Perspektiven wird bei Schleiermacher nämlich nicht mehr, wie im orthodoxen Lehrstück „durch den Parallelismus zweier ‚ontologischer‘ novissima, des Todes und des Weltendes gesichert“, sondern durch „die zentrale Stellung des christologischen Endmotivs, der Vorstellung der Wiederkunft Christi gewährleistet.“46 Barths Befürchtung, dass bei Schleiermacher die Auferstehung der Toten zu einem selbständigen Thema neben dem der Parusie Christi werden könnte, hat freilich Anhalt an Schleiermachers Ausführungen im Lehrstück „Von der Wiederkunft Christi“. Insofern Schleiermacher erklärt, dass „die Wiedervereinigung der Gläubigen mit Christo“ (CG2, II, 472, 26f), wie etwa bei Johannes und Paulus, auch ohne Rekurs auf die Wiederkunft Christi gedacht werden könne (vgl. CG1, II, 323, 21–23; CG2, II, 472, 25–473, 8), drückt er eine Hoffnung auf „persönliche Fortdauer“ aus (CG2, II, 473, 1), die nicht mehr Implikat der Hoffnung auf die Wiederkunft Christi ist. Dabei ist in diesem Zusammenhang eine Verschiebung zwischen der ersten und zweiten Auflage der Glaubenslehre von Bedeutung: Während Schleiermacher im Leitsatz zum Lehrstück von der Wiederkunft Christi in der ersten Auflage nicht nur auf die Verheißungen Christi verweist, sondern zugleich festhält, dass „wir glauben daß diese Verheißungen in Erfüllung gehen“ (CG1, II, 322, 13f), ist der Hinweis auf den Glauben an die Erfüllung in der zweiten Auflage gestrichen (vgl. CG2, II, 471, 3–9). Die Lehre von der Wiederkunft Christi gründet demnach nur noch in den Verheißungen Jesu und der Erwartung 46 Sigurd Hjelde, Das Eschaton und die Eschata. Eine Studie über Sprachgebrauch und Sprachverwirrung in protestantischer Theologie von der Orthodoxie bis zur Gegenwart, BEvTh 102, München 1987, 118.

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der ersten Jünger, nicht aber mehr in unserem Glauben. Damit wird aus dem Glauben an die Wiederkunft Jesu tendenziell ein Glaube an die persönliche Fortdauer. Schleiermacher kann sich für die Hoffnung auf eine Auferstehung im Tode, die nicht explizit mit der Erwartung der Wiederkunft Christi verbunden ist, auf Biblisches, speziell auf Paulus berufen (vgl. CG1, II, 323, 21–23. 37; CG2, II, 473, 2– 5. 29f). Da er zudem das ewige Leben als Vereinigung mit Christus denkt, bleibt auch in dieser Form der Hoffnung der Christusbezug erhalten. Barths Kritik lässt sich aber als Hinweis auf die Gefahr lesen, dass eine Auferstehungshoffnung, die sich nicht mit der Erwartung der Wiederkunft Christi verbindet, mit der säkularen Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele verwechselt werden kann. Diese Vorstellung ist jedoch an sich keine hoffnungsvolle – man vergleiche nur die trostlosen Schilderungen bei Homer (etwa Odyssee XI, 218–222) und in Jes 14, 10f mit Barths Beschreibung der Existenz der leiblosen Seele als „Geschöpf, das, ob es will oder nicht, nicht sterben“ kann (UCR II, 361). Hoffnung für diese Seelen kann der Glaube – auch nach Schleiermacher – nur gewinnen, wenn er die abgeschiedenen Seelen als mit Christus vereint denken kann (vgl. CG2, II, 465, 3– 7). Im Blick auf Barth wäre zu fragen, ob es, wenn man die Hoffnung auf das ewige Leben stärker an die Erwartung der Parusie Jesu Christi (und die Neuschöpfung dieser Welt) rückbinden möchte, nicht angemessener wäre, die Vorstellung einer Auferstehung im Tode zugunsten einer universalen Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten aufzugeben. Die dadurch aufgeworfene Frage des Zwischenzustandes könnte dann so beantwortet werden, dass die Verstorbenen am Leib Christi Anteil haben und sich damit in einem Zustand der Seligkeit befinden – aber zugleich mit den lebendigen Gliedern des Leibes Christi auf die universale Auferstehung warten, in der sie ihre nun bereits ungebrochene Gemeinschaft mit Christus in eigenständiger Leiblichkeit leben werden.47 Eine solche imaginative, aber zugleich exegetisch kontrollierte,48 nämlich in Anschluss an lukanische und paulinische Überlieferungen vollzogene Fortschreibung der Tradition würde m. E. auch Schleiermachers Anforderungen an eine Lehre vom Zwischenzustand (vgl. CG2, II, 477, 27–479, 1) gerecht. Der Zwischenzustand würde nämlich gerade nicht als ein Zustand „ohne Gemeinschaft mit Christo“, sondern aufgrund der heilsamen Verohnmächtigung des Menschen als ein „Zustand erhöhter Vollkommenheit“ gedacht werden, demgegenüber die allgemeine Auferstehung der Toten freilich nicht „etwas über47 Vgl. dazu Gregor Etzelmüller, Wo sind die Toten? Eine Spurensuche beim jungen Dogmatiker Karl Barth, in: R. Hess/M. Leiner (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. J. Christine Janowski zum 60. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2005, 55–68. 48 Vgl. CG2, II, 469, 26–28: Die Imagination muss „um eine christliche zu bleiben sich unter den Schuz der Auslegungskunst stellen“.

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flüssiges“ sei, sondern die Voraussetzung dafür schaffe, dass die Menschen einst auch in eigener Leiblichkeit, d. h. in Selbständigkeit und „Gemeinschaft […] untereinander“, ihr Totsein bezüglich der Sünde leben werden. Insofern aber die abgeschiedenen Seelen im Zwischenzustand am Leibe Christi leben und daher der Kirche nicht verloren gehen, kann zugleich die Existenz der Kirche als stetige gedacht werden.

4.2

Die Differenz von Versöhnung und Erlösung – unterschiedliche Hierarchisierungen von endgeschichtlicher und präsentischer Eschatologie

Auch Barths zweiter Vorwurf, Schleiermacher verkenne, dass die Erlösung gegenüber der Versöhnung etwas Neues sei und schaffe, trifft Schleiermacher nicht unmittelbar. Zunächst ist es ja gerade durch diese Neuheit, d. h. die Tatsache, dass der Zustand der Vollendung sich von dem uns gegenwärtig in der Erfahrung gegebenen unterscheidet (vgl. CG2, II, 457, 19–21), bedingt, dass Schleiermacher die eschatologischen Lehrstücke als prophetische bezeichnet und konzipiert.49 Würde Schleiermacher nichts Neues erwarten, dann müsste er seine Eschatologie nicht in der Form prophetischer Lehrstücke vortragen. Schleiermacher hat die Differenz des Zustands der Vollendung der Kirche gegenüber jeglichem in der Geschichte möglichen Zustand aber auch inhaltlich deutlich benannt: Die Vollendung der Kirche werde nicht durch das geschichtliche Wachstum der Kirche erreicht,50 sondern könne nur durch die Veränderung der natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens51 und folglich „nur durch einen Sprung“ (CG2, II, 473, 13) realisiert werden. Anders als Barth es suggeriert (vgl. UCR III, 438f) ist dieser Sprung kein historischer, sondern ein solcher, der die Geschichte, wie wir sie kennen, beendet. Da die Vollendung der Kirche aber

49 Vgl. Eilert Herms, Schleiermachers Eschatologie, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 125–149, 137: Die Eschatologie richtet sich auf einen Zustand des unmittelbaren Selbstbewusstseins, „in welchem genau dasjenige Bestimmungsmoment beseitigt wird, das für alle bisher zur Sprache gebrachten Aspekte und Implikationen des christlich-frommen Selbstbewußtseins wesentlich war: sein Bestimmtsein durch den Gegensatz von Sünde und Gnade.“, sie thematisiert also das Sein des Selbstbewusstseins „jenseits jenes Gegensatzes“ (138). 50 Vgl. CG1, II, Leitsatz zu § 173, 313, 12–14: „Die Vollendung der Kirche […] ist in dem Verlauf des menschlichen Erdenlebens nicht zu erreichen“; vgl. CG2, II, Leitsatz zu § 157, 456, 3f. 51 Nach Schleiermacher muss insbesondere die Fortpflanzung der Menschheit zu ihrem Ende kommen, insofern wir uns diese „nicht ohne eine der Entwikklung des Geistes voranschreitende Naturgewalt, mithin nicht ohne Sündhaftigkeit denken können.“ (CG2, II, 476, 8– 10; vgl. dazu Herms, Schleiermachers Eschatologie, 139)

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als eine Wirkung Jesu Christi dargestellt werden müsse, kann dieser Sprung nur „als ein Act der königlichen Gewalt Christi“(CG2, II, 473, 15f) verstanden werden. Auch im Blick auf die Vollendung des individuellen Lebens hat Schleiermacher die Differenz zwischen dem zukünftigen Leben der Auferstandenen und der gegenwärtigen Existenz der Glaubenden deutlich herausgestellt. Das zukünftige leibliche Leben wird von dem jetzigen dadurch unterschieden sein, dass „das Interesse an der leiblichen Selbsterhaltung aus dem Weg geräumt [sein wird], welches wir als einen so erfolgreichen Keim des Streites zwischen Fleisch und Geist erfahren“ (CG2, II, 476, 3–5). Das zukünftige Leben wird also nicht mehr fleischlich bestimmt sein. Diese Ausführung Schleiermachers trifft aufs engste mit derjenigen Barths zusammen, dass der Mensch in der Auferstehung als der Sünder, der er gegenwärtig noch ist, endgültig vergehen wird, um als Gottes Kind zu leben. Erlösung bedeute, dass der Mensch „peccator nunmehr endgültig gewesen ist und also nicht mehr ist“ (UCR III, 479). Um zu verstehen, warum Barth den Eindruck gewinnt, Schleiermacher nivelliere die Differenz von Versöhnung und Erlösung, muss man sich eine Differenz zwischen diesen beiden Theologen im Blick auf die Wahrnehmung des gegenwärtigen Lebens der Glaubenden vergegenwärtigen. Barth hat die Situation, in der die Christen mit allen anderen Menschen gemeinsam leben, wiederholt auf den Begriff gebracht: „Wir stehen tiefer im Nein als im Ja.“.52 Eben deshalb ist und bleibt für Barth „das Sterbliche und Verwesliche in der Erwartung des radikalen Wechsels seiner Prädikate, der Verwandlung, der Auferstehung der Toten“.53 Entsprechend betont Barth auch in der Münsteraner Eschatologie-Vorlesung, dass Erlösung „eine eschatologische Wirklichkeit und ein eschatologischer Begriff“ sei (UCR III, 410). Der Christ habe nicht die Erlösung, sondern die Verheißung derselben. „Wer diesen Verheißungscharakter der Gnade verkennt, abschwächt oder eskamotiert, wer die Erfüllung selbst in den Gnadenstand verlegt, […] der gewinnt nichts, sondern verliert nur“ (UCR III, 420f). Dieser konsequent endgeschichtlichen Interpretation der Eschatologie bei Barth und der daraus folgenden Betonung des „Noch nicht“-Erlöstseins auch der christlichen Existenz (UCR III, 412) steht bei Schleiermacher eine johanneisch geprägte präsentische Eschatologie gegenüber, die das ewige Leben als „Fortdauer der Verbindung der Gläubigen mit dem Erlöser“ konzipiert (vgl. CG1, II, 318, 36; CG2, II, 465, 6f) und tendenziell sogar auf den Ausblick auf das ewige 52 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie 1, 3–37, 28; ders., Der Römerbrief (Zweite Fassung), 620; UCR II, 244; vgl. auch ders., Der Römerbrief (Erste Fassung), 216, dort freilich mit der für die erste Auflage von Barths Römerbriefkommentar typischen Fortführung: „Aber schon jetzt stehen wir nicht nur im Tode des Christus. Denn dieses Stehen ist ein Gehen, ein Leben, ein Wachsen, das auch in den Anfängen schon die künftige Vollendung in sich trägt.“ 53 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung), 143.

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Leben verzichten kann. So hat Schleiermacher in seinen Erläuterungen zu den Reden über die Religion, die 1821 gleichzeitig mit der ersten Auflage der Glaubenslehre erschienen sind, mit dem Argument, „daß in dem Zustande frommer Erregung die Seele mehr im Augenblick versenkt als der Zukunft zugewendet ist“, bestritten, dass die Hoffnung auf Unsterblichkeit wesentlich mit der Frömmigkeit verbunden sei.54 Entsprechend erscheint die Welt der christlichen Frömmigkeit nach Schleiermacher nicht als eine, die ihrer radikalen Verwandlung harrt, sondern „als die, welche durch das Leben des Erlösers verherrlicht und durch die Wirksamkeit seines Geistes zu immer unaufhaltsam weiterer Entwicklung alles guten und göttlichen geheiligt ist“ (SW II/4, 838). Mit den Theologien Schleiermachers und Barths stehen sich also keineswegs eine eschatologische und eine uneschatologische Theologie gegenüber, sondern – wie oben anhand von Brunners Bestimmung der biblischen als endgeschichtlichen Eschatologie gezeigt wurde – eine präsentisch-eschatologisch und eine endgeschichtlich geprägte Theologie. Dabei spricht es für die hier verglichenen Konzeptionen, dass sie jeweils auch die andere Seite der Eschatologie in ihre Darstellung integrieren. So ist Schleiermacher sensibel für die Differenz zwischen dem gegenwärtigen Heil und seiner zukünftigen, unter anderen Naturbedingungen vollendeten Gestalt (s. o.), und Barth nimmt in der Münsteraner Eschatologie-Vorlesung – anders als noch in der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars – auch wahr, was diesseits der eschatologischen Grenze im Heiligen Geist schon Wirklichkeit ist: dass es „nun tatsächlich für uns so etwas wie Glauben, Lieben, Hoffen“ gibt (UCR III, 425; vgl. 420–426). Während aber Schleiermacher die Erlösung als Vollendung denkt und damit die Neuheit der Erlösung stärker in Kontinuität zur Erneuerung des Lebens im Glauben konzipiert, fasst Barth Erlösung als radikale Verwandlung und damit stärker in Differenz auch zum gegenwärtigen christlichen Leben. Weil eine präsentische Eschatologie, welche die sich organisch ausbreitende Gegenwart des Heils betont, in der Gefahr steht, die Macht der Sünde zu verkennen, ist eine jede Eschatologie, die auf das gegenwärtige Kommen und Wachsen des Reiches Gottes abstellt, – mit Barth und Brunner – an die endgeschichtliche, apokalyptische Eschatologie des Neuen Testamentes zu erinnern, die verdeutlicht, dass auch alle vermeintlichen Neuanfänge in dieser Welt immer noch die Signatur der vergehenden Welt tragen. Diese Betonung der endgeschichtlichen Eschatologie darf aber nicht dazu verführen, in der Gegenwart nur 54 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion (2. –) 4. Auflage, Monologon (2. –) 4. Auflage, hg. von G. Meckenstock, Berlin/New York 1995, KGA I/12, 147, 39f; vgl. 34–40; vgl. Brunner, Die Mystik, 275. Auch in der Glaubenslehre weist Schleiermacher darauf hin, „daß es eine Art giebt, die Fortdauer der Persönlichkeit zu verwerfen, wobei man mehr von Gottesbewusstsein durchdrungen sein kann, als bei einer Art sie aufzunehmen“ (CG2, II, 461, 27–30; CG1, II, 316, 22–35).

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noch Dunkel zu sehen und die relativen Neuaufbrüche im Heiligen Geist, die ja auch Wirklichkeit sind, zu leugnen.55 Die vergleichende Lektüre der Eschatologien Schleiermachers und Barths fordert deshalb eine den biblischen Überlieferungen entsprechende komplementäre Darstellung der Eschatologie,56 die sowohl das gegenwärtige Kommen und Wachsen des Reiches Gottes als auch das Kommen Christi am Ende der Zeiten thematisiert. Diese Komplementarität entspräche der Person, um die es in der Eschatologie geht. Einerseits erwartet der christliche Glaube den erhöhten Christus als Kommenden – und erfährt ihn so gegenwärtig als Abwesenden. Andererseits gilt dem Glauben die Verheißung des zum Himmel gefahrenen Christus: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“, weshalb der Glaube seine Zeit nicht als Christus- und damit heillose Zeit begreifen kann.

4.3

Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie57

Barths dritte Kritik richtet sich auf die von Schleiermacher vertretene Lehre der Allerlösung. Auch wenn Schleiermacher diese Lehre nicht mit letzter Bestimmtheit vertritt,58 lässt sich deutlich erkennen, dass er ihr zuneigt.59 Schon in der Erwählungslehre hat Schleiermacher den für ihn entscheidenden Gedanken ausgeführt, dass die ewige Verwerfung einiger unser Gattungsbewusstsein affizieren und deshalb die Seligkeit der Seligen aufheben würde.60 Auch in der 55 Dieser Gefahr ist Barth m. E. in der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentares erlegen, mit weitreichenden Folgen auch für die Eschatologie; vgl. dazu Etzelmüller, … zu richten die Lebendigen, 100–102. 56 Zur Komplementarität der biblischen Eschatologie vgl. einführend Michael Welker/Michael Wolter, Die Unscheinbarkeit des Reiches Gottes, in: W. Härle/R. Preul (Hg.), Reich Gottes, Marburger Jahrbuch Theologie XI, Marburg 1999, 103–116. 57 Vgl. J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, NBST 23/1.2, Neukirchen 2000, bes. Bd. 2, 360–372 zu Barth und 586–595 zu Schleiermacher. 58 In der Eschatologie der Glaubenslehre fordert Schleiermacher nur, der Vorstellung von der „Wiederherstellung aller menschlichen Seelen“ gegenüber der orthodoxen Lehre vom doppelten Ausgang des Gerichts „wenigstens gleiches Recht einzuräumen“ (CG2, II, 492, 15–18). 59 Vgl. nur CG2, II, 491, 13–15: „Betrachten wir nun die ewige Verdammniß in Bezug auf die ewige Seligkeit: so ist leicht zu sehen, daß diese nicht mehr bestehen kann wenn jene besteht.“. 60 Vgl. CG1, II, 167, 24–29 (Leitsatz zu § 137); 254, 10–14; 275, 25–30; CG2, II, 249, 1–7 (Leitsatz zu § 118); 254, 10–14; 275, 25–30. Bereits in seiner Schrift „Über die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen“ (in: Schleiermacher, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, 145–222) von 1819 hat Schleiermacher die Vorstellung einer endlichen Erlösung aller vierfach begründet. Auf das theologische Argument, dass die ewige Verdammnis sich „mit der ewigen Vaterliebe Gottes nicht reimen will“ (216, 32f), folgt der Hinweis auf das Mitgefühl für die Verworfenen, durch welches „die Seligkeit müsste getrübt werden“ (218, 33). Drittens verweist Schleiermacher darauf, dass sowohl die Vorstellung einer ewigen Verdammnis als auch die der Allversöhnung

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Behandlung der Lehre vom Jüngsten Gericht legt Schleiermacher eine deutliche Spur, die auf die Annahme der Lehre von der Wiederbringung aller hinleitet. Anders als Adele Weirich und Weeber nahelegen, nach denen Schleiermacher den Gedanken einer inneren Scheidung als Auslegung der Rede vom Jüngsten Gerichts ad absurdum führen will,61 meine ich, dass Schleiermacher sich in seinem Lehrstück „Vom Jüngsten Gericht“ zu genau diesem Gedanken bekennt. Die Argumentation läuft wie folgt: Der nicht-orthodoxe Gedanke einer inneren Scheidung erweckt zunächst den Eindruck, als würde die innere Scheidung anders als in der Geschichte nicht durch den Eindruck der Persönlichkeit Jesu bewirkt, sondern auf magische Weise zustande kommen (vgl. CG1, II, 330, 10–16; CG2, II, 482, 14). Demgegenüber lässt sich aber nach Schleiermacher unter Rückgriff auf 1. Joh 3, 2 argumentieren, dass die innere Scheidung durch die mit Christi „Wiederkunft verbundene vollkommne Erkenntniß Christi“ bewirkt werde (CG1, II, 330, 18f; vgl. 17–20; CG2, II, 482, 16–20). Soll aber die innere Scheidung in allen als gleichzeitig konzipiert werden (vgl. CG2, II, 483, 3–7), dann darf sie nicht als von der unterschiedlichen Empfänglichkeit abhängig gedacht werden. Wirkt aber die Erscheinung des Parusie-Christus unabhängig vom Grad der Empfänglichkeit, dann wird sie auch in denen, die in der Geschichte nicht zum Glauben gekommen sind, die innere Scheidung wirken (vgl. CG2, II, 482, 5– 11). Daher lässt sich die Deutung des Jüngsten Gerichtes auf eine innere Scheidung hin nur aufrechterhalten bei gleichzeitiger Aufgabe des Gedankens einer zwischenmenschlichen Scheidung (vgl. CG2, II, 483, 11–14). Damit ist der Gedanke der inneren Scheidung aber nicht widerlegt, sondern von Schleiermacher vielmehr dessen Konsequenz aufgezeigt. Von seiner Erwählungslehre her und angesichts seiner Ausführungen zur ewigen Verdammnis (CG1, II, 335, 24–337, 27; CG2, II, 490, 1–492, 18) kann die Interpretation des Jüngsten Gerichtes als einer inneren Scheidung als die von Schleiermacher bevorzugte Auslegung des Bekenntnisses angesehen werden. Für ihn führt eine angemessene Interpretation der Erwartung des Jüngsten Gerichtes zum Gedanken der „Wiederbringung aller Seelen in das Reich der Gnade“ (CG2, II, 483, 12f). Diesem Gedanken hat Barth in seiner Münsteraner Eschatologie-Vorlesung vehement widersprochen, obwohl er in früheren Veröffentlichungen ebenfalls betont hatte, dass Gottes richtendes Handeln als eines, das alle Menschen zurechtbringt, zu verstehen sei. So hatte er in der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars zu Röm 2, 16 ausgeführt: „‚Durch Christus Jesus‘ beurteilt Gott den Menschen. Das bedeutet Krisis: Verneinung und Bejahung, Tod und Leben in der Schrift belegt seien, also das gleiche biblische Recht hätten, wobei aber (viertens) nur die letzte Vorstellung „zu einer gewissen Klarheit gebracht werden“ könne (216, 38f). 61 Vgl. Adele Weirich, Die Kirche in der Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers, Europäische Hochschulschriften XXIII/398, Frankfurt u. a. 1990, 164; Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 138f.

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des Menschen. Ein Ende ist im Christus erschienen, aber auch ein Anfang, ein Vergehen, aber auch ein Neuwerden, und immer beides der ganzen Welt, allen Menschen.“62 Den Universalismus der Hoffnung hat Barth dabei nach eigener Auskunft von den beiden Blumhardts übernommen.63 Auch in der Münsteraner Eschatologie-Vorlesung kann Barth in Anlehnung an den älteren Blumhardt ausführen: „Man muß alle, aber auch alle Vorstellungen von dem Heiland als ‚Kaputmacher‘ (Blumhardt) fallen lassen und verstehen lernen, daß er wirklich der Seligmacher, der Erretter ist dessen, was verloren ist“ (UCR III, 480). Wenn Barth wenige Seiten später ausführt, dass die Verworfenen, „von der Erlösung ausgeschlossen, […] sich selbst überlassen sind“ (UCR III, 493), stellt sich die Frage, wie sich diese Aussage zu der christologisch begründeten Hoffnung für alle Menschen verhält. Was innerhalb der Eschatologie-Vorlesung als Bruch erscheint, ist im Kontext der Göttinger Dogmatik freilich nur konsequent, genauer: paradox konsequent. Denn im Licht der gesamten Göttinger Dogmatik betrachtet, erscheint die dualisierte Eschatologie als Konsequenz einer Annäherung an eine entdualisierte Prädestinationslehre. In der Darstellung der Prädestinationslehre hat Barth es in der Göttinger Dogmatik als „Loch im Mantel (s)einer Orthodoxie“ bezeichnet, dass er die Aufteilung der Verworfenen und der Erwählten auf zwei getrennte Chöre von Individuen für einen sachlichen Fehler hält.64 Entsprechend hatte er schon in der Calvin-Vorlesung von 1922 ausgeführt: Calvin hat tausendmal recht, wenn er bei der Beschreibung des Glaubens bei Gott und nur bei Gott anfangen will. Ob er ebenso recht hat, wenn er Glauben und Unglauben auf zwei getrennte Menschengruppen verteilt, das ist eine andere Frage. Ich meinerseits verneine sie. Konsequent in der Linie würde es m. E. liegen, laut und kräftig von Gottes freiem Erwählen und Verwerfen zu reden, von den Erwählten und Verworfenen aber kräftig und bedeutsam zu schweigen.65

Entsprechend konzentriert Barth sich in der Prädestinationslehre der Göttinger Dogmatik allein auf das Handeln Gottes und bestimmt die Prädestination streng theozentrisch-aktualistisch als Gottes „gegenüber jedem Menschen in jedem Augenblick aktuelles freies Gebrauchmachen von der Möglichkeit, Ja oder Nein 62 Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung), 101; vgl. auch ders., Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über 1. Kor 15, München 1924, 122: „Die Auferstehung, die alle Menschen aller Zeiten angehende Krisis, so gewiß sie eben Gottes entscheidendes Wort an die Menschen ist, sie bedeutet: Ihm leben sie alle“. 63 Karl Barth, Vergangenheit und Zukunft. Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt [1919], in: Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie 1, 37–49, 45. 64 Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion. Zweiter Band: Die Lehre von Gott/Die Lehre vom Menschen 1924/25, hg. von H. Stoevesandt, Zürich 1990 [fortan: U II], 183. 65 Karl Barth, Die Theologie Calvins 1922. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1922, in Verbindung mit A. Reinstädtler hg. von H. Scholl, Zürich 1993, 372f.

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zu ihm zu sagen“ (UCR II, 186).66 Die Rede von zwei getrennten Chören von Individuen ist damit zwar ausgeschlossen, nicht ausgeschlossen ist aber die Möglichkeit, dass Gott auch im letzten Augenblick von seiner Freiheit Gebrauch macht, zu einem Menschen Nein zu sagen. Eben deshalb schließt Barth seine Eschatologie in der Münsteraner Vorlesung mit der Lehre von der ewigen Verdammnis (vgl. UCR III, 491–493). Weil Barth also in Göttingen noch keine andere Alternative zur klassischen Prädestinationslehre denken konnte, als diese konsequent zu aktualisieren – aus einem vorzeitlichen Handeln Gottes also ein stets gegenwärtiges zu machen –, deshalb gewinnt er im Blick auf die Zukunft keine Gewissheit. Da Barth in der Erwählungslehre der Kirchlichen Dogmatik die Erwählung und damit das Gericht Gottes streng christologisch verstanden und die dort gewonnen Einsichten zur Grundlage seiner Christologie des gerichteten Richters in KD IV/1 gemacht hat, hätte man von der Erlösungslehre der Kirchlichen Dogmatik eine prinzipiell anders begründete und ausgeführte Lehre von Gottes Gericht erwarten dürfen: Wenn Christus in seinem Tod das auf Verwerfung lautende Urteil über die Menschen auf sich genommen hat, dann kann das über die anderen Menschen ergehende Urteil nur noch auf Leben lauten. Das hat Barth in der Erwählungslehre sowohl kreuzestheologisch als auch von der Auferstehung Christi her begründet. Am Kreuz Jesu Christi hat Gott „das Gericht über die Sünde nicht nur selber vollzogen, sondern auch […] selber erlitten […], sodaß sein Erleiden durch uns nicht mehr in Frage kommen kann.“ (KD II/2, § 35, 549) Entsprechend wird an der Auferstehung Jesu Christi offenbar, „daß Gott sein Recht gegen den Satan und gegen uns selbst […] in der Weise behauptet und durchsetzt, daß er […] unser eigenes Lebensrecht gegen den Satan und gegen uns selbst in Schutz nimmt und zu Ehren bringt.“ (KD II/2, § 39, 848f) Unter diesen erwählungstheologischen Voraussetzungen nähert Barth sich in der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik der von Schleiermacher vertretenen Deutung des Jüngsten Gerichts als innerer Scheidung an. Um dieses Geschehen darzustellen, bedient er sich wiederholt, im Anschluss an 1. Kor 3, 12– 15, des Bildes eines Reinigungsfeuers (vgl. KD IV/2, § 64, 203, 353; § 67, 721; § 68, 950; KD IV/3, § 73, 1056–1060, 1063–1066, 1070): „Nur eben durchs Feuer hindurch und also – was die jetzt nicht sichtbare Gestalt seines Seins und Wirkens betrifft – bestimmt nicht ohne ‚Schaden zu erleiden‘ (1. Kor. 3, 15), nicht ohne schärfste Reduktionen und Subtraktionen, aber durch dieses Feuer hindurch wird er […] gerettet werden.“ (KD IV/3, § 73, 1065) Die Rettung – eine Ver66 Vgl. das Urteil von Matthias Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election. A Systematic-Theological Comparison, Oxford 2007, 155: „Barth’s doctrine of election in the Göttingen Dogmatics becomes more actualistic and less speculative, while it is still not christocentric.“

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werfung kann es für den, der in diesem Gericht steht, sowohl nach Paulus als auch nach Barth nicht mehr geben67 – vollzieht sich also durch eine innere Scheidung, durch „schärfste Reduktionen und Subtraktionen“68 hindurch. Dabei weitet Barth die Vorstellung, die in 1. Kor 3 ja auf das Geschick der Gemeindemitarbeiter bezogen ist, auf alle Menschen aus: alle die Menschen, in deren Mitte die Gemeinde in dieser Zeit das Evangelium von der Gotteskindschaft zu verkündigen hatte, werden dann in das verzehrende, sichtende, läuternde Feuer des gnädigen Gerichtes dessen, der da kommt, hinein und – was das auch für sie bedeuten möge – durch dieses Feuer hindurchgehen dürfen und müssen […]: allen Menschen, ja aller Kreatur widerfährt dann die große Veränderung damit, daß aller Widerspruch, in welchem sie jetzt existieren, gebrochen werden wird, daß sich dann die Knie Aller im Namen Jesu Christi werden beugen, Aller Zungen ihn als den Herrn werden bekennen müssen und dürfen. (KD IV/3, § 73, 1070)

Insofern also auch nach Barth der Gedanke der inneren Scheidung zur Erwartung führt, dass alle Christus als Herrn bezeugen und also Glieder im Reich Christi sein werden, stimmt Barth im Ergebnis mit Schleiermachers Lehre von der „Wiederbringung aller Seelen in das Reich der Gnade“ überein. Dass Barth sich dennoch auch in der Kirchlichen Dogmatik nicht zur Lehre von der Apokatastasis panton bekannt hat, hängt mit seinem Verständnis dieser Lehre zusammen: „Aus einer optimistischen Beurteilung des Menschen in Verbindung mit einem […] Postulat der unendlichen Potentialität des göttlichen Wesens pflegt die unter dem Namen der Lehre von der ‚Apokatastasis‘ bekannte Behauptung von einer endlichen Erlösung Aller und Jeder ihre Anregung und ihre Kraft zu ziehen.“ (KD II/2, § 34, 325) Demgegenüber komme die biblische Hoffnung nicht von allgemeinen Voraussetzungen her, sondern sei im konkreten, zeitlichen Vollzug der Erwählung Jesu Christi in Kreuz und Auferstehung begründet. Weil aber die christliche Hoffnung in Jesus Christus gründet, hat „das Ende, dessen sie wartet, universalen und nicht irgendeinen partikularen, einen verbindenden und nicht irgendeinen scheidenden Charakter.“ (KD IV/1, § 62, 812) Die christliche Hoffnung unterscheidet sich nach Barth also in ihren Fundamenten von der Lehre der Allversöhnung, auch wenn sie im Wortlaut mit ihr übereinstimmen kann. In einem Gespräch 1961 hat Barth diese Differenz auf die

67 Vgl. KD IV/2, § 67, 721: „Mit einem Verlorengehen derer, die da als solche, die unnütz und verkehrt gebaut haben, offenbar sein werden, deren mit Holz, Heu und Stroh Gebautes dann also verbrennen wird, hat Paulus nach 1. Kor. 3, 15 nicht gerechnet.“ Denn der erwartete Richter, Jesus Christus, ist „der Gnädige, der um des Menschen Übertretung und Ohnmacht wohl weiß, dessen Zorn wohl brennt, aber als das Feuer der Liebe, die nicht des Menschen Tod, sondern sein Leben, die seine Errettung will.“ (§ 64, 81) 68 Vgl. KD IV/1, § 61, 666: Lautet Gottes „Urteil über den Menschen dahin, daß er von dessen Makel nichts wissen will, dann ist er eben als solcher ausgetilgt und erledigt“.

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persönliche Formel gebracht: „Ich glaube nicht an die Allversöhnung, aber ich glaube an Jesus Christus, den Allversöhner.“69

5.

Eschatologische Rede am Grab?

Die entscheidende Differenz zwischen den Eschatologien Schleiermachers und Barths liegt in ihrer unterschiedlichen Hierarchisierung der endgeschichtlichen Eschatologie einerseits und der präsentischen Eschatologie bzw. einer Progresseschatologie andererseits. Diese unterschiedlichen Hierarchisierungen bergen unterschiedliche Gefahren: Während Barth in der Gefahr steht, das gegenwärtige Wachsen des Reiches Gottes im heiligen Geist auszublenden, steht Schleiermacher in der Gefahr, angesichts der gegenwärtigen Erfahrung der Seligkeit die endgeschichtliche Dimension der Eschatologie nur als kirchlich überlieferte zu thematisieren, sie aber nicht mehr lebendig fortzuschreiben. Diese Gefahr lässt sich insbesondere anhand von Schleiermachers Grabreden (SW II/4, 821–840) zeigen. Die klassische Vorstellung einer Auferstehung am Jüngsten Tag findet sich in nur einer der fünf dokumentierten Grabreden, und auch dort nur in den liturgischen Textstücken (SW II/4, 835f). Doch auch die in der Glaubenslehre alternativ erwogene Vorstellung einer Auferstehung im Tode begegnet in den Reden nicht. Die Predigten zeigen zwar ein Vertrauen, dass die Seelen der Verstorbenen70 – gemäß der Bitte Jesu: „Vater, ich will, daß wo ich bin auch die seien, die du mir gegeben hast“ (SW II/4, 839) – beim Herrn sind,71 doch wird dieser Gedanke nicht weiter entfaltet. Schleiermacher gewinnt in seinen Grabreden den Trost nicht aus der Hoffnung, sondern aus der Erinnerung heraus. Leittext seiner Grabreden ist Hi 1, 21: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt“ (827, vgl. 830, 833; 835; 839).72 Der 69 Karl Barth, Gespräche 1959–1962, hg. von E. Busch, Zürich 1995, 189. 70 Gegenüber der in der Glaubenslehre vertretenen Auffassung einer leiblichen Auferstehung sind die Predigten von einem Leib-Seele-Dualismus geprägt: „Alles was Leib ist und dem Leib angehört hat für uns nur einen Werth, sofern er belebt wird von der erlösten Seele, welche den Geist der Kindschaft empfangen hat. Ist diese hinaufgestiegen, wohin der Herr alle nach sich zieht: so können wir kein Verkehr der Liebe und Freundschaft mehr haben mit dem, was ihr Leib war.“ (SW II/4, 822, vgl. 833) 71 SW II/4, 822, 831 (dort in dem die Rede abschließenden Gebet), 833 (dort als Schlussformel der Rede). 72 Für die Verhältnisbestimmung von Hoffung und Erinnerung ist eine Formulierung aus Schleiermachers Rede am Grab seines Sohnes erhellend: „So stehe ich denn hier mit meinem Troste und meiner Hoffnung allein auf dem bescheidenen aber doch so reichen Worte der Schrift, Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihn sehen, wie er ist! und auf dem kräftigen Gebete des Herrn, Vater, ich will, daß wo ich bin auch die seien, die du mir gegeben hast. Auf diesen starken Glauben gestützt und von kindlicher Ergebung getragen spreche ich denn von Herzen, Der Herr hatte ihn gegeben,

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Gregor Etzelmüller

Trost erwächst aus der dankbaren Erinnerung an das, „was wir in unserem verstorbenen Freund hatten“ (SW II/4, 834; vgl. 837) – und in dieser dankbaren Erinnerung kann dann akzeptiert werden, dass Gott dieses Leben nun genommen hat,73 vor allem auch deshalb, weil Gott im Nehmen zugleich gibt, nämlich das Andenken an den Verstorbenen, das die Zukunft der Trauernden lebensförderlich prägen wird: „Wie das alte Wort wahr ist, daß das Andenken des gerechten im Segen bleibt, so gewiß giebt es ein tröstendes und segensreiches Fortleben unserer vorangegangenen in uns und mit uns.“ (SW II/4, 829; vgl. 833, 839) Die Grabreden legen den Eindruck nahe, dass Schleiermacher aus dem, was er als Eschatologie in der Glaubenslehre entfaltet hat, keinen Trost gewinnen konnte. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist m. E. jene Predigt, die Schleiermacher am Grab seines Sohnes gehalten hat. Er geht dort explizit auf den Trost ein, den viele aus der Fülle eschatologischer Bilder gewinnen, bekennt aber für sich: „Aber dem Manne, der zu sehr an die Strenge und Schärfe des Gedankens gewöhnt ist, lassen diese Bilder tausend unbeantwortete Fragen zurükk und verlieren dadurch gar viel von ihrer tröstenden Kraft“ (SW II/ 4, 839). Obwohl sich diese Bemerkung eher auf Vorstellungen der Volksfrömmigkeit bezieht, kann sie doch auch erklären, warum Schleiermacher aus seiner in der Glaubenslehre vorgetragenen Eschatologie keinen Trost gewinnen konnte. Indem Schleiermacher dort gerade die Vorstellungs- und Darstellungsschwierigkeiten der einzelnen Lehrstücke herausarbeitet, bleibt der Leser der Glaubenslehre mit unbeantworteten Fragen74 und der Einsicht, dass wir keine „festbegränzte und wahrhaft anschauliche Vorstellung“ des Zustands der Vollendung gewinnen können (CG2, II, 492, 27–493, 1), zurück. Es überrascht von daher nicht, dass angesichts der Grabreden Schleiermachers die Differenz in der eschatologischen Ausrichtung der Theologien Schleiermachers und Barths noch einmal deutlich zu Tage tritt – und auch von Barth wahrgenommen wurde. Anlässlich des Unfalltodes von Thomas Brunner schrieb Barth an dessen Vater, Emil Brunner, 1952: „Ich weiß, daß du schon einmal einen lieben Sohn unter besonders traurigen Umständen verloren hast. Und nun der Name des Herrn sei gelobt dafür, daß er ihn mir gegeben […] hat“ (SW II/4, 839). Während der in Anlehnung an Hi 1, 21 formulierte Gedanke anschließend ausführlich entfaltet wird, bleiben die neutestamentlichen Textstellen unausgelegt. Die neutestamentliche Hoffnung, dass die Verstorbenen bei Christus seien, bleibt gleichsam als Hintergrundsgewissheit erhalten, wird aber von Schleiermacher nicht tröstlich entfaltet, da jede Entfaltung dieser Hoffnung vor Darstellungsprobleme stellt, die den Trost der Hoffnung untergraben. 73 Vgl. SW II/4, 833: „Warum sollten wir nicht danken und loben den, der gegeben hat, wenn gleich er wieder dahin genommen hat!“ 74 S.o. Anm. 2; zudem Janowski, Allerlösung, 588: Schleiermacher reduziert die eschatologischen Lehrstücke „derart auf ein Bündel von Problemen, daß sie selber den Status des Problematischen gewinnen.“.

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Die christliche Hoffnung und die prophetischen Lehrstücke

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mußtest du diesen auch und so plötzlich hergeben. Ich habe einmal Ähnliches durchgemacht, habe dann die Predigt nachgelesen, mit der Schleiermacher sich und die Seinen beim Tod seines Sohnes Nathanael zu trösten versucht hat, und war froh, daß wir die Dinge anders sehen dürfen, als es ihm gegeben war.“75 Man kann sich zum einen von Barth und Brunner auf die Gefahr der Marginalisierung der endgeschichtlichen Eschatologie und des zukünftigen Lebens der Auferstehung bei Schleiermacher sensibilisieren lassen. Man kann demgegenüber (und auch gegenüber Schleiermachers Predigten) die Eschatologie der beiden Auflagen der Glaubenslehre stark machen76 und sie als ein Ringen um die rechte Darstellung der Vollendung der Kirche und des ewigen Lebens als Zuständen verstehen, die uns gegenwärtig in der Erfahrung nicht gegeben sind. Dabei zeigen sich dann auch überraschende und weitreichende Übereinstimmungen zwischen Schleiermacher und Barth, die verdeutlichen, dass die Eschatologie nicht einfach ein Spiel der Phantasie ist, sondern ein theologisches Feld, auf dem man, exegetisch kontrolliert, in sachlicher Orientierung inhaltlich bestimmte Aussagen gewinnen kann. Die Tatsache, dass sich unterschiedliche notwendige Aussagen nicht zu einer einheitlichen Vorstellung vereinigen lassen, relativiert nicht die Notwendigkeit dieser Aussagen.77 Anstatt also angesichts der eschatologischen Aporien zu verstummen, gilt es, den inhaltlichen Diskurs über Fragen der Eschatologie auch im Gespräch mit Schleiermacher und Barth fortzuführen.

75 Barth – Brunner, Briefwechsel, 378. 76 Trotz der Differenzen zwischen den beiden Auflagen der Glaubenslehre scheint mir die entscheidende Differenz in der Darstellung der christlichen Hoffnung (im Anschluss an Weeber, Schleiermachers Eschatologie, 193f) zwischen den beiden Auflagen der Glaubenslehre einerseits und Schleiermachers Predigten andererseits zu liegen. Die Differenz ist durch die unterschiedlichen Gattungen bedingt: Während die Glaubenslehre der wissenschaftlichen Darstellung der zu einer bestimmten Zeit in einer Kirche geltenden Lehre dient (vgl. CG2, I, 143, 13–15: Leitsatz zu § 19), wodurch sich ihre Orientierung an der kirchlichen Tradition erklärt, ist die Predigt „ganz der freien Productivität dessen, der den Kirchendienst verrichtet, anheimgestellt“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe [1830]. Nebst den Marginalien aus Schleiermachers Handexemplar, in: ders., Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. von D. Schmid, KGA I/6, Berlin/New York 1998, 317–446, 427, 8f). 77 So mit Schleiermacher Herms, Schleiermachers Eschatologie, 141f; gegen Schleiermacher Brunner, Mystik, 278f. Für Schleiermacher selbst gilt: Obwohl weder die Lehre von der Vollendung der Kirche noch die Lehre von der persönlichen Fortdauer noch die Vereinigung beider Lehren sich systematisch klar und anschaulich darstellen lassen, ist doch jede „für sich mit vollkommner Wahrheit in unser christliches Bewusstsein aufgenommen“ (CG2, II, 492, 22f; vgl. CG1, II, 337, 28–31).

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Bruce L. McCormack

Barths Kritik an Schleiermacher. Eine Meta-Kritik1

Im Sommer 1933 hatte Karl Barths Ansehen vor dem 2. Weltkrieg einen Höhepunkt erreicht. Die Anzahl der Studierenden, die an seinen Bonner Lehrveranstaltungen teilnahmen, war durchweg sehr hoch, und eine Schule von „Barthianern“ begann sich zu bilden. Letzteres gab Barth Anlass zur Sorge. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Barth diese „Barthianer“ im Sinn hatte, als er in einer Vorlesung aus dieser Zeit zur Einordnung Schleiermachers die folgenden Worte äußerte: Wir haben es mit einem Heros zu tun, wie sie der Theologie nur selten geschenkt werden. Wer von dem Glanz, der von dieser Erscheinung ausgegangen ist und noch ausgeht, nichts gemerkt hätte, – ja ich möchte fast sagen: wer ihm nie erlegen wäre, der mag in Ehren andere und vielleicht bessere Wege gehen, er sollte es aber unterlassen, gegen diesen Mann auch nur den Finger aufzuheben. Wer hier nie geliebt hat und wer nicht in der Lage ist, hier immer wieder zu lieben, der darf hier nicht hassen. H[einrich] Scholz hat von der Schleiermacherschen Glaubenslehre sehr wahr geschrieben: „Nicht alles ist Schleiermacher gelungen: die Leistung als Ganzes aber ist so groß, daß sie nur durch eine entsprechende Gegenleistung, nicht durch spitze Einzelkritik, in ihrem Bestande bedroht werden kann“ (Christentum u. Wissenschaft in Schl[eiermachers] Gl [aubenslehre], 21911, S. 201). Diese Gegenleistung und überhaupt der Mann, der Schleiermacher nicht nur kritisieren, sondern sich mit ihm messen könnte, ist noch nicht auf dem Plane.2

Barth dachte noch nicht, er würde der Mann sein, der eines Tages seine eigene Leistung an den hohen Standards, die Schleiermacher gesetzt hatte, messen könnte. Er hatte soeben den ersten Teil-Band seiner Prolegomena, Kirchliche Dogmatik I/1, veröffentlicht. Vielleicht hoffte er, dieser Mann zu werden. Die eigentliche Pointe in diesem Zusammenhang war der Hinweis, dass jeder, der nicht, wie Barth selber, die Schule Schleiermachers durchlaufen und keine Neigung zur intensiven Beschäftigung mit dem „Kirchenvater des neunzehnten 1 Übersetzung aus dem Englischen von Matthias Gockel. 2 Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31960 (1. Aufl. 1946), 380f.

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Jahrhunderts“3 verspürt hatte, sowie jeder, der nicht in der Lage war, „hier immer wieder zu lieben“, nicht das Recht verdiente, Schleiermacher zu kritisieren. Barth war zu Recht besorgt, dass diejenigen, die sich seiner eigenen Theologie anschlossen, seine Kritik an Schleiermacher unhinterfragt übernahmen und nur nach ausgewählten Passagen in Schleiermachers Werken suchten, um ihre Kritik bestätigt zu finden – ein bis heute anzutreffendes Vorgehen mancher „Barthianer“. Barth hatte allerdings einen gewissen Anteil an diesem bedauerlichen Phänomen. Seine Kritik an Schleiermacher war zu grundsätzlich, zu umfassend, zu abschließend (vielleicht gegen seine eigene Intention). Die Selbstzweifel, die zwischen den Zeilen von Barths Interpretation wahrnehmbar bleiben, konnten von vielen Hörern und Lesern leicht als zu vernachlässigende Übung in „guten Manieren“ empfunden werden. In diesem Aufsatz möchte ich Barths Kritik an Schleiermacher noch einmal kritisch reflektieren. Ich verschweige nicht, dass ich selber gelernt habe, Schleiermacher zu lieben, nachdem ich zuvor Barth zu lieben lernte – und dass ich es inzwischen als selbstverständlich erachte, Barth und Schleiermacher zu lieben. Aber „lieben“ bedeutet eben auch, dass beide nicht immun gegen theologische Kritik sein sollten.

1.

Die relative Bedeutung der Apologetik: Barths selbstkritische Interpretation Schleiermachers

Barth betrachtet Schleiermacher, im Großen und Ganzen, als apologetischen Theologen. Apologetik ist demnach der mit den Mitteln des Denkens und der Sprache unternommene Versuch eines Nachweises, dass die in einer bestimmten Gegenwart maßgebenden Prinzipien der Philosophie, der Natur- und Geschichtsforschung die auf die Offenbarung, bzw. auf den Glauben begründeten Sätze der Theologie wenn nicht geradezu fordern, so doch sicher nicht ausschließen. Apologetik beweist einer bestimmten Gegenwart im kühneren Fall die Denknotwendigkeit, im vorsichtigeren Fall wenigstens die Denkmöglichkeit der der Bibel oder dem kirchlichen Dogma oder beiden entnommenen theologischen Grundsätze.4

Die Frage, ob Schleiermacher ein „kühner“ oder ein „vorsichtiger“ Apologet war, kann laut Barth nicht endgültig beantwortet werden.5 Dennoch hegt Barth keinen Zweifel an den apologetischen Absichten Schleiermachers, unabhängig davon, 3 Christoph Lülmann, Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1907, zustimmend zitiert in Barth, Protestantische Theologie im neunzehnten Jahrhundert, 379. 4 Barth, Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 392. 5 A.a.O., 397.

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Barths Kritik an Schleiermacher

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um welche Art von Apologetik es sich handelte. War Schleiermacher aber ein Apologet, dann konnte er kein christlicher Theologe sein, zumindest nicht, insofern er apologetisch dachte. Denn dann gilt, dass ein christlicher Theologe, sofern er Apologet ist, nach Schleiermachers wiederum ausdrücklicher Erklärung seinen Ausgangspunkt (Standpunkt) über dem Christentum (in dem logischen Sinn des Wortes) in dem allgemeinen Begriff der frommen oder Glaubensgemeinschaft nehmen muss. […] Er ist qua Apologet nicht christlicher Theologe sondern Ethiker und Religionsphilosoph. […] Wenn er wieder ganz bei der Sache sein und als christlicher Theologe reden wird, wenn er also nicht mehr über die Religion, sondern nun ex officio aus der Religion reden wird, wenn ihn nicht mehr das Wesen und der Wert der Religion und das Christentum in seiner eigenen inneren Logik und Notwendigkeit interessieren wird, dann wird sich alles Weitere, was etwa über den Begriff der Kirche auch noch und ganz anders zu sagen ist, finden.6

Barth zählt die gesamte Einleitung in die Glaubenslehre zum Genre der Apologetik und meint, sie zeige dieselbe Absicht, die einige Jahrzehnte zuvor Schleiermachers Reden prägte: „Die §§ 1–31 der Glaubenslehre sind in genau gleichem Sinn wie das theologische Jugendwerk Reden über die Religion.“7 In beiden Fällen nehme der Autor einen Standpunkt außerhalb des „Phänomen[s] der Religion“8 ein: Wer zwischen dem Glauben und einem zunächst als ungläubig vorausgesetzten Kulturbewusstsein zuerst parlamentieren und dann einen ewigen Vertrag bewirken will, der muss, in dieser Funktion jedenfalls, grundsätzlich jenseits von Beiden, eine überlegene Stellung einnehmen, von der aus er Beide einsehen und der gerechte Sachwalter Beider sein kann, der muss, auch wenn er selber von der einen oder anderen Seite herkommt, dem Andern gegenüber als Parlamentär mindestens eine weiße Fahne in der Hand tragen, er kann in diesem Augenblick sich jedenfalls nicht als Kombattant betätigen. Ohne Bild gesagt: der Apologet als solcher muss, auch wenn er selber Theologe ist, seine Funktion als Theologe solange ruhen lassen.9

Schleiermacher überblicke von einer höheren Warte die Gestalten sowohl des christlichen Glaubens als auch der zeitgenössischen Kultur: der Apologet sei „des Christentums schlechthin mächtig […], in der Lage, es so gut wie das moderne Kulturbewusstsein gleichsam von oben einzusehen, in seinem Wesen zu eruieren und in seinem Wert zu würdigen.“ Daher rede Schleiermacher „nicht als verantwortlicher Diener, sondern wie ein rechter Virtuose als ein freier Meister dieser Sache.“10

6 7 8 9 10

A.a.O., 396. A.a.O., 394. Ebd. A.a.O., 395. A.a.O., 398f.

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Diese Interpretation ist, gelinde gesagt, stark. Sie wirkt zudem gekünstelt, da Barth von den tatsächlichen Ausführungen Schleiermachers in der Einleitung zur Glaubenslehre abrücken muss, um sein Gesamturteil zu begründen. Was er sagt, betrifft die Apologetik im Allgemeinen; er spricht von dem, das in seinen Augen für alle apologetischen Bemühungen gilt, unabhängig von den „theologischen Prinzipien“, die den Apologeten prägen. Es kann daher kaum überraschen, dass Barth offenbar gewisse Bedenken gegen seine eigenen Aussagen hegt und deswegen die apologetische Interpretation Schleiermachers nicht konsequent durchführt. Es gibt mehrere Anzeichen, dass Barth sich seiner Sache weniger sicher ist, als es den Anschein hat. Erstens beginnt er seine Darstellung mit der kräftigen Versicherung, dass Schleiermacher mit Recht vor allem als christlicher Theologe, nicht als Philosoph eingeschätzt werde. Schleiermachers Absicht, eine apologetische Vermittlung zwischen dem christlichen Glauben und einer kritisch-ungläubigen Kultur sei nicht das „primäre Motiv“.11 Zwar sei sie das „erste deutliche Motiv“,12 dem man begegnet, wenn man mit den Reden einsetzt von von dort auf die Einführung in die Glaubenslehre stößt. Aber Schleiermachers hauptsächliche Motivation liege nicht in der Apologetik. Was ihn vor allem bewegt, werde vielmehr „erst in der Zeit seiner Reife, in den beiden Ethiken und in den Predigten besonders seines Alters“13 deutlich. Er wolle die Menschen „in die Bewegung der Bildung, der menschlichen Lebenserhöhung, die zutiefst die religiöse, die christliche Bewegung ist, hineinziehen.“14 Barth erklärt: „Ich getraue mich zu behaupten, dass seine ganze Religionsphilosophie, also seine ganze Lehre vom Wesen der Religion und des Christentums, an die man bei der Nennung seines Namens zuerst zu denken pflegt, ein Sekundäres, eine Hilfslinie gewesen ist zur Begründung dieses seines eigentlichen, des ethischen Anliegens.“15 In einer kritischen Anmerkung zu Emil Brunner, der Schleiermachers Theologie als mystisch bezeichnete, erläutert Barth, dass das Leben, dem Schleiermacher die Lehre unterordnet, nicht „ein in der Innerlichkeit der Seele sich abspielendes, ein sich selbst genießendes, wesentlich passives Leben, ein mystisches in sich Versenktsein“16 sei. Eine solche Interpretation wäre möglich, wenn man nur die Reden und die ersten Paragraphen der Glaubenslehre vor Augen hat. Aber

11 12 13 14 15 16

A.a.O., 393. Ebd. Ebd. A.a.O., 389. Ebd. Ebd.

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man darf auch in der Einleitung zur Glaubenslehre den merkwürdigen § 9 nicht übersehen, wo das Christentum auf einmal – allen Erwartungen zuwider, die man aus den vorangehenden Paragraphen mitbringt – als Religion teleologischer, d. h. in der Richtung der Aktivität bestimmter Art beschrieben wird, in der das Gottesbewusstsein ganz bezogen werde auf die Gesamtheit der Tätigkeitszustände in der Idee von einem Reiche Gottes. Nach dem apologetischen Ansatz der Einleitung hätte diese Charakterisierung des Christentums als der höchsten Religion unmöglich erfolgen können: das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, als das die Religion dort definiert worden war, hätte seine Vollendung nur in dem Typus der ästhetischen, d. h. passiven Religion, finden können.17

Allerdings bestimmt Schleiermacher, im Gegensatz zu Barths Ausführungen, das Wesen der christlichen Frömmigkeit durchaus im teleologischen Sinn, und er bezeichnet das aktive Wirken für das Reich Gottes als die Quintessenz des Lebens des Christen in dieser Welt. Die Frage, die daraus folgt, ist diese: Wie kann der Einsatz für das Reich Gottes, der nur durch die individuelle und kollektive Wirkung des erlösenden Einflusses Christi ermöglicht wird, für die christliche Existenz wesentlich und zugleich etwas sein, auf das man verzichten oder das vorübergehend zur Seite gerückt werden könne, um eine „weiße Fahne“ zu zeigen? Wie kann es einen Standpunkt „über“ dem Wirken für das Reich Gottes geben – wenn dieses Wirken, wie alle spontanen Aktivitäten, in denen sich das Gottesbewusstsein mit den Zuständen des sinnlichen Selbstbewusstseins verbindet, ein Moment der Empfänglichkeit voraussetzt, einen Augenblick, in dem der erlösende Einfluss Christi eine Person gleichsam gefangen nimmt, damit diese sich an der Bewegung des Reiches Gottes in dieser Welt beteiligt? Der Standpunkt „über“ dieser Aktivität des Christen könnte nur durch einen Willensakt, der nicht unter Christi erlösendem Einfluss stünde, erreicht werden. Wenn Barth gegen Brunners mystische SchleiermacherDeutung die „ethizistische Richtung“18 von Schleiermachers Denken betont, dann muss auch seine eigene Interpretation der Apologetik Schleiermachers in Frage gestellt werden. Laut Schleiermacher befasst die christliche Ethik sich mit der Konstitution der menschlichen Person als ethisches Subjekt, und dies vollzieht sich nicht ohne die der Erfahrung der Erlösung. Schreibt Schleiermacher in den Paragraphen 1–31 der Glaubenslehre tatsächlich „über Religion“ und nicht „aus der Religion“? Oder nimmt er den Übergang von der Ethik bzw. Moralphilosophie zur christlichen Theologie nicht schon spätestens in § 9 vor? Es gibt noch einen zweiten Hinweis auf Barths Bedenken gegenüber seiner eigenen Interpretation. Er schreibt:

17 Ebd. 18 A.a.O., 390.

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Schleiermacher hat die Gefahr einer wesentlich apologetisch eingestellten Theologie, die ihr drohende Metamorphose in eine Philosophie jedenfalls gesehen, und wenn er sich als wissenschaftlicher Theologe gegen irgendetwas fast verzweifelt gewehrt hat, so ist es diese Gefahr gewesen. Er hat auch gesehen, welches das Ärgernis war, das er der Philosophie, jedenfalls der Philosophie seiner Zeit, bieten musste, wenn er Theologe sein wollte, und er hat es gewagt, ihr dieses Ärgernis zu bieten. Es handelt sich um das Problem der Christologie.19

Es ist also zumindest zu erwägen, dass Barth die Möglichkeit einräumt, Schleiermachers eigene Christologie könnte die These einer apologetischen Theologie ins Wanken bringen. Allerdings fährt Barth dann fort: Es kann gefragt werden, ob das, was er über das Verhältnis von Gott und Mensch sagen wollte, es ertrug, auch in der Form einer Christologie gesagt zu werden. Und es ist ebenso zu fragen, ob die Christologie es erträgt, dem als Form zu dienen, was Schleiermacher sagen wollte. Die Christologie ist die große Störung in Schleiermachers Glaubenslehre, vielleicht keine allzu wirksame Störung, aber eine Störung.20

Doch ist Schleiermachers Christologie lediglich die Form dessen, was er eigentlich sagen will? Hat Barth das wirklich geglaubt, oder hegte er vielleicht Zweifel an seiner eigenen Aussage? Auf den ersten Blick scheint das nicht der Fall zu sein. In Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert wird das Thema der Christologie im fünften und letzten Abschnitt des Schleiermacher-Kapitels direkt angesprochen. Barth kommt zu dem Schluss, dass Schleiermacher den Unterschied zwischen Christus und den Christen gründlich relativiere. Wenn dies der Fall ist, dann sei es auch unmöglich, eine Unterscheidung zwischen der zweiten und der dritten trinitarischen Person vorzunehmen. Schleiermachers Konzeption gleiche letztlich einem Kreis, nicht einer Ellipse mit zwei Schwerpunkten. Wir werden die Frage der Christologie im nächsten Abschnitt genauer beleuchten. An dieser Stelle konzentrieren wir uns darauf, ob Barth tatsächlich glaubt, dass der Unterschied zwischen Christus und den Christen von Schleiermacher stark relativiert wird. Sieht er nicht, dass Schleiermacher aufgrund seines Gottesbegriffs in Christus eine Replikation des göttlichen Lebens mitten im menschlich-geschichtlichen Leben sehen kann, so dass Christus gerade in seiner spontanen Aktivität der menschgewordene Gott ist? Und sieht er nicht, dass das unmittelbare Verhältnis der Jünger zu Christus für Schleiermacher darin besteht, dass es eine Replikation der menschlichen Beziehung zu Gott darstellt? Ich vermute, dass Barths Ausführungen teilweise etwas Spielerisches haben, dass er seine Zuhörer motivieren will, mit Schleiermacher zu denken, so dass auch sie schließlich in der Lage sein werden, Schleiermacher „immer wieder zu 19 A.a.O., 385. 20 Ebd.

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Barths Kritik an Schleiermacher

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lieben“ und zugleich über Schleiermacher hinaus zu denken, indem sie fragen, wie eine pneumatozentrische Theologie, welche die Integrität der zwei Brennpunkte der Ellipse bewahrt, aussehen könnte. Ein gewichtiges Argument für diese Interpretation ist die auffallende Tatsache, dass Barths eigene Liebe zu Schleiermacher trotz seiner heftigen Kritik unvermindert anhält. Außerdem kann er bei der Abfassung des bekannten „Nachworts“ zu Heinz Bollis SchleiermacherAuswahl sich selber fragen, ob nicht auch er die Ellipse durch einen Kreis ersetzte, ob nicht auch bei ihm - mit dem Christozentrismus der späteren Bände der Kirchlichen Dogmatik – die zwei Brennpunkte zu einem einzigen Punkt wurden. Wenn dies zutrifft, dann setzt die Frage nach der Möglichkeit einer pneumatozentrischen Theologie ein Gegengewicht und impliziert die Anerkennung, dass Schleiermachers theologischem Ansatz eine gewisse Gültigkeit zukommt. Doch selbst wenn ich mich täusche und Barth seine eigene SchleiermacherInterpretation nicht hinterfragen wollte, gibt es zwei Punkte, an denen seine Kritik offensichtlich nicht zutrifft. Von daher wäre er zumindest gut beraten gewesen, seine Äußerungen unter Vorbehalt zu stellen.

2.

Anfragen an Barths Kritik

Barths Kritik an Schleiermacher steht und fällt mit seiner Deutung der Christologie Schleiermachers. Wenn er hier falsch liegt, dann ist seine Gesamtkritik falsch oder zumindest fragwürdig, und auch die zutreffenden Punkte der Kritik können in ein falsches Licht rücken. Barths Interpretation von Schleiermachers Christologie erreicht ihren Höhepunkt mit dem Postulat eines Entweder-Oder. Doch zunächst nimmt er eine vorbereitende Überlegung vor: Wenn Schleiermacher die Gottheit Jesu Christi anerkannte, dann wäre Christus mit dem Woher des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit identisch. Nun ist es aber für Schleiermacher axiomatisch, dass eine schlechthinnige Abhängigkeit nur in Bezug zu Gott ausgesagt werden kann, während es im Hinblick auf alle Dinge und Personen in der Welt nur relative Abhängigkeit (und relative Freiheit) gibt. Wenn man also bedenkt, dass eine schlechthinnige Abhängigkeit innerhalb des Naturzusammenhangs undenkbar ist, dann können wir unmöglich eine schlechthinnige Abhängigkeit von Jesus Christus aussagen – insoweit, als es sich bei ihm um eine historisch bestimmbare, d. h. gegenständliche Person handelt. Barths Postulat eines Entweder-Oder ergibt sich direkt aus dieser Überlegung: Entweder wir abstrahieren von der historischen Individualität Christi, so dass das, was wir die Abhängigkeit von Christus nennen, tatsächlich nur die Abhängigkeit von Gott, der sich uns im

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Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit hingibt, wäre, was Jesus von Nazareth überflüssig machen würde. Oder wir entscheiden uns, ihm seine geschichtliche Einzelheit zu lassen und ihn in dieser seiner Einzelheit als zeitlichen Beziehungspunkt des frommen Gefühls zu denken. Dann ist aber eben damit gesagt, dass er zur Welt gehört, d. h. zum Inbegriff alles desjenigen, dem wir in relativer Freiheit und also bloß in relativer Abhängigkeit gegenüberstehen. Dann ist das, was in Schleiermachers Sinn allein seine Gottheit sein könnte, geleugnet […] Schleiermacher hat sich nicht für die erste, sondern für die zweite dieser Möglichkeiten entschieden. Er hat auf eine rein spekulative Christologie verzichtet, musste aber eben damit unter der Voraussetzung seines Religionsbegriffs auf die Gottheit Christi verzichten, bzw. unter der Gottheit Christi den unvergleichlichen Höhepunkt und die entscheidende Anregung innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit verstehen.21

Schleiermacher beziehe Christus auf das menschliche Bewusstsein der Erlösung und verfolge in der Entfaltung der Christologie eine einzige methodische Strategie: den Rückschluss vom menschlichen Erlösungsbewusstsein auf Christus, d. h. von den Wirkungen auf ihre Ursache. Dies bedeutete tatsächlich eine Relativierung des Unterschieds zwischen Christus und den Christen, denn die Differenz ist eine quantitative und keine qualitative. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit wäre effektiver in Christus als in den Christen, aber der Unterschied wäre nur von gradueller Art. Deswegen könnte Christus nicht der menschgewordene Gott sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Argumentation Barths zutrifft. Meiner Einschätzung nach steht Schleiermachers Christologie nicht auf einer Linie, sondern an der Kreuzung zweier Linien, einer senkrechten und einer waagerechten. Auf der senkrechten Linie ist Christus der „zweite Adam“, in dem Gott handelt, um die Vollendung der Schöpfung zu bewirken. Auf der horizontalen Linie ist er der Erlöser, auf den wir unser Erlösungsbewusstsein zurückführen. Von diesen beiden Linien ist die vertikale Linie grundlegend und bedeutender. Christus ist nur deswegen der Erlöser, weil er zuerst (logisch betrachtet) der „zweite Adam“ ist. Entscheidend an der vertikalen Linie ist der folgende Zusammenhang. Jesus Christus verknüpft laut Schleiermacher das Gottesbewusstsein stetig mit den äußeren Reizen, die ihm begegneten, d. h. mit seinem sinnlichen Selbstbewusstsein, wobei das Gottesbewusstsein stets dominant blieb. Er besitzt ein vollkommen kräftiges Gottesbewusstsein aufgrund seiner „lebendigen Empfänglichkeit“,22 die stets bereit bleibt für den Einfluss der göttlichen Kausalität,

21 A.a.O., 419f. 22 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von R. Schäfer, KGA I/13, Berlin/New York, II, 55 (§ 94.2).

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Barths Kritik an Schleiermacher

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die in ihm und durch ihn wirkt. Seine lebendige Empfänglichkeit für die göttliche Kausalität ist selber das Produkt dieser Kausalität, und genau deswegen wird er der „zweite Adam“ genannt. Weil Jesus vollkommen empfänglich für die in ihm und durch ihn wirkende göttliche Kausalität bleibt, ist er in jeder Hinsicht aktiv in Bezug auf alles, was ihm von außen begegnet. Er verhält sich zu dem, was „außerhalb“ von ihm steht, in genau derselben Weise, wie Gott sich zur Welt verhält, d. h. als das vollkommen verwirklichte Sein, in dem es keine nicht realisierten Potentialität gibt, als derjenige, der von dem, was in die Welt um ihn herum geschieht, nicht affiziert wird. Jesus ist somit, für Schleiermacher, das perfekte Replikat Gottes in menschlicher Form, denn Gott ist so vollständig aktiv in und durch Jesus, dass man sagen kann, alles was durch Jesus geschieht, geschehe durch Gott. Mit Schleiermachers eigenen Worten: „das Sein Gottes in dem Erlöser ist als seine innerste Grundkraft gesezt[,] von welcher alle Thätigkeit ausgeht, und welche alle Momente zusammenhält; alles menschliche aber bildet nur den Organismus für diese Grundkraft“.23 Kaum ein Theologe seit Cyrill von Alexandrien hat die menschliche ‚Natur‘ Christi so vollständig instrumentalisiert.24 Barth kennt Schleiermachers Christus-Bild, aber er zieht daraus die falschen Schlüsse. Er weiß, dass Gott für Schleiermacher nicht in einer reziproken Beziehung zur Welt steht; wenn es so wäre, dann könnten wir nicht absolut abhängig von ihm sein. Wäre Gott durch seine Beziehung zur Welt beeinflussbar, dann würde Gottes Sein irgendwie in Kontinuität mit dem Sein der Welt stehen. Dies bedeutete, dass man nur relativ frei und relativ abhängig im Verhältnis zu ihm sein könnte. Barth weiß das, aber er sieht nicht, dass laut Schleiermacher alles, was von Gott ausgesagt wird, auch von Jesus auszusagen ist. Was für Gott gilt, gilt auch für Jesus. Jesus steht nicht in einem reziproken Verhältnis zur Welt. Sein vollkommen kräftiges Gottesbewusstsein beherrscht alle äußeren Reize, die ihm begegnen. Sein „Mitgefühl“ ist Ausdruck der göttlichen Liebe, die darauf zielt, sich mit anderem zu vereinigen,25 es ist keine Reaktion auf äußere Vorgänge. Daher gilt: Ein Mensch, der die „reine Thätigkeit“,26 die das Sein Gottes definiert, 23 A.a.O., 69 (§ 96.3). 24 Laut J. McGuckin, konzipierte Cyrill die menschliche Natur Christi „nicht als eigenständig agierende Kraft (eine bestimmte aktive und sich selbst aktivierende Person), sondern als die Art und Weise des Handelns einer unabhängigen und allmächtigen Macht – der Macht des Logos; und nur dem Logos kann die Autorität und Verantwortung für alle Handlungen [der menschlichen ‚Natur‘ Christi] zugeschrieben werden. Dieser Grundsatz ist der Eckstein in Cyrills Argumentation. Es kann nur eine kreative Person, eine personale Wirklichkeit in dem menschgewordenen Herrn geben, und dieses Subjekt ist der göttliche Logos, der eine menschliche Natur zu seiner eigenen gemacht hat.“ John McGuckin, Saint Cyril of Alexandria and the Christological Controversy, Crestwood/NY 2004, 186. 25 Schleiermacher, Der christliche Glaube, II, 499 (§ 165.1). 26 A.a.O., 55 (§ 94.2).

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verkörpert, kann vom Bereich des Menschlichen nicht nur quantitativ unterschieden sein. Er ist die einzige Person, der wir „ein eigentliches Sein Gottes in ihm“27 zuschreiben können. An dieser Stelle müssen wir beachten, dass die in und durch Jesus wirkende göttliche Macht für diejenigen, die in unmittelbarer Gemeinschaft mit ihm stehen, nicht direkt anschaulich ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Jesu historische Individualität ohne Bedeutung für die Christologie wäre; es gäbe keine Christologie, wenn sich die reine Tätigkeit des Seins Gottes nicht in einem konkreten individuellen Existenz verkörpert hätte. Aber seine wirksame Macht bleibt verborgen und unzugänglich für die direkte Beobachtung. Sicherlich erfahren die Jünger Jesu die Macht seiner Person, d. h. seines vollkommen kräftigen Gottesbewusstseins, auch wenn sie dessen Quelle (Jesu Empfänglichkeit für die göttliche Kausalität) nicht erkennen. Als Folge dieser Erfahrung verhalten sie sich zu der spontanen Tätigkeit, die von Jesu vollkommen kräftigem Gottesbewusstsein ausgeht, in derselben Haltung der Empfänglichkeit wie gegenüber dem Woher ihres Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit – eine weitere Bestätigung von Schleiermachers Affirmation der Gottheit Jesu Christi. Barths Sorge, dass die Glaubenden, auf der Grundlage von Schleiermachers Theologie, gegenüber Jesus nicht in derselben Weise abhängig sein könnten wie gegenüber Gott, ohne das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit zu zerstören, ist unbegründet. Die Glaubenden sind für Schleiermacher schlechthin abhängig von der göttlichen Kausalität, die in und durch die historische Größe „Jesus von Nazareth“ wirksam ist. Barths Entweder-Oder stellt uns daher vor eine falsche Alternative. Schleiermacher muss nicht zu einer spekulativen Christologie greifen, um die Gottheit Christi affirmieren zu können. Man könnte seine Christologie höchstens als „transzendental“ bezeichnen, weil sie versucht, in Gott die Bedingungen zu finden für die Möglichkeit eines Erlösers wie demjenigen, den vor allem das Johannesevangelium bezeugt. Auch die Beziehung Christi zu den Christen ist für Schleiermacher nicht nur relativ. Vielmehr geschieht in Christus etwas Neues, das mit der ursprünglichen Beziehung des Menschen zu Gott nicht gegeben und in der ‚ursprünglichen Offenbarung‘ nicht erkennbar ist. Genauer gesagt: das ‚ursprüngliche‘ Ziel Gottes ist die Erlösung der Menschen durch Christus, und von diesem Ziel her ist auch die Schöpfung zu denken. Nur Christus kann der Erlöser sein, denn er allein ist der „zweite Adam“, in dem die Schöpfung und die Erschaffung des Menschen vollendet werden. Schleiermacher operiert nicht mit einer vorauslaufenden Großkonzeption, z. B. der Idee des Gesamtlebens, deren Inhalt bereits in der ursprünglichen Beziehung des Menschen zu Gott enthalten wäre, um auf dieser Grundlage die Verbindung der Glaubenden mit Christus zu 27 A.a.O., 52 (§ 94, Leitsatz).

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Barths Kritik an Schleiermacher

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erläutern. Vielmehr hat er ein Verständnis der menschlichen ‚Natur‘ als Geschichte, die ihr Telos in der konkreten Existenz Jesu von Nazareth findet. Daher entfaltet Schleiermacher seine Christologie nicht auf der Grundlage eines (vermeintlich) apologetischen Programms, und er interpretiert das Kommen Christi nicht von einem „höheren Standpunkt“ aus. Im Gegenteil: die Christologie ist der Schlüssel zur Theologie Schleiermachers, sie hält alle Teile seiner Dogmatik zusammen und ist nicht bloß die „große Störung“28 in einer Dogmatik, die auch ohne die Christologie hätte entwickelt werden können. Damit kommen wir zurück zu der Frage, ob Schleiermacher in der Einleitung zur Glaubenslehre tatsächlich apologetische Zwecke verfolgt. Barth räumt mehr ein, als er denkt, wenn er meint, das Material in § 9 der Glaubenslehre sei eine erste „Störung“ in dem ansonsten apologetischen Programm der gesamten Einführung. Schleiermacher steht in § 1–10 tatsächlich noch „außerhalb“ des christlichen Glaubens, aber nicht im Sinne Barths, also nicht im Sinne des Tragens einer weißen Fahne und des Verbergens seiner christlichen Überzeugungen, um zwischen rivalisierenden Gruppen vermitteln zu können. Vielmehr handelt es sich um ein „außerhalb“, auf das jeder Glaubende, der Ethik oder Religionsphilosophie betreibt, sich einlassen muss, ohne dass er damit seine eigenen dogmatischen Überzeugungen aufzugeben hätte. Im Übrigen nimmt Schleiermacher diesen Standpunkt des „außerhalb“ nur ein, um seine Definition des „Wesens des Christentums“ in § 11 vorzubereiten. Ausgerechnet an dieser Stelle – wenn von dem besonderen Wesen des Christentums, dessen Wahrheit nur von denen, die an Christus glauben, erkannt werden kann, die Rede ist – erscheint in der Glaubenslehre zum ersten Mal das Wort „Apologetik“. Und Schleiermacher fügt sofort eine Einschränkung an: Es leuchtet auch an und für sich ein, daß ein fremder Glaubensgenosse durch die obige Darstellung vielleicht vollkommen kann überzeugt werden, das hier dafür aufgestellte sei das eigentliche Wesen des Christenthums, ohne daß dieses selbst dadurch für ihn Wahrheit bekäme, so daß er sich gedrungen fände es anzunehmen. Vielmehr wie sich hier alles auf die Dogmatik bezieht und diese nur für die Christen ist: so ist auch diese Darstellung nur für diejenigen die im Christenthum leben, und sie soll nur zum Behuf der Dogmatik Anleitung geben, um Aussagen über irgend ein frommes Bewußtsein zu unterscheiden, ob sie christlich sind oder nicht […] Auf jeden Beweis für die Wahrheit oder Nothwendigkeit des Christenthums verzichten wir vielmehr gänzlich, und sezen dagegen voraus, daß jeder Christ, ehe er sich irgend mit Untersuchungen dieser Art einläßt, schon die Gewißheit in sich selbst habe, daß seine Frömmigkeit keine andere Gestalt annehmen könne als diese.29

28 Barth, Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 385. 29 Schleiermacher, Der christliche Glaube, I, 102 (§ 11.5).

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Zumindest hier hätte Barth sehen können, dass Schleiermacher kein „kühner“ Apologet, der darauf abzielt, die intellektuelle Notwendigkeit des christlichen Glaubens zu erweisen, war. Ferner hätte er lernen können, dass es auch gegen die Zuschreibung einer „vorsichtigen“ Apologetik gute Gründe gibt, nicht zuletzt die Tatsache, dass Schleiermacher die Apologetik als eine Angelegenheit innerhalb des christlichen Glaubens behandelt. Diese Gesichtspunkte sollen genügen. Sicherlich verdient Barths Kritik an Schleiermacher eine ausführlichere Darstellung. So gibt es noch den Vorwurf der anthropologischen Reduktion der Theologie, die Schleiermacher vornehme, weil er (vermeintlich) behaupte, nichts von Gott zu wissen.30 Auch diese Behauptung Barths kann mit guten Gründen in Frage gestellt werden, wenn man z. B. Schleiermachers Erläuterung der göttlichen Eigenschaften der Weisheit und Liebe in §§ 166–169 der Glaubenslehre erwägt.

3.

Fazit

Barths Kritik verbirgt, dass er Schleiermacher viel verdankt. Darin liegt eine gewisse Tragik. Ein genauer Vergleich würde nicht nur formale Übereinstimmungen (z. B. waren beide theologische Realisten, ohne dass ihr Realismus in einer natürlichen Theologie gründete), sondern auch sachliche Ähnlichkeiten und Überschneidungen aufweisen. Beide denken „supralapsarisch“, so dass die Schöpfung der Erlösung nachgeordnet bleibt. Beide sind „Vermittlungstheologen“ in der Art, wie sie dogmatische Prinzipien zur Rekonstruktion der christlichen Schöpfungslehre verwenden, nachdem der traditionelle Verweis auf Genesis 1 bis 3 als historische Quelle durch die Fortschritte in den Naturwissenschaften unzureichend geworden ist. Beide sind der Meinung, dass die „göttliche Weltregierung“ (mit einem Begriff Schleiermachers gesprochen) sich auf ein einziges Ziel richtet, und beide bezeichnen dieses Ziel als die Errichtung des Reiches Gottes. Beide lehnen die Idee der Allkausalität in ihrer traditionellen Form ab und protegieren von daher eine umfassende Neugestaltung der klassischen Vorsehungslehre. Beide erachten den „Sündenfall“ als in gewisser Weise „notwendig“ für die Verwirklichung von Gottes erlösendem Handeln. Beide sind der Meinung, dass Gottes Beziehung zur Welt aufgrund von Gottes ewigem „Sein in der Tat“ (in Barths bekannter Formulierung) für Gott wesentlich ist. Beide 30 Barth begründete diesen Vorwurf mit dem Hinweis auf Schleiermachers Lehre von den „drei Formen“ dogmatischer Sätze und der Aussage im zweiten Sendschreiben an Lücke, die Dogmatik könnte eines Tages sich mit Aussagen der ersten Form, d. h. Aussagen über menschliche Gemütszustände, begnügen. Vgl. Barth, Protestantische Theologie im neunzehnten Jahrhundert, 407–409, und Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen, Wintersemester 1923/1924, hg. von D. Ritschl, Zürich 1978, 365–375.

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Barths Kritik an Schleiermacher

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verstehen das in und durch Jesus Christus vollbrachte Heilswerk Gottes als umfassende Wirklichkeit, so dass das Werk des Heiligen Geistes sich auf die Stärkung der aktiven Sendung der Kirche in der Welt und nicht auf die Verwirklichung oder Umsetzung des Werkes Christi, das ansonsten wirkungslos bliebe (wie die Protestantische Orthodoxie dachte), richtet. Die Liste der Gemeinsamkeiten ließe sich im Hinblick auf andere dogmatische Themen ergänzen. Interessant ist auch der Vergleich des öffentlichen Wirkens von Schleiermacher und Barth. Beide beginnen ihre Karriere mit einem „romantischen“ Werk, den Reden über die Religion und der zweiten Auflage des Römerbriefs. Beide wenden sich danach der Aufgabe der Dogmatik zu. Vermutlich ist Barths Denken nie näher an Schleiermachers Denken als in der Phase der Göttinger Dogmatik, wenn er meint: „Das Problem der Trinitätslehre ist die Erkenntnis der unerschöpflichen Lebendigkeit oder der unaufhebbaren Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung“,31 oder wenn er erklärt, dass Gott in der Person Christi den Gegensatz von Gott und Mensch genau dadurch überwindet, dass er in der Einheit der zwei ‚Naturen‘ von der menschlichen ‚Natur‘ unterschieden und damit oberhalb des Gegensatzes bleibe.32 Die erste dieser beiden Formulierungen Barths erinnert an die Sprache Hegels („Aufhebung“), die jedoch quasi auf den Kopf gestellt wird, um eine Auffassung zu verteidigen, die Schleiermacher gut gefallen hätte: das Anderssein Gottes gerade in seiner Selbstoffenbarung. Die zweite Formulierung, zur Christologie, betont denselben Punkt: Der Logos überwindet den Gegensatz von Gott und Mensch, gerade indem er seine Andersheit bewahrt.33 Viele Jahre später, im Anschluss an Band II/2 der Kirchlichen Dogmatik (1942), entfernt Barth sich dann von Schleiermacher und rückt näher an Hegel. Zugleich will er, wie andere große Theologen vor ihm, zwischen beiden Positionen vermitteln. Wenn Barth in seinem „Nachwort“ von 1968 fragt, wie eine christliche Theologie auf der Grundlage des dritten Artikels aussehen könnte, dann lautet meine Antwort: Sie würde in etwa so aussehen wie die Göttinger Dogmatik!

31 Karl Barth, ‚Unterricht in der christlichen Religion‘, Band I: Prolegomena, 1924, hg. von H. Reiffen, Zürich 1985, 120. 32 Karl Barth, ‚Unterricht in der christlichen Religion‘, Band III: Die Lehre von der Versöhnung / Die Lehre von der Erlösung, 1925/1926, hg. von H. Stoevesandt, Zürich 2003, 44: „Der Sohn Gottes, der Logos ist der Gottmensch. Er ist über dem Gegensatz. In ihm ist seine Überwindung begründet, geschehen ein für allemal, durch seine Einigung mit der Menschennatur.“ 33 Damit behaupte ich nicht, dass Barths Christologie in dieser Phase, gemessen am Zeugnis des Neuen Testaments, aufs Ganze gesehen adäquat ist, zumal er in der Christologie der Versöhnungslehre (KD IV/1–3) weitreichende Änderungen vornehmen wird. Es geht lediglich darum, dass Barths Anliegen in dieser Phase seiner Entwicklung dem Anliegen von Schleiermachers Christologie sehr nahe steht.

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Namensregister

Althaus, P. 9 Amano, Y. 167 Angelus Silesius 155 Anselm v. Canterbury 71, 176, 321 Apollinaris v. Laodicea 54, 67 Arndt, A. 235 Augustinus, A. 9, 11, 70 Axt-Piscalar, C. 99, 162 Balthasar, H.U. v. 70, 255, 257 Barth, U. 24 Bauer, J. 247 f. Bayer, O. 113, 161 Becker, D. 120 Beintker, M. 29, 46, 64, 69, 210, 272, 282 Beiser, F.C. 101 Berkouwer, G.C. 129 f., 133 Biedermann, A.E. 86 Biggar, N. 259 Birkner, H.-J. 185, 195, 235–238, 240 Bischof, E. 36, 252 Blum, W. 22 Blumhardt, C. 19, 296 Bolli, H. 23, 33, 214, 309 Bonhoeffer, D. 42, 126, 167, 200, 255–257, 259, 272, 319 Boomgaarden, J. 27, 129, 319 Brandt, W. 219, 227 Brito, E. 186, 190 Brunner, E. 21 f., 30, 32 f., 161, 278 f., 281– 284, 293, 300 f., 306 f. Bullinger, H. 53 Bultmann, R. 17 f., 36, 202 f., 256, 282

Busch, E. 8, 17, 25, 31 f., 37, 39, 41, 232, 264, 267, 319 Calvin, J. 9, 11, 24, 29, 31, 122, 168 f., 213, 215, 226 f., 255, 284, 296, 321 Chalamet, C. 17 Christe, W. 190, 195 Clough, D. 253 f. Cochrane, A. 53 Collins, A. 23 Cornu, D. 264 Cramer, K. 179 Crouter, R. 234 f. Cyrill v. Alexandrien 53 f., 311 Dahm, A. 167 Dalferth, I.U. 20, 24, 121, 152 Dannemann, U. 253, 268 Dantine, W. 177 Daub, H.-F. 126 DeVries, D. 97, 99 f. Dibelius, O. 196, 198 Diederich, M. 215, 217, 222 f. Diem, H. 253 Dierken, J. 24, 244, 247 Dilthey, W. 116 f., 285 Dole, A. 24, 99 Dorner, I.A. 17 Ebeling, G. 9, 161, 203 Elert, W. 9 Eller, E. 40 Etzelmüller, G. 30, 277, 282, 290, 294, 320

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Namensregister

Falcke, H 235–239 Farley, E.. 175 Feldmann, M. 232 Fichte, J.G. 34 Fischer, H. 127 f., 162 Ford, D.F. 167 Frank, M. 237 Frei, H.W. 24, 174 f. Freud, S. 39 Gerrish, B.A. 24, 97, 99 f. Gestrich, C. 173 Gockel, M. 9, 16 f., 24, 104, 297, 303, 319 Goethe, J.W. 41 Gogarten, F. 274 Gollwitzer, H. 253, 266 Gräb, W. 158, 184, 192, 195, 205 Graf, F.W. 263 Greive, W. 196 Greshake, G. 288 Grillmeier, A. 52 Grove, P. 134 f. Grözinger, A. 205 Gundlach, T. 201 Günthör, A. 272 Gunton, C. 23 Habermas, J. 231 Haddorff, D. 253 Hailer, M. 27 f., 155, 169, 177, 179, 181, 320 Härle, W. 142, 195, 255 Harms, K. 42 Harnack, A. 17, 19, 262 Hector, K.W. 55 Hegel, G.W.F. 26, 68 f., 76, 79, 82 f., 86–88, 186, 244, 247, 257, 315 Hermanni, F. 110 Herms, E. 24, 46, 157, 186, 260, 291, 301 Herrmann, W. 17, 19, 32, 39, 232, 236 Hirsch, E. 12, 236, 277 Hjelde, S. 289 Hofheinz, M. 120 Hunsinger, G. 54, 253 Iwand, H.J.

123, 126 f.

Jaeschke, W. 229, 231, 243 Janowski, J.C. 290, 294, 300 Jehle, F. 232, 251, 263 f. Johannes (Evangelist), johanneisch 10, 49, 61, 126, 171, 227, 242, 289, 292, 312 Johannes d. Täufer 282 f. Jørgensen, T.H. 124, 163 Josuttis, M. 255 Jüngel, E. 23, 122, 125, 255, 260, 262 Junker, M. 115, 117, 162 Käfer, A. 26, 89, 93, 99, 103, 108, 320 Kalinna, H.E.J. 263, 269 Kant, I. 32, 34, 36, 93, 113 f., 179, 185, 207, 235 Kierkegaard, S. 99, 129 f., 162, 262, 319 Kim, Y.S. 121 Kirchhoff, T. 251 Klappert, B. 18, 121, 167 Korsch, D. 167, 184, 195 Krötke, W. 18, 126, 167, 179, 205, 252 Kurz, R. 249 Kuyper, A. 220 Lamm. J.A. 93, 95, 99 Lange, D. 145, 161 Leiner, M. 9, 16, 186, 319 Leonhardt, R. 245, 259 f. Lessing, E. 196 Lessing, G.E. 220, 226 Lindenlauf, H. 251, 269 Link, C. 226 Lohmann, F. 25, 29, 207, 229, 232, 236 f., 256 f., 259, 263, 273 f., 320 Loofs, F. 86 Lotman, J. 13 Lücke, F. 63 f., 89, 97, 217, 241, 278, 314 Lülmann, C. 304 Luthardt, C. 124 Luther, M. 9, 54, 99, 122, 161, 164, 181, 245, 257, 284, 320 Lütz, D. 23, 174 Mann, M. 249 Mannermaa, T. 181

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Namensregister

Manzke, K.H. 152 Marga, A. 257 Marion, J.-L. 274 Marquardt, F.-W. 8, 18, 231, 252–256, 264 Maßmann, A. 253 f., 260 Maurer, E. 9 McCormack, B.L. 18, 23–26, 30, 45 f., 68, 70, 86, 121, 207, 255, 258, 261, 303, 320 McGuckin, J. 311 Meckenstock, G. 179 f. Meister Eckhart 155 Melanchthon, Ph. 53, 159, 181 Menke, K. 126 Migliore, D. 254 Moltmann, J. 176 f. Moore, W.E. 24 Moxter, M. 198 Mueller, D.L. 167 Mühling, M. 10 Müller, E.F.K. 53 Müller, J. 99, 162 Naumann, F. 265, 296 Nestorius v. Antiochien 52-54 Neuser, W.H. 89 Niebuhr, R.R. 161 f. Nietzsche, F. 155, 206, 211 Nimmo, P. 255, 258, 261 Noordmans, O. 119 Nowak, K. 184, 231 Oblau, G. 152, 287 Obst, G. 167 Oh, S.H. 20, 138, 281 f. Ohst, M. 93, 97, 161, 190 Osthövener, C.-D. 24, 93, 102, 104 Ott, H. 42 Otto, R. 32, 37 Pannenberg, W. 18, 167, 257 Paulus v. Tarsus 10, 28, 49, 126, 215, 227, 249, 282, 288–290, 298 Peiter, H. 176, 187 Peters, A. 9 Pfisterer, R. 264

Pfleiderer, G. 184, 207, 210, 253 Pietz, H.-W. 167 Pius IX. 266 Plasger, G. 26 f., 113, 119, 128, 321 Plato 40 Plonz, S. 253 Pöhlmann, H.G. 255, 257 Przywara, E. 169 Rade, M. 19 Reetz, D. 231 Rendtorff, T. 261 Rieger, H.-M. 25, 28, 183 f., 321 Riesebrodt, M. 239 Ritschl, A. 33, 35, 38, 45–47 Ritschl, O. 33 Ritz, J. 210 Robinson. J.A.T. 36 Rohls, J. 23, 114 f., 117 Rose, Matthew 259–261 Rose, Miriam 233 f. Rosenau, H. 10 Rosenzweig, F. 177 Roth, M. 9, 124 f. Saarinen, R. 181 Sauter, G. 202 Schelling, F.W.J. 34 Schiller, F. 93 Schlegel, F. 41, 93 Schlegel, T. 15, 45 Schlenke, D. 190, 192, 208, 215, 220, 240 Schleyermacher, D. 40 Schlink, E. 9 Schmid, H. 157 Schoberth, W. 155, 182 Scholtz, G. 186 Schröder, M. 185 Schwager, R. 167 Schwan, A. 261 Scierzyn, A. 162 Seim, J. 123 Sherman, R. 24 Siegfried, T. 161 Söhngen, G. 169

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320

Namensregister

Sommer, W. 161 Spener, Ph.J. 156 Spiegel, Y. 234 f., 240, 252, 255 Spinoza, B. 31, 93, 97, 99, 164, 179 f. Spoendlin, W. 19 Stähelin, D.F. 232 Steck, K.G. 123 Steiger, J.A. 157 Steinacker, P. 210 Stock, K. 132, 137, 141 Strauss, D.F. 45, 56, 65 Sykes, S.W. 178 Theodor v. Mopsuestia 52–54 Thielicke, H. 36, 272 Tholuck, A. 99, 162 Thomas, G. 14, 251 Thomas v. Aquin 39, 161, 259 Thurneysen, E. 12, 19–22, 223, 255, 264 Tillich, P. 7, 116 Track, J. 169 Troeltsch, E. 21, 46–48

Trowitzsch, M.

167

Van der Kooi, C. 28 f., 213, 321 Van Norden, G. 251 Verheyden, J.C. 61 Versteeg, J.P. 227 Verweyen, H. 180 Wagner, F. 116 f., 254, 258 Weber, O. 128, 155–157, 176 Weeber, M. 279 f., 287, 295, 301 Weirich, A. 190, 295 Weismayer, J. 155 Welker, M. 221, 294 Wenz, G. 164, 195, 199 Windelband, W. 239 Wingren, G. 9 Wolfes, M. 229–231, 233 Wolter, M. 294 Wüthrich, M.D. 104 Zinzendorf, N.L.

9–11, 220

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Matthias Gockel, Ph.D., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FriedrichSchiller-Universität Jena – Forschungsschwerpunkte: Gotteslehre; Christologie; Theologie- und Kulturgeschichte der Neuzeit; Politische Ethik – Ausgewählte Veröffentlichungen: Hermann Cremers Umformung der christlichen Lehre von den Eigenschaften Gottes im Lichte ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert in: NZSThR 56/2014; Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election. A Systematic-Theological Comparison, Oxford 2007. Martin Leiner, Professor für Systematische Theologie/Ethik, Friedrich-Schiller-Universität Jena – Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Ethik; Medienethik; Versöhnungsforschung – Ausgewählte Veröffentlichungen: Grundfragen und Schwerpunkte einer Mediennutzerethik, in: ZEE 58/2014; Methodischer Leitfaden systematische Theologie und Religionsphilosophie, Göttingen 2008. Jürgen Boomgaarden, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) – Forschungsschwerpunkte: Glaubensbegriff; Grundfragen der Anthropologie – Ausgewählte Veröffentlichungen: Das Verständnis der Wirklichkeit. Dietrich Bonhoeffers systematische Theologie und ihr philosophischer Hintergrund in ‚Akt und Sein‘, Gütersloh 1999; Das verlorene Selbst. Eine Interpretation zu Søren Kierkegaards Schrift ‚Die Krankheit zum Tode‘ (im Erscheinen). Eberhard Busch, Dr. theol., Professor emeritus für Systematische Theologie an der Georg-August Universität Göttingen – Forschungsschwerpunkte: Weg und Werk Karl Barths; Reformierte Bekenntnisschriften in Geschichte und Gegenwart; Kirche und Staat; Kirche und Israel; Geschichte des Pietismus im 18. Jh. – Ausgewählte Publikationen: Meine Zeit mit Karl Barth: Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011; Die Akte Karl Barth: Zensur und Überwachung im Namen der Schweizer Neutralität 1938–1945, Zürich 2008.

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Gregor Etzelmüller, Dr. theol., Apl. Professor für Systematische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und „Principal Investigator“ des Marsilius-Projekts „Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie“ –Forschungsschwerpunkte: Eschatologie; Ökumenische Theologie; interdisziplinäre Anthropologie; Dialog mit Natur- und Rechtswissenschaften – Ausgewählte Veröffentlichungen: Was geschieht beim Gottesdienst? Die eine Bibel und die Vielfalt der Konfessionen, Leipzig 2013; ‚… zu richten die Lebendigen und die Toten‘. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2001. Martin Hailer, Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik, Schwerpunkt Systematische Theologie, an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg – Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Theologie; Religionsphilosophie; Karl Barth – Ausgewählte Veröffentlichungen: Religionsphilosophie, Göttingen 2014; Gott und die Götzen. Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte, Göttingen 2006. Anne Käfer, Dr. theol., Privatdozentin für Systematische Theologie in Tübingen und Lehrstuhlvertreterin für Systematische Theologie an der HumboldtUniversität Berlin – Forschungsschwerpunkte: Christologie und Umweltethik – Ausgewählte Veröffentlichungen: Glauben bekennen, Glauben verstehen: Eine systematisch-theologische Studie zum Apostolikum, Zürich 2014; Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth, Berlin/New York 2010 Friedrich Lohmann, Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundeswehr München – Forschungsschwerpunkte: Friedensethik, Menschenrechte, Karl Barth – Ausgewählte Veröffentlichungen: Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte, Berlin/New York 2002; Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im „Römerbrief“ und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, Berlin/ New York 1995. Bruce L. McCormack, Ph.D., Charles Hodge Professor für Systematische Theologie am Princeton Theological Seminary in Princeton, NJ, USA – Forschungsschwerpunkte: Neuzeitliche Theologie (v. a. Schleiermacher und Barth); Versöhnungslehre; Ökumenische Theologie – Ausgewählte Veröffentlichungen: Orthodox and Modern: Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids

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2008; Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology: Its Genesis and Development 1909–1936, Oxford 1995 (dt. Übers. Zürich 2006). Georg Plasger, Dr. theol., Professor für Systematische und ökumenische Theologie an der Universität Siegen – Forschungsschwerpunkte: Theologie Karl Barths; Reformierte Theologie (vor allem Zwingli, Calvin und in der Neuzeit); Anselm von Canterbury; Christologie; Religionskritik; Medizinische Ethik und Bioethik – Ausgewählte Veröffentlichungen: Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012; Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen ²2009. Hans-Martin Rieger, Dr. theol., Apl. Professor für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena – Forschungsschwerpunkte: Christologie und Kreuzestheologie; Rechtfertigungslehre; Medizinische Ethik; Anthropologie; Analytische Religionsphilosophie – Ausgewählte Veröffentlichungen: Gesundheit. Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept, Leipzig 2013; Theologie als Funktion der Kirche. Eine systematisch-theologische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirche in der Moderne, Berlin/New York 2007. Cornelis (Kees) van der Kooi, Ph.D., Professor für Systematische Theologie an der Freien Universität (VU) Amsterdam/NL – Forschungsschwerpunkte: Dogmatische Theologie. Reformierte Theologie; Ökumenische Theologie; Karl Barths Theologie – Ausgewählte Veröffentlichungen: Christelijke Dogmatiek (mit G. van den Brink), Zoetermeer 2012; As in a Mirror. John Calvin and Karl Barth on Knowing God. A Diptych, Leiden 2005.

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