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German Pages 427 [428] Year 2013
Andreas Arndt Friedrich Schleiermacher als Philosoph
Andreas Arndt
Friedrich Schleiermacher als Philosoph
DE GRUYTER
Gedruckt mit Unterstützung der Schleiermacherschen Stiftung.
ISBN ---- e-ISBN ---- Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort
IX 1
Teil I:
Grundzüge
„Ausgehn von der Individualität“. Schleiermachers philosophische 3 Grundposition
Dialektik und Transzendentalphilosophie. Schleiermacher und die 17 Klassische Deutsche Philosophie
Teil II: Frühromantik und Aufklärung
29
Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich 31 Schlegel
Gefühl und Reflexion. Schleiermacher und Novalis
Geselligkeit und Gesellschaft. Schleiermachers „Versuch einer Theorie 51 des geselligen Betragens“
Von der Amphibolie religiöser Rede. Religion und Philosophie in 64 Schleiermachers „Reden über die Religion“
„Eine Art von Halbdunkel, aus welchem hin und wieder eine pantheistische Ansicht der Dinge hervorzuleuchten scheint“. Schleiermachers 76 systematische Auseinandersetzung mit Spinoza Anhang: Schleiermacher über Spinoza. Aus einer Nachschrift der Vorlesung zur Geschichte der neueren Philosophie 1820 98
.
Schleiermacher und die englische Aufklärung
42
102
Teil III: Die Philosophische Ethik und das Werden des Systems .
115
Tauschen und Sprechen. Zur Rezeption der bürgerlichen Ökonomie in 117 der philosophischen Ethik 1805/06 Anhang: Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh (Auszug) 131
Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schleiermachers Vorlesungen 137 zur Philosophischen Ethik 1807/08
„Der berechtigte Gegensatz der Romantik“. Aspekte der Geschichts145 theorie Friedrich Schleiermachers
VI
Inhalt
Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie
Der Begriff der Person bei Schleiermacher
167
Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
179
155
Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von 181 Dialektik
Unmittelbarkeit als Reflexion. Voraussetzungen der Dialektik Friedrich 198 Schleiermachers
Schleiermacher und Hegel. Versuch einer Zwischenbilanz
Mehr als Gefühl. Logik und Metaphysik bei Schleiermacher 226 und Hegel
Philosophie und Religion bei Schleiermacher und Hegel
Philosophie und Theologie in Schleiermachers „Dialektik“
Teil V: Antike Philosophie
213
240 248
261 263
Schleiermacher und Platon
„Das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbinden“. Friedrich Schleier275 macher und Platons „Symposion“
„Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“. Schleiermacher und 285 Sokrates
Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
297
Dialektik und Hermeneutik. Zur kritischen Vermittlung der Disziplinen 299 bei Schleiermacher
Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers
„Bedenke, dass alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen 336 ist“. Ethik und Ästhetik bei Schleiermacher
Schleiermacher und Caspar David Friedrich
Teil VII: Anthropologie und Psychologie
361
363
Schleiermachers Anthropologie
348
326
Inhalt
„Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“. Friedrich Schleiermachers 379 Psychologie. 395
Nachweise Siglen
VII
398
Literaturverzeichnis Personenregister
399 413
Vorwort Die hier versammelten Studien behandeln Schleiermacher als Philosophen. Sie gehen den Fragen nach, worin das philosophische Gravitationszentrum der einschlägigen Texte, Entwürfe und Vorlesungen Schleiermachers besteht, mit welchen theoretischen Mitteln er dabei operiert und welche Stellung er in der philosophischen Bewegung seiner Zeit einnimmt. Was die erste Frage betrifft, so hat Schleiermacher selbst eine Antwort gegeben: das „Ausgehn von der Individualität“ sei der höchste Standpunkt.Was dies bedeutet, wird in dem ersten Aufsatz grundlegend dargestellt und im Folgenden immer wieder thematisch. Die Frage nach den theoretischen Mitteln des Schleiermacherschen Denkens hängt mit der Frage nach der Individualität eng zusammen. Der Rückgang auf eine im Kern als nicht mittelbar bzw. nicht übertragbar verstandene Individualität führt dazu, dass die vom Individualitätskonzept ausgehende Philosophie zentral auf Unmittelbarkeitsfiguren rekurriert, von denen das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl, wie es die Dialektik expliziert, die fundamentalste und bekannteste ist. Hierauf vor allem bezieht sich meine Kritik an Schleiermacher, die in den folgenden Studien gelegentlich auch schärfer hervortritt.¹ Der Rückgang auf unvermittelte Unmittelbarkeiten setzt Schleiermacher in Gegensatz zu Hegel; dennoch weist er innerhalb der nachkantischen Philosophie zusammen mit dem frühen Friedrich Schlegel in vielen Fragen auch die größtmögliche Nähe zu Hegels Denken auf; so z. B. mit seiner Ethik, die konzeptionell der Hegelschen Geistesphilosophie trotz aller inhaltlichen Differenzen nahe steht, sowie mit seiner Dialektik, die, wie Hegels Wissenschaft der Logik, als Einheit von Logik und Metaphysik auftritt. Dies hängt auch damit zusammen, dass Schleiermacher in seinen Schriften und Entwürfen seit 1803, dem Erscheinen der Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, das von ihm mit ausgebildete frühromantische Denken in sein System des Wissens transformiert hatte. Schleiermachers Denken, das muss energisch betont werden, ist integraler Bestandteil der Klassischen Deutschen Philosophie.² Gleichwohl ist Schleiermacher im philosophischen Bewusstsein noch immer bestenfalls als randständige Figur gegenwärtig. Hierzu trägt sicherlich nicht nur die fortschreitende Enthistorisierung des philosophischen Denkens bei, sondern auch der Umstand, dass Schleiermachers Denken nur schwer einzuholen ist. Er
Zu meiner Kritik an der Unmittelbarkeit vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004. Vgl. hierzu auch Walter Jaeschke und Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785 – 1845, München 2012, bes. 254– 305.
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Vorwort
hat seine Philosophie nur in immer wieder erneuten Anläufen ausgearbeitet, ohne zu einer abschließenden,von ihm selbst als gültig erachteten Darstellung auch nur einer der Disziplinen gekommen zu sein. Schleiermachers Denken ist immer im Fluss und entgleitet dem Interpreten oft gerade dann, wenn er es endlich fixieren zu können meint. Schon Wilhelm Dilthey musste diese Erfahrung an der Dialektik machen, und sie ist auch dem Verfasser nicht fremd. Die nachfolgenden Beiträge sind über einen Zeitraum von dreißig Jahren entstanden und stellen selbst ein work in progress dar. Dabei treten jedoch in den fortgesetzten Bemühungen, Schleiermachers philosophisches Denken einzukreisen, Grundmotive und Grundlinien hervor, welche die einzelnen Aufsätze verbinden und die es erlaubten, sie entwicklungsgeschichtlich und systematisch in eine nicht nur äußerliche Ordnung zu bringen. Einige, zumal ältere Beiträge wurden für den vorliegenden Band überarbeitet, um Zusammenhänge deutlicher zu machen. Grundlegende Änderungen habe ich dabei jedoch nicht vorgenommen und im Zweifelsfall der Dokumentation des eigenen Entwicklungsprozesses den Vorzug vor systematischer Vereinheitlichung gegeben. Fast alle Beiträge stehen nicht nur biographisch in einem engen Zusammenhang mit der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe (KGA), an der ich seit 1979 mitarbeite, zunächst als Editor, schließlich auch als Arbeitsstellen- und Projektleiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und als Mitglied des Herausgeberkreises der KGA. Die Nähe zur historisch-kritischen Arbeit an den Texten ist vielen der Beiträge anzumerken; ihre Absicht geht jedoch, wie eingangs bemerkt, über eine bloß historische Erschließung der Schleiermacherschen Philosophie hinaus. Viele der Beiträge wurden in ihrer ursprünglichen Fassung vorgetragen und diskutiert; aus Zustimmung und Kritik habe ich viel gelernt, ohne dass ich hier auch nur den wichtigsten Gesprächspartnerinnen und -partnern namentlich meinen Dank abstatten könnte. Für die Erstellung des Literaturverzeichnisses und des Personenregisters und Hilfe bei den Korrekturen danke ich meinem Mitarbeiter, Herrn Arne Kellermann. Ein besonderer Dank gilt ferner der Schleiermacherschen Stiftung für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Berlin, im März 2013
Andreas Arndt
Teil I: Grundzüge
1 „Ausgehn von der Individualität“. Schleiermachers philosophische Grundposition „Das Ausgehn von der Individualität“, so schrieb der damalige Stolper Hofprediger Friedrich Schleiermacher am 14. Dezember 1803 an seinen Studienfreund, den Dichter, Philosophen und schwedischen Diplomaten Karl Gustav von Brinckmann, „bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt“ (KGA V/7, 158). In dieser Bemerkung hat Schleiermacher seine philosophische Grundposition prägnant verdichtet, aber sie erschließt sich erst durch ihre philosophiehistorischen und entwicklungsgeschichtlichen Kontexte. Individualität, Identität und Allgemeinheit – mit diesen Begriffen ist der für Schleiermacher maßgebende Diskussionskontext der nachkantischen Philosophie angesprochen. Im Individualitätsbegriff konzentriert sich das Konzept von Subjektivität, wie es vor allem Fichte mit seinem Ichbegriff profiliert und dann von der Frühromantik ins Spiel gebracht worden war. ‚Allgemeinheit‘ steht für die von Kant zum zentralen Thema gemachte Vernunftperspektive der Philosophie und Identität schließlich für das spinozistische Motiv des hen kai pan, der All-Einheit. Damit sind auch entscheidende Stationen des Schleiermacherschen Denkweges bezeichnet.¹ Am Anfang steht bei ihm das intensive Studium Kants, den er dann mit Spinoza zu kombinieren versucht, wodurch er – völlig eigenständig – zu Positionen kommt, die mit der frühidealistisch-frühromantischen Philosophie konvergieren. Die Betonung der Individualität, in der Identität und Allgemeinheit vereinigt seien, verweist schließlich auf die Frühromantik,² an deren Ausbildung Schleiermacher wesentlichen Anteil hatte. So ist seine Philosophie insgesamt schließlich Entwicklung und Transformation eines frühromantischen Projekts. (1) „Die Philosophie Kants kann völlig verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben; Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ihrem gründlichen Verständnis biographischer Darstellung“.³ Diltheys bekanntes Diktum ist sicherlich übertrieben Vgl. zur (philosophischen) Entwicklungsgeschichte Schleiermachers insgesamt Andreas Arndt: „Kommentar“, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg.v. A. Arndt, Frankfurt/Main 1996, 1034– 1104; Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, Teil I („Voraussetzungen“). Zur Programmformel verdichtet hat dies Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main 1977. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1, Berlin 1870, I. – Zur Biographie Schleiermachers vgl. jetzt die maßgebende Darstellung von Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001.
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Teil I: Grundzüge
und zudem hochproblematisch, weil es dazu einlädt, die philosophischen Gehalte mit der Biographie kurzzuschließen. Richtig daran ist, dass in Schleiermachers Biographie Entwicklungslinien und Brüche sichtbar werden, die auch Licht auf seine Texte werfen. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau als Sohn eines reformierten preußischen Feldpredigers geboren. 1783 wurde er – zusammen mit seinen Geschwistern – in die Obhut der Herrnhutischen Brüdergemeine gegeben, deren Pädagogium (Gymnasium) in Niesky bei Görlitz er absolvierte, bevor er im September 1785 das Seminarium der Brüdergemeine in Barby, eine Universität für den Dienst in der Gemeinde, bezog. Nach schweren inneren Kämpfen, in denen er zeitweilig zum Christentum überhaupt auf Distanz ging, löste sich Schleiermacher 1787 von der Brüdergemeine, wobei er von seinem Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch (1738 – 1807) unterstützt wurde, der in Halle Rektor des reformierten Gymnasiums und Dozent an der Universität war. Vom Sommer 1787 bis zum Frühjahr 1789 studierte er dort Theologie und, vor allem, Philosophie bei Johann August Eberhard (1739 – 1809). Nach Beendigung des Studiums im Mai 1789 siedelte Schleiermacher nach Drossen über, wo Stubenrauch inzwischen eine Landpfarre übernommen hatte. In dieser Zeit entstanden seine ersten eigenständigen philosophischen Entwürfe. Im Mai 1790 legte er in Berlin das erste theologische Examen ab, um anschließend eine Hauslehrerstelle bei den Grafen Dohna in Schlobitten (Ostpreußen) anzutreten. Nach Meinungsverschiedenheiten über die Erziehungsgrundsätze und wohl auch über die Französische Revolution wurde Schleiermacher 1793 entlassen und trat schließlich in Berlin in ein Lehrerseminar ein. In dieser Zeit fallen seine Spinoza-Studien, in denen er seine Grundposition entwickelte. 1794 ergab sich die Gelegenheit, nach seinem zweiten theologischen Examen auf eine Hilfspredigerstelle in Landsberg an der Warthe zu wechseln. Dort setzte er nicht nur seine philosophischen Studien fort, sondern trat auch als Übersetzer aus dem Englischen hervor und erwarb sich den Ruf eines ausgezeichneten Predigers. 1796 wurde Schleiermacher als reformierter Prediger an die Berliner Charité berufen, wo er bis 1802 blieb. Hier trat er in die Welt der gelehrten Gesellschaften (wie z. B. die Mittwochgesellschaft) und der literarischen Salons – vornehmlich im Hause von Henriette Herz (1764– 1847) – ein, wo er auch Friedrich Schlegel (1772– 1829) kennen lernte, mit dem er von Ende 1797 bis zu Schlegels Übersiedlung nach Jena im September 1799 in einer Wohnung zusammen lebte und arbeitete. Ihr „Symphilosophieren“ fand Niederschlag in literarischen Arbeiten, zu denen Schlegel den Freund drängte. Schleiermacher arbeitete am Athenaeum der Brüder Schlegel mit und übernahm zeitweilig auch die Redaktion der Zeitschrift; viele gemeinsame Projekte – so ein Anti-Leibniz – blieben unausgeführt. Daneben veröffentlichte Schleiermacher den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), die
1 „Ausgehn von der Individualität“. Schleiermachers philosophische Grundposition
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Reden über die Religion (1799), die Vertraute[n] Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) und die Monologen (1800), wobei alle diese Schriften anonym erschienen. Angeregt durch Friedrich Schlegels Projekt einer gemeinsamen Übersetzung begann er mit intensiven Studien zu Platon. Schleiermachers Teilnahme an der frühromantischen Bewegung, sein Umgang in den jüdischen Salons und nicht zuletzt sein Verhältnis zu Eleonore Grunow (1770 – 1839), der Frau eines Amtsbruders, die er zur Scheidung überreden wollte, erweckten das Missfallen der kirchlichen Vorgesetzten und führten zu seiner Versetzung auf eine Hofpredigerstelle ins Pommersche Stolp. Hier vollendete er sein großes philosophisches Werk, die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) und begann mit der Publikation seiner Platon-Übersetzung, nachdem Friedrich Schlegel sich von dem Unternehmen zurückgezogen hatte. Anfang 1804 erhielt Schleiermacher einen Ruf an die Würzburger Universität, blieb jedoch in Preußen und wurde zum Wintersemester 1804/05 als Professor der Theologie und Philosophie sowie Universitätsprediger nach Halle berufen. Hier legte er in seinen Vorlesungen den Grund zu seinem theologischen und philosophischen System, bevor die Universität infolge der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 geschlossen wurde. Schleiermacher ging schließlich nach Berlin, wo er zunächst Privatvorlesungen hielt, bevor er 1809 zum Prediger an die Berliner Dreifaltigkeitskirche und 1810 zugleich zum Professor der Theologie an die neu gegründete Berliner Universität berufen wurde, die er mit seiner Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808) konzeptionell maßgeblich beeinflusst hatte. Ebenfalls 1810 wurde Schleiermacher in die Philosophische Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen, was ihm das Recht gab, an der Universität philosophische Vorlesungen zu halten, wovon er bis zu seinem Tod auch regelmäßig Gebrauch machte. Als Philosoph wirkte Schleiermacher vor allem durch seine Vorlesungen, die erst nach seinem Tode publiziert wurde. Einzelne Teile seines philosophischen Wissenschaftsentwurfs wurden auch in den Abhandlungen der Akademie publiziert. Schleiermacher starb am 12. Februar 1834. (2) Schleiermacher hat kein Hauptwerk hinterlassen, aus dem man seine Philosophie im Ganzen rekonstruieren könnte; sein Hauptinteresse galt der Ethik, jedoch hat er diese – wie auch die anderen Disziplinen – nicht abschließend bearbeitet, sondern in immer neuen Anläufen in seinen Vorlesungen und Akademieabhandlungen skizziert. Schleiermacher versteht Philosophie als Grundlegung eines werdenden, nicht abgeschlossenen und prinzipiell auch nicht abschließbaren Wissens. Seine eigene Philosophie ist daher auch wesentlich ein Projekt im Werden.
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Teil I: Grundzüge
Schleiermacher war von Hause aus geprägt durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die – in der Orientierung auf die praktische Philosophie – auch den Pietismus der Herrnhuter Brüder beeinflusst hatte. Die (in der Brüdergemeine offiziell verbotene) Lektüre Kantischer Schriften führte ihn über den Rahmen dieser Philosophie hinaus, und auch in dem Streit Eberhards mit Kant trat er nicht an die Seite seines Hallenser Lehrers. Eberhard öffnete Schleiermacher vor allem den Blick auf die Geschichte der Philosophie; unter seiner Anleitung befasste er sich besonders mit der Aristotelischen Ethik. Die philosophische Ethik, im umfassenden Sinne einer ‚Sittenlehre‘, war von da an sein bestimmendes Thema. Gegen Ende seiner Studienzeit 1789 verfasst Schleiermacher eine Abhandlung Über das höchste Gut, die sich kritisch mit Kants Ethikotheologie auseinandersetzt und gegen eine Vermischung von theologischer Dogmatik und philosophischem System eintritt, eine Trennung, an der Schleiermacher zeitlebens festhalten sollte. Die Vermittlung von Vernunft (Sittengesetz) und Empirie soll – in kritischer Distanz zu Kants Theorie des höchsten Gutes – durch das moralische Gefühl in Verbindung mit der Einbildungskraft geleistet werden, wie Schleiermacher in dem Freiheitsgespräch (1789) und seinen Notizen zu Kants Kritik der praktischen Vernunft (wohl 1789) ausführt. Hierin lässt sich einer der Ursprünge des späteren Begriffspaars ‚Anschauung‘ und ‚Gefühl‘ erkennen, das bei Schleiermacher seit den Reden über die Religion für das Innewerden des Unbedingten bzw. Unendlichen im Endlichen steht. Eine unveröffentlicht und Fragment gebliebene Abhandlung Über die Freiheit (ca. 1790 – 1792) präzisiert, dass alle moralischen Gefühle auf das „Freiheitsgefühl“ als „Selbstgefühl“ der Person bezogen seien und dieses kontinuierlich – wie das Kantische „Ich denke“ – anwesend sei (KGA I/1, 282 f.). Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Schleiermacher gegen die Kantische Theorie intellektueller Vermögen und gegen die Trennung von mundus intelligibilis und mundus sensibilis von dem Gedanken der lebendigen, unteilbaren Individualität ausgeht: „es ist umsonst den Menschen zu teilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins“ (241). Indem das Individuum Schnittpunkt von theoretischer und praktischer Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit, Sittengesetz und Naturgesetz, Freiheit und Notwendigkeit ist, müssen diese Gegensätze in der Philosophie auch überwunden werden. Freiheit und damit Sittlichkeit realisiert sich nur auf der Grundlage der Notwendigkeit; sie ist nicht Willkür, sondern – negativ bestimmt – „Abwesenheit einer Nötigung“ (334). Schleiermacher überwindet damit die Perspektive der Sollensethik und begründet Ethik als eine Theorie der individuellen Realisierung von Sittlichkeit im geschichtlichen Prozess. Dieser Ansatz wird in der zur Publikation verfassten, dann aber doch ungedruckten Abhandlung Über den Wert des Lebens (1792/93) weiter ausgeführt, in der die Französische Revolution und Rousseau ein starkes Echo finden. Der Mensch sei „der freigelassene des Schicksals“ (KGA I/1, 429), findet sich aber der Natur
1 „Ausgehn von der Individualität“. Schleiermachers philosophische Grundposition
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entfremdet und von anderen Menschen unterdrückt. Erst in der Gleichheit, die jetzt in das Freiheitsgefühl mit eingetragen wird, könne Freiheit realisiert werden. Dass diese Freiheitsperspektive nicht politisch eingefordert wird, sondern schließlich in die skeptische Distanz des Individuums zur Welt mündet, spiegelt die Verhältnisse im damaligen Deutschland. Einen weiteren Schritt in der Ausarbeitung seiner philosophischen Positionen geht Schleiermacher, indem er – vermittelt durch Friedrich Heinrich Jacobi – Kant mit Spinoza konfrontiert und ergänzt. In den 1793/94 entstandenen Manuskripten Spinozismus und Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems schließt er – unabhängig von entsprechenden Versuchen in den Jenaer frühidealistischen und frühromantischen Diskursen – die kritische Philosophie mit Spinozas Metaphysik zusammen. In dem Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems heißt es hierzu, der Kantianismus scheine, „wenn er sich selbst versteht, auf Spinozas Seite zu seyn“ (KGA I/1, 570). Begründet wird dies damit, dass das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen bei Spinoza insoweit mit dem Verhältnis von Noumenon und Phänomenon bei Kant zusammenstimme, als beide in dem Bedürfnis übereinkommen, „den Dingen unsrer Wahrnehmung ein anderes Daseyn unterzulegen welches außer unserer Wahrnehmung liegt“ (KGA I/1, 573). Spinozas Fehler, auf dem „die einzige Differenz zwischen ihm und Kant“ (ebd., 575) beruhe, bestehe darin, „eine positive Einheit und Unendlichkeit zu behaupten“ (ebd., 574), obwohl die uns einsehbaren Attribute Gottes oder des Unendlichen auch bei ihm letztlich nur unserem eigentümlichen Vorstellungsvermögen entsprächen. Diese Konfrontation läuft auf eine wechselseitige Korrektur beider Positionen aneinander hinaus: Spinoza macht dem kritischen Idealismus Kants die unabdingbare Voraussetzung eines bewusstseinstranszendenten Seins und damit einer objektiven Philosophie deutlich; Kant hingegen macht dem Spinozismus deutlich, dass dieses Sein für uns nur im Rahmen begrenzter subjektiver Erkenntnisvermögen und nicht an und für sich thematisierbar ist. Im Ergebnis wird der transzendentale Gedanke einer vernunftkritisch gebrochenen Substanzmetaphysik eingeordnet. Schleiermacher versteht seither den Erkenntnisprozess als ein werdendes Entsprechungsverhältnis von Denken und Sein, hält aber zugleich an der wissensmäßigen Unerkennbarkeit des Unbedingten oder Absoluten fest. Einen bedeutenden Raum nimmt das Problem der Individuation ein; gegen Jacobis Behauptung, Spinoza könne Individuation nicht wirklich denken, da nach ihm nur die einzige Substanz Bestand habe, versucht Schleiermacher den Nachweis, dass in Spinozas Philosophie ein „Princip der Trennung der Objecte“ (KGA I/ 1, 553) vorhanden sei und „ein jedes einzelnes Ding seine eigene verschiedene
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Teil I: Grundzüge
Lebenskraft habe“ (KGA I/1, 554).⁴ Hiermit ist der Spinozismus für Schleiermacher erst anschlussfähig für die ethischen Überlegungen, die im Zentrum seines philosophischen Interesses stehen und in denen es um die empirischen, endlichen Subjekte und ihre Freiheit geht. Mit der Kombination von Kant und Spinoza ebenso wie mit seinem besonderen Interesse an der Individualität im Rahmen einer geschichtlichen Vermittlung von Natur und Freiheit und seinem Enthusiasmus für die Französische Revolution gerät Schleiermacher in eine Entsprechung zur frühromantischen Philosophie, wie sie sich nahezu zeitgleich bei Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis) herausbildet. Die Begegnung mit Friedrich Schlegel in Berlin erfolgte daher auf Augenhöhe und ihr ‚Symphilosophieren‘ war gegenseitiger Austausch und nicht einseitige Abhängigkeit.⁵ Das Zusammenstimmen von Individualität und Allgemeinheit ist Gegenstand des 1799 anonym publizierten Aufsatzes Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In der „freien Geselligkeit“, die nach dem Vorbild der Berliner Salons als zweckfreie Sphäre des Austauschs von Individuen modelliert ist, treten sich die Individuen als freie, weder durch äußere Zwecke noch durch Abhängigkeiten gebundene Subjekte gegenüber. Es soll sich jeder „seiner eignen Humanität durch seine freie Thätigkeit“, aber auch „der Humanitaet der Andern durch ihre Wirkung bewußt werden“ (KGA I/2, 30).⁶ In der freien Geselligkeit ist jeder selbsttätig und zugleich der Selbsttätigkeit der Anderen ausgesetzt; sie ist Einheit von Autonomie und Heteronomie, Selbst- und Fremdbestimmung. Eine Antinomie entsteht dann nicht, wenn die Individuen in eine Wechselwirkung treten: „Wechselwirkung ist nur da wo jede Thätigkeit des einen Wirkung des andern ist“ (KGA I/2, 34).⁷ Das Konzept der freien Geselligkeit als Darstellung der Individualität in der Wechselwirkung der Individuen⁸ kehrt auch wieder in den Reden über die Religion (1799). Die vierte Rede behandelt die Kirche als gesellige Vereinigung, als lebendige „Wechselwirkung“ derer, die Religion haben. Religion ist gemeinschaftliche Verständigung über das, „wobei der Mensch sich ursprünglich als leidend fühlt, Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus Jacobis Spinoza-Buch. – Vgl. Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin und New York 2006. Vgl. unten „Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel“. Vgl. unten „Geselligkeit und Gesellschaft“. Darin kommt zugleich Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) zum Ausdruck, wo im § 5 eine auf Dauer unlösbare, sich immer wieder erneuernde „Antinomie im Praktischen“ behauptet wird, die sich im Widerstreit von Bestimmtwerden und Bestimmen darstellt. Zum Konzept der Wechselwirkung bei Schleiermacher vgl. Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin und New York 2005.
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Anschauungen und Gefühle“ (KGA I/2, 267). Religion setzt voraus, dass die Menschen sich als freie zweckfrei zueinander verhalten und vergesellschaften; „um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben“, sie ist „Stoff für die Religion“ (KGA I/2, 228). Die Zusammenstimmung der Individuen mit der menschlichen Allgemeinheit bringt das Grundverhältnis des Individuellen und Allgemeinen schlechthin zum Ausdruck. „Symbol“ der „unendlichen und lebendigen Natur“, des Universums, ist „Mannichfaltigkeit und Individualität […]. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs.“ (KGA I/2, 213) Der Bezug auf den Spinozismus ist unverkennbar, wobei Schleiermacher jedoch die Religion nicht in dem spekulativen Gedanken einer sich verendlichenden Seinsmacht, sondern in der lebendigen Individualität verankern will. Das Individuelle ist Moment des Universums, der All-Einheit, aber so, dass diese Einheit nur in den Individuationen oder Modifikationen zugänglich wird. Religion entspringe „aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst“ und beherrsche „eine eigne Provinz im Gemüthe“ (KGA I/2, 204). Damit nimmt Schleiermacher die überkommene Unterscheidung von Religion (objektiv-allgemein) und Religiosität (subjektiv-individuell) zurück, „das Individuelle der Religion, wird nun zum Wesen der Religion überhaupt.“⁹ Unter diesen Voraussetzungen ist die Religion selbst „unendlich“ und muss sich „in Erscheinungen organisieren […], welche mehr voneinander verschieden sind.“ (KGA I/2, 295) Wenn es das Wesen der Religion ist, subjektiv das Universum anzuschauen und seiner im Gefühl innezuwerden, so ist Religion schon immer das individuelle Sich-Darstellen des Unendlichen, welches nur in unendlichen Modifikationen geschehen kann. Religion ist somit ihrem Wesen nach pluralistisch und nicht ausschließend. Die religiöse Anschauung der Religion verlangt, „den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur Eine geben möchte“, aufzugeben, die Vielheit der Religionen anzuerkennen und ihnen „so unbefangen als möglich“ zu begegnen (KGA I/2, 296). Um in den Religionen die Religion zu entdecken, muss die Religion selbst als geschichtliches „Individuum der Religion“ hervortreten, in welchem „irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr […] zum Centralpunkt der ganzen Religion gemacht und Alles darin auf sie bezogen wird.“ (KGA I/2, 303)
Ernst Müller: „Religion/Religiosität“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg.v. K. Barck, M. Fontius u. a., Bd. 5, Stuttgart und Weimar 2003, 246.
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Teil I: Grundzüge
Der Individualisierung der Religion korrespondiert in der Moral die Individualisierung der Menschheit im einzelnen Menschen, und gerade deshalb muss ja, wie zitiert, der Mensch die Menschheit gefunden haben, um zur Religion gelangen zu können. Im Mittelpunkt der im Anschluss an die Reden ebenfalls anonym publizierten Monologen (1800) steht die Konzeption der Menschheit als Gemeinschaft freier Geister, in der die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit beseitigt sein soll und in der sich die Individuen als freie wechselseitig anerkennen. Hierfür steht wieder, wie in den Reden, eine „innige und nothwendige […] Verbindung zwischen Thun und Schauen Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln zu.“ (KGA I/3, 16) Die „höchste Anschauung“, welche die Philosophie vermitteln kann, ist die der Menschheit: „So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.“ (KGA I/3, 18) Schleiermachers Ansatz beim endlichen Individuum bringt den Begriff des Lebens ins Spiel. Die Einheit von Philosophie und Leben vermisst Schleiermacher vor allem bei Fichte,¹⁰ und die Monologen sollen gerade diese Position deutlich machen, wie aus Schleiermachers Selbstanzeige hervorgeht: „Dieses Büchlein enthält die Aeußerungen eines Idealisten über die wichtigsten Verhältnisse des Menschen, und macht mit der eigenthümlichen Denkungsart bekannt, welche diese Philosophie, in dem Verfasser wenigstens, begründet hat“; dies ermögliche es, „Gegenstände mit denen Jeder zu thun hat, aus dem Gesichtspunkt des Verfassers zu betrachten, und die Lehre zu welcher er sich bekennt von einer andern als der gewöhnlichen Seite in ihrem Einfluß auf den Charakter und das Leben kennen zu lernen.“¹¹ In einem Begleitbrief zur Übersendung der Monologen an seinen Studienfreund C.G. von Brinckmann heißt es dazu fichtekritisch, er wolle sich im Rahmen des Idealismus „die wirkliche Welt […] warlich nicht nehmen laßen“ (4.1.1800; KGAV/3, 316). Im ‚Leben‘ sind für Schleiermacher der Idealismus der Freiheit und die ‚wirkliche Welt‘ des Realismus vereint, und diese „Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt „Fichte […] habe ich freilich kennen gelernt – er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt“ (an C.G. von Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f.). Berlinische Zeitung vom 28.12.1799; KGA V/3, XXXVIf.
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sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet“ (an F.H.C. Schwarz, 28. 3.1801; KGA V/5, 73 – 76). Die Individualisierung des Allgemeinen und das Zusammenbestehen von Allgemeinheit und Individualität sind die zentralen Themen des ethischen Denkens Schleiermachers. In seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) kritisiert er alle bisherigen Ethiken als unzureichend, da sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden, was nicht zuletzt dem Verfehlen einer systematischen Grundlegung geschuldet sei. Eine solche Grundlegung müsse in einer „obersten Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften“ erfolgen, die aber nicht, wie Schleiermacher im Blick auf Fichte kritisch vermerkt, „auf einem obersten Grundsatz beruhen“ dürfe, „sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.“ (KGA I/4, 48) Das Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit ist hier als das des Teils zum Ganzen so bestimmt, dass jedes Einzelne, also die endliche Individualität, den Ausgangspunkt bilden kann und das Ganze in der wechselseitigen Bestimmung der Einzelnen als deren Grund sichtbar wird. Diese Figur, die an Friedrich Schlegels Theorie des „Wechselerweises“ orientiert sein dürfte,¹² ist in modifizierter Gestalt auch noch in Schleiermachers Dialektik auffindbar. Sie bedeutet vor allem auch, dass im Ausgang von der Individualität die Identität und Allgemeinheit als der Grund der endlichen Individuen nicht gewusst werden kann. Das principium individuationis, das sich auf die endliche Individualität bezieht, bezeichnet somit zugleich eine Grenze des Wissbaren. In seinen späteren Entwürfen, die aus den seit 1804 gehaltenen Vorlesungen zur philosophischen Ethik hervorgegangen sind, hat Schleiermacher die Individualisierung des Allgemeinen und die Einbildung des Individuellen ins Allgemeine in ihrer gegenläufigen Bewegung als Wechselwirkung dargestellt. Die zwei grundlegenden Formen der Vernunfttätigkeit, das Organisieren als Bilden der Natur zum Organ der Vernunft einerseits und das Symbolisieren als Gebrauch des
Zuerst formuliert in der Rezension von F.H. Jacobis Woldemar, KFSA 2, 74; vgl. Guido Naschert: „Friedrich Schlegel über Wechselerweis und Ironie“, in: Athenaeum. Jahrbuch für Romantik 6 (1996), 47– 91 und 7 (1997), 11– 37.
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Organs zum Handeln der Vernunft andererseits, werden jeweils unter die gegensätzlichen Charaktere überwiegender Identität bzw. überwiegender Individualität gesetzt. Durch das Mitgesetztsein des entgegengesetzten Charakters sind die so unterschiedenen Funktionen durchgängig nur relativ entgegengesetzt. Das Überwiegen der Identität oder Gemeinschaftlichkeit bzw. Individualität oder Abgeschlossenheit bezeichnet den Raum, den sie in der Totalität der Vernunfttätigkeiten einnehmen: Das überwiegend identische Organisieren ergibt die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft (Talent, Arbeitsteilung, Tausch), das überwiegend individuelle Organisieren die Form des Privateigentums, der überwiegend identische Gebrauch des Organs das Gebiet des Wissens und damit der Wissenschaft, der überwiegend individuelle Gebrauch des Organs das Gebiet des Gefühls und damit der Kunst und Religion. In der Entsprechung zu diesen Grundformen werden, ausgehend von der Familie als kleinster sozialer Einheit, die Gemeinschaftssphären Staat, Akademie, freie Geselligkeit und Kirche dargestellt, die als Individualitäten gelten, die sich wie die gesellschaftlichen Individuen als frei zueinander verhalten müssen.¹³ An die Ethik schließen sich eine Reihe kritischer und technischer Disziplinen an, die dadurch unterschieden sind, dass sie vom Empirischen zum Spekulativen vermitteln (Kritik) bzw. vom Spekulativen aus technische Regeln zur Behandlung empirischer Sachverhalte geben. Unterhalb dieser Disziplinen steht die empirische Geschichtskunde. Neben der Ethik steht die – von Schleiermacher selbst nicht bearbeitete – Physik, d. h. Naturphilosophie, der die empirische Naturkunde untergeordnet ist. Zwischen Physik und Ethik vermitteln Logik und Anthropologie, wobei Schleiermacher von letzterer nur ein Bruchstück, die Psychologie bearbeitet hat, die wiederum zum Spekulativen – der obersten Wissenschaft – vermittelt.¹⁴ Diese oberste Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang alles Wissens ist die Dialektik, die Schleiermacher seit 1811 in Vorlesungen entwickelte.¹⁵ Sie ist eine philosophische „Kunstlehre“, die das Verfahren des werdenden Wissens thematisiert. Ihr Ausgangspunkt ist das streitige Denken, das zur Einheit des Wissens gebracht werden soll. Hierzu sind Regeln zur Behandlung des Streits
Zur Gliederung der Ethik vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, Berlin 1964, 30 ff. Ihre Stellung im System ist umstritten; sie wird sowohl als Basiswissenschaft anstelle der Dialektik (Eilert Herms: „Die Bedeutung der ‚Psychologie‘ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verbindung mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 369 – 401) als auch als Gegenpol zur Dialektik interpretiert; vgl. unten „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“. Vgl. die Historische Einführung in KGA II/10.
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anzugeben, die nach Auffassung Schleiermachers in transzendentalen Voraussetzungen gründen, ohne die auch ein fragmentarisches Wissen sich gar nicht begründen ließe, sondern die Skepsis die Oberhand behielte. Transzendentaler Grund und terminus a quo alles Wissens ist die – selbst nicht in das Wissen fallende und insofern transzendente bzw. transzendentale¹⁶ – Idee Gottes oder der absoluten Einheit, terminus ad quem die gleichfalls transzendentale Idee der Welt als einer Einheit von Gegensätzen. Diese grundsätzliche Unentschiedenheit im Prinzip wie auch die Unabschließbarkeit des Wissens überhaupt führen dazu, dass der systematische Zusammenhang der besonderen Wissenschaften aus der Dialektik sich nicht einfach deduzieren lässt, sondern ein eigenes Problem darstellt, das von den einzelnen Wissenschaften her beleuchtet werden muss. Schleiermachers eigenwillige Konstruktion eines Zusammenhangs der philosophischen Disziplinen gibt das bis in die Gegenwartsphilosophie virulente Problem auf, wie ein systematisch gerichteter Zusammenhang zu denken sei, der nicht von einem Zentrum aus organisiert ist. Auch dies ist eine Konsequenz der Individualisierung des Allgemeinen, die Schleiermachers Denken beherrscht. (3) Das „Ausgehn von der Individualität“, das Allgemeinheit und Identität in sich schließt, meint, so lässt sich nach diesem kursorischen Durchgang durch Schleiermachers philosophisches Denken präzisieren, Ausgehen vom endlichen, individuellen Sein, vom „Leben“, das Schleiermacher immer wieder gegen die nach seiner Ansicht verselbständigten Abstraktionen der Transzendentalphilosophie und vor allem der Philosophie Fichtes ins Spiel bringt. „Ausgehn von der Individualität“ heißt daher zunächst negativ: nicht Ausgehen von Grundsätzen oder Prinzipien (wie z. B. Reinhold und Fichte) oder vom Absoluten (wie Schelling). Positiv heißt das Ausgehen von der Individualität: Ausgehen vom Endlichen, denn alles Endliche ist für Schleiermacher letztlich Verendlichung, Individuation des Absoluten, das uns darum vom Endlichen aus zugänglich wird. In dem eingangs zitierten Brief an Karl Gustav von Brinckmann, dem der Titel meiner Ausführungen entlehnt wurde, bezieht Schleiermacher sich auf philosophische Fragmente seines ehemaligen Studienfreundes, die dieser bei einem Besuch Friedrich Heinrich Jacobi vorgelegt und Schleiermacher brieflich mitgeteilt hatte. Da wir, so hatte Brinckmann u. a. geschrieben, das Unendliche oder Absolute nicht hervorbringen können, können wir es auch nicht begreifen, sondern nur anschauen.¹⁷ Jacobi wandte ein, Brinckmann umgehe die eigentliche philo Schleiermacher unterscheidet beides ausdrücklich nicht. „Je strenger die Filosofie, als Wissenschaft, alles spaltet und trennt, desto reger wird das Bedürfnis des gesammten Menschen durch sie, als schöne, freie Kunst, wieder alles zu einigen und zu verbinden. Nur diese höhere Poesie des Daseins, des wahrgenommenen, nicht konst-
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sophische Schwierigkeit durch Poesie. An diesem Punkt setzt Schleiermacher an: „Will denn Jakobi ohne Poesie durchkommen? und ist es also auch unbewußt daß er sich immer in poetischen Formen hält, wo der Inhalt seiner Philosophie nicht poetisirt? […] Was denkt er sich aber mit seinem Glauben wenn er nicht Poesie ist? Soll er ein Surrogat des Wissens sein, aber doch dem Wissen gleichartig, so gestehe ich daß ich kein schlechteres Behelf kenne. Und wie versteht er es denn daß der große Punkt in der Philosophie das Principium individuationis ist?“ (KGA V/7, 157) Und weiter heißt es in Schleiermachers Brief: „Wenn nun aber die strenge Philosophie der Gegensaz ist zur Poesie, wie soll man das unstreitig Höhere nennen, was Beide verbindet? Im Göttlichen ist es eben die Weisheit, die, wie Platon sagt, nicht mehr philosophirt, sondern bei der Gedanke und Bildung Eins ist; bei uns ist es eben, was Du die Einheit des Lebens nennst, die lebendige Persönlichkeit, die auch nachbildend jenen Gegensaz in sich zu überwinden sucht, wenn dies gleich nie völlig zu Stande kommt.“ (KGA V/7, 158) Das Ausgehen von der Individualität bedeutet also, so lässt sich weiterhin präzisieren, das Ausgehen vom Getrennten, das auf seinen identischen Grund hin verstanden werden muss. Identität ist Grund und Aufgabe zugleich, aber als absoluter Grund, als reine Identität, für unser Wissen nicht erreichbar. Damit ist eine Grenze des Wissbaren und insofern der Philosophie bezeichnet: „Ich denke, es wird nun einmal über die Grenze der Philosophie gesprochen werden müssen, und wenn die Natur außerhalb derselben gesezt wird, so wird auch Raum gewonnen werden auf der andern Seite jenseits der Philosophie für die Mystik.“ (An E. v. Willich, 25.6.1801; KGAV/5, 159) Schleiermachers Dialektik setzt hier an; sie beruht darauf, dass der philosophischen Rationalität Grenzen derart gesetzt werden, dass der Grund des Wissens nicht gewusst werden kann. Die Idee Gottes bezeichnet als der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns das Unbedingte, von dem alles Bedingte abhängt und seinen Ausgang nimmt. Sie ist Idee der Gewissheit im Wissen und des Gewissens im Handeln,¹⁸ die wir im Gefühl als der „relativen Identität des Denkens und Wollens“ „haben“ (KGA II/10,1, 142, § 215) und „das charakteristische Element des menschlichen Bewußtseins überhaupt“, welches in jedem seiner Akte auf gleiche Weise – nämlich unmittelbar – präsent ist (KGA II/ 10,1, 148, § 221). Korrelat der Gottesidee als der Idee des Unbedingten ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles „unter der Form des
ruirten Lebens, versöhnt den natürlichen Realismus der Empfindung mit dem künstlichen Idealismus der Vernunft. Auch wo das Wissen unsers Geistes wie Stückwerk erscheint, ist seine Dichtung ein in sich vollendetes Ganzes. Das Unendliche können wir nicht hervorbringen, also nicht begreifen; aber anschauen durch den innern Sinn. Je reiner und fleckenloser dieser Spiegel, desto treuer und lebendiger stralet er jenes Bild zurück.“ (29.11.1803; KGA V/7, 133) Vgl. KGA II/10, 1, 141 (§ 214) und 143 (§ 216, 1).
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Gegensazes“ steht (KGA II/10,1, 49).¹⁹ Als Totalität des Endlichen bestimmt sie, Schleiermacher zufolge, „auch die Grenze unseres Wissens. Wir sind an die Erde gebunden. Alle Operationen des Denkens, auch das ganze System der Begriffsbildung muß darin gegründet sein.“ (KGA II/10, 1, 48)²⁰ Schon aufgrund der Endlichkeit unseres Erfahrungsbereichs aber liegt die „Idee (der problematische Gedanke) der Welt d. h. der Totalität des Seins als Vielheit gesezt, […] ebenfalls außerhalb unseres realen Wissens.“ (KGA II/10, 1, 147, § 218) Daher ist die Idee der Welt auch „transcendental auf eigne Weise“ (ebd., 148, §221); sie markiert die Grenze einer Totalität des Wissens, die nie erreicht wird, die aber dem Wissenwollen zugrunde liegt und vom werdenden Wissen angestrebt wird. Sie ist somit der „transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“ (Ebd., 149, § 222) Im zweiten, technischen Teil der Dialektik wird dann gezeigt, wie unter der Voraussetzung des Bewusstseins dieses Grundes der Prozess des werdenden Wissens zu konstruieren sei. Identität und Allgemeinheit sind hier untrennbar mit der Individualität verbunden, aber so, dass die Individualität nun als ein „irrationales“ Moment auftritt. Im Vollzug des Wissens muss daher die Irrationalität ständig ausgeglichen werden durch ein kritisches Verfahren, welches auf die Einheit der Vernunft orientiert. Am Ende des Abschnitts über die Begriffsbildung im zweiten, technischen bzw. formalen Teil der Dialektik heißt es: „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.“ (KGA II/10, 1, 190, § 74) Ob dieser Ausgleich jemals vollständig gelingen kann, steht dahin. Er wird notwendig, weil auch die Dialektik nicht vom Absoluten selbst, der Idee der Gottheit, ausgehen kann, sondern nur von dem Ort, an dem der transzendentale Grund ins Bewusstsein tritt. Dies ist nach Schleiermacher das Gefühl, das er in der Dialektik-Vorlesung 1822 auch als „unmittelbares Selbstbewußtsein“ anspricht (KGA II/10, 1, 266). Es entspricht strukturell dem, was bereits in den Reden über die Religion (1799) als Anschauen des Universums fungierte. Das „Ausgehn vom In-
Aufzeichnungen zum Kolleg 1811. – Zu den Wandlungen in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt vgl. Heinz Kimmerle: „Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophisch-theologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 39 – 59. Kolleg 1811. – Vgl. zur Problematik der Denkgrenze in Schleiermachers Dialektik Peter Weiß: „Einige Gesichtspunkte zur Problematik der Denkgrenze in den verschiedenen Entwürfen der Dialektik Schleiermachers“, in: Schleiermacher in Context, hg.v. R.D. Richardson, Lewiston u. a. 1991, 203 – 226.
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dividuellen“ erfährt hier seine systematische Grundlegung im Rahmen einer Theorie der Subjektivität, die aber keine bloße Bewusstseinsphilosophie darstellt, sondern das endliche Individuum als Ganzes im Blick hat.
2 Dialektik und Transzendentalphilosophie. Schleiermacher und die Klassische Deutsche Philosophie (1) Schleiermachers Stellung zur Philosophie seiner Zeit ist noch immer nicht wirklich geklärt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Schleiermacher als eigenständiger Philosoph in seiner Epoche immer noch nicht und zunehmend wohl eher weniger wahrgenommen wird. Wer über den sogenannten „deutschen Idealismus“ spricht, kann dies sehr gut, ohne Schleiermacher überhaupt zu erwähnen. Vor allem zwei Gründe dürften dafür verantwortlich sein, dass Schleiermacher im Schatten von Kant, Fichte, Schelling und Hegel stand und weiterhin steht. Zunächst: Schleiermacher wurde bereits zu Lebzeiten und lange danach von Vielen als Glaubens- und Religionsphilosoph wahrgenommen, der – wie es Heinrich Ritter in seiner Rezension der Dialektik-Ausgabe Ludwig Jonas’ formulierte – „der Theologie einen philosophischen Grund zu gewinnen“ versuchte.¹ Mit der nachhegelschen Religionskritik, welche in der Folge die Philosophie weitgehend auf einen „methodischen Atheismus“ verpflichtete, schien Schleiermachers Anliegen unzeitgemäß geworden zu sein. Dass Schleiermacher so verstanden werden konnte, hängt zweitens damit zusammen, dass er zu Lebzeiten nur mit seiner frühromantischen Religionstheorie und später als theologischer Dogmatiker literarisch präsent war, nicht jedoch mit der Grundlegung seiner Philosophie, die er ausschließlich in seinen Berliner Vorlesungen über die Dialektik vortrug. Die postume und relativ späte Publikation dieser Vorlesungen 1839 war zudem bemüht, genau den Eindruck zu erwecken, den Ritter in seiner Rezension formulierte. Mittlerweile ist nicht nur 2002 die kritische Edition der Dialektik erschienen, die Grundlage einer Neubewertung von Schleiermachers philosophischen Intentionen und Leistungen sein kann; es sind auch gewichtige Interpretationen vorgelegt worden wie z. B. die von Ulrich Barth², Manfred Frank³, Johannes Michael Dittmer⁴, Peter Grove⁵ und Sarah Schmidt⁶. Bezeichnend ist, dass es sich nur
Göttingische gelehrte Anzeigen 1840, 1256. Christentum und Selbstbewußtsein, Göttingen 1983. „Einleitung des Herausgebers“, in: Friedrich Schleiermacher: Dialektik, Bd. 1, Frankfurt/Main 2001, 10 – 136. Schleiermachers Wissenschaftslehre als Entwurf einer prozessualen Metaphysik in semiotischer Perspektive. Triadizität im Werden, Berlin und New York 2001. Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004.
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bei den Deutungen von Frank und Schmidt um Arbeiten von Philosophen handelt, während die anderen einen theologischen bzw. religionsphilosophischen Fokus haben. Besonders zu erwähnen ist der von Christine Helmer, Christiane Kranich und Birgit Rehme-Iffert herausgegebene Sammelband Schleiermachers ‚Dialektik‘,⁷ der nicht nur philosophische und theologische Perspektiven vereinigt, sondern auch für die internationale Forschung repräsentativ ist. Erschienen aber ist dieser Band wiederum in einer der Religionsproblematik gewidmeten Reihe. In der Philosophie ist Schleiermacher noch immer nicht als eigenständiger und gleichberechtigter Denker in der Periode der Klassischen Deutschen Philosophie angekommen. (2) Meine einleitenden Bemerkungen werfen die Frage auf, in welchem Verhältnis Schleiermachers Philosophie zur Theologie steht. Diese Frage ist in der Vergangenheit viel diskutiert und nach meiner Auffassung grundsätzlich bereits geklärt worden. Je nach Standpunkt hatte die theologische bzw. religionsphilosophische Deutung von Schleiermachers Philosophie unterschiedliche Reaktionen provoziert. 1910 wurde Schleiermacher, von Troeltsch und anderen, als „Philosoph des Glaubens“ vorgestellt,⁸ während Karl Barth und Emil Brunner in seiner Theologie eher Philosophie statt Glauben entdecken wollten.⁹ Schleiermacher hätte beide Deutungen abgelehnt. In einem Brief an den Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. März 1818 hat er deutlich Position bezogen. Er sei, so schreibt er, „mit dem Verstande ein Philosoph, denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Thätigkeit des Verstandes und mit dem Gefühl bin ich […] ein Christ“, denn die Religiosität sei Sache des Gefühls, welches der Verstand gleichsam übersetzt („verdolmetscht“).¹⁰ Daraus ergibt sich einerseits, dass die religiösen Gehalte eine philosophische Form annehmen müssen, die ihnen jedoch äußerlich bleibt; zum anderen ergibt sich daraus, dass Philosophie und Religion bzw. Theologie sich nach Schleiermachers Auffassung nicht widersprechen: „Meine
Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin und New York 2005. Tübingen 2003 Berlin-Schöneberg 1910. Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 31960, 379 – 424; Emil Brunner: Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924. Schleiermacher an Jacobi, 30. März 1818, hg.v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1994, 395.
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Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen“.¹¹ Dieser Entschluss hängt aber offenbar davon ab, dass Schleiermacher die Religion – wie er es schon 1799 in den Reden über die Religion formuliert – als eine eigenständige „Provinz“ im menschlichen „Gemüt“ ansieht, also als einen Bereich, der sich dem philosophischen Begreifen im strikten Sinne entzieht und der von der Philosophie nur „verdolmetscht“, aber nicht originär bearbeitet werden kann. Aufgrund dieser der Philosophie entzogenen Sonderstellung der Religion kann es für Schleiermacher auch keinen „wahren Atheismus“ geben, wie es in seiner Dialektik heißt (KGA II/10, 1, 38). Wenn die Philosophie aber diese ihr von Schleiermacher gezogene Grenze als dogmatische Setzung verwerfen sollte, dann wäre die Zusammenstimmung von Philosophie und Religion bzw. Theologie nicht mehr gewiss. Schleiermacher selbst konnte dies nicht ausschließen, denn – wie er in dem Zweiten Sendschreiben an Lücke (1829) betont – die Philosophie ist nicht mehr ancilla theologiae, d. h. Theologie und Philosophie sind voneinander „frei geworden“ (KGA I/10, 390). Das bedeutet vor allem, dass die Philosophie autonom in dem Sinne ist, dass sie ihre Verfahrensweisen selbst entwickelt und begründet und ihre Resultate selbst zu verantworten hat. Schleiermacher führt dies auch durch. So schreibt er in seiner Ausarbeitung zur Dialektik-Vorlesung 1814/15 im Zusammenhang mit dem religiösen Gefühl als Innewerden des transzendentalen Grundes: „Wenn nun das Gefühl von Gott das religiöse ist: so scheint deshalb die Religion über der Philosophie zu stehen […]. es ist aber nicht so. Wir sind hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege.“ (KGA II/10, 1, 143) Das bedeutet, dass die Grenze des philosophischen Begreifens in der Philosophie und durch die Philosophie selbst gezogen werden muss und nicht durch einen Rekurs auf religiöse Überzeugungen gezogen werden kann. Die Zusammenstimmung von Philosophie und Religion bzw. Theologie, ihr Nicht-Widerspruch, kann daher nur Resultat einer eigenständigen philosophischen Gedankenentwicklung sein. In seiner philosophischen Argumentation ist Schleiermacher Philosoph, und sonst nichts. Präzise formuliert ist dies in einer Nachschrift zur Dialektik-Vorlesung 1818/19: „Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung“ (KGA II/10, 2, 242). Im Zusammenhang mit dieser Problematik ist mir von Michael Moxter eine „Marginalisierung der Theologie“ vorgeworfen worden, die darauf hinauslaufe, zu
Ebd., 396.
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trennen, „was Schleiermacher nur unterscheiden wollte.“¹² Unstrittig sieht Schleiermacher keinen Gegensatz von Theologie und Philosophie. Moxter lässt aber außer Acht, dass die Philosophie nach Schleiermachers Überzeugung solche Übereinstimmung nur aus sich selbst heraus und allein mit philosophischen Mitteln begründen kann. Aus meiner Sicht ist diese Einsicht Voraussetzung dafür, Schleiermacher als eigenständigen Philosophen überhaupt in den Blick zu bekommen und die Philosophen zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit ihm zu nötigen. (3) In welchem Verhältnis steht Schleiermacher nun zur Philosophie seiner Zeitgenossen? Michael Theunissen hat die These vertreten, Schleiermachers philosophische Bedeutung bestehe darin, dass er „mitten im Idealismus nachidealistisches Denken auf den Weg gebracht“ habe.¹³ Tatsächlich hat gerade Schleiermachers Dialektik auf die nachhegelsche Philosophie insgesamt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts¹⁴ und besonders auf die die Hegel-Kritik etwa bei Trendelenburg und auch bei Feuerbach¹⁵ einen nicht zu unterschätzenden Einfluss gehabt. Ob diese Wirkung jedoch mit dem Schema Idealismus-Nachidealismus zureichend erfasst werden kann, muss bezweifelt werden.Wer,wie Manfred Frank, „Auswege aus dem Deutschen Idealismus“ sucht,¹⁶ muss zunächst erklären, was dieser Idealismus sei. Walter Jaschke hat gezeigt, dass der Begriff „Deutscher Idealismus“ nicht nur ein spätes (neukantianisches) Produkt ist, sondern auch das Etikett ‚Idealismus‘ das Selbstverständnis der darunter subsumierten Philosophen nicht trifft.¹⁷ Bereits Kant, der sich ja selbst als „transzendentalen“ oder „kritischen“ Idealisten bezeichnete, hatte dennoch nicht nur eine „Kritik des Idealismus“ zum Thema der Kritik der reinen Vernunft gemacht, er bezeichnete den kritischen Idealismus zugleich auch als „empirischen Realis-
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.10.1996. Michael Theunissen: „Zehn Thesen über Schleiermacher heute“, in: Schleiermacher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, ed. S. Sorrentino, Lewiston u. a. 1992, IV. Vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/Main 1993. Vgl. Andreas Arndt: „Einleitung“, in: Schleiermacher: Dialektik (1811), Hamburg 1986, XXXVIff. Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/Main 2007 Walter Jaeschke: „Zur Genealogie des Deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht“, in: Materialismus und Spiritualismus, hg.v. A. Arndt und W. Jaeschke, Hamburg 2000, 219 – 234. – Vgl. jetzt insgesamt Walter Jaeschke und Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik, München 2012.
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mus“.¹⁸ Auch Fichte, der einen praktischen Idealismus des Sollens vertritt, will im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre einen „Mittelweg zwischen Idealismus und Realismus“ aufzeigen.¹⁹ Hinter dem „kritischen“ bzw. „praktischen“ Idealismus steht daher – wie auch später hinter dem transzendentalen Idealismus Schellings – das Programm einer Überwindung der Alternative von Idealismus und Realismus, und dies ist nach meiner Auffassung das leitende Programm für die ganze nachkantische Epoche, die ich daher auch Klassische Deutsche Philosophie und nicht Deutscher Idealismus nennen möchte. In der Auseinandersetzung mit Kant und besonders auch Fichte wird dann vor allem das Unzureichende der Vereinigung von Idealismus und Realismus betont. Schellings Frage nach der „Subjektobjektivität“ jenseits der für die Alternative von Idealismus und Realismus konstitutiven Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie auch Hegels Wendung gegen den „subjektiven Idealismus“ Kants und Fichtes, wobei Hegel in seiner Wissenschaft der Logik schließlich erklärt, der „Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie“ sei „ohne Bedeutung“.²⁰ Auch Schleiermacher reiht sich programmatisch in diese Bewegung ein: „Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief, und es wird nicht leicht sein, beiden Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden, und meine Sachen hat man wohl anderwärts noch gar nicht darauf angesehen.“ (An F.H.C. Schwarz, 28. 3.1801, KGA V/5, 73) Bei Kant steht der empirische Realismus in einer Spannung zum kritischen bzw. transzendentalen Idealismus. Es handelt sich um einen uneingestandenen Dualismus, den Kant auf der Begründungsebene der Transzendentalphilosophie unbedingt vermeiden will. Hier macht er das reine Selbstbewusstsein zum „höchsten Punkt“ der theoretischen Philosophie,²¹ jedoch kann die Vergewisserung dieses Selbstbewusstseins wiederum nur auf empirischem Wege erfolgen. Der Satz „Ich denke“, so schreibt Kant, drücke eine „unbestimmte empirische Anschauung, d.i. Wahrnehmung“ aus.²² Daran, dass zwischen dem Begründungsproblem des transzendentalen Idealismus bei Kant in seiner Theorie des Selbstbewusstseins und dem Problem
KrV B 274 ff.; KrV A 371. Vgl. Andreas Arndt: „Ontologischer Monismus und Dualismus“, in: Materialismus und Spiritualismus, hg.v. A. Arndt und W. Jaeschke, Hamburg 2000, 1– 34. Johann Gottlieb Fichte: Werke, hg.v. I.H. Fichte, Bd. 1, 173. GW 21, 142 (Seinslogik 1832). KrV B 134. KrV B 422.
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empirischer Realitätsgewissheit ein Zusammenhang besteht, ist hier aus zwei Gründen besonders zu erinnern. Erstens hat man, vor allem unter dem Einfluss von Dieter Henrichs Forschungen zur Genese des sogenannten „deutschen Idealismus“,²³ diesen Zusammenhang zugunsten einer einseitigen Betonung der Subjektivitätstheorie und der Selbstbewusstseinsproblematik weitgehend ausgeblendet. Die Diskussionen im Anschluss an Kant werden jedoch schlicht unverständlich, wenn sie subjektivitätstheoretisch auf das Problem des Selbstbewusstseins reduziert werden.²⁴ Zweitens hat die erkenntnistheoretische Wende in der nachklassischen Philosophie und besonders im Neukantianismus das Problem schließlich dadurch verstellt, dass die Kantische Philosophie weitgehend ihres metaphysischen Programms und der damit zusammenhängenden Probleme, z. B. der Ontologie und des Realismus, entledigt wurde. Zugespitzt formuliert: Dass die von Kant auf den Weg gebrachte Transzendentalphilosophie nach Kant mit einem Spinozismus kombiniert und somit ein Einheitspunkt jenseits des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität (und das heißt auch: jenseits des Gegensatzes von Selbst- und Weltbewusstsein) ins Auge gefasst wurde, ist Konsequenz der Kantischen Problemstellung selbst und nicht Rückfall in vorkritisches Denken. Mit einigem Recht hat daher Frederick C. Beiser die Frühgeschichte des „German Idealism“ als „struggle against subjectivism“ beschrieben.²⁵ Auch in dieser Hinsicht steht Schleiermacher inmitten der Bewegung der nachkantischen Philosophie, ja, er muss sogar als einer ihrer Protagonisten angesehen werden. Bereits in seinen frühen Studien zu Jacobis Spinoza-Buch versucht er, völlig eigenständig und unabhängig von Diskussionen in Jena, eine Kombination von Kant und Spinoza, mit der er auf der Höhe der philosophischen Debatten seiner Zeit steht. Diese Position zieht sich bei Schleiermacher bis in die Dialektik hinein durch,wenn er Spinozas Parallelismus der Verknüpfung der Ideen und der Verknüpfung der Dinge als „Parallelismus des Seins und Denkens“ zitiert, der seinen Grund in einem „absolut höchste[n] Sein“ (KGA II/10, 1, 5) habe: „Ideales und Reales laufen parallel neben einander fort als modi des Seins.“ (KGA II/10, 1, 100) Tatsächlich ist Schleiermacher wie Spinoza davon überzeugt, dass nur durch den Rückgang auf einen gemeinsamen Grund (des höchsten Gegensatzes: des Idealen und Realen bzw. des Denkens und Seins) das Wissen als Übereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten gesichert werden kann. Da
Vgl. Dieter Henrich: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982; ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789 – 1795), Stuttgart 1991. Vgl. Walter Jaeschke: Art. „Selbstbewußtsein. II. Neuzeit“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 352– 371. Frederick C. Beiser: German Idealism, Cambridge, Ma, 2002.
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Wissen aber immer einen Gegensatz des Denkens und des Gedachten voraussetzt, kann dieser Grund nicht gewusst werden. Schleiermacher unterscheidet daher zwischen einem (möglichen) Wissen der Dinge (innerhalb der Entgegensetzung des Idealen und Realen) und einem (unmöglichen) Wissen des Grundes selbst.²⁶ Die Frage ist dann, wie wir von diesem Grund dennoch ein Bewusstsein, wenn auch kein objektiv gültiges Wissen haben können, oder in welcher Weise wir den transzendentalen Grund – wie Schleiermacher ihn zumeist nennt – in uns haben. Dies ist eines der am heftigsten diskutierten Probleme von Schleiermachers Philosophie. Schleiermachers Antwort ist, vereinfacht gesagt, die, dass die unmittelbare Einheit des Idealen und Realen im transzendentalen Grund – unmittelbar, weil sie ohne Entgegensetzung und daher ohne Relate gedacht wird – ein Analogon in uns haben muss. Dies Analogon ist nach Schleiermacher das Gefühl, das er in der Dialektik-Vorlesung 1822 auch als „unmittelbares Selbstbewußtsein“ (KGA II/10, 1, 266) anspricht. Es entspricht nach meiner Auffassung strukturell dem, was bereits in den Reden über die Religion (1799) als Anschauen des Universums fungierte. Bei näherer Betrachtung freilich handelt es sich bei dem Gefühl um mehr als nur ein Selbstbewusstsein. Das Gefühl nämlich steht für die Indifferenz des Denkens und Wollens bzw. des Wissens und Handelns. Im Denken ist, Schleiermacher zufolge, das Sein der Dinge in uns gesetzt, im Wollen setzen wir unser Sein in die Dinge, d. h.: wir wollen im Handeln einen von uns gesetzten Zweck verwirklichen. Das Selbstbewusstsein ist daher zugleich Weltbewusstsein, in Schleiermachers Worten: Das Bewusstsein Gottes als des transzendentalen Grundes ist „als Bestandtheil unseres Selbstbewußtseins sowol als unseres äußeren Bewußtseins“ gegeben (KGA II/10, 1, 143). Man könnte auch sagen, dass im Gefühl empirischer Realismus (im Sinne Kants) und praktischer Idealismus (im Sinne Fichtes) vereinigt sind, denn das „Gesetztsein“ der Dinge in uns ist Realismus, während das Setzen unseres Seins in die Dinge Idealismus ist. In jedem Falle greift, so meine ich, eine bloß subjektivitätstheoretische und auf das Problem des Selbstbewusstseins allein fokussierte Interpretation der Präsenz des transzendentalen Grundes in uns zu kurz, denn worum es dabei geht, ist die relative Einheit des Subjektiven und Objektiven bzw. des Idealen und Realen in einer Einheit des Selbst- und Weltbewusstseins. Kontrovers ist, ob die unmittelbare Einheit, für die der Ausdruck „Gefühl“ steht, als in sich unterschieden und damit intern strukturiert angesehen werden kann, wie dies Peter Grove in Übereinstimmung mit Ulrich Barth betont.²⁷ Unstrittig dürfte sein, dass die Unmittel Vgl. Andreas Arndt: „Die Metaphysik der Dialektik“, in: Schleiermachers ‚Dialektik‘, hg.v. Ch. Helmer u. a., Tübingen 2003, 139 f. Dies ist die Position von Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 519.
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barkeit – sei es die des transzendentalen Grundes selbst oder die seines Analogons in uns – vermittelnde Funktionen hat. Strittig ist, ob dies theoretisch befriedigen kann, oder ob die Unmittelbarkeit bei Schleiermacher nicht bloß als black box der Vermittlung funktioniert. Zu der Annahme eines begrifflich nicht erkennbaren Absoluten tritt bei Schleiermacher die Auffassung, dass sich das Wissen permanent im Werden befinde und für uns nicht abschließbar sei. Damit steht Schleiermacher dem Kantischen und an Kant anschließenden Systemdenken kritisch gegenüber. Für Kant ist das System dem Denken nicht mehr objektiv vorgegeben – wie z. B. ein System der Natur – sondern das Denken selbst, die Vernunft bildet ein System, das uns auch die erscheinenden Wirklichkeit systematisch ansehen lässt. Kurz gesagt: „Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems.“²⁸ Hierauf beruht gerade auch Hegels Programm eines Abschlusses des Denkens in sich selbst. Schleiermacher geht zwar mit Spinoza und Hegel davon aus, dass Denken und Sein sich entsprechen, jedoch wäre für ihn ein systematischer Abschluss erst dann zu gewinnen, wenn auch das Sein in seiner inneren systematischen Struktur vollständig erfasst wäre, und nicht nur in den Kategorien, unter denen wir es denkend thematisieren.Wie Friedrich Schlegel (und der späte Schelling) kehrt Schleiermacher damit zu der vorkantischen Auffassung des Systems als etwas gleichsam objektiv Existierendem zurück. Überhaupt muss Schleiermachers Konzeption von Dialektik in wesentlichen Punkten als Ausarbeitung und Fortsetzung einer frühromantischen Konzeption angesehen werden, die ursprünglich auf Friedrich Schlegel zurückgeht. Ich habe dies in mehreren Arbeiten nachzuweisen versucht und Peter Grove, Sarah Schmidt und andere sind mir hierin gefolgt.²⁹ In jedem Falle ist festzuhalten, dass Schleiermacher nicht Antipode einer in einem absoluten Idealismus kulminierenden Entwicklung ist, sondern auf dem Kampfplatz der nachkantischen Philosophie Positionen behauptet, die ihn mit den Frühromantikern und anderen verbinden und die er auch in die nachhegelschen Debatten hinüberzubringen vermag. Er bewegt sich dabei jedoch grundsätzlich im Spektrum der Positionen, welche die nachkantische Philosophie zur Lösung der Kantischen Problematiken herausgebildet hatte. Schleiermachers Philosophie ist integraler Bestandteil der Klassischen Deutschen Philosophie.
KrV B 708. Andreas Arndt: „Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796 – 1801“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), 257– 273; Andreas Arndt und Jure Zovko: „Einleitung“, in: Friedrich Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie 1795 – 1805, hg.v. A. Arndt und J. Zovko, Hamburg 2007.
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(4) Zum Abschluss meiner notwendig unvollständigen Bemerkungen möchte ich noch kurz auf das Verhältnis der Schleiermacherschen zur Hegelschen Philosophie eingehen, wobei ich hier vor allem die Gemeinsamkeiten betonen möchte.³⁰ Nicht anders als Hegel in der Wissenschaft der Logik verfolgt Friedrich Schleiermacher in seiner Dialektik das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik (vgl. KGA II/10, 1, 77). Nicht der Verzicht auf eine Philosophie des Absoluten unterscheidet Schleiermacher von Hegel, wie oft behauptet wird, sondern die Auffassung, dass es kein begrifflich vollziehbares Wissen des Absoluten gebe. Ohne metaphysisches Fundament gibt es für Schleiermacher jedoch kein Wissen. Die Logik, so heißt es, könne nur „auf Metaphysik beruhen. Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen.“ (KGA II/10, 2, 110) Metaphysik erscheint hier als Wissen vom Sein und insofern ist sie für Schleiermacher auch Wissenschaft. Der Sache nach greift Schleiermacher hier auf Kants Programm einer transzendentalen Logik in der Kritik der reinen Vernunft zurück, die ja in der Analytik die vormalige metaphysica generalis (Ontologie) thematisiert, in der Dialektik die vormalige metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie). Im Unterschied zu Kant hält Schleiermacher jedoch in Bezug auf die Erfahrung an einem ontologischen Realismus fest, der von der These einer durchgängigen Entsprechung von Denken und Sein ausgeht. Mit Kant jedoch bestreitet Schleiermacher die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkenntnis der Vernunftgegenstände, auch wenn er diesen – ungeachtet ihrer Nicht-Wissbarkeit – eine konstitutive und keineswegs nur regulative Funktion für das Wissen zuschreibt. Auch der Aufbau des transzendentalen Teils der Dialektik lehnt sich offenkundig an Kant an: parallel zur Kantischen Analytik wird zunächst in der Theorie des Begriffs und des Urteils, welche sich auf das wissbare Sein bezieht, die Ontologie thematisiert, sodann kommen mit der Präsenz des transzendentalen Grundes im (unmittelbaren) Selbstbewusstsein und mit den Ideen der Welt und Gottes die traditionellen Vernunftgegenstände ins Spiel. Hierbei erfolgt eine tiefgreifende Revision, sofern Schleiermacher der rationalen Psychologie – der Theorie des Selbstbewusstseins – als Innewerden des transzendentalen Grundes einen systematischen Primat zuspricht. Diese rationale Psychologie subsumiert auch die Ontologie, „weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.“ (KGA II/10, 1, 152 f.) Gegenstand der rationalen Psychologie ist „die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als con-
Vgl. unten „Schleiermacher und Hegel“.
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stitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.“ (Ebd.) Auch Kosmologie und Theologie werden somit der rationalen Psychologie zugeordnet. Kurz gesagt: Schleiermachers Dialektik folgt dem Programm der transzendentalen Logik in Kants Kritik der reinen Vernunft. Das heißt auch: sie ist – ebenso wenig wie Hegels Wissenschaft der Logik – kein Rückfall in eine vorkritische Metaphysik. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich einen weiteren Grundzug der Dialektik vergegenwärtigt: Sie ist Theorie des werdenden Wissens, und zwar als Kunstlehre, ein Wissen zustande zu bringen. Sie ist daher wesentlich Verfahrensweise oder Methode und nicht ein Ensemble von Sätzen über das, was auf den Feldern der Metaphysik der Fall ist. Dass solche Sätze strittig sind und es hier keinen sicheren Grund gibt, auf dem sich philosophisch etwas aufbauen ließe, sondern nur das Trümmerfeld aller bisherigen Metaphysik, ist vielmehr der Einsatzpunkt der Dialektik, die außer dem Wissenwollen nichts voraussetzen kann. Auch hierin trifft Schleiermacher sich mit Hegel, denn ein solches Wollen bildet ebenso die einzige Voraussetzung der Wissenschaft der Logik: „Nur der Entschluß, den man auch für Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.“³¹ Und auch für Hegel fasst sich die Logik letztlich in der absoluten Idee als absoluter Methode zusammen. Sie ist dies als Einheit der Idee des Wahren und der Idee des Guten, also des Theoretischen und des Praktischen. Das Moment des Praktischen schließt ihre Selbstoperationalisierung in Bezug auf die reale Erkenntnispraxis und das Handeln in der Welt, also die Arbeit des Geistes im weitesten Sinne, ein. Ebenso finden wir im zweiten, technischen Teil von Schleiermachers Dialektik eine Operationalisierung der transzendentalen Voraussetzungen des Wissens hinsichtlich der Konstruktion des realen Wissens, welche den geschichtlichen, d. h. ethischen Prozess einschließt. Auch diese Operationalisierung ist nach meiner Auffassung darin gegründet, dass Schleiermacher, wie bereits erwähnt, den Grund des Wissens – in dieser Hinsicht das Äquivalent der absoluten Idee – im Übergang vom Wissen zum Wollen, also in der Einheit des Theoretischen und Praktischen gewinnt. Sowohl Schleiermachers Dialektik als auch Hegels Wissenschaft der Logik thematisieren die traditionellen metaphysischen Bestände in methodischer Absicht, d. h. aus der Perspektive eines sich im Prozess des wissenwollenden Denkens intern über seine Bedingungen verständigenden Denkens. Intern heißt, dass sie ausschließlich der Logik dieses Prozesses unterworfen sind und Voraussetzungen nicht von anderswoher beziehen können. Im Blick auf die vormalige Metaphysik bedeutet dies bei Schleiermacher: Das Sein kommt nur als Gewusstes, d. h. als Korrelat des Wissens im Prozess des werdenden Wissens, und nicht als ein
GW 21, Seinslogik (1832), 56.
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unvordenkliches Sein an und für sich ins Spiel: „Wissen und Sein giebt es für uns nur in Beziehung auf einander. Das Sein ist das Gewußte, und das Wissen weiß um das Seiende.“³² Ich kann daher auch nicht erkennen, dass – wie Manfred Frank dies behauptet – Schleiermacher in die Nähe des späten Schelling zu rücken sei. Gewiss spricht er von einem absoluten Sein, welches nicht gewusst und daher auch nicht als Begriff gefasst werden könne, jedoch bezeichnet dieses die Einheit von Gedanke und Gegenstand. Undenkbar ist es also gerade deshalb, weil es nicht nur Sein ist, denn als solches wäre es nur Korrelat des Bewusstseins, sondern es ist undenkbar,weil es auf nicht-relationale Weise Denken und Sein zur Einheit bringt. Schleiermacher vertritt auch, soweit ich sehen kann, nicht die These, dass das Seinsmäßige im absoluten Sein in irgendeiner Weise einen Vorrang gegenüber dem Denken habe; der Gedanke einer nichtrelationalen, absoluten Identität beider schließt eine solche Asymmetrie vielmehr aus. Im Unterschied zu Schleiermacher bezeichnet Hegel die absolute Einheit als absolut selbstbezüglichen Begriff, d. h. als Idee. Sein, so zeigt die Wissenschaft der Logik, ist Übergehen in Anderes und daher nicht festzuhalten, sondern nur Relationalität. Das, was in Wahrheit ist, sind nicht mit sich identische Entitäten, sondern Verhältnisse, für Hegel eine begriffliche Struktur. Das wahrhafte Wissen ist daher das Wissen des Begriffs von sich, wie es sich in der absoluten Idee als absoluter Methode vollendet. Hegel würde Schleiermacher auch philosophisch vorwerfen, was er ihm in Bezug auf seine Glaubenslehre vorgehalten hat:³³ der Verweis auf eine begrifflich nicht erschließbare Sphäre gebe die Radikalität der Kritik zugunsten eines letztlich subjektiven Dafürhaltens preis. Umgekehrt würde Schleiermacher Hegel vorhalten, dass der Begriff sich, unerachtet der Einheit von Denken und Sein, nur in der Differenz zum Begriffenen oder Gedachten konstituieren und vollziehen lasse. Hegel entzieht sich diesem Einwand damit, dass er den absoluten Begriff als Widerspruch denkt, der die angemahnte Differenz aus sich selbst heraus konstituiert. Für Schleiermacher wiederum ist eine Einheit der Gegensätze, die er Idee der Welt nennt, ebenso transzendent und begrifflich nicht vollziehbar wie die Einheit ohne Gegensatz, die er Idee Gottes nennt. Jenseits aller Polemiken über Unmittelbarkeit, Gefühl und Allmacht bzw. Ohnmacht des Begriffs ist der Streit zwischen Schleiermacher und Hegel im Kern vor allem ein Streit um Begriff und Status von ‚Identität‘ im Wissensprozess. Dieser Streit ist wohl noch nicht einmal im Ansatz ausgetragen worden, aber es ist ein Streit auf einem gemeinsamen, von Kant eröffneten Feld. Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, hg.v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 192 (Einleitung 1816/17). Eric von der Luft (ed.): Hegel, Hinrichs, and Schleiermacher on Feeling and Reason in Religion: The Texts of Their 1821 – 22 Debate, Lewiston 1987.
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Teil I: Grundzüge
Auf negative Weise hat Friedrich Nietzsche Schleiermachers Zugehörigkeit zu diesem Feld unterstrichen, indem er seinen Namen geradezu zum Synonym für die Irrtümer der deutschen Philosophie machte: „Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntniss mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur ‚unbewusste‘ Falschmünzer hervorgebracht ( – Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher gebührt dies Wort so gut wie Kant und Leibniz, es sind Alles blosse Schleiermacher – )“.³⁴ Vielleicht aber kann Schleiermachers Dialektik – ebenso wie Hegels Wissenschaft der Logik und in Konfrontation mit ihr – dazu beitragen, darüber nachzudenken, ob die Philosophie die metaphysischen Bestände wirklich abstrakt negieren kann, oder ob sie diese nicht ausdrücklich zu reflektieren hat, wenn sie gegenüber ihren eigenen Voraussetzungen nicht blind sein und nicht faktisch in eine uneingestandene, unreflektierte und daher vorkritische Verstandesmetaphysik zurückfallen soll.
Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg.v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 6, München, Berlin und New York 1980, 361.
Teil II: Frühromantik und Aufklärung
1 Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel In seiner Abhandlung Über den Begriff der Hermeneutik, die Schleiermacher am 13. August 1829 vor dem Plenum der Berliner Akademie vortrug, erinnerte er sich „eines ausgezeichneten Kopfes der uns nur eben entrissen worden ist“ (KGA I/11, 611). Gemeint war der am 12. Januar desselben Jahres verstorbene Friedrich Schlegel. Es ist wohl – wie ich noch näher erläutern werde – kein Zufall, dass Schleiermacher sich im Zusammenhang mit der Hermeneutik des früheren Freundes erinnerte; und ganz gewiss ist es kein Zufall, dass er dabei auf die bewegte Zeit der Frühromantik zurückblickte, indem er „das sonst ziemlich paradoxe Wort“ aus dem Athenaeum-Fragment 82 (1798) zitierte, „daß Behaupten weit mehr ist als Beweisen“ (ebd.).¹ Dieses Schlegelsche Fragment ist eine kleine Abhandlung über Demonstrationen in der Philosophie und aus zahlreichen Notizen in verschiedenen Heften Schlegels komponiert. Schleiermacher mag sich erinnert haben, dass er Ende 1797/Anfang 1798 Schlegels philosophische Notizhefte gelesen hatte, um sie auf Fragmente für das Athenaeum hin abzuklopfen. So hatte er am 15. Januar 1798 an August Wilhelm Schlegel berichtet, Friedrich habe ihm, „da er mir einen Spaziergang durch seine philosophischen Papiere erlaubte, das onus aufgelegt daß ich sie, wie ein Trüffelhund habe abtreiben müßen, um Fragmente oder Fragmentensamen aufzuwittern“ (KGA V/2, 250). Zu dieser Zeit lebte Schleiermacher mit Friedrich Schlegel in seiner (provisorischen²) Predigerwohnung vor dem Oranienburger Tor in einer Wohngemeinschaft, und die Reminiszenz von 1829 ist nicht die einzige Spur, die diese glückliche und literarisch produktive Zeit des Zusammenlebens in seinem Werk hinterlassen hat. Auch an Friedrich Schlegel ist das ‚Symmenschen‘ und ‚Symphilosophieren‘ in der gemeinsamen Wohnung nicht spurlos vorübergegangen, obwohl er auf theoretischem Gebiet zumeist eher der Gebende als der Nehmende zu sein schien. Schleiermacher imponierte Schlegel von Anfang an durch seine moralische Haltung, eine Haltung freilich, die sich über alle moralischen Konventionen souverän hinwegsetzte, wie es im Titel eines – leider nicht überlieferten – Vortrags deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, der von der Immoralität aller Moral handelte. „Schleyermacher“, so schrieb Schlegel bereits am 28. November 1797, „ist ein
Vgl. KFSA 2, 177. Die Dienstwohnung in der Charité stand aufgrund von Umbauarbeiten seit Anfang Mai 1797 bis 1800 nicht mehr zur Verfügung. Vgl. KGA V/2, XVII.
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Teil II: Frühromantik und Aufklärung
Mensch, in dem der Mensch gebildet ist […] Er ist nur drey Jahre älter wie ich, aber an moralischem Verstand übertrifft er mich unendlich weit. Ich hoffe noch viel von ihm zu lernen. – Sein ganzes Wesen ist moralisch, und eigentlich überwiegt unter allen ausgezeichneten Menschen, die ich kenne, bey ihm am meisten die Moralität allem andren“.³ Schlegel schätzte Schleiermacher aber nicht nur als moralischen Menschen, sondern auch als spekulativen philosophischen Kopf, wobei er jedoch mit dem Theologen Schleiermacher immer wieder Schwierigkeiten hatte. So äußerte er noch 1804 sein Bedauern, dass Schleiermacher an die Hallenser und nicht an die Würzburger Universität gehen wollte, wo auch Schelling lehrte: dort wäre er eher ganz auf das Gebiet der spekulativen Philosophie gezogen worden.⁴ Das Verständnis des Christentums trennte Schleiermacher und Schlegel zeitlebens. Der junge Schlegel stand, auch wenn er von Religion sprach, dem Christentum distanziert gegenüber; und als er sich später zum Christentum bekannte, war es katholisch gemeint, was den Erzprotestanten Schleiermacher zurückstieß. 1797, am Beginn ihrer Beziehung, waren Schleiermacher und Schlegel sich dieser und anderer Differenzen noch nicht bewusst. Ihre Begegnung hatte etwas Erotisches – im Sinne des platonischen Eros, der affektiv auf den dialektischen Weg zur Idee des Schönen führt, in der das Wahre, Schöne und Gute konvergieren.⁵ Es war, wie alle Zeugnisse belegen, intellektuell so etwas wie eine Liebe auf den ersten Blick. – Im Folgenden möchte ich zunächst die Begegnung zwischen Schleiermacher und Schlegel sowie die Entwicklung dieser Beziehung kurz nachzeichnen und sodann fragen, welche Spuren dies bei Schleiermacher hinterlassen hat. (1) Schleiermacher war Ende August 1796 von Landsberg/Warthe nach Berlin gekommen, um hier – nach bestandener Probepredigt – eine Stelle als reformierter Prediger an der Charité zu übernehmen. Als Hilfsprediger in Landsberg hatte er Anschluss an das (offenbar ausgedehnte) gesellige Leben der Provinzstadt gefunden und suchte dergleichen auch in Berlin. Bereits vom Oktober 1793 bis Anfang April 1794 war Schleiermacher als Schulamtskandidat in Berlin gewesen, hatte dort aber zurückgezogen gelebt (vgl. KGA V/1, 24 ff.) Jetzt nahm er u. a. an der „Mittwochsgesellschaft“ des Aufklärers Ignatius Aurelius Feßler teil und fand Eingang in den Salon der Henriette Herz. Im Juli 1797 siedelte auch Friedrich
KFSA 24, 45 f. Vgl. Briefe von Dorothea und Friedrich Schlegel an die Familie Paulus, hg.v. R. Unger, Berlin 1913, 17. Zur romantischen Deutung des Symposion vgl. Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, hg.v. S. Matuschek, Heidelberg 2002.
1 Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel
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Schlegel nach Berlin über; er traf Schleiermacher in der „Mittwochsgesellschaft“ und sah ihn dann bei Henriette Herz und seinem Studienfreund, dem Schwedischen Diplomaten Carl Gustav von Brinckmann, wieder, der sie näher zusammenbrachte.⁶ Ihr erster Bezugspunkt ist die Philosophie und besonders das Studium Fichtes. Bereits am 26. August berichtet Schlegel an Friedrich Niethammer, mit Fichte Herausgeber des einflussreichen Philosophischen Journals: „Ich halte mich mehr an die angenehmen als an die gelehrten Gesellschaften. Die Philosophie liegt freylich hier im Argen. Doch habe ich einen Prediger Schleyermacher gefunden, der Fichtes Schriften studirt und das Journal mit einem andern Interesse als dem der Neugier und Persönlichkeit liest.“⁷ Spätestens seit September traf man sich, um – wie Schlegel schreibt – „zu Fichtisiren“.⁸ Schleiermacher berichtete seiner Schwester Charlotte im Oktober umfassend über seine neue Bekanntschaft: „Es ist nichts weibliches sondern ein junger Mann, der […] Schlegel heißt […] Er ist ein junger Mann von 25 Jahren, von so ausgebreiteten Kenntnißen, daß man nicht begreifen kann, wie es möglich ist bei solcher Jugend soviel zu wißen, von einem originellen Geist […], und in seinen Sitten von einer Natürlichkeit, Offenheit und kindlichen Jugendlichkeit, deren Vereinigung mit jenem allem vielleicht bei weitem das wunderbarste ist.“ (KGA V/2, 177). Vor allem, so betont Schleiermacher, habe er in dem Freund einen Geistesverwandten gefunden, dem er seine „philosophischen Ideen so recht mittheilen konnte und der in die tiefsten Abstraktionen mit mir hineinging […] ich kann ihm nicht nur was schon in mir ist ausschütten sondern durch den unversiegbaren Strom neuer Ansichten und Ideen der ihm unaufhörlich zufließt wird auch in mir manches in Bewegung gesezt was geschlummert hatte. Kurz für mein Daseyn in der philosophischen und litterarischen Welt geht seit meiner nähern Bekanntschaft mit ihm gleichsam eine neue Periode an“ (KGA V/2, 177). Vor allem aber wird Schleiermacher bedrängt, endlich etwas zu „machen“, d. h.: literarisch hervorzutreten. „An mir rupft er beständig ich müßte auch schreiben, es gäbe tausend Dinge die gesagt werden müßten und die grade ich sagen könnte“ (KGA V/2, 178). Schon damals beraten sie, dass Schlegel „auf Neujahr“ zu Schleiermacher ziehen soll. Und weiter berichtet Schleiermacher, er habe seit 8 Tagen „einen großen Theil meiner Vormittage die ich sonst sehr heilig halte bei ihm zugebracht um eine philosophische Lektüre mit ihm zu machen die er nicht gut aus den Händen geben konnte.“ Hierbei könnte es sich um Schlegels eigene Hefte zu einer Philosophie der
Vgl. an die Schwester Charlotte unter dem 22.10.1797; KGA V/2, 177 f. An Niethammer, 26. 8.1797, KFSA 24, 12. An C.G. von Brinckmann, ebd., 23.
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Teil II: Frühromantik und Aufklärung
Philologie, d. h. einer Theorie der Hermeneutik und Kritik handeln, an der er zu dieser Zeit arbeitete.⁹ Die Gemeinschaft gerade auf philosophischem Gebiet ist das Ergebnis einer Konvergenz eigenständiger philosophischer Entwicklungen, die zu einer Fülle gemeinsamer, „symphilosophischer“ Projekte führte, welche nur zum Teil realisiert wurden. So wurde der Plan eines Anti-Leibniz verfolgt, der in Schleiermachers und Schlegels Notizheften Niederschlag fand, ein gemeinsames Philosophisches Journal wurde ins Auge gefasst und weitere Projekte wurden verabredet. Kristallisationskern ihrer Symphilosophie aber war vor allem das Athenaeum der Brüder Schlegel, in dessen Planung Schleiermacher von Anfang an einbezogen wurde und auf dessen Konzeption er Einfluss nahm; so steuerte er nicht nur Vorschläge für den Titel bei,¹⁰ auch das Konzept des von den zeitgenössischen Aufklärern als besonders anstößig empfundenen Literarischen Reichsanzeigers im Athenaeum (1799) geht auf Schleiermacher zurück.¹¹ Nach dem Weggang Friedrich Schlegels nach Jena im September 1799 fungierte Schleiermacher als Redakteur, der Satz und Druck überwachte und zwischen dem Verleger und den Jenaer Freunden vermittelte. Schleiermacher half Schlegel bei der Zusammenstellung seiner Fragmente für das zweite Stück des Athenaeum und steuerte selbst Fragmente sowie späterhin Rezensionen für die Zeitschrift bei. Und noch ein weiteres gemeinsames Projekt ist zu nennen, das ursprünglich von Schlegel ausging, später nicht unerheblich zum Zerwürfnis der Freunde beitrug, schließlich von Schleiermacher allein durchgeführt wurde und ihm bis heute Ruhm einträgt: die Übersetzung des Platon.¹² Über den Tagesablauf in der Wohngemeinschaft vor dem Oranienburger Tor berichtet Schleiermacher seiner Schwester Charlotte ausführlich unter dem 31. Dezember 1797. Er, Schleiermacher, schlafe – da er erst um 2 zu Bett gehe – gewöhnlich bis halb neun, während Schlegel schon eine Stunde früher wach sei: „ich erwache gewöhnlich durch das Klirren seiner Kaffeetasse. Dann kann er von seinem Bett aus die Thüre, die meine Schlafkammer von seiner Stube trennt öfnen und so fangen wir unser Morgengespräch an.“ (KGA V/2, 217) Nach dem Frühstück arbeite bis zum gemeinschaftlichen Mittagessen um halb zwei jeder für sich, unterbrochen durch eine Pause, in der über die Studien gesprochen werde. Der Nachmittag verlaufe nach einem weniger festen Fahrplan; er (Schleiermacher) höre Privatcollegia (z. B. bei Klaproth) und lese auch selbst welche; später widme er sich dem geselligen Leben. Wenn er dann um 10 oder 11 zurückkomme, sei Vgl. an Niethammer, 26.8.1797, ebd., 12. Vgl. KGA V/2, XVIII. Vgl. KGA V/3, XXVf. Vgl. unten „Schleiermacher und Platon“.
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Schlegel noch wach, um ihn zu begrüßen, gehe dann aber zu Bett, während er noch arbeite. „Unsere Freunde“, so heißt es abschließend, „haben sich das Vergnügen gemacht unser Zusammenleben eine Ehe [zu nennen] und stimmen allgemein darin überein, daß ich die Frau seyn müßte, und Scherz und Ernst wird darüber genug gemacht.“ (KGA V/2, 219) Die vollkommene Harmonie bedeutete diese „Ehe“ jedoch auch nicht, sondern es stellten sich bald kleinere und größere Verstimmungen ein, die bearbeitet werden mussten. Dass ihre Charaktere sehr verschieden seien, war Schleiermacher schon Ende 1797 bewusst: „Was ich aber doch vermisse ist das zarte Gefühl und der feine Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Aeußerungen schöner Gesinnungen die oft in kleinen Dingen unwillkührlich das ganze Gemüth enthüllen. So wie er Bücher am liebsten mit großer Schrift mag, so auch an den Menschen große und starke Züge; das bloß sanfte und schöne fesselt ihn nicht sehr, weil er zu sehr nach der Analogie seines eignen Gemüths alles für schwach hält, was nicht feurig und stark erscheint.“ (KGAV/2, 220) Offenbar wollte Schlegel auch Schleiermacher nach seinem Ideal umformen, wobei er das Haupthindernis in dem Einfluss der Henriette Herz erblickte. In einem Brief an Caroline Schlegel klagt er bereits im Januar 1798: „Schleyermacher verdirbt durch den Umgang mit der Herz an sich und auch für mich und die Freundschaft. […] Sie machen sich einander eitel […]. Jede kleine noch so lausige Tugendübung rechnen sie sich hoch an: Schl[eiermacher]’s Geist kriecht ein, er verliehrt den Sinn für das Große. Kurz ich möchte rasend werden über die verdammten und winzigen Gemüthereyen! […] Das schlimmste ist, daß ich keine Rettung für Schleyermacher sehe, sich aus den Schlingen der Antike [gemeint ist Henriette Herz, Verf.] zu ziehen.“¹³ Schleiermacher beklagte zwar später, dass Schlegel ihn in seinem innersten Wesen nicht verstehe,¹⁴ ließ sich von der Kritik des Freundes aber nicht beeindrucken. Die erste größere Publikation, die er den wiederholten Aufforderungen Schlegels gemäß „machte“, war ausgerechnet eine Theorie der nach Schleiermachers Auffassung von Frauen wie Henriette Herz gestifteten Geselligkeit, nämlich der 1799 anonym erschienene und Fragment gebliebene Aufsatz Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. ¹⁵ Es ist wohl bezeichnend, dass von Schlegel zu diesem Produkt des Freundes keine Stellungnahme überliefert ist. Ungeachtet solcher Verstimmungen und in gegenseitigem Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Charaktere und Anschauungen blieb das Verhältnis der Freunde auch über die häusliche Gemeinschaft hinaus zunächst weitgehend
KFSA 24, 211; zur abweichenden Datierung vgl. KGA V/2, XXXI. Vgl. an Henriette Herz, 1.7.1799, KGA V/3, 133 – 137. KGA I/2, 165 – 184. – Vgl. unten „Geselligkeit und Gesellschaft“.
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Teil II: Frühromantik und Aufklärung
ungetrübt. Schlegels Weggang nach Jena veranlasste in der Folge einen intensiven Briefwechsel, der über die räumliche Distanz hinweg weiterhin ein Symphilosophieren ermöglichte, jedoch das „Symmenschen“, an dem vor allem Schleiermacher so sehr gelegen war, nicht ersetzen konnte. Literarisch stützten die Freunde einander: Schlegel trat als Propagandist der Reden über die Religion auf und Schleiermacher als Verteidiger des – wie es meistens geschieht, wohl überwiegend von Nichtlesern als skandalös empfundenen – Romans Lucinde auf. Menschlich entfremdeten sie sich in dem Maße, wie ihre Lebenskreise auseinanderdrifteten und sie den gemeinsamen, zum Teil symphilosophisch erarbeiteten Ideenvorrat jeweils eigenständig weiterentwickelten. Die zeitliche Koinzidenz von Schlegels Weggang aus Jena 1802, Schleiermachers Umzug nach Stolp in demselben Jahr und dem Scheitern der gemeinsamen Platon-Übersetzung macht deutlich, dass die frühromantische Epoche des großen „Sym“ auch in dem Verhältnis zwischen Schlegel und Schleiermacher vorbei war. Der „Traum vom Zusammengehen“, so schrieb Georg Lukács in seinem Novalis-Essay von 1907, „zerstob wie ein Nebel und schon nach wenigen Jahren verstand kaum mehr einer die Sprache des andern“.¹⁶ Lukács’ Ansicht, dass die Protagonisten der Frühromantik nach dem Rausch der Gemeinsamkeit „nicht mehr auf einsamen Pfaden einen Aufstieg versuchen“¹⁷ konnten, muss jedoch widersprochen werden. Gerade Schleiermacher gelang es, gemeinsame Überzeugungen, die er mit der Frühromantik und besonders mit Friedrich Schlegel teilte, aufzunehmen und umzubilden und so für seinen weiteren Denkweg fruchtbar zu machen. (2) Rudolf Hayms monumentales Werk über Die romantische Schule, das 1870 in Berlin nahezu zeitgleich mit Wilhelm Diltheys Leben Schleiermachers erschien, endet mit einem Ausblick auf Friedrich Schleiermacher. Schleiermacher habe Friedrichs Schlegels Grundgedanken, „daß die Philosophie und Schriftstellerei Platon’s in einem lebendigen, einheitlichen Geiste wurzle und aus diesem Geiste erklärt werden müsse“, „gerettet“, „wenn auch in harter Schale“.¹⁸ Noch mehr aber habe Schleiermacher mit seinem 1803 erschienenen Buch Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre geleistet, „denn für das Ethische war nicht er der Romantik, sondern die Romantik ihm verpflichtet.“¹⁹ In diesem Werk habe Schleiermacher die ethischen Ideen der Frühromantik aus ihrer flüssigen Form geborgen und den „revolutionären Geist“ der Frühromantik „an das Gesetz unverbrüchlicher Ordnung“ gebunden sowie „Subjectivismus und Individualismus,
Georg Lukács: Die Seele und die Formen, Neuwied und Berlin 1971, 76. Ebd., 77. Rudolf Haym: Die romantische Schule, Berlin 1870, 863. Ebd., 863.
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mit ihren Gefühls- und Phantasiebedürfnissen der Zucht der Logik und des Systems zu unterwerfen“ versucht; dies entspreche dem, was Hegel 1807 in der Phänomenologie des Geistes in Bezug auf den frühen Schelling geleistet habe.²⁰ Tatsächlich, so werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen, ist aber gerade auch der systematische Grundgedanke, den Schleiermacher in seinem Buch 1803 formuliert und den er in seinen Vorlesungen über die Dialektik weiterentwickeln wird, Friedrich Schlegel verpflichtet. Als ein Grundzug des Schleiermacherschen Denkens gilt zu Recht die Überwindung des Gegensatzes von Idealismus und Realismus. Dieses Programm teilt Schleiermacher mit Friedrich Schlegel und ist sich dessen auch bewusst. So heißt es im März 1801 in einem Brief: „Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief, und es wird nicht leicht sein, beiden Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden, und meine Sachen hat man wohl anderwärts noch gar nicht darauf angesehen.“ (An F.H.C. Schwarz, 28. 3.1801, KGA V/5, 73) Die Vereinigung des Idealismus und Realismus bedeutet nicht nur eine starke Orientierung auf die empirischen Wissenschaften – und auch hierin trifft sich Schleiermacher mit Schlegel –, sie hat auch Konsequenzen für die Systematik und vor allem für die Begründung der Philosophie. Dies hatte Schlegel, der das philosophische Verfahren im Ausgang von der Geschichtlichkeit des menschlichen Handelns und Wissens als „Totalisazion von unten herauf“²¹ bestimmte, zuerst klar erkannt. Wenn das Reale unhintergehbares, konstitutives Moment der Philosophie ist, dann ist die Philosophie keines Prinzips mächtig, aus dem heraus sie das Reale deduktiv entwickeln könnte. Gegen die Grundsatzphilosophie Reinhold-Fichtescher Prägung, die die Philosophie im Ausgang von einem unbedingten obersten Grundsatz begründen wollte, setzt Schlegel daher in seiner 1796 geschriebenen und erschienenen Rezension von Jacobis Roman Woldemar die Konzeption eines „Wechselerweises“. Sei nicht etwa, so heißt es – verkleidet in eine rhetorische Frage – ein „von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie“?²² Wie immer dies auch im Einzelnen zu interpretieren sein mag, in jedem Falle denkt Schlegel das Unbedingte – also den Grund der Philosophie – nicht als Prinzip und telos außerhalb
Ebd., 864. KFSA 16, 68, Nr. 84. KFSA 2, 74.
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des von ihm Bedingten, sondern als Totalität des Sich-Bedingenden.²³ In seinen Notizen zur Philosophie der Philologie spricht Schlegel den Gegensatz zu Fichte klar aus: „Die Cyklisation ist wie eine Totalisazion von unten herauf. Bey Fichte doch ein Herabsteigen.“²⁴ Schleiermacher übernimmt diese Konzeption, die Schlegel kurz vor der Übersiedlung nach Berlin erstmals formuliert hatte und die ohne Zweifel Gegenstand ihrer Gespräche über die Fichtesche Philosophie am Beginn ihrer Freundschaft war. Unter deutlicher Anspielung auf Schlegels Konzept des Wechselerweises heißt es in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, die oberste Wissenschaft, also die „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften“, dürfe „selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann.“ (KGA I/4, 48) Das besagt zweierlei. Erstens ist die oberste Wissenschaft nur als ein Ganzes einander bedingender und einander stützender Sätze zu denken. Und zweitens bleibt die Idee einer solchen obersten Wissenschaft problematisch, weil das Ganze (in Schlegels Terminologie: die Allheit der Wechselerweise) unerschöpflich ist und das Wissen immer nur werden, nie aber abgeschlossen sein kann. Eben deshalb kann die oberste Wissenschaft nicht im strengen Sinne bewiesen, sondern nur in Anspruch genommen und damit plausibel gemacht werden. Eine solche Alternative zur Fichteschen Wissenschaftslehre entwickelt Schleiermacher dann seit 1811 in bewusster Konkurrenz zu Fichte in seinen Vorlesungen über die Dialektik. ²⁵ Bevor ich darauf eingehe, sei jedoch noch ein Wort zu Schleiermachers Hermeneutik gesagt. In der Zeit seiner Begegnung mit Schleiermacher arbeitete Schlegel an seiner Philosophie der Philologie, also an seiner
Zum Theorem des Wechselerweises vgl. Manfred Frank: „‚Wechselgrundsatz‘. Friedrich Schlegels philosophischer Ausgangspunkt“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 26 – 50; ders.: ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/Main 1997, 858 – 882; Guido Naschert: „Friedrich Schlegel über Wechselerweis und Ironie“, in: Athenaeum. Jahrbuch für Romantik 6 (1996), 47– 91 und 7 (1997), 11– 37; Birgit RehmeIffert: Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001, 31 ff. KFSA 16, 68, Nr. 84. Die „Cyclisation“ ist offenkundig nichts anderes als der Wechselerweis der Elemente einer historischen Totalität. Diese Methode nimmt Schlegel unabhängig von Fichte in Anspruch: „Auch die Methode der materialen Alterthumslehre erkannte ich selbst, lange ehe ich von Fichte wußte, für cyklisch“ (KFSA 16, 66, Nr. 62). KGA II/10, 1.2; vgl. besonders die „Historische Einführung“.
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Theorie der Hermeneutik und Kritik, und es ist – wie bereits erwähnt – in hohem Maße wahrscheinlich, dass Schleiermacher diese Entwürfe gekannt und darüber mit dem Freund gesprochen hat. Schlegels Notizen wurden von dem Prager Romantik-Forscher Josef Körner 1928 erstmals ediert, wobei er auch auf die auffälligen Parallelen zu Schleiermachers Hermeneutik hinwies.²⁶ Hermann Patsch hat dann 1966 in einem bahnbrechenden Aufsatz gezeigt, dass Schlegel, nicht Schleiermacher, als Urheber der romantischen Wende in der Hermeneutik um 1800 anzusehen ist, ungeachtet der eigenständigen Leistung der Schleiermacherschen Theorie der Hermeneutik.²⁷ Diese These wird seither in der Forschung allgemein akzeptiert und die eingangs zitierte Reminiszenz an Schlegel in Schleiermachers Akademievorlesung macht deutlich, dass Schleiermacher selbst sich bewusst war, dass er auf diesem Gebiet wesentliche Anstöße von Schlegel erhalten hatte. Der entscheidende Unterschied, auf dessen Ursachen ich hier nicht weiter eingehen kann,²⁸ besteht indessen darin, dass Schlegel gemäß seinem Verfahren der „Totalisation von unten herauf“ einen einheitlichen hermeneutischkritischen Prozess konzipiert, der in eine transzendentalphilosophische Dialektik mündet; für Schleiermacher dagegen ist die Hermeneutik bloß eine technische Disziplin noch unterhalb der kritischen Disziplinen und nicht unmittelbar auf die Dialektik bezogen.²⁹ Auch, als Schleiermacher 1811 die oberste Wissenschaft als eigenständige Disziplin an der Berliner Universität unter dem Titel Dialektik vortrug, mag er sich der Konzeption seines früheren Weggefährten Friedrich Schlegel erinnert haben, der bereits seit 1796 die Problembestände der transzendentalen Dialektik Kants mit einer an die Antike und besonders an Platon anknüpfenden Auffassung von „Dialektik“ bearbeiten wollte: „Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bey Plato Gorgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philo-
Vgl. Friedrich Schlegel: „Philosophie der Philologie“, hg. und eingel. v. J. Körner, in: Logos 17 (1928), 1– 72. Hermann Patsch: „Friedrich Schlegels ‚Philosophie der Philologie‘ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), 434– 472. Jetzt ausführlich Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik, Paderborn u. a. 2011. Vgl. Andreas Arndt: „Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung“, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, hg.v. M. Beetz u. G. Cacciatore, Köln u. a. 2000, 211– 236. Vgl. unten „Dialektik und Hermeneutik. Zur kritischen Vermittlung der Disziplinen bei Schleiermacher.
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sophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.“³⁰ Man vergleiche hiermit das, was Schleiermacher (laut Nachschrift Twesten) in den ersten Vorlesungsstunden 1811 zur Erläuterung des Terminus „Dialektik“ vortrug: „Unter Dialektik verstehn wir […] die Prinzipien der Kunst zu philosophieren. […] Das Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Prinzipien des Philosophierens selbst sind dasselbe. […] Konstitutive und regulative Principe lassen sich also nicht mit Kant unterscheiden. Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name der Dialektik, welcher bei den Alten gerade diese Bedeutung hatte. […] Der Name bezieht sich auf die Kunst, mit einem Andren zugleich eine philosophische Konstruktion zu vollziehen. […] Die Dialektik […] kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen.“ (KGA II/10, 2, 5 – 7) – Bis dahin hatte Schleiermacher, im Gefolge der rhetorischen Tradition, Dialektik weitgehend mit Virtuosität im Argumentieren gleichgesetzt, und nichts – auch seine Interpretation der platonischen Dialektik nicht – hatte darauf hingedeutet, dass er ihr den Rang einer obersten Wissenschaft zusprechen wollte. Das einzige Vorbild, was hierfür in Frage kommt, ist Friedrich Schlegels Konzeption transzendentalphilosophischer Dialektik. Auch in Bezug auf die Dialektik hatte Josef Körner bereits 1934 die These vertreten, sie lasse „gewisse Gedanken der Jenaer Transzendentalphilosophie [Friedrich Schlegels] aufscheinen“.³¹ In der Forschung setzt sich diese Einsicht erst heute zunehmend durch, denn hierfür bedurfte es zunächst der Wiederentdeckung und Rekonstruktion der Schlegelschen Dialektik-Konzeption. *** Ich bin damit für jetzt am Ende meiner Spurensuche angelangt und möchte noch eine kurze Bilanz ziehen. Schleiermacher, so ließe sich behaupten, vermittelt die frühromantische Philosophie in die von Hegel dominierte und in die nachhegelsche Epoche der Philosophie. Er tut dies, indem er den in dem symphilosophischen Theorielabor erzeugten Ideenvorrat sich systematisch gerichtet aneignet und damit in eine diskursive Form jenseits der Paradoxien der Frühromantik transformiert. Wie tief aber dieses Vorhaben in der häuslichen und philosophischen Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel verwurzelt ist, lässt sich daran ermessen, dass alle drei entscheidenden, auf Friedrich Schlegel zurückgehenden Konzeptionen – in Stichworten: Platon, Hermeneutik, Dialektik – von Schlegel im unmittelbaren Umkreis der Begegnung mit Schleiermacher ausgearbeitet worden waren. Die literarische Ehe vor dem Oranienburger Tor blieb für den mutmaßlich
KFSA 18, 509 (Beilage I, Nr. 50). – Vgl. unten „Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik“. Friedrich Schlegel: Neue Philosophische Schriften, hg.v. J. Körner, Frankfurt/Main 1935, 51.
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weiblichen Part nicht folgenlos. Das bedeutet indessen nicht, wie oft geargwöhnt wird, eine Abhängigkeit Schleiermachers von den Ideen des Freundes. Partner finden sich – oder sollten sich finden – nur auf einer gemeinsamen Grundlage, und Kinder, auch geistige, gehören immer beiden Elternteilen zu.
2 Gefühl und Reflexion. Schleiermacher und Novalis Die Entwicklung der nachkantischen Philosophie in Deutschland widersetzt sich jedem Versuch, sie mit Hilfe einfacher Schemata zu rekonstruieren, um das Geflecht der Beziehungen ihrer Akteure und theoretischen Elemente offenzulegen. Die rasche Abfolge der Systemversuche und Systeme erweist sich bei näherer Betrachtung eher als konkurrierendes Nebeneinander, bei fortbestehendem Einfluss des Kantianismus und auch der Spätaufklärung. Dies gilt besonders für die Jahre um 1800, in denen die sich später herausdifferenzierenden Schulen und Systeme das Bewusstsein ihres Gegensatzes noch kaum entwickelt haben und nicht nur persönliche Kontakte, sondern auch ein gemeinsamer Bestand von Grundüberzeugungen so unterschiedliche Geister wie die ehemaligen Tübinger Stiftler und die Begründer der frühromantischen Schule noch zu einen scheint. Ein Gefühl solcher Gemeinsamkeiten beflügelte zahlreiche „symphilosophische“ Projekte, in denen unabhängig voneinander vollzogene theoretische Entwicklungen konvergierten und Übereinstimmungen in grundlegenden Positionen sich scheinbar zwanglos herstellten. Diese lassen nicht nur den gemeinsamen Problemhintergrund der Philosophie der Epoche deutlicher hervortreten, sondern ermöglichen es auch, die theoretischen Mittel zur Bearbeitung dieser Probleme und das fraglos Selbstverständliche des Epochenbewusstseins klarer zu erfassen. In diesem Geflecht, das von der Forschung noch keineswegs vollständig entwirrt werden konnte, ist besonders Schleiermachers Position bisher noch nicht zureichend bestimmt worden. Diese tritt zwar erst in den für seine philosophische Systematik grundlegenden Vorlesungen zur Dialektik ab 1811 selbständig hervor, ihre Wurzeln reichen jedoch bis in das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. In der Forschungsliteratur zeichnet sich eine vorläufige Verständigung darüber ab, Schleiermachers Position als Ergebnis einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Kant, Spinoza und der platonischen Tradition zu verstehen.¹ Dabei kommt es jedoch zu Konvergenzen insbesondre mit frühromantischen Positionen, deren systematische Bedeutung für die Schleiermachersche Philosophie grundlegend ist. Um solch eine Übereinstimmung geht es im Folgenden, wenn Schleiermachers Stellung zur Philosophie Friedrich von Hardenbergs (Novalis) in den Blick genommen wird.
Vgl. hierzu jetzt Walter Jaeschke und Andreas Arndt: Die klassische Deutsche Philosophie nach Kant, München 2012.
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(1) Die Entwicklung, die Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza vollzog, mündete seit 1796 in die Symphilosophie der Berliner Romantik. In dieser neuen Periode findet die – bei aller Kritik und Umformung – positive Würdigung Kants keine Fortsetzung; polemische Äußerungen dominieren. Daraus lässt sich jedoch kein Bruch Schleiermachers mit seiner eigenen Vergangenheit ableiten, dem ein theoretischer Neubeginn unter dem Einfluss vor allem Friedrich Schlegels folgen würde.Vielmehr war Schleiermachers bereits in den Jahren zuvor gewonnene Position fähig, in der Auseinandersetzung mit den frühromantischen Weggenossen weiter konturiert zu werden und selbst Impulse zu geben. Ohne den Umweg über Fichte zu nehmen,² hatte Schleiermacher ein Niveau erreicht, das an die Problemlage der frühromantischen Fichte-Kritik heranreichte und – bei aller Eigenständigkeit seiner Positionen auch innerhalb der Frühromantik – sich deren Diskurs zwanglos einfügte. Diese Konvergenz lässt sich anhand des wohl prominentesten Textes des frühromantischen Schleiermachers, der Reden über die Religion (1799), deutlich machen. Die Reden lassen einerseits das Eigenständige des Schleiermacherschen Beitrags hervortreten,wobei auch der Bezug zu den in der Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza gewonnenen Positionen kenntlich bleibt; andererseits zeigen sie in der Bestimmung des Verhältnisses von „Anschauung“, „Gefühl“ und „Reflexion“ eine überraschende Übereinstimmung mit dem, was Novalis bereits 1795 als Essenz seiner Studien zur Wissenschaftslehre Fichtes zu eben dieser Problematik niedergeschrieben hatte, wobei beide ihre Positionen unabhängig voneinander entwickelt hatten.³
Vgl. Andreas Arndt: „Fichte und die Frühromantik (F. Schlegel, Schleiermacher)“, in: Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1., hg.v. J. Stolzenberg und O.-P. Rudolph, Amsterdam und New York 2010, 45 – 62. Das Verhältnis Schleiermachers zu Novalis wurde bisher vor allem aus theologischer Perspektive thematisiert und dabei weitgehend auf das Problem des Mittlers im Religionsverständnis beider beschränkt (vgl. Wolfgang Sommer: Schleiermacher und Novalis. Die Christologie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum Christusbild des Novalis, Bern und Frankfurt/ Main 1973; ebenso Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik, Weimar 1986). Der Parallelität der philosophischen Positionen wurde bisher – abgesehen von Hermann Timms sehr allgemein ansetzender Untersuchung zur Frühromantik (Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher – Schlegel – Novalis, Frankfurt/Main 1978) – kaum ernsthaft nachgespürt. – Dieser Parallelität schien sich Schleiermacher bewusst zu sein; so heißt es in einem Brief an Eleonore Grunow vom 29.7.1802, sein positives Urteil über Novalis’ Heinrich von Ofterdingen gehe „nicht allein auf die Liebe und auf die Mystik – die kannte ich ja schon im Hardenberg, sondern auch auf die dem Ganzen zu Grunde liegende große Fülle des Wissens, auf die bei solchen Menschen so seltene Ehrfurcht vor dem Wissen und auf die unmittelbare Beziehung desselben auf das Höchste, auf die Anschauung der Welt und der Gottheit“ (KGA V/6, 54). Umgekehrt behauptete Novalis – nach einer brieflichen Mitteilung Friedrich
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Novalis geht aus von dem ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1794, um darzutun, dass jeder Satz als Satz bereits das Wesen der Identität verfehlt: „Das Wesen der Identität läßt sich nur in einem Scheinsatz aufstellen.Wir verlassen das Identische um es darzustellen“.⁴ Die Darstellung verweist auf einen Gehalt, der in ihr erscheint („es geschieht, was schon Ist“, ebd.). „Scheinsatz“ hat demnach eine doppelte Bedeutung: (1) im Urteilen wird die Identität als relationale nur scheinbar erzeugt, denn die wahre Identität als nichtrelationale liegt dem Urteil voraus; (2) gleichwohl ist diese Darstellung der ursprünglichen Identität deren notwendige Erscheinung in der Sphäre des Bedingten oder der Reflexion. Wenn in der Fichteschen Urhandlung, dem Setzen des Ich als setzend, ausgedrückt in dem Satz „Ich bin Ich“, in Fichtes Worten „mit der Form zugleich sein innerer Gehalt gesetzt wird“,⁵ so ist für Novalis dieses „Ichseyn“ als „Grund alles Bestimmens für das Ich, oder aller Form […] Grund seiner eignen Bestimmung, oder Form“.⁶ In der Reflexion aber setzt das Ich den Gehalt außer sich: es verlässt das Identische, um es darzustellen. Diese Entfremdung ist notwendiges Produkt des Bewusstseins, das eben darum kein Wissen der ursprünglichen Identität zulässt, denn es ist als Wissen unausweichlich in dieser Objektivation befangen: „es bezieht sich allemal auf ein was – Es ist eine Beziehung auf das Seyn, im bestimmten Seyn überhaupt nemlich im Ich“.⁷ Indem sich der Gehalt des Ichseins als ursprüngliche Identität jeder reflexiven Selbstvergewisserung entzieht, ist dieser nur als Gefühl im Modus des Glaubens präsent.⁸ Das Ich als bestimmtes Sein ist qua Sein dem Wissen
Schlegels an Schleiermacher – an den Reden „nichts […] tadeln zu können, und in so fern einig mit Dir zu seyn“ (KGA V/3, 212); zu den wechselseitigen Äußerungen der Wertschätzung vgl. Sommer: Schleiermacher und Novalis, 43 ff.). – Aus Schleiermachers Äußerung gegenüber Eleonore Grunow geht hervor, dass er – obwohl er durch Vermittlung Friedrich Schlegels mit den grundlegenden Gedanken Novalis’ vertraut war – inhaltlich von ihm wohl kaum beeinflusst sein dürfte. Novalis: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 1981, 104. Johann Gottlieb Fichte: Werke, Bd. 1, 69. Novalis: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 1981, 104, Nr. 1. Ebd. Die Einführung des Gefühls an dieser Stelle hat eine auffällige Parallele bei August Ludwig Hülsen: die Vergewisserung der Realität des Denkens beruht bei ihm auf einem unmittelbaren Gefühl, in dem die praereflexive Spontaneität und Selbstbestimmung des Ich als Kraft sich äußert. Vgl. dazu Willy Flitner: August Ludwig Hülsen und der Bund der freien Männer, Jena 1913, bes. 56 ff., sowie Martin Oesch: „Hülsens idealistische Romantik“, in: Romantische Utopie – Utopische Romantik, hg.v. G. Deschner und R. Faber, Hildesheim 1979, 109 f. Diese Auffassung hatte Hülsen erstmals in seinem Aufsatz „Über Popularität“ (1797) vorgestellt; als selbständiger Schüler Fichtes stand Hülsen, der von Fichte und Friedrich Schlegel als eines der bedeutendsten philosophischen Talente angesehen wurde, im Verkehr mit dem frühromantischen Kreis, so dass wechselseitige Beeinflussungen nicht ausgeschlossen werden können. Der Ausgang beim em-
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zugänglich, als bestimmtes aber, d. h. als Form, dem Gefühl. Als „Seyn außer dem Seyn im Seyn“⁹ ist das Bewusstsein in jener reflexiven Distanz, die zugleich in der Gleichheit des Seins dessen Erkennbarkeit verbürgt: es ist, als Reflexion, Bild des Seins. An diesem Punkt setzt nun eine Umkehrung ein, die Manfred Frank treffend so charakterisiert hat, dass die Reflexion als Schein, d. h. verkehrtes Bild des ihr Vorausgesetzten, sich ihrerseits reflektieren und so – im Medium der Reflexion – die Verkehrung wieder aufheben kann.¹⁰ Sie tut dies, indem sie die Differenz des Gefühlten bzw. Geglaubten und des Gewussten, also die Differenz des bloßen Seins („Nur Seyn“) und seines Gehalts als bestimmtes Sein (Form) als Gegensatz in der Reflexion behandelt: „So wechselt das Denken und das Fühlen die Rolle des Subjectiven und Objectiven“.¹¹ Das Gefühl als praereflexive Selbstvergewisserung des Ich wird Gegenstand der Reflexion; um das Ich bestimmen zu können, wird es in eine Beziehung gebracht zum „Nur Seyn“, d. h. als bestimmtes Sein von diesem unterschieden. In dieser beziehentlichen Unterscheidung wird mit den Mitteln der Reflexion das wiederhergestellt, was ihr vorausgesetzt ist: die Einheit des Gehalts und der Form im Selbstsein als Selbstbestimmung. Indem sich die Reflexion auf das Gefühl als Innewerden der Form richtet und es zum Objekt macht, d. h. aus der Autosuffizienz des Ich herausreißt und auf ein Anderes bezieht, bestimmt sie dessen Gehalt als Ich – oder sie ist Bestimmen als Formieren der Form eines vorausgesetzten Gehalts, das diesen eben dadurch einzuholen versucht. Der Gehalt als das Vorausgesetzte, von der Reflexion nicht zu setzende – also gerade das, was die ursprüngliche Selbstbestimmung des Ich leistete – erscheint jetzt als die umschließende, dem Ich der Reflexion objektiv entgegengesetzte Sphäre: „Nur aufs Seyn kann alle Filosofie gehn. Der Mensch fühlt die Grenze die alles für ihn, ihn selbst, umschließt, die erste Handlung; er muß sie glauben, so gewiß er alles andre weiß“.¹² Wenn Philosophie ursprünglich ein unmittelbares Gefühl ist, so sind die Grenzen des Gefühls „die Grenzen der Filosofie. Das Gefühl kann sich nicht selber pirischen Ich, den Hülsen mit der Romantik teilt, führte bei ihm dazu, Selbsterfahrung als Selbstbestimmung über jede Form der Reflexion zu stellen und unmittelbar praktizieren zu wollen: er entsagte der wissenschaftlichen Publikation und starb als in seiner Freizeit philosophisch räsonierender Bauer in Holstein – ironische Vorwegnahme eines noch immer gegenwärtigen Romantizismus. Novalis: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 1981, 106. Manfred Frank: „‘Intellektuale Anschauung‘. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin und Novalis“, in: Die Aktualität der Frühromantik, hg.v. E. Behler und J. Hörisch, Paderborn 1987, 96 – 127, hier: 123 f. Novalis: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 1981, 106. Ebd., 107.
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fühlen“,¹³ denn als sich-selber-fühlend wäre es reflexiv, also nicht mehr unmittelbares Gefühl, oder es wäre die Urhandlung selbst, die aber das dem Gefühl Gegebene, Vorausgesetzte ist „als Ursache und Wirkung“.¹⁴ Deren Struktur reproduziert sich erst dann, wenn Gefühl und Reflexion in der Reflexion zusammengenommen, d. h. die mangelnde Selbstbezüglichkeit des Gefühls als subjektive Seite, als Tendenz, die Reflexion als objektive Seite, als Produkt der Reflexion, angesehen werden, denn die Objektivierung des Gefühls ist Produkt der Reflexion.¹⁵ Zugleich aber ist die Tendenz in dem Sinne objektiv, dass sie Beziehung auf ein der Reflexion entzogenes Gegebenes ist, das die Kraft der Reflexion nur reproduziert; die Tendenz richtet sich auf etwas, das sich in dem Gefühl mitteilt, so dass die Bewegung des Bewusstseins, die scheinbar vom Subjektiven, d. h. Beschränkten, zum Unbeschränkten geht, „im Grunde aber das Gegentheil sey, daß ihm etwas Gegeben seyn müsse, und daß dieses ihm Gegebne die Urhandlung, als Ursache und Wirkung zu seyn scheine“.¹⁶ Indem die Tendenz als objektive in die Reflexion selbst eingeht, wird das Zum-Objekt-Machen des Gefühls durch die Reflexion Objektivierung oder Manifestation des Absoluten. Dieses Absolute – „das Ursprünglich Idealreale oder realideale“¹⁷ – erscheint aber nur verkehrt im Medium des Beschränkten. Die Umkehrung dieser Verkehrung innerhalb des Reflexionsverhältnisses stellt zwar die ursprüngliche Ordnung wieder her, aber so, dass die Reflexion weiß, dass sie sich des Absoluten nicht bemächtigen kann. Es bleibt, als Grund der Erkenntnis, bewusstseinstranszendent; die Reflexion führt auf ein „reflektiertes Nicht-Wissen (ein Nicht-Wissen, das sich als solches weiß), eine docta ignorantia“.¹⁸ In diesen Zusammenhang der Reflexion ist nun die „intellectuale Anschauung“ eingeschrieben, sie ist die „Einheit des Gefühls und der Reflexion […] außerhalb der Reflexion“,¹⁹ d. h. eine Einheit, die nicht als relationale Identität oder Synthesis post factum, als Produkt des Gefühls und der Reflexion zu verstehen ist, weshalb Novalis auch sagt, das „Gefühl suppeditirt das Subjective, die Reflexion das Objective zur Anschauung“;²⁰ diese „gibt allein bloße Realität“ oder „absolute Realität“ als eine, die „sich nicht entgegensetzen“²¹ lässt, d. h. „Seyn“; – ein
Ebd., 114. Ebd. Vgl. ebd., 114. Ebd., 115. Ebd., 114. Ebd., 125 Ebd., 119. Ebd. Ebd., 12.
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„Seyn“ und eine Realität freilich, die Nichts ist für die Reflexion, die innerhalb der Entgegensetzung befangen bleibt. So ist die Anschauung dem Gefühl und der Reflexion als deren Einheit vorgeordnet. Durch sie reproduziert die Philosophie das Gegebensein eines Absoluten – des „Seyns“ – als eines „gedachten […] Zusammenhangs zwischen Denken und Fühlen“.²² Sie tut dies, indem sie das subjektive Innewerden des Absoluten im Gefühl kraft der Reflexion objektiviert und darin die Präsenz einer vorauszusetzenden, aber von der Reflexion nicht einzuholenden Einheit erweist. (2) Die Rekonstruktion der grundlegenden Argumentationsfigur von Novalis soll hier abgebrochen werden, da die bisher erreichte Annäherung hinreicht, im Gegenzug Schleiermachers Position in den Reden von 1799 als in vieler Hinsicht parallel strukturiert durchsichtig zu machen. Der philosophische Einsatzpunkt der „Reden“, darin sind sich die Interpreten seit Dilthey einig, liegt in der Alleinheit des Universums, die sich als Einheit der Reflexion entzieht und nur in einem praereflexiven Akt mitteilt: „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (KGA I/2, 213). In dem Reden über die Religion freilich ist diese Anschauung uneinholbar, denn dieses Reden ist, wie rhetorisch-poetisch auch immer, Reflexion, in der die ursprüngliche Anschauung immer schon als in Anschauung und Gefühl getrennt zur Sprache kommt: „vergönnt mir […] einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann […]. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen“ (KGA I/2, 220). Das Medium der Reflexion trennt die Einheit der Anschauung und des Gefühls entsprechend dem „ursprünglichen Bewußtsein unserer doppelten Tätigkeit“, der herrschenden, aktiv nach außen wirkenden einerseits, und der nachbildenden, rezeptiven andererseits. Das in der Anschauung Gegebene tritt außer einander in das „Bild eines Objekts“ und ein „flüchtiges Gefühl“ (KGA I/2, 221). Die Anschauung, von der allein die Rede sein kann, „ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung“, wie auch das Gefühl immer ein einzelnes ist (KGA I/2, 215); einen Zusammenhang der Anschauungen zu stiften, ist Sache des abstrakten Denkens, das dabei die Unmittelbarkeit der Anschauung tilgt. Indem aber die Unmittelbarkeit der Anschauung schon immer in der Reflexion aufscheint, verweist umgekehrt die Reflexion als relationale Einheit schon immer auf die vorausgesetzte Einheit eines unmittelbar
Ebd., 116.
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Gegebenen. Diese Einheit kommt in einem ursprünglichen Reflexionsverhältnis zum Ausdruck, das zwischen der (einzelnen) Anschauung und dem Gefühl besteht. Schleiermacher beschreibt dieses Verhältnis phänomenologisch als natürlichen Zusammenhang der Anschauung und des Gefühls (KGA I/2, 218), wobei nicht die Anschauung als Sensation die Selbsttätigkeit eines inneren Sinns weckt, sondern beides – objektgerichtete Anschauung und subjektives Gefühl – gleich ursprünglich sind und zusammengehen: „beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind“ (KGA I/2, 221). Diese Einheit liegt jeder sinnlichen Wahrnehmung und – sofern die sinnliche Wahrnehmung das Material der Erkenntnis liefert – jedem Erkennen zugrunde. Schleiermacher beschreibt sie in einer vielzitierten Stelle der zweiten Rede als „bräutliche Umarmung“, die im Augenblick der Trennung ein Reflexionsverhältnis hervorbringt: „nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Schaam und der Lust auf seiner Wange“ (KGA I/2, 222). Die praereflexive Einheit der Anschauung und des Gefühls tritt auseinander in die abgesonderte Anschauung einerseits, die zum Objekt der Reflexion wird („ich meße sie“) und sich ihrerseits reflektiert („spiegelt“), sowie das Gefühl andererseits, das als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ (KGA I/2, 212) religiöses Innewerden jener praereflexiven Einheit ist. Als sich aus dem Inneren emporarbeitend ist das Gefühl als Entäußerung von Subjektivität in einem doppelten Sinne zu verstehen: (1) als Bei-Sich-Sein der Subjektivität im Modus der Unmittelbarkeit, d. h. eines unmittelbaren Selbstbewusstseins, und (2) als Entäußerung der Subjektivität an das Unendliche als an eine bewusstseinstranszendente Einheit jenseits der Trennung des Subjektiven und Objektiven. Obwohl somit zwar die abgesonderte Anschauung dem Gefühl vorherzugehen scheint, ist das der Anschauung komplementäre Gefühl als nichtreflexive Instanz innerhalb des Reflexionsverhältnisses dasjenige Vermögen, das zum Absoluten vermittelt und somit systematisch Priorität genießt. Setzt man einen Augenblick beiseite, dass Schleiermachers Konzeption auf die Begründung der Eigenständigkeit der Religion gegenüber Moral und Metaphysik zielt und darum eine Reihe von Problemen unerörtert lässt, die sich in systematischer Hinsicht ergeben, so kann man eine deutliche Parallele zu Novalis erkennen. Diese besteht vor allem (1) im systematischen Vorrang des Gefühls als unvermittelter, zum Absoluten vermittelnder Instanz innerhalb des Reflexionsverhältnisses; (2) der vorgängigen Einheit dieses Gefühls und der Reflexion (die sich bei Schleiermacher an der abgesonderten Anschauung entfaltet) außerhalb der Reflexion (Novalis‘ „intellectuale Anschauung“ bzw. die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl bei Schleiermacher); (3) der Repräsentanz einer
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bewusstseinstranszendenten Einheit in der „intellectualen Anschauung“ bzw. der ursprünglichen Einheit der Anschauung und des Gefühls („Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden“, KGA I/2, 213). Als Konsequenz dieser Annahmen kommen Schleiermacher und Novalis darin überein, die Transzendenz des Grundes aller bewusstseinsmäßigen Akte gegenüber dem Bewusstsein zu behaupten und diesen Grund so außerhalb der Reflexion zu stellen, dass das Bewusstsein, auch in seiner Unmittelbarkeit als unmittelbare Anschauung bzw. Gefühl, sich auf ihn nur als auf dasjenige richten kann, von dem es weiß, nichts wissen zu können, obwohl es sich unmittelbar gewiss ist, dass er als solcher „irgendwie“ in ihm präsent ist und ihm zugrunde liegt: eine docta ignorantia des Absoluten. (3) Die aufgezeigte Parallele findet zunächst dort ihre Grenze, wo in Anschlag gebracht werden muss, dass Schleiermachers begriffliches Instrumentarium darauf gerichtet ist, der Religion ihre Eigenständigkeit neben Handeln (Moral) und Wissen (Metaphysik) zu sichern, während Novalis eher den Ansatz einer Enzyklopädie verfolgt, in der alle Verhältnisse und Verhaltensweisen auf einen gemeinsamen Ursprung hin ausgelegt und in der poetischen Konstruktion wieder auf ihn zurückgeführt werden.²³ Demgegenüber stellt die Religion bei Schleiermacher ein eigenes Verhalten zur Wirklichkeit dar, das sich in kein Subordinationsverhältnis zu anderen Verhaltensweisen bringen lässt noch mit ihnen konkurrieren kann, sondern als gleich ursprünglich neben sie tritt. Darin liegt aber auch, dass die Instanzen religiöser Erfahrung ihre Entsprechung z. B. für die Begründung des philosophischen Wissens haben müssen, ohne mit ihnen identisch zu sein. Von dieser Forderung ausgehend erweist sich die Position der „Reden“ als defizitär: nicht nur muss (was dort in Bezug auf die Religion vernachlässigt werden konnte) der Status derjenigen Reflexion geklärt werden, die sich an der abgesonderten Anschauung entfaltet, sondern es muss auch die Komplementarität von Anschauung und Gefühl als Reflexionsverhältnis erörtert und in Beziehung gesetzt werden zur Arbeit der Reflexion als systematischer Auslegung der Beziehung auf das Absolute, die in der sich ergänzenden Unmittelbarkeit der Glieder des ursprünglichen Reflexionsverhältnisses gegeben ist. Die Weiterarbeit Schleiermachers an diesen Problemen kann hier nur noch in Stichworten angedeutet werden. In der zweiten Auflage der „Reden“ von 1806 bestimmt er Anschauung
Diese Funktion des Poetischen wird für Novalis letztlich durch das Märchen erfüllt, das ihm als adäquateste Repräsentation dieses Ursprungs innerhalb der Reflexion gilt. Zwar steht die Kunst auch in den „Reden“ in einer beziehungsreichen Nähe zum Religiösen, jedoch tritt sie nicht an die Stelle der Religion und auch nicht der Philosophie, wie es in dem romantischen Projekt der Stiftung einer neuen Mythologie und Religion der Fall ist.
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und Gefühl als zwei Vermögen einer Potenz: die Anschauung vermittelt die Erfahrung einer Totalität, deren subjektives Innewerden auf Seiten des Gefühls fällt. Die darin konzipierte Einheit des äußeren Bewusstseins und des Selbstbewusstseins wird seit dem Dialektik-Entwurf von 1814/15 ganz dem Gefühl übertragen, das schließlich als unmittelbares Selbstbewusstsein die Stelle dessen einnimmt, was die nachkantische Philosophie vielfach unter dem Titel intellektueller Anschauung zu fassen suchte. Diese Konzeption selbst soll hier nicht mehr zum Gegenstand der Erörterung gemacht werden; es kam allein darauf an, zu zeigen, dass und inwiefern sie eine Vorgeschichte hat, die sie in den Zusammenhang der frühromantischen Philosophie einstellt. Sie ist Produkt des Streits um die Begründung einer ersten Philosophie, wie er um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Deutschland ausgetragen, gleichwohl aber nicht zum Austrag gebracht wurde.
3 Geselligkeit und Gesellschaft. Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1) Am 14. Februar 1799 begab sich Friedrich Schleiermacher, derzeit reformierter Prediger an der Berliner Charité, nach Potsdam, um dort gemäß königlichem Befehl zeitweilig die Geschäfte des hochbetagten Hofpredigers Bamberger zu übernehmen. Schleiermacher stand damals im Begriff, seinen literarischen Ruhm zu begründen. Aus Berlin hatte er sich das begonnene Manuskript der Reden über die Religion mitgebracht, die er zwei Monate später, noch in Potsdam, vollenden konnte. Wenigstens in Berlin war er aber schon längere Zeit kein Unbekannter mehr. Er galt vor allem als ein gefälliger Kanzelredner, der deshalb auch dazu bestimmt worden war, in der Garnisonkirche vor Friedrich Wilhelm III. zu predigen. Literarisch war er durch die Übersetzung von Predigten hervorgetreten, zuletzt aber auch durch anonyme Beiträge zum Athenaeum der Brüder Schlegel, von denen die „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ unter den Fragmenten herausragt. Schleiermachers literarische Produktivität war durch Friedrich Schlegel angeregt worden, mit dem er seit Ende 1797 seine Predigerwohnung vor dem Oranienburger Tor teilte und der ihn fortwährend zum „Machen“ drängte. Beide waren sich zuerst in der berühmten „Mittwochsgesellschaft“ Ignatius Aurelius Feßlers begegnet und hatten darüber hinaus ein gemeinsames Bezugsfeld im geselligen Leben Berlins, vor allem aber im Salon der Henriette Herz, wo Schlegel auch seine spätere Frau Dorothea kennenlernte. Für Schlegel war Schleiermacher in erster Linie nicht Theologe, sondern Philosoph, und in der Tat hatte dieser sich seit seiner Studienzeit besonders der Philosophie gewidmet und konnte 1797 bereits auf eine ganze Reihe von unveröffentlichten Abhandlungen und Entwürfen zurückblicken, deren kritische Edition jetzt einen starken Band füllt (KGA I/1). Ausgehend von der Hallischen Schulphilosophie seines Lehrers Johann August Eberhard hatte Schleiermacher sich vor allem mit Aristoteles und Kant auseinandergesetzt und dabei um die spekulative Grundlegung einer Ethik bemüht. Später kamen Jacobi und Spinoza hinzu, deren kritische Konfrontation mit Kant zu Positionen führte, die weitgehend mit dem zeitgleichen Ansatz der frühromantischen Philosophie übereinstimmten. Schleiermacher war diesen Weg als einsamer „Selbstdenker“ gegangen, aber er hatte dabei inhaltlich den Anschluss an die philosophische Avantgarde seiner Zeit gewonnen. Die philosophische Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel war daher mehr als nur ein biographischer Zufall, es war eine Konvergenz gemeinsamer Grundüberzeugungen, die sie zusammenbrachte und zusammenhielt. Beide begegneten sich als Gleichberechtigte, und
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nur in der literarischen Produktivität war Schlegel dem Freund entschieden voraus. Dem abzuhelfen, war sein ständiges Bemühen, und so drängte er beharrlich und mit Erfolg aufs „Machen“. Vor allem erwartete er Beiträge zur Moral, denn Schleiermacher – so schrieb er seinem Bruder August Wilhelm Schlegel am 28.11. 1798 – „ist ein Mensch, in dem der Mensch gebildet ist […]. Er ist nur drey Jahre älter wie ich, aber an moralischem Verstand übertrifft er mich unendlich weit. Ich hoffe noch viel von ihm zu lernen. – Sein ganzes Wesen ist moralisch, und eigentlich überwiegt unter allen ausgezeichneten Menschen, die ich kenne, bey ihm an meisten die Moralität allem andern.“ ¹ Tatsächlich sollte Schleiermacher die Erwartungen des Freundes wenigstens zum Teil erfüllen. Auf die Reden über die Religion folgten zum Jahre 1800 als „Neujahrsgabe“ die ebenfalls anonym publizierten Monologen, ein individualethisches, poetisch durchgebildetes Manifest, das Spekulation und Leben miteinander verbinden will. 1803 erschienen dann die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, mit denen Schleiermacher zum Ethiker der Romantik avancierte, indem er versuchte, den frühromantischen Positionen eine systematische wissenschaftliche Form zu geben. Um eine solche Form bemüht war indessen bereits ein Aufsatz, der kurz vor Schleiermachers zeitweiliger Versetzung nach Potsdam anonym im Januar- und Februarheft des von Rambach und Feßler herausgegebenen Berlinischen Archivs der Zeit und ihres Geschmacks publiziert worden war. Dieser Aufsatz trug den Titel Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. ² Merkwürdigerweise hat dieser Versuch im Briefwechsel Schleiermachers kaum Spuren hinterlassen und wurde offenbar auch im Freundeskreis nicht zur Kenntnis genommen. So geriet er in Vergessenheit und wurde erst am Beginn unseres Jahrhunderts von Hermann Nohl wiederentdeckt, wobei die Autorschaft Schleiermachers aufgrund eines Vergleichs mit seinen „Aufzeichnungen für eine Schrift über die gute Lebensart“ (Dilthey)³ in den überlieferten Notizheften zweifelsfrei erwiesen werden konnte.⁴ Der Versuch blieb Fragment, und dass er Fragment blieb, hat mit dem Thema dieser Abhandlung zu tun. Das im Titel angesprochene „gesellige Betragen“ ist auch und in erster Linie die freie Geselligkeit der Berliner Salonkultur, deren Anschauung Schleiermacher den Stoff für sein Vorhaben lieferte. Von dieser
KFSA 24, 45 f. 48 – 66 und 111– 123 (KGA I/2, 165 – 184). Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, 89 (gesondert paginierter Anhang zu Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, 1. Aufl., Berlin 1870). Hermann Nohl, „Vorbemerkung zur Herausgabe des ‚Versuchs einer Theorie des geselligen Betragens‘“, in: Friedrich Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, XXIII.
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Quelle, die ihm die notwendigen Inspirationen lieferte, sah er sich in dem militärisch geprägten Leben Potsdams abgeschnitten. „Jeder Mensch“, so schrieb er am 23. 3.1799 seiner Schwester Charlotte, „muß schlechterdings in einem Zustande moralischer Geselligkeit stehn […]. Das liegt in dem göttlichen Ausspruche es ist nicht gut daß der Mensch allein sei mehr als irgend etwas anderes.“ (KGA V/3, 49) Für solche Geselligkeit konnten die Tee- und Whistabende der Hofpredigerin Bamberger, wo Schleiermacher logierte, keinen Ersatz bieten.Was er hier fand, war Amüsement, aber nach seinen ethischen Maßstäben keine gute Gesellschaft, wie er sie in Berlin gehabt hatte. Das Gegenbild zur moralischen Geselligkeit schildert ein Brief an Henriette Herz vom 4.4.1799: „Wie mirs gestern gegangen ist? Ja mein Gott schlecht genug.Whist habe ich gespielt […]. Dabei bin ich lustig gewesen und habe mich bei Tisch zu drei jungen Mädchen gesetzt und Spaß mit ihnen getrieben; auf der andern Seite hatte ich eine junge Frau, die hatte aber ein bischen Kolik und piepte mir gar zu viel, da habe ich sie sitzen lassen. Übrigens war schlechte Gesellschaft und schlechter Ton. Eine lebhafte kokette junge Postmeisterinn die einen alten Mann hat gabs noch; aber sie hätte dürfen hübscher sein für ihre Koketterie.“ (KGA V/3, 66 f.) Schleiermacher bedient sich hier gezielt eines Begriffs seiner Theorie des geselligen Betragens, wo er unter dem Ton den „den durch den Stoff bestimmten Charakter einer Gesellschaft“ versteht (KGA I/2, 174). Henriette Herz, mit der Schleiermacher als Ersatz für die fehlende Geselligkeit zum Teil mehrmals täglich korrespondierte, war offenbar mit dem Versuch bestens vertraut. Der „Ton“ ihres Hauses war es, der Schleiermacher fehlte, um den Aufsatz vollenden zu können. Zu dieser Feststellung kam Schleiermacher bereits am Tag nach seiner Ankunft in Potsdam, als er der vertrauten Freundin schrieb: „ich habe einen Dialog im Plato gelesen, ich habe ein kleines Stück Religion gemacht, ich habe Briefe geschrieben kurz ich habe alles versucht außer die gute Lebensart, und was soll ich mit der ohne Gesellschaft?“ (KGA V/3, 10) Die „gute Lebensart“ ist nichts anderes als der in Arbeit befindliche Aufsatz, und die „Gesellschaft“ ist jene „bessere Geselligkeit“, die sich – so Schleiermacher – „bei uns zuerst unter den Augen und auf Betrieb der Frauen bildet“ (KGA I/2, 178). Dies sei ein „Werk der Noth“, der Bindung der Frauen an das häusliche Leben, das bei ihnen unmittelbar mit dem Beruf zusammenfalle.Wenn nämlich der Mann, wie es in (schlechteren) Gesellschaften zumeist der Fall sei, „von seinem Beruf spricht, so fühlt er sich doch von einer Seite noch frei, nämlich von der häuslichen; dagegen die Frauen, bei denen beides zusammenfällt, bei einer solchen Unterhaltung alle ihre Fesseln fühlen. Dies treibt sie dann weg unter die Männer, bei denen sie denn, weil sie mit dem bürgerlichen Leben nichts zu thun haben, und die Verhältnisse der Staaten sie nicht interessieren, […] eben dadurch, daß sie mit ihnen keinen Stand gemein haben, als den der gebildeten Menschen, die Stifter der besseren Gesellschaft werden.“ (KGA I/2, 178) Aus Schleiermachers Sicht sind
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die Frauen Incitament der freien Geselligkeit, weil sie sich gegenüber den äußeren Zwecken des bürgerlichen und politischen Lebens gleichsam natürlicherweise indifferent verhalten, zugleich aber auch bestrebt sind, die Beschränkung auf das Hausfrauendasein zu überwinden. Ihre Emanzipation vom häuslichen Leben, wie es die Saloniere verkörpert, stellt jedoch nicht die bestehende Diskriminierung der Frauen im öffentlichen Leben in Frage, sondern etabliert, unter Umgehung der männlichen Domäne, eine besondere Sphäre, in welcher der Gegensatz der Geschlechter zugleich mit den Notwendigkeiten des häuslichen und öffentlichen Lebens temporär aufgehoben ist. (2) Der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens unternimmt es, „Geselligkeit“ auf drei miteinander vermittelten Ebenen zu bestimmen, der des formellen, der des materiellen und der des quantitativen Gesetzes (KGA I/2, 170). Von dieser deduktiven Folge weicht Schleiermacher in der Ausführung jedoch ab, indem er – wie seinen Aufzeichnungen zu entnehmen ist – das Problem durchaus als ein empirisches behandelt wissen wollte: „Eine Theorie kann auf doppelte Art zu Stande kommen aus dem Mittelpunkt heraus oder von den Grenzen herein[;] bei empirischen Dingen die zweite Art.“ (KGA I/2, 31, Nr. 120) Entsprechend beginnt der Aufsatz mit dem quantitativen Gesetz, und allein dies wird in dem vorliegenden Fragment ausgeführt. Dem sollten sich, in dieser Folge, die Erörterung des formellen und dann des materiellen Gesetzes anschließen. Das formelle Gesetz bezeichnet die allseitige Wechselwirkung, das materielle das durch die Mitteilung von Individualität angeregte freie Gedankenspiel und das quantitative die notwendige Beschränktheit einer bestimmten Gesellschaft, innerhalb derer allein sie als ein Ganzes bestehen kann. Deduktiv betrachtet, d. h. im Ausgang vom formellen Gesetz, ist die bestimmte Gesellschaft die beschränkte Realisierung einer reinen, allseitigen Wechselseitigkeit, in der Geben und Nehmen, Bestimmen und Bestimmtwerden Eins ist und jeder, indem er sich äußert, zugleich den Anderen anerkennt und von ihm anerkannt wird, so dass er darin zugleich bei sich selbst bleibt und dennoch unmittelbar Allgemeinheit gewinnt. Das formelle Gesetz formuliert demnach das romantische Ideal individueller Allgemeinheit, der Indifferenz aller Entgegensetzungen. Sozialphilosophisch ist dies das Ideal einer rousseauistischen citoyen-Romantik, welche die Übereinstimmung Aller zu Einem zum Programm der Überwindung entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse erhebt. Solche Utopie einer nichtentfremdeten Gesellschaft scheitert jedoch – auch im Bewusstsein der Romantiker – an ihrem Absolutheitsanspruch, der die Überführung aller Gegensätze in Indifferenz verlangt. Ein solcher Zustand wäre der, in dem die „Sehnsucht nach dem Unendlichen“ (F. Schlegel) befriedigt wäre. Als endliche Wesen aber reichen die Menschen mit ihren endlichen Mitteln nicht an
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des Unbedingte bzw. Absolute selbst heran. Die Sehnsucht lässt sich weder theoretisch noch praktisch befriedigen, sondern bildet nur die Triebkraft aller Versuche eines menschlichen Fortschritts. Diese haben mit der Realität der Entgegensetzung zu rechnen, die Schleiermacher mit dem materiellen Gesetz bezeichnet wissen wollte. Aus seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass er hier „Antithesen“ wie die von Wesen und Schein, Konventionalität und Humanität, Buchstabe und Geist aufgreifen wollte. Der Kern seiner Überlegungen kommt in einer Notiz zum Ausdruck, in welcher die Unhintergehbarkeit des Gegensatzes der Individuen und damit des Individuellen und Allgemeinen festgehalten wird: „Jede rechte Mittheilung ist ein Zurüktreiben des Eignen nach Innen, und bei jedem Ansprechen giebt man dem Andern ein Gefühl seiner Grenzen. Dies sind die Hauptpunkte im dritten [d.h. materiellen, Verf.] Gesez.“ (KGA I/2, 38 f., Nr. 171) Die absolut freie, allseitige Wechselwirkung also scheitert daran, dass in der Mitteilung etwas zurückbleibt, was nicht in die Vermittlung eingeht und dieser Grenzen setzt. Im Angesicht des Absoluten als der Indifferenz aller Gegensätze mögen die Menschen gleich sein und in ihrer Gottebenbildlichkeit gleich gelten; real – in der endlichen Wirklichkeit – bleiben sie unterschieden und unterscheiden sich dadurch, dass sie über einen Individualitätskern verfügen, der sich jeder Vermittlung entzieht. Das Individuum, dem Wortsinne nach ein unteilbares, ist eben deshalb auch nicht mit-teilbar. Wie die Vermittlung nicht an das Absolute heranreicht, so reicht sie auch nicht an das Göttliche in den Menschen heran. Sie bleiben daher – gerade weil sie Darstellungen des Unendlichen sind – einander in ihren vermittelten Beziehungen notwendig fremd. Sozialphilosophisch bedeutet dies: alle gesellschaftlichen Verhältnisse tragen den Stempel der Entfremdung und können diese bestenfalls minimieren, nicht aber vollständig aufheben. Das materielle Gesetz enthält bereits den Übergang zum quantitativen, sofern die Mitteilung, wie wir gesehen haben, bereits eine Teilung bedeutet und dadurch den Bereich der Wechselwirkung begrenzt. Die bestimmten Grenzen einer Gesellschaft geben ihr das jeweils eigene Gepräge; hier also befinden wir uns bereits auf dem Boden der Empirie.Von hier geht Schleiermacher aus, um dann das Wesen und moralische Ziel der bestehenden Gesellschaften im Rückgriff auf das im formellen Gesetz formulierte Ideal zu bestimmen. Die Vereinigung beider, des formellen und des quantitativen Gesetzes, sollte dann im materiellen Gesetz erfolgen, in dem das Ideal unter den Bedingungen der Realität nicht aufhebbarer Gegensätze reformuliert werden sollte. Schleiermacher kehrt den deduktiven Argumentationsgang vom Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen dahingehend um, dass das empirisch-Einzelne (quantitatives Gesetz) auf das Allgemeine (formelles Gesetz) bezogen und beides als in einem Besonderen (materielles Gesetz) vereinigt gedacht wird. Ausgangspunkt und Ziel ist daher die gesellschaftliche Realität selbst, wodurch die wissenschaftlich-deduktive Be-
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handlungsart des Problems, die im Hintergrund steht, sich dem anschmiegt, was Schleiermacher auch gern „wirkliches Leben“ nennt. Damit soll beispielhaft die von ihm immer wieder gestellte Forderung erfüllt werden, den Standpunkt der Spekulation ins Leben zu übertragen. Gleich am Beginn seines Versuchs lässt Schleiermacher keinen Zweifel daran, dass es sich beim geselligen Betragen nicht um ein marginales Thema handelt, sondern dass es dabei um den Kern der Humanisierung von Gesellschaft und die sittliche Vervollkommnung der Menschen geht. „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert“ (KGA I/2, 165). Das häusliche und bürgerliche Leben seien durch äußere Zwecke beschränkt und bedürften daher der Ergänzung durch einen dritten Zustand, „den freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen […]. Hier ist es nicht um einen einzelnen untergeordneten Zweck zu thun; […] hier ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt, und kann als ein Mitglied derselben handeln; dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiter bilden, und von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen. Dies ist der sittliche Zweck der freien Geselligkeit“ (KGA I/2, 165). Was hier angestrebt wird, ist das, was Kant unter der Autonomie im Sittlichen verstand. Die Tatsache jedoch, dass die moralische Selbstbestimmung dann,wenn sie im Ergebnis zugleich allgemeine Gültigkeit beansprucht, notwendig abstrakt und formell bleibt, führt hier zu der Einsicht, dass solche Autonomie nicht alle Sphären des sittlichen Lebens zu durchdringen vermag. Sie tritt daher zu den durch äußere Zwecke und Notwendigkeiten bestimmten Sphären des Handelns hinzu und realisiert sich in einer besonderen institutionellen Form der Geselligkeit und nur dort. Es ist, mit Marx zu sprechen, ein Reich der Freiheit, das auf der Basis eines Reichs der Notwendigkeit emporblüht. Seine Voraussetzung ist, wie Schleiermacher es in den Reden über die Religion betonen wird, die Befreiung vom Fluch der Arbeit, ihre Begrenzung durch die Entwicklung der Wissenschaften und mechanischen Künste. Aber auch unter dieser Voraussetzung greift die Welt instrumenteller Zwecke auf die zweckfreie Geselligkeit weiterhin über, sofern diese gezwungen ist, von ihnen ausdrücklich zu abstrahieren. Aufgabe des Theoretikers ist es, die Einheit von freier Geselligkeit und moralischer Tendenz nachzuweisen und dadurch das gesellige Leben im Unterschied zum praktischen Virtuosen und zum sich erbauenden Dilettanten als ein „Kunstwerk“ zu konstruieren (KGA I/2, 167). Als Selbstzweck steht die Geselligkeit dem Kunstschönen und den Regeln der künstlerisch-poietischen Produktion nahe; sie ist der Ort einer aus der Selbsttätigkeit der Individuen hervorgehenden
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ästhetisch-moralischen Bildung, wie denn auch die literarisch-ästhetischen Themen vorzüglich den Stoff der Geselligkeit bilden, weil darin bereits äußere Zwecksetzungen getilgt sind. Als Institution steht die freie Geselligkeit in der Nähe zum häuslichen Leben; ihr Zentrum ist das Haus bzw. der „Wirth“, aber sie überschreitet den häuslichen Zirkel, indem sie den oikos unter Umgehung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates erweitert und idealiter zur oikomene steigert (entsprechend denkt Schleiermacher in seinen späteren Entwürfen zur Ethik das weltumspannende sittliche Verhältnis der Staaten zueinander als freie Geselligkeit, nicht als Aufhebung der Nationen in einen Staatenbund oder Weltstaat). In beiden Bestimmungen, der Nähe zur ästhetischen und zur erweiterten häuslichen Welt, wird sachhaltig greifbar, dass und wie Schleiermacher seine Theorie tatsächlich am Modell des literarisch gebildeten Salons orientiert. Die freie Geselligkeit ist Gesellschaft im eigentlichen Sinne. Sie steht allen Formen „gebundener Geselligkeit“ gegenüber, in denen durch äußere Zwecke Gemeinschaften gebildet werden, deren Teilnehmer sich zueinander instrumentell und nicht in einer selbstbestimmten Wechselwirkung verhalten. Dies gilt für die durch Notwendigkeiten gestifteten Verbindungen des häuslichen und bürgerlichen Lebens ebenso wie für Formen der Geselligkeit, in denen die Möglichkeit zur allseitigen Wechselwirkung zurücktritt. Als Beispiele nennt Schleiermacher das Schauspiel und die Vorlesung, aber auch das gesellschaftliche Ereignis des Balls, „denn jeder Tänzer steht eigentlich nur mit der, die in diesem Augenblick seine Tänzerin ist, in Verbindung, und beide betrachten alle übrigen als Mittel oder Werkzeuge“ (KGA I/2, 169). Das Spiel komme der freien Geselligkeit noch am nächsten, allein, es sei die Selbstbestimmung hier noch dem Zufall unterworfen, der den dritten oder vierten Mann der Spielrunde bilde. Dagegen gilt für die freie Geselligkeit: „Es soll keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden. Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern.“ (KGA I/2, 170 f.) In diesem Zusammenhang nimmt Schleiermacher eine terminologische Unterscheidung vor, die – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – zu einem Grundthema der Gesellschaftstheorien des späten 19. und 20. Jahrhunderts werden sollte. Durch einen äußerlichen Zweck gebundene und bestimmte gesellige Verbindungen bezeichnet er als Gemeinschaften, koinoniai (in Anlehnung an die aristotelische koinonia politke). Gesellschaft (synousia) im engeren Sinne aber sei nur die freie Geselligkeit, denn in ihr sei „eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt“ (KGA I/2, 169). Seit Ferdinand Tönnies dagegen wird (übrigens mit beeinflusst durch Schleiermachers Ethik) die durch äußere Zwecke konstituierte und demgemäß durch ein gemein-
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sames Drittes vermittelte Verbindung als Gesellschaft, die unmittelbare Verbindung dagegen als Gemeinschaft apostrophiert. Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um eine Vertauschung der Vorzeichen. Für Tönnies, Litt und andere bezeichnet die „Gemeinschaft“ eine fundamentale, der gesellschaftlichen und politischen Vergesellschaftung vorausliegende Sphäre naturwüchsiger, organizistisch verstandener Gemeinsamkeit. Für Schleiermacher dagegen ist die unmittelbare Wechselwirkung der freien Geselligkeit nicht der Bodensatz der Vergesellschaftung, sondern das Produkt geschichtlicher Entwicklung im Horizont der Universalisierung von Humanität. In diesem Sinne steht der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens – wie die Frühromantik insgesamt – in der Kontinuität aufklärerischen Denkens. (3) Diese Kontinuität wird auf den ersten Blick dadurch überdeckt, dass Schleiermachers Aufsatz sich in eine polemische Kontraposition zu Adolph Knigges spätaufklärerischem Bestseller Über den Umgang mit Menschen begibt, dem er vorwirft, das gesellige Leben instrumentalisieren zu wollen. Im Unterschied zu Knigge geht es ihm nicht um die politische Durchsetzung des Bürgertums, sondern um einen moralischen Zustand, der sich indifferent zur ständischen Gliederung der Gesellschaft verhält. Nicht nur dieser politische Indifferentismus bringt ihn in die Nähe zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), deren Rezeption durch Schleiermacher sich zwar nicht belegen lässt, die er aber wohl gekannt haben dürfte. Wieweit er sie bei der Niederschrift des Versuchs vor Augen hatte, kann nicht mit Sicherheit ermittelt werden; offenkundig sind jedoch die sachlichen Parallelen. Auch für Schiller steht nicht der durch die Französische Revolution eröffnete politische Schauplatz im Vordergrund, sondern der Gedanke einer Bildung zur Freiheit und Humanität mit Hilfe der Schönheit. Diese ist das vermittelnde Dritte zu Natur und Freiheit und damit auch zwischen dem „Naturstaat“ und dem „Vernunftstaat“, der vollendeten Sittlichkeit. Diese geschichtsphilosophisch-spekulative Konstruktion wird in den Briefen aber bekanntlich nicht durchgehalten. Am Ende kippt die Argumentation um, indem die Schönheit vom Mittel zum Selbstzweck und Ziel gemacht wird. Nicht der „Vernunftstaat“, sondern der „ästhetische Staat“ ist es, in dem sich die ästhetische Erziehung erfüllt, damit zugleich aber ihren politisch-emanzipatorischen Anspruch preisgibt. Schillers Apotheose des ästhetischen Staats im 27. Brief liest sich wie eine Vorwegnahme dessen, was Schleiermacher als freie Geselligkeit bezeichnet: „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihm von allem,was Zwang heißt, sowohl im Physischen
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als im Moralischen entbindet.“⁵ Das Grundgesetz dieses Staates sei es, „Freiheit zu geben durch Freiheit“; in ihm allein sei die Gesellschaft wirklich, „weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.“⁶ Die Ausbildung dieser Natur zum „geselligen Charakter“ ist es, was durch die Schönheit bewirkt wird; dieser Charakter äußert sich in der „schönen Mitteilung“ als dem Vereinigenden der Individuen. Der ästhetische Staat ist demnach ein Reich des schönen Scheins in der moralischen Welt, aber eines Scheins, der Selbstzweck ist und „weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht.“⁷ Durch diesen Schein, als dessen Grundform Schiller die „Höflichkeit“ bestimmt, werde jenseits aller realen Unterschiede ein geselliges Reich der Gleichheit konstituiert, die auch nur dort Wirklichkeit haben könne: „Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben.“⁸ Auch dieses Reich der Freiheit und Gleichheit ist freilich nicht universell, sondern in der Wirklichkeit beschränkt auf „wenige auserlesene Zirkel“, wo „eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch […] weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.“ Schleiermacher stimmt mit Schiller darin überein, dass die Welt des moralischen Scheins in der Geselligkeit nicht bloßer Schein im Sinne eines Unwahren ist, sondern eine eigene Wahrheit und Realität hinter sich hat und daher auch Wirklichkeit begründet, nämlich wirkliche Gesellschaft, die allein diesen Namen verdient. Auch darin, dass diese Wirklichkeit nicht die ganze moralische Welt zu durchdringen vermag, sondern nur in beschränkten Zirkeln hervortritt, die auf dem Boden des Reichs der Notwendigkeit aufblühen, kommt er mit Schiller überein. Im Unterschied zu Schiller jedoch, der eher noch eine idealisierte höfische Geselligkeit vor Augen hatte, die sich um den aufgeklärten Fürsten gruppierte, orientiert sich Schleiermacher an den Salons der vorwiegend bürgerlichen Häuser, die das Erbe der höfischen Gesellschaften angetreten bzw. – gerade in Preußen – das Vakuum einer fehlenden höfischen Geselligkeit ausgefüllt hatten.⁹
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1993, 125. Ebd., 25 f. Ebd., 116; zum Folgenden vgl. 117. Ebd., 128 (auch das folgende Zitat). Vgl. zur Entwicklung der Salonkultur insgesamt und besonders zu den Berliner Salons Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780 – 1914), Berlin und New York 1989.
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Gleichwohl verweist das Zusammenklingen von „Hof“ und „Höflichkeit“ in dem, was Schiller den „schönen Ton“ nennt, auf eine historische Tiefendimension auch des Schleiermacherschen Versuchs einer Theorie des geselligen Betragens. Die Aufklärungsphilosophie hatte sich selbst im Gegensatz zu den vermeintlich leeren Disputierkünsten der Scholastik verstanden und dabei auf den praktischen Nutzen der Wissenschaften und Künste abgestellt. Sie stand wesentlich im Zeichen der Vereinigung von Theorie und Praxis, von Philosophie und Leben. Im Zuge dieser lebenspraktischen Orientierung gewann auch das antike Verständnis der Philosophie als ars vivendi neue Bedeutung: die Vernunft sollte das Verhältnis der Menschen zueinander durchdringen und ihnen als praktische Lebensklugheit Regeln des Verhaltens an die Hand geben. Dieser Seite nahm sich besonders die Popularaufklärung an, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ungebrochen fortwirkte; verwiesen sei hier nur auf Johann Jakob Engels Philosoph für die Welt, dem Schleiermacher eine polemisch-ablehnende Rezension widmete.¹⁰ Die Welt, die da gemeint war, war aber frühaufklärerisch die höfische Welt, der Weltmann der gebildete Höfling und die Weltphilosophie Hofphilosophie, philosophia aulica. Diese „galante“ Wissenschaft des guten Lebens hatte eine „ritterliche“ Bildung zum Ziel und war außerhalb der Universitäten an sogenannten „Ritterakademien“ institutionalisiert.¹¹ Christian Thomasius griff in seinem philosophischen Erstling, der Introductio ad philosophiam aulicam (1688), auf diese neben der Schule angesiedelte Tradition zurück, um sie in die Universitätsphilosophie zu integrieren. Sie fand dann auch Eingang in seine deutschsprachige „bürgerliche“ Philosophie, die bewusst Standes- und Geschlechtsunterschiede beiseitesetzte. Hervorzuheben ist hier der Kurtze Entwurff der politischen Klugheit, sich selbst und anderen in allen menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen und zu einer gescheidten Konduite [Betragen] zu gelangen (1705). Dieses gescheite gesellschaftliche Betragen vollzieht sich vor allem in der „Conversation“, deren Regeln daher einen breiten Raum in der Moralphilosophie einnehmen. Schleiermachers Versuch setzt diese aufklärerische Tradition einer um die gute Lebensart bemühten Philosophie nahezu ungebrochen fort, wobei er der Verschiebung des Bezugspunktes von der Hofphilosophie zur bürgerlichen Philosophie folgt. Mit dieser Tradition verbindet ihn auch der Gegensatz gegen eine gegenüber dem Leben fremde Scholastik, die ihm jetzt freilich in der Gestalt einer verwissenschaftlichten Philosophie entgegentritt, wie Fichte sie mit seiner Wis-
KGA I/3, 227– 234. Vgl. hierzu und zum Folgenden Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945 (Reprint Hildesheim 1992), 27 ff. In seinem Nachwort zu Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Frankfurt/Main 1977, hat Gert Ueding ebenfalls auf die höfische Tradition aufmerksam gemacht, die sich im 18. Jahrhundert mit dem citoyen-Ideal vereinige.
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senschaftslehre vorgelegt hatte. Vor allem ihm gegenüber beharrt Schleiermacher auf der Verbindung von Philosophie und Leben im Sinne einer gelebten Sittlichkeit, die auch theoretisch konstruiert werden müsse.¹² Während jedoch in der französischen Aufklärung die außeruniversitär, in Akademien und Salons institutionalisierte Philosophie immer mehr auf eine politische Durchsetzung des „guten Lebens“ abzielte, blieb Schleiermacher in den Grenzen eines neuhumanistischen Bildungsprogramms befangen, das die gesellschaftliche und politische Freiheit durch die Konventikel freier Geselligkeit ersetzte, um in ihnen das Ideal der Gesellschaft rein anschauen zu können. (4) Die „freie Geselligkeit“ im Schleiermacherschen Verständnis ist eine Form moralischer Vergesellschaftung, die durchgängig auf Wechselseitigkeit beruht, also intersubjektiv bzw. kommunikativ konstituiert wird. Sie steht neben einer Welt des instrumentellen Handelns, der äußeren Zwecke, der gegenüber sie die wahre Gesellschaft ist. Um dieser Wahrheit Willen ist Schleiermacher (wie Schiller) um den Nachweis bemüht, dass der gesellige bzw. schöne Schein (die Geselligkeit als Kunstwerk) eine eigene Realität habe. Hierbei ist vor allem Kant sein theoretischer Gegner. Eine Notiz Schleiermachers zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) aus dem Umkreis der Vorarbeiten gibt hierüber näheren Aufschluss. Es heißt dort, Kant sehe „in den geselligen Vollkommenheiten nur schlechten Schein und schäzt sie nur als solchen“ (KGA I/2, 39, Nr. 172). Schleiermacher dagegen betrachtet die „gute Lebensart“ als einen „Widerstreit des Wesens mit dem Schein“ (KGA I/2, 26, Nr. 92), als eine „Antinomie“ (d. h., im Kantischen Sinne, als einen Widerstreit zweier Gesetze). Sie beruhe darauf, dass sich jeder „seiner eignen Humanität durch seine freie Thätigkeit“, aber auch „der Humanitaet der Andern durch ihre Wirkung bewußt werden soll.“ (KGA I/2, 30, Nr. 116) Der Schein ist hierbei das Sich-Bestimmenlassen von den Anderen und das Bestimmen der Anderen, während sich in der gelingenden Wechselwirkung der geselligen Individuen in Wahrheit eine Indifferenz von Selbst- und Fremdbestimmung realisiere: „Wechselwirkung ist nur da wo jede Thätigkeit des einen Wirkung des andern ist.“ (KGA I/2, 34, Nr. 146) Die Theorie des geselligen Betragens nimmt also die grundlegende Problematik des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit auf, um zu zeigen, wo und mit welchen Mitteln diese Antinomie lebenspraktisch aufgelöst werden kann. Der dialektische Schein der Antinomie hebt sich in der Wahrheit gelebter Wirklichkeit auf.
Vgl. z. B. an Carl Gustav von Brinckmann, Ende 1799; KGA V/3, 313 f: „Fichte […] habe ich freilich kennen gelernt – er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt“.
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Dies ist zugleich eine Auseinandersetzung mit Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), wo im § 5 eine auf Dauer unlösbare, sich immer wieder erneuernde „Antinomie im Praktischen“ behauptet wird, die sich im Widerstreit von Bestimmtwerden und Bestimmen darstellt. Fichte wollte die Antinomie dadurch entschärfen, dass er den Widerstreit zum Schein erklärte und im Vermögen der Einbildungskraft stillstellte, das die Widersprechenden spielerisch synthetisieren konnte. Damit aber blieb auch die Synthese dem Schein verhaftet, während Schleiermacher ihr dadurch Realität verschaffen will, dass er ihr gleichsam einen Sitz im Leben anweist. In den empirischen Gesellschaften bleibt sie zwar begrenzt und kann sich nur in einem temporären Schwebezustand gelingender Kommunikation durchsetzen, gleichwohl gewinnt sie auf diese Weise gesellschaftliche Wirklichkeit. Das Mittel zur Lösung der Antinomie im Praktischen ist, dem Selbstzweckcharakter der freien Geselligkeit entsprechend, nicht ein auf Äußeres gerichtetes Handeln, denn dieses würde – in Fichtescher Terminologie – ein Nicht-Ich voraussetzen und dadurch die Antinomie unendlich machen. Das wahrhaft gesellschaftliche Handeln kann daher nur eines sein, das in sich selbst bleibt und in der Berührung des Anderen nur sich selbst erfasst. Hier stehen sich nicht Ich und Nicht-Ich, sondern – in der Terminologie Friedrich Heinrich Jacobis und der an ihn anknüpfenden dialogischen Philosophie – Ich und Du, Ego und alter Ego gegenüber. Ihr Verhältnis ist das einer symmetrischen Wechselseitigkeit oder Wechselwirkung, des Sich-Findens im Anderen, der unmittelbaren Einheit, die Indifferenz bedeutet und darin ebenso unmittelbar die gleichgültige Differenz wieder freigibt, sofern Jeder bei sich selbst bleibt. Dieses beständige Oszillieren zwischen dem Selbst und dem Anderen, dem Individuellen und dem Allgemeinen, erscheint als ein beständiges Hin- und Herwenden der entgegengesetzten Bestimmungen, die darin ununterscheidbar werden. Was der Form nach als reine, allseitige Wechselwirkung gilt, realisiert sich materiell in der Konversation, dem Wortsinne nach ein Hin- und Herwenden. Sie ist Selbstzweck, d. h. es kommt nicht darauf an, welcher bestimmte Stoff ihr zugrunde liegt, sondern ob sich im Ausgang von diesem Stoff eine freie Wechselwirkung entfaltet, deren Inhalte letztlich beliebig sind. Die Konversation ist das Mittel zur Lösung praktischer Antinomien. Mit ihr wird ein Gesprächsraum etabliert, der die Gegensätze des häuslichen und bürgerlichen Lebens ausgrenzt und ebenso das Strittige bestimmter Inhalte beiseitesetzt. Die „Lösung“ der Widersprüche besteht daher darin, sie als gleich-gültig zu behandeln, d. h. sie im Horizont einer prinzipiell als möglich unterstellten Einheit in Indifferenz zu überführen. Was dann übrigbleibt, ist das Sich-hin-undher-wenden zwischen den als gleichgültig betrachteten Gegensätzen nach den
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Regeln der Konversation. Diese selbst aber können von allen als unstrittig angenommen werden, sofern sie überhaupt an dem Gespräch teilnehmen wollen. Schleiermachers Konstruktion eines idealen, von allen äußeren Zwecksetzungen freien und daher „herrschaftsfreien“ Gesprächs als Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher und philosophischer Selbstverständigung, kann mit Recht in die Nähe von Konzepten kommunikativer Vernunft gerückt werden. Wie diese operiert auch Schleiermacher mit einer Trennung gesellschaftlicher Sphären, der Arbeit bzw. des instrumentellen Handelns einerseits, der Interaktion bzw. des kommunikativen Handelns andererseits. Trotz aller Unterschiede, die etwa zwischen seinen und Habermas’ Positionen namhaft zu machen wären: der Blick zurück auf Schleiermacher kann deutlich machen, dass ein sich als „nachmetaphysisch“ verstehendes, kommunikatives Denken die Voraussetzung einer als Indifferenz hervortretenden Einheit jenseits der Entgegensetzungen noch in Kurs lässt. Und dieser Blick zurück vermag auch deutlich zu machen, welcher Preis für eine Theorie der kommunikativen Vergesellschaftung letztlich zu entrichten ist: sie begibt sich nicht ins Gestrüpp der wirklichen Gegensätze, sondern verhält sich ihnen gegenüber kontrafaktisch, um die wirkliche Sittlichkeit auf einer anderen Ebene – etwa der des herrschaftsfreien Diskurses – behaupten zu können. Solche Sittlichkeit aber kann, ebensowenig wie Schleiermachers Geselligkeit, das Ganze der Gesellschaft übergreifen und die Möglichkeiten eines guten Lebens an deren bestimmten Widersprüchen orientieren. Mit dem Verlust der institutionellen Formen „freier“ Geselligkeit, die Schleiermacher als Medium bürgerlicher Selbstverständigung noch vorfand, ist die Idee kommunikativer Vergesellschaftung als das kenntlich geworden, was sie schon immer war: eine Illusion der Epoche, die sich zum transzendentalen Ideal verflüchtigt.
4 Von der Amphibolie religiöser Rede. Religion und Philosophie in Schleiermachers „Reden über die Religion“ Wie wohl kein anderer Autor seiner Epoche hat Friedrich Schleiermacher in den Reden über die Religion den, wie er es nennt, „schneidenden Gegensatz“ betont, „in welchem sich die Religion gegen Metaphysik und Moral befindet.“ (KGA I/2, 211) Damit will er eine Zweideutigkeit beseitigen, die sich daraus ergibt, dass Philosophie und Religion „denselben Gegenstand haben, nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“; diese Gleichheit sei „von lange her ein Grund zu mancherlei Verirrungen gewesen“ (KGA I/2, 207 f.). Die Religion wolle das Universum weder „bestimmen“ noch „erklären“ wie die Metaphysik, noch „fortbilden“ und „fertig machen“ wie die Moral (ebd.). Das religiöse Bewusstsein habe vielmehr einen eigenen Zugang zum Universum in Anschauung und Gefühl. Der „schneidende Gegensatz“ reicht jedoch gar nicht so tief, wie es zunächst den Anschein hat. Dies gilt in zweierlei Hinsicht. Zum einen: Der Sinn für Religion ist zwar für Schleiermacher ein eigenes Vermögen neben Wissen und Handeln, jedoch ist der Träger dieser Vermögen das Individuum, also eine in sich zwar unterschiedene, aber doch unteilbare Einheit. Philosophie und Religion müssen daher einander zwar nicht entsprechen, sie dürfen sich aber auch nicht widersprechen. Insofern bilden sie wiederum eine Einheit. Was für das Subjekt des philosophischen und religiösen Bewusstseins gilt, gilt aber noch mehr für den Gegenstand. Der Bezug auf das Universum ist die Erfahrung einer absoluten Identität. Erlebnis und Perspektive dieser Einheitserfahrung verbindet Schleiermacher mit dem Namen Spinozas (KGA I/2, 213): das Individuelle ist Moment des Universums, der All-Einheit, aber so, dass diese Einheit nur in dessen Individuationen oder Modifikationen zugänglich wird. Philosophie und Religion sind demnach auch nur Darstellungen einer Einheit, der sie beide zugehören. Jenseits der Rede vom „schneidenden Gegensatz“ sind Religion und Philosophie demnach auf vielfältige Weise miteinander verbunden und die Grenze zwischen ihnen löst sich in derjenigen Identität auf, auf die sich beide beziehen. Die Selbstdarstellung und Begründung des religiösen Bewusstseins steht daher immer in der Gefahr, Grenzen zu überschreiten und missverstanden zu werden: ihr eignet eine unabweisliche Amphibolie, wie sie gerade in den Reden zum Ausdruck kommt, die philosophische Positionen integrieren und sich zugleich von der Philosophie absetzen. Ich möchte diese Verbindungen und Abgrenzungen in vier Schritten zu rekonstruieren versuchen. In einem ersten Schritt frage ich zunächst nach dem Status und der Struktur religiösen Bewusstseins im Unterschied zur Philosophie
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(1). Hier beruft sich Schleiermacher auf Spinozas Philosophie, um das „Anschauen des Universums“ zu charakterisieren; dieser Bezug auf Spinoza steht im Mittelpunkt des zweiten Teils meiner Ausführungen (2). Dabei wird deutlich, dass Schleiermacher auf implizite metaphysische Annahmen zurückgreift, die er unter dem Titel des „Mystizismus“ verhandelt, und mit denen ich mich im dritten Teil auseinandersetze (3). Und schließlich möchte ich noch eine kurze Überlegung anschließen, wie das Verhältnis von Philosophie und Religion mit und gegen Schleiermacher gedacht werden könnte (4). (1) Das religiöse Bewusstsein wird von Schleiermacher im Kontext der Reden zunächst als Passivität bestimmt. Das Wesen der Religion, so heißt es, sei „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen,von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen.“ (KGA I/2, 211) Die Bestimmung der Religion als Passivität bedeutet, dass die Aktivität von dem Angeschauten ausgeht, einem „Handeln“ des Universums auf uns, welches von dem Anschauenden „seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird“ (KGA I/ 2, 213 f.). Das Anschauen des Universums bezieht sich auf dieses Handeln, denn das Universum ist für Schleiermacher wesentlich eine ununterbrochene Tätigkeit und Offenbarung, d. h. Selbstmanifestation.¹ Nicht das Universum an sich, sondern seine Wirkung auf uns ist demnach Gegenstand der Anschauung. Man kann hierin eine kritische Brechung der spinozistischen Metaphysik erkennen, die Schleiermacher bereits mehrere Jahre zuvor in seinem Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems vollzogen hatte. Er formuliert dabei eine von Jacobi in seinem Spinozabuch zitierte These um, wonach „jedes endliche Ding alle Eigenschaften der Gottheit offenbaren müsse“; Schleiermacher ersetzt die „Eigenschaften der Gottheit“ durch die „Eigenthümlichkeiten des anschauenden“ und kommentiert wie folgt: „der absolute Stoff ist fähig die Form eines jeden Vorstellungsvermögens anzunehmen, er besizt bei der vollkomnen unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit eine unendliche (mittelbare) Vorstellbarkeit“ (KGA I/1, 575). In den Reden wird dies so aufgenommen, dass das Handeln des Universums auf uns Religion erzeugt, indem wir „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung
Ebd.; bereits in seinem Manuskript „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems“ von 1793/94 führt Schleiermacher den Gedanken der Inhärenz „auf die Idee von dem Fluß der endlichen Dinge“ zurück (KGA I/1, 564).
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des Unendlichen hinnehmen“, wobei wir „in die Natur und Substanz des Ganzen“ selbst nicht eindringen können (KGA I/2, 214). Dass unser Vorstellen von Endlichem als Darstellung des Unendlichen hier unter der passiven Form des Hinnehmens erscheint, hat seinen Grund darin, dass Schleiermacher von einer ursprünglichen Anschauung ausgeht, in der Rezeptivität und Spontaneität noch ungeschieden sind; dies entspricht, worauf Peter Grove hingewiesen hat, Reinholds Begriff der Anschauung als unmittelbarer Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand; hierbei ist die Vorstellung noch nicht bewusste oder vorgestellte Vorstellung, die sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht. Gerade wegen dieser ‚Ungegenständlichkeit‘ ist diese Anschauung, die nicht mit der empirischen Anschauung im Kantischen Sinne in Verbindung gebracht werden darf, ein geeigneter Kandidat dafür, den Bezug auf das nicht vorstellbare Universum zu bezeichnen. Tatsächlich legt Schleiermacher dem religiösen Bewusstsein ein Einheitserlebnis zugrunde, in dem wir mit dem Universum verschmelzen und zwischen ihm und unserer Anschauung nicht unterscheiden. Dieses Erlebnis, über das wir nur uneigentlich sprechen können, legt offenbar erst die religiöse Deutung der Anschauung von Einzelnem unter dem Gesichtspunkt des Unendlichen nahe. Denn festzuhalten ist das Einheitserlebnis nicht: „Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Röthe der Schaam und der Lust auf seiner Wange“ (KGA I/2, 221 f.). Die praereflexive Einheit der Anschauung und des Gefühls tritt auseinander in die abgesonderte Anschauung einerseits, die zum Objekt der Reflexion wird („ich meße sie“) und sich ihrerseits reflektiert („spiegelt“), sowie das Gefühl andererseits, das als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (KGA I/2, 212) das Innewerden jener praereflexiven Einheit bedeutet. Man darf Schleiermachers Ausführungen nicht so verstehen, als ob die Anschauung des Universums ein isolierter Akt sei, der für sich vollzogen werde und so etwas wie einen Totaleindruck jenseits des Besonderen meine.Vielmehr ist, wie schon gesagt, nicht das Universum an sich, sondern sein Handeln auf uns Gegenstand der Anschauung. Dieses Handeln ist Individuation als Selbstmanifestation des Universums: „Jede Form die es hervorbringt, jedes Wesen dem es […] ein abgesondertes Dasein giebt, jede Begebenheit […] ist ein Handeln deßelben auf Uns“ (KGA I/2, 214). An dieser Stelle führt Schleiermacher auch den Gottesbegriff als Äquivalent für „Universum“ ein, wenn er sagt, es sei Religion, alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorzustellen, aber leere Mythologie, „über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt“ zu grübeln
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(KGA I/2, 214). Die Anschauung des Universums ist daher immer mit dem Einzelnen verbunden, welches als Handlung des Universums aufgefasst wird. Ausdrücklich stellt Schleiermacher fest: „Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes“, und daher bleibe die Religion „bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen“ (KGA I/2, 215) stehen. Während die Philosophie versucht, die einzelnen (empirischen) Anschauungen zu verbinden und zu einem systematischen Ganzen zusammenzustellen, wobei sie diese in Begriffe transformiert, betrachtet die Religion unmittelbar das Einzelne als Selbstmanifestation des Universums. Als Sinnbild der Religionen – nämlich im strikten Sinne als Bild auf der Ebene der sinnlichen Anschauung – verweist Schleiermacher auf den „bewunderten und gefeierten Sternenhimmel“ (KGA I/2, 215). Er erscheint ohne Zentrum, ohne „Schein von System“ und dieses „unendliche Chaos, wo freilich jeder Punkt eine Welt vorstellt, ist eben als solches in der That das schiklichste und höchste Sinnbild der Religion“ (KGA I/2, 216). Religion ist demnach bestimmt durch eine spezifische Art und Weise, sich auf das Ganze, das Universum zu beziehen. Religion betrachtet das Einzelne unmittelbar als Teil und Darstellung des Ganzen. Aufgrund dieser Unmittelbarkeit sind Teil und Ganzes nicht mehr unterschieden. Dass etwas Einzelnes als das Ganze angeschaut wird, hat daher genau genommen zwei Bedeutungen: das Universum – das Eins – wird angeschaut als in Allem; und zugleich wird Alles angeschaut als in dem Einen, dem Universum.² Die Unmittelbarkeit der Anschauung ist es, durch welche sie im Vorfeld der Philosophie bleibt, die das Einzelne entweder denkend bestimmen oder aber handelnd verändern will; beides sind Figuren der Vermittlung, nicht der Unmittelbarkeit, welche das religiöse Bewusstsein in Anspruch nimmt. (2) Für sein Konzept religiösen Bewusstseins greift Schleiermacher in den Reden auf Spinoza zurück. Die bekannte Apotheose Spinozas, der voller Religion und voll heiligen Geistes gewesen sei, steht unmittelbar vor der zentralen These, das „Anschauen des Universums“ sei „die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (KGA I/2, 213). Mit der Berufung auf Spinoza befindet sich Schleiermacher in bester Gesellschaft. Seitdem Jacobi 1785 seine Version des Wolfenbütteler Ge-
Vgl. KGA I/2, 245: „Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit überr einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener?“
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sprächs mit Lessings Bekenntnis zu Spinoza veröffentlicht hatte,³ galt Spinoza Vielen – mit Ausnahme vor allem Kants und Jacobis selbst – als „theissimus“ und „christianissimus“, wie Goethe es formulierte.⁴ Für Schleiermacher geht es aber nicht nur um die Vereinbarkeit Spinozas mit einem – und sei es auch christlich geprägten – religiösen Bewusstsein. Ihm geht es vielmehr darum, Spinozas Philosophie für den Kern des religiösen Bewusstseins, das Anschauen des Universums, zu reklamieren, also gerade für das, wodurch es sich von der Philosophie unterscheidet. Die Philosophie soll zum Kronzeugen der Nichtphilosophie gemacht werden, und zwar nicht durch eine Selbstbegrenzung der Philosophie etwa nach dem Vorbild Kants. Spinoza ist für Schleiermacher vielmehr deshalb voll des Heiligen Geistes, weil er in Wahrheit gar keine Philosophie vorträgt, sondern etwas Anderes zur Philosophie. Die Abgrenzung von Philosophie und Religion, der „schneidende Gegensatz“, mit dem Schleiermacher anfängt, dient in der Tat auch dazu, die Ansprüche des philosophischen Erkennens überhaupt zu beschneiden. Unmittelbar vor dem bekannten Hymnus an Spinoza wird der Religion eine solche Funktion für die Philosophie ausdrücklich zugeschrieben. Sie bilde das „Gegengewicht“ zu dem „Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus“, indem sie ihn „einen höheren Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet.“ (KGA I/2, 213) Gemeint ist die Fichtesche Philosophie, welche die Realität der Außenwelt dem Ich unterordnet. Es geht Schleiermacher hierbei nicht um eine philosophische Widerlegung des Fichteschen „Idealismus“, also eine Selbstbegrenzung der Vernunft, sondern um die äußere Begrenzung der Spekulation durch einen „höheren Realismus“, der den Absolutheitsanspruch des Ich bricht, und eben hierfür steht Spinoza, der damit aber gerade nicht, und dies wird vielfach übersehen, als spekulativer Philosoph ins Spiel gebracht wird, auch wenn Schleiermacher meint, mit ihm als Philosophen in der Sache einig zu sein. Im Hintergrund von Schleiermachers Inanspruchnahme Spinozas für das religiöse Bewusstsein steht eine Denkfigur Friedrich Schlegels: er interpretiert nämlich Spinoza als Mystiker des Unendlichen oder Absoluten.⁵ In seinen phi-
Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, Hamburg 1998 (Werke, Bd. 1, 1), 16 – 30. Goethe an Jacobi, 9.6.1785, in: Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, hg.v. M. Jacobi, Leipzig 1846, 85. Vgl. Andreas Arndt: „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Friedrich Heinrich Jacobi und die klassische deutsche Philosophie, hg.v. W. Jaeschke und B. Sandkaulen, Hamburg 2004, 126 – 141.
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losophischen Notizheften, die Schleiermacher gut kannte, hatte er die Auffassung vertreten, dass die wahre, kritische Philosophie drei „Abarten“ der Philosophie synthetisieren müsse, nämlich den Mystizismus, den Empirismus und den Skeptizismus.⁶ Der Mystizismus ist dabei eine Gestalt der „philosophirende[n] Unphilosophie“.⁷ Diese Unphilosophie ist aber nicht das Andere zur Philosophie, sondern unkritische Philosophie. Der Mystiker ist „Meister in der Urwissenschaft des Absoluten“⁸ und die obersten Meister sind keine Geringeren als Spinoza und Fichte.⁹ Sie sind durch das Absolute „ganz absorbirt“, was sie in Bezug auf die empirische Welt „durchaus unfähig macht und ungeschickt“, und so ist der Mystizismus als ausschließliche Beschäftigung mit dem Absoluten „der Abgrund in den alles versinkt“.¹⁰ Von den Mystikern müsse man „jetzt die Philosophie lernen“,¹¹ sofern die wahre Philosophie eine Philosophie des Absoluten sein müsse, aber das Wesen und der Anfang des Mystizismus sei „das willkührliche Setzen des Absoluten“,¹² dessen philosophische Annahme, wie Schlegel betont, „analytisch gerechtfertigt und erwiesen werden“ müsse.¹³ Im Unterschied zum frühen Friedrich Schlegel ist der Mystizismus für Schleiermacher keine Abart der Philosophie, sondern das Andere zur Philosophie. „Der scheinbare Streit der neueren PopularPhilosophie gegen den Mysticismus“, so heißt es in einem Brief Schleiermachers an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann vom 19.7.1800, habe Jacobi „die falsche Meinung beigebracht, als ob es in der That einen Streit zwischen der Philosophie und der Mystik geben könne, da doch im Gegentheil jede Philosophie denjenigen der soweit sehen kann und soweit gehn will auf eine Mystik führt.“ (KGA V/4, 169) Dies ist aber für Schleiermacher schon ein Überschreiten der Philosophie, denn der „Schein“ des Zusammenhanges von Philosophie und Mystik komme nur daher, „weil sie sich in der Tangente berühren“ (KGA V/4, 169 f.). Mystizismus und Philosophie verhalten
Vgl. näher Andreas Arndt: „Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796 – 1801“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), 257– 273. KFSA 18, 13, Nr. 101. Ebd., 7, Nr. 39. Vgl. ebd., 5, Nr. 12: „Spinosa der beste uns bekannte Mystiker vor Fichte.“ Ebd., 3, Nr. 4. – Im gleichen Sinne wird Hegel später in Bezug auf Spinozas Substanz sagen: „Die Seele muß sich baden in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist die Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muß“ (HW 20, 165). KFSA 18, 5, Nr. 11. Ebd., 4, Nr. 7. Ebd., 512, Nr. 71. Vgl. Birgit Rehme-Iffert: Skepsis und Enthusiasmus, Würzburg 2001, 40 ff.
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sich nach Schleiermacher wie Religion und Philosophie, und deshalb lässt sich zwischen ihnen auch keine Alternative herstellen.¹⁴ Das „Anschauen des Universums“ hat einen offensichtlichen terminologischen und auch strukturellen Bezug zu Spinozas dritter Erkenntnisart, der scientia intuitiva. Warum Spinoza hier von Intuition spricht, ist nicht ganz eindeutig zu bestimmen. Sicher hingegen ist, dass Spinoza hiermit weder Unmittelbarkeit noch Präreflexivität meint; Konrad Cramer hat dies deutlich ausgesprochen: „Spinozas anschauende Erkenntnis des Universums ist denkendes Begreifen des Universums, Schleiermachers Anschauung des Universums […] nicht“.¹⁵ Die intuitive Erkenntnis ist weder erfahrungsmäßig noch aus Allgemeinbegriffen gewonnen, wie in den ersten beiden Erkenntnisarten, sondern bezeichnet ein Wissen, welches „von der adäquaten Vorstellung gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntniss der Wesenheit der Dinge“ übergeht.¹⁶ Die dritte Erkenntnisart kommt dort zum Zuge, wo wir, nach Lehrsatz 24 des fünften Teils der Ethik, Gott umso mehr erkennen, je mehr wir die einzelnen Dinge erkennen. Gegenüber Schleiermachers These, dass wir im religiösen Bewusstsein das Einzelne als das Ganze anschauen – in der doppelten Bedeutung, dass Alles in Einem und Eins in Allem ist –, bedeutet das bei Spinoza, dass Gott als Ursache der Einzeldinge in ihrer Singularität angesehen wird.¹⁷ In dieser Art der Erkenntnis wird, wie Spinoza sich ausdrückt, der Geist von zweierlei Vorstellungen „begleitet“, nämlich der Vorstellung seiner selbst und der Vorstellung Gottes als Ursache.¹⁸ Hieraus entspringt der Amor Dei intellectualis, der als Liebe des Geistes zu Gott zugleich „Gottes Liebe selbst“ ist, „womit Gott sich selbst liebt […] sofern er durch die unter der Form der Ewigkeit betrachtete Wesenheit des menschlichen Geistes erklärt werden kann“.¹⁹ Weder die scientia intuitiva noch der Amor Dei intellectualis haben etwas mit Anschauung, Gefühl und Unmittelbarkeit im Schleiermacherschen Sinne zu tun. Es sind Figuren der denkenden, begreifenden Erfassung eines philosophischen Gottesbegriffs. Der Ausblick auf Religion als eine eigene Provinz im menschlichen Gemüt eröffnet sich dabei nicht, denn es geht nicht um Religion, sondern um philosophische Spekulation. Vgl. Schleiermachers Notiz aus dem Heft „Leibniz I“ (1797/98): „Ohne Mysticismus ist es nicht möglich consequent zu seyn, weil man seine Gedanken nicht bis zum Unbedingten verfolgt“ (KGA I/2, 83). Zur Verbindung von Mystizismus (Schleiermacher spricht hier vom „morgenländischen“) und Religion in den Reden vgl. KGA I/2, 262. Konrad Cramer: „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, hg.v. U. Barth u. C.-D. Osthövener, Berlin und New York 2000, 141. Teil 5, Prop. 25, Dem. Vgl. Cramer: „‚Anschauung des Universums‘“, 138. Teil 5, Prop. 32, Dem. Prop. 36.
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(3) Ist also alles nur ein Missverständnis? Wohl kaum. Wenn, um noch einmal an den zitierten Brief Schleiermachers an Brinckmann zu erinnern, jede Philosophie auf eine Mystik führt, dann sieht sich Schleiermacher offenbar berechtigt, die Philosophie im Geiste dieser Mystik zu interpretieren. Zwar lässt sich ihm zufolge die Mystik nicht aus der Philosophie deduzieren (KGA V/4, 169) und daher wohl auch umgekehrt die Philosophie nicht stringent aus einer Mystik ableiten; wohl aber – so wird man Schleiermacher verstehen dürfen – atmet jede Philosophie einen mystischen Geist jenseits ihrer Buchstaben. Diesen Geist, so meine These, nimmt Schleiermacher in Anspruch, wenn er Spinoza zum Kronzeugen des religiösen Bewusstseins anruft, und er muss sich dabei, seinen eigenen Voraussetzungen entsprechend, auch nicht an den Buchstaben der Ethik halten. Im Mittelpunkt steht für Schleiermacher das „principium individui“, welches – wie es im März 1800 in einem Brief an Carl Gustav von Brinckmann heißt, „das mystischste im Gebiet der Philosophie“ ist (KGA V/3, 434). Diese Mystik, die zwischen Religion und Spekulation changiert, begegnet in den Reden in Gestalt dessen, was Peter Grove ihre „implizite Metaphysik“ genannt hat,²⁰ die nicht mit derjenigen Metaphysik identisch ist, von welcher Schleiermacher die Religion (und die Moral) abgrenzt. Dies meint, dass das religiöse Bewusstsein und mit ihm das Reden über die Religion von Hintergrundannahmen über die Natur des Universums oder des Unendlichen ausgeht, welche – nach Groves Auffassung – auf vorprädikativen Deutungen beruhen.²¹ Dass letzteres tatsächlich der Fall ist, möchte ich bezweifeln. Zweifellos lässt sich die Anschauung von etwas als etwas – in den Reden also des Einzelnen als Teil und Repräsentant des Ganzen – unter Bezug auf Heidegger im Sinne einer vorprädikativen Erschlossenheit interpretieren.²² Die Behauptung, es gebe so etwas wie einen vorprädikativen Zugriff auf das Ganze (das „Universum“), ist aber nicht die Feststellung eines empirischen Sachverhalts, sondern ihrerseits eine Deutung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, die auf Annahmen über unsere Natur und die des Ganzen beruht. Bei Schleiermacher sind diese Annahmen zunächst philosophisch basiert. Sie resultieren aus seiner eigentümlichen Kombination von Kant und Spinoza, die er 1793/94 begründet und danach in der Symphilosophie mit Friedrich Schlegel weiterentwickelt hatte.²³ Demnach besteht „die einzige
Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 343 ff. Vgl. ebd., 349. Vgl. Christoph Henning: „Vorprädikativ“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, 1197– 1198; der Begriff ist freilich weniger eindeutig, als er bei Grove erscheint. Vgl. Andreas Arndt: „Gefühl und Reflexion. Schleiermachers Stellung zur Transzendentalphilosophie im Kontext der zeitgenössischen Kritik an Kant und Fichte“, in: Transzendental-
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Differenz“ (KGA I/1, 575) zwischen Spinoza und Kant darin, dass Spinoza „eine positive Einheit und Unendlichkeit“ (ebd., 574) behauptete, obwohl die uns einsehbaren Attribute Gottes oder des Unendlichen auch bei ihm letztlich nur unserem eigentümlichen Vorstellungsvermögen entsprechen. Kurz gesagt: Hen kai Pan – Alles in Einem und Eins in Allem –, aber so, dass das Eins selbst – das Universum – uns an und für sich nicht zugänglich wird. Dies impliziert eine Restriktion des begreifenden Erkennens, welche dazu führt, dass Metaphysik und Moral (im Sinne der Reden) ihren Gegenstand, das Universum als Universum, notwendig verfehlen. Auch die Religion trifft das Universum nicht als solches, aber sie trifft es, Schleiermacher zufolge, im Einzelnen, welches das religiöse Bewusstsein als im Ganzen und als das Ganze anschaut. Es ist die Frage, ob diese Anschauung so ursprünglich ist, wie Schleiermacher es behauptet, um die Eigenständigkeit der Religion festzuhalten. Zieht man die oben skizzierten komplexen Annahmen in Betracht, die ihr zugrunde liegen, so scheint es sich bei der Anschauung – die ja keine empirische ist – eher um das artifizielle Produkt einer theoretischen Konstruktion zu handeln, welche das Ganze im Ausgang von Spinoza und der kritischen Philosophie zu denken versucht. Und es ist genau die Frage, ob solche „Anschauung des Universums als Anschauung des Unendlichen in allem Endlichen ohne das Denken des Universums zu haben ist“.²⁴ Die Mystik oder implizite Metaphysik changiert nicht nur zwischen Religion und philosophischer Spekulation, sondern bezieht auch die ästhetische Dimension mit ein. In den Reden findet Schleiermacher die Struktur der Anschauung des Universums auch in der Kunst wieder; Religion und Kunst „stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist.“ (KGA I/2, 263) In diesem Zusammenhang huldigt Schleiermacher auch dem „göttliche[n] Plato“, der „die heiligste Mystik auf den höchsten Gipfel der Göttlichkeit und der Menschlichkeit“ gebracht habe (KGA I/2, 262). Damit kommt die Figur des ästhetischen Platonismus in den Blick, die Schleiermacher zu dieser Zeit von Friedrich Schlegel übernommen hatte.²⁵ In den kurz nach den Reden entstandenen Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) heißt es, jede Vorstellung könne auf dreierlei Weise verarbeitet
philosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799 – 1807), hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1993 (Philosophisch-Literarische Streitsachen 2), 105 – 126. Cramer: „‚Anschauung des Universums‘“, 141. In seiner späteren Platon-Interpretation wird es dagegen in den Hintergrund gedrängt, weil Schleiermacher – im Unterschied etwa zu Schelling – der Kunst keine privilegierte Erkenntnisfunktion zuschrieb; vgl. unten „‚Das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbinden‘ – Friedrich Schleiermacher und Platons Symposion“.
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werden: begrifflich, ästhetisch („in Beziehung auf die Idee des Schönen“) oder praktisch als „Reiz an das Begehrungsvermögen“, wobei das Schöne in der Mitte liege (KGA I/3, 174). Diese Stellung und Funktion des Ästhetischen, die ersichtlich an Kants Kritik der Urteilskraft und die durch sie ausgelösten Debatten anknüpft, hat Schleiermacher jedoch nur angedeutet und in der Folge nicht weiter ausgearbeitet.²⁶ Es ist jedoch bemerkenswert, dass bei Schleiermacher spätestens seit 1803 Spinoza tendenziell durch Platon abgelöst wird, weil dort im Unterschied zu Spinoza das poetische Element zum Tragen komme.²⁷ In den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) heißt es: „Ob aber die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder so wie Platon sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten Wesen hinzeichnet, einen festen Grund habe, dieses zu beurtheilen, ist nicht des gegenwärtigen Orts.“ (KGA I/4, 66) Das poetische Element ist hier wohl mit dem „Mystizismus“ zu identifizieren, den Schleiermacher weiterhin vor allem gegenüber Fichte, seinem philosophischen Hauptgegner, einforderte. „Es ist doch nichts lieber Freund“, so heißt es 1803 in einem Brief an den Verleger Georg Andreas Reimer, „mit einer Philosophie die so bloß auf dialektischem Grunde ruht ohne allen Mysticismus wie es mit dem Idealismus in Fichte der Fall ist“ (KGA V/6, 392). Im Einklang mit dieser Auffassung fordert Schleiermacher im Brouillon zur Ethik (1805/06) ein Gleichgewicht „zwischen der Gesinnung und dem wissenschaftlichen Triebe. Jenes Uebergewicht giebt Religion, die aber beim wissenschaftlichen Beginnen in falsche Mystik ausartet. Dieses Uebergewicht giebt dialektische Virtuosität, die aber beim Ausfüllen des wissenschaftlichen Fachwerkes das Rechte nicht finden kann.“²⁸ (4) Im Ergebnis der bisherigen Überlegungen ließe sich sagen, dass Religion und Philosophie bei Schleiermacher um 1800 in einem Mystizismus konvergieren, der metaphysische Vorannahmen enthält, die beiden zugrunde liegen und dennoch ihre Abgrenzung erlauben sollen. Man könnte sogar von einer transzendentalen Mystik reden, denn die metaphysischen Annahmen beziehen sich nicht auf das Ganze, das Universum, an sich, sondern auf unsere Repräsentationen von ihm, indem wir Einzelnes als im Ganzen enthalten und als das Ganze enthaltend anschauen. Anders gesagt: die mystische Intuition ist immer schon durch den Abgrund der spinozistischen Substanz und das Feuer der kantischen Kritik der reinen Vernunft hindurchgegangen und ist weder überhaupt ursprünglich oder naiv, Die späteren Vorlesungen zur Ästhetik bieten eine reine Produktionsästhetik; vgl. Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987. Vgl unten „Eine Art von Halbdunkel …“. Schleiermacher: Sittenlehre, 81.
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noch bezeichnet sie eine naive, vorkritische Metaphysik. Was als vorprädikative Deutung des Subjekts erscheint, ist in Wahrheit das Ergebnis einer sich selbst verleugnenden philosophischen Konstruktion. Sie verleugnet sich deshalb, weil sie auf einen Ursprung hinaus will: die Gleichursprünglichkeit von Religion und Philosophie in Bezug auf das Ganze. Indem sie alle Reflexionsleistungen von diesem Ursprung fernhält und damit auch die geschichtliche und kulturelle Konstitution ihrer (für Schleiermacher: gemeinsamen) Gegenständlichkeit, muss sie eine Unmittelbarkeit voraussetzen, an der die Reflexion sich erst entfaltet. Die Unmittelbarkeit indiziert somit keinen Ursprung, sondern das Resultat einer Reflexion. Gleichwohl soll sie als Ursprung dazu dienen, der Religion einen eigenen Bereich zu sichern und sie damit gleichsam unverwechselbar zu machen. Die Religion bleibt „bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen“ (KGA I/2, 215) stehen, während die Philosophie diese (begrifflich) zu bestimmen und in eine systematische Totalität zu bringen versucht, wobei dieses Bestimmen auch Grundlage von Zwecksetzungen und damit von Handlungen sein kann. Die Trennlinie ist jedoch auch unter Schleiermachers Voraussetzungen unscharf, und zwar sowohl von Seiten der Religion gegenüber der Philosophie als auch von Seiten der Philosophie gegenüber der Religion. Von Seiten der Religion: das religiöse Anschauen wäre verschlossen in sich und stumm ohne Reflexion, durch die es allein zugänglich und mitteilbar wird. Von Seiten der Philosophie: auch ihr Bestimmen soll auf eine ursprüngliche Einheit hin bezogen werden, die selbst unbestimmbar bleibt; sie hat damit wie die Religion den Status einer nachgängigen Reflexion und Deutung an einem Unmittelbaren. Wenn Schleiermachers Abgrenzung von Philosophie und Religion in der Konsequenz misslingt, wie ist dann ihr Verhältnis zu denken? Unabhängig von Schleiermachers Konzeption lässt sich die These verteidigen, dass Religion und Philosophie prinzipiell denselben Gegenstandsbezug haben: beide gehen aufs Ganze und beide haben dabei keinen bestimmten Gegenstand im Sinne einer besonderen Wissenschaft, sondern können im Wortsinne Alles und Nichts zum Gegenstand machen. Und ebenso lässt sich unabhängig von Schleiermachers Konzeption die These verteidigen, Religion und Philosophie unterschieden sich dabei durch die Form des Gegenstandsbezuges: symbolisch-vorstellend in der Religion, begrifflich in der Philosophie, wobei beides Formen der Vermittlung und nicht der Unmittelbarkeit sind. Damit wäre im Grunde Hegels Position bezeichnet und die Frage aufgeworfen, ob und wie Religion mit Hegel in Philosophie aufgehoben werden und was das überhaupt heißen könnte. Ich kann dieser Frage hier nicht weiter nachgehen. Klaus Heinrich hat dazu geltend gemacht, dass Religion und Philosophie im Rahmen einer Dialektik der Aufklärung durchaus Verbündete sein sollten. Mythos
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und Religion seien bereits Aufklärung und bewahrten das notwendige Bündnis der menschlichen Zivilisation mit der Natur gegenüber einer verselbständigten Rationalität. Religion könne darüber aufklären, „daß Argumentationen nicht aus immateriell logischen Systemen herrühren, sondern sich von der Verhandlung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, das wir selber sind, auch dort nicht trennen lassen, wo sie darauf abzielen, Stoffe zu verdrängen“.²⁹ Vielleicht ist dies eine andere Formulierung und Begründung für das, was Schleiermacher den höheren Realismus der Religion nennt. Dieser Realismus kann und muss dann aber auch innerphilosophisch zur Geltung gebracht werden.
Klaus Heinrich: gesellschaftlich vermitteltes naturverhältnis. Begriff der Aufklärung in den Religionen und der Religionswissenschaft, hg.v. H.-A. Kücken, Frankfurt/Main und Basel 2007, 210.
5 „Eine Art von Halbdunkel, aus welchem hin und wieder eine pantheistische Ansicht der Dinge hervorzuleuchten scheint“. Schleiermachers systematische Auseinandersetzung mit Spinoza (1) In dem 1828 erschienenen dritten Band von Wilhelm Traugott Krugs Encyclopädisch-philosophischem Lexikon findet sich ein Artikel über Schleiermacher, der folgende Charakteristik seiner Philosophie enthält: „Sein eignes philosophisches System hat er jedoch bisher in einer Art von Halbdunkel gehalten, aus welchem hin und wieder eine pantheistische Ansicht der Dinge hervorzuleuchten scheint.“¹ Den hier konstatierten Aufklärungsbedarf hat Schleiermacher wohl gesehen, aber er hielt dafür, dass aus seinem System anderes hervorleuchte als eine pantheistische Ansicht der Dinge. Der Vorwurf des Pantheismus, d. h. Spinozismus, begleitete Schleiermacher seit dem Erscheinen der Reden über die Religion 1799, in denen er den „Manen des heiligen verstoßenen Spinosa“ seine Ehrerbietung erwiesen hatte (KGA I/2, 213). Dass man ihn aber deswegen als Spinozisten bezeichnen könne, hat Schleiermacher stets abgestritten. Als – im Zusammenhang mit der ersten Auflage seiner Glaubenslehre (1821/22) – dieser Vorwurf 1826 von Ferdinand Delbrück erneut erhoben wurde,² bezeichnete er dies brieflich als „Geschrei“,³ dem er durch die Veröffentlichung seiner Dialektik entgegentreten wolle. Hierzu ist es bekanntlich zu Lebzeiten nicht mehr gekommen; die Dialektik trat erst 1839, fünf Jahre nach Schleiermachers Tod, ans Licht.⁴ Die Herausgabe hatte sich Ludwig Jonas, der vom Verstorbenen selbst eingesetzte Verwalter seines wissenschaftlichen Nachlasses, vorbehalten. In seiner „Vorrede“ schreibt er, er habe nichts zur Findung des Urteils zurückgehalten, „was darüber gefällt werden muß, mit welchem Rechte Schleiermacher […] für einen Spinozisten gehalten wird“.⁵ Wie sein Lehrer war Jonas demnach wohl der Ansicht, dass vor allem die Dialektik geeignet sei, den Vorwurf des Spinozismus zu entkräften. Diese Überzeugung beeinflusste auch die Editionspolitik. In einer Anmerkung zu der zitierten
Bd. 3, 1828, 551. Ferdinand Delbrück: Christenthum, Bd. 2: Philipp Melanchthon, der Glaubenslehrer, Bonn 1826; vgl. bes. 79 – 133. An Groos, 4. 8.1826, Briefe 4, 357. Berlin 1839 im Rahmen der Sämmtlichen Werke, Abt. 3 (Zur Philosophie), Bd. 4, Teilband 2. Ebd., IX.
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Stelle der „Vorrede“ heißt es: „Die Acten“ in Sachen Spinozismus „werden spruchreif sein, wenn auch des Verfassers Geschichte der Philosophie vorliegen wird, deren Druck sofort beginnt“. Beide Vorlesungen erschienen als Teilbände des vierten Bandes der dritten Abteilung im Rahmen der Sämmtlichen Werke. Die Vorrede Heinrich Ritters, des Herausgebers der Geschichte der Philosophie, datiert aber bereits vom 28. September 1835.⁶ Das bedeutet, dass Jonas den Druck dieses Bandes nahezu vier Jahre hinauszögerte, um unter Verweis auf die Dialektik den Vorwurf des Spinozismus entkräften zu können. Welche Gründe er hierfür haben mochte, lehrt ein Blick in die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Schleiermacher hatte, getrennt von der Geschichte der Griechischen Philosophie, insgesamt dreimal (1810, 1812, 1820) über die Geschichte der neueren Philosophie gelesen, die beiden ersten Vorlesungen wurden unter dem Titel „Geschichte der Philosophie unter den Christen“ bzw. „unter den christlichen Völkern“ angekündigt.⁷ Das dazu vorliegende Manuskript von 1812 bricht mit der Darstellung Spinozas ab, der „als der zur vollkommnen Verständigung gebrachte Cartesius“⁸ und als „Krone“⁹ des durch Descartes, Malebranche und Geulincx bezeichneten Bildungsganges vorgestellt und zugleich gegen den Vorwurf des Atheismus in Schutz genommen wird. Weniger zur Vertiefung des Schleiermacherschen Spinoza-Bildes als vielmehr wegen der darin enthaltenen Seitenblicke auf Leibniz und Kant hatte Heinrich Ritter im Anhang seiner Edition noch das 1793/94 entstandene Jugendmanuskript Kurze Darstellung des spinozistischen Systems mitgeteilt.¹⁰ So hätte, aufgrund allein der Geschichte der Philosophie, der Eindruck entstehen können, Spinoza sei für Schleiermacher ein entscheidender, wenn nicht gar der Bezugspunkt in der Geschichte der neueren Philosophie gewesen. Hatte aber Schleiermacher nicht bereits in der dritten Auflage der Reden 1821 den Vorwurf des Spinozismus auch öffentlich unmissverständlich zurückgewiesen? „Wie konnte ich“, so heißt es dort in den Erläuterungen zur zweiten Rede, „auch erwarten was mir geschah, daß ich nämlich, weil ich dem Spinoza die Frömmigkeit zugeschrieben, nun selbst für einen Spinozisten gehalten wurde“ (KGA I/12, 132).Wozu bedurfte es dann noch – aus der Sicht Schleiermachers selbst wie auch seines Testamentsvollstreckers Ludwig Jonas – der Dialektik, um dem „Geschrei“ über Pantheismus und Spinozismus ein Ende zu machen?
Schleiermacher. Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4, 1, Berlin 1839, 12. Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis). Nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin 1992, 300 – 319. Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 4, 1, 275. Ebd., 276. Ebd., 283 – 311; zu den Motiven vgl. 10 f.
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Anders als die Orthodoxie des 18. Jahrhunderts hielt Schleiermacher dafür, dass Spinozismus und Atheismus nicht gleichzusetzen seien, ein Spinozist mithin nicht nur ein tugendsames, sondern sogar ein frommes Leben führen könne. In diesem Sinne sprach er sich auch im § 15 des ebenfalls 1821 erschienenen ersten Bandes der Glaubenslehre aus: es müsse „zugegeben werden, daß die Frömmigkeit eines Pantheisten völlig dieselbe sein kann, wie die eines Monotheisten“ (KGA I/7, 1, 53). Dies ist freilich im Kontext der Schleiermacherschen These zu verstehen, dass das fromme Gefühl als Selbstbewusstsein „eine wesentliche Lebensbedingung“ (KGA I/7, 1, 127) sei und es deshalb eigentlich keine Gottlosigkeit geben könne. Mit anderen Worten: der Atheismus ist für Schleiermacher immer nur Schein, der auf einem Selbstmissverständnis beruht¹¹ und daher das fromme Bewusstsein, das sich seiner unmittelbar gewiss ist, nicht wesentlich etwas angeht. Aufgrund dieser Selbstgewissheit der Frommen reicht es aus, wenn ihnen die „unfromme Erklärung“ des frommen Selbstbewusstseins als eines ursprünglichen Abhängigkeitsgefühls, worin die Abhängigkeit auf die Welt und nicht auf Gott bezogen wird, „nicht zusagen“ kann (KGA I/7, 1, 124). Dass solche Selbstgenügsamkeit nicht nur den Atheisten als intellektuelle Kapitulation erscheinen und von orthodoxen Eiferern als Lauheit gebrandmarkt werden konnte, liegt auf der Hand. Indessen will Schleiermacher die Auseinandersetzung nicht umgehen, sondern sie im Sinne der von ihm bereits 1799 in den Reden proklamierten Trennung von Metaphysik, Moral und Religion auf das Feld der Philosophie verlagern. Die Religion hat jedes Zwangs zu entsagen, wenn sie das ihr Eigentümliche behaupten will. Der Zwang argumentativer Regeln gilt aber uneingeschränkt in der Philosophie. Dementsprechend lokalisiert Schleiermacher in der Glaubenslehre auch „die Verschiedenheit des Pantheismus von der allgemein verbreiteten Vorstellung [Gottes, Verf.] ganz auf dem spekulativen Gebiet“, und nur, sofern „von einem rein spekulativen oder dialektischen Interesse die Rede wäre, könnte man nach ihren eigenthümlichen Vorzügen und Mängeln fragen“ (KGA I/7, 1, 53 f.). Eben deshalb ist die Dialektik für Schleiermacher auch der Ort, wo allein über den Vorwurf des Spinozismus sachhaltig verhandelt werden kann. Schleiermachers Vorschlag, den Spinozismus-Streit als philosophischen Prinzipienstreit auszutragen und nicht als Glaubensstreit, ist ohne Zweifel ein Schritt zur Versachlichung des Problems. Gleichwohl sind beide Seiten bei ihm nicht so getrennt, wie es zunächst den Anschein haben mag, vielmehr ist gerade
Vgl. ebd., 124: „Will man […] das auf Gott sich beziehende Selbstbewußtsein mißkennen, als sei es kein anderes als das auf die Welt Bezug nehmende: so kann dies mit einigem Scheine nur geschehen, wenn man in diesem lezteren selbst die Seite des Freiheitsgefühls aufhebt.“
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das Verhältnis von Philosophie und Religion in ein systematisches „Halbdunkel“ getaucht. Die gegenseitige Nichteinmischung bedeutet ja nicht nur, dass die Religion sich nicht in philosophische Fragen mischen dürfe, sie bedeutet auch, dass der philosophische Begriff auf dem Gebiet der Religion sein Recht verloren habe. Diese wechselseitige Verzichtleistung erfolgt freilich unter der stillschweigenden Prämisse, dass die Philosophie gar nicht imstande sei, einen in sich konsequenten Weltbegriff zu entwickeln, der sich religionskritisch wenden ließe. Die Beweislast hierfür trägt die Bestimmung des Verhältnisses der Ideen „Gott“ und „Welt“ in Schleiermachers Dialektik, die daher als das systematische Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dem Spinozismus-Vorwurf anzusehen ist. Was die Philosophie Spinozas selbst betrifft, muss Schleiermacher zeigen können, dass sie – auch als Ausdruck der Frömmigkeit ihres Urhebers – in keinem Falle atheistisch zu interpretieren ist, auch wenn sie sich gegen diese Konsequenz im Einzelnen nicht immer ausreichend gesichert haben mag. (2) Der Spinozismus-Vorwurf an Schleiermacher muss als eine schon längst verjährte Streitfrage angesehen werden, weshalb hier auch darauf verzichtet werden kann, die Geschichte dieses Streits zu Schleiermachers Lebzeiten und nach seinem Tode Revue passieren zu lassen.¹² Bereits 1857 hat Christoph von Sigwart festgestellt, dass der Streit gegenstandslos sei, weil Schleiermacher das Verhältnis von Gott und Welt nur im Rahmen seiner Theorie des Wissens als transzendentale Voraussetzung, nicht aber an und für sich behandelt habe.¹³ In einer Monographie hat Paul Wilhelm Schmidt 1868 die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Schleiermacher und Spinoza zusammenfassend dargestellt und dabei, neben dem Verhältnis von Gott und Welt, vor allem auf den Individualitätsgedanken ver-
Zu den zu Lebzeiten vor allem immer wieder im Zusammenhang mit den Reden über die Religion vorgetragenen Vorwürfen vgl. die Ausführungen von Günter Meckenstock in den Einleitungen des Bandherausgebers zu KGA I/2 (LXIIff.) und KGA I/12 (LIIff.). – Zur Diskussion nach Schleiermachers Tod vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 18 ff. – Vgl. ferner, auf die frühen Entwürfe Schleiermachers vor 1800 bezogen, Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Berlin und New York 1988; Patrick D. Dinsmore: „The Search for the infinite God: Unity and Freedom in Schleiermacher and Spinoza“, in: Schleiermacher in Context, hg.v. R.D. Richardson, Lewiston u. a. 1991, 358 – 398; Andreas Arndt: „Gefühl und Reflexion. Schleiermachers Stellung zur Transzendentalphilosophie im Kontext der zeitgenössischen Kritik an Kant und Fichte“, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799 – 1807), hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1993, 105 – 126. Vgl. Christoph v. Sigwart: Schleiermachers Erkenntnistheorie, Darmstadt 1974, 57.
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wiesen.¹⁴ Spätere Versuche, den Streit neu anzufachen, sind als argumentativ missglückt und anachronistisch zu bewerten.¹⁵ Etwas anderes als die Frage, ob Schleiermacher Spinozist gewesen sei, ist aber die Frage, welche Bedeutung die Philosophie Spinozas – die Schleiermacher zunächst über Jacobis Auseinandersetzung mit Mendelssohn rezipiert hatte – für die Herausbildung seiner eigenen philosophischen Auffassungen gehabt habe, wieweit sie also ein notwendiges „Ferment“¹⁶ seines Systems gewesen sei. Dies betrifft nicht nur die frühen Schriften und Entwürfe bis hin zu den Reden und Monologen, sondern auch die spätere, vor allem in den Hallenser und Berliner philosophischen Vorlesungen entwickelte Systematik. Für die frühe Periode bis 1800 scheint wenigstens so viel gesagt werden zu können, dass neben Aristoteles und Kant vor allem (der durch Jacobi vermittelte) Spinoza für Schleiermacher zum Bezugspunkt seiner Auseinandersetzungen geworden war, wobei er in der Konfrontation von Spinoza und Kant bereits 1793/94 Positionen entwickelte, die andernorts – etwa im Frankfurt-Homburger Kreis oder bei Novalis – erst seit 1795 durch die systematische Beziehung des Spinozismus auf die durch Fichtes Wissenschaftslehre markierte Problemlage sich ausbildeten. Schleiermacher leistete also einen eigenständigen Beitrag zur Aktualisierung des Spinozismus im Kontext der nachkantischen Philosophie, dessen Ergebnisse in die Symphilosophie der Berliner Frühromantik mit Friedrich Schlegel einflossen. Weniger geklärt ist dagegen, ob und in welchem Maße auch für Schleiermachers philosophische Entwicklung nach 1800 die Auseinandersetzung mit Spinoza – für die er nicht mehr auf Jacobi als Gewährsmann angewiesen war – prägend gewesen ist. Der geläufigen Ansicht nach tritt nun der Einfluss der platonischen Philosophie dominierend und auch systemstrukturierend hervor, mit der sich Schleiermacher im Zuge des gemeinsam mit Schlegel verabredeten Übersetzungsprojekts seit 1799 intensiv befasste.¹⁷ Dabei ist jedoch nicht zu
Spinoza und Schleiermacher. Die Geschicke ihrer Systeme und ihr gegenseitiges Verhältniß. Ein dogmengeschichtlicher Versuch, Berlin 1868. Erwin Herbert Ulrich Quapp: Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten, Göttingen 1972. Vgl. Paul Schmidt: Spinoza und Schleiermacher, 197. Vgl. unten „Schleiermacher und Platon“. – Zwar ist der von G. Scholtz vertretenen Auffassung (Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 96 ff.) zuzustimmen, dass bei Schleiermacher Platon-Deutung und eigenes Philosophieren ineinandergreifen, doch scheint mir die Platon-Deutung weitaus mehr von der eigenen Position abhängig zu sein als umgekehrt. Sie erwächst nicht zufällig aus der Symphilosophie mit F. Schlegel, die ihrerseits auf einer Kombination Kantischer bzw. Fichtescher Transzendentalphilosophie mit spinozistischen Elementen beruht. Bei Schleiermacher spielt dabei vor 1799 Platon als systematischer Bezugspunkt keine Rolle. – Im übrigen muss betont werden, dass die „Aneignung“ Platons durch Schleiermacher
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übersehen, dass Schleiermacher nun den der nachkantischen Philosophie um 1800 inkorporierten Spinozismus nicht nur festhält, sondern diesen und schließlich auch die von ihm entsprechend interpretierte Philosophie Spinozas selbst zum systematischen Bezugspunkt der Auseinandersetzung mit Platon und dem Platonismus macht. Wie Schleiermacher 1793/94 kantische und spinozistische Positionen sich aneinander abarbeiten lässt, so seit 1800 verstärkt platonische und spinozistische Positionen, wobei sich vielleicht sogar zeigen ließe, dass das bei Platon hervorgehobene poetische und mystische Element (womit Schleiermacher der Deutung F. Schlegels teilweise folgt) nun die kantische Restriktion des Erkennens vertritt.¹⁸ Ein erster, gewichtiger Hinweis auf diese theoretischen Konstellationen findet sich in einem auf den 25. Juni 1801 datierten Brief an den befreundeten Prediger Ehrenfried von Willich, wo er über „das neueste Wesen in der Philosophie“ spricht, d. h. „den Schellingschen, wie es Fichte nennt, Realismus oder wie Schelling es nennen möchte Spinozismus. […] Was Schelling vorgetragen hat (es ist im neuesten Stük seines Journals für spekulative Physik), mag wol nicht mehr im Gebiet der philosophia prima liegen; es ist aber sehr genialisch und sehr schön und ich erwarte Gutes davon. Ich denke, es wird nun einmal über die Grenze der Philosophie gesprochen werden müssen, und wenn die Natur außerhalb derselben gesezt wird, so wird auch Raum gewonnen werden auf der andern Seite jenseits der Philosophie für die Mystik.“ (KGA V/5, 157– 159) Schleiermacher bezieht sich wohl auf Schellings Aufsatz Darstellung meines Systems der Philosophie in der Zeitschrift für spekulative Physik. Offenbar fand Schleiermacher hier sein eigenes Ziel, die Vereinigung des Idealismus und Realismus, proklamiert, für das er bisher vor allem in Friedrich Schlegel einen Verbündeten gefunden hatte.¹⁹ Der
einer „Entdeckung“ Friedrich Schlegels folgt, die mehr ist als ein „romantischer Einfall“ (vgl. Rüdiger Bubner: „Die Entdeckung Platons durch Schelling und seine Aneignung durch Schleiermacher“, in: ders.: Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, 9 – 42), zumal sie dem systematisch auszweisenden Konzept einer auf die Kantische Vernunftkritik reagierenden Dialektik angehört (vgl. Andreas Arndt: „Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796 – 1801“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35, 1992, 257– 273; vgl. auch unten „Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik“). Allerdings folgt Schleiermacher nicht der Auffassung seines Freundes Friedrich Schlegel um 1800, wonach gerade Spinoza der Zeuge einer poetisch-mythologischen Philosophie sei, wie er in der „Rede über die Mythologie“ des Gesprächs über die Poesie im Athenaeum 1800 geäußert hatte. Vgl. Martin Bollacher: „Der Philosoph und die Dichter. Spiegelungen Spinozas in der deutschen Romantik“, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, hg.v. H. Delf u. a., Berlin 1994, 279 ff. „Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist […] Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden
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objektive, realistische Naturbegriff, wie Schelling ihn entwickelt hatte, galt Schleiermacher schon 1800 als Standpunkt der „Unphilosophie“ im Sinne eines strengen Fichtianismus,²⁰ und dass der Vereinigungspunkt des Realismus und Idealismus nach Schelling nicht der Idealrealismus der Wissenschaftslehre, sondern der Realidealismus der Kunst sein sollte, mochte ihn in der Ansicht bestärken, hier ließe sich über die Grenze der Philosophie im Sinne der Grenzen eines begrifflich-deduktiven Systems verhandeln.²¹ Hierüber etwas Grundsätzliches zu schreiben, gehörte zu den literarischen Plänen Schleiermachers unmittelbar nach Abschluss der Reden, wie aus einem Brief Friedrich Schlegels an ihn hervorgeht: „Du siehst nun also daß Du mit den eigentlichen Philosophen durch die Reden nicht en rapport kommen kannst. Das thut auch gar nichts; da Du es aber doch wohl überhaupt wollen wirst, so wäre es ein Motiv, das über Spinosa oder auch das über die Gränzen der Philosophie recht bald zu schreiben“ (Um den 10.10.1799, KGA V/3, 215). Leider sind wir über diese Pläne (wenn sie denn überhaupt schon über den bloßen Titel hinaus konkrete Gestalt gewonnen hatten²²) nicht weiter unterrichtet. Man wird aber vermuten dürfen, dass beide Themen etwas miteinander zu tun haben sollten, knüpft sich doch auch 1801 die Hoffnung, bald über die „Grenzen der Philosophie“ verhandeln zu können, an die Rehabilitierung Spinozas durch Schelling im Zuge der
[…] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet“ (an F.H.C. Schwarz, 28. 3. 1801; KGA V/5, 73 – 76). Vgl. hierzu die Rezension von Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen (1800), wo Schleiermacher fragt, weshalb Fichte eigentlich von der äußeren Natur ausgehe, um unsere Bestimmung, die Selbstbestimmung aus Freiheit, dazulegen: „Sollte aber nicht Fichte seiner theoretischen Philosophie Unrecht thun unter uns Unphilosophen, oder Naturphilosophen, wenn er sie für uns nur auf diesen Gesichtspunkt stellt?“ (KGA I/3 242 f). Vgl. Schelling: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, Stuttgart und Augsburg 1859, 89; vgl. auch ebd., 92: „Die Philosophie kehrt also zu der alten (griechischen) Eintheilung in Physik und Ethik zurück, welche beide wieder durch einen dritten Theil (Pöetik oder Philosophie der Kunst) vereinigt sind“. Eine solche Einteilung hat Schleiermacher seinem späteren System zugrundegelegt, wobei die Dialektik als „Kunstlehre“ des Wissens gewissermaßen Wissenschaftslehre und Poetik vereinigt, denn Schleiermacher besteht darauf, dass sie als Kunst nicht nur in einem metaphorischen Sinne zu verstehen sei. Immerhin kommt Schleiermacher noch gut vier Jahre später, in einem Brief vom 14.12.1803 an Carl Gustaf von Brinckmann, auf den Plan zurück, einen kritischen Aufsatz über Spinoza zu verfassen (vgl. KGA V/7, 155).
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Entwicklung zum Identitätssystem.²³ Für Schelling war der Spinozismus ein Realismus, der sich nicht dem Idealismus (als Idealrealismus der Wissenschaftslehre) unterordnen ließ, sondern diesem im angestrebten Realidealismus das Gleichgewicht hielt. In der „Vorerinnerung“ der Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) charakterisierte er wenig später den „Spinozismus“ als „den Realismus in seiner erhabensten und vollkommensten Gestalt“.²⁴ Dies erinnert, bis in die Formulierung hinein, an die bekannte Stelle der Reden über die Religion, wo dem „Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus“, die Religion als „Gegengewicht“ zur Seite gestellt wird, welche „ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet“ (KGA I/2, 213), und für diesen Realismus ist dann der „heilige verstoßene Spinosa“ der Zeuge. Der Spinozismus steht demnach bei Schleiermacher für eine objektive Begrenzung der Philosophie, für etwas, das sich der Begründung durch transzendentale Subjektivität entzieht, d. h., entsprechend der verbreiteten Grundstellung der zeitgenössischen nachkantischen Philosophie, für ein bewusstseinstranszendentes Sein, das der Konstitution des Bewusstseins im Selbstbewusstsein voraus- und zugrunde liegt. Insoweit bewegt sich Schleiermacher mit seinen Plänen zu Spinoza und den Grenzen der Philosophie sowie mit seinen brieflichen Äußerungen tatsächlich nur im Rahmen seiner in der Auseinandersetzung mit Kant und Spinoza gewonnenen und in den Reden erstmals öffentlich dargelegten Position. Die Reden hatten indes nicht die Absicht, sich mit den Philosophen auf deren eigenem Gebiet „en rapport“ zu setzen, sondern wollten zunächst einen „schneidenden Gegensatz“ (KGA I/2, 211) von Metaphysik, Moral und Religion feststellen. Der „höhere Realismus“ des Spinoza ist in diesem Rahmen religiös, nicht philosophisch begründet. Wenn dieser aber, wie die Religion überhaupt, eine Grenze der Philosophie bezeichnen soll, so heißt dies umgekehrt auch, dass die Philosophie die Realität eines Anderen zum idealistischen Vernunftbegriff anzuerkennen und in sich aufzunehmen hat. Die Grenze darf keine äußerliche, von der Religion um ihrer Selbstbehauptung willen an die Philosophie herangetragene sein, sondern muss sich im Gang der philosophischen Argumentation von selbst zeigen und auch innerphilosophisch markiert werden. Hierfür ist nicht die Frömmigkeit Spinozas von Interesse, sondern die begrifflich-dialektische Konsequenz seines Systems. Mit dem Terrainwechsel von der Religion zur Philosophie erhält auch das Interesse an Spinoza ein neues Profil.
Vgl. Christian Iber: Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip, Berlin und New York 1994, 152 f. Schelling: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, Stuttgart und Augsburg 1859, 110.
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(3) Das philosophische Programm Schleiermachers nach 1799 ist indessen auch die Fortsetzung von Überlegungen, die bereits 1793/94 in der Konfrontation Spinozas mit Kant formuliert worden waren. Hier findet sich in dem Manuskript Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems der erstaunliche Satz, der Kantianismus scheine, „wenn er sich selbst versteht, auf Spinozas Seite zu seyn“ (KGA I/1, 570). Begründet wird dies damit, dass das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen bei Spinoza insoweit mit dem Verhältnis von Noumenon und Phänomen bei Kant zusammenstimme, als beide in dem Bedürfnis übereinkommen, „den Dingen unsrer Wahrnehmung ein anderes Daseyn unterzulegen welches außer unserer Wahrnehmung liegt“ (KGA I/1, 573). Schleiermacher interpretiert das Kantische Ding-an-sich als Gedankending nur, sofern das Denken hier negativ auf den Grund eines bewusstseinstranszendenten und daher der transzendentalen Subjektivität gegenüber objektiven Seins verwiesen ist. Spinozas Fehler, auf dem „die einzige Differenz zwischen ihm und Kant“ (KGA I/1, 575) beruhe, bestehe darin, „eine positive Einheit und Unendlichkeit zu behaupten“ (KGA I/1, 574), obwohl die uns einsehbaren Attribute Gottes oder des Unendlichen auch bei ihm letztlich nur unserem eigentümlichen Vorstellungsvermögen entsprächen. Diese Konfrontation läuft auf eine wechselseitige Korrektur beider Positionen aneinander hinaus: Spinoza macht dem kritischen Idealismus Kants die unabdingbare Voraussetzung eines bewusstseinstranszendenten Seins deutlich und begrenzt damit den Anspruch der Vernunft auch objektiv; Kant hingegen macht dem Spinozismus deutlich, dass dieses Sein für uns nur im Rahmen begrenzter subjektiver Erkenntnisvermögen und nicht an und für sich thematisierbar ist. Im Ergebnis wird der transzendentale Gedanke einer vernunftkritisch gebrochenen Substanzmetaphysik eingeordnet, die den Versuchen Fichtes und des frühen Schellings, die Konsequenz des Kantischen Ansatzes am Ich als Prinzip der Philosophie zu bewähren, diametral entgegengesetzt ist. Der Spinozismus begrenzt demnach für Schleiermacher die Philosophie immanent im Sinne der transzendentalphilosophischen Vernunftkritik. Eine folgenreiche Konsequenz dieser Überlegungen ist, dass Schleiermacher seither den Erkenntnisprozess als ein Entsprechungsverhältnis von Denken und Sein versteht, gleichwohl aber an der Kantischen Vernunftkritik festhält. Gegenüber Kant hat Spinoza für Schleiermacher den Vorzug, sich in den Bahnen einer „objektiven“ Philosophie zu bewegen. Dies gilt ihm, wie die 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre belegen, sonst in gleichem Maße nur noch für Platon. Zwar seien beide „fast so sehr einander entgegengesetzt, als Meister der höheren Wissenschaft es nur sein dürfen“, doch kämen beide gleichwohl darin überein, „daß ihnen die Erkenntniß des unendlichen und höchsten Wesens nicht etwa erst Erzeugniß einer andern ist, vielweniger ein zu andern ersten Gründen noch hinzugeholtes Noth- und Hülfsmittel, sondern die
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erste und ursprüngliche, von welche jede andere ausgehen muß.“ (KGA I/4, 63) Der Mangel bestehe bei Spinoza zum einen darin, dass die „einzelnen Naturen“ zwar formal aus dem Unendlichen abgeleitet, aber nicht in ihrer besonderen Bestimmtheit begreiflich gemacht seien; zum anderen könne er deshalb auch nur einen Maßstab ihrer möglichen Verschiedenheiten aufstellen, nicht aber „zur Bildung aus dem Unvollkomnen in das Vollkommene“ (KGA I/4, 64). Diese Mängel beruhten auf dem Fehlen „jeder Vorstellung einer Kunst oder eines Kunstwerkes. Man kann daher nicht läugnen, daß die Ethik ihm fast wider seinen Willen, und wohl nur polemisch zu Stande gekommen ist, es sei nun um die gemeinen Begriffe zu bestreiten, oder um seine Theorie vom höchsten Wesen zu rechtfertigen und zu bewähren.“ (KGA I/4, 65) Dieser poetische Sinn zeichne hingegen Platon aus, denn ihm erscheine „das unendliche Wesen nicht nur als seiend und hervorbringend, sondern auch als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche zusammengeseztes Kunstwerk.“ (KGA I/4, 65) Schleiermacher übernimmt hier Friedrich Schlegels ästhetische Platon-Deutung,²⁵ die mit dem ästhetischen Platonismus des Frankfurt-Homburger Kreises vielfach zusammenstimmt.²⁶ Durch den poetischen – und das heißt hier durchaus: poietischen – Grundzug seiner Philosophie könne Platon auch die Mängel Spinozas vermeiden, indem er das Einzelne als Darstellung des bildenden und allein seienden Unendlichen ansehe und zugleich die Forderung nach einer Vervollkommnung der Menschen zur Gottähnlichkeit aufstelle. Diese Vorzüge betreffen indessen vorerst nur die Konstruktion der Ethik: „Ob aber die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder so wie Platon sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten Wesen hinzeichnet, einen festen Grund habe, dieses zu beurtheilen, ist nicht des gegenwärtigen Orts.“ (KGA I/4, 66) Der spekulative Gegensatz derer, die „objectiv philosophirt haben, das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen sind“ (KGA I/4, 66), bleibt vorerst unausgetragen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass innerhalb des „objektiven“ Philosophierens der von ihm herauspräparierte Gegensatz von Spinoza und Platon für Schleiermacher nicht nur von historischem, sondern von unmittelbar aktuellem systematischen Interesse ist.
Vgl. Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 73 ff.; Hans Joachim Krämer: „Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeutung“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 583 – 621. Vgl. Klaus Düsing: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg.v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981, 101– 117.
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Wohl im Herbst 1802, während der Niederschrift der Grundlinien, dachte Schleiermacher daran, diese Konstellation zur Grundlage einer Publikation zu machen: „Ein neuer Phädon worin Spinoza die Hauptperson ist könnte sehr schön sein. Jedoch muß ihm freilich vieles geliehen werden. Und eher nicht bis der Paulus vollendet hat, damit ich sein Leben möglichst studieren kann. Allegorisch ist darin auch der Platonische Phädon zu gebrauchen weil da die Erde die Menschen auch so sehr festhält.“ (KGA I/3, 322) Wie Platon im Phaidon dem Sokrates ein Denkmal gesetzt hatte, sollte hier Spinoza ein platonisierendes Denkmal gesetzt werden, und es entbehrt nicht der Ironie, dass ein „neuer Phädon“ zugleich als bewusste Variation von Moses Mendelssohns erfolgreicher Platon-Adaption von 1767²⁷ erscheinen musste, des Kontrahenten Jacobis im Spinoza-Streit. Offenbar sollte Platons Dialog, wie bei Mendelssohn, als Vorlage einer aktuellen, systematisch gerichteten Intervention dienen, um die Persönlichkeit des „heiligen verstoßnen Spinosa“ zu würdigen, aber auch seine Philosophie im Schleiermacherschen Sinne zu akzentuieren. Hierfür bot sich Platons Erörterung des Problems der Seele – für Schleiermacher auch das Thema der Ethik – ebenso an, wie der Bezug auf die Ideenlehre, der zu einer grundsätzlichen Konfrontation zwischen Spinozismus und Platonismus hätte Anlass geben können.²⁸ Eine solche Konfrontation erscheint zwar als Beschwörung vorkritischen metaphysischen Denkens, für Schleiermacher jedoch war darin die Kantische Philosophie selbst präsent, tritt bei ihm doch der Kantisch geläuterte Spinoza geradezu als der bessere Kant auf, weil er dem Königsberger das objektive Philosophieren voraushat. Aber auch Schleiermachers Platon trägt Züge Kants, sofern er ein mythisch-poetisches Element in der Darstellung des Unendlichen aufweist, welches einem streng logischen, begrifflich-deduktiven Verfahren, wie es in Spinozas Rationalismus praktiziert wird, Grenzen setzt.²⁹ Es ist wohl nicht abwegig, hierin – und zwar jetzt innerhalb des „objektiven“ Philosophierens selbst – die Kantische Restriktion des Vernunftgebrauchs wiederzuerkennen. Indessen ist die mythisch-poetische Rede Platons zwar eine andere Weise, von dem Unendlichen oder Unbedingten zu reden, als die logisch-begriffliche etwa Spinozas, aber eben doch eine allegorische, und nicht eine negative, wie sie von Kant her in Schleier-
Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen, Berlin und Stettin 1767. Zu Schleiermachers Interpretation des Phaidon vgl. seine Einleitung in: Platons Werke, zweiten Theiles dritter Band, Berlin 1809, 5 – 22. In den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie heißt es, Platon sei nicht zu verstehen, „wenn man sich nicht des Wesens des mythischen immer bewußt bleibt, nämlich das ohne allseitige Vollendung unmögliche doctrinale Aussprechen der absoluten Einheit als eines positiven und also auch ihres Verhältnisses zur Totalität zu ersezen“ (Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. II, Bd. 4, 1, Berlin 1839, 98).
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machers Aufzeichnungen von 1793/94 gefordert war. Weder Spinoza noch Platon sind daher die Lösung des von Kant aufgegebenen Problems; hierzu bedarf es vielmehr einer prinzipiellen Konfrontation beider, die ihre eigentümlichen Vorzüge und Mängel zum Ausgleich bringt. Dabei lässt sich absehen, dass in dieser Konfrontation das logische Element des Spinozismus gegenüber dem Platonismus eine Aufwertung erfahren, aber umgekehrt auch das poetische Element als Korrektiv des Rationalismus geltend gemacht werden wird. Denn vielleicht, so Schleiermacher in einer Notiz, die im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Grundlinien entstanden ist, „hat dem Spinoza nur die Anschauung der poetischen Natur gefehlt um das symbolische Verhältniß zwischen Gedanke und Ausdehnung zu finden.“ (KGA I/2, 322) (4) In den Grundlinien von 1803 wird die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der spinozistischen Systems ausgeblendet und der erste Band der Glaubenslehre von 1821 verfährt ebenfalls ausweichend, indem er das Problem des Pantheismus aus dem Gebiet der Theologie in das der spekulativen Philosophie verweist. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie jedoch kam Schleiermacher zu einer umfassenderen Beurteilung Spinozas, die dessen System zugleich auch im Sinne seiner systematischen Bezugnahmen zu interpretieren versucht.³⁰ Dass er dabei auch die Konfrontation mit Platon im Auge behielt, wird durch eine Nachschrift der Vorlesung vom Sommer 1820 belegt.³¹ Die Beziehung beider wird in Schleiermachers Manuskript implizit durch das Überwiegen bzw. Fehlen des mythisch-poetischen Elements hergestellt; während bei Platon „ein offenbarer Mangel auf Seiten des realen Wissens und eben daher ein allzufestes Anhangen des speculativen an der poetischen Form“³² herrsche, sei Spinoza „durch seine Abneigung gegen das mythische und durch das unpoetische, was durch seine Klarheit hindurch geht,“³³ nicht in der Lage gewesen, die Einheit von Gott und Welt angemessen zu betrachten. Dieses Verhältnis, das auch in der Dialektik das
Vgl. Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 275 – 282; Heinrich Ritters Edition beruht auf einem eigenhändigen Manuskript Schleiermachers von 1812 (vgl. ebd., 8). Schleiermacher hatte sechsmal über antike Philosophie (Halle 1806/07, Berlin 1807, 1811/12, 1815, 1819/ 20, 1823) und dreimal über neuere Philosophie gelesen (Berlin 1810, 1812, 1820); der Entwurf geht also auf die erste zusammenhängende Darstellung der Philosophiegeschichte insgesamt in zwei Semestern 1811/12 zurück, die 1819/20 wiederholt wurde. Auffällig sind das Überwiegen der antiken Philosophie und das Fehlen jeder philosophiehistorischen Vorlesung in der letzten Lebensdekade Schleiermachers. Ritter lag für seine Edition keine Hörernachschrift vor. Vgl. den Schluss des hier im Anhang mitgeteilten Auszugs; eine entsprechende Stelle findet sich in Schleiermachers eigenen Aufzeichnungen nicht. Ebd., 110. Ebd., 278.
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Zentrum des transzendentalen Teils bildet, steht im Mittelpunkt der systematischen Erörterung zu Spinoza. Spinoza gilt Schleiermacher als Vollender des Cartesianismus, wozu er vor allem durch seine Aufhebung des Begriffs der Substanzen zweiter Ordnung beigetragen habe.³⁴ Mit dieser philosophiehistorischen Einordnung will Schleiermacher zugleich theologische Vorbehalte entkräften, denn wenn der Vollender des Cartesianismus ein Atheist gewesen sei, müsse dieser Vorwurf auf alle Cartesianer zurückfallen.³⁵ Auf dieser Linie liegt auch die 1813 von Schleiermacher angeregte Preisfrage der Berliner Akademie für 1815 nach dem Einfluss Descartes‘ auf Spinoza und dem Verhältnis beider Philosophien.³⁶ Die historische Einordnung Spinozas in den Cartesianismus verfolgt aber auch eine systematische Interpretationsabsicht. Durch die Aufhebung der Substanzen zweiter Ordnung treten zwischen Gott und die einzelnen Dinge „Denken und Ausdehnung als das, wodurch der Geist Gott als das ursprüngliche Agens wahrnimmt, als Attribute der Gottheit“.³⁷ Der Akzent liegt darauf, dass Denken und Ausdehnung Wahrnehmungsformen unseres Geistes und nicht erschöpfende Bestimmungen Gottes an und für sich sind.³⁸ Hierfür beruft sich Schleiermacher auf Malebranche, der bereits innerhalb der Cartesischen Schule eine entsprechende Auffassung vertreten habe. Im Ergebnis wird der Philosophie Spinozas damit der Richtungssinn auf einen kritischen Idealismus Kantischer Prägung im Sinne der Aufzeichnungen von 1793/94 unterlegt. Wie in der frühen Darstellung des Spinozistischen Systems macht Schleiermacher auch in seinen Vorlesungen bei Spinoza das „Verhältniß einer mittelbaren Inhärenz“ (KGA I/1, 573) der einzelnen Dinge zum Unendlichen aus. Die substantielle Nähe der endlichen Dinge zu Gott sei abgelöst durch das mittelbare Verhältnis der modi der einzelnen Dinge bzw. Seelen zu den Attributen; diese „modi sind die natura naturata als Inbegriff der Dinge, jene Attribute sind die natura naturans als das sich in diese modos zerspaltende und die Dinge aus sich
Vgl. ebd., 277. Vgl. ebd., 275 – 278 Vgl. Adolf von Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1, 2, Berlin 1900, 612; Schleiermachers Schüler Heinrich Ritter erhielt für seine Beantwortung der Frage den halben Preis (Welchen Einfluß hat die Philosophie des Cartesius auf die Ausbildung der des Spinoza gehabt und welche Berührungspunkte haben beide Philosophien miteinander gemein? Nebst einer Zugabe: Über die Bildung des Philosophen durch die Geschichte der Philosophie, Leipzig und Altenburg 1817). Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 277. Hierzu wird wiederum darauf verwiesen, daß Spinoza vom „rein speculativen Standpunkt“ eine „unbestimmte Mehrheit von Attributen“ setzt, in der Durchführung aber nur von Ausdehnung und Denken redet; vgl. ebd., 278.
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erzeugende“.³⁹ Schleiermachers Haupteinwand besteht nun darin, dass die Verhältnisse sowohl des Endlichen zum Unendlichen als auch innerhalb des Endlichen selbst nur mangelhaft gefasst seien. Durch die aufgezeigte Vermittlung sei eine „Entfernung der einzelnen Dinge von der unmittelbaren Beziehung auf Gott“ eingetreten, wodurch „die einzelnen Dinge ganz skeptisch genommen werden könnten und dann eine Verbindung existirte zwischen Eleatikern, welche die Einheit der Substanz, und dem Herakleitos, welcher den ewigen Fluß der Erscheinung behauptet.“⁴⁰ Da aber jedes Attribut das ganze göttliche Wesen ausdrücken müsse, müsse es auch in der Realität des Vereinzelten fixierbare Einheiten geben, wobei Spinoza für die Ethik vor allem „die Seele als fixirten Punkt auf dem Gebiet des Denkens“⁴¹ für erforderlich gehalten habe. Deren Ableitung leide nun daran, dass die unbestimmte Mehrheit der Attribute auf dem rein spekulativen Standpunkt sich in der Ethik „unbewußt“ in den „bestimmten Gegensaz“ von Ausdehnung und Denken verwandelt habe; die erstere sei „ in Bezug auf alle möglichen Formationen des Geistes […] gesezt“, das letztere „in Bezug auf den menschlichen Geist“.⁴² Was den menschlichen Geist betreffe, gehe Spinoza aber „ächt cartesianisch von dem empirischen Bewußtsein aus“⁴³ und bewege sich daher in einem „absoluten Gegensaz zwischen Geist und Materie“;⁴⁴ in ihm erscheint die Trennung dessen, was in Gott als vereinigt gesetzt wurde – und damit die der einzelnen Dinge von Gott – auf die Spitze getrieben. Dieser Gegensatz wird für Schleiermacher auch nicht dadurch befriedigend aufgehoben, dass die Korrespondenz von Ausdehnung und Denken für die Seele ein mit dem unmittelbaren Begriff des Leibes verbundenes Bewusstsein erfordert, denn Spinoza erkläre den Leib als zusammengesetzten Körper „ganz cartesianisch, d. h. mechanisch durch Zusammengedrükktwerden mehrer Körper in Eins oder Zusammentreffen ihrer Bewegung in Eins“.⁴⁵ Die mit der Seele gesetzte Einheit des Leibes bleibe daher grundlos, denn sie setze wiederum Körper-Einheiten voraus, so dass die Erklärung in einen unendlichen Regress treibe und schließlich – „entgegen dem transcendentalen Standpunkt“⁴⁶ Spinozas – zum Atomismus führe. Was ihm fehle, sei also eine „klare Anschauung des organischen“, zu der er auch im Rückgang auf Descartes dann hätte kommen können,
Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 277. Ebd., 278. Ebd. Ebd., 278 f. Ebd., 279. Ebd., 280. Ebd., 279. Ebd.
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wenn er die Seele aus der Weltseele⁴⁷ und den Organismus aus dem Weltkörper abgeleitet hätte. Hieran aber habe ihn „seine ethische Tendenz, die ganz auf der Selbständigkeit der Person ruht“, gehindert, „theils war er auch wol dazu zu wenig poetisch.“⁴⁸ Im Unterschied zu denjenigen Deutungen, die bei Spinoza den Gedanken der All-Einheit ins Zentrum stellen und daher, wie Hegel, betonen, dass in seiner Philosophie nur „das Nichtbesonderte, das Allgemeine“ das „Substantielle und also wahrhaft Wirkliche“ sei,⁴⁹ hebt Schleiermacher das ethische Interesse Spinozas am besonderten Einzelnen stärker hervor und konstatiert eher einen Mangel an wahrhafter Allgemeinheit. Ihm komme „alles auf die Selbsterhaltung hinaus“; er sei „[n]ominalistisch, vom persönlichen Ich ausgehend, mit negativem Charakter, alles gemeinschaftliche nur untergeordnet construierend und viel zu viel für das einzelne voraussezend“.⁵⁰ Schleiermacher hält Spinoza für einen entschiedenen Nominalisten, der deshalb Schwierigkeiten habe, „die Ansicht von Unterordnung der Persönlichkeit unter die Gattung“ zu fassen.⁵¹ Aus dieser Perspektive musste ihm Spinozas Philosophie nicht, wie Maimon und Hegel, als Akosmismus, sondern vielmehr als Dualismus gelten, bei dem das spekulative Prinzip innerhalb der Ethik durch einen handfesten Empirismus konterkariert werde. Die Auffassung, dass hier ein Vermittlungs- und Ableitungsproblem bestehe, das zu konzeptionellen Widersprüchen führe, teilt Schleiermacher mit vielen Zeitgenossen. Überraschend ist jedoch die Eindeutigkeit, mit der er das spekulative Prinzip von der systematischen Durchführung trennt und den realphilosophischen Gehalten der Ethik ein empiristisches Prinzip unterlegt, das sich in den Begriffen der Person und des Selbsterhalts niederschlage. In Verbindung mit der
Einen entsprechenden Vorschlag, den Begriff der „Weltseele“ korrigierend in das System Spinozas einzuführen, hatte – wohl an Jacobis Beilage mit Auszügen an Giordano Bruno in der zweiten Auflage von Über die Lehre des Spinoza (1789) anknüpfend – Salomon Maimon 1790 gemacht; vgl. Achim Engstler: „Zwischen Kabbala und Kant. Salomon Maimons „streifende“ Spinoza-Rezeption“, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1994, 178 ff.; zum Einfluss der Spinoza-Deutung Maimons auf Fichte vgl. Klaus Hammacher: „Fichte, Maimon und Jacobi: Transzendentaler Idealismus und Realismus“, in: Transzendentalphilosophie als System, hg.v. A. Mues, Hamburg 1989, 243 – 263. Schleiermacher dürfte sich wohl vor allem auf Schelling beziehen (Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus, Hamburg 1798). Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 279. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg.v. P. Garniron und W. Jaeschke, Hamburg 1986, 104. Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 282. Ebd., 280.
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Behauptung eines „entschiedenen“ Nominalismus bei Spinoza wird damit die frühere Rede vom „höheren Realismus“ nahezu ins Gegenteil verkehrt. In der Vorlesung von 1810 scheint diese Tendenz noch nicht so stark hervorgetreten zu sein, wenn man der – allerdings wenig ausführlichen – Nachschrift von K.H. Sack glauben kann, nach der Schleiermacher die Konsequenz des spekulativen Prinzips besonders hervorhob: „Pantheismus hat man sein System genannt. Parallele mit der eleatischen Schule. Als Prinzip ist hier Konsequenz; als System Unvollständigkeit“.⁵² Der Duktus der Vorlesungen von 1812 erweckt dagegen eher den Eindruck, die Unvollständigkeit des Systems sei die Konsequenz einer prinzipiellen Inkonsequenz. Über die Ursachen dieser Verschiebungen lassen sich nur Vermutungen anstellen. Ein wesentlicher Grund dürfte darin zu suchen sein, dass Schleiermacher zwischen 1810 und 1812 wenigstens universitätsöffentlich seinen systematischen Ansatz aus dem bisherigen „Halbdunkel“ ans Licht gebracht hatte. Die erstmals im Sommer 1811 gehaltenen Vorlesungen zur Dialektik entwickeln einen eigenen Lösungsvorschlag für die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt, von dem aus Spinozas Prinzip selbst als unzureichend erscheinen musste. Die historisch-systematische Anleihe an dies Prinzip hatte damit ihre Funktion erfüllt und konnte einer kritischen Sicht aus der Perspektive des transzendentalen Grundes der Dialektik Platz machen. (5) „Das höhere Leben ist ununterbrochen fortgehende Beziehung des Endlichen aufs Unendliche. Dieses in Verbindung gesezt mit dem Beziehen des Endlichen auf einander ist das wahre Philosophiren. Diese lezten Beziehungen um jener willen aufheben, das ist was man im schlechten Sinne Mystik nennen kann.“ (KGA I/3, 322)⁵³ Die Grundaussage dieser bereits 1802 niedergeschriebenen Notiz wird in den Ausführungen zu Spinoza in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie von 1812 aufgenommen, wo es heißt: „Gott als Einheit rein für sich behandelt wird mythisch, die Welt als Totalität rein für sich behandelt zerfließt in die unendliche Mannigfaltigkeit und wird skeptisch. Die vereinigte Betrachtung läßt immer etwas zu wünschen übrig, also ist Neigung zu einem überall. In der cartesianischen
„Schleiermacher’s / Geschichte der Philosophie unter den Christen. / Gehört im J. 1810 oder 11. / in Berlin / geschrieben / von / K. H. Sack.“ Bibliothek des theologischen Stifts Bonn, jetzt Schleiermacher-Forschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 112. – Der Duktus der Nachschrift weicht von dem Manuskript 1812 stark ab, so dass die Datierung auf 1810 wahrscheinlich ist. – Karl Heinrich Sack (1790 – 1875) war der mit Schleiermacher befreundete Sohn seines früheren Gönners, des Oberhofpredigers Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738 – 1817). Die Notiz steht übrigens unmittelbar vor den oben zitierten Bezugnahmen auf Spinoza in demselben Notizheft.
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Schule ist Versenken des transcendenten in das reale. Malebranche stellt Gott als beides dar […]. Spinoza sagt bestimmt, jene Betrachtung sei schon Welt, natura naturans, Gott von Seiten seiner Causalität betrachtet. Deus an sich, wiewol sein Sein und seine Causalität auch nicht wesentlich zu unterscheiden sind, ist doch nicht beides, so daß er auch Eins von beiden ist.“⁵⁴ Der Pantheismus als „Neigung zu einem überall“ ist hier so etwas wie ein notwendiger Schein, der aus der objektiven Schwierigkeit entsteht, Gott und Welt zusammen zu betrachten. Diesem Schein muss sich auch Schleiermachers Dialektik aussetzen, denn die begriffliche Nichterkennbarkeit Gottes an und für sich, von der er ausgeht, entbindet nicht davon, die Welt zur Gottesidee in eine notwendige Beziehung zu bringen, sofern letztere nicht für das Wissen obsolet sein soll.⁵⁵ In der Dialektik-Vorlesung von 1811 wird das Problem so gestellt, dass, wenn Gott und Welt zusammen betrachtet werden müssen, erst die vollständige „Weltanschauung“ das Wissen von Gott vollenden könnte: „In dem Maaß als die Weltanschauung mangelhaft ist bleibt die Idee der Gottheit mythisch. Oder wenn sie doch abgesondert von jener unter die strenge Form des Denkens gebracht werden soll, wird sie unhaltbar. (Wahren Atheismus giebt es nur in Verbindung mit positivem Skepticismus. Jeder andre ist nur gegen das unhaltbare und mythische gerichtet.)“. (KGA II/10, 1, 38) Schleiermachers Gottesbegriff orientiert sich an der Idee eines vollendeten Wissens, das keine Veranlassung mehr für einen Streit im Denken geben würde, und diese Aufhebung des Streits wäre zugleich die Aufhebung aller Gegensätze, sofern jede Entgegensetzung Streit veranlassen kann. Da aber das Denken selbst auf einem relativen Gegensatz zum Sein beruht, ist diese Idee nicht nur unausdenkbar und etwa „nur in einer Unendlichkeit von Urtheilen“ zu realisieren, sie ist schlechthin „eben so gewiß unbegreiflich als ihre Erkenntniß die Basis aller Erkenntniß ist.“ (KGA II/10, 1, 37) Die Idee der Gottheit bleibt daher notwendig immer mythisch, sofern sie positiv ausgesprochen und nicht negativ von unserem Wissen aus als transzendente Voraussetzung des Wissens bestimmt wird.⁵⁶ Wird sie, wie es nach Schleiermacher bei Spinoza der Fall ist, weder my Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. III, Bd. 4, 1, 277 f. Vgl. Leendert Oranje: God en Wereld. De vraag naar het transcendentale in Schleiermachers „Dialektik“, Amsterdam 1968; John E. Thiel: God and World in Schleiermacher’s ’Dialektik’ and ’Glaubenslehre’: Criticism and Methodology of Dogmatics, Bern u. a. 1981; Michael Eckert: „Gott, Welt und Mensch in Schleiermachers philosophischer Theologie“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 281– 296; Hans-Richard Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers: Eine systematische Interpretation, München 1979; Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974. Vgl. KGA II/10, 1, 43: „Anders als daß die Gottheit als transcendentes Sein das Princip alles Seins und als transcendente Idee das formelle Princip alles Wissens ist, ist auf dem Gebiet des
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thisch noch negativ gefasst, sondern begrifflich-positiv ausgesprochen, so muss sie sich auch vom Standpunkt des Wissens aus als unhaltbar widerlegen lassen. Was aber nötigt überhaupt dazu, eine solche Idee anzunehmen, und zwar nicht als eine problematisch bleibende, von der ein bloß regulativer Gebrauch zu machen ist, sondern als eine notwendige, das Wissen allererst konstituierende Idee?⁵⁷ Schleiermacher begnügt sich hier mit dem Verweis auf eine nicht weiter auf ihre Voraussetzungen hin befragte identitätsphilosophische Prämisse: wenn das reale Wissen Korrespondenz von Denken und Sein ist, so ist die Idee des Wissens deren vollständige Übereinstimmung; diese aber könne nicht gedacht werden, da das Denken einen Gegensatz zum Sein voraussetzt, so dass eine ursprüngliche, unvordenkliche Identität beider im Absoluten gesetzt werden müsse. Diese Behauptungen werden in der Vorlesung 1811 recht unvermittelt aufgestellt; die späteren Fassungen der Dialektik (seit 1814/15) bemühen sich dagegen, sie subjektivitätstheoretisch durch den Rückgang auf ein unmittelbares Selbstbewusstsein als Gefühl abzusichern, in dem wir den transzendentalen Grund „haben“. Ob dieses Gefühl die behauptete Denknotwendigkeit des transzendentalen Grundes zwingend zu machen vermag, sei hier dahingestellt. Dass wir ihn überhaupt „haben“ und uns seiner im Selbstbewusstsein vergewissern können, wird nämlich auch dort nicht im Ausgang vom Gefühl entwickelt, sondern aus den identitätsphilosophischen Voraussetzungen abgeleitet. Der sonstige Argumentationsgang der Dialektik, wie er 1811 erstmals vorgetragen wurde, bleibt daher auch von dieser nachträglichen Vergewisserung unberührt. Die ursprüngliche Einheit von Denken (in letzter Konsequenz: Begriff) und Sein im Absoluten konstituiert für Schleiermacher auch im Endlichen zwei Reihen, die des Idealen und Realen, welche auf allen Stufen eine relative Einheit bilden. Mit dem Begriff ist daher immer das ihm entsprechende Sein gesetzt und umgekehrt, und dies gilt auch für das Absolute. Sofern der Begriff des Absoluten in uns ist, ist das Absolute selbst in uns, und sofern wir das Absolute selbst nicht sind, haben wir auch nicht seinen Begriff (KGA II/10, 1, 43).⁵⁸ Diese Konstellation von Präsenz des Absoluten im Endlichen (das insofern auch das Absolute ist) und
Wissens nichts von ihr zu sagen. Alles andere ist nur Bombast oder Einmischung des religiösen, welches als hieher nicht gehörig hier doch verderblich wirken muß.“ Entsprechend leugnet Schleiermacher ausdrücklich die Möglichkeit, konstitutive und regulative Prinzipien unterscheiden zu können; vgl. KGA II/10, 12, 7. Hieraus schließt Schleiermacher: „Wir haben ihn also nicht von Seiten der organischen Funktion sondern nur als gemeinsames formales Element aller Acte des Erkennens. Seine organische Seite wäre nur in der Totalität aller Erkenntniß des endlichen einzelnen. Wir sind also im Bilden der lebendigen Anschauung der Gottheit begriffen insofern wir an der Vervollständigung der realen Wissenschaften arbeiten“ (KGA II/10, 1, 43).
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Nichtsein des Absoluten geht durch die ganze Reihe der Entgegensetzungen im Endlichen hindurch. In der Idee der Welt schließlich als der Totalität aller relativen Gegensätze sind diese „zu einer untergeordneten secundären Einheit gebunden“ (KGA II/10, 1, 48), die „als Einheit schlechthin aber auch als Totalität aus mehreren speciell relativirten Einheiten“ aufgefaßt werden kann, sofern in ihr alles „unter der Form des Gegensazes“ steht (KGA II/10, 1, 48 f.) Diese Idee der Welt „sollte nicht sein eine eigentliche Ableitung aus dem Absoluten sondern nur das Verhältniß beider aussprechen in wiefern sie verschieden sind und in wiefern dasselbige.“ (KGA II/10, 1, 48) Der Welt als Einheit unter der Form des Gegensatzes steht daher das Absolute unter der Form der Identität entgegen, „welche aber die Fülle der Gegensäze unter sich und in sich begreift“ (KGA II/10, 1, 49). Dieser Formunterschied soll gewährleisten, dass zwar Gott nicht ohne Welt und Welt nicht ohne Gott zu denken ist, beide jedoch nicht identifiziert werden können. Diese Abgrenzung misslingt in der Dialektik-Vorlesung 1811 formell, indem die Welt ebensowohl als Einheit schlechthin als auch als Totalität von Gegensätzen aufgefasst werden kann und zugleich das Absolute als Identität vorgestellt wird, welche die Fülle der Gegensätze in sich begreift. In der zweiten Vorlesung (1814/15) hat Schleiermacher das Verhältnis dahingehend präzisiert, dass er nun die Idee Gottes als Einheit ohne Vielheit und die Idee der Welt als Vielheit ohne Einheit bestimmt (KGA II/10, 1, 147 f.). Beide sind „Correlata“, aber auf je eigene Weise transzendental: während die Idee Gottes dem Wissen als unvordenkliche Voraussetzung zugrunde liegt, ist die Idee der Welt das unausdenkbare, nur in einer ewigen Annäherung zu erreichende Ziel des realen Wissensprozesses: „Wie die Idee der Gottheit der transcendentale terminus a quo ist, und das Princip der Möglichkeit des Wissens an sich: so ist die Idee der Welt der transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“ (KGA II/10, 2, 149) Die Berechtigung dieser bestimmten Unterscheidung bleibt jedoch fragwürdig.Weder von der Idee Gottes noch von der der Welt nämlich ist uns das Sein an sich gegeben und daher auch nicht das Sein des Verhältnisses der Welt im Gegensatz gegen Gott.⁵⁹ Wenn beide Ideen gleichermaßen unter die Restriktion des Erkennens fallen, lässt sich auch über ihr bestimmtes Verhältnis als das unterschiedlicher Formen der Identität nichts mehr ausmachen; eine „Einheit mit Einschluß aller Gegensätze“ (Welt) ist innerhalb der von Schleiermacher zugrunde gelegten Verstandeslogik ebensowenig denkbar wie eine „Einheit mit Ausschluß aller Gegensätze“ (Gott; KGA II/10, 1, 269), sondern allein eine relationale Identität.
Vgl. KGA II/10, 1, 150).
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Mit seiner Fassung des Verhältnisses der Ideen zueinander will Schleiermacher sicherstellen, dass die ursprüngliche substantielle Einheit nicht in der Weise eines Endlichen – und sei es auch der Totalität des Endlichen als „Welt“ – dem Endlichen äußerlich entgegengesetzt werden darf. In diesem Sinne freilich ließe sich, wie es z. B. Herder gezeigt hat,⁶⁰ gerade Spinozas Substanzbegriff interpretieren. Schleiermacher kann dem nicht folgen, weil er schließlich den „höheren Realismus“ Spinozas nicht als auf einer Negation des Endlichen, sondern – wie noch zu zeigen sein wird – als auf einer Steigerung des Endlichen begründet sieht. Er wird in doppelter Weise Opfer seiner eigenen Interpretation, denn er versteht den Substanzbegriff nicht nur als Ausweitung des Weltbegriffs, sondern auch, im Kantischen Sinne, als Gedankending. Die Nichterkennbarkeit der ursprünglichen Einheit stellt aber auch ihr Verhältnis zur „Welt“ der Entgegensetzungen außerhalb des Bereichs objektiv gültiger Erkenntnis; d. h.: das Problem des Pantheismus ist auf dieser Basis unentscheidbar geworden. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner in den Konfrontationen mit Kant und Platon entwickelten Spinoza-Kritik wird Schleiermacher vom Schatten des Spinozismus eingeholt. (6) Während die Vorlesungen von 1811 weder den Pantheismus noch den Spinozismus explizit thematisieren, findet später eine entsprechende Auseinandersetzung statt. Der Entwurf zur Vorlesung 1814/15 kommt auf Spinoza und den Pantheismus im Zusammenhang mit dem Begriff der höchsten Kraft zu sprechen (KGA II/10, 1, 119 – 123). Schleiermacher bewegt sich damit in den Bahnen Herders, der Spinoza in ähnlicher Weise im Rahmen eines von Leibniz entlehnten substantiellen Kraftbegriffs interpretiert hatte.⁶¹ Ob Schleiermacher hierbei von Herder direkt beeinflusst wurde, muss offen bleiben.⁶² Er verortet Spinozas Gottesbegriff
Vgl. Eilert Herms: „‘Gott‘. Herders Philosophie des Geistes“, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1994, 56 – 73. Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche, Gotha 1787 (2. Aufl. unter dem Titel: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System; nebst Shaftesburi’s Naturhymnus. Zweite, verkürzte und vermehrte Auflage, Gotha 1800). Das Verhältnis Schleiermachers wie auch das seiner frühromantischen Weggefährten zu Herder ist durch polemische Abgrenzungen verdunkelt, die kaum noch erkennen lassen, wo sie von dem verfemten „negativen Klassiker“ gelernt haben (vgl. Heinz Härtl: „‘Athenäum‘-Polemiken“, in: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, hg.v. H.-D. Dahnke und B. Leistner, Bd. 2, Berlin und Weimar 1989, 246– 357). Zu strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Herder und Schleiermacher vgl. Louis Goebel: Herder und Schleiermachers Reden über die Religion, Gotha 1904; Gunter Scholtz: „Herder und die Metaphysik“, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation, 13 – 31. – Ende 1799 plante Schleiermacher eine Rezension der zweiten Auflage von Herders Gott, die nicht
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„in Einer Reihe mit der Ueberzeugung vom Gegensaz der Kraft und Erscheinung im Sein“ (KGA II/10, 1, 121) als „die höchste Steigerung des Begriffes der Kraft“ (KGA II/ 10, 1, 119). Dies sei die pantheistische Konstruktion der Gottheit, welche darauf beruhe, dass man einerseits „das Ideale und Reale als die beiden höchsten Kräfte ansieht und diejenige von welcher beide ausgehen als die über welche keine andere kann gedacht werden“, andererseits den Begriff bis zu dem der „weltbildenden Kraft“ steigert, in welcher „auch der Gegensaz zwischen Begriff und Gegenstand aufgehoben ist“ (KGA II/10, 1, 119 f.). Das Gebiet des Begriffs (und damit auch des substantiellen Seins) jedoch ist für Schleiermacher überhaupt dadurch begrenzt, dass ein Begriff nur innerhalb von Entgegensetzungen und wechselseitigen Subsumtionsverhältnissen des Einzelnen und Allgemeinen begründet werden kann. Innerhalb dieses Gebietes ist, wie die Polemik gegen die „Naturphilosophie“, d. h. das Schellingsche Identitätssystem, in diesem Zusammenhang deutlich macht (KGA II/10, 1, 122), lediglich eine relative Identität als Indifferenz der Entgegengesetzten erreichbar, nicht aber der Gedanke der Gottheit als einer ursprünglichen, relationslosen Identität. Schleiermachers Kritik am Spinozismus beruht also zum einen darauf, dass er die Begriffsform des Gottesgedankens zurückweist, zum anderen darauf, dass er die Inhärenz des Endlichen im Unendlichen als Aufsteigen von den endlichen Gegensätzen zur Einheit auffasst. Dass der letztere Einwand wenig mit Spinoza selbst zu tun hat, mag Schleiermacher gespürt haben, denn er versichert sogleich, dass der „spinozistische Begriff […] hier besonders nicht beurtheilt werden“ könne, da er „nur eine abstracte Formel“ sei (KGA II/10, 1, 121), obwohl die spinozistische Konstruktion – im Gegensatz zur naturphilosophischen – „im universellen“ bleibe (KGA II/10, 1, 122). Die Notizen zur Vorlesung 1822 präzisieren die Einwände dahingehend, dass die natura naturans nicht das Unbedingte sein könne, weil sie die Totalität ihrer Erscheinungen (natura naturata) und „also durch diese bedingt in gewissem Sinne“ sei; eine andere Methode „innerhalb der Begriffsform“ wäre es, bei der „Abstraktion“ des gegensatzlosen Seins anzufangen. Solle aber von diesem die Entgegensetzung ausgehen, so müsse schon immer ein Urteil ermöglicht sein, was eine „chaotische Materie“ als gleich ewig oder als von Gott geschaffen voraussetze; letzteres aber sei „die schlechteste Auskunft wegen des leeren Zwischenmomentes“. Beide Methoden sind für Schleiermacher gleich unvollkommen; „wenn natura naturans uns die Einheit im Transzendenten bewahrt, so ist sie nicht transzendent genug; bei Gott und Materie aber kommt man aus der Dupli-
zustandekam (vgl. KGA V/3, XXXVI); im Auktionskatalog seiner nachgelassenen Bibliothek ist Herders Schrift nicht verzeichnet.
5 „Eine Art von Halbdunkel …“
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zität nicht heraus“ (KGA II/10, 1, 256). Der grundlegende Einwand ist hier gegen die Begriffsform gerichtet, die nicht transzendent genug, d. h. dem Unbedingten unangemessen sei. Mit Kant gesprochen würde das nur heißen, dass der Vernunftgebrauch in Ansehung des Unbedingten notwendig dialektisch sei, d. h. sich in Entgegensetzungen verfange, die ein objektiv gültiges Wissen des Bedingenden unmöglich machen. Schleiermacher kann sich indessen bei dieser Auskunft nicht beruhigen, da er sich hier nicht mit transzendentalen Idealen, von denen bloß ein regulativer Gebrauch zu machen ist, zufrieden geben, sondern die Idee Gottes als notwendige konstitutive Voraussetzung des Wissens erweisen will. Hierzu bedarf er eines „höheren Realismus“, der den Gehalt dessen, was Spinoza unter der Begriffsform und daher (nach Schleiermachers Auffassung) widersprüchlich gedacht hatte, auf unbegriffliche Weise voraussetzt und gleichwohl für das endliche Begreifen als zwingend erweist. Für diese Quadratur des Zirkels glaubt Schleiermacher nun auf die Lehre von den Ideen zurückgreifen zu können, die zugleich „der Realismus der Begriffe“ sei; Der Realismus der Begriffe ist hier im Gegensatz zum „Realismus der einzelnen Dinge“ zu verstehen, er bedeutet aber keineswegs die Gleichsetzung von Idee und Begriff (KGA II/10, 1, 118). Die Begründung hierfür liefert Schleiermacher an anderer Stelle, wo er sagt, dass „die Idee der absoluten Einheit des Seins“ der Form nach kein Begriff mehr sei, weil darin der Gegensatz von Gedanke und Gegenstand als aufgehoben gedacht werde; sie sei aber „der Materie nach ein Begriff, […] weil eine Einheit des Seins darin gesetzt ist“; als solche ist sie „kein Wissen“, wohl aber „der transcendentale Grund und die Form alles Wissens“, dem sie im „Gebiet des gespaltenen Seins“ die Form der Identität aufprägt (KGA II/10, 1, 105). Die Anleihe bei einem platonisierenden Ideenrealismus soll demnach sicherstellen, dass der Begriffsrealismus jenseits der Begriffsform aufrecht erhalten werden kann, d. h. dass dem, was begrifflich nicht gewusst werden kann, gleichwohl eine Realität zukommt, die für uns, als unserem Wissen zugrundeliegend und seine Realität bestimmend, auch begrifflich explizierbar ist.⁶³ In einem späten Entwurf zum Paragraphen 2 der „Einleitung“ in die Dialektik von 1833, einer für den Druck bestimmten Ausarbeitung, hat Schleiermacher noch einmal zusammenfassend seine Position im Blick auf Spinoza dargelegt. Die Ethik erscheint hier als Muster für ein „philosophisches System […], das eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen bestimmt ist.“ (KGA II/10, 1, 370 f.) Ihre Grundsätze seien Setzungen, deren Begriffsform zudem widersprüchliche Konsequenzen zulasse. So müsse „zugegeben werden, daß durch dieses Verfahren kein Fortschritt zur Beilegung des Streits geschehen sei, sondern daß wir uns vermittels
Vgl. hierzu unten „Unmittelbarkeit als Reflexion“.
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desselben nur wieder in dem Zustand des streitigen Gesprächführens auf dem Gebiet des reinen Denkens befinden. Daher scheint es nun ziemlich nahe zu liegen, daß man versuche, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Nämlich, statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen gelte es nun eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen, in der Hofnung, dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Anfangspunkte für das Wissen zu kommen.“ (KGA II/10, 1, 372) Dies sei der Weg, den die alte Philosophie schon einmal begonnen, aber zu zeitig aufgegeben habe: auf ihm behalte die „Wissensliebe“ das letzte Wort und nicht ein liebeleeres Wissen. *** Schleiermachers Auseinandersetzung mit Spinoza erfolgt vor dem Hintergrund seiner eigenen Systematik, die sich indessen selbst wesentlich einer Konfrontation Kants mit Spinoza verdankt. Dies ist der Grund dafür, dass er ihm wie ein Schatten anhängt, den er nicht loszuwerden vermag. Im Zentrum der Abwehr des dadurch hervorgerufenen Spinozismus-Verdachts (und damit des Verdachts des Pantheismus) steht schließlich das Konzept des unmittelbaren Selbstbewusstseins als Gefühl. Vielleicht ist es gar keine Ironie der Philosophiegeschichte, sondern liegt noch in der Konsequenz dieser Abwehr des Spinozismus, dass Ludwig Feuerbach gerade dieses Gefühlskonzept benutzen konnte, um die Differenz von Gott und Welt zu widerrufen, auf deren Behauptung es Schleiermacher gerade angekommen war.⁶⁴
5.1 Anhang: Schleiermacher über Spinoza. Aus einer Nachschrift der Vorlesung zur Geschichte der neueren Philosophie 1820¹ Benedict Spinoza (ein portugiesischer Jude, in Holland lebend) bildete des Cartesius Philosophie vollkommen aus. Er wurde aus der Synagoge ausgestoßen
Vgl. hierzu Andreas Arndt: „Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme“, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 103 – 121, bes. 119 ff. „Geschichte der Philosophie des Mittelalters / beim / Dr. Schleiermacher im Sommer 1820. / Heinrich Saunier.“ – Die Nachschrift befindet sich in der UB Basel, der für die Erlaubnis zur Veröffentlichung zu danken ist. Die Wiedergabe folgt ohne Varianten; Abkürzungen sind stillschweigend ausgeschrieben, Hervorhebungen erfolgen kursiv, unsichere Lesungen sind in geschweifte Klammern eingeschlossen, Zusätze des Herausgebers in eckige Klammern. – Schleiermacher hatte die Vorlesung, die von 53 Hörern belegt wurde, nicht im Lektionskatalog angekündigt. Ob er tatsächlich die mittelalterliche Philosophie in den Mittelpunkt stellen wollte,
5.1 Anhang: Schleiermacher über Spinoza
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und lebte bis zu seinem Ende ohne religiöse Verbindung. Nach seinem Tode erschienen seine Schriften. Er hatte die Meinung des Pantheismus; man will sagen, daß er aus der Cabbala geschöpft habe; daß er jüdische Philosophen p anführt ist eben so natürlich als wenn christliche Philosophen Kirchenväter citiren. […] Spinoza fängt damit an, daß er die Substanzen der 2ten Ordnung aufhebt; somit ist Gott die einzige Substanz. Alle einzelnen ausgedehnten Dinge sind nur verschieden durch Bewegung und Ruhe; der Verstand ist das ruhende Denken, und der Wille das thätige Denken, das /286/ Hinausgehn aus sich selbst. Gott ist das Einzige wirkliche Seyende, die eigentliche Substanz; das Denken und die Ausdehnung sind die Attribute für uns. Bewegung und Ruhe, Verstand und Wille treten nun wieder als modi (als die Art und Weise, wie wir die Attribute wahrnehmen) zwischen das Reale und die Attribute. Die göttlichen Attribute sind die natura naturans d. h. das sich in diese modi Zerspaltende; gegen über der natura naturans steht die natura naturata; beides zusammen bildet nun die Welt, indem man die eine als die Wirkungen der Kräfte, die andre als die Kraft selbst ansieht. In der Cartesianischen Philosophie wo das Transcendente sich in das Reale versenkt ist das maximum der denkenden Substanz; der endliche Gedanke bewegt aber nach Cartesius die endliche Substanz gar nicht, sondern der unendliche Gedanke bewegt die unendliche Substanz; dies führt weiter auf den Atheismus, den Cartesius hat aber niemand einen Atheisten genannt. Spinoza hat am allermeisten nach der rein didaktischen Form gestrebt. Gott kann an und für sich gar kein Prädicat zukommen, sondern nur auf physische Weise; betrachten wir die Welt als Totalität des Endlichen, so zerfließt die Welt an und für sich betrachtet in der unendlichen Mannigfaltigkeit. Er betrachtet Gott in seiner Causalität, aber nie an und für sich; er betrachtet die Welt in ihrer Dependenz aber nie an und für sich. Uns sind, sagt Spinoza, 2 Attribute gegeben, das Denken und die Ausdehnung; die gedachte Möglichkeit unendlicher Attribute in Gott /287/ constituire die Idee der Gottheit. Wenn man aber beweist daß Malbrange [Malebranche] und Spinoza hierüber ganz dieselben Gedanken hatten, wie ging es zu, daß man den Malbrange für einen frommen Mann hielt und den Spinoza für einen Atheisten. Das kommt daher weil Malbrange immer die Subjectivität anführt. – Die einzelnen Dinge können ganz skeptisch genommen werden in der ethischen Idee des Spinoza. Er sagt: in dem Gebiet des Denkens zwischen Verstande und Willen, in diesem Wechsel zeigt sich offenbar die Einheit der Substanz. Er sagt: jedes Attribut an und für sich drückt das göttliche Wesen ganz aus; dieselbe Vereinzelung die in dem Gebiet des einen Attributs ist, ist auch in dem Gebiet des Anderen. Es ist dies nur
muss offen bleiben. Die Vorlesung endete nach der Nachschrift mit einem kurzen Ausblick auf Leibniz.
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die eigenthümliche Art, wie er den Cartesianismus fortgesetzt hat; das Geistige erscheint bei ihm uebergeordnet dem Physischen; das hat aber seinen Grund in seiner Vorliebe des Geistigen. Er hat die Seele begriffen und konnte sie nicht begreifen ohne auf einen gewissen Punkt zu kommen. Hätte Spinoza eine Physik statt einer Ethik geschrieben, so hätte er zuerst auf die Seele kommen müssen, somit würde das Verfahren das Entgegengesetzte geschienen haben. Die Seele als Subject der Ethik! Spinoza als alle Cartesianer war {durchaus} ein Nominalist, daher hat er kein andres Prinzip der Seele zu erklären als das Bestreben des einzelnen Wesens sich selbst zu /288/ erhalten, der Selbsterhaltungstrieb. Das Handeln ist nichts anderes als das Bejahen oder Verneinen eines Gedanken; jeder Gedanke sey mit seiner Bejahung oder Verneinung ganz dasselbe, daher sey Thätigkeit und Wille ganz dasselbe. Der etwanige Zweifel als Einwurf sey nichts anderes als ein Schwanken zwischen dem Sein und Nicht-seyn des Gedanken. Ob wir einen Gemüthszustand als einen handelnden oder leidenden ansehn, beruht darauf, ob man adäquate oder partielle Ursachen hat. Kommen in der Seele Gemüthszustände zu wovon sie adäquate Ursach ist, so befindet sie sich im Zustande der Freiheit; kommen in ihr Gemüthszustände vor, wovon sie partielle Ursach ist, so befindet sie sich im Zustand der Knechtschaft. Indem eine niedere Erkenntniß auf eine höhere erhoben werden soll wird sie aus einem Leidenden ein Handelndes, der Gedanke wird ein Affect und dadurch Tugend. Das will sich jedoch mit den Prinzipien nicht recht vereinigen, daß der Gedanke ein Affect werde; er nimmt demnach an, wenn in der Seele eine Erhebung vorgeht muß im Leibe nothwendig eine analoge Veränderung vorgehn, jedoch nicht, wie er annnimmt, bestimmt eine Mehrung und Minderung. Eine Affection des Aehnlichen afficirt auch uns ähnlich, daher das sittliche Wohlwollen. Das läßt sich aber nicht nach den ursprünglichen Prinzipien construiren; ein ganz entgegengesetztes System könnte, jenachdem man diesen Punkt faßt, aus den Prinzipien aufgestellt werden. Alle Tugend ist als Affect, Tapferkeit. Alle Tugend /289/ ist Mittel zur Weisheit. Spinoza sagt: in dem Sehen in Gott kann durchaus nicht mehr der Gedanke des Bösen enthalten seyn, denn in Gott kann es kein Böses geben. Indem das Sehen in Gott das zwiefache ist alles sub specie boni zu sehn und alles sub specie vitae zu sehen, so besteht darin auch seine Unsterblichkeitslehre, sub specie aeternitatis. Er kennt keine andre Seele als Seele, als in Beziehung auf einen Leib, deshalb kann ich ja hier die Seele nicht sub specie aeternitatis verstehn. Gott ist unmittelbar gar nicht [zu erkennen], sondern [kann] nur durch seine Attribute erkannt werden, das Erkennen Gottes mit Ausschluß des Denkens ist die Liebe zu Gott. (Geuglings [Geulincx] läugnet diese Liebe zu Gott.) Bei Spinoza ist beides einerley, Liebe zu Gott, und Liebe zu seiner Vernunft, sofern sie durch die Attribute erkannt wird. Das Spinozasche System ist unstreitig die vollkommenste Ausbildung des
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Cartesianismus. Sein System ist vollkommen entgegengesetzt dem platonischen System. Eine analoge Physik hat kein Cartesianer gegeben.
6 Schleiermacher und die englische Aufklärung Schleiermacher und die englische Aufklärung – dieses Thema steht im Raum, seit Hermann Mulert aus dem Nachlass Wilhelm Diltheys Ausführungen zu dessen Schleiermacher-Biographie veröffentlicht hat. Hierin wird Shaftesbury ein besonderer Einfluss auf Schleiermacher nachgesagt; er sei in Schleiermachers Jugend als der einzige große monistische Denker und „Repräsentant eines ästhetischen Pantheismus“ in Deutschland präsent gewesen.¹ Diese Aussage ist leider auch schon alles, was Dilthey als Beweis anzubieten hat; gleichwohl gilt ihm ein Einfluss Shaftesburys als feststehende Tatsache: er habe auf Schleiermacher durch die „zwei Pole seiner Weltansicht“, nämlich „Individualität“ und „Universum“, nachhaltig gewirkt.² Auch sonst sind Einflüsse der englischen Aufklärungsphilosophie auf Schleiermacher zumeist nur indirekt nachgewiesen bzw. durch Indizien wahrscheinlich gemacht worden.³ Soweit ich sehen kann, fehlt dagegen noch immer eine systematische Interpretation der expliziten Äußerungen Schleiermachers zur englischen Moralphilosophie, mit der er sich im Zuge seiner ethischen Studien und besonders der Arbeit an den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) intensiv auseinandergesetzt hatte. Im ersten Teil meiner Ausführungen möchte ich daher Schleiermachers Kritik der, wie er sie nennt, „anglikanischen Schule“ in dieser Schrift rekonstruieren. In einem zweiten Schritt möchte ich dann kurz beleuchten, welche systematische Bedeutung diese Kritik für seine eigene Ethik haben könnte. Auf dieser Grundlage stellt sich dann schließlich drittens noch einmal die Frage, ob, in welchem Umfang und auf welchen Wegen ein Einfluss der Moralphilosophie der englischen Aufklärung auf Schleiermacher erfolgt sein könnte. (1) „Die englische Moral vernichtet sich selbst“ (KGA I/3, 306), so heißt es in einer wohl 1802 niedergeschriebenen Notiz Schleiermachers. Gleichwohl hat er – vielleicht weil er dem Selbstzerstörungsmechanismus dieser Theorien misstraute oder dessen Werk beschleunigen wollte – sich mit dieser Moral vielfach polemisch
Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1, 2. Auflage, Berlin und Leipzig 1922, Kap. 13 (173 – 188; hier 175). – Zur Präsenz Shaftesburys vgl. die von Johann Joachim Spalding besorgte Ausgabe: Die Sitten-Lehrer, oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen, aus dem Engl. des Grafen von Schaftesbury übers., nebst einem Schreiben an den Übersetzer, Berlin 1745. Diese Ausgabe befand sich unter den nach dem Tode Schleiermachers aus seinem Besitz zur Versteigerung gelangten Büchern; vgl. KGA 15, 823, Nr. 1829). Dilthey: Leben Schleiermachers, 182. Vgl. hierzu Andreas Arndt: „Kommentar“, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, Frankfurt/ Main 1996, 1047 ff.
6 Schleiermacher und die englische Aufklärung
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auseinandergesetzt, so dass doch noch mit einiger Aussicht auf Erfolg nach den Gründen für den zitierten Ausspruch gefragt werden kann.Weshalb also vernichtet die englische Moral sich selbst? In seinen Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde führt Schleiermacher im Zusammenhang mit seiner Polemik gegen die „ächtenglische“ Prüderie eine Engländerin an, die „behauptete, es sei unkeusch, in einer vermischten Gesellschaft das Wort keusch auszusprechen, ja auch anständig habe schon etwas unanständiges.“ (KGA I/3, 158) Hier ist offenkundig, dass die Moralität sich selbst vernichtet, sofern ihr zufolge der moralische Begriff schon den unmoralischen Gedanken an sein Gegenteil mit sich führt, so dass über Moral nicht einmal mehr gesprochen werden darf. Nun handelt es sich hierbei zweifellos um die grotesk verzerrte Form eines gelebten Puritanismus, auch wenn Schleiermacher andernorts bemerkt, die englische Moralphilosophie bewähre sich „noch mehr durch die Angemessenheit zur ganzen Denkart des Volkes, als ein in wissenschaftliche Form gebrachtes Erzeugniß ihres gemeinschaftlichen Verstandes“ (KGA I/4, 145). In jedem Falle dürfte für Schleiermacher die Auffassung der Engländerin nur der Extremfall eines Sachverhaltes sein, den er in einem – leider nicht erhaltenen – Vortrag in der Berliner „Mittwochsgesellschaft“ vom Oktober 1797 als „Immoralität aller Moral“ charakterisiert hatte.⁴ Und aus der Sicht dieser These, wonach die bisherige Moral überhaupt unmoralisch sei, ist dann die Moral der „anglikanischen Schule“ für Schleiermacher auch nur ein spezifischer Fall sich selbst zerstörender Moral unter vielen. Die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre von 1803 lassen sich als umfassende Durchführung der von Friedrich Schlegel gerühmten „wirklich große[n] Skizze“⁵ vom Oktober 1797 lesen. In ihnen werden – ausgehend von dem die Ethik noch übersteigenden Freiheitsprinzip⁶ – die „Systeme der Thätigkeit“ (KGA I/4, 75) – also diejenigen, die das ethische Handeln selbst zum Ziel haben – als aussichtsreichste Kandidaten für den Aufbau einer Ethik, die diesen Namen auch verdient, besonders erwähnt. Auf die Seite dieser Systeme gehören auch Platon und Spinoza,⁷ die für Schleiermacher als die wichtigsten theoretischen
Vgl. KGA V/2, XVIII; KFSA 24, 28 und 31 (an Karl Gustav v. Brinckmann, Oktober 1797; an August Wilhelm Schlegel, 31.10.1797). KFSA 24, 31. Vgl. KGA I/4, 40: „Höher aber, als die besondere Wissenschaft der Ethik, liegt die Frage selbst von der Freiheit, in sofern sie die menschliche Natur in ihren wesentlichsten Beziehungen erst zusammensezend darstellen, und die Verhältnisse der Persönlichkeit zu der Eigenschaft des Menschen, vermöge deren er ein Theil eines Ganzen ist, bestimmen soll.“ Vgl. KGA I/4, 75 f.
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Bezugspunkte für eine künftige Sittenlehre ausdrücklich hervorgehoben werden.⁸ Den „Systemen der Thätigkeit“ stehen die „Systeme der Lust“ entgegen, die mit Kant auch als eudämonistisch apostrophiert werden. Diese gehen nicht auf das Handeln als Selbstzweck, sondern die Handlung ist in ihnen „das Nichtgewollte […] als Mittel“ (KGA I/4, 71). Hierzu gehört nun für Schleiermacher die „anglikanische Schule des Schaftesbury“ (ebd.), die er als erstes Beispiel für diese Richtung anführt und die demnach, jedenfalls auf den ersten Blick, so etwas wie das negative Extrem zu Platon und Spinoza bildet. Sie rede zwar von der Tugend (das ist für Schleiermacher die Sittlichkeit im Handeln), sei aber in Wahrheit „gänzlich der Lust ergeben“, denn die Tugend gelte immer nur als Mittel zur Glückseligkeit (KGA I/4, 72). So sei auch das Wohlwollen nur dadurch ausgezeichnet, dass „eine eigene Lust“ aus ihm entspringe. Dann aber könne auch jene – für Schleiermacher in höchstem Grade unmoralische – „Empfindsamkeit“ nicht mehr verurteilt werden, „welche es anlegt auf eine Fertigkeit ohne Hand noch Fuß zu regen, durch das bloße Nachempfinden, vermittelst der Einbildung, sich alle Süßigkeiten jenes auf Wohlwollen beruhenden sittlichen Gefühls zu verschaffen.“ (KGA I/4, 72) Schleiermacher kritisiert den ethischen Ästhetizismus Shaftesburys, der nicht die Handlung selbst, sondern die Beziehung auf das Handeln im Gefühl⁹ zum Maßstab des Sittlichen mache. Die Stoßrichtung dieser Kritik, die Schleiermachers Option für das „System der Thätigkeit“ begründet, kommt mit dem überein, was wir aus einer seiner Notizen von 1797 über die Thesen der Immoralität der Moral wissen: „Die angewandte Moral ist höchst unmoralisch. Der Moralist muß die Verhältniße nicht finden sondern erst machen.“ (KGA I/3, 12)¹⁰ Anders ausgedrückt: das moralische Urteil darf nach Schleiermacher keine äußere Reflexion auf gegebene Verhältnisse und Verhaltensweisen sein, sondern muss der moralischen Handlung selbst als Bestimmungsgrund innewohnen. Dies setzt, wie den Grundlinien zu entnehmen ist, weiterhin voraus, dass das moralische Urteil überhaupt alle Handlungen zu durchdringen vermag, d. h. dass der sittliche Trieb, wie Schleiermacher ihn nennt, nicht etwa anderen, natürlichen Trieben entgegengesetzt wird.¹¹ Und schließlich müsse, um eine moralische Moral zu begründen, auch vorausgesetzt werden, dass das dem ethischen Grundsatz Entsprechende auch nur durch ihn selbst hervorgebracht werde.¹² Beide Kriterien werden von der „anglikanischen Schule“ weitgehend erfüllt. Sie sei erstens im Prinzip
Vgl. ebd., 63. Vgl. ebd., 58. Nr. 25 des ersten Gedanken-Heftes; die Notizen 23 – 27 dieses Heftes sind zeitlich und thematisch dem Vortrag über die Immoralität aller Moral zuzurechnen. Vgl. KGA I/4, 81 ff. Vgl. ebd., 83 f.
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monistisch und nicht dualistisch, weil sie selbst dort, wo sie „eine doppelte Quelle der Lust“ annehme, nämlich Egoismus und Sympathie, doch versuche, „beide, als der eigentlichen und innersten Natur nach dasselbe darzustellen.“ (KGA I/4, 82) Und zweitens erscheine das Ethische bei ihr als „selbstthätig“ im geforderten Sinne, sofern die Lust „nur dem Triebe folgt der durch eine neue sonst nicht denkbare Art von Handlungen sich äußert“ (KGA I/4, 84 f.). Schleiermacher kritisiert demnach die „anglikanische Schule“ vor allem in einem Punkt: sie verselbständige das moralische Urteil gegenüber der Handlung selbst. Es fällt auf, dass Schleiermacher unter den Engländern Bernard Mandeville in den Grundlinien nur einmal beiläufig und nicht einmal namentlich als den „Urheber der Fabel von den Bienen“ erwähnt, der „die bürgerliche Verfassung […] zum Bestimmungsgrunde des Willens im ethischen Gesetz erhoben“ habe (KGA I/4, 68). Mandevilles nachhaltige Wirkung als einer der schärfsten Kritiker Shaftesburys wird – trotz eines zu erkennenden freundlich-distanzierten Wohlwollens Schleiermachers ihm gegenüber – nicht erwähnt.¹³ Der entscheidende Grund hierfür dürfte darin liegen, dass Schleiermacher über die bisher genannten drei Kriterien für wahrhaft ethische Grundsätze hinaus noch ein weiteres nennt, nämlich die Vereinigung des Individuellen und Allgemeinen, was ihm aber, wie er sogleich feststellt, „noch nirgends geschehen zu seyn“ scheint (KGA I/4, 90). Dem Realitätsgehalt von Mandevilles Formel „Private Vices made Public Benefits“¹⁴ dürfte er darum ebenso misstraut haben wie dem Realitätsgehalt der Annahme eines alle egoistischen Regungen überbietenden Wohlwollens in der „anglikanischen Schule“: dies geschehe „durch einen auf keine Weise zu rechtfertigenden Machtspruch, indem nemlich im voraus beschlossen wird, es solle nicht angenommen werden, wenn einer sagte, daß bei ihm der wohlwollende Trieb zu schwach wäre, um eine merkliche Lust hervorzubringen.“ (KGA I/4, 91) Tatsächlich sei festzustellen, dass diese Schule „das Individuelle gänzlich verwirft“ (KGA I/4, 96). Nach diesem Blick auf die ethischen Grundsätze überrascht es kaum, dass Schleiermacher auch die Tauglichkeit dieser Grundsätze zur Errichtung eines Systems bestreitet. In Bezug auf das höchste Gut wirkt sich vor allem aus, dass das „Allgemeine“ und das „Eigenthümliche“ nicht wirklich miteinander vermittelt sind, sondern Egoismus und Sympathie in einen unauflöslichen Widerstreit miteinander geraten. So stelle Hutcheson die Selbsterhaltung „ganz richtig“, wie Schleiermacher ihm ausdrücklich attestiert, niedriger als das Wohlwollen, nur
Vgl. dazu z. B. Alasdair MacIntyre: Geschichte der Ethik im Überblick, Frankfurt/Main 1991, 153 ff. So der Untertitel seiner Fable of the Bees (1714).
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springe „das Lächerliche in die Augen, daß doch das Wohlwollen am Ende auf die Erhaltung und die selbstliebige Lust der Andern geht, und also das höchste Gut nur besteht in der Lust an dem, was geringer ist als das höchste Gut“ (KGA I/4, 112). in Bezug auf die Idee des Weisen dagegen macht sich für Schleiermacher der Gegensatz des Lustprinzips gegen das Prinzip der Tätigkeit bemerkbar. Indem es sich nur äußerlich auf die Tätigkeit beziehe, führe es nicht nur zum Quietismus, sondern auch dazu, „daß die höchste Wohlberathenheit des Menschen darin bestehen würde, wenn der angenehme Fluß seiner Empfindungen unabhängig wäre von der äußerlichen Welt“ (KGA I/4, 119). Sein wahres Ziel sei daher – gegen alle Vernunft und Wissenschaft – „ein froher und glüklicher Wahnsinn“, und alles dieses treffe, wie Schleiermacher ausdrücklich hinzufügt, „ebenfalls die anglikanische Schule, in so fern sie nemlich […] auch für das wohlwollende Handeln, welches sie gebietet, die Lust als den Bestimmungsgrund ansieht.“ (KGA I/4, 120) In beiden Fällen ist ersichtlich, dass sich nach Schleiermachers Auffassung die englische Moral selbst vernichtet. In Bezug auf das höchste Gut entgleitet ihr das sittliche Prinzip und schlägt um in die Bemäntelung des Egoismus; noch krasser verhält es sich in Bezug auf das Ideal des Weisen, das schließlich idealiter durch den Zustand des Wahnsinns erfüllt wird, worin sich die Moral als philosophische Wissenschaft selbst aufgibt. Dieses wenig schmeichelhafte Bild der „anglikanischen Schule“ bestätigt Schleiermacher ausdrücklich im Anhang zum ersten Buch der Grundlinien (KGA I/4, 141– 146), wobei Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle die Widersprüche der Schule auf die Spitze treibe: „mit seinem Grundsaz, welcher die Sympathie der Menschen zum Kennzeichen des Sittlichen macht,“ überbiete er „alles […], was oben gesagt worden ist, von der Art wie das Wohlwollen wieder in die Selbstliebe zurückkehrt, denn gewiß werden die Beobachtenden nicht sympathisiren mit demjenigen, dessen selbstliebige Triebe zu schwach sind, weil sonst auch seine wohlwollenden sich selbst zerstören, und seine Erhaltung dann ihnen vergeblich zur Last fiele.“ (KGA I/4, 144) Auch hier besteht das Grundübel wiederum in der fehlenden Vereinigung des Allgemeinen und Individuellen, wobei freilich nachdrücklich daran erinnert werden muss, dass dies für Schleiermacher kein spezifisches Gebrechen der englischen Moralphilosophie darstellt, sondern einen Mangel aller bisherigen Sittenlehren bis hin zu Kant und Fichte, den als erster zu beheben er fest entschlossen ist. Gleichwohl lässt sich kaum übersehen, dass die „anglikanische Schule“ in den Grundlinien im Vergleich zu anderen Theorien besonders abschreckend charakterisiert wird. So betont Schleiermacher ausdrücklich, dass, „wer einigen wissenschaftlichen Sinn in sich hat, noch die Gallikanische Darstellung vorziehen muß“ (KGA I/4, 145), und zu Fichtes Ehetheorie bemerkt er abfällig, dass diese „höchstens […] eines Engländers würdig“ wäre (KGA I/4, 220). Nur in einem Punkt deutet sich in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sit-
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tenlehre ein positiver Bezug auf die englische Moralphilosophie an, und zwar ausgerechnet auf Adam Smith: von ihm (den er hier namentlich nicht nennt) möchte er, „um der dürftigen und mißverstandenen“ Benennung „Ökonomie“ (verdeutscht als „Kunst des Haushaltens“) zu „entfliehen“, den Ausdruck „Lehre von Vermehrung des Reichtums“ übernehmen; auch hier komme es freilich darauf an, dass „der ethische Standpunkt ununterbrochen der herrschende bleibt, ja der einzige.“ (KGA I/4, 335) Immerhin zeigen Schleiermachers spätere ethische Entwürfe, dass er – wie sonst neben ihm im deutschen Kontext wohl nur noch Hegel – die Ökonomie zum wesentlichen und integralen Bestandteil seiner Realphilosophie gemacht hat.¹⁵ Aber auch in einer viel grundsätzlicheren Hinsicht deutet sich in den Grundlinien an, dass die englische Moralphilosophie von Schleiermacher nicht einfach verworfen, sondern wegen ihrer Einseitigkeit kritisiert wird. „Wenn“, so heißt es, „die Nothwendigkeit eines in allen Menschen gleichen, und in jedem untrüglichen sittlichen Gefühls nicht kann erwiesen werden, so ist es recht zu dem zurückzukehren, was die Natur der Sache andeutet, daß nemlich das Gefühl und die Einsicht eines Jeden sich unter einander bestimmen, und in ihrer Fortschreitung sich gegenseitig zum Maaß dienen können.“ (KGA I/4, 263) (2) Dieses Programm führt Schleiermacher in seinen späteren ethischen Entwürfen aus, wobei ich mich hier auf einige Hauptpunkte in dem Entwurf von 1812/ 13 beschränken muss, die in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse sind.¹⁶ Das in den Grundlinien angesprochene Verhältnis von „Gefühl“ und „Einsicht“ wird dort mit dem von „Subjekt“ und „Objekt“ gleichgesetzt, wobei die Einsicht nun bestimmter als „Wahrnehmung“ der Mannigfaltigkeit von Gegenständen oder als „Hingebung“ bestimmt wird, während das Gefühl mit dem Selbstbewusstsein konnotiert ist.¹⁷ Schleiermacher spricht hier von einem „Auseinandertreten“ beider Seiten,womit sie – im Sinne der 1803 erhobenen Forderung – ursprünglich zusammengehören und ihre wechselseitige Bestimmung Bestandteil des ethischen Prozesses ist. Dabei ist jedoch die Beziehung von Subjekt und Objekt bzw. von Gefühl und Wahrnehmung in der Persönlichkeit „nur eine Hinleitung zum eigentlichen Erkennen“ und nur als eine solche „sittlich und menschlich“; das wahre Erkennen aber liege „in der Identität des Allgemeinen und Besondern, vermöge dessen im Einswerden einer persönlichen Vernunft mit
Vgl. hierzu unten „Tauschen und Sprechen“. Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg.v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981. Ebd., 24, §§ 9 und 10.
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einem einzelnen Dinge zugleich die Identität der ganzen Vernunft mit der ganzen Natur gegeben ist.“¹⁸ Bezieht man diese Ausführungen auf Schleiermachers Kritik der sittlichen Gefühle zurück, so wird deutlich, dass er die ethisch relevanten Gefühle in zweierlei Hinsicht anders situieren möchte. Zum einen setzt er sie in Beziehung zur Wahrnehmung als einem objektiven Erkennen und zum anderen setzt er die Einheit von Wahrnehmung und Gefühl nicht in die einzelne Persönlichkeit, sondern legt sie dem Einzelnen voraus und zugrunde in der „Uebereinstimmung der menschlichen Natur mit der allgemeinen [Natur]“, welche die „Identität der ganzen Vernunft mit der ganzen Natur“ zum Ziel hat.¹⁹ Nun ist aber unschwer zu erkennen, dass vor allem durch die letztere Operation das Gefühl auch systematisch aufgewertet wird, indem es über die Persönlichkeit hinaus deren Einheit mit dem natürlichen und sittlichen Ganzen bezeichnet und damit die Vermittlung des Eigentümlichen und Allgemeinen leistet, auf die es Schleiermacher vor allem ankommt. Während die Wahrnehmung zu einer objektiven Anschauung führe, welche „dieselbe in allen und als gültig für alle“ sei, repräsentiere das Gefühl „das Sein als Organ und Theil einer größeren Sphäre […] mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit“.²⁰ Anders gesagt: Wahrnehmung bzw. Anschauung sind allgemein und objektiv gültiges Wissen ohne Beimischung von Subjektivität, Gefühl ist individuelle Allgemeinheit. Durch dieses Gefühl stehe jede Person letztlich, wie es unter Rückgriff auf die Terminologie der Reden über die Religion heißt, „in einer vollständigen Verbindung mit dem Universum“.²¹ Spätestens an dieser Stelle wird man sich erinnern, dass Schleiermacher 1799 in den Reden zwar davon ausging, dass Metaphysik und Moral „mit der Religion denselben Gegenstand haben, nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“ (KGA I/2, 207), dass er zugleich aber doch den „schneidenden Gegensaz“ festhalten wollte, „in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet.“ (KGA I/2, 211) Tatsächlich bekommt aber nun, in der Ethik 1812/13, die Religion eine Funktion für die Moral, die über die Funktion einer durch die Dieselbigkeit des Gegenstandes veranlassten Parallelveranstaltung zur Philosophie weit hinausgeht. Denn ohne Umschweife bestimmt Schleiermacher hier den „Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen“, also die Beziehung der Persönlichkeit auf die Totalität oder das Universum, als Religion.²² Und er fügt
Ebd., § 11. Ebd. Ebd., 61, § 159. Ebd., 71, § 210. Ebd., 74 f., § 228.
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erläuternd hinzu, dass „nicht nur die Religion im engeren Sinne“ religiös sei, „sondern auch alles reale Gefühl und Synthesis, die auf dem physischen Gebiete liegt als Geist und auf dem ethischen als Herz, insofern beides über die Persönlichkeit heraus auf Einheit und Totalität bezogen wird.“²³ Ich möchte hier nicht der Frage nachgehen, ob damit die von Schleiermacher angestrebte Koexistenz des Philosophischen und Religiösen als zwei gleichursprünglichen Selbst- und Weltverhältnissen in eine Schieflage gerät, denn dies gehört – mit ihm zu sprechen – in das Verhältnis des Dialektischen zum Religiösen.²⁴ Worum es mir hier geht, ist die inhaltliche Struktur des Gefühls, das offenbar einen Indifferenzpunkt nicht nur des Eigentümlichen und Allgemeinen, sondern – in diesem spezifischen Rahmen – auch von Vernunft (Wahrnehmung, Anschauung) und Sinnlichkeit darstellen soll, sofern „Gefühl“ auf niederen Stufen ja tatsächlich sinnliche Affektionen bezeichnet und der Terminus, ganz bewusst, diese Konnotation auch auf den höheren Stufen des Gefühlslebens festhält. In dieser „Gradation“²⁵ des Gefühls und der Vernunftgehalte im eigentümlichen Erkennen findet aber, sofern es eben nach Schleiermacher „werdende Religion“ ist,²⁶ so etwas wie eine fortschreitende Entnaturalisierung oder „Entsinnlichung“ des Gefühls statt, seine Ethisierung durch eine wachsende Einigung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft im Gefühl. Hierin liegt, so glaube ich, der tiefste Gegensatz zu den Affektenlehren der Aufklärung und insbesondere zu den moral-sense-Theoretikern. Für Schleiermacher sind die natürlich gegebenen Affekte nur Ausgangspunkt und Material
Ebd., 75, § 229. Vgl. hierzu die Nachschrift von Ludwig Jonas zu Schleiermachers Enzyklopädie-Vorlesung im Wintersemester 1816/17, Bl. 114vf. (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Schleiermacher 547/1): „Lange Zeit ist als rationale Theologie angesehen, was eigentlich nur Dogmatik war, und als rationale Ethik angesehen, was eigentlich religiöse Moral ist, doch mit Absonderung des allgemein christlichen. Eine jede Sittenlehre, die bloß ein philosophisches Gefühl zum Grunde hat, ist eigentlich nicht philosophisch, weil sie auf kein System zurückgeht. Die Objectivität geht bei solcher Darstellung ganz verloren. Die englischen Philosophen haben alle Tugend und alle Pflicht aus dem Gefühl, aus der Sympathie hergeleitet. Aber die Bewegung des Gefühls an und für sich kann nur religiöse seyn, und es ist ein Mangel, wenn man das nicht wahrnimmt.In jeder solchen Darstellung muß ganz der Character seyn, der der religiösen Moral zum Grunde liegt, das eigentlich Christliche ist nur davon genommen.“ – Die Mitteilung dieser Stelle verdanke ich Nicolaas Groot (Leiden), der mir freundlicherweise einen Auszug aus seiner Transkription der Nachschrift Jonas zur Verfügung stellte; zum Kontext dieser Nachschrift vgl. Hendrik Johan Adriaanse: „Der Herausgeber als Zuhörer. Ein SchleiermacherKollegheft von Ludwig Jonas“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verb. mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 103 – 124. Schleiermacher: Ethik (1812/13), Hamburg 1981, 75, § 130. Ebd.
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ethischer Bildung, können aber in gar keinem Falle unmittelbar als Bestimmungsgrund von Sittlichkeit gelten. In diesem Sinne kann es für Schleiermacher auch keine ethischen Gefühle geben, denn diese bilden keine spezifische Kategorie neben anderen Affekten, wie dies z. B. mit der Berufung auf ein natürliches Wohlwollen oder eine natürliche Sympathie behauptet wird. Ethisch ist das Gefühl nur dann, wenn es als Moment der „werdenden Religion“ so etwas wie vergeistigte bzw. durch Vernunft gebildete Natur darstellt. Umgekehrt gilt nun freilich aber auch, dass die Vernunft mit rein rationalen Mitteln des Begreifens nach Schleiermacher die universale Einheit nicht erfassen und damit auch nicht wirklich zum leitenden Gesichtspunkt der Ethik machen kann. In der „Einleitung“ zur Ethik 1812/13 grenzt er sich daher sowohl von der eudämonistischen, auf sinnlichen Prinzipien basierenden Ethiken als auch von rationalen Ethiken ab, für die hier namentlich Kant steht. Dieser trenne das Ethische und Physische, Vernunft und Sinnlichkeit, während in der wahren Ethik dieser Gegensatz und mit ihm auch der „zwischen Vernunftmäßigkeit und Glückseligkeit“ verschwinden müsse.²⁷ In dieser Perspektive bildet gerade auch die „anglikanischen Schule“ ein Gegengewicht gegen die Einseitigkeiten der durch Kant und Fichte zur Hegemonie gelangten rationalen Ethik, und ihre Kritik bestreitet nicht das Wahrheitsmoment ihres Ansatzes, die Sinnlichkeit im ethischen Prozess zur Geltung zu bringen. Und um dieses Wahrheitsmomentes willen kann Schleiermacher sich auch nicht damit begnügen, dass sich die englische Moral selbst vernichtet, sondern er muss sie philosophisch dadurch vernichten, dass er sie auf ihren Gegensatz bezieht und beide als Extreme zum Verschwinden bringt. (3) Aus dieser Sicht stellt sich natürlich die Frage, ob Schleiermacher der Moralphilosophie der englischen Aufklärung nicht doch entscheidende Anregungen verdankt, die durch seine Kritik nur verdeckt werden. Blickt man noch einmal zurück auf die Kritik an der „anglikanischen Schule“ in den Grundlinien, so fällt auf, dass Schleiermacher deren Spektrum nur sehr verkürzt zur Sprache bringt. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Mandeville als Kritiker Shaftesburys nicht zur Geltung gebracht wird; auch Joseph Butler und David Hume, die jeweils auf spezifische Weise versuchen, den Gegensatz von Shaftesbury und Mandeville zu vermitteln, finden nicht bzw. – wie Hume – nur am Rande Erwähnung. Letzteres überrascht auch deshalb, weil Hume für den rationalistischen Gegensatz zur englischen Schule in Gestalt der Kantischen Philosophie von besonderer Bedeutung ist. Aber auch speziell Jacobis Auseinandersetzung mit Hume im Zusam-
Vgl. ebd., 6 f., bes. Nr. 8 – 13.
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menhang seiner Kant-Kritik hätte, nicht zuletzt im Blick auf Schleiermachers eigene Gefühls-Konzeption, wie sie sich in den Grundlinien bereits andeutet, Anlass geben können, diese Philosophie genauer auszuleuchten. Auch fehlt – abgesehen von dem bereits zitierten polemischen Hinweis, die englische Moral entspreche mehr der Denkart des Volkes als wissenschaftlichen Bedürfnissen – jeder Hinweis auf die Theorien des common sense, wie sie in den damaligen Diskussionen in Deutschland vor allem wiederum bei Friedrich Heinrich Jacobi, aber auch bei Gottlob Ernst Schulze („Aenesidemus“)²⁸ und nicht zuletzt auch in der Popularphilosophie der Spätaufklärung präsent waren. Nun wird man aus der verkürzten Darstellung nicht den Schluss ziehen können, Schleiermacher habe die Theorien der englischen Schule auch nur verkürzt zur Kenntnis genommen. So spricht er ja in den Grundlinien nur „das Gemeinschaftliche“ KGA I/4, 145) der Schule und nicht deren Differenzierungen an, die er freilich ausdrücklich auch nicht für wesentlich hält. Dies legt jedenfalls kein besonderes Interesse für diese Theorien nahe und auch sonst gibt es – weder in den Schriften und Entwürfen Schleiermachers noch in seinen Briefen – Hinweise auf ein einschneidendes Bildungserlebnis, dass er der englischen Aufklärungsphilosophie oder einem ihrer Repräsentanten verdankte. Ich möchte daher, bis zum – durch das Auffinden neuer Quellen theoretisch natürlich noch immer möglichen – Erweis des Gegenteils davon ausgehen, dass Schleiermacher die „anglikanische Schule“ vor allem als Schule, d. h. im – tatsächlichen oder vermeintlichen – Grundbestand aller Theorien sich im Überblick vertraut gemacht, dadurch aber keine Veranlassung für ein eingehenderes Studium gewonnen hatte, wie es sich bei ihm für andere Autoren belegen lässt. Schleiermachers Rezeption der Moralphilosophie der englischen Aufklärung dürfte daher vor allem durch den zeitgenössischen Diskussionskontext in Deutschland am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts angeregt und bestimmt worden sein. Hier ist besonders darauf zu verweisen, dass Schleiermachers Hallenser akademischer Lehrer, Johann August Eberhard, in seiner Sittenlehre der Vernunft (1781) die „Sittenlehrer anderer Nationen“ und darunter auch die englischen Moralphilosophen ausführlicher vorstellt und Schleiermacher bei ihm mit Sicherheit einen ersten Überblick über diese Schule gewinnen konnte. Eine weitere wichtige Vermittlungsfigur dürfte Johann Joachim Spalding gewesen sein, dessen Denken stark von Shaftesbury (den er auch übersetzt hatte) und Hutcheson geprägt war, wobei er versuchte, Aufklärung und Glauben auf der Basis der Theorie ethischer Gefühle miteinander in Einklang zu bringen. Spaldings
Vgl. hierzu Brady Bowman: G.E. Schulzes Skeptizismus-Konzeption im Lichte der Hegelschen Kritik, Magisterarbeit am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin 1998.
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scharfe Kritik jeder subjektiven Gefühlsschwärmerei spielte in Schleiermachers Freundeskreis bei der Ablösung von der Brüdergemeine eine wesentliche Rolle.²⁹ Und noch ein dritter Autor ist zu nennen, der Schleiermachers Sicht der englischen Schule beeinflusst haben dürfte, nämlich Christian Garve, der sich durch seine Übersetzungen und Interpretationen englischer Moralphilosophen³⁰ um deren Verbreitung in Deutschland bemüht hatte. Die Vermittlertätigkeit Garves dürfte indessen nicht gerade günstig für Schleiermachers Bild der englischen Aufklärungsphilosophie gewesen sein, wie sich schon an der Garve-Rezension im Athenaeum 1800 ablesen lässt. In den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre wird Garve selbst mit seiner eigenen Philosophie dann umstandslos der englischen Schule zugeschlagen: er gehöre „ganz zu derselben“ (KGA I/4, 96), ja, er habe sogar „ihrem Gebäude die Zinne aufgesetzt, die für jeden das Wahrzeichen sein kann“ (KGA I/4, 73). Auch dies spricht nicht eben dafür, dass Schleiermacher der englischen Aufklärungsphilosophie ein eigenständiges Interesse entgegengebracht hatte. Sie war – wie gerade ihre Gleichsetzung mit der Philosophie Christian Garves deutlich macht – von ihm wohl eher als Bezugspunkt einer breiten Strömung der deutschen Aufklärungsphilosophie des späteren 18. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen worden, d. h. in Verbindung auch mit der Aufwertung des Gefühlsbegriffs in der Schul- und Popularphilosophie der Spätaufklärung und mit Kants Auseinandersetzung mit der Theorie der ethischen Gefühle. Letztere hat bei Schleiermacher deutliche Spuren schon in den Frühschriften hinterlassen, wobei er sich im Ergebnis kritisch dagegen wendet, dass dieses Gefühl nach Kant den Willen nicht bestimme und als Achtung für das Sittengesetz mit sinnlicher Lust und Unlust nichts zu tun haben solle.³¹ So heißt es bereits in der Abhandlung Über das höchste Gut (1789), es könne „das Sittengesez nicht anders als vermittelst des sich darauf beziehenden moralischen Gefühls auf unsern Willen wirksam seyn und denselben bestimmen“ und durch diese Bestimmung „fließen Sitten und Glükseligkeitslehre
Vgl. KGA V/1, 48. Schleiermacher nannte 1789 Spalding in einem Atemzug mit seinem Lehrer Eberhard (an Brinckmann, 10.6.1789, KGA V/1, 122) und war während seiner Zeit als CharitéPrediger in Berlin ein gern gesehener Gast in dessen Hause. Noch 1805 widmete er der posthum erschienenen Lebensgeschichte Spaldings eine Rezension, welche seinen Respekt zum Ausdruck bringt (KGA I/5, 27– 38); darüber hinaus war Schleiermacher dem Sohn des Theologen, dem Altphilologen und späteren Mitglied der Akademie der Wissenschaften Georg Ludwig Spalding (1762– 1811), freundschaftlich verbunden. Vgl. KGA I/3, 65 f den Sachapparat zu Zeilen 14 f; Schleiermachers Garve-Rezension ebd., 65 – 72. Vgl. KpV, 132 ff.
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zusammen“ (KGA I/1, 124 f.).³² Hier ist der Sache nach das Programm bereits angekündigt, das Schleiermacher dann in seinen eigenen ethischen Entwürfen verfolgen wird: das Programm, den „Gegensaz zwischen Vernunftmäßigkeit und Glückseligkeit“³³ zum Verschwinden zu bringen. Hierfür freilich scheint dann auch von Anfang an gegenüber Kant der Rückgriff auf eine sinnliche Konzeption des ethischen Gefühls notwendig gewesen zu sein, wie sie Schleiermacher aus der Moralphilosophie der englischen Aufklärung vertraut war, denn das sittliche Gefühl soll genau die systematische Schaltstelle zwischen Sinnlichkeit und Vernunft besetzen, um den Gegensatz des Eudämonismus und Rationalismus vernichten zu können. Durch diesen offenkundigen Rückgriff auf moral-sense-Theorien wird freilich auch Schleiermachers scharfe Kritik in den Grundlinien an der „Empfindsamkeit“ Shaftesburys zweideutig, die sich allein „vermittelst der Einbildung […] alle Süßigkeiten jenes auf Wohlwollen beruhenden sittlichen Gefühls zu verschaffen“ suche (KGA I/4, 72). Zwar wird man Schleiermacher einen anderen, „vergeistigteren“ Gefühlsbegriff zugutehalten müssen, und vor allem auch, dass das Gefühl sich bei ihm nicht in der Kontemplation vollendet. Gleichwohl erweist die theoretische Konstellation seiner Kritik an der Empfindsamkeit diese Kritik als eine selbst empfindsame, wenn auch im Namen einer Empfindsamkeit höherer Ordnung, über deren philosophische Berechtigung unabhängig von dieser Kritik zu streiten wäre.
Zu Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant vgl. eingehend Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Berlin und New York 1988. Schleiermacher: Ethik (1812/13), Hamburg 1981, 7, Nr. 13.
Teil III: Die Philosophische Ethik und das Werden des Systems
1 Tauschen und Sprechen. Zur Rezeption der bürgerlichen Ökonomie in der philosophischen Ethik 1805/06 (1) Tauschen und Sprechen bezeichnen in Friedrich Schleiermachers Hallenser Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1805/06 parallele und miteinander verknüpfte Prozesse überwiegend identischen Organisierens, d. h. Prozesse, in denen das Individuelle übertragbar gemacht wird und die die Grundlage gesellschaftlicher Allgemeinheit bilden. Geld und Sprache sind die Organe, in denen das Individuelle selbst den Charakter der Allgemeinheit gewinnt. Sie in dieser Weise zu thematisieren heißt, sie als individuell produzierte Organe der Vermittlung des Individuellen zu gesellschaftlicher Allgemeinheit zu begreifen. Mit anderen Worten: in der Reflexion auf Geld und Sprache versucht Schleiermacher, Gesellschaft als Organismus vom Individuellen her zu begründen und dabei den Aporien naturrechtlicher Konzeptionen der Vergesellschaftung über einen Vertrag zu entgehen. Geld und Sprache sind nicht konventionell, obwohl sie eine konventionelle Seite haben; sie sind selbst ein „natürlicher und ewiger“, oder, wie Schleiermacher auch sagt, „unendlicher“ Vertrag,¹ eine Bestimmung, mit der die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages selbst dementiert wird, ohne dass die Gesellschaft den Individuen gegenüber als eine abstrakt-allgemeine Voraussetzung fixiert würde. Damit ist eine Konzeption gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit angedeutet, die sich als Artikulation eines Gegensatzes gegen die über den Tausch vermittelte abstrakte Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren ließe. Von den Voraussetzungen Schleiermachers her und mit seinen theoretischen Mitteln wird letztlich das Individuelle selbst als Allgemeines gedacht, d. h. der Zusammenhang der Individualitäten als schon immer konkreter Zusammenhang vorgestellt. Die Fülle des Lebens und der Möglichkeiten, die Individualität im Zusammenhang des Allgemeinen zur Geltung zu bringen, bleiben in der, wenn auch nicht willkürlichen, Verfügung der Individuen selbst und stellen sich ihnen nicht in den gegenständlichen Mitteln der Produktion und Kommunikation als „unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse“ entgegen.² Die Figur der Entäußerung als Entfremdung liegt jenseits dessen,was Schleiermacher in den Blick bekommt. August Boeckh: Kollegnachschrift zu Schleiermachers Ethikvorlesung, Bl. 23v. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Schleiermacher 585/1. Die Zitation erfolgt durch die Formel „Nachschrift Boeckh“ und die Blattangabe. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Main und Wien o. J., 80.
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Teil III: Die Philosophische Ethik und das Werden des Systems
Unter dieser Voraussetzung könnte es freilich als paradox erscheinen, dass Schleiermacher mit dem Geld als Organ identischen Organisierens an systematisch hervorragender Stelle das Mittel zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, das, um mit Marx zu sprechen, einen abstrakten Zusammenhang der „Vergleichung an der Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit“³ setzt, er damit aber gerade das Gegenteil begründen will, nämlich konkrete Allgemeinheit. Und Schleiermacher tut dies nicht auf der Grundlage einer bloß spekulativen Konstruktion des Geldes, sondern seine Konstruktion geht aus von der Rezeption merkantilistischer Geldtheorien, die er gegen Fichtes Geldtheorie im Gesellschaftsmodell der Schrift Der geschlossene Handelsstaat aufbietet. In dieser Auseinandersetzung mit Fichte liegt auch zunächst der Anstoß zu Schleiermachers Rezeption der bürgerlichen Ökonomie.⁴ Das Resümee seiner Ausführungen zur Geldtheorie lautet: „In dieser Darstellung sind wir ganz von Fichte abgewichen, weil er hier weder consequent noch beweisend war. Denn daß das Geld nicht Waare seyn dürfe, wie er sagt, ist 1) gegen den Ursprung, und 2) macht das Geld zu einem bloß conventionellen; 3) und widerspricht seiner eigenen Behauptung von der Nichtigkeit des Papiergeldes, welches sonach das beste seyn würde.“⁵ In der Zurückweisung der naturrechtlichen Vergesellschaftungskonzeption sah sich Schleiermacher seinem Hauptkontrahenten Fichte gegenüber gezwungen, die nicht konventionelle Seite des Geldes hervorzuheben und innerhalb seines eigenen systematischen Ansatzes glaubhaft zu machen. Dabei konnten die antiken Geldtheorien Platons und Aristoteles’, die Schleiermacher mit Sicherheit kannte, nicht weiterhelfen, begreifen sie doch das Geld als nomisma. Um Fichte entgegentreten zu können, sah sich Schleiermacher offensichtlich gezwungen, Geldtheorien der bürgerlichen Ökonomie zur Kenntnis zu nehmen und seinem System einzuordnen. Nicht, dass Schleiermacher Geldtheorien der bürgerlichen Ökonomie rezipiert, scheint mir erklärungsbedürftig zu sein, sondern wie er sie rezipiert, d. h.,
Ebd., 79. Ein äußerlicher Anlass für die Beschäftigung mit Geldtheorien dürften die Diskussionen gewesen sein, die die königliche Verordnung vom 4. Februar 1806 über die Einführung von Tresorscheinen als Papiergeld auslöste. Darüber berichtete Schleiermachers Kollege an der Hallenser Universität, der Philosoph und Ökonom Ludwig Heinrich von Jakob, im „Hallischen patriotischen Wochenblatt“ vom 15. März 1806 (7. Jg., 1. Quartal, 11. Stück, 161– 164. – Der Artikel ist mit „L.H.J.“ gezeichnet. Für diese Mitteilung danke ich Hermann Patsch, München). Jakob (1759 – 1827) hatte auf Kantianischer Grundlage die Theorie Smith‘s aufgenommen und durch Theorieelemente Says ergänzt. Seine „Grundsätze der Nationalökonomie“ erschienen 1805 in Halle; deren Rezeption durch Schleiermacher ist bisher ebensowenig zu belegen wie ein näherer Umgang mit Jakob. Nachschrift Boeckh, 23v.
1 Tauschen und Sprechen. Zur Rezeption der bürgerlichen Ökonomie
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welche Voraussetzungen sein eigener Ansatz bietet, Ökonomie zum legitimen Gegenstand philosophischer Reflexion zu machen, und welche Behandlung dieses Gegenstandes sich aus diesen Voraussetzungen ergibt. Schleiermachers Rezeption der bürgerlichen Ökonomie ist kein isolierter Vorgang. Sie vollzieht sich im Milieu der aufklärerischen Popularphilosophie der Garve, Schlosser, Kraus und anderer, die sich seit der Mitte der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts mit der englischen Ökonomie, namentlich mit Autoren wie Steuart und Smith, überwiegend rein rezeptiv auseinandersetzten und sie durch Übersetzungen in Deutschland bekanntmachten.⁶ Sieht man allerdings auf die philosophisch-systematische Reflexion des theoretischen Gegenstandes „bürgerliche Ökonomie“, so scheint es nur eine Parallele zu geben, nämlich die Jenaer Systementwürfe Hegels. Vergleichbar sind nicht Intensität und Sachkenntnis der Rezeption, die Hegel in der Tat zu einem konkurrenzlosen Fall machen, sondern die Tatsache, dass beim Jenaer Hegel wie in Schleiermachers Hallenser EthikVorlesungen die Ökonomie überhaupt legitimer Gegenstand philosophischer Reflexion an zentraler Stelle des Systems wird. Von dorther wäre das Urteil Manfred Riedels zu überprüfen, „Hegels Rezeption der Nationalökonomie“ habe, obschon sie kein isolierter Vorgang sei, „in der zeitgenössischen Philosophie des deutschen Idealismus keine Parallele“.⁷ Dieser Parallele und den damit zusammenhängenden Problemen kann hier nicht nachgegangen werden.⁸ Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf
Vgl. dazu Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1977, 273 – 335, wo jedoch recht einseitig die Rezeption der Physiokraten und Smith’s im Mittelpunkt steht. Vgl. auch Fritz Behrens: Grundriß der Geschichte der politischen Ökonomie, Bd. 2: Die Marxsche politische Ökonomie, Berlin 1976, 86 ff.; Bd. 3: Die bürgerliche Ökonomie bis zur allgemeinen Krise des Kapitalismus, Berlin 1979, 107– 137; ferner Jürgen Kuczynski: Zur politökonomischen Ideologie in Deutschland vor 1850 und andere Studien, Berlin 1960, 1– 56. Insgesamt scheint die Rezeption der bürgerlichen Ökonomie im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts in ihren Verästelungen und den Einflüssen heute weitgehend vergessener Autoren wie z. B. Johann Georg Büsch, von dem noch zu sprechen sein wird, und der als einer der wenigen deutschen Ökonomen dieser Zeit für Marx eine Rolle spielte (vgl. Fred E. Schrader: Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum „Kapital“ von Karl Marx in seinen Studien 1850 – 1858, Hildesheim 1980, 61 f.), noch nicht besonders gut erforscht zu sein. Manfred Riedel: „Die Rezeption der Nationalökonomie“, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1969, 76 f. Insbesondere der Einfluss Schellings, dessen Philosophie als Kristallisationspunkt der Hegelschen und Schleiermacherschen Systementwürfe fungiert zu haben scheint, bedürfte in diesem Zusammenhang der Aufklärung. Warnke und Ruben z. B. haben die Auffassung vertreten, dass die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ökonomie in der Naturphilosophie Schellings durch die spekulative Erfassung der natürlichen Voraussetzungen und der Naturseite gesellschaftlicher Arbeit in ihrer bürgerlich-industriemäßigen Form vorbereitet sei. Vgl. dazu
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Teil III: Die Philosophische Ethik und das Werden des Systems
Schleiermachers Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1805/06, wobei zunächst der systematische Rahmen der Auseinandersetzung mit der Ökonomie herausgearbeitet werden soll. Dazu wird in einem ersten Schritt nach den theoretischen Mitteln gefragt, mit denen Schleiermacher Individuelles als Allgemeines darstellen will. In einem zweiten Schritt geht es um die ihm dabei vorschwebenden Modelle gesellschaftlicher Vermittlung. Von diesen Voraussetzungen her sollen das Verhältnis von Sprache und Geld bei Schleiermacher und die Eigenart seiner Geldtheorie näher bestimmt werden. Auf systematische und entwicklungsgeschichtliche Konsequenzen der Behandlungsart des Ökonomischen bei Schleiermacher wird abschließend eingegangen. (2) Schleiermachers Grundposition lässt sich mit dem Theorem des individuellen Allgemeinen bezeichnen. Schleiermacher will die Vernunft in ihrer Endlichkeit als Individualität zur Geltung bringen, diese Individualität aber zugleich in dem Zusammenbestehen mit anderen Individualitäten im gesellschaftlichen Bereich und im Blick auf den Weltzusammenhang allgemein und objektiv fassen, ohne, wie er in seiner Ethikvorlesung von 1805/06 betont, ein „allgemeines objektives Wissen abstrahiert von aller Individualität“ zu setzen.⁹ Die Aufgabe, die Schleiermacher sich stellt, besteht darin, unaufhebbare Differenzen im Endlichen und Einheit der Vernunft zusammen zu denken. Die Schwierigkeiten einer Lösung dieser Aufgabe lassen sich an einer vermutlich 1803 entstandenen Tagebuchnotiz verdeutlichen: „Ist es nicht anmaßend daß der Mensch glaubt auch nur als Modification mit Gott unmittelbar zusammenzuhängen? Er ist wol nur Modification des Erdgeistes, und wir sollten unsre absoluten Triebe und Schranken aus den Verhältnissen der Erde zu verstehen suchen.“ (KGA I/3, 323 f.) Hier deutet sich nicht nur die spätere Trennung der Ideen Gottes und der Welt an; deutlich wird auch, dass Schleiermacher die Einheit der Vernunft im Endlichen selbst, als irdische Vernunft aufweisen will, für welche die Chiffre des „Erdgeistes“ steht.¹⁰ Der in der Notiz gebrauchte Begriff der Modifikation verweist auf die intensive Auseinandersetzung Schleiermachers mit Spinoza, von der her die ob-
Camilla Warnke: „Systemdenken und Dialektik in Schellings Naturphilosophie“, in: Dialektik und Systemdenken. Historische Aspekte, Berlin 1977, 99 ff. Vgl. auch Peter Ruben: „Schelling und die romantische deutsche Naturphilosophie“, in: Natur – Kunst – Mythos. Beiträge zur Philosophie F.W.J. Schellings, hg.v. S. Dietzsch, Berlin 1978, 37 ff. Sittenlehre, 175. Zu Schleiermachers Konzeption des Erdgeistes vgl. Hermann Patsch: „Der ‚Erdgeist‘ als philosophischer Topos bei Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Schelling und Hegel“, in: Schleiermacher’s Philosophy and the philosophical Tradition, ed. by Sergio Sorrentino, Lewiston u. a. 1992, 75 – 90.
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jektiv-deterministischen Motive in seiner Konzeption eingehen. Schleiermacher setzt dabei die Einheit der Vernunft oder das Unendliche von vornherein in die endlichen Individualitäten, die im Für-sich- und Zusammenbestehen mit anderen Individualitäten auf unendliche Weise die Vernunft realisieren. Dies ist der Gegenstand der philosophischen Ethik. Die Ethik ist für Schleiermacher die „Wissenschaft der Geschichte“ oder der „Intelligenz als Erscheinung“,¹¹ d. h. der Einheit der Vernunft in ihrer unendlichen Realisierung im Endlichen. Ihr Gegenstand sind die „Naturgesetze“ des menschlichen Handelns, eine Bestimmung, die die Kantische Trennung von Natur- und Sittengesetz dementiert.¹² Die Ethik gliedert sich nach dem klassischen Schema und in dieser Reihenfolge in Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre, wobei die letzteren die Handlungen einzelner Individuen zum Gegenstande haben, die Güterlehre aber die Funktionen, Formen und Gebiete der Vernunfttätigkeit in der Geschichte als Bildung der Vernunft in und durch die Natur behandelt. Die Ethik markiert, wie Schleiermacher sagt, ein „Fachwerk“¹³ der Vernunfttätigkeiten, das dadurch befestigt wird, dass sich quantitativ unterschiedene Handlungsräume – vom einzelnen Menschen bis zur Individualität des Staates und der „Welt“ als Handlungsraum der Gattung – ineinander lagern, ohne ineinander aufgehoben zu sein. Diese Sphären sind nach dem Umfang der Vernunfttätigkeit hierarchisiert, sollen aber zugleich, unter der Voraussetzung der Individualität der Vernunft, eine unaufhebbare qualitative Differenz darstellen. Die zwei grundlegenden Formen der Vernunfttätigkeit, das Organisieren als Bilden der Natur zum Organ der Vernunft einerseits und das Erkennen und Darstellen als Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft andererseits, werden in der Durchführung der Ethik jeweils unter die gegensätzlichen Charaktere überwiegender Identität bzw. überwiegender Individualität gesetzt, wodurch sich das Konstruktionsschema der Quadruplizität ergibt. Durch das Mitgesetztsein des jeweils entgegengesetzten Charakters sind die so unterschiedenen Funktionen durchgängig nur relativ entgegengesetzt; das Individuelle soll gemeinschaftlich oder übertragbar werden, das Gemeinschaftliche soll in einer gegenläufigen Bewegung wieder individualisiert werden. Auf diese Weise stellt Schleiermacher einen Zusammenhang vor, in dem das Allgemeine individuell gefasst wird und sich die Einheit der Vernunfttätigkeiten in einer unaufhebbaren Differenz der Individualitäten realisiert.
Sittenlehre, 80. In der Darstellung des Grundrisses der Ethik beschränke ich mich auf das „Brouillon“ 1805/06. Vgl. ebd. – Zur Kritik an Kants Trennung vgl. auch Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, KGA I/4, 95 f. Sittenlehre, 90.
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(3) Zur Begründung dieses Verfahrens rekurriert Schleiermacher nicht auf eine oberste Wissenschaft, über die er in Halle nicht verfügte, sondern bleibt im Rahmen des „Erdgeistes“: Das ganze System der Ethik wird in den Hallenser Vorlesungen aus ihr selbst heraus entwickelt und dargestellt. In der Vorlesung von 1805/06 verweist Schleiermacher dabei auf eine „ursprüngliche Anschauung“, von der ausdrücklich betont wird, sie sei letztlich nicht begründbar, weil von der Gesinnung abhängig.¹⁴ Dieser Begriff der Anschauung verweist auch zurück auf die „Anschauung des Universums“ in den Reden über die Religion, die als ein Vermögen des menschlichen „Gemüts“ dem theoretischen und praktischen Vermögen nebengeordnet wird, zugleich aber deren gemeinsamen Ursprung, ihre Einheit bezeichnen soll. Im Blick auf die immanente, innerweltliche Vermittlung jedoch, die Thema der Ethik ist, ist die gesuchte und in der Anschauung vorgegebene Einheit anders situiert und in der Relativität der Entgegensetzungen aufzufinden. Hierfür hat Schleiermacher bis dahin zwei Modelle entwickelt. Das erste findet sich in den Monologen (1800) in einer grundlegenden Reflexion auf die Sprache als dasjenige Medium, in dem sich das Individuum sowohl privatsprachlich-eigentümlich ausdrücken als auch seine Individualität allgemein darstellen kann. In der selbst individualisierten, d. h. auf einen Sprachkreis beschränkten Sprachgemeinschaft wird das Individuum in eine Beziehung zur Allgemeinheit setzt, die ihm aber nicht einfach vorgegeben ist, sondern die er als Sprechender mit konstituiert und ggf. weiterbildet.¹⁵ Das zweite Modell der Vermittlung des Individuellen zum Allgemeinen ist das Modell des literarischen Salons als Ort herrschaftsfreier Kommunikation und Selbstverständigung des Bürgertums, wie es Schleiermacher in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens entwickelt.¹⁶ Die „freie Geselligkeit“ – ein Begriff, der auch in den späteren ethischen Entwürfen an systematisch ausgezeichneten Orten vorkommt, er bezeichnet z. B. das im ethischen Sinne vernünftige Verhältnis der Staaten zueinander, – diese freie Geselligkeit repräsentiert in idealtypischer Weise die zweckfreie, nicht teleologisch gedachte Vermittlung des Individuellen zum Allgemeinen und führt modellhaft vor, was als intellektuelles Reich der Freiheit jenseits der Naturseite der individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesse universalisierbar wäre.¹⁷ Auch dieses Reich konstituiert sich im gleichsam flüs-
Ebd., 81 f. Vgl. KGA I/3, 37 f. Vgl. oben „Geselligkeit und Gesellschaft“. Vgl. KGA I/2, 165: „Es muß also einen Zustand geben, […] der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchgeschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die
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sigen Medium der Sprache, nicht über eine materiell-gegenständliche Vermittlung außerhalb der gegenständlichen Seite des Sprechens selbst. Sprache und freie Geselligkeit bezeichnen Modelle kommunikativen Handelns, gesellschaftlicher Interaktion, die der Schleiermacherschen Vorstellung einer Vermittlung zugrunde liegen und sie veranschaulichen. Damit könnte Schleiermacher auch als Fall einer Theorie gelten, die Handeln als kommunikative Interaktion im Unterschied vom materiell-gegenständlichen Produktionsprozess, Arbeit, begreift, obwohl auch die Sphäre der Arbeit im Rahmen dieses Modells thematisiert werden soll, wie es in der Rezeption der bürgerlichen Ökonomie deutlich wird. Zu fragen ist, ob das Modell „Handeln als sprachliche Kommunikation“ es erlaubt, historisch-spezifische Vermittlungszusammenhänge im Bereich des Ökonomischen zu begreifen, oder ob es letztlich einen normativ-transzendentalen Rahmen von Geschichte begründet. (4) In welchem Verhältnis steht nun aber das Geld zur Sprache als Modell gesellschaftlicher Vermittlung, und verweist die mögliche Parallelisierung von Tauschen und Sprechen nicht noch auf eine andere Anschauung, die bei Schleiermacher zugrunde liegt? Welche Voraussetzungen sind also von Schleiermachers eigenem Ansatz her gegeben, die bürgerliche Ökonomie zum Gegenstand seiner Reflexion zu machen und innerhalb seines Systems zu thematisieren? Die Kritik der naturrechtlichen Vergesellschaftungstheorien liegt in der Konsequenz der Schleiermacherschen Konzeption eines individuellen Allgemeinen. Das Erkennen und Anerkennen der Vernunft im Andern muss, so betont Schleiermacher, als „ganz nothwendig“ erscheinen, und das „Schwierigste hierbey ist, wie ich das Einwohnen der Vernunft und die Grenze des Organisirten erkennen kann; was eine für die Moral und das an sich schon so barokke Naturrecht recht schwierige Frage ist“.¹⁸ Schleiermacher nennt zwei Bedingungen des individuellen Handelns als Organisieren für die Gemeinschaft, die erfüllt sein müssen, damit dieses Erkennen und Anerkennen vernünftiger Individualitäten vom Individuellen her als notwendig zustande kommt: „1) daß das Product sich von dem Producirenden trennen lasse […] 2) daß man seine Gedanken andern
fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen gelöst […] hier ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt und kann als ein Mitglied derselben handeln; dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiter bilden, und von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen.“ Nachschrift Boeckh, Bl. 95r.
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könne bekannt machen.“¹⁹ Diese Unterscheidung des Denkens vom Produzieren innerhalb der Vernunfttätigkeit, auf der auch die Parallelität von Geld und Sprache sich gründet, ist insofern bemerkenswert, als Schleiermacher unter seinen Begriff des organisierenden Handelns recht umstandslos das Handeln auch im Sinne gegenständlicher Produktion fassen möchte, wenn er wenige Sätze später lapidar sagt: „Das Geld stellt Arbeit dar, d. h. eine Thätigkeit, welche ein Product hat, und es kann das Geld von dem Producirenden ganz getrennt werden.“²⁰ Diesem Begriff des Produzierens liegt eine Anschauung der Einheit von Natur und Vernunft in der Geschichte zugrunde, die Schleiermacher gegen die Trennung von Natur- und Rechts-(Vernunft‐)zustand wendet. Innerhalb der Schleiermacherschen Systematik sind Ethik und Naturwissenschaft zwei Seiten der Philosophie, die sich wechselseitig bedingen. Das Handeln, der Gegenstand der Ethik, ist selbst „als Vermögen Natur“,²¹ und der Umriß der Ethik steht unter dem Titel der „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ als „Aufhebung der Irrationalität zwischen Natur und Vernunft“.²² Diese „Beseelung“ vollzieht sich im „Bilden der Natur zum Organ und Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft“.²³ Ausgangspunkt der ethischen Betrachtung ist daher beim „Menschen als Naturwesen“,²⁴ der sich durch seine organische Funktion vom Tier unterscheidet durch „ein unabhängigeres Hinstellen des Werkes zwischen das Subjekt und die Welt“.²⁵ Diese Auffassung der Natur, wie sie von den natürlichen Voraussetzungen und der Naturseite des Handelns her in den Blick kommt, fasst Schleiermacher dahingehend zusammen, „daß die Natur überall für die Vernunft gebraucht werde, und daß alles, was in der Vernunft an sich liegt, auch durch die Natur in der endlichen Vernunft zu Bewußtsein komme. Die Möglichkeit dieses liegt in der durch die Naturphilosophie aufgezeigten Harmonie der menschlichen Natur mit der allgemeinen“,²⁶ die Natur selbst ist „ein vollkommenes Organ der Vernunft“.²⁷ Diese Auffassung sieht in der Natur nicht nur ein Objekt geistiger Tätigkeit als Naturerkenntnis, auch nicht einen Gegenstand, der sich durch die menschliche
Ebd., Bl. 95v. Ebd., Bl. 96r. Sittenlehre, 80. Ebd., 87. Ebd., 89 f. Ebd., 90. Ebd., 103. Ebd., 96. Ebd., 99.
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Vernunft allererst konstituiert, sondern stellt sie ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt ihrer Beherrschung durch Aneignung vor.²⁸ Damit knüpft Schleiermacher an Schelling an. In seiner 1804 erschienen Rezension der Schellingschen Vorlesungen über die Methoden des akademischen Studiums (1803) hatte er einen Positionswechsel gegenüber Schelling vollzogen, dessen Philosophie er bis dahin überwiegend negativ bewertet hatte.²⁹ Mit seiner Naturphilosophie, die musterhaft das Verhältnis des Spekulativen zum Realen (d. h. Empirischen) vorführe, habe, so Schleiermacher in der Rezension, Schelling die Mittel, die Moral zu konstruieren, und die Durchführung dieser Konstruktion könne auch das System selbst vervollständigen.³⁰ Indem Schleiermacher sich in den Hallenser Vorlesungen selbst dieser Aufgabe unterzieht, die Konstruktion der Ethik unter der Voraussetzung der Naturphilosophie zu unternehmen und beide von der Ethik her miteinander zu verknüpfen, stellt sich sein Unternehmen insoweit als Vervollständigung und Korrektur des Schellingschen Systemansatzes von 1803 dar.³¹ Was sich aus den verstreuten Bemerkungen Schleiermachers zu seiner Naturauffassung 1805/06 zusammentragen lässt, versammelt wesentliche Bestimmungen der Voraussetzungen und Momente des Arbeitsprozesses in einer Weise, wie es in den früheren Schriften und Entwürfen Schleiermachers nicht der Fall ist, wo auch, soweit ich sehen kann, Handeln nicht in dieser Weise als Produzieren vorgestellt wird. In der Hallenser Ethik-Konzeption kommt diesem Begriff insofern eine zentrale Stellung zu, als er die Einheit der Grundfunktionen – Bildung und Gebrauch der Organe – bezeichnet und zugleich die Einheit von Erkennen und Darstellen im Gebrauch der Organe: „Denn Organe können nicht anders gebildet werden als durch den Gebrauch; es giebt nur Selbstbildung; und mit dem vermehrten Wissen im Gebrauch entstehen auch neue Aufgaben der Organbildung.“³² „Im Produciren selbst sind beide Factoren unzertrennlich und so auch
Vgl. ebd., 92: „Herrschaft des Menschen über die Erde gleich vollständiger Organbildung, denn man beherrscht nur seine Organe, und alles Beherrschte wird Organ. Diese Herrschaft erfordert ein gänzliches Durchschauen der Natur; sie ist nur möglich in absoluter Gemeinschaft“, d. h. als Gattungsprozess, der 103 ausdrücklich unter dem Titel der Aneignung der Natur auftritt. Zum Positionswechsel und zum Verhältnis Schleiermacher-Schelling insgesamt vgl. Hermann Süskind: Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, 93 f. Vgl. KGA I/4, 465 f.; 479. Der Einfluss Schellings auf die Ethik ist allerdings sehr stark vermittelt durch die Naturphilosophie Henrich Steffens’, Schleiermachers Kollegen und Freund in Halle. Sittenlehre, 90.
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beide Charaktere. Durch den Gebrauch bildet sich das Organ, und durch das Bilden entsteht Erkennbares.“³³ Dabei ist Schleiermacher kein Begriff gesellschaftlicher Arbeit zu unterstellen; indem er aber die Einheit von Natur und Vernunft im Handeln der Vernunft betont, reicht die metaphorische Spannweite des Begriffs der Produktion hin, bei der Thematisierung des Geldes das Produzieren auch als Arbeit zu bezeichnen. Von dorther wird die Sphäre des Ökonomischen der Systematik einrangiert, ohne dass versucht wird, sie von ihren eigenen Voraussetzungen her auf den Begriff zu bringen.³⁴ Dies gilt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch von der Behandlung des Geldes. (5) Schleiermachers Rezeption merkantilistischer Geldtheorien ist durch die Notwendigkeit der Kritik an Fichtes Geldtheorie vorstrukturiert. Im Gegensatz zu Fichte ist für Schleiermacher das Geld (a) seinem Ursprung nach Ware, damit (b) nicht bloß konventionell und (c) macht das bloße Wertzeichen, Papiergeld, nicht den Begriff des Geldes aus. In Fichtes sozialutopischem Modell des „geschlossenen Handelsstaates“ erstreckt sich der Gesellschaftsvertrag auf eine Verrechtlichung der Produktionsund Zirkulationssphären nach dem Prinzip der proportionalen Verteilung der Arbeit.³⁵ Unter Rückgriff auf physiokratische Vorstellungen dient als Maßstab der Distribution das Korn als Grundnahrungsmittel. Unter der Bedingung der festgesetzten Proportionalität, und nur unter dieser Bedingung, repräsentiert das Geld einen bestimmten, unwandelbaren Wert; es ist bloßes Zeichen als Medium der durch das vorausgesetzte Gleichgewicht schon immer gelingenden Tauschakte. Es kann und soll daher bloßes Zeichen, an sich möglichst wertlos sein. Das Gleichgewicht lässt sich aber nur dann sichern, wenn der Staat sich nach außen hin abschließt und Geld nur als Landeswährung zulässt. Unter diesen Voraussetzungen kann der Staat „zu Gelde machen, schlechthin was er will“, denn „nur
Ebd., 92. Dies lässt sich an der Auseinandersetzung mit Smith deutlich machen. In den „Frühe[n] Aphorismen“ zur „Lehre vom Staat“, wo sich der einzige direkte Beleg für eine Smith-Rezeption Schleiermachers findet, heißt es: „Smiths Gedanke daß Arbeit der allgemeine Maaßstab ist beruht eigentlich darauf, daß nur das gebildete einen Werth hat, und ist in so fern sehr tief.“ (KGA II/8, 22) Die „Tiefe“ liegt für Schleiermacher aber offenbar in der metaphorischen Ausdeutbarkeit der Arbeit in Bezug auf alle Sorten von Bildungsprozessen, die unter seine Vorstellung des „Bildens“ subsumierbar sind. Johann Gottlieb Fichte: Der geschloßne Handelsstaat, in: Ausgewählte politische Schriften, hg.v. Z. Batscha und R. Saage, Frankfurt/Main 1977. Eine ausführliche Darstellung der Fichteschen Geldtheorie scheint Desiderat zu sein; ich beschränke mich hier auf eine Charakteristik derjenigen Momente, die den Ausgangspunkt der Schleiermacherschen Kritik bilden.
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durch den Willen des Staates repräsentiert es etwas“.³⁶ Dieser Willkür allerdings sind, was auch Fichte bemerkt, dadurch Grenzen gesetzt, dass die Menge des in Umlauf befindlichen Geldes den in Umlauf befindlichen Warenwerten proportional sein muss. Schon der Gedanke einer solchen vortragsförmig hergestellten Proportionalität widerspricht Schleiermachers Voraussetzungen, denn Privateigentum und Arbeitsteilung sind im Prinzip der Individualität als Eigentümlichkeit nicht nur naturwüchsig, sondern auch von der Vernunft her begründet.³⁷ Das Geld kann daher nur Mittel eines zugleich natürlichen und vernünftigen Zusammenhangs sein, d. h. auf jeden Fall: es darf nicht nur konventionell sein. Auf welche Theorien sich Schleiermacher Fichte gegenüber beruft, lässt sich nicht mit Sicherheit beweisen. Im Auktionskatalog der Schleiermacherschen Bibliothek, deren Bestand allerdings nur Indizien für mögliche Rezeptionen geben kann, finden sich nur zwei Titel von Schriften ökonomischen Inhalts, die er 1804/05 überhaupt rezipiert haben könnte: Steuarts Untersuchung der Grundsätze der Staatswirthschaft, Hamburg 1769, und eine Schrift, die schon vom Titel her auf das mit Fichtes Geldtheorie bezeichnete Problem hindeutet: Johann Georg Büsch: Abhandlung von dem Geldumlauf in anhaltender Rücksicht auf die Staatswirthschaft und Handlung, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Hamburg und Kiel 1800.³⁸ Es scheint mir durchaus plausibel zu sein, dass Schleiermacher sich von Steuart und dessen Hamburger Adepten Büsch Argumente gegen Fichte liefern ließ, denn der Kern der Theorien beider ist die Nichtkonventionalität des Geldes. Büsch könnte überdies mit seinem Abriss über die kulturstiftende Funktion des Geldes Schleiermacher die Grundlage seiner Thematisierung des Geldes in geschichtsphilosophischer Absicht, als ursprünglich natürliches Mittel des Übergangs zur Vernunftkultur, geliefert haben. Charakteristisch für Steuarts (und Büschs) Theorie ist das empirische Aufnehmen der Erscheinungsformen des Geldes in der Zirkulation und deren unmittelbare Rückführung auf die Werte als solche. Das Hauptinteresse besteht darin, die Formen des Geldes aus den Austauschverhältnissen selbst zu entwickeln, indem das Geld weder von der Ware getrennt noch als einfache Ware unter anderen behandelt wird.Wir werden gleich sehen, dass Schleiermacher ähnlich argumentiert und, in einer anderen Terminologie, auch eine für Steuart charakteristische Unterscheidung aufnimmt, nämlich die von Münzgeld als Preis oder reales Äquivalent des Wertes im Un-
Ebd., 100. Vgl. Sittenlehre, 110.124. Vgl. Tabulae librorum e bibliothecae defuncti Schleiermacher, Berlin 1835, 75 (Nr. 35/36); 90 (Nr. 530/31); KGA I/15, 829.685.
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terschied zum Rechengeld als willkürlichen Maßstab des relativen Werts, der Proportion im Austauschverhältnis. Der Zusammenhang von Geld und Metall als Ware ist für Schleiermacher die notwendige Seite des Geldes. Metall ist ursprünglich zugleich Geld und Ware. Das Verhältnis des Metalls zu anderen Waren ist gleichfalls notwendig, d. h. nichtkonventionell durch die Notwendigkeit eines Ausgleichs der „Ungleichheit der Bedürfniße“, „wie auch die Metalle eine natürliche Bedeutung für die Waaren haben müßen, die aber noch so wenig erforscht ist, als die Bedeutung der Worte für die Ideen“.³⁹ Davon wird das „Geld der Vernunftcultur“⁴⁰ unterschieden, das insofern eine „conventionelle Seite“⁴¹ hat, als nicht mehr der Metallwert der Münze mit ihrem Wert als Mittel der Zirkulation unmittelbar identisch ist. Die Zeit der Kultur ist „die Zeit, da das geprägte Geld einen höhern Werth erhält durch den Staat, als das verhältnißmäßige Metall […] Das Nichtconventionelle ist also der Waarenwerth, das Conventionelle der Münzwerth.“⁴² Die relative Trennung des Geldes von der Ware ermöglicht den Kulturfortschritt in der Ausdehnung des Handels, aber auch hier muss das Geld „Waare repräsentiren, aber nicht bloß repräsentiren, sondern auch den wahren Gehalt haben“ – es darf nicht zum bloßen Zeichen werden, wie im Papiergeld.⁴³ Papiergeld und Wechsel sind unter der Funktion des Rechengeldes vorgestellt; sie sind nur „Zeichen von dem Werthe des besonderen Geldes oder der Waare […] aber nicht selbst Geld;“⁴⁴ die Funktion solcher Zeichen besteht in der Umsetzung des Geldes zwischen den Nationen, analog der Übersetzung von Sprachen. Schleiermacher ist nämlich der Auffassung, dass der Metallwert sich nur individuell, im Rahmen einer als Individualität gedachten Nation, bestimmen lasse: „Allgemeines Geld ist eine Chimäre, wie allgemeine Sprache.“⁴⁵ Der nationale Handlungsraum ist hier, wie für die Ethik insgesamt, die letztmögliche individualisierbare Einheit. Kommt in dieser Beschränkung des Geldes auf die Nation das Individualitätsprinzip zur Geltung, so hat Schleiermacher doch gespürt, dass der Gegenstand sich gegen diese Beschränkung wehrt. Im Brouillon zur Ethik (1805/06) notiert er, dass „wahres Geld kosmopolitischer ist als Sprachen und über den Staat hinausgeht.“⁴⁶ Dagegen können wir in der Vorlesungsnachschrift lesen: „Daß das
Nachschrift Boeckh, Bl. 96v. Ebd., Bl. 23r. Ebd., Bl. 96v. Ebd. Ebd. Bl. 23r. Ebd. Ebd. Sittenlehre, 114.
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Geld aber noch allgemeiner als die Sprache seye, widerspricht der Erfahrung und Theorie, wie gezeigt ist. Nur als Waare, nicht als Geld ist dieß.“⁴⁷ Gezeigt (oder behauptet) hat Schleiermacher aber etwas ganz anderes: nämlich den notwendigen Zusammenhang von Ware und Geld. Warum sollte sich dieser Zusammenhang jenseits der Nation auflösen? Spätestens mit der Fassung der Ethik von 1812/ 1813 hat Schleiermacher aber diese Auffassung ausschließlich vertreten und zugleich die Parallelität von Sprache und Geld in der Form, wie er sie in Halle entwickelt hatte, aufgelöst. Die Gründe dafür liegen in Schleiermachers Weltanschauung ebenso wie in den theoretischen Mitteln, mit denen er den ökonomischen Gegenstand „Geld“ bearbeitet. Schleiermacher greift Formbestimmtheiten des Geldes im Austauschverhältnis auf, ohne den Tausch als vermittelnde und über das Geld als Mittel vermittelte Bewegung zu thematisieren. Das Geld ist Organ der Übertragung des Individuellen ins Allgemeine, wird aber ebenso wenig in seiner vermittelnden Funktion eigens thematisiert wie die Organe im Produzieren. Das Produzieren selbst war die Einheit aller relativ entgegengesetzten Charaktere und Momente des Handelns, eine unmittelbare Vermittlung im Handlungsvollzug selbst. Nicht anders beim Geld. Es ist nicht Organ von Austauschverhältnissen, sondern von schon immer gelingenden Handlungsvollzügen, des Tauschens selbst, in denen das Individuelle unvermittelt Allgemeinheit gewinnt. Nur auf diese Weise, nämlich indem die spezifische Vermittlungsstruktur nicht als Problem auftaucht, kann Schleiermacher die Zirkulationssphäre der bürgerlichen Gesellschaft über die Rezeption der bürgerlichen Ökonomie seinem System einordnen, ohne zu fragen, welche Sorte Allgemeinheit hier eigentlich konstituiert wird. Die bürgerliche Gesellschaft wird als notwendig anerkannt und zugleich als unmittelbar konkrete Allgemeinheit behauptet. (6) Die Hallenser Vorlesungen zur philosophischen Ethik bezeichnen eine Zwischenstufe des Schleiermacherschen Systembildungsprozesses. Die durchgängige Parallelität von Sprache und Geld erscheint nur hier unter dem Titel des überwiegend identischen Organisierens. In der Hallenser Konzeption hat dies zur Folge, dass bereits auf dieser Stufe durch die Organe Geld und Sprache (oder, nach der Vollzugsseite des Handelns: durch Tauschen und Sprechen) elementarisch die Gemeinschaftsspähren Staat und Akademie gewonnen werden, die durch die als notwendig behauptete Parallelität beider als gesellschaftliche Organismen zueinander in Beziehung gesetzt sind. Der Entwicklung des Geldes zum Geld der Vernunftkultur läuft die Entwicklung der Sprache vom anschaulichen Sprechen
Nachschrift Boeckh, Bl. 23v.
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(wo die Bedeutung des Wortes das Äquivalent eines realen Gegenstandes ist) zur Sprache der Vernunftkultur parallel: „Die Sprache, welche nur Anschauung bezeichnet, taugt nicht für die Wissenschaft, und nur diejenige will der Wissenschaftler welche Begriffe bezeichnet, die Ideen enthalten. Dieß ist die Sprache der Vernunftcultur. Ebenso das Geld.“⁴⁸ Über diese Parallelität hinaus behauptet Schleiermacher, dass sich Sprache und Geld „suppliren müßen“, nennt dafür aber nur das Element der Überredung beim Tausch, den Verkauf von Produkten geistiger Arbeit und schließlich den (sprachlichen) Zeichencharakter des Geldes.⁴⁹ Geld und Sprache bleiben letztlich nur analogisch aufeinander bezogen, was auch eine Voraussetzung dafür zu sein scheint, dass Schleiermacher die durchgängige Parallelität schließlich auflösen kann. Diese Auflösung kündigt sich in einer späteren Randnotiz Schleiermachers im Brouillon an: „Die Sprache gehört gar nicht hieher, sondern nur […] ein Streben die Vermögen in solchen Stand zu sezen, daß ein Anderer durch sie thätig sein kann, und die Andern so, daß ich durch sie thätig sein kann, d. h. zusammengehörige Imitation und Überredung als Streben nach Gleichförmigkeit der Thätigkeit, worin die Verständigung durch Zeichen mit begriffen ist.“⁵⁰ Was Schleiermacher damit benennt, ist das, was später in der Dialektik als „geschäftsmäßiges Sprechen“ bezeichnet wird und nur einen Teil des Sprechens außerhalb der Sprache des wissenschaftlichen, d. h. reinen Denkens bildet. Diese Form des Sprechens wird auch in den späteren Entwürfen beim identischen Organisieren vorkommen, ebenso das Geld, mit der Einschränkung, dass nun kein Zweifel mehr besteht, dass es Weltgeld nicht geben kann, weil es das aus Gründen der systematischen Konstruktion nicht geben darf. Die anderen Formen des Sprechens, künstlerisches und wissenschaftliches, werden auf andere Handlungsräume verteilt, letzteres wird schließlich auch zum Thema der Dialektik, der Kunstlehre zur Hervorbringung des Wissens.⁵¹
Ebd., Bl. 96v. Ebd., Bl. 96r. Sittenlehre, 114. Eine radikale Interpretation der Schleiermacherschen Dialektik als Kommunikationstheorie unternimmt Udo Kliebisch: Transzendentalphilosophie als Kommunikationstheorie. Eine Interpretation der Dialektik Friedrich Schleiermachers vor dem Hintergrund der Erkenntnistheorie KarlOtto Apels, Bochum 1981. Dagegen problematisiert Norbert W. Bolz von der Hermeneutik her das Problem der Vermittlung bei Schleiermacher. Seine Grundthesen scheinen mir mit den Ergebnissen meiner Untersuchung in vielen Teilen übereinzustimmen. Vgl. Bolz: „Der Geist der Konversation und der Geist des Geldes“, in: Klassiker der Hermeneutik, hg.v. U. Nassen, Paderborn 1982, 108 – 130.
1.1 Anhang: Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh (Auszug)
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1.1 Anhang: Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh (Auszug)⁵² [94v] Wollen wir nun aber die bildende Thätigkeit näher betrachten, so müßen wir wieder bloß der Betrachtung wegen, sie auf die 2 Charaktere, die immer in ihre verbunden seyn müßen, der Gemeinschaftlichkeit und der Individualität ansehen. Wir haben bereits in der allgemeinen Übersicht gesehen, daß, da das Handeln vernünftig seyn müße, die Vernunft aber nicht in der Person befangen seye; das Handeln über die Persönlichkeit hinaus für die ganze Vernunft selbst, in ihrer absoluten Identität berechnet werden muß; daß dieß aber nicht anders geschehen könne, als [95r] indem der Mensch für die Gesammtheit der Vernünftigen, in welchen sich die Vernunft offenbart, handle. Folglich muß der Mensch Menschen außer sich suchen, finden und anerkennen. Dieses ist der Trieb der Gemeinschafft oder die Liebe, welche von unserem Standpuncte aus [uns] ganz nothwendig erscheint, und erscheinen muß, und keineswegs, wie wohl andere glauben mögen, im Nutzen der Persönlichkeit oder im Unvermögen eigener Hilfe seinen Grund hat; ja deren Grund nicht ein Mahl in der Natur liegt, indem das ethische Bedürfniß der Gemeinschaft und Liebe nicht der Grund [innere], sondern nur das ist, was ihm in der Natur parallel läuft, und auch hier die Einheit zeigt. Hiernach muß ich dasjenige, was ich außer mir organisirt finde, insoweit ich es als solches erkennen kann, als ein Vernünftiges, von der gemeinschaftlichen Vernunft Stammendes reflectiren. Woraus folgt, daß 1) ich was ich so erkenne, zugleich für mein Organ halte, indem es Organ der ganzen Vernunft ist, und als ein für sie Gebildetes erscheint; 2) daß ich auch mein Gebildetes für Organ Aller hingebe, inwiefern es für die ganze Vernunft ist. Das Schwierigste hierbey ist, wie ich das Einwohnen der Vernunft und die Grenze des Organisirten erkennen kann; was eine für die Moral und das an sich schon so barokke Naturrecht recht schwierige Frage ist. Das erste Erkennen ist wohl ohne Zweifel das Erkennen seiner selbst. Nosce te ipsum, und also auch das Wiedererkennen seines Bildes im anderen. Wer also fragt, woran er die Menschen kenne, den muß man allerdings auf eine Naturhistorie verweisen; der Naturhistoriker aber wird ihn, wenn er klug ist, nicht an die Nägel und Zähne, wie Blumenbach, sondern wohl auf das was Nosce te ipsum zurückweisen, wie Linné. Zwar kommt auch diese Selbsterkenntniß nur stufenweise und durch Versuche zu Stande; allein den Keim hat jeder schon vorher: er darf ihn nur entwickeln. [Jeder erkennt sich selbst von seiner Existenz an, jeder von Ewigkeit her.]
Die archivalische Foliierung entspricht nicht der tatsächlichen Reihenfolge der Aufzeichnungen, so dass sich der Anschluß von Bl. 23r an Bl. 96v ergibt. Die Abkürzungen und Chiffren im Ms. werden stillschweigend aufgelöst, Hervorhebungen einheitlich kursiv wiedergegeben. Unsichere Lesarten werden in geschweifte Klammern {} eingeschlossen, die Foliierung in halbfette Klammern []; alle anderen Klammern stehen im Ms.
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Das Verkennen der menschlichen Gestalt, und Behandlung des Menschen schlichtweg als Thier, z. B. fresse man aus Lust (was wohl niemand thut), ist die absolute Barbarey. Mit Religion – das ist was anderes. Aber wie man nun das vom Menschen gebildete [95v] erkenne, um es nicht selbst noch ein Mahl zu bilden? Diese Frage ist wie alle bisherigen bloß vom Standpunct der Persönlichkeit aufgeworfen, und verschwindet ganz vor dem unsrigen: auf welchem die Vernunft nicht mehr, wie dort, beschränkend erscheint. Da Erkennen und Bilden eines ist, so kann ich nicht bilden, als wenn ich erkenne; ehe ich also ein Organisches bilden will, muß ich bereits ein Organisches erkannt haben. Folglich kann der Fall des Umbildens des Gebildeten bey einem sittlichen Menschen gar nicht vorkommen. Fichte und Schelling haben geglaubt, man erkenne das Gebildete an der Kunst, und stehe wohl mit Schaudern davor und bebe zurük. Aber an Schauder und Hemmung ist hier gar nicht zu denken; wahre Freude ist dabey. Auch ist es nicht das Kunstwerk, sondern Zahl und Figur, Arithmetik und Geometrie, was die Vernunft bezeichnet, und wodurch sie sich zu erkennen gibt [Organismus auch]. Diese Gemeinschafft der Organe, welche dieser Charakter fordert, kann nur durch 2 Bedingungen realisirt werden: 1) daß das Product sich von dem Producirenden trennen lasse. Hiernach also muß die bildende Thätigkeit eingerichtet werden; und dann ist die Thätigkeit sittlich. 2) daß man seine Gedanken andern könne bekannt machen. Keine von beyden erfüllt für sich ganz das Ganze; sie suppliren sich wechselsweise, und je mehr die eine Bedingung thätig ist, desto weniger bedarf es der andern. Aber ihre Begrenzung liegt schon in ihrer Möglichkeit. Denn da das Loßreißbare es nur durch die Individualität des Producirenden ist, so ist es eben dadurch schon beschränkt. Eben so mit den Gedanken, die nun aber das Dargestellte als das Entgegengesetzte desselben suppliren. Die letztere Bedingung ist die Sprache, das Resultat des Strebens nach der Gemeinschafft im Erkennen und Darstellen, und Bildung anfangs aber ein bloß nützliches Zwischeneinkommendes und ein Mittel zu nützlichem Zweck: wodurch sie allen wissenschaftlichen Gehalt verliert. Das Geld stellt Arbeit dar, d. h. eine Thätigkeit, welche ein Product hat, und es kann das Geld von dem Producirenden ganz getrennt werden.Wie die Sprache die Idee, so stellt das Geld das Product des HandeIns dar: aber beyde stellen dar abgesondert und losgerissen vom Producirenden. Die Darstellung durch Geld geht aber selten ohne Worte ab, und die Darstellung durch die Sprache nicht immer ohne Geld, weil ebenbeyde selten ganz trennbar sind, sondern sich suppliren müßen. Die Producte des Handelns werden gemeinschaftlich durch Geld; aber auch die Überredung ist dabey thätig von beyden Seiten; die Producte des Denkens werden gemeinschaftlich durch die Sprache; aber auch das Geld (Honorar) kommt hinzu; und zwar ebenfalls von beyden Seiten, indem man nicht nur Geld nimmt für seine Gedanken, sondern oft auch Geld gibt um sie nur an Mann zu bringen: wie
1.1 Anhang: Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh (Auszug)
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man dort nicht nur Überredung nimmt, sondern auch gibt, um Geld für Waare zu erhalten, d. h. um sein Product gemeinschaftlich zu machen. Daß man aber statt des Products Geld nimmt, könnte eher eigennützig scheinen, als daß es mit dem Charakter der Gemeinschafftlichkeit fliesse: allein man muß bedenken, daß man nicht allein sein eigen, sondern alle Producte als gemeinschafftlieh ansieht. Daß aber die Sprache das Geld supplire, dieß deutet auch das Sprichwort an: verba valent sicut numi. Da nun Sprache und Geld so parallel sind, so ist es auch gar kein Wunder, daß man auch die Sprache für ein bloßes νομισμά oder νόμον, für Convention genommen. Allein weder Sprache noch Geld sind schlechtweg conventionell; beyde aber haben eine conventionelle Seite und eine nothwendige. Die Sprache für Anschauung ist nothwendig; die Sprache für den Begriff conventionell: aber inwiefern der Begriff selbst wieder nothwendig ist, wird auch dieß Conventionelle der Sprache wieder in die Nothwendigkeit aufgenommen: so wie auch noch inwiefern die Elemente dieser Sprache nothwendig sind, und nur die Form oder Bedeutung, deren Stoff jene Elemente sind, Convention ist. [96v] Dasselbe muß nun bey dem Parallellaufen beyder auch beym Gelde seyn. Es muß eine nothwendige Seite haben, die in der Zeit der Anschauung hervortrat. In jener Zeit war nehmlich das Metall noch Waare; und man wog es zu; aber es hatte schon ein pretium eminens, und war zugleich Geld und Waare.Wenn es nun Waare ist, so muß sein Werth, d. h. sein Verhältniß zu andern nach dem Bedürfnisse des Metalles und der andern bestimmt worden seyn. Bedürfniß aber ist etwas Nothwendiges, und keine Convention; wenn Einer Tuch für Silber gab, so war diß nicht Convention, sondern das Bedürfniß des Silbers für diesen, des Tuchs für jenen: und die Ungleichheit der Bedürfniße ist selbst von der Natur nothwendig bestimmt: wie auch die Metalle eine natürliche Bedeutung für die Waaren haben müßen, die aber noch so wenig erforscht ist, als die Bedeutung der Worte für die Ideen, aber eben so wenig als letztere geläugnet werden kann. Aber eine conventionelle Seite hat das Geld, und diese fängt an mit der Zeit der höhern Cultur oder des ausgebreiteten Handels, welche parallel geht mit der Zeit des Begriffs, und welche nicht so wie die Zeit des Prägens ist, sondern die Zeit, da das geprägte Geld einen höhern Werth erhält durch den Staat, als das verhältnißmäßige Metall. So wie nun aber auch, in der Zeit des Begriffes es noch Anschauung gibt, so auch in der Zeit der Convention gibt es noch Geld, welches noch den völligen frühern Werth hat. Das Nichtconventionelle ist also der Waarenwerth, das Conventionelle der Münzwerth. Hieraus folgt nun auch die Nothwendigkeit des Geldes für die Cultur. Die Sprache, welche nur Anschauung bezeichnet, taugt nicht für die Wissenschaft, und nur diejenige will der Wissenschaftler welche Begriffe bezeichnet, die Ideen enthalten. Dieß ist die Sprache der Vernunftcultur. Ebenso das Geld. Bloße Waare, ohne Repräsentation hemmt die Cultur; Geld muß Waare repräsentiren, aber nicht bloß repräsentiren, sondern auch den wahren Gehalt
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haben, ganz wie bey der Sprache. Dieß ist das [23r] Geld der Vernunftcultur. Aber verderbte Übercultur ist es, wenn die Sprache Repräsentation der anschauungslosen Begriffe, und das Geld Repräsentation von Waaren ist, ohne den Gehalt {dieser} zu involviren. Hier besteht das Leere darin, daß der Gehalt der Waare nicht in dem Repräsentirenden ist; dort, daß der Gehalt der Anschauung nicht in dem repräsentirenden Wort ist. Aus diesem Grunde erscheint also auch das Papiergeld als Zeichen eines zerrütteten und übercultivirten Staates, sowie alle schlechte Münze, und dieses ist durch die ganze Geschichte der Numismatik auffallend bestätigt. Da aber ferner jede Nation einen andern Werth der Metalle, wie einen andern Werth der Sprachelemente, und einen andern Inbegriff von Waarenbedürfnissen, wie anderer Sprachbedürfnissen hat, so hat auch jede Nation, d. h. Staat, eigen Geld, wie eigene Sprache. Auch dieses bestätigt die Erfahrung. Allein durch diese Besonderheiten zieht sich ein Allgemeines durch, wie in der Sprache, und wie daher in der Sprache Übersetzung, so ist beym Gelde Umsetzung möglich, nicht als wenn das Besondere sich übersetzen und umsetzen liesse: nur das Allgemeine wird übergetragen, aber unter der besonderen Form, die nun zukommt. Allgemeines Geld ist eine Chimäre, wie allgemeine Sprache. Die allgemeine Sprache kann nur auf Zeichen der Ideen gehen, allgemeines Geld nur auf Zeichen von dem Werthe des besonderen Geldes oder der Waare: und Letzteres gibt die Wechsel, in wie fern sie allgemein auf den Werth gestellt sind. Wechsel überhaupt sind nur an Geldes statt, aber nicht selbst Geld; daher auch nicht, wie das Papiergeld, das nicht mehr gegen Metall umgetauscht werden kann, werth. Diß sind Principien zu einer wissenschaftlichen Numismatik von politischer Seite; es gibt für sie aber noch zweierlei Seiten, die artistische und historische, welche aber nur zufällig sind, und nicht das Wesen der Münze angehen. Hiervon noch. Auch dieses bestätigt die Behauptung, daß Geld nicht ohne Sprache seyn kann; wie auch a priori aus dem vorigen klar. Diese Sprache ist Bilderschrifft oder Buchstabenschrifft. So entstehen diese zwei Ansichten. Eines von beyden muß [23v] hinzukommen, wenn die Geldwaare will wahres Geld werden. Auch darf man nicht klagen über das Geld, indem ohne dasselbe keine Cultur möglich ist. In dieser Darstellung sind wir ganz von Fichte abgewichen, weil er hier weder consequent noch beweisend war. Denn daß das Geld nicht Waare seyn dürfe, wie er sagt, ist 1) gegen den Ursprung, und 2) macht das Geld·zu einem bloß conventionellen; 3) und widerspricht seiner eignen Behauptung von der Nichtigkeit des Papiergeldes welhes so nach das beste seyn würde. Ferner daß das Geld sich mit der Sprache nicht vermischen dürfe, ist theils gerade gegen das Wesen des Gelds, theils gegen die Behauptung, daß Geld nicht für sich bestehen könne. Daß das Geld aber noch allgemeiner als die Sprache seye, widerspricht der Erfahrung und Theorie, wie gezeigt ist. Nur als Waare, nicht als Geld ist diß.
1.1 Anhang: Ethik 1805/06, Nachschrift Boeckh (Auszug)
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Der Charakter der Gemeinschaftlichkeit in Bezug auf die Sprache gibt die Dienstfertigkeit, in Bezug auf das Geld die Wohltätigkeit wenn derselbe stark hervortritt. In beydem aber muß das Individuum, welchem comminicirt wird, als Repräsentant der Gattung angesehn werden. Es fragt sich aber, woran ich wisse, daß ich einen dafür zu nehmen habe. Eigentlich daran; daß ich in ihm dieselbe Vernunft thätig finde, welche in mir selbst wirkt: folglich in Beziehung auf die Sprache, an vernünftiger Sprache und überhaupt dem Vermögen, zu verstehen, in höherer Beziehung an dem Vermögen des Ideenverstehens. Dieses Vermögen des Verstehens ist eigentlich ein Vertrag, aber ein solcher freylich, der schon wieder einen voraussetzt. Denn wenn ich verstehe, so ist dieß wirklich auf einen Vertrag gegründet, der mir die Zeichen erklärt. Dieß Erklären ist aber nur in der Sprache möglich, setzt also ein neues voraus, und so ins Unendliche. Folglich ist dieser Vertrag ein unendlicher Vertrag; d. h. ein nichtconventioneller, sondern ein natürlicher und ewiger. Eben so mit dem Geld. Will ich damit gegen einen Menschen gemeinschaftlich handeln, so muß ich ihn als vernünftig, folglich als zu einern Staate gehörig ansehen. Denn nur im Staate ist der Mensch vernünftig, und wer vernünftig ist, der kann nicht im Naturstande leben; dergleichen es ohnehin nicht gibt. Allein der Staat setzt wieder einen Vertrag voraus, und [24r] der Vertrag wieder einen Staat, also auch wieder einen Vertrag und so ins Unendliche. Folglich beruht auch Staat und Geld auf einem unendlichen Vertrag; d. h. auf einem nichtconventionellen, sondern ewigen und natürlichen. Diese 2 Verträge sind Wissenschaft und Staat. Hieraus nun lassen sich die lächerlichen Fragen, ob der Staat oder der Vertrag (und wieder ob die Sprache oder die Convention) früher gewesen, auflösen. Nehmlich da sich beyde bis ins Unendliche wechselsweise voraussetzen, so kann weder das Eine noch das Andere zuerst gewesen seyn, sondern beyde sind die Resultate derselben Thätigkeit. Dieß versteht sich auch von selbst; sobald man nur das wunderliche Naturrecht zernichtet. Es gibt nehmlich gar keinen Naturstand, weil jeder Mensch ein Streben nach Mitteilung und Vernunft hat, folglich von Anbeginn im Bilden des Staates begriffen ist.Wenn also der Staat von Anbeginn ist, wie soll der Vertrag vor ihm seyn? Ferner, wenn ein Vertrag gültig seyn soll, so setzt er den Staat voraus, weil die Form des Vertrags auf den Staat gegründet ist, und eine Gemeinschaft schon vorausgesetzt wird bey jedem Vertrag, indem sich ohne diese Gemeinschaft keine 2 nähern können. Die Vernunft fordert den Staat von Anbeginn, aber nicht nur die Vernunft, sondern auch die physische Natur, durch das Verhältniß der Familie, nehmlich Ehe und Eltern und Kinder und Herrn und Sclaven. Siehe Aristoteles Politik 1,1. So ist auch hier Natur und Vernunft durchaus harmonisch. Durch die Betrachtung des Geldes haben wir zugleich den Staat elementarisch gewonnen, durch die Betrachtung der Sprache die Akademie, welche der Inbegriff der erkennenden und durch Sprache sich darstellenden Talente ist, zur wech-
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selseitigen Ergänzung; aber beydes bloß von der allgemeinen Seite der Vernunftthätigkeit, folglich nicht organisch, [24v] wozu erst noch die Synthesis mit dem Individuellen gehört, sondern elementarisch. Wenn nun wirklich wahr seyn soll, daß auch im Individuellen die allgemeine Seite enthalten seye, so muß sich auch Familie und Kunst oder Kirche elementarisch wieder finden auf der allgemeinen Seite. Nehmlich die Gemeinschaft der Organe, der Menschen auf verschiedenen Stufen der Organisation zur gegenseitigen Ergänzung gibt die Familie: da der Greis durch das Verständnis den Unverstand des Kindes, die körperliche Kraft des Jünglings die Schwache des Greises, der Verstand des Herrn den Unverstand des Dieners pp supplirt oder ersetzt. Eben so bey der Kirche, wo das Producirte gemeinschaftlich wird, wie beym Staate.
2 Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schleiermachers Vorlesungen zur Philosophischen Ethik 1807/08 (1) Von acht Vorlesungen, die Schleiermacher über die philosophische Ethik gehalten hat, ist eine, die vor der Gründung der Berliner Universität (1810) im Winter 1807/08 in Berlin gehalten wurde, auch als Ereignis lange Zeit nahezu unbekannt geblieben; im Rahmen einer Ausgabe der Schleiermacherschen Ethik hat erstmals Hans-Joachim Birkner in der Einleitung seiner Edition auf diese Vorlesung hingewiesen.¹ Zum Beleg führt Birkner ein von Köpke 1860 veröffentlichtes Verzeichnis der 1807– 1810 vor der Eröffnung der Universität gehaltenen Vorlesungen an.² Nach den Ankündigungen in der Spenerschen Zeitung, auf die sich Köpfe stützte, las Schleiermacher im Winter 1807/08 die Theologische Encyklopädie und die Philosophische Ethik. Als Theologe las Schleiermacher außer Konkurrenz, als Philosoph dagegen parallel zu Fichte, der 1807/08 die Reden an die deutsche Nation vortrug, sowie zu dem Philologen Friedrich August Wolf. Dafür, dass Schleiermacher die angekündigte Vorlesung auch tatsächlich hielt, führt Birkner ein eigenhändiges Zeugnis Schleiermachers an. In seinem (bisher unveröffentlichten) Notizkalender für 1808 („Erinnerungsbuch für das Jahr 1808“) trug Schleiermacher unter dem 6. Januar ein: „Angefangen zu lesen Ethik und theol. Encyclopädie“.³ Aufgrund dieses Eintrags und weil Schleiermacher erst Ende 1807 endgültig von Halle nach Berlin übersiedelte, setzt Birkner die Vorlesung in das Jahr 1808. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805 – 06). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingel. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981; ders.: Ethik (1812 – 13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, Hamburg 1981 Der Hinweis findet sich in den Einleitungen XIV bzw. XVIII. – Die Vorlesung von 1807/08 ist die dritte, nachdem Schleiermacher in Halle in den Wintersemestern 1804/05 und 1805/06 den Grundriß seiner philosophischen Ethik konzipiert hatte; nach Eröffnung der Berliner Universität las Schleiermacher philosophische Ethik im Winter 1812/13 sowie in den Sommersemestern 1816, 1824, 1827 und 1832. Er machte dabei von seinem Recht als Mitglied der Akademie der Wissenschaften Gebrauch, außerhalb seines theologischen Lehramtes an anderen Fakultäten Vorlesungen zu halten. Rudolf Köpke: Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860, 58 und 140 f. Die Vorlesungen, die eine längere Tradition im geistigen Leben Berlins hatten, dienten im Vorfeld der Universitätsgründung auch dazu, Studierende nach Berlin zu ziehen und so die Gründung der Universität vorzubereiten. Sie wurden in den Berliner Zeitungen angekündigt und gegen honorierte Eintrittskarten besucht. Vgl. dazu die Kabinetts-Ordre vom 4.9.1807 (abgedruckt bei Köpke, 181). Schleiermacher: Brouillon, XXVII.
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Ein eigenhändiger Entwurf Schleiermachers zu der Vorlesung hat sich nicht erhalten, wenn es ihn je gegeben hat. Schleiermacher plante wohl den Druck eines Grundrisses seiner philosophischen Sittenlehre. Seinem Verleger Georg Andreas Reimer nennt er 1805, vor Beginn seiner zweiten Hallenser Vorlesung zur Ethik, als Bedingung, er wolle „wenigstens erst dreimal Vorlesungen darüber gehalten haben, und das kann wol nicht eher als 1807 geschehen“ (KGA V/8, 315). 1808, als Schleiermacher die dritte Vorlesung tatsächlich hielt, fand er aber offenbar keine Gelegenheit, dabei den vorliegenden Gesamtentwurf, das 1805/06 in Halle entstandene Brouillon zur Ethik, zu überarbeiten oder gar einen neuen Entwurf zu schreiben. Am 1. 3.1808 schreibt er an seinen Jugendfreund Karl Gustav von Brinkmann: „Aber in welchem Irrthum stehst Du als ob ich eine Sittenlehre herausgäbe? Vorlesungen habe ich darüber; aber ich muß sie gewiß noch mehrere Male halten und noch mehr umfassende Studien machen, ehe ich an eine Herausgabe derselben denke mit der ich wol meine ganze Laufbahn lieber erst beschließen möchte. Jezt sitze ich tief im alten Heraklit, dessen Fragmente und Philosopheme ich für das Museum der Altertumswissenschaft darstelle“.⁴ Die anderen wissenschaftlichen Arbeiten haben Schleiermacher freilich nicht davon abhalten können, den Klärungsprozess seines ethischen Systems fortzusetzen; so schreibt er am 8. 3.1808 an seinen ehemaligen Hallenser Schüler, den Philologen August Boeckh: „Dr. Schneider kenne und schäze ich sehr; er hört noch einmal die Ethik, die mir Vergnügen macht wieder zu lesen, es wird doch manches mehr ins klare und ins genaue gearbeitet“.⁵ Keineswegs dürfte demnach die Vorlesung eine bloße Wiederholung der von 1805/06 gewesen sein; die Weiterarbeit freilich kann sehr gut – wie dies bei Schleiermacher oft geschah – bloß im mündlichen Vortrag erfolgt sein; die schriftliche Fixierung des dort Entwickelten erfolgte meist im Nachhinein und scheint 1807/08 ganz unterblieben zu sein. Außer dem Eintrag im Notizbuch und den angeführten Briefstellen scheint es von Schleiermacher selbst keine Zeugnisse für die erste Berliner Ethik-Vorlesung zu geben. Dafür besitzen wir einen instruktiven Bericht Karl August Varnhagen von Enses, der 1807/08 in Berlin Fichtes Reden an die deutsche Nation und Schleiermachers Ethik hörte. In seinen Denkwürdigkeiten des eignen Lebens schreibt Varnhagen: „Ich hörte die Vorlesungen Schleiermacher’s über Ethik mit großem Eifer, fand aber nicht die Befriedigung, die ich, besonders nach Harscher’s Anpreisungen, der in diesen mehr sinnreichen als tiefen Schematen lebte und webte, und mit ihnen überall herumleuchtete, hatte erwarten dürfen. Das Nachschreiben,
Briefe 4, 150. Briefwechsel Friedrich Schleiermachers mit August Boeckh und Immanuel Bekker. 1806 – 1820. Berlin 1916, 20.
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womit ich mich quälte, ermüdete mich vollends, ich gab dieses sehr bald, und allmählig auch selber die Vorlesungen auf, welches mir freilich in dem ganzen Kreise nicht zur Empfehlung gereichte. Ueberhaupt regte sich in dieser Zeit zwischen uns viel Absonderndes und Entzweiendes“.⁶ Die Nachschrift, von der Varnhagen spricht, hat sich in seinem Nachlass als Bestandteil der „Sammlung Varnhagen“ der ehemaligen Königlichen Bibliothek zu Berlin bzw. Staatsbibliothek erhalten. In dem Verzeichnis dieser Sammlung, das Ludwig Stern 1911 herausgab, heißt es unter dem Namen „Schleiermacher, Friedrich“ auf S. 720: „Vorlesungen über Ethik, Nachschriften Varnhagens 1807“.⁷ Nachdem sie längere Zeit als verschollen galt, ist die Varnhagensche Sammlung heute in der Bibliothek der Jagiellonischen Universität Krakau in Polen zugänglich. Unter den Schleiermacheriana befindet sich auch die eigenhändige Nachschrift Varnhagen von Enses.⁸ Die Nachschrift umfasst thematisch in etwa das, was Schleiermacher in den eigenhändigen Entwürfen seit 1812/13 als Einleitung den Darstellungen der Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre als selbständigen Teil vorausgeschickt hat. In diesen Einleitungen bezieht er die philosophische Ethik auf seine Systematik des Wissens insgesamt und entwickelt den Grundriss dieses Systemteils. Dieser zentralen Bedeutung entsprechend hat Schleiermacher die Einleitung wiederholt und am gründlichsten bearbeitet; für den Zeitraum zwischen 1812 und 1817 liegen drei ausführliche und nahezu druckfertig gestaltete Fassungen von Schleiermachers Hand vor.⁹ Im ersten erhaltenen Gesamtentwurf, dem Brouillon zur Ethik (Halle
Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. 3. Auflage, Bd. 2, Berlin 1871, 85. Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin geordnet und verzeichnet von Ludwig Stern, Berlin 1911. Vgl. Dieter Henrich: „Beethoven, Hegel und Mozart auf der Reise nach Krakau. Der Übergang des Grüssauer Depots der Preußischen Staatsbibliothek in die Hand der Volksrepublik Polen“, in: Neue Rundschau (88) 1977, 165 – 199. – Die Nachschrift besteht aus 12 Seiten 4°, die in der Mitte gefalzt und beidseitig – jeweils auf der linken Hälfte der Seite – in einer extrem kleinen Schrift beschrieben sind. Auf S. 10 befinden sich nur 5 Zeilen, von S. 11 ist nur das obere Drittel beschrieben; S. 12 ist leer. S. 1– 4 sowie 5 – 8 sind Doppelblätter, die S. 9/10 und 11/12 dagegen einzelne Blätter. Sie liegen in dieser Reihenfolge. Die Nachschrift trägt die Überschrift „Vorlesungen über die Ethik von Schleiermacher. 1807“. Die Stunden sind von 1 bis 11 durchnumeriert. Das Abbrechen des Textes findet seine Erklärung in dem Bericht Varnhagens. Hinsichtlich der Datierung wird man annehmen müssen, dass Schleiermacher – wie Fichte – seine Vorlesungen noch im Dezember 1807 begonnen hatte und sie am 6. Januar 1808 fortsetzte. Freilich kann nicht ausgeschlossen werden, dass Varnhagen am Beginn des neuen Jahres irrtümlich die Jahreszahl des verflossenen Jahres geschrieben hat. Vgl. dazu die Einleitung von Birkner zu Schleiermachers Ethik (1812/13), Hamburg 1981, XV. Birkner berichtigt einige Datierungen Brauns in dessen Ausgabe der Sittenlehre.
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1805/06), ist dieser Teil der Darstellung noch nicht eigens herausgehoben; er umfasst inhaltlich etwa die ersten 11 Stunden bis zum „Anfang der allgemeinen Uebersicht“ über das höchste Gut.¹⁰ (2) Schon ein flüchtiger Vergleich dieser Passagen des Brouillons mit der Einleitung von 1812/13 macht eine entscheidende Modifikation der Schleiermacherschen Systemkonzeption auffällig: im Unterschied zu 1805/1806 rekurriert er 1812/13 auf seine Dialektik und unternimmt in 12 Lehnsätzen (Lemmata) eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“.¹¹ Über Dialektik hatte Schleiermacher erstmals im Sommersemester 1811 in seiner Eigenschaft als Mitglied der Akademie der Wissenschaften gelesen, nachdem er noch 1810 erklärt hatte, dass „ich selbst allgemeine Philosophie nie vortragen werde“.¹² Die Beziehung der Dialektik zur philosophischen Ethik – entwicklungsgeschichtlich wie systematisch – bildet noch immer ein Problem der Schleiermacherforschung.¹³ Da die Berliner Ethik-Vorlesung 1807/08 chronologisch den Übergang zwischen der Hallenser Konzeption des „Brouillons“ und der systematischen Verzahnung der Ethik mit der Dialektik seit 1812/13 markiert, kommt ihr im Hinblick auf dieses Problem eine besondere Bedeutung zu. Der Vortrag fügt sich so, wie ihn Varnhagen mitgeschrieben hat, zunächst dem Duktus des Brouillon ein. Schleiermacher beginnt mit der Kritik der bisherigen Sittenlehre, bestimmt den systematischen Ort der Ethik im Verhältnis zur Naturphilosophie und die Einheit beider Systemteile. Hier wird jedoch ein Unterschied auffällig. Im Brouillon rekurriert Schleiermacher auf eine „ursprüngliche Anschauung“, in der man „unmittelbar […] haften bleiben“ müsse, um die Einheit von theoretischer (Natur‐) Philosophie und praktischer Philosophie (Ethik), Natur und Vernunft, Realem und Idealem zu erfassen.¹⁴ An diese systematische Schaltstelle tritt 1812/13 die „Deduction der Ethik aus der Dialektik“; in ihr erfolgt die Begründung der Entgegensetzung im Endlichen aus der Einheit des Absoluten und darin der Einheit der Ethik und Physik und der unter ihnen jeweils thematisierten Gegensätze. In der Vorlesung 1807/08 dagegen spielt weder der Begriff der Anschauung an dieser Stelle eine Rolle, noch unternimmt Schleiermacher eine Andeutung hinsichtlich einer eigenen Konzeption der allgemeinen oder reinen Philosophie im Verhältnis zu den realphilosophischen Systemteilen der Ethik und
Schleiermacher: Sittenlehre, 79 – 93. Ebd., 247 f. Schleiermacher an Nicolovius, o. D.; Briefe 4, 175. Vgl. Eilert Herms: „Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 73 (1967), 471– 525. Schleiermacher: Sittenlehre, 82; vgl. auch 88.
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Physik. Stattdessen beruft er sich auf einen Konsens in den Grundsätzen der reinen Philosophie, der es ihm erlaube, sie hier einfach vorauszusetzen. Dieser Vorgang ist umso erstaunlicher, da Schleiermacher mit seinen philosophischen Positionen wie kein anderer seiner Epoche quer zu den philosophischen Hauptströmungen zu stehen scheint und sich seines Gegensatzes zu den zeitgenössischen Philosophen bewusst war. Aus dem Bewusstsein dieses Gegensatzes heraus und um ihn zu explizieren hat Schleiermacher schließlich auch seine Dialektik vorgetragen und im Blick auf eine Druckfassung wiederholt bearbeitet. Die Einheit, die Schleiermacher 1807/08 voraussetzen zu können glaubte, erwies sich, was seine eigene Unternehmung betraf, als wenig tragfähig. Von dorther bedarf seine Voraussetzung umso mehr der Erläuterung. (3) Im Blick auf die folgende Erörterung der Schleiermacherschen Systemkonzeption von 1807/08 soll hier der für das Thema einschlägige Anfang der Vorlesungsnachschrift dokumentiert werden.¹⁵ In der ersten Vorlesungsstunde konfrontiert Schleiermacher den gegenwärtigen Zustand der Ethik mit der Forderung nach einer systematischen Begründung ihrer Prinzipien: Ein wahres System muß sich durch die Vollständigkeit bewähren, und jedes reale Verhältnis im ideellen System abspiegeln. Niemand hat gezweifelt, daß das sittliche Handeln ein vernünftiges ist, und nur nicht klar angeschaut hat man die Identität der erkennenden und handelnden Vernunft. Alles menschliche Handeln soll aus der Vernunft entspringen, und die Wissenschaft bauende Vernunft soll sich erkennen als das einzige, zureichende Prinzip, die Vernunft wäre die Seele aller Handlungen, dies will jener Unterschied von Sein und Sollen sagen. Alles Handeln der Vernunft müssen wir uns denken als ein Handeln auf die Natur, das allgemeine Objekt, und in der Natur wirkend, aus der Vernunft als dem einzig beseelenden Prinzip. Jedes einzelne und bestimmte Erkennen steht in der Sphäre des Gegensatzes, daher in jeder realen Wissenschaft, wie hier Vernunft, das Erkennende, und die Natur, das Zuerkennende, ein Gegensatz ist, der ebenso in der Physik ist. Das höchste Erkennen freilich löst jeden Gegensatz auf. […] Weil es gar kein von der Vernunft ganz getrenntes Sein geben kann, so sucht die Physik diese, das Erkennen, in alles hineinzubilden, das als ein Werdendes dasteht. Dies das Geschäft der Physik; die Ethik aber sucht überall die ganze Natur zu denken als das durch das menschliche Handeln von der Vernunft zu Durchdringende. Für beide gibt es keine Grenzen. Sie sind die höchsten realen Wissenschaften, weil sie den höchsten Gegensatz haben. […] 2. Das Gebiet der Ethik im Gegensatze gegen die Natur, ist die Kunst im allgemeinsten Sinn. Das Handeln der Kunst geht von einem erkennenden Punkt aus, der in dem Resultat der Handelung wiedererkannt wird. […] Die Ethik kann nur dann ihr ganzes Gebiet richtig
Die eigenwillige Orthographie Varnhagens wurde modernisiert, die Zeichensetzung hingegen beibehalten. Offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert und Varianten nicht verzeichnet. Auslassungen im fortlaufenden Text sind durch […] kenntlich gemacht.
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umfassen, als wenn durch die Physik das Verhältnis zur Natur der Vernunft dargestellt ist, und die menschliche Organisation ist der letzte Punkt der Physik und der erste der Ethik, diese ruht also auf jener Anschauung. Die Physik hinwiederum fängt von der Ethik an, denn der ganze wissenschaftliche Prozeß steht im genauesten Verhältnisse mit der Gesinnung und mit dem daseienden Handeln auf die Natur. […] Zwischen beiden ein genauer Parallelismus. Wir lassen hier den Einfluß auf die Physik, und wenden uns zu dem der Physik auf die Ethik. Wir müßten dazu erst eine Kritik der Physik vornehmen, um zu sehen, ob die Ethik erst auf die letzte Vollendung der Physik bauen und warten müsse. Aber die Bearbeiter der Ethik haben oft weit über die Physik hervorgeragt, weil näher ihrem Ziele, wie die Geschichte zeigt, und selbst Fortschritte in der Physik sind öfters durch die klare Einsicht in das Ethische geschehen. Daher kann die Ethik ruhig fortgehen, da ja doch auch die Physik ein ewig Werdendes ist. Ein anderes ist das Verhältnis der Ethik zur ersten Philosophie, der Erkenntnis, von der alle andern abhängen, in einer solchen Form, daß alle wissenschaftliche Formen in ihr als ihrem letzten Grunde beruhen, die reine Philosophie.Vielfache Schicksale derselben, je nachdem sie der Natur oder dem Handeln näher war. Wenn sie jetzt als Naturphilosophie herrscht, so ist dies das Gegengewicht des Realen gegen den vorigen leeren Idealismus, und dieses Gleichgewicht geht durch die ganze Geschichte. Die reine Philosophie muß aber zwischen Physik und Ethik im vollkommensten Gleichgewicht stehn, ihr Beruf ist die Identität zwischen Sein und Erkennen zu zeigen, diesen muß sie nun in physischen Formen oder ethischen üben, jetzt vorzüglich in physischen, vielleicht bald mehr in ethischen. Wir aber setzen ganz füglich die Grundsätze der reinen Philosophie voraus, in denen auch ja alle einig sind, jeder Streit gilt nur die Tüchtigkeit oder Verständlichkeit der Formen.
Im Folgenden behandelt Schleiermacher den Gegensatz zwischen der eudaimonistischen und der „kategorischen“, d. h. Kantischen Auffassung der Ethik. In der dritten Vorlesungsstunde (S. 3 der Nachschrift) führt Schleiermacher dazu aus: Wen man von der Idee der Methode ausgeht, so könnte eine konsequente eudaimonistische Darstellung dem Richtigen näher sein, als die des Sollens, das immer ein Nicht-Wollen voraussetzt, also kohibierende Kraft äußert, und also nicht selbständig ist, sondern einen ursprünglichen Gegensatz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit setzt, dies wäre das Gebiet eines absoluten, unauflöslichen Dualismus, denn wird er gelöst, so fällt die ganze Darstellung.Wenn nun in der Darstellung des Eudaimonismus beschrieben werden soll, wie die Idee der Glückseligkeit in jedem Lebensmomente entstehe, so beruht dieses nur auf einem Gefühl, das immer nur auf eine einzelne Funktion des Lebens gehn kann. Die Idee von der wahren Einheit der Natur geht verloren.Wenn die Ethik wirklich ihr Thema ausfüllen soll, so muß ein ganz anderer Gesichtspunkt und eine andere Darstellung sein. Das Erscheinen der Vernunft in der menschlichen Organisation bildet den Scheidepunkt der Ethik und Physik; alles was in der Natur wahrzunehmen ist, ist es nur sofern das Sein und Erkennen identisch ist. In der Ethik das Handeln wieder in die Natur zurückkehrt. Die Physik beschreibt das Wiederfinden jener Idee in allem Wahrnehmbaren, so geht die Ethik von einer solchen Anschauung aus. In dieser Methode lösen sich die beiden andern auf, sind ihr untergeordnet. Die Aberration und ihre Berichtigung ist in der Beschreibung des Handelns in Beziehung auf die sittliche Idee enthalten. Das Sein des Einzelnen ist Eins mit dem Ganzen, ein Zusammensein, eine vollständige Befriedigung ist dadurch, daß die Vernunft, als absolut gemeinsam, aktiv und leidend mit dem Ganzen zugleich ist, nicht in die Persönlichkeit des Einzelnen einge-
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schlossen, daher jeder Zwiespalt zwischen der Persönlichkeit und dem Ganzen aufgelöst wird. Die Ethik ist die Beschreibung der sittlichen Natur in ihren allgemeinen und besonderen Formen,wie die Naturwissenschaft, in beiden soll nur die Darstellung der Identität sein zwischen der Idee und dem Wirklichen.
Mit diesen Worten schließt die Nachschrift der dritten Vorlesungsstunde. (4) Dass Schleiermacher noch 1807/08 glauben konnte, über die Grundsätze der reinen Philosophie seien sich im Grunde alle einig, leuchtet aus heutiger Perspektive kaum ein, wird jedoch aus der Beteiligtenperspektive verständlich. Die künftigen Gegensätze sind 1807/08 noch kaum erkennbar. Fichte hatte den Höhepunkt seiner Wirkung als systematischer Denker schon überschritten; die Schellingsche Philosophie wie auch die aus der romantischen Bewegung hervorgegangenen Strömungen schienen nur Variationen einer Tendenz zu sein; in seiner Lehre vom Gegensatz (1804), einer philosophischen Programmschrift, konnte Adam Müller noch Novalis, Fichte, Friedrich Schlegel, Schelling und Schleiermacher als Helden einer zu vollendenden wissenschaftlichen Revolution ausrufen.¹⁶ Das Bild einer bunten Einheit von Positionen, die in den Prinzipien kaum divergieren, lässt sich für die Zeit um 1807 vervollständigen. Hegel hatte seinen Gegensatz zu Schelling erst 1807 in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes deutlicher ausgesprochen; ins Bewusstsein gehoben wurde dies den Zeitgenossen erst Jahre später durch die Rezension des Hegel-Schülers Bachmann.¹⁷ Auf der anderen Seite hatte die Krise der Romantik noch nicht den Umschlag in die Enttäuschung über die ausstehende praktische Universalität eines neuen Weltentwurfs bewirkt, den die wissenschaftliche Revolution ins Werk setzen sollte. Adam Müller war 1805 noch heimlich zum Katholizismus übergetreten; 1808 erst setzten Friedrich und Dorothea Schlegel mit ihrer Konversion ein öffentliches Signal. Die Wende auch der Nichtkonvertiten unter den romantischen Gesinnungsgenossen zur theosophischen und mystischen Nachtseite der Vernunft begann erst seit 1809 ein bedeutenderes Ausmaß anzunehmen.¹⁸ Kurz: wenn Schleiermacher in seiner Berliner Ethik-Vorlesung 1807/08 auf die Einheit der philosophischen Strömungen in anerkannten Grundsätzen der reinen Philosophie
Adam Müller: Die Lehre vom Gegensatz. Erstes Buch. Der Gegensatz, Berlin 1804, in: Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, Bd. 2, Neuwied und Berlin 1967, 230. Vgl. Horst Fuhrmans: „Schelling und Hegel. Ihre Entfremdung“, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente, Bd. 1, Bonn 1962, 451– 553. Vgl. August Wilhelm Schlegel an Schelling, 19. 8.1809, in: Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, hg.v. J. Körner, Bd. 2, Brünn u. a. 1937, 66 – 71.
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rekurrierte, dann formulierte er nur den objektiven Schein des Augenblicks als eines Wendepunktes der Epoche. Für Schleiermachers eigene Systemkonzeption zu dieser Zeit ist entscheidend, dass er offenbar der Auffassung ist, die beiden „höchsten Realwissenschaften“, Physik (Naturphilosophie) und Ethik könnten aus ihnen selbst heraus und ohne Rekurs auf eine ihnen übergeordnete „Wissenschaftswissenschaft“ bzw. „erste Philosophie“ das Ganze des Wissens umfassen. Diese Auffassung hatte sich bereits in den Hallenser Vorlesungen abgezeichnet. So bestimmte Schleiermacher im Brouillon zur Ethik die Ethik als „die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen […]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten.“¹⁹ Auf die „Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll“, schließt Schleiermacher eine „Behandlung in Grundsäzen und Säzen“ ausdrücklich aus und verweist auf eine „ursprüngliche Anschauung“, welche man „nicht in einem Saz zusammenfassen“ könne, weshalb man „also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben“ müsse.²⁰ Sie dürfe jedoch nicht als ein abstrakt-allgemeines transzendentales Prinzip verstanden, vielmehr müsse „die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt“ werden, „als Identität eines Allgemeinen und eines Besonderen.“²¹ Und er fügt hinzu: „Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissens abstrahirt von aller Individualität sezen will, aber auf diese Art nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann“.²² Offenbar tendierte Schleiermacher bereits hier zu der Auffassung, dass die Philosophie sich aus den Realwissenschaften heraus – also der Naturphilosophie und der Ethik – über ihre Grundlagen zu verständigen habe und diese nicht in einer gesonderten Darstellung voranschicken müsse, um die von ihm gerügte Abstraktion zu vermeiden. Dies entspricht seiner späteren, bis in die letzten Fassungen der Dialektik hinein verfolgten Linie, das reale Wissen zum Ausgangspunkt der Verständigung über die Prinzipien des Wissens zu machen. Die Anschauung, die Schleiermacher zugrunde legt, ist als Anschauung des ganzen Menschen auch Anschauung der unmittelbaren Einheit von Natur und Vernunft, des Realen und des Idealen und – sofern die Naturphilosophie als theoretisch qualifiziert wird – des Theoretischen und des Praktischen.
Schleiermacher: Sittenlehre, 79 f. Ebd., 82. Ebd., 175. Ebd.
3 „Der berechtigte Gegensatz der Romantik“. Aspekte der Geschichtstheorie Friedrich Schleiermachers Im Folgenden soll im Blick auf das Problem einer Universalgeschichte von einem Gegensatz die Rede sein, den Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie beiläufig, aber im Zusammenhang mit der welthistorischen Figur der Selbsterzeugung der menschlichen Gattung durch Arbeit, als „berechtigten Gegensatz“ charakterisiert hat: vom Gegensatz romantischer und bürgerlicher Ansicht. Ich werde die romantische Seite dieses Gegensatzes in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen und an der Geschichtsphilosophie Friedrich Schleiermachers erörtern, der als Zeitgenosse und nicht nur wissenschaftspolitischer Kontrahent Hegels diesen Gegensatz in seiner Stärke vorführt und den Bezug auf Hegels Konzeption der Weltgeschichte geradezu provoziert. Dass Schleiermacher auch heute wieder, im Anschluss an Michael Theunissens Interpretation der Hegelschen Wissenschaft der Logik als einer Theorie übergreifender Macht, als Korrektur der subjektiv-teleologischen Momente des absoluten Geistes bei Hegel und zugleich zu einer Hegelkritik, die die Subjektkategorie überhaupt preisgibt, ins Spiel gebracht wird, sollte zumindest neugierig machen.¹ Indessen beansprucht dieser Gegensatz, folgt man Marx, mehr als ein bloß philosophiehistorisches Interesse: er ist einer innerhalb der bürgerlichen Welt und damit des bürgerlich-philosophischen Weltverständnisses, ein sich darin immer wieder erneuernder Gegensatz. Am philosophiehistorischen Fall müssten dann auch aktuelle geschichtliche und nicht nur geschichtsphilosophische Kontroversen kenntlich gemacht werden können. Ich möchte daher die historische Berechtigung dieses Gegensatzes einleitend von Marx‘ Bemerkungen her verdeutlichen und damit zugleich die Begriffe „bürgerlich“ und „romantisch“ charakterisieren. (1) Mit dem Konzept einer Selbsterzeugung der menschlichen Gattung durch Arbeit nimmt Marx eine Bestimmung des Geschichtlichen auf, die Vico in seiner Neuen Wissenschaft gültig formuliert hat und die seitdem als Paradigma jeder Theorie der Geschichte gelten kann, die daran interessiert ist, dass es in ihr vernünftig zugeht, d. h. zunächst, dass die Geschichte erkennbar ist.² Dieses Erkenntnisprinzip besagt, dass vom Geschichtlichen im Unterschied zum Natürlichen dann gesprochen
Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main. 1977, 111. Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Berlin 1958 ff., Bd. 1, 393.
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werden kann, wenn die Menschen den Gegenstand ihrer Erkenntnis selbst produziert haben. Dies gilt auch bei Marx, freilich unter der Voraussetzung einer Naturbasis und Naturseite der Produktion und Reproduktion des materiellen Lebensprozesses. Die Voraussetzung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von den Menschen selbst produziert werden, bringt Marx gegen die Grenzen bürgerlicher Theorien ins Spiel, die ein wirkliches Überschreiten der abstrakten Allgemeinheit eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, der sich über den Tauschwert konstituiert und in dem die „Vergleichung an der Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit“ steht,³ mit ihren theoretischen Mitteln nicht mehr denken können. Diese Grenze bezeichnet den theoretischen und zugleich epochalen Ort des Gegensatzes von bürgerlicher und romantischer Ansicht. „Auf frühren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten“.⁴ Ich unterstelle, dass dieser Gegensatz in geschichtsphilosophischer Hinsicht einen Sinn macht und sich nicht auf verknöcherte Apologien des Bestehenden und, als Gegensatz dazu, romantische Freiheitsträume reduziert. Unter dieser Voraussetzung stellen bürgerliche und romantische Ansicht innerhalb des bürgerlichen Geschichtsdenkens zwei gegensätzliche Formen des Hinausgehens über die abstrakte Allgemeinheit des bürgerlich-kapitalistischen Zusammenhangs dar, die von dorther ihr Weltverständnis formulieren. Für Hegel hat Marx in den Pariser Manuskripten (1844) zu zeigen versucht, dass und in welcher Weise die Phänomenologie des Geistes unter der Form der Arbeit als geistiger, im Denken, eine Aufhebung der Entfremdung innerhalb der Entfremdung vollzieht.⁵ Dieser Befund kann auch für die Aufhebung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit, des objektiven Geistes, in den absoluten Geist gelten. Als in sich konkretes Allgemeines stellt er mehr dar als einen Reflex des abstrakt-allgemeinen Zusammenhangs, unter den die Arbeit in der Wirklichkeit des Kapitals subsumiert ist. Indem er die subjektiv-teleologischen Momente der Arbeit in sich aufgenommen hat, lässt sich seine Struktur so lesen, dass er sie in
Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Main und Wien o.J., 79. Ebd., 80. Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Erg.bd. 1, 574 ff.
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einem konkret-allgemeinen Zusammenhang anstelle der abstrakten Vergleichung im Tausch zur Geltung bringt und damit gleichsam ein utopisches Moment der Versöhnung enthält, wohl wissend, dass es sich innerhalb des objektiven Geistes nicht bruchlos realisieren lässt.⁶ Die Kehrseite dieses „utopischen Überschusses“ ist freilich die Ratifizierung der realphilosophischen Sphäre des „Systems der Bedürfnisse“ in ihrer abstrakten Allgemeinheit, auch, wenn Hegel sie durch das politische Gemeinwesen eingeschränkt wissen will.⁷ Umgekehrt ist auch das Romantische nicht einfach mit „reaktionär“ gleichzusetzen. Die Rückkehr zu einer ursprünglicheren Fülle des Individuums von einem abstrakt-allgemeinen Zusammenhang aus trägt für Marx selbst die Züge einer nach vorn gerichteten Utopie, wenn er den Kommunismus, wie in den Briefentwürfen an Vera Zasulič, der Form nach als Rückkehr zu archaischen Strukturen beschreibt⁸ und der urgeschichtlich-ethnologischen Forschung als gleichsam zweiter Auflage der Romantik eine unbewusst sozialistische Tendenz attestiert.⁹ Kennzeichen des Romantischen ist es, die Vernunft zu individualisieren und das Individuelle als Selbstbewusstsein an die Stelle einer konkreten Allgemeinheit zu setzen. Von diesem, Hegel entgegengesetzten Pol aus wird aber nur dementiert, dass es überhaupt die Vermittlungsstruktur einer abstrakten Allgemeinheit geben könnte. (2) Schleiermachers Grundposition lässt sich an seiner Stellung zum transzendentalen Idealismus verdeutlichen.¹⁰ Er will die Vernunft in ihrer Endlichkeit als Individualität zur Geltung bringen, diese Individualität aber zugleich in dem Zusammenbestehen mit anderen Individualitäten im menschlich-sittlichen Bereich und im Blick auf den Weltzusammenhang allgemein und objektiv fassen, ohne ein „allgemeines objektives Wissen abstrahiert von aller Individualität“ für sich zu stellen.¹¹ Mit dieser Positionsbeschreibung grenzt sich Schleiermacher nicht nur von apriorischen Konstruktionsverfahren ab, sondern gerät auch in Gegensatz zu Hegel, sofern das Allgemeine der Vernunft nicht selbst nach dem Muster einer Individualität gefasst werden soll, die als das eigentliche Subjekt des Mit der Preisgabe der Konzeption eines „absoluten Volkes“ bzw. einer „absoluten Sittlichkeit“ am Beginn der Jenaer Periode Hegels ist dieser Schritt vollzogen. Vgl. Peter Furth: „Arbeit, Teleologie, Humanismus“, in: Dialektik 2, Köln 1981, 105 f. Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 19, 386.397. Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 32, 59. Vgl. Heinz Kimmerle: „Das Verhältnis Schleiermachers zum transzendentalen Idealismus“, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 410 – 426. Zur Entwicklungsgeschichte Schleiermachers vgl. Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974. Schleiermacher: Sittenlehre, 175.
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Weltprozesses die Endlichkeit der Vernunft in sich aufhebt und sich im Fortgang durch ihre Gestalten und Stufen identisch reproduziert. Schleiermachers Dialektik tritt, anders als Hegels Wissenschaft der Logik, als „Kunstlehre“ zur Hervorbringung eines objektiven Wissens, nicht als das abschließende Wissen der allgemeinen Strukturen des Wissens selbst auf.¹² Sofern Schleiermacher in seiner Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie objektiv-deterministische Motive des Spinozismus mobilisiert,¹³ ließe sich sagen: er begreift nicht die Substanz als Subjekt, sondern die Verendlichung des Unendlichen als Individualität, die im Für-sich und Zusammenbestehen mit anderen Individualitäten im Endlichen auf unendliche Weise die Vernunft realisiert. Die Aufgabe, die Schleiermacher sich stellt, besteht darin, unaufhebbare Differenz im Endlichen und Einheit der Vernunft zusammen zu denken. Für sein Geschichtsdenken heißt das: in der Geschichte verwirklicht sich die Vernunft als allgemeine im Zusammenhang des Endlichen und durch das Endliche, ohne in ihrer Allgemeinheit das Subjekt dieses Prozesses zu sein. Das Hinausgehen über die abstrakte Allgemeinheit eines gesellschaftlichen Zusammenhangs lässt sich aber nicht durch Umdenken innerhalb des Bewusstseins bewerkstelligen. Das Bewusstsein ist gerade dann ohnmächtig, wenn es sich seiner Abhängigkeit vom Sein nicht bewusst ist. Diese Einsicht macht aber auch nur dann einen Sinn, wenn die Bedingungen der Veränderung der bestehenden endlichen Wirklichkeit in dieser selbst gefunden werden. Sonst sind alle Sprengversuche Spiegelfechterei gegen die Widerspiegelung, romantische Donquichotterie, die das Widergespiegelte unberührt lässt. Nun zeigt Schleiermachers Position gerade hierin ihre Stärke und ihre Schwäche. Er reflektiert die Abhängigkeit des individuellen Bewusstseins von seinen natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und bestimmt darin seine Freiheit, kann diese Voraussetzungen jedoch nur unter der Prämisse einer schon immer gegebenen relativen Einheit der Gegensätze und damit ihrer Entschärfung thematisieren. (3) Die Wissenschaft der Geschichte tritt bei Schleiermacher als Ethik auf, deren Gegenstand die „Naturgesetze“ menschlichen Handelns sind.¹⁴ Sie gliedert sich
Vgl. KGA II/10, 1, 77 ff. – Es wäre aber noch näher zu fragen, in welchem Verhältnis die „Kunstlehre“ zu Hegels Bestimmung der absoluten Idee als absoluter Methode steht. Vgl. oben „Eine Art von Halbdunkel …“ Zur Überlieferung, Entstehungsgeschichte und Gestalt der ethischen Entwürfe Schleiermachers vgl. die Einleitungen von Hans-Joachim Birkner in: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik, Hamburg, 1981; ders.: Ethik (1812/13), Hamburg, 1981. Zur Darstellung der systematischen Voraussetzungen der Ethik und ihres Aufbaus vgl. H.-J. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre, Berlin 1964, 30 ff.
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nach dem klassischen Schema in Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre, wobei letztere die Handlungsvollzüge einzelner Individuen in den Blick nehmen, die Güterlehre aber die Funktionen, Formen und Gebiete der Vernunfttätigkeit in der Geschichte als Bildung der Vernunft in und durch die Natur behandelt. Sie ist der eigentliche Ort des Schleiermacherschen Geschichtsverständnisses. Die individuellen Handlungen werden nicht in das höchste Gut aufgehoben, sondern durchkreuzen die in ihr entwickelten Formen und Gebiete der Vernunfttätigkeit, deren Gerüst, oder, wie Schleiermacher sagt, „Fachwerk“¹⁵ Geschichte als den Raum markiert, in dem die vernünftigen Individualitäten als einzelne ihren Ort haben, ohne darin aufgehoben zu sein. Die Statik der Schleiermacherschen Geschichtstheorie rührt daher, dass er dem Fachwerk der Vernunfttätigkeit die in einer besonderen Wissenschaft, der Geschichtskunde, thematisierte Empirie gleichberechtigt an die Seite stellt, da er weder die sogenannte Konstruktion a priori noch die bloß empirische Auffassung für angemessen hält, sondern nur „das Gleichgewicht des geschichtlichen und speculativen“ (KGA I/13, 1, 17 f.). Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtskunde bestimmt Schleiermacher als das eines Formelbuchs zu einem Bilderbuch.¹⁶ Als gleichberechtigt muss die Empirie aber mehr sein als bloße Illustration. Das gleiche Problem stellt sich auch im Blick auf das Verhältnis von der Güter- zur Tugend- und Pflichtenlehre innerhalb der Geschichtswissenschaft.Vom Prinzip der Individualität der Vernunft her muss die Handlung des Einzelnen der Tätigkeit der Vernunft im umfassenderen, spekulativen Sinne ihrem Wesen nach gleichwertig sein. Der Unterschied im Blick auf den Zusammenhang der Vernunfttätigkeiten kann nur ein gradueller sein, als das quantitative Maß, in dem die jeweiligen Vernunfttätigkeiten den Raum der Geschichte füllen. Die Zwischenräume des Fachwerks der Vernunfttätigkeiten in ihrem Zusammenhang als höchstes Gut sind besetzt durch Vernunfttätigkeiten in einem kleineren Rahmen, die als unendliches Eingebettetsein der individuellen Vernunfttätigkeiten ineinander eine Struktur bilden, die das Fachwerk befestigt. Sofern aber die Totalität der Vernunfttätigkeiten wiederum die Voraussetzung individueller Handlungen bildet, stellt sich die Frage nach ihrer Vermittlung, die sie in ihrer unaufhebbaren Individualität nicht als gegeneinander indifferente und gleichgültige auseinanderfallen lässt. Mit anderen Worten: Schleiermachers Geschichtstheorie bezeichnet eine Struktur der Geschichte als Topologie von qualitativ und quantitativ unterschiedenen Handlungsräumen vom Einzelnen bis zum Staat und dem Verhältnis der Staaten zueinander, der „Welt“ als Handlungsraum der Gattung, ohne
Schleiermacher: Sittenlehre, 90. Ebd., 549 (Ethik 1816).
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diese als Sphären ineinander aufzuheben oder anders als nach dem Umfang der Vernunfttätigkeit zu hierarchisieren. Was fehlt, ist eine Dominante innerhalb dieser Struktur selbst, die diese individuell erfüllten Räume aufeinander beziehen könnte, ohne sie zu identifizieren. Der Schematismus der Schleiermacherschen Konstruktion ist, für sich gestellt, der Schematismus quantitativer Differenz als Quadruplizität. Die zwei grundlegenden Formen der Vernunfttätigkeit, das Organisieren als Bilden der Natur zum Organ der Vernunft einerseits und das Symbolisieren als Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft andererseits, werden jeweils unter die gegensätzlichen Charaktere überwiegender Identität bzw. überwiegender Individualität gesetzt. Durch das Mitgesetztsein des entgegengesetzten Charakters sind die so unterschiedenen Funktionen durchgängig relativ entgegengesetzt, ohne sich in eine Indifferenz aufzulösen oder in einer höheren Einheit aufgehoben zu sein. Das Überwiegen der Identität oder Gemeinschaftlichkeit bzw. Individualität oder Abgeschlossenheit bezeichnet den Raum, den sie in der Totalität der Vernunfttätigkeiten einnehmen. Sie reichen als ineinander gelagerte Räume ineinander hinein, durchdringen sich, ohne durch die Dominanz eines übergreifenden Allgemeinen aufeinander bezogen zu sein.¹⁷ Mit diesem Schematismus konstruiert Schleiermacher die Handlungsräume: Das überwiegend identische Organisieren ergibt die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft (Talent, Arbeitsteilung, Tausch), das überwiegend individuelle Organisieren die Form des Privateigentums, der überwiegend identische Gebrauch des Organs das Gebiet des Wissens und damit der Wissenschaft, der überwiegend individuelle Gebrauch des Organs das Gebiet des Gefühls und damit der Kunst und Religion. In der Entsprechung zu diesen Grundformen werden, ausgehend von der Familie als kleinster sozialer Einheit, die Gemeinschaftssphären Staat, Akademie, freie Geselligkeit und Kirche dargestellt, jenseits derer es keinen eigens bezeichneten individualisierten Handlungsraum mehr gibt.¹⁸ Indem diese Räume sich durchdringen, setzen sich die Vernunfttätigkeiten in ihrer Totalität wechselseitig voraus, ohne bisher anders als metaphorisch aufeinander bezogen zu sein. Die individualisierten Vernunfttätigkeiten müssen in
Vgl. Yorick Spiegel: Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und Glaubenslehre bei Friedrich Schleiermacher, München 1968. Die Überzeichnung Schleiermachers als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft korrigiert Heino Falcke: Theologie und Philosophie der Evolution. Grundaspekte der Gesellschaftslehre F. Schleiermachers, Zürich 1977. Lediglich in den Vorlesungen 1805/06 (Sittenlehre, 148 f.) hat Schleiermacher einen „Erdgeist“ als höhere Individualität angesetzt. Er bildet indessen kein Korrelat des Hegelschen Weltgeistes; in ihm gehen die Staaten nur im Tod zu Grund und sind in ihm archäologisch, nicht logisch aufgehoben.
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einem Zusammenhang stehen, in dem sie sich als vernünftig erkennen und anerkennen, sollen sie überhaupt als individualisierte Vernunft gelten. Eine solche Mitte, die die gleichgültige Indifferenz analogischer Repräsentanz der Vernunfttätigkeiten aus ihrer endlichen Wirklichkeit heraus zu einem konkret-Allgemeinen zusammenschließen könnte, kommt bei Schleiermacher indessen nur residual vor, wofür schon der Befund spricht, dass seine Dialektik in ihren logischen Abschnitten keine Theorie des Schlusses entwickelt,¹⁹ die für eine Vermittlungsstruktur stehen könnte. Was hier eintritt, ist das unmittelbare Selbstbewusstsein. Wir befinden uns damit im Zentrum der Schleiermacherschen Spekulation. Mit der Konzeption des unmittelbaren Selbstbewusstseins als Gefühl ist zugleich der Kern des Gegensatzes zu Hegel angesprochen.²⁰ Die Vernunft wird von Schleiermacher durch die Gleichursprünglichkeit von Spontaneität und Rezeptivität, Fürsichsein des Einzelnen und Zusammensein mit Anderen und, nach ihrer Naturseite, organischer und intellektueller Funktion bestimmt. Im „Leben als Reihe“, der Vernunfttätigkeit in der Zeit, treten diese entgegengesetzten Bestimmungen auseinander. Es muss ein Übergang vollzogen werden, der sie nicht identifiziert. Der Übergangspunkt ist ein „Nullpunkt“, „Indifferenz“ der Formen der Vernunft. „Dies ist das unmittelbare Selbstbewusstsein = Gefühl“, worin uns unser „Sein, als setzend“ bewusst wird (KGA II/10, 1, 266). Im Augenblick des Übergangs sind die Funktionen der Vernunft und mit ihnen die Voraussetzungen ihres Handelns gleichsam in einen Punkt zusammengedrängt, um danach wieder auseinanderzutreten. Das Gefühl bezeichnet phänomenologisch den Ort, wo sich die Vernunft als setzend in ihrer Freiheit und zugleich der Bedingungen ihres Seins und Handelns, d. h. in ihrer Determiniertheit bewusst wird. Die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins erfüllt auf nichtreflexive Weise die Funktion der Vermittlung, ohne selbst ein Vermitteltes zu sein. In der Indifferenz des Nullpunkts erfährt die Vernunft die der Geschichte vorausgesetzte Einheit jenseits aller Gegensätze. Das Gefühl ist Analogon dieser höchsten Einheit. Als reines Selbstbewusstsein, religiöses oder allgemeines Abhängigkeitsgefühl, ist es Repräsentation des transzendentalen Grundes der „Welt“, der Unendlichkeit oder Gottes. Schleiermacher, so zeigt sich, entgeht damit zwar einer Aufhebung des Endlichen in das Absolute, kann die Wirklichkeit des Endlichen selbst aber nur in dem Bezug auf eine unmittelbar gefühlte, nicht aber der Reflexion zugängliche vorgängige Einheit der Vernunft in der Geschichte als in sich konkrete Allgemeinheit behaupten. In der unmittelbaren Zurücknahme des Zusammenhangs in
Vgl. KGA II/10, 1, 102, § 138. Vgl. unten „Mehr als Gefühl“.
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das Selbstbewusstsein kann Schleiermacher weder das Problem einer gegenständlichen Mitte noch das einer abstrakten Allgemeinheit als Vermittlungsstruktur überhaupt denken. Sie ist ihm schon immer konkret durch die Struktur des Selbstbewusstseins. (4) Diese These lässt sich an den materialen Ausführungen der „Ethik“ erhärten. Indem Schleiermacher die Struktur einer konkreten Allgemeinheit schon immer unterstellt, gelingt es ihm, die Momente des Arbeitsprozesses jenseits der Beschränkung auf eine subjektive Teleologie in den Blick zu bekommen, nicht aber ihre gegenständliche Vermittlung. Das Handeln der Vernunft ist als Vermögen selbst Natur und vollzieht sich immer schon in Verhältnissen, „welche selbst Producte des menschlichen Handelns sind“. In der „nothwendigen Wechselverbindung“ der Grundfunktionen, der Bildung der Natur zum Organ und dem Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft, liegt der Schluss auf das Organon, eine Mitte, die die Voraussetzungen und Momente des Arbeitsprozesses objektiv vermitteln könnte, nahe.²¹ Schleiermacher hat diesen Schluss nicht gezogen. Er wird hier ein Opfer des Schematismus seiner Konstruktion. Er denkt den Gegenstand nicht als Mitte, weil die „Mitte“ als Nullpunkt durch ein unmittelbares Selbstbewusstsein erfüllt wird. In den Blick treten die Funktionen des Bildens und Gebrauchs der Organe, nicht die Organe selbst in ihrem Verhältnis zu den entgegengesetzten Funktionen. Charakteristisch ist der Satz in einem der späteren Entwürfe, wo vom Werkzeug im engeren Sinne eines gegenständlichen Produktionsmittels überhaupt zum ersten Mal die Rede ist: „Das Werkzeug in seiner Thätigkeit verkündet das Dasein dessen, der es braucht“.²² Das bedeutet nicht, dass Schleiermacher die Teleologie des Arbeitsprozesses nicht kennt. Der systematische Ort des Zweckbegriffs ist die Tugendlehre, deren Gegenstand „nicht die Totalität der Vernunft gegenüber der Totalität der Natur“ ist, sondern die Vernunft in den einzelnen Menschen. Mit dieser systematischen Zuordnung wird deutlich, dass Schleiermacher Arbeit, wenn überhaupt im ökonomischen Sinne von „Arbeit“, nicht als gesellschaftliche, sondern unter der Voraussetzung der nicht vollzogenen Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln reflektiert. Gerade weil dieses Handeln aber nicht ein schlechthin Anderes als das der Vernunft in der Totalität sein kann, sondern dieses analogisch repräsentieren muss, beschreibt Schleiermacher etwas anderes als subjektive Arbeitsteleologie. Die „zwischen der Identität des Begriffs und Impulses als ihrem Anfang, und der Realisation des Begriffs und Sättigung
Schleiermacher: Sittenlehre, 79 f. Ebd., 433 (Ethik 1814/16).
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des Impulses als ihrem Ende“ eingespannte Handlung hat ihre Einheit nur in der Sukzession einer unendlicher Menge gleichartiger Handlungen, in denen „der Begriff sich erst im Fortgang näher bestimmt und erweitert, und also auch ein Impuls entsteht auf etwas, worauf er vorher nicht gesezt war“.²³ In der Veränderung der Momente der Handlung im Handeln selbst ändern sich auch Zweck und Impuls der Handlung. Schleiermacher beschreibt hier nichts anderes als teleologisches Handeln ohne die Realisierung des subjektiven Ziels im ausgeführten Zweck. Die Unendlichkeit der Handlungen, die sich zwischen beide stellen, ist das Korrelat des Selbstbewusstseins, das sich im Setzen seiner Abhängigkeit von den objektiven Bedingungen seines Handelns inne wird. Schleiermacher verfehlt aber die Struktur einer Phänomenologie als nicht subjektiv-teleologischer Selbsterzeugung der Vernunft in ihrem Handeln dadurch, dass er die Vermittlung weder material noch logisch über die Gegenständlichkeit der Mitte denkt. Über eine solche Mitte ließe sich erst ein Allgemeines als Zusammenhang aus dem Endlichen heraus selbst einsichtig machen und als bestimmter Zusammenhang, Produktionsweise, denken, der seinerseits durch die Gegenständlichkeit der Mitte als Gegenstand weiterer endlich-teleologischer Arbeitsprozesse nicht die Struktur eines sich identisch reproduzierenden Systems hätte, sondern ein übergreifendes, aber nicht identifizierendes Allgemeines als Dominante der jeweiligen Stufe geschichtlicher Wirklichkeit darstellen könnte. Schleiermacher kann, wie seine Ausführungen über die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft und die Konstitution rechtlicher und staatlicher Verhältnisse über das Geld zeigen, deren abstrakt-allgemeinen Zusammenhang in sein Fachwerk einbauen, ohne ihn als solchen überhaupt zu erkennen. Thematisiert wird nicht das Geld in seiner Vermittlungsfunktion, sondern als Zeichen der Ware, das die Übertragbarkeit eines individuellen Produkts sichert. Geld ist zwar Organon, wird aber ebenso wenig wie andere Organe als gegenständliche Mitte reflektiert.²⁴ Die Statik des Geschichtsmodells in der Totalität der Vernunfthandlungen und die Allmählichkeit der Entwicklung ohne Sprung²⁵ sind Indiz dafür, dass Schleiermacher weniger als Hegel das Bewusstsein hatte, am Anbruch einer neuen Epoche zu stehen, dass ihre (Schleiermachers wie Hegels) „Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist“, in der der Geist in der „Arbeit seiner Umgestaltung“ die „Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht“ und einen „qualitativen Sprung“ vollzieht.²⁶
Ebd., 395 (Ethik 1812/13). Vgl. oben „Tauschen und Sprechen“. Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube, 1. Auflage, KGA I, 7, 1, §§ 9 und 10. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 14.
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Der „Sprung“, den Hegel zur Figur des Übergangs in der Arbeit des Weltgeistes macht, findet bei Schleiermacher keine Entsprechung. Der im Universum angeschaute „Weltgeist“ trägt die Züge eines Patriarchen-Gottes, nicht des Hegelschen Maulwurfs der Geschichte: „Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion und Furcht ist nicht in der Liebe“ (KGA I/2, 224). Der Gegensatz zum Weltgeist und revolutionären Maulwurf Hegels lässt sich an der Interpretation einer mythologischen Figur verdeutlichen, in der sich Marx, Hegel und Schleiermacher versucht haben. Ist für Marx Prometheus als Rebell gegen die Götter und Heros der Arbeit „der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender“,²⁷ so ist die Strafe seiner Fesselung für Hegel die Folge davon, dass er die „Politik […] den Menschen nicht hat bringen können“, dass die Arbeit, so könnte man es lesen, selbst erst durch die politische Befreiung befreit werden muss.²⁸ Für Schleiermacher dagegen ist Prometheus die Figur eines frechen Untertanen, „der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können“ (KGA I/2, 212). (5) Der „berechtigte Gegensatz der Romantik“ setzt der Einseitigkeit der bürgerlichen Ansicht etwas entgegen. Der Gegensatz bezeichnet jedoch keine Alternative. Mit der Einsicht in die Vermittlungsstruktur der Wirklichkeit stellt die bürgerliche Auffassung bei Hegel theoretische Mittel bereit, die abstrakte Allgemeinheit anders als unter der Voraussetzung ihrer gedanklichen Aufhebung in einen absoluten Geist zu überwinden. Er selbst entgeht aber nicht den berechtigten Einwänden der romantischen Ansicht, wo er die Struktur eines abstrakten Allgemeinen in der endlichen Wirklichkeit theoretisch befestigt.
Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Erg.bd. 1, 263. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, HW 17, 107 f. Vgl. die Interpretation bei Furth: „Arbeit, Teleologie, Humanismus“, in: Dialektik 2, Köln 1981, 106.
4 Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie In Schleiermachers Philosophie spielt die Dimension der Zukunft eine bedeutende, wenngleich in der Rezeption weithin unterschätzte Rolle. Das Ungenügen an der Gegenwart wird bereits in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Jugendschriften, wie etwa der Abhandlung Über den Werth des Lebens (1792/93), zum Thema, womit dann im Gegenzug die Hoffnung auf einen umfassenden Fortschritt schon in den anonym publizierten Erstlingswerken, den Reden über die Religion (1799) und den Monologen (1800) bestimmend wird. Schleiermacher ist, fast möchte man sagen: beinharter Fortschrittstheoretiker (wie alle Frühromantiker), dessen Philosophie die Möglichkeit und Notwendigkeit einer durchgreifenden Humanisierung der Welt zu begründen versucht. In der Ethik ist es das höchste Gut, welches eine fortschreitende Beseelung der Natur (auch der menschlichen) durch Vernunft verheißt, in der Dialektik der Prozess des werdenden Wissens, welcher den Horizont eines streitfreien Denkens eröffnet, und der Parallelismus von Philosophie, Wissenschaft und Religion schließlich soll sichern, dass die religiöse Dimension des Menschen im Fortschritt nicht auf der Strecke bleibt. Von all diesem handelt der erste Teil meiner Ausführungen. Zu fragen ist aber auch, ob sich dies alles als haltbar erwiesen hat. Hierauf werde ich im zweiten Teil eingehen. Dabei geht es mir nicht um modische Kritik am Fortschrittsbegriff, wie sie postmodern als interesseloses Wohlgefallen an der Katastrophe zelebriert wird. Ich möchte vielmehr danach fragen, ob Schleiermachers Philosophie im prophetischen Rückblick des Historikers¹ jene Zukunftsdimension hat retten und für unser künftiges Selbst- und Weltverhältnis so bewahren können, wie sie es wollte. (1) In der vierten der Reden über die Religion entwickelt Schleiermacher den Gedanken eines allgemeinen Priestertums, das keiner anderen Organisation mehr bedarf, als der „frommen Häuslichkeit“, welche das „treueste Bild des Universums“ sein könne: „Dies Priesterthum war das erste in der heiligen und kindlichen Vorwelt, und es wird das lezte sein wenn kein anderes mehr nöthig ist.“ (KGA I/2, 289 f.) Voraussetzung hierfür jedoch sei eine vom „Druk mechanischer und unwürdiger Arbeiten“ befreite Menschheit, die dadurch erst den „freien und ofnen Blik“ gewinnen könne, „mit dem allein man das Universum findet“. Die techni-
Vgl. Friedrich Schlegels Athenaeum-Fragment 80, wonach der Historiker ein rückwärts gekehrter Prophet sei (vgl. KFSA 2, 176); Schleiermacher zitiert dieses Fragment in seinem Heft „Gedanken V“, KGA I/3, 298 (Nr. 64).
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sche Utopie einer Befreiung von Arbeit² wird zur Voraussetzung einer im allgemeinen Priestertum gründenden neuen Religiosität: „Es gibt kein größeres Hinderniß der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein müßen, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muß,was durch todte Kräfte sollte bewirkt werden können. Das hoffen wir von der Vollendung der Wißenschaften und Künste daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren läßt in einen Feenpallast verwandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen nur eine Feder zu drüken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich, über keinem hebt sich der Stekken des Treibers und Jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten.“ (KGA I/2, 290) Die Perspektive dieser Utopie, welche Religiosität freisetzen würde, ist für Schleiermacher aber auch erst mit der Religion zu gewinnen, ohne die ein gelingendes Leben – für das hier das Gleichgewicht von Praxis und Theorie (Beschaulichkeit) steht – nicht gedacht werden könne. An anderer Stelle der Reden heißt es hierzu: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.“ (KGA I/2, 212) Philosophie als Reflexion in theoretischer und praktischer Absicht bezieht sich demzufolge auf einen Fortschritt der Wissenschaften und Künste, der – um die Möglichkeit einer vernünftigen, humanen Allgemeinheit zu realisieren – begleitet werden muss von Religion. Dies könnte so verstanden werden, als sei die Religion der Philosophie übergeordnet, und tatsächlich gibt es hier wohl auch eine Ambivalenz in der Argumentation der Reden, trotz der in der zweiten Rede proklamierten strikten Trennung von Metaphysik (Theorie) und Moral (Praxis) einerseits und Religion andererseits.³ Man kann dies aber auch so verstehen, als träfen sich in der Perspektive vernünftiger Allgemeinheit Religion und Philosophie: „um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben“, sie ist „Stoff für die Religion“ (KGA I/2, 228). Hierin berühren sich in der Tat die Reden mit Schleiermachers erster selbständig erschienenen philosophischen Schrift, den Monologen (1800). In deren Mittelpunkt steht die Menschheit als die Gemeinschaft freier Geister, eine Gemeinschaft, in der die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit beseitigt sein soll. Die Perspektive ist
Vgl. Andreas Arndt: Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, 71– 92 (Kap. IV: „Romantik der Arbeit“. Perspektiven des frühromantischen Arbeitsbegriffs; zu Schleiermacher 83 – 85). Vgl. oben „Von der Amphibolie religiöser Rede“.
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gerichtet auf eine nichtentfremdete menschliche Wirklichkeit, in der die Individuen sich als freie wechselseitig anerkennen. Hierfür steht wieder, wie in den Reden, eine „innige und nothwendige […] Verbindung zwischen Thun und Schauen. Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln zu.“ (KGA I/3, 16) Die „höchste Anschauung“, welche die Philosophie vermitteln kann, ist die der Menschheit: „So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.“ (KGA I/3, 18) Diese höchste Anschauung der Philosophie ist zugleich das, was in den Reden zur Religion fähig macht; vernünftige Allgemeinheit im Sittlichen und, wie Schleiermacher es nennt, „religiöser Genuß“ (KGA I/2, 228) konvergieren. Wie das allgemeine Priestertum, so bezeichnet auch die höchste Anschauung einen künftigen Zustand, der als angestrebtes, aber wohl kaum jemals voll zu realisierendes Ideal den Fortschritt motiviert. Dieser Fortschritt ist Auszug aus einer entfremdeten Welt der Knechtschaft, Not und geistigen Befangenheit, wie sie Schleiermacher schon in seinem Entwurf Über den Werth des Lebens (1792/93) charakterisiert hatte. Das sich reflektierende „Ich“ der Monologen – gleichsam ein ins Leben versetztes Transzendentalsubjekt⁴ – sieht sich daher auch als Bürger einer erst heraufzuführenden Welt: „Wer mit der Gegenwart zufrieden lebt und Anders nichts begehrt, der ist ein Zeitgenosse jener frühen Halbbarbaren, welche zu dieser Welt den ersten Grund gelegt […]. So bin ich der Denkart und dem Leben des jetzigen Geschlechts ein Fremdling, ein prophetischer Bürger einer spätern Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehörig jede Tat und jeglicher Gedanke. Gleichgültig läßt mich, was die Welt, die jetzige, tut oder leidet […]. Doch wo ich einen Funken des verborgenen Feuers sehe, das früh oder spät das Alte verzehren und die Welt erneuern wird, da fühl ich mich in Lieb und Hoffnung hingezogen zu dem süßen Zeichen der fernen Heimat.“ (KGA I/3, 35 f.) Modell und Mittel des Auszugs aus der entfremdeten Welt ist die Überwindung der Fremdheit der Sprache, das möglichst vollkommene Verstehen: „Wie
Vgl. Schleiermachers implizit gegen Fichte polemisierende Selbstanzeige der Monologen. „Dieses Büchlein enthält die Aeußerungen eines Idealisten über die wichtigsten Verhältnisse des Menschen, und macht mit der eigenthümlichen Denkungsart bekannt, welche diese Philosophie, in dem Verfasser wenigstens, begründet hat.“ Das ermögliche es, „Gegenstände mit denen Jeder zu thun hat, aus dem Gesichtspunkt des Verfassers zu betrachten, und die Lehre zu welcher er sich bekennt von einer andern als der gewöhnlichen Seite in ihrem Einfluß auf den Charakter und das Leben kennen zu lernen.“ (KGA V/3, XXXVIf.).
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lange hindert sie den Geist zuerst, daß er nicht kann zum Anschaun seiner selbst gelangen! […] Lange sucht er im vollen Ueberfluß ein unverdächtiges Zeichen zu finden, um unter seinem Schuz die innersten Gedanken abzusenden: es fangen gleich die Feinde ihn auf, fremde Deutung legen sie hinein […] Daß doch die Sprache gemeines Gut ist für die Söhne des Geistes und für die Kinder der Welt! daß doch so lehrbegierig diese sich stellen nach der hohen Weisheit! […] Dies ist der große Kampf um die geheiligten Paniere der Menschheit, welche wir der beßern Zukunft den folgenden Geschlechtern erhalten müßen“ (KGA I/3, 37). In Schleiermachers Hermeneutik werden wir später belehrt werden, dass das Verstehen eine unendliche Aufgabe sei. Die Zukunft, die Schleiermachers Philosophie als telos des Wissens und Handelns setzt – den Zustand vernünftiger Allgemeinheit, in dem zugleich die Religion allgemein freigesetzt wird –, diese Zukunft bleibt ein Ideal, das nur näherungsweise erreicht werden kann. Welt und Menschheit bleiben entfremdet, d. h. sie sind prinzipiell in sich gegensätzlich verfasst und nur eine relative Identität der Entgegengesetzten ist erreichbar. Wie kommt es zu dieser Konsequenz und weshalb beharrt Schleiermacher auf dem telos als Ideal? Ein Seitenblick auf Kant kann deutlich machen, worum es hier geht. In seinen geschichtsphilosophischen Texten, welche die Möglichkeit eines moralischen und rechtlichen Fortschritts der Menschheit ausloten, hat Kant das telos als regulatives Prinzip in praktischer Absicht bestimmt. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) etwa vertraut er die Gewährleistung des Friedens der „großen Künstlerin Natur“ ⁵ an, die dem Streben der Menschen zu Hilfe komme, weil sie denselben Zweck verfolge. Es handelt sich hierbei um eine Idee, die „in theoretischer Absicht überschwenglich“⁶ ist, d. h. um ein bloß regulatives Prinzip, nach dem wir die Natur so ansehen, als ob sie Zwecke verfolge. Diese Ansicht der Natur begründet aber einen praktischen Zweck für uns, weil sie es uns, wie Kant sagt, zur Pflicht macht, „zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“⁷. Die Setzung des telos dient dazu, eine der angenommenen Naturteleologie entsprechende Praxis zu initiieren. Streng genommen handelt es sich also um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Hiervon kann bei Schleiermacher, der Kants Unterscheidung konstitutiver und regulativer Prinzipien generell ablehnt, nicht die Rede sein. Das telos ist ihm zufolge keine Setzung in praktischer Absicht, sondern immanentes Ziel der Geschichte, die eben darum Fortschrittsgeschichte ist. Die Ethik als „Wissenschaft
Immanuel Kant: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, 360 f. Ebd., 362. Ebd., 368.
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der Geschichte“ – wie Schleiermacher sie in seinem ersten überlieferten Gesamtentwurf zur philosophischen Ethik, dem Hallenser Brouillon von 1805/06 definiert – ist daher auch nicht Aufzeigen eines Ideals, Setzen eines Seinsollenden, sondern „Beschreibung der Geseze des menschlichen Handelns“, wobei diese Gesetze „als Naturgeseze“ aufzufassen seien.⁸ Diese Gesetze müssen, so Schleiermacher weiter, in der wissenschaftlichen Anschauung mit der Erscheinung zur Einheit gebracht oder sogar „dasselbe“, d. h. empirisch aufweisbar sein; die ursprüngliche Anschauung, die demnach als ein empirisches Faktum zu nehmen ist, ist die „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“.⁹ Hieraus ergibt sich dann die Bestimmung des höchsten Gutes, welches, wie Schleiermacher betont, „als Totalität“ zu nehmen ist, d. h. als das Ganze des ethischen Prozesses; es sei „nur die Affirmation dessen, was in der Idee [also der ursprünglichen Anschauung] liegt. Also die vollständige Beseelung.“¹⁰ Nun ist leicht einzusehen, dass die vollständige Beseelung der Natur durch die Vernunft nicht empirisch aufweisbar ist, sondern als virtuelles Ideal des ethischen Prozesses fungiert. Die weitere Beschreibung der Gesetze des menschlichen Handelns, auf die näher einzugehen ich mir hier versagen muss, zeigt dann auch, dass für diese Gesetze relative Entgegensetzungen konstitutiv sind, darunter grundlegend auch die Entgegensetzung von Natur und Vernunft. Empirisch aufzuzeigen wäre deshalb auch gar nicht das Ideal selbst, sondern allenfalls der Prozess der Vervollkommnung, wobei dann, sofern die vollständige Beseelung der Natur durch die Vernunft Ideal bleibt, auch dessen immanente Grenzen aufgezeigt werden müssten. Da das menschliche Handeln sich bei Schleiermacher immer in Gegensätzen bewegt, ist aus ihm allein die Vollkommenheit des höchsten Gutes als immanentes telos gar nicht abzuleiten und einsichtig zu machen. Hierzu bedarf es vielmehr ergänzender Annahmen über den Grund dieses Handelns, die freilich nicht mehr empirisch, sondern nur noch spekulativ aufweisbar sind. In seiner ersten Vorlesung zur philosophischen Ethik an der Berliner Universität 1812/13 hat Schleiermacher daher auch eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“, also der obersten Wissenschaft, vorangestellt, in der alles Wissen auf ein absolutes Wissen als „Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seins“ bezogen wird.¹¹ Für die Ethik bedeutet dies, dass sie „durch die Form des Gegensazes überhaupt“ mit dem Absoluten vermittelt ist, indem die beiden Seiten eines Gegensatzes in der ethischen Realität notwendig aufeinander bezogen sind, also eine relative Identität bilden, die zugleich aber auch „das Schleiermacher: Sittenlehre, 80. Ebd., 87. Ebd. Ebd., 247.
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Absolute repräsentirt“.¹² Anders gesagt: die relative Identität der Entgegengesetzten verweist auf einen Grund, der die Identität selbst ist – eine reine, relationslose Identität, die wir begrifflich nicht vollziehen können. Bereits in den Reden über die Religion wird eine unaussprechliche ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl der trennenden Reflexion als Grund vorgeordnet,¹³ und so ist es auch hier. Dieser Grund erst trägt das Ideal einer zukünftigen Welt, das Schleiermacher als telos setzt und durch das er seine Philosophie in den Raum der Geschichte stellt. Das telos ist die Projektion eines Ursprungs in die Zukunft und für uns ebenso unerreichbar wie jener. Diese Struktur prägt den Prozess des werdenden Wissens in Schleiermachers Dialektik und soll in ihr begründet werden, während die Ethik sich ja nur mit Hilfssätzen auf das Resultat dieser Begründung bezieht. Der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns ist hier die philosophische Gottesidee; sie bezeichnet das Unbedingte, von dem alles Bedingte abhängt und seinen Ausgang nimmt. Sie ist der terminus a quo alles Wissens und Handelns und die Idee der Gewissheit im Wissen und des Gewissens im Handeln.¹⁴ Wir „haben“ sie im Gefühl als der „relativen Identität des Denkens und Wollens“ (KGA II/10, 1, 142). Diese Idee lässt sich aber nicht als ein Wissen vollziehen, weil der Begriff Gottes an sich leer bleibt, da ihm keine organische Affektion entspricht, d. h. weil er – Kantisch gesprochen – kein möglicher Gegenstand von Erfahrung ist. Gleichwohl ist die Idee der Gottheit „das charakteristische Element des menschlichen Bewusstseins überhaupt“ (KGA II/10, 1, 148), welches in jedem seiner Akte auf gleiche Weise – nämlich unmittelbar – präsent ist. Korrelat der Gottesidee als der Idee des Unbedingten ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles „unter der Form des Gegensazes“ steht (KGA II/10, 1, 49).¹⁵ Schon aufgrund der Endlichkeit unseres Erfahrungsbereichs aber liegt die „Idee (der problematische Gedanke) der Welt d. h. der Totalität des Seins als Vielheit gesezt, […] ebenfalls außerhalb unseres realen Wissens.“ (KGA II/10, 1, 147) Daher ist die Idee der Welt auch „transcendental auf eigene Weise“ (KGA II/10, 1, 148); sie markiert die Grenze einer Totalität des Wissens, die nie erreicht wird, die aber dem Wissenwollen zugrunde liegt und vom werdenden
Ebd., 253. Vgl. KGA I/2, 220 f. Vgl. KGA II/10, 1, 141 f. (§ 214) und 143 f. (§ 216). Aufzeichnungen zum Kolleg 1811, 28. Stunde. – Zu den Wandlungen in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt vgl. Heinz Kimmerle: „Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophisch-theologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 39 – 59.
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Wissen angestrebt wird. Sie ist somit der „transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“ (KGA II/10, 1, 149) Die Idee Gottes ist Einheit ohne Gegensatz, die Idee der Welt Einheit der Gegensätze. Die Idee der Welt ist somit nicht Rückkehr in den Grund, sondern Realisierung der den Wissensprozess begründenden Identität unter den Bedingungen der Entgegensetzung. Insofern ist auch sie die Projektion der ursprünglichen Identität in ein telos des Prozesses. Wodurch aber ist für uns der transzendentale Grund, also die philosophische Gottesidee, begründet? Für Schleiermacher ist dieser Grund, weil er selbst als relationslos gedacht wird, nicht ableitbar und vermittelbar aus den Entgegensetzungen unseres Wissens und Handelns. Er wird vielmehr zugänglich in einer Erfahrung sui generis, die Schleiermacher als ‚Gefühl‘ bzw. in der Dialektik-Vorlesung 1822 auch als „unmittelbares Selbstbewußtsein“ anspricht (KGA II/10, 1, 266). Dieses Gefühl ist Analogon des transzendentalen Grundes, der sich uns damit gleichsam jenseits unseres begrifflichen Denkens mitteilt. Schleiermacher setzt hier auf die Evidenz einer Erfahrung, die keine sinnliche ist; die Schwierigkeiten dieser Begründung oder auch Nichtbegründung, die Gegenstand zahlreicher Erörterungen in der Forschungsliteratur ist, sind offenkundig, können hier aber nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist zunächst, dass das Gefühl, in welchem der philosophische Gottesbegriff zugänglich wird, strukturell demjenigen Gefühl entspricht, in dem das christlich-religiöse Selbstbewusstsein gründet, dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, wie es im § 4 der Glaubenslehre bestimmt wird: beides ist unmittelbares Selbstbewusstsein.¹⁶ In dieser strukturellen Entsprechung gründet Schleiermachers Überzeugung, Philosophie und Theologie könnten zusammengehen. In seinem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. März 1818 schrieb Schleiermacher, er sei „mit dem Verstande ein Philosoph, denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Thätigkeit des Verstandes und mit dem Gefühl […] ein Christ“, denn die Religiosität sei Sache des Gefühls, welches der Verstand gleichsam übersetzt („verdolmetscht“).¹⁷ Daraus folge vor allem, dass Philosophie und Religion bzw. Theologie sich nicht widersprächen: „Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen“.¹⁸ Dies bedeutet nun aber auch, dass Philosophie und Theologie in keinem Begründungsverhältnis zueinander stehen; sie konvergieren, aber jede entwickelt und rechtfertigt sich auf ihrer eigenen Grundlage. Im Zweiten Sendschreiben an Lücke Vgl. KGA I/13, 1, 32 ff.; KGA I/7, 1, 31 ff. (§ 9). Schleiermacher an Jacobi, 30. März 1818, hg.v. A. Arndt und W. Virmond, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1994, 395. Ebd., 396.
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(1829) betont Schleiermacher daher auch, dass die Philosophie nicht mehr ancilla theologiae sei, d. h. Theologie und Philosophie seien voneinander „frei geworden“ (KGA I/10, 390). Dass beide gleichwohl einander nicht feindlich sind, setzt jedoch nicht nur voraus, dass die Theologie ihrer Ansprüche an die Philosophie entsagt, sondern es setzt ebenso voraus, dass die Philosophie – mit Kant zu reden – das Wissen aufhebt, um zum Glauben Platz zu bekommen,¹⁹ wie Schleiermacher es mit der Unterscheidung von Gefühl und Reflexion macht. Nur dann, mit einer bestimmten Philosophie, ist für die Zukunft des Christentums gesichert, dass nicht eintritt, was Schleiermacher im Zweiten Sendschreiben an Lücke als Menetekel hinstellt: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ (KGA I/10, 347) (2) In seinem Versuch über den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden (1796) hat Schleiermachers Weggefährte Friedrich Schlegel Kant vorgehalten, der Fortschritt in weltbürgerlicher Absicht müsse empirisch konstatierbar sein und ein bloß regulatives Prinzip tue nichts zur Sache.²⁰ Kant hat diesen Einwand ernstgenommen und in seinem Streit der Fakultäten (1798) als Antwort auf die enthusiastische Teilnahme der Beobachter an der Französischen Revolution verwiesen, die ein „Geschichtszeichen“ (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon) darstelle, denn dieser Enthusiasmus gehe ganz „aufs Idealische und zwar rein moralische“.²¹ Schlegel hätte seine Anfrage auch an Schleiermacher richten können, obwohl dessen Ethik ja den Anspruch erhebt, die Gesetze des menschlichen Handelns und damit das Fortschreiten hin auf das höchste Gut empirisch aufzeigen zu können. Vom tatsächlichen Geschichtsverlauf, geschichtlichen Epochen und dergleichen ist bei Schleiermacher freilich nicht die Rede, und er hätte das wohl auch in die ‚Geschichtskunde‘ verwiesen, die das Bilderbuch zum Formelbuch der Ethik darstelle.²² Es dürfte aber schwerfallen, im Bilderbuch der letzten gut 200 Jahre etwas zu finden, was zu Schleiermachers Formeln passt, und auch Geschichtszeichen sind schwer auszumachen, die Schleiermachers These vom Gleichklang wissenschaftlichen, sittlichen und religiösen Fortschritts plausibel machen könnten. Auf welchen historischen Erfahrungsgehalt also könnte Schleiermacher sich stützen?
KrV B, XXX. Vgl. Friedrich Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie, hg.v. A. Arndt und J. Zovko, Hamburg 2007, 12– 29. – Andreas Arndt: „‚Geschichtszeichen‘. Perspektiven einer Kontroverse zwischen Kant und F. Schlegel“, in: Hegel-Jahrbuch 1995, Berlin 1996, 152– 159. Immanuel Kant: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, 86. Schleiermacher: Sittenlehre, 549.
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Kein Zweifel, Schleiermacher denkt geschichtlich, und nur deshalb öffnet sich sein Denken, wie ich es im ersten Teil meiner Ausführungen zu zeigen versucht habe, auf die Zukunft hin und bestimmt die Aufgaben der Gegenwart von dieser Zukunft her. Das aber bedeutet nicht zugleich auch, dass Geschichte eine konstitutive Bedeutung für die Begründung von Schleiermachers Philosophie hätte. Ein kurzer Blick auf Friedrich Schlegel kann deutlich machen, was hier auf dem Spiel steht. Dieser schrieb 1797, in der Philosophie müsse „das Transcendentale […] historisirt“ werden.²³ Das meint, dass die Philosophie nicht nur historische Voraussetzungen, unter denen sie auf spezifische Weise erscheint und damit auch eine Geschichte hat, sondern dass die Philosophie in ihrem innersten Wesen historisch verfasst und geschichtlich konstituiert ist. Hegel hat dann einen vergleichbar radikalen Gedanken 10 Jahre später in seiner Phänomenologie des Geistes systematisch entwickelt. Von einer solchen Historisierung des Transzendentalen kann bei Schleiermacher nicht die Rede sein; eher ließe sich umgekehrt sagen: bei ihm wird die Geschichte zum Transzendental. Der Raum der Geschichte, so zeigt die Dialektik, öffnet sich in der Spannung zweier transzendenter bzw. transzendentaler (Schleiermacher unterscheidet beides nicht) Ideen, der Idee Gottes als terminus a quo alles Wissens und Handelns einerseits und der Idee der Welt als terminus ad quem des Wissens und Handelns andererseits. Weil beide Ideen nicht zusammenfallen und als Korrelate auf je eigene Weise transzendent sind, findet weder eine Rückkehr des Prozesses in sich statt noch kann die Idee der Welt vollständig realisiert werden; Ursprung und telos sind unerreichbar, eben transzendent im strikten Sinne. Der geschichtliche Prozess des Wissens und Handelns, der zwischen diese Pole gespannt ist, ist unter diesen Voraussetzungen unendlich progressiv. Unendlich, weil er nicht ans Ziel kommt, progressiv, weil er fortschreitende Annäherung an dieses Ziel ist. Der Fortschritt ist verbürgt durch prinzipientheoretische Annahmen, nämlich dadurch, dass Ursprung und Ziel als Einheit aufgefasst werden – als relationslose Identität hier, als Einheit Unterschiedener dort –, womit die fortschreitende Identität der Entgegengesetzten den Prozess bestimmt. Im Lichte dieser spekulativ begründeten Auffassung des Geschichtlichen werden dann in der philosophischen Realwissenschaft der Geschichte, der Ethik, Gegensätze in ihrer relativen Einheit und im fortschreitenden Prozess ihrer Einigung aufgezeigt. Die Gesetze des menschlichen Handelns sind spekulativ erborgt und nicht empirisch aufgezeigt. ‚Unendliche Progressivität‘ ist für die Frühromantik die Bewegungsform der Moderne. Der Sache nach übernimmt Schleiermacher diese Figur, gibt ihr aber
KFSA 18, 92, Nr. 756; vgl. Schlegels 8. Habilitationsthese von 1801: „Non critice, sed historice est philosophandum“ (Neue philosophische Schriften, hg.v. J. Körner, Frankfurt/Main 1935, 38).
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einen ganz anderen Sinn. Von Moderne spricht er so gut wie gar nicht; ich kenne nur eine Stelle im Manuskript der Vorlesungen zur Ästhetik 1819, wo er von der „modernen Kunstwelt“ redet und ihr (und mit ihr wohl der Moderne insgesamt) nachsagt, in ihr dominiere „die Beziehung auf die Idee der Gottheit“, und dieses Verhältnis sei „ein schlechthin unmittelbares“ und könne „von jedem einzelnen Punkt ausgehn“.²⁴ Diese unmittelbare Beziehung ist Errungenschaft des Christentums, und letztlich setzt Schleiermacher auch das Christentum mit der Moderne gleich, so z. B. in seiner Einteilung der Philosophiegeschichte in antike und christliche Philosophie.²⁵ Vor diesem Hintergrund ist, so meine These, auch der historische Erfahrungsgehalt zu bestimmen, auf den Schleiermacher sich stützen will. Es ist die unmittelbare Beziehung auf das Absolute bzw. die Idee Gottes, d. h. diejenige Erfahrung, die er mit ‚Gefühl‘ und ‚unmittelbares Selbstbewusstsein‘ zu beschreiben versucht. Diese Erfahrung kann nach Schleiermacher, zumindest in der christlich geprägten Moderne, Jeder an jedem Punkt machen, an dem er sich befindet. Diese Erfahrung ist, gleich ob sie nun in den Grund des Wissens und Handelns oder in den Grund des Glaubens führen soll, religiös konnotiert, aber doch nur auf eine bestimmte Form der Religiosität bezogen, nämlich diejenige, welche durch die protestantische Auffassung von Subjektivität begründet wird. Die geschichtliche Bedingtheit derjenigen Erfahrung, die für Schleiermacher seine Ansicht der Geschichte als unendliche Progressivität verbürgen soll, wird von ihm schlicht ausgeblendet, was allererst die überhistorische Verallgemeinerung der Erfahrung und ihres behaupteten Grundes ermöglicht. Diese Erfahrung und mit ihr die Schleiermachersche Sicht auf spekulative Prinzipien und die in ihnen begründete Geschichte nachzuvollziehen, dürfte schwerfallen. Wie soll über den Inhalt eines zunächst bloß Subjektiven, des Gefühls, mit Anspruch auf objektive Gültigkeit Auskunft zu geben sein? Und wie sollte es gelingen, eine nichtrelationale Identität als Grund alles Identifizierens geltend zu machen? Mit welchem Recht können wir im Transzendenten Ideen bestimmen, unterscheiden und diese dann als konstitutiv für unser Selbst- und Weltverständnis annehmen? Weshalb soll nicht die Totalität der Welt das Bedingende des Denkens und Handelns und damit der terminus a quo sein, auf den der Prozess des Wissens und Handelns sich immer wieder zurückbezieht? Ich will diese Fragen hier nicht weiter diskutieren, aber so viel steht fest: man müsste sie alle überzeugend im Schleiermacherschen Sinne beantworten können, wollte man
Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, hg.v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984, 49. Vgl. Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, hg.v. H. Ritter, Berlin 1839, 154; Schleiermachers Ankündigungen lauten durchgängig so. Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992, 305.307; die Vorlesung 1820 wurde nicht angekündigt (vgl. 316).
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die Zukunftsdimension der Schleiermacherschen Philosophie retten. Und selbst wenn dies gelänge, so wäre noch immer zu fragen, ob Schleiermachers spekulative Ansicht der Geschichte sich, wie er es selbst forderte, mit der Empirie zu einer Anschauung vereinigen ließe. Ich halte es für unmöglich, Schleiermachers Philosophie auf diesem Weg retten zu wollen. Was aber bleibt dann von ihr, was ist dann ihre Zukunft als Philosophie? In der noch weitgehend schlecht erforschten, im Ausgang von der Klassischen Deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert aber kaum zu überschätzenden Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Philosophie tritt – von Twesten über Trendelenburg bis Dilthey – deutlich hervor, dass Schleiermachers Philosophie unter zunehmendem Verzicht auf ihre spezifischen metaphysischen Gehalte in eine „erkenntnistheoretische Logik“ transformiert wurde.²⁶ Dieses bloße Absehen von der Metaphysik hat jedoch, bis hin zu Gadamer und über ihn hinaus, zu einer verzerrten Wahrnehmung der Schleiermacherschen Philosophie auch hinsichtlich einzelner Disziplinen geführt; die Stilisierung der Hermeneutik von einer technischen zu einer Fundamentaldisziplin ist ein prominentes Beispiel.²⁷ Die Zukunft der Schleiermacherschen Philosophie liegt, so scheint mir, weder in ihrer kritiklosen Affirmation noch im Durchstreichen ihrer metaphysischen Gehalte. Ihre Zukunft ist nur in einer nachholende Reflexion zu bestimmen, die das macht, was Schleiermacher versäumte, was aber nach seiner Auffassung von Hermeneutik zu jedem Verstehen gehört, nur für das Selbstverständnis so schwer zu leisten ist und erst aus dem Abstand gelingen mag: die Historisierung seiner Philosophie. Im Verhältnis zur Religion wird das wohl dazu führen müssen, das beide einander ganz frei geben, wie schon in den Reden gefordert und in der Dialektik-Vorlesung 1818/19 bekräftigt: „Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung“ (KGA II/10, 2, 242). In diesem Sinne ist der Knoten der Geschichte schon längst auseinandergegangen und der methodische Atheismus von Philosophie und Wissenschaft ist unwiderruflich. Im Verhältnis zum Fortschrittsgedanken wird dies dazu führen müssen,
Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, Schleiermachers System der Philosophie und Theologie, hg.v. M. Redeker, 1. Halbband, Berlin 1966 (Gesammelte Schriften 14, 1), 157; vgl. Gunter Scholtz: „Schleiermachers Dialektik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik“, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), 171– 189. – Zur Wirkungsgeschichte vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/Main 1986, Teil 1. Vgl. unten „Dialektik und Hermeneutik“ sowie „Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers“.
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diesen im Blick auf bestimmte Kriterien des Fortschritts, die empirisch vermittelbar sind, neu zu bestimmen.²⁸ Und im Blick auf die metaphysischen Implikate der Schleiermacherschen Philosophie wird daran zu erinnern sein, dass Schleiermacher, wie seine heute prominenteren philosophischen Zeitgenossen, Kant auf dem Boden seiner Vernunft- und Metaphysikkritik weiterdenkt und nicht vorweggenommener Kritiker der Klassischen Deutschen Philosophie, sondern in gewissen Hinsichten Protagonist und in jedem Falle integraler Bestandteil der nachkantischen Philosophie ist.²⁹ Dies auszuführen ist hier nicht der Ort. Wohl aber möchte ich zum Schluss betonen, dass solche Historisierung in Bezug auf diejenigen Kontexte, in denen Schleiermacher seine Denkwerkzeuge entwickelte und in denen sie von ihm und anderen benutzt wurden, erst deren theoretische Potentiale zu bestimmen vermag. Wenn die Philosophie, anders als Schleiermacher selbst es meinte, in ihrem innersten Wesen historisch verfasst und konstituiert ist, dann gehört die Historisierung einer Philosophie zur Erschließung ihres systematischen Gehalts. Hierin repräsentierte Schleiermachers Philosophie keine vergangene Zukunft, sondern sie wäre notwendiges Moment philosophischer Selbstvergewisserung und aufgehobenes Moment im historischen Konstitutionsprozess der Philosophie, auch der zukünftigen.
Vgl. Johannes Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main 2000. Vgl. oben „Dialektik und Transzendentalphilosophie“ sowie Walter Jaeschke und Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, München 2012.
5 Der Begriff der Person bei Schleiermacher Der Terminus ‚Person‘ ist für Schleiermacher zweifellos nicht zentral, obwohl sich mit ihm der Sache nach ein Zentralbegriff Schleiermachers verbindet, der historisch gesehen nicht unbedingt mit dem Begriff der Person verbunden war, nämlich der Begriff der Individualität. Gleichwohl erlaubt die besondere Hinsicht auf den Begriff der Person Differenzierungen über das Individualitätsdenken hinaus, das für Schleiermacher eine allgemeinere Dimension hat: anders als das Individuationsprinzip ist der Begriff der Person ausschließlich in der Sphäre der Sittlichkeit verankert und daher mit dem Konzept der Vernunft verbunden. Dies hat dazu beigetragen, dass in der Schleiermacher-Literatur die Begriffe ‚Person‘ und ‚Bewusstsein‘ vielfach enggeführt werden, d. h. Person-Sein auf einer bewusstseinsphänomenologischen Ebene verortet wird.¹ Ob dies so berechtigt ist, wird im Folgenden zu prüfen sein. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich zunächst einen kurzen entwicklungsgeschichtlichen Überblick gebe (1), um dann die systematischen Kontexte zu skizzieren, in denen der Begriff der Person bei Schleiermacher eine Rolle spielt (2). (1) Den Hintergrund der Schleiermacherschen Rede von der Person bildet die Kantische Philosophie, die – neben derjenigen Spinozas – zentraler Bezugspunkt des jungen Schleiermacher war. Für Kant lässt sich der Begriff der Person gerade nicht bewusstseinstheoretisch fundieren. Die Identität der Person folgt nicht aus der Identität des Ich, denn es ist der Fehler der rationalen Psychologie, das Bewusstsein zu einer Seelensubstanz zu verobjektivieren.² Der Begriff der Person oder der Personalität hat seinen spezifischen Ort nicht im Bereich der theoretischen, sondern allein im Bereich der praktischen Vernunft. Person bezeichnet hier das sowohl der Sinnenwelt als auch der intelligiblen Welt angehörende Subjekt, das Triebkraft und Gegenstand der Freiheit ist.³ In diesen Kontext ist auch das erste Auftreten des Begriffs der Person beim jungen Schleiermacher eingeschrieben, das in der Abhandlung Über die Freiheit (1790 – 92) erfolgt, die ausdrücklich „zu einer nähern Beleuchtung der Kantischen Freiheitstheorie“ (KGA I/1, 220) hinführen soll. Die Einführung des Begriffs der Person erfolgt im Zusammenhang mit der Frage nach der moralischen Zurechnung von Handlungen, deren Möglichkeit Kant von der Geltung der transzendentalen
Vgl. besonders Christel Keller-Wentorf: Schleiermachers Denken. Die Bewußtseinslehre in Schleiermachers philosophischer Ethik als Schlüssel zu seinem Denken, Berlin und New York 1984, 282– 320. KrV A 365; vgl. B 408 f. KpV 155.
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Freiheit abhängig gemacht hatte, „welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß“.⁴ Hier setzt Schleiermacher, gewissermaßen mit Kant gegen Kant argumentierend, den Begriff der Person ein, um die Verbindung von reiner praktischer Vernunft und Empirie bzw. dem intelligiblen Reich der Freiheit und dem Reich der Sinnlichkeit herzustellen. Nach ihm geht die Zurechnung nicht auf einzelne Handlungen oder Handlungssequenzen, denen ein freier Wille als Ursache unterstellt wird,vielmehr müsse die Zurechnung im Blick auf das im höchsten Gut vorausgesetzte Sittengesetz der reinen Vernunft erfolgen, wobei die handelnde Person im Ganzen als Urheber der einzelnen Handlung anzusehen und zu bewerten sei. Die Zurechnung wertet nicht die einzelne Tat, sondern die Person nach ihrer Stellung zur Sittlichkeit. Sie bestimmt das Maß der Sittlichkeit, das ein Individuum repräsentiert: „die Zurechnung ist das Urtheil wodurch wir die Sittlichkeit einer Handlung auf denjenigen der sie gethan hat übertragen so daß das Urtheil über die Handlung einen Theil unseres Urtheils über seinen Werth ausmacht“ (KGA I/1, 247). Ein solches Urteil beruht auf einer „Vergleichung mit dem moralischen Gesez“ (KGA I/ 1, 249), welches den allgemeinen, in der Vernunft begründeten Maßstab abgibt. Demgemäß bringt auch die Beurteilung der Person im Ganzen, im Zusammenhang ihrer Handlungen, den Vernunftstandpunkt zur Geltung, indem sie das Individuum auf die Idee der Sittlichkeit bezieht. So steht auch das Strafgesetz unter der Forderung, die ganze Person im Zusammenhang der Entwicklung der Sittlichkeit zu bewerten, indem es sich von einem „Gefühl allgemeiner Liebe und Gleichheit“ (KGA I/1, 271) leiten lässt. Der Begriff der Person, wie er hier auftaucht, ist im Kern Kantisch gedacht; wie in der Kritik der praktischen Vernunft bezeichnet er die Einheit des menschlichen Subjekts als Bürger zweier Welten, die Schleiermacher aber auch im Blick auf die Verbindung von Sittengesetz (transzendentaler Freiheit) und Kausalität (Determiniertheit) realisiert wissen will: „es ist umsonst den Menschen zu theilen, alles hängt an ihm zusammen, alles ist eins“ (KGA I/1, 241). In seinem Manuskript Spinozismus (wohl 1793/94), entstanden aufgrund einer intensiven Lektüre des Jacobischen Spinoza-Buches, kommt Schleiermacher dann wenig später in einem längeren Exkurs auf das Problem zurück, wobei er einen Vergleich zwischen Jacobi und Kant durchführt.⁵ Ausgangspunkt ist Jacobis These, dass „ein jedes Wesen,
KpV 173. Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, 65, abstrahiert von diesem Kontext und behandelt daher zitierende und referierende Passagen bei Schleiermacher zum Teil als dessen eigene Position. – Vgl. an neueren Arbeiten Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza, Berlin und New York 1988, 189 – 193; Bernd Oberdorfer: „‘Umrisse der Persönlichkeit‘. Perso-
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welches das Bewußtseyn seiner Identität hat“, eine Person sei (KGA I/1, 538). Schleiermacher verdichtet dies zu der Formel, Person sei „Identität mit Bewußtseyn“ (KGA I/1, 539), wobei er – wiederum mit Jacobi – diese Einheit auf das Selbstbewusstsein bezieht. Das Bewusstsein der Identität bezieht sich also auf „die Identität des Selbstbewußtseyns der transcendentalen Einheit, des Ichs“ (KGA I/1, 540). Mit Kant macht Schleiermacher dabei geltend, dass von der Identität des Selbstbewusstseins nicht auf die Identität eines Substrats zu schließen sei, denn „das Bewußtseyn, welches die einzige ratio cognoscendi des Selbstbewußtseyns ist bezieht sich nur auf das äußere des Dinges, nicht auf sein inneres, und die Einheit dieses Selbstbewußtseyns kann also auch nur auf das Ich und nicht auf die Substanz gehen.“ (KGA I/1, 540) Unter diesem Vorbehalt wird eine dreifache Unterscheidung betrachtet, die Schleiermacher im Anschluss an Jacobi entwickelt hat.⁶ (a) Eine Personalität, in der Einheit des Selbstbewusstseins und Identität der Substanz verknüpft sind; dies komme dem höchsten Wesen und „höchstwahrscheinlich aber und vermöge des Glaubens auch den Menschen zu“. (b) Eine Personalität, in der diese Verknüpfung nicht ausgemacht ist und die den Menschen zukommt. (c) Eine Personalität, in der die Identität einer mit Bewusstsein ausgestatteten Substanz anzunehmen ist, aber kein Selbstbewusstsein, wie dies bei Tieren unterstellt wird. Mit Kant wird nun behauptet, dass ein noumenologischer Personenbegriff (wie der Begriff der Personalität Gottes) leer sei,⁷ so dass dieser Begriff nur auf der phänomenologischen Ebene angesetzt werden könne; hier müsse unterschieden werden zwischen einer Kontinuität des Bewusstseins mit Selbstbewusstsein (Mensch) und ohne Selbstbewusstsein (Tier). In einem weiteren Schritt wird aber auch Kant dafür kritisiert, dass er seinen moralischen Personenbegriff – der Mensch als Selbstzweck – mit dem phänomenologischen Begriff der Person nicht vermitteln könne und auch daran scheitere, theoretische und praktische Vernunft an diesem Punkt zu verbinden. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Schleiermacher einerseits nur Probleme skizziert, selbst aber keine Lösungen entwickelt, und andererseits den Begriff der Person in der Folge nicht weiter ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Dies dürfte vor allem damit zu tun haben, dass er bereits in seinen Spinoza-Studien zu Positionen vorstößt, die eine Absage an den kritischen Idealismus in der Kantischen Fassung bedeuten. Mit Spinoza versteht Schleiermacher seither den
nalität beim jungen Schleiermacher – ein Beitrag zur gegenwärtigen ethischen Diskussion“, in: Evangelische Theologie 60 (2000), 9 – 24; Dorette Seibert: Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft. Der junge Schleiermacher und Herrnhut, Göttingen 2003, 320 – 322. Vgl. KGA I/1, 541. Vgl. ebd., 542 f.
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Erkenntnisprozess nicht mehr im Ausgang von einem transzendentalen Selbstbewusstsein und damit auf einer bewusstseinsphänomenologischen Ebene, sondern als ein Entsprechungsverhältnis von Denken und Sein, wobei er aber zugleich mit Kant an der Unerkennbarkeit des Unbedingten oder Absoluten festhält. Die geläufige Vorstellung einer Personalität Gottes bleibt damit in dem Raum des unerkennbaren Ansich und spielt keine Rolle mehr in Schleiermachers Denken;⁸ zugleich wird der Begriff der Person in der Folge tendenziell mit dem prinzipium individuationis in Verbindung gebracht und dadurch ebenso von der bewusstseinsphänomenologischen auf eine ontologische Ebene verschoben. Bereits in der ersten Auflage der Reden über die Religion (1799) ist zu beobachten, dass der Begriff der Persönlichkeit die Bedeutung der Eigentümlichkeit im Sinne des Individuationsprinzips erhält, wenn z. B. davon die Rede ist, „daß die scharf abgeschnittnen Umriße der Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche“ (KGA I/2, 246), oder wenn von den „Schranken der Persönlichkeit“ (KGA I/2, 289) gesprochen wird. ‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ bezeichnen demnach eine Bestimmtheit als Verendlichung eines Unendlichen, wobei die Aufgabe darin besteht, sie in einer gegenläufigen Bewegung wieder auf das Unendliche zu beziehen. ‚Person‘ bzw. ‚Persönlichkeit‘ ist, um es mit einer in Bezug auf Schleiermacher geläufigen Formel auszudrücken, individuelle Allgemeinheit. ⁹ In diesem Sinne heißt es in den Reden, „Symbol“ der „unendlichen und lebendigen Natur“, des Universums, sei die „Mannichfaltigkeit und Individualität […]. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs.“ (KGA I/2, 213) In einem Brief Schleiermachers an seinen Studienfreund Karl Gustav von Brinckmann vom 14. Dezember 1803 heißt es prägnant: „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt“ (KGA V/7, 158). Angesichts der Nichterkennbarkeit des Absoluten als solchem ist das individuerte, verendlichte Absolute der nicht zu überspringende Ausgangspunkt der Erfahrung des Absoluten oder Unendlichen. Für die weitere Entwicklung im Blick auf das Konzept der Person folgt daraus, dass die Identität der Person zweideutig wird. Sie ist einerseits Identität der Person mit sich, als solche aber zugleich Beschränktheit, und an Vgl. Hartmut Rosenau: „Personales und apersonales Gottesverständnis bei Schleiermacher“, in: Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe, hg.v. G. Meckenstock, Göttingen 2006, 51– 54. Vgl. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -Interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main 1977.
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dererseits ist sie Identität als Beziehung auf das Allgemeine und darin Überwindung der Beschränktheit der anfänglichen personalen Identität. Diese Spannung bringt letztlich ein romantisches Individualitätskonzept zum Ausdruck und erinnert nicht nur zufällig an Friedrich Schlegels Theorem, Ironie sei Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung;¹⁰ Schleiermacher wird diese Spannung zu einem zentralen Bestandteil des ethischen Prozesse machen. Hierbei bleibt die Unterscheidung von Personalität und Individualität zu beachten, über die sich Schleiermacher in einem Brief an Henriette Herz vom 24. August 1802 näher ausspricht: „Zur Liebe allein gehört […] nothwendig die Verschmelzung der Personalität im ganzen Umfange. (Personalität und Individualität unterscheide ich nemlich so, daß zur letzteren nur das innerlich charakteristische gehört, vermöge dessen der Mensch eine eigne Darstellung der Menschheit ist, zur Personalität alles vermöge dessen er ein abgesondertes Wesen in der äußeren Welt ausmacht; sein Körper, seine Organe, seine Rechte, seine bestimmte Lage in der Welt.)“ (KGA V/6, 92).¹¹ Festzuhalten ist jedoch zunächst, dass der Begriff der Person bzw. der Persönlichkeit als solcher bei Schleiermacher im Weiteren nicht mehr im Zentrum der theoretischen Bemühungen steht, auch nicht in der Ethik. Bezeichnend ist, dass er bereits in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre nur noch marginal und ohne eigenes theoretisches Profil auftaucht.¹² Daneben findet der Begriff noch in der Schrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808) Erwähnung, wo für diejenigen, die sich – wie in der Universität und Akademie – „zum Behuf der Wissenschaft mit einander verbunden haben“ vom Staat die Anerkennung der Vereinigung „als eine moralische Person“ gefordert wird, wobei Schleiermacher in diesem Zusammenhang auch von „zusammengesetzten Personen“ spricht (KGA I/6, 22). Bemerkenswert daran ist, dass Schleiermacher hier der sich aus staatlicher Anerkennung ergebenden juristischen Person eine aus einer individuierten Gemeinschaftssphäre resultierende, d. h. sittlich und nicht juridisch konstituierte moralische Person unterlegt. Die Konstitution einer solchen „gemeinschaftlichen Persönlichkeit“ bedeutet für die einzelne Person eine Entgrenzung seiner Persönlichkeit hin zum Wir der Gemeinschaft, wie es in der christlichen Gemeinschaft, aber nicht nur dort, der Fall ist. In diesem Sinne heißt es in Schleiermachers Aufsatz Ueber die Lehre von der Erwählung (1819): „was ist denn das, was wir eine moralische oder zusammengesezte Person nennen, als ein wollendes Wesen, welches in der theilweisen Aufgebung der Freiheit und KFSA 2, 151. Im übrigen dominiert in Schleiermachers Briefwechsel die umgangssprachliche Bedeutung von ‚Person‘. Vgl. KGA I,4, 40.94.
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Selbstbestimmung also auch der eigenen Persönlichkeit Einzelner gegründet ist?“ (KGA I/10, 201) (2) Nach diesem kursorischen Überblick über die Entwicklung des Begriffs der Person bei Schleiermacher wende ich mich nun systematischen Kontexten zu, wobei ich mich auf die philosophischen konzentriere und auf den theologischen nicht eingehe. Ich gehe, in dieser Reihenfolge, auf die Ethik, die Pädagogik und die Dialektik ein; in den anderen Disziplinen spielen die Begriffe der Person und der Persönlichkeit nur am Rande und/oder nicht in einer über die Ethik hinausgehenden Semantik eine Rolle. In der Lehre vom Staat wird vor allem der Begriff der moralischen Person erörtert, gar nicht die juridische Bedeutung von Person und der Begriff der juristischen Person, was zweifellos mit Schleiermachers fast vollständiger Abstinenz gegenüber rechtsphilosophischen Fragen zu tun hat. Die Hermeneutik schließlich thematisiert Person und Persönlichkeit des Autors und des Lesers bzw. Hörers, jedoch nur als in der Mitteilung und im Verstehen zu überwindende Eigentümlichkeit. (a) Maßgebend für die nähere Bestimmung des Begriffs der Person ist Schleiermachers Philosophische Ethik, in der Eigentümlichkeit und Persönlichkeit als Aspekte von Individualität unterschieden werden.¹³ Schleiermachers sperrige Definition der Person lautet: „Das Geseztsein der sich selbst gleichen und selbigen Vernunft zu einer Besonderheit des Daseins in einem bestimmten und gemessenen, also beziehungsweise für sich bestehenden Naturganzen, welches daher zugleich anbildend ist und bezeichnend, zugleich Mittelpunkt einer eignen Sphäre und angeknüpft an Gemeinschaft, ist der Begriff einer Person.“¹⁴ Zunächst ist festzuhalten, dass Person nicht auf der Ebene des Bewusstseins allein, sondern als Einheit von Vernunft und Natur verstanden wird. Sie ist Besonderung der mit sich identischen Vernunft in einem relativ („beziehungsweise“) für sich bestehenden Naturganzen; letzteres bezeichnet eine Totalität, die nicht auf den menschlichen Körper beschränkt ist. Person ist demnach nicht leib-seelische Einheit im traditionellen Verständnis, das auf den einzelnen Menschen geht, sondern bezeichnet Momente des ethischen Prozesses als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“.¹⁵ In diesem Sinne ist der Begriff der Person ein genuin der sittlichen Sphäre angehörender Begriff. Hervorzuheben an Schleiermachers Definition ist weiterhin, dass mit der Relativität der bestimmten Sphäre, in der Vernunft und Natur sich verbinden, die Schleiermacher: Sittenlehre; ich beziehe mich im Folgenden auf die letzte Bearbeitung der „Güterlehre“ (wohl 1816/17); vgl. aber auch die Fassung von 1814/16, 448 ff. Ebd., 604. Ebd., 87.
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Person von vornherein nicht als vereinzeltes Atom auftritt, sondern als Moment eines natürlichen und gesellschaftlichen Ganzen. Es liegt daher für Schleiermacher bereits im Begriff der Person, dass sie von der Gesellschaft und vom Naturganzen her und im Blick auf diese zu denken ist. Wie bereits in dem zitierten Brief an Henriette Herz dargelegt, unterscheidet Schleiermacher auch hier zwischen der Persönlichkeit einerseits und der Individualität andererseits, die er hier „Eigenthümlichkeit des Daseins“ nennt: „ein eigenthümliches Dasein ist ein qualitativ von andern unterschiedenes, ein persönliches ist ein sich selbst von andern unterscheidendes und andere neben sich sezendes“.¹⁶ Das Moment der Selbstunterscheidung von Anderem ist demnach konstitutiv für die Persönlichkeit, auch wenn die qualitative und, wie Schleiermacher eigens betont, nicht nur numerische Unterscheidung von Anderem Voraussetzung des aktiven Sich-Unterscheidens ist, welches die Persönlichkeit ausmacht. Im ethischen Prozess, der es wesentlich mit dem Handeln der Vernunft auf die Natur zu tun hat, geht es dabei nicht nur und nicht einmal in erster Linie um ein bloß theoretisches Verhalten bzw. ein Bewusstseinsphänomen. Sofern aber jede Handlung im ethischen Sinne Bewusstsein einschließt, handelt es sich bei dem Sich-Unterscheiden zugleich um ein reflektiertes Selbstbewusstsein nach dem Vorgang der auf Wolff zurückgehenden Bewusstseinstheorien des 18. Jahrhunderts.¹⁷ Selbstbewusstsein ist demnach ein Bewusstsein, in dem das Subjekt sich von den Objekten unterscheidet und sich dadurch eine ihm eigene Identität zuschreibt. Nun denkt, wer von Schleiermacher schon etwas gehört hat, beim Stichwort ‚Selbstbewusstsein‘ wohl zuerst an das nicht-reflektierte, unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl, wie es in der Dialektik in Parallele zum religiösen Selbstbewusstsein als Instanz des Innewerdens des transzendentalen Grundes modelliert ist. Tatsächlich spielt diese Konzeption innerhalb des ethischen Prozesses selbst in diesem Zusammenhang keine Rolle: Person ist demnach immer vermittelt und insofern ein Reflexionsbegriff. Schon, dass ‚Person‘ und ‚Persönlichkeit‘ als Begriffe fungieren, ist aus Sicht der Dialektik ein Beleg dafür, dass sie in den Bereich der Vermittlung bzw. Reflexion fallen: der Begriff setzt nach Schleiermacher immer den Unterschied zu dem voraus, worauf er sich bezieht, und ist demnach immer nur innerhalb einer Differenz (in der Dialektik: von Denken und Gedachtem) zu denken.
Ebd., 604. Vgl. Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin und New York 2005.
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Diese Bestimmung hat noch weitere Konsequenzen für den Begriff der Person: „Die Begriffe Person und Persönlichkeit sind […] ganz auf das sittliche Gebiet angewiesen, und dort die Weise zu sein des Einen und Vielen; denn das andere neben sich Sezen ist dem Begriff eben so wesentlich als das sich Unterscheiden.“¹⁸ Persönlichkeit oder Person ist nur in der Beziehung auf Anderes, von dem die Person sich aktiv unterscheidet: „Je weniger ein Mensch oder ein Volk sich von andern unterscheidet, um desto weniger persönlich ausgebildet ist [er bzw., Verf.] es in seiner Sittlichkeit“.¹⁹ In dieser Hinsicht ist Volk für Schleiermacher die höchste als Person anzusprechende Einheit in der sittlichen Sphäre. Die Rasse, so betont er, setzt sich selbst schon nicht als Einheit; die „menschliche Gattung aber ist als eine Person deshalb nicht anzusehen, weil sie nichts Gleiches hat, was sie neben sich sezen kann. Die Richtung aber vernünftige Wesen zu denken in andern Weltkörpern ist zugleich die nie vollendete Entwickelung der vollkommenen Persönlichkeit im menschlichen Geschlecht.“²⁰ Sollte also die von Schleiermacher auch in anderen Kontexten immer wieder erwogene Möglichkeit vernünftigen Lebens auf anderen Himmelskörpern sich bewahrheiten und es zur Begegnung mit Aliens kommen, so könnte die menschliche Gattung eine Art planetarisches Selbstbewusstsein ausbilden und sich als Persönlichkeit im Verhältnis zu den vernünftigen Bewohnern anderer Himmelskörper konstituieren. Schleiermachers Bindung des Personenbegriffs an die Differenz hat aber auch Konsequenzen für das Gottesverständnis.Wenn Gott, wie es philosophisch auch in der Dialektik begründet wird, nicht losgelöst von der Welt gedacht werden kann, sondern als absolute Identität jenseits aller Differenz bestimmt ist, dann kann er nicht personal gedacht werden, denn um Persönlichkeit zu sein, müsste er sich unterscheiden, womit er in die Sphäre der Entgegensetzung fallen und ein Endliches im Verhältnis zu Endlichem wäre. In ethischer Hinsicht wichtig ist nun, dass die Ausbildung der Persönlichkeit durch Unterscheidung für Schleiermacher die Anerkennung des Anderen als Bedingung des eigenen Person-Seins impliziert: „je weniger es [ein Mensch oder ein Volk, Verf.] andere neben sich sezt und anerkennt, um desto weniger ist es sittlich ausgebildet in seiner Persönlichkeit“.²¹ Hierin liegt die ethische Forderung an die Persönlichkeit, seine Beziehung auf Anderes und Andere möglichst allseitig und umfassend zu realisieren, um sowohl ein Höchstmaß an Persönlichkeit überhaupt als auch ein Höchstmaß an Sittlichkeit zu erreichen.
Schleiermacher: Sittenlehre, 604. Ebd. Ebd., 605. Ebd., 604.
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In dem Begriff der Persönlichkeit ist demnach auch bereits die Tendenz angelegt, über sich hinauszugehen. Hier knüpft die bereits erwähnte Entgrenzung der Persönlichkeit an, die in sozialen Kontexten dazu führt, dass der Einzelne ungeachtet seiner eigenen Persönlichkeit als Einzelner auch Moment kollektiver, moralischer Personen sein kann, mit denen er sich identifiziert. Bedingung hierfür ist, ohne dass Schleiermacher explizit näher darauf eingeht, dass die Identifikation mit moralischen Personen oder Gemeinschaftssphären – von der Familie über Volk und Staat bis hin zur Kirche – nicht im Widerspruch zu der Persönlichkeit des einzelnen Menschen steht, sondern deren konsequente Fortsetzung ist. Insofern liegt in der allseitigen und umfassenden Ausbildung der eigenen Persönlichkeit selbst die Tendenz zur Konstitution von Gemeinschaftssphären. (b) Unter den an die philosophische Ethik anschließenden Disziplinen hat es vor allem die Pädagogik mit dem Begriff der Person zu tun, geht es hier doch durchgängig um die Ausbildung der Persönlichkeit im ethischen Sinne. Unklar sind für Schleiermacher aber die anthropologischen Voraussetzungen des pädagogischen Prozesses. Das Wissen von der menschlichen Natur wäre dessen natürlicher Ausgangspunkt, aber die Anthropologie hat, Schleiermacher zufolge, hierüber kein gesichertes Wissen, da der Erfahrungszusammenhang sowohl im Sinne der These von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen als auch im Sinne der These von der natürlichen Ungleichheit der Menschen gedeutet werden kann. Diese Aporie, so Schleiermacher, lasse sich empirisch (noch nicht) auflösen, sie dürfe aber auch nicht durch apriorische Setzung der einen oder anderen Seite spekulativ entschieden werden. Die „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“²² ist demnach anzuerkennen und ein „Kanon“ zu finden, der „beide Voraussetzungen […] berechnet“:²³ die Erziehung soll der „inneren Kraft“ des zu Erziehenden zu Hilfe kommen, aber in Bezug auf das, was von dieser Entwicklung bewirkt wird, Unterschiede im Sinne vermeintlich natürlicher gesellschaftlicher Schranken nivellieren. In dieser Lösung kommt die soeben in Bezug auf die philosophische Ethik skizzierte Doppelbewegung des Ausbildens der Persönlichkeit als Abgrenzung von Anderen und des Ausbildens der Sittlichkeit als Identifizieren mit Anderen ins Spiel. Ein wesentliches Element hierbei ist die Vielseitigkeit der Ausbildung als „Reichtum in den Verhältnissen“ des Einzelnen zur Welt, denn dieser ist – da er allererst die Abgrenzung von Anderen und Anderem gestattet – „eine neue Quelle der persönlichen Eigentümlichkeit“.²⁴ Diese auszubilden, ist allerdings Domäne Schleiermacher: Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main u. a. 1983, 19. Ebd., 41. Schleiermacher: Pädagogik (1820/21), hg.v. C. Ehrhardt und W. Virmond, Berlin und New York 2008, 73.
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der familiären Erziehung, während die öffentliche Erziehung eher auf die Identifikationen mit Gemeinschaftssphären gerichtet ist: „Die Ausbildung der eigentümlichen Persönlichkeit des Einzelnen durch die Erziehung ist nicht das vorherrschende Interesse einer Gemeinschaft“;²⁵ öffentliche und private Erziehung sind also für Schleiermacher gleich notwendig und ergänzen sich wechselseitig. Im Ergebnis sollen sich beide Gesichtspunkte vereinigen: „Die höhere Erziehung soll die persönliche Eigentümlichkeit auf eine dominierende Weise ausbilden und den Einzelnen dahin zu bringen suchen, dass er durch die höhere Kraft in ihm auch auf das Ganze wirken könne, und ihm dazu eine Regel geben.“²⁶ (3) Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich noch kurz auf die Dialektik zu sprechen kommen. Mehr noch als in der Hermeneutik sind Person und Persönlichkeit hier nur Randbedingungen des auf Vernunft, d. h. Allgemeinheit zielenden Wissensprozesses, bei dem wir – wie bereits in der ersten Vorlesung 1811 betont wird – „nicht in den Grenzen der Persönlichkeit“ sind (KGA II/10, 2, 12). Hier ist das „Hervortreten der Persönlichkeit“ geradezu „Sünde und der Irrthum also entsteht aus der Sünde“ (KGA II/10, 1, 60). Auch in späteren Fassungen der Dialektik wird betont, dass das Verschwinden der persönlichen Differenz Voraussetzung des Wissens ist.²⁷ Wie dies geschieht, wird im zweiten, technischen Teil der Dialektik und nicht in ihrem grundlegenden transzendentalen Teil erörtert. Nächster Bezugspunkt ist hier die Theorie der Begriffsbildung. Der Begriff erscheint hier zunächst als Resultat eines Schematisierungsprozesses, in dem allgemeine Bilder erzeugt und in einem sprachlichen Bezeichnungssystem fixiert werden. Während die Bilder individuell erzeugt sind und im Inneren der Individuen verbleiben, wird ihr allgemeiner Gehalt durch die Sprache zur Gemeinschaft der Vernunft vermittelt.²⁸ Hierbei bleiben, wie Schleiermacher betont, „die Differenz des Gedachten und die Identität des Denkens im Streit“, so dass diese Irrationalität oder Relativität „selbst auf ein Wissen gebracht werden“ muss, indem sie im Prozess des werdenden Wissens „mitconstruirt“ wird“ (KGA II/10, 1, 180). Dies ist Aufgabe eines begleitenden kritischen Verfahrens, welches als ein „unnachläßliches Correlatum“ der unmittelbaren Konstruktion des Wissens anzusehen ist und neben diesem beständig herläuft (KGA II/10/1, 180). Wenn Schleiermachers Dialektik auf der einen Seite die Begriffe der Person bzw. der Persönlichkeit nur am Rande im Zusammenhang mit zu überwindenden Irrationalitäten thematisiert, so liefert sie doch auf der anderen Seite eine tran
Ebd., 84. Ebd., 88. Vgl. KGA II/10, 1, 98, § 125, 1 (Manuskript 1814/15) Vgl. KGA II,10, 2, 304 f.; vgl. auch KGA II,10,1, 179 (§ 45).
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szendentalphilosophische Begründung für diese Begriffe. Persönlichkeit ist, so hatten wir in der philosophischen Ethik gesehen, das Ergebnis einer aktiven Abgrenzung von Anderen bzw. Anderem. Sie setzt in dieser Hinsicht Wollen und also – ohne dass ich mich hier näher auf eine Erörterung dieses Begriffs bei Schleiermacher einlassen möchte – Freiheit voraus. In seiner Dialektik verortet Schleiermacher Freiheit auf der Ebene der Selbstbezüglichkeit einer Individualität, die zur Selbstmanifestation fähig ist: „Frei ist alles in sofern es eine für sich gesezte Identität von Einheit der Kraft und Vielheit der Erscheinungen ist. Nothwendig ist es insofern es in das System des Zusammenseins verflochten als eine Succession von Zuständen erscheint.“ (KGA II/10, 1, 134) Nach Schleiermachers Auffassung bedingen sich Freiheit und Notwendigkeit auf der ontologischen Ebene wechselseitig: „Je fester es als Einheit in sich begründet ist um desto mehr bietet es den äußeren Kräften etwas dar an das sie sich wenden können, und je mehr etwas von den äußeren Kräften afficirt wird um desto mehr ist es aufgefordert alles was in ihm der Möglichkeit nach begründet ist auch zu realisiren. Frei und notwendig sind einander nicht contradictorisch entgegengesezt sondern das gemeinschaftliche contradictorische Gegentheil beider ist das zufällige. […] Ja man kann sagen Freiheit und Nothwendigkeit sind jede das Maaß der andern. Die Freiheit eines Dinges ist das Ding ganz, und die Nothwendigkeit eines Dinges ist das Ding auch ganz, nur von einer andern Seite angesehn. Jedes Ding ist nur nach verschiedenem Maaße hierin das Bild des Ganzen.“ (KGA II/10, 1, 134) Auch von Seiten der Dialektik bedingen sich Selbstschöpfung durch Setzen der Differenz und Selbstauflösung durch Identifizieren mit dem Allgemeinen als dessen Moment wechselseitig. Dies zum Austrag zu bringen, bleibt die Aufgabe des ethischen Prozesses, in dem der Begriff der Person seinen Ort behält.
Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
1 Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik „Indem zu den dichterischen und philosophischen Ideen unserer classischen Epoche die Ergebnisse der Naturforschung und des geschichtlichen Studiums traten, gestalteten sich die Systeme, welche einen so tiefgreifenden und dauerhaften Einfluß auf die deutsche Bildung erlangt haben. Diese Systeme […] bilden die Genossenschaft der zur Philosophie entwickelten Welt- und Lebensansicht Schleiermachers. […] Daher liegt das wissenschaftliche Fundament für das Verständnis von Schleiermachers System […] in einem vergleichenden Studium dieser ganzen Gruppe von Systemen, welche ihre Genesis, das von ihrer gemeinsamen Anlage gegründete gemeinsame Entwicklungsgesetz derselben und die Ansatzpunkte ihrer verschiedenen Gestaltung darlegt.“¹ Die 1870 von Wilhelm Dilthey aufgestellte Forderung bezeichnet ein wissenschaftliches Programm, für das seine philosophiehistorischen Arbeiten bahnbrechend wirkten,vor allem die Studien zu Schleiermacher, Novalis, Hölderlin und dem jungen Hegel.² Aus diesem Programm erwuchsen auch editorische Bemühungen, an denen Dilthey – wie im Falle der Hegelschen Jugendschriften³ und der Akademie-Ausgabe der Werke und des Nachlasses Kants – maßgeblichen Anteil hatte. Inzwischen hat die von Dilthey mit auf den Weg gebrachte historisch-philologische Erforschung der Systeme der Klassischen Deutschen Philosophie vor allem durch zahlreiche kritische Editionen die Kenntnis der Epoche beträchtlich erweitert und damit auch die vergleichenden Untersuchungen Diltheys und anderer in vielen Punkten revisionsbedürftig gemacht. Gleichwohl kann von einer Synthese aufgrund der jetzt zugänglichen Materialien keine Rede sein. Die von Dilthey formulierte Aufgabe ist auch und gerade für die philosophische Beschäftigung mit Schleiermacher noch immer aktuell.Vor allem im Blick auf die für seine Philosophie systematisch grundlegende Konzeption der Dialektik ist zu fragen, wie sie sich in die Theoriebildungsprozesse seiner Zeit einordnet und welche spezifischen theoretischen Potentiale sie realisiert, denn, merkwürdig genug: dieses Problem wurde bereits von Dilthey nicht weiter verfolgt, dessen Auseinandersetzung mit der Dialektik über ein bloßes Referat kaum hinausge Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd.1, Berlin 1870, 350 f. Neben dem Leben Schleiermachers vgl. vor allem Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig und Berlin 1905, sowie Die Jugendgeschichte Hegels, Berlin 1905. Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, hg.v. H. Nohl, Tübingen 1907; vgl. dazu Christoph Jamme und Helmut Schneider: „Die Geschichte der Erforschung von Hegels Jugendschriften“, in: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel, hg.v. C. Jamme und H. Schneider, Frankfurt/Main 1990, bes. 19 – 26.
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
langt.⁴ Der fruchtbaren und notwendigen immanenten Rekonstruktion des systematischen Argumentationsganges der Dialektik ⁵ stehen nur wenige Versuche entgegen, Schleiermachers Dialektik in den philosophiehistorischen Kontext einzustellen; diese beschränken sich zumeist darauf, das Für und Wider einer Abhängigkeit von Schelling zu erörtern.⁶ So scheint es, als sei die Forschung zur Dialektik bis heute nicht wesentlich über die von Rudolf Odebrecht aufgestellte Scheinalternative der „Abhängigkeitsschnüffelei“⁷ einerseits und der Hervorkehrung einer Einzigkeit Schleiermachers andererseits hinausgekommen, auch wenn die methodische Beschränkung auf die immanente Rekonstruktion keineswegs diese von Odebrecht postulierte Einzigkeit zum Beweisziel haben muss. Während die Vorgeschichte der Dialektik-Konzeption in der Entwicklung der philosophischen Auffassungen Schleiermachers wenigstens in den Grundzügen als geklärt gelten kann,⁸ ist die Herkunft des Begriffs weitgehend im Dunkel geblieben; die sachliche Nähe der Konzeption zu Platon und Schelling (der im Übrigen mit dem Begriff der Dialektik sehr sparsam umging) erklärt noch nicht, weshalb Schleiermacher die von ihm in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) geforderte „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften“ (KGA I/4, 48) erstmals 1811 unter dem Titel einer Dialektik auftreten lässt. Die Beantwortung dieser Frage im Kontext der zeitgenössischen Philosophie allerdings stößt auf Schwierigkeiten, denn der spezifische, wenn auch keineswegs einheitliche Gebrauch des Begriffs „Dialektik“ in der nachkantischen Philosophie und dessen Verhältnis zur Tradition kann keineswegs als geklärt gelten.⁹ Daher wird es zunächst vonnöten sein, Schleiermachers
Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, 2 Bde., hg.v. M. Redeker, Berlin 1966, Bd. 2, 1, 67– 227 Vgl. Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974; metakritisch dazu Hans-Richard Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systematische Interpretation, München 1979; zur Forschungs- und Wirkungsgeschichte vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984 (besonders die Abschnitte B., C. I. und C. II. 3. a); ferner meine Einleitung zu Schleiermacher: Dialektik (1811), Hamburg 1986, xxxvi–xlvii. Vgl. z. B. Gustav Mann: Das Verhältnis der Schleiermacher’schen Dialektik zur Schelling’schen Philosophie, Stuttgart 1914 (zuerst Phil. Diss. München 1913). Rudolf Odebrecht: „Einleitung“, in: Friedrich Schleiermacher: Dialektik, hg.v. R. Odebrecht, Leipzig 1942 (Reprint Darmstadt 1976), xii. Vgl. den zusammenfassenden Forschungsbericht bei Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 45 – 78; speziell zur Dialektik noch immer den ersten Teil der instruktiven Studie von Bruno Weiß: „Untersuchungen über Friedrich Schleiermacher’s Dialektik“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 73 (1878), 1– 31; ferner meine Einleitung zur Ausgabe von Schleiermacher: Dialektik (1811), Hamburg 1986, bes. ix–xxvii. Vgl. Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1986, bes. 6 – 28; eine vergleichende Untersuchung der Dialektik-Begriffe dieser Epoche ist Desiderat.
1 Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik
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Gebrauch des Begriffs „Dialektik“ vor 1811 zu erheben und auf die Entwicklung seines Wissenschaftskonzepts zu beziehen (1). In einem zweiten Schritt soll sodann versucht werden, diesen Vorbegriff von Dialektik mit dem Dialektik-Begriff der Vorlesungen zur Dialektik in Verbindung zu bringen (2), um schließlich Begriff und Konzept der Dialektik in den Kontext der zeitgenössischen Systembildungsversuche einzuordnen (3). (1) Auffällig ist, dass Schleiermacher den Ausdruck „Dialektik“ vor 1810 zur Charakterisierung seiner eigenen Philosophie gar nicht in Anspruch nimmt. Das erste überlieferte Dokument, in dem das Projekt einer Dialektik erwähnt wird, ist Schleiermachers Brief an Gaß vom 29.12.1810, worin es heißt: „Ich bin schon angesprochen worden um die Ethik. Allein ich habe einmal verschworen, so lange Fichte der einzige Professor der Philosophie ist, kein philosophisches Collegium zu lesen; und sollte sich das bis Ostern ändern, so hätte ich Lust, erst als Einleitung zu meinen philosophischen Vorlesungen die Dialektik zu versuchen, die mir lange im Kopfe spukt.“¹⁰ Was Schleiermacher da im Kopfe spukte, ist nicht allzu schwer zu eruieren, wenn man auf die Problemstellung spätestens der Grundlinien von 1803 zurückgeht. Auch, wogegen sich dieser Spuk in erster Linie richtete, erhellt aus diesem Vergleich: bereits 1803 war die Etablierung einer Wissenschaftslehre in Konkurrenz zu Fichte das Ziel der obersten Wissenschaft, denn der Titel der Wissenschaftslehre sei „ein Name, welcher dem der Philosophie unstreitig weit vorzuziehen ist, und dessen Erfindung vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellte System“ (KGA I/4, 48). Dieser Intention entsprechend las Schleiermacher sein erstes Kolleg über Dialektik 1811 in bewusster Konkurrenz zu Fichte: „Schleiermacher hat seine Dialektik in dieselbe Stunde verlegt, wo Fichte die Wissenschaftslehre liest. Er scheint es mit Fleiß getan zu haben, wenigstens will er sich auf eine Versetzung der Stunde gar nicht einlassen.“¹¹
F. Schleiermacher: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg.v. W. Gaß, Berlin 1852, 87. C.F. Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, 158; das Zitat stammt aus einer Tagebuchnotiz Twestens vom 25. 3.1811. Möglicherweise hat sich der Herausgeber Heinrici verlesen, denn tatsächlich kann es sich nicht um die Wissenschaftslehre gehandelt haben, die Fichte im Sommersemester 1811 im Anschluss an die „Thatsachen des Bewußtseins“ von 4– 5 Uhr vortragen wollte, während Schleiermacher die Dialektik auf die Zeit von 5 – 6 Uhr gelegt hatte (Verzeichniß der von der hiesigen Universität im nächsten Sommerhalbenjahre vom 25. März an zu haltenden Vorlesungen, Berlin 1811). Der Vortrag der Wissenschaftslehre unterblieb; dagegen kollidierte Schleiermachers Vorlesung zeitlich mit Fichtes „Rechtslehre“, die, nach Fichtes Mitteilung, u. a. wegen einer „Kollision“ ausfallen musste (vgl. Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, Halle 1910,
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, dass Schleiermacher die Ausdrücke „Dialektik“ und „dialektisch“ vor 1810 vor allem im Zusammenhang mit Fichte verwendet, wobei eine gewisse Ambivalenz dieser Charakteristik hervortritt.Von seiner persönlichen Begegnung mit Fichte berichtet ein Brief an Brinckmann vom 4.1.1800: „Lehrreich ist er nicht; denn detaillirte Kenntniße scheint er in andern Wißenschaften nicht zu haben […] sondern nur allgemeine Uebersichten, wie unser einer sie auch hat. Das ist übrigens sehr Schade weil er eine ganz herrliche Gabe hat sich klar zu machen, und der größte Dialektiker ist den ich kenne. So sind mir auch eben keine originellen Ansichten oder Combinationen vorgekommen wie er denn überhaupt an Wiz und Fantasie Mangel leidet“. (KGA V/3, 314) Die Bewunderung für Fichtes Dialektik verhindert also nicht ein im ganzen negatives Urteil über den Mann und seine Philosophie; der Terminus „dialektisch“ gewinnt somit den Beigeschmack rhetorischer Virtuosität, auch wenn er nicht in der Weise negativ besetzt ist, wie in Kants Verdikt der aristotelischen Dialektik als Topik, der bescheinigt wird, sie tauge für „Schullehrer und Redner“, um „mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln und wortreich zu schwatzen“.¹² Für Schleiermacher ist das Dialektische allein im Sinne logisch-rhetorischer Kunstfertigkeit ein unzureichender Grund des Philosophierens, das nur durch eine Verwurzelung im Mystizismus (was immer dies sei) Wahrheit und Wahrhaftigkeit beanspruchen kann. In diesem Sinne heißt es in einem Brief an Reimer vom Juni 1803, bezogen auf eine angekündigte neue Darstellung der „Wissenschaftslehre“: „Nach Fichte’s Wissenschaftslehre habe ich vergeblich im Meßkatalogus gespürt. Ich schließe daraus beinahe daß er mit seinem System aufs Unklare gerathen ist, und bin sehr begierig zu sehn was davon der Ausgang wird. Es ist doch nichts lieber Freund mit einer Philosophie die so bloß auf dialektischem Grunde ruht ohne allen Mysticismus wie es mit dem Idealismus in Fichte der Fall ist“ (KGA V/6, 392).¹³ In dieselbe Richtung zielt eine Bemerkung in Schleiermachers Brief an Brinckmann vom 14.12.1803: „Wer nun aber die Philosophie und das Leben so 358). Obwohl eine solche Überschneidung bei verschiedenen Disziplinen innerhalb eines Fachs usus war, mag Fichte dies im Falle Schleiermachers als Provokation empfunden haben. KrV A 268 f. Zum Mystizismus vgl. auch Schleiermachers Äußerung in einem Brief an Ehrenfried von Willich im Juni 1801, wo es heißt, er erwarte „Gutes“ vom Schellingschen Identitätssystem und dessen Gegensatz zu Fichte: „Ich denke, es wird nun einmal über die Grenze der Philosophie gesprochen werden müssen, und wenn die Natur außerhalb derselben gesezt wird, so wird auch Raum gewonnen werden auf der andern Seite jenseits der Philosophie für die Mystik. Fichte muß sich freilich während dieser Operation mit seiner bereiten Virtuosität im Idealismus sehr übel befinden.“ (KGA V/5, 157– 159) Zur Situierung dieser Grenze in der „Dialektik“ Schleiermachers vgl. meine „Einleitung“ zu Schleiermacher: Dialektik (1811), Hamburg 1986, XXXV.
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strenge trennt wie Fichte thut,was kann an dem großes sein? Ein großer einseitiger Virtuose aber wenig Mensch. Freilich ist Schelling eine ungleich reichere Natur; aber ich fürchte doch fast daß er Fichten ähnlicher ist als man denkt. Mir ist es nemlich immer verdächtig wenn Jemand von einem einzelnen Punkt aus auf sein System gekommen ist. So Fichte offenbar nur aus dialektischem Bedürfniß um ein Wissen zu Stande zu bringen, daher er nun auch nichts hat als Wissen um nichts als das Wissen“. (KGA V/7, 158) Diese Isolierung des Wissens vom „Leben“ ist es, die Schleiermacher überhaupt am transzendentalen Idealismus kritisiert.¹⁴ Im Gegensatz zu den „gewöhnlichen Formeln der Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will“,¹⁵ setzt Schleiermacher darum an die Spitze der Ethik in seinem anlässlich der Hallenser Vorlesung 1805/06 entstandenen Brouillon zur Ethik eine ursprüngliche Anschauung, die sich als Anschauung des Lebens bestimmt.¹⁶ „Leben“ steht hier letztlich für eine lebendige Einheit von Natur und Geschichte bzw. Physik und Ethik, die sich der wissenschaftlichen Reflexion entzieht und insoweit nicht begrifflich gewusst werden kann: die Anschauung des Lebens als Rückführung des Mannigfaltigen und Getrennten auf eine ursprüngliche, lebendige Einheit ist die Verankerung der Philosophie im Mystizismus. So lautete denn auch – mit deutlicher Spitze gegen Fichte – der Befund in den „Grundlinien“ von 1803, die Wissenschaftslehre dürfe „selbst nicht wiederum […] auf einem obersten Grundsaz beruhen; sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann“ (KGA I/4, 48). In der Anschauung dieses lebendigen, organischen Ganzen liegt nun das Gegengewicht gegen die leere dialektische Virtuosität. Gesinnung, die sich in der Anschauung ausdrückt, und Wissenschaft müssen, so Schleiermacher im „Brouillon“ (1805/06), ins Gleichgewicht gebracht werden, damit sowohl vermieden werde, dass die Religion „beim wissenschaftlichen Beginnen in falsche Mystik
Vgl. seinen Brief an Brinckmann, 4.1.1800 (KGA V/3, 316), wo es heißt, er wolle in den Monologen den Idealismus ins Leben übertragen, sich dabei aber „die wirkliche Welt […] auch warlich nicht nehmen laßen“; vgl. ferner den Brief vom 28. 3.1801 an F.H.C. Schwarz, wo er sich, im Blick auf die angestrebte Vereinigung von Idealismus und Realismus als Antipoden Fichtes „innerhalb des Idealismus“ begreift, weil er „die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophiren“ nicht anerkenne (KGA V/5, 73 – 76). Schleiermacher: Sittenlehre, 175. Ebd., 82.88
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ausartet“, als auch das Übergewicht des Wissenschaftlichen nicht in „dialektische Virtuosität“ umschlage, „die aber beim Ausfüllen des wissenschaftlichen Fachwerkes das Rechte nicht finden kann“.¹⁷ Unklar bleibt, ob hier das Dialektische a limine mit dem Wissenschaftlichen identifiziert wird. Hierüber gibt eine Passage der Grundlinien näheren Aufschluss, in der die Behandlung der ethischen Güterlehre durch die Stoiker kritisch gewürdigt wird. Sie mag, so Schleiermacher, „nur ein dialektisches Wagestük sein […], aus der Verlegenheit den ihnen fremden Begrif irgendwo anzuknüpfen entstanden“ (KGA I/4, 198); andererseits hat die Dialektik hier heuristischen Wert: „nicht leicht aber zeigt sich irgendwo deutlicher, als hier, die Vortreflichkeit der Dialektik, welche sie, wenn sie ihr treu geblieben wäre[n], nothwendig auf das richtige hätte führen müssen“ (KGA I/4, 199). In diesem Verständnis ist die Dialektik mehr als rhetorische Virtuosität, nämlich ein heuristisches Verfahren, das Moment objektiv gültigen Erkennens ist.¹⁸ Dennoch knüpft Schleiermacher hieran nicht eine eigene philosophische Disziplin unter dem Titel der Dialektik. Hierfür scheint es nicht ohne Bedeutung zu sein, dass er in den Grundlinien ausgerechnet die stoische Dialektik positiv hervorhebt, die ja nach seiner Auffassung insofern formal bleibt und nicht selbständig hervortritt, als sie nur im Zusammenhang mit Ethik und Physik und auf den Feldern dieser Realwissenschaften objektive Gültigkeit beanspruchen kann.¹⁹ Das dialektische Verfahren wird gleichsam in die realphilosophische Entwicklung aufgehoben, und es bleibt zweifelhaft, inwiefern es überhaupt für sich zu stellen ist.²⁰ Dies gilt auch für die Formulierungen des Brouillons zur Ethik von 1805/06, in denen Ethik und Physik (im Sinne der Naturphilosophie) jeweils die „ganze eine Seite der Philosophie“ bilden,²¹ ohne dass der Anspruch auf eine selbständige Darstellung der „reinen“ oder ersten Philosophie als des Dritten zu Physik und Ethik hervortreten würde. In dieser Hinsicht ist zwischen 1803 und dem Beginn der akademischen Lehrtätigkeit in Berlin, wo er (erfolglos) die Berufung Steffens’ betreibt, um Halt an
Ebd., 81. Die heuristische Seite des technischen Teils der späteren Schleiermacherschen Dialektik entzieht sich in der Regel der Aufmerksamkeit der Interpreten; vgl. hierzu ausführlicher Werner Hartkopf: „Historischer Überblick über die Entwicklung der Heuristik“, in: (ders.:) Dialektik – Heuristik – Logik. Nachgelassene Studien, hg.v. H. Baum u. a., Frankfurt/Main 1987 (Monographien zur philosophischen Forschung 235), 119 – 130. Zu Schleiermachers späterer Einschätzung der stoischen Dialektik vgl. seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Schleiermacher: Sämmtliche Werke 3/4, 1, 126 ff.). Vgl. dazu unten „Unmittelbarkeit als Reflexion. Voraussetzungen der Dialektik Friedrich Schleiermachers“. Schleiermacher: Sittenlehre, 79 f.
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einer „allgemeinen Philosophie“²² zu finden, ein Schwanken in Schleiermachers Haltung unverkennbar. Hieß es in den Grundlinien noch eindeutig, der „dynamische Idealismus“ Fichtes und Schellings könne „wohl schwerlich die Ahnenprobe seiner Abstammung von einer Idee der höchsten Erkenntniß bestehen“ (KGA I/4, 356) und deshalb gebe es „immer noch obwaltenden Streit über die ersten Principien“ (KGA I/4, 30),²³ so behauptete Schleiermacher in seiner Berliner EthikVorlesung von 1807/08, er könne „ganz füglich die Grundsätze der reinen Philosophie“ voraussetzen, „in denen auch ja alle einig sind, jeder Streit gilt nur die Tüchtigkeit oder Verständlichkeit der Formen.“²⁴ Wenn auch die Einteilung der Philosophie in „reine“ Philosophie (Elementarphilosophie, Wissenschaftslehre, oberste Wissenschaft) und Physik und Ethik, die sich ausdrücklich auf die antike Philosophie bezieht (vgl. KGA I/4, 49), unbestritten bleibt, so ist doch der Akzent auf einer selbständigen Darstellung der obersten Wissenschaft fraglich. Auch in dem 1804 erschienenen ersten Band der Platon-Übersetzung wird eher auf die Unzertrennlichkeit und Einheit der sich in Platons Darstellung durchdringenden Disziplinen abgehoben, auch wenn Platon zum Urheber der genannten Dreiteilung der Philosophie erklärt wird.²⁵ Im Sinne solcher Einheit der Disziplinen kann im Brouillon zur Ethik (1805/06) die Dialektik geradezu mit dem Philosophieren selbst identifiziert werden: „Denken, Reden, Satz, Gedanke fast überall dasselbe. Im Griechischen in der schönsten Zeit διαλέγεσθαι: Gespräch führen und Philosophieren, Dialektik Organ der Philosophie. Fortgeseztes Vergleichen einzelner Acte des Erkennens durch die Rede, bis ein identisches Wissen herauskommt“.²⁶ Auf der anderen Seite erscheint die Dialektik wiederum enger gefasst als „Darstellung des Wissens im Gebiet der Schule“.²⁷ Gleichwohl bleiben beide Bestimmungen formal und auf das bezogen, was Schleiermacher später als das heuristische bzw. architektonische Verfahren im zweiten Teil der Dialektik thematisieren wird; keinesfalls aber bekommt die Dialektik hier die Bedeutung einer transzendentalen Grundlegung der Philosophie überhaupt.²⁸ So steht auch in den Gelegentlichen Gedanken über Universitäten Briefe, Bd. 4, 175. Zu dem Konzept der obersten Wissenschaft um 1803 vgl. auch die Notizen Nr. 58, 87 und 107 in dem Heft „Gedanken V“ (KGA I/3, 296 f., 306 und 310). Vgl. oben „Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schleiermachers Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1807/08“; das Zitat stammt aus Varnhagens Nachschrift des Beginns der Vorlesung. Platon: Werke, Bd. 1/1, Berlin 1804, 9. Sittenlehre, 164. Ebd., 217. Schleiermachers erster Entwurf der philosophischen Ethik im Anschluss an seine Hallenser Vorlesung 1804/05 enthielt, nach einem Brief Gaß‘ an Schleiermacher vom 13.7.1805, eine
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in deutschem Sinn (1808) die „reine Philosophie“, verstanden als „Beschäftigung mit der Einheit und dem Zusammenhang aller Erkenntnisse und mit der Natur des Erkennens selbst“ (KGA I/6, 36) zwar an der Spitze der „natürliche[n] Organisation der Wissenschaft“ (vor Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, vgl. KGA I/6, 54), jedoch soll diese reine Transzendentalphilosophie nicht für sich gestellt, sondern in lebendiger Einheit mit den Realwissenschaften gelehrt und entwickelt werden (vgl. KGA I/6, 37 f.46). (2) An Schleiermachers Gebrauch des Terminus „Dialektik“ vor 1811 lässt sich nicht unmittelbar ablesen, weshalb das, was ihm als Konzeption einer obersten Wissenschaft in der Tat mindestens seit 1803 im Kopf spukte, schließlich auch diesen Namen bekam. Die Dialektik bezeichnet positiv ein heuristisch-architektonisches Verfahren der Wissenschaften (im Sinne einer philosophischen „Enzyklopädie der Wissenschaften“), das in einem Gleichgewicht zu den empirischen, besonderen Wissenschaften einerseits und der sich der begrifflichen Reflexion entziehenden (und insofern eine Grenze der Philosophie markierenden) Anschauung der Einheit des Lebens andererseits steht, die auf die ursprüngliche Einheit als Grund alles Wissens und Handelns verweist.Wo dieses stets labile und auszutarierende Gleichgewicht gestört wird, verselbständigen sich die Momente der durch dieses Gleichgewicht gestifteten indifferenten Einheit gegeneinander mit der Folge des Zerfalls des Wissens in die Partikularität des Empirischen einerseits, bzw. des Hervortretens einer falschen Mystik oder eines leeren dialektischen Formalismus andererseits. Das Gleichgewicht, in dem das dialektische Element so zu stehen hat, dass es in der wissenschaftlichen Darstellung selbst gleichsam verschwindet, ist dasjenige, was durch die oberste Wissenschaft (theoretisch) gestiftet werden soll. Sofern diese als Wissenschaftswissenschaft, d. h. als ein Wissen des Wissens auftritt, hält sie sich selbst in der Mitte zwischen den besonderen Wissenschaften einerseits, denen sie ihren Ort im System des Wissens zuweist, und dem mystischen Element als Anschauung einer ursprünglichen Einheit andererseits, das die Philosophie (das Wissen) insgesamt begrenzt.²⁹ In dieser Hinsicht konvergieren
ausführliche Darstellung „transcendentale[r] Postulate“, die aber nicht überliefert ist (KGA V/8, 255). Dem Bericht zufolge soll in ihnen vor allem die Abweichung zu Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums deutlich geworden sein. Dass dieses Element in den Grundlinien nicht hervortritt, hat seinen Grund darin, dass dort allein von der Möglichkeit einer Ethik als Wissenschaft die Rede ist: „Ob aber die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder so wie Platon sie nur nach einer poetischen Voraussezung des höchsten Wesen[s] hinzeichnet, einen festen Stand habe, dieses zu beurtheilen ist nicht des gegenwärtigen Orts“ (KGA I/4, 66).
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Dialektik und oberste Wissenschaft auch in den Konzeptionen vor 1810. Gerade diese Konvergenz aber führt dazu, dass die oberste Wissenschaft nicht selbständig hervortritt und mit ihr auch die Konzeption der Dialektik im Halbdunkel bleibt, solange das Gleichgewicht in den besonderen Wissenschaften (d. h.: in den realphilosophischen Systemteilen) selbst als gesichert erscheint. In diesem Zusammenhang ist noch einmal daran zu erinnern, dass die Notwendigkeit einer obersten Wissenschaft in den „Grundlinien“ von 1803 deshalb betont wurde, weil der Streit über die obersten Prinzipien des Wissens noch immer obwaltete, während in der Ethik-Vorlesung von 1807/08 behauptet wird, über diese Prinzipien bestehe Einigkeit, man könne sie daher füglich voraussetzen. Was also hatte sich seit 1803 geändert? Wohl kaum war gerade in dieser Zeit der Gärung und Ausdifferenzierung der philosophischen Systembildungsversuche der nachkantischen Philosophie der Zeitpunkt zum Abschluss eines ewigen Friedens in der Philosophie gekommen. Gleichwohl kommt in Schleiermachers Äußerung von 1807/08 mehr als nur eine Täuschung über den Stand der Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie zum Ausdruck.³⁰ Sie bezieht sich auf die Situation um 1804, wo Schleiermacher eine gewisse Annäherung der Standpunkte durch die Entwicklung des Schellingschen Identitätssystems zu einer Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wahrnehmen zu können glaubte, wie sie in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) sich andeutete. Schleiermachers Rezension dieser Vorlesungen kommt mit dem Ausgangspunkt des Systems nahezu kommentarlos überein; „zur Beherzigung“ wird besonders die Erörterung des Urwissens und der Identität des Idealen und Realen in der ersten Vorlesung empfohlen. Ferner hebt Schleiermacher ausdrücklich die Bestimmung des Verhältnisses von Technik und Poesie in der Philosophie hervor, denn „daß derjenige immer unreif bleiben wird, der für sein philosophisches Bestreben die Technik verschmäht, ist für sich klar. Eben so gewiß aber ist auch, daß wer das poetische Element in der Speculation nicht anerkennt, sich mit aller Dialektik immer im Leeren herumtreibt; und es wird immer nöthiger dieses recht ins Licht zu setzen, zumal jetzt von einer sich etwas ins mysteriöse zurückziehenden Erneuerung eines Systems die Rede ist, dessen Hauptfehler eben darin liegen möchte, daß es über das poetische Element, obwohl es ihm nicht fremd ist, nie zum rechten Bewußtseyn gekommen ist.“ (KGA I/4, 464).³¹ Über die grund-
Immerhin war 1807 gerade Hegels Phänomenologie des Geistes erschienen, die den Bruch Hegels mit Schelling offenkundig machte. Tatsächlich aber ist Hegels Philosophie an Schleiermachers philosophischen Entwürfen spurlos vorübergegangen, so dass er jedenfalls nicht als der bewusste Antipode Hegels gelten kann. Schleiermachers Rezension war zuerst in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung vom 21.4.1804 publiziert worden; zur Bedeutung dieser Rezension vgl. umfassender Hermann Süs-
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legende Übereinstimmung hinaus ist zweierlei an diesem Urteil hervorzuheben. Zunächst: die Verwendung des Terminus „Dialektik“ entspricht nicht nur dem bisherigen Gebrauch Schleiermachers, sondern ist auch als Zitat aus Schellings sechster Vorlesung „Ueber das Studium der Philosophie insbesondere“ zu verstehen, worin dieser als erster in der Epoche einen gegen Kants Begriff der transzendentalen Dialektik gerichteten positiven Gebrauch des Terminus im Druck vorgelegt hatte.³² Auf die Bedeutung dieser Konvergenz ist noch zurückzukommen. Sodann: Schleiermacher erhoffte offenbar von der erneuerten Darstellung der Wissenschaftslehre, die Fichte in Berlin unternahm, eine Hinwendung zum „poetischen“ bzw. mystischen Element in der Philosophie. In dieser Hoffnung musste Schleiermacher sich sehr bald getäuscht sehen; in seiner überaus scharfen Rezension der Fichteschen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) konnte er in dessen Verdikt der „Naturphilosophie“ als „Schwärmerei“ nur die „Kunst des Sophisten“ und die „Gewandheit und Empfindsamkeit des Sykophanten“ (KGA I/5, 150) erkennen.³³ Solche leere und täuschende Dialektik vermag aber keinen inhaltlichen Gegensatz zur Naturphilosophie zu begründen, weshalb Schleiermacher sich auch zu einer „Vertheidigung der Naturphilosophie gegen einen solchen Angriff nicht berufen“ fühlt (KGA I/5, 150) und stattdessen verlangt, dass Fichte „seine Vernunftwissenschaft nun endlich an der Physik ihre Schuldigkeit“ tun lasse. (KGA I/5, 151) Hierin kommt immer noch die Erwartung zum Ausdruck, dass Fichte, sollte er sich wirklich dem als „Physik“ bezeichneten philosophischen Problem stellen, seine Auffassungen ändern werde. Grundsätzlich also hielt Schleiermacher eine weitgehende Annäherung der Standpunkte, trotz der scharfen Ablehnung der Schellingschen Naturphilosophie durch Fichte, weiterhin für denkbar. Entscheidend dabei ist, dass er weniger eine Wandlung auf dem Wege eines durchgeführten Prinzipienstreites erwartete, sondern die Versenkung in die realphilosophische Problematik als Voraussetzung einer Korrektur der Prinzipien ansah. Dies mag illusionär gewesen sein, erklärt aber hinreichend, weshalb Schleiermacher weiterhin eine Einheit in den Prinzipien der Philosophie für im Grunde ausgemacht hielt.
kind: Der Einfluss Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, 93 – 96. „Das, was von der Philosophie, nicht zwar eigentlich gelernt, aber doch durch Unterricht geübt werden kann, ist Kunstseite dieser Wissenschaft, oder was man allgemein Dialektik nennen kann. Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie!“ (Schelling: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 4, Stuttgart und Augsburg 1859, 267) Schleiermachers Rezension war zuerst in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung vom 11. bis 23.1.1807 erschienen.
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Im Sinne solcher Betonung der Realphilosophie erfolgte denn auch die theoretische Anlehnung an die Naturphilosophie Henrich Steffens’ im Verlauf der Hallenser Lehrtätigkeit Schleiermachers.³⁴ Noch in der ersten Vorlesung über Dialektik (1811) empfahl er Steffens’ Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft (1806) als die seinen Ansichten am meisten entsprechende Darstellung, nachdem er, wie bereits erwähnt, erfolglos Steffens’ Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl an der Berliner Universität betrieben hatte.³⁵ Wodurch aber konnte sich Schleiermacher dann veranlasst sehen, selbst, und zwar ausdrücklich nicht als Einleitung in die Ethik,³⁶ die „allgemeine Philosophie“ als Dialektik vorzutragen? Hierfür ist sicher vor allem die Tatsache verantwortlich zu machen, dass Fichte als der eigentliche philosophische Kontrahent Schleiermachers zunächst nahezu konkurrenzlos das philosophische Lehrangebot bestimmte. Zwar galt Schleiermacher auch den Berliner Studenten als Vertreter der Schellingschen naturphilosophischen Richtung,³⁷ er selbst aber hatte schon 1807 erklärt, nicht Naturphilosoph heißen zu können, „da seine Bestrebungen auf einem andern Felde als dem der eigentlichen Naturforschung liegen“ (KGA I/5, 150). Somit konnte Schleiermacher der Fichteschen Wissenschaftslehre weder selbst noch durch die Zusammenarbeit mit einem anderen Philosophen dort begegnen, wo er den eigentlichen Schwachpunkt ihres Anspruchs sah: in der Anwendung ihrer Prinzipien auf die Felder der Physik. So geriet er in die für seine Programmatik durchaus missliche Situation, den Streit um die Prinzipien losgelöst von den realphilosophischen Gehalten zu führen, in denen er die eigentliche Stütze seiner systematischen Vorstellungen erblickt hatte. Schleiermacher begegnete dieser Schwierigkeit, die er wohl gespürt haben mag, durch eine forcierte Immunisierung des Spekulativen dadurch, dass er es vorab mit jeder möglichen Empirie vereinbar zu halten suchte.³⁸ Dies fand seinen deutlichen Niederschlag in der vor allem in der Vorlesung 1811 proklamierten Aufhebung des Gegensatzes von apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis. Ob dies noch eine glaubhafte theoretische Alternative zu den konkurrierenden Systembildungsversuchen dar-
Vgl. dazu das Zeugnis bei Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, Bd. 2, Berlin 1871, 334, das die Zusammenstimmung beider auch aus der Sicht der Studenten belegt; Steffens selbst verwies in seinen Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, XXII, auf Schleiermacher als Ethiker. An der Ausarbeitung dieser Schrift nahm Schleiermacher intensiv Anteil. Vgl. Twestens „Vorrede“ in: Friedrich Schleiermacher: Grundriß der philosophischen Ethik, Berlin 1841, XCVII. Vgl. KGA II/10, 1, 11. Vgl. C.F.G. Heinrici: Twesten, Berlin 1889, 142 f.205. Vgl. unten „Erfahrung und Reflexion“.
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stellen konnte, muss hier dahingestellt bleiben.³⁹ Festzuhalten bleibt, dass Schleiermachers theoretische Philosophie sich, trotz des ständigen Verweisens auf die Empirie, tatsächlich auch programmatisch von allem Eingehen auf bestimmte empirische Gehalte dispensiert.⁴⁰ Die hier angedeutete Immunisierung der Dialektik gegenüber jeder möglichen Empirie – bei gleichzeitigem Festhalten an den Aufgaben einer spekulativen Begründung der obersten Wissenschaft – führt dazu, dass die Dialektik – dem bisherigen terminologischen Gebrauch Schleiermachers entsprechend – einerseits als Kunstlehre im Sinne einer eher formalen bzw. technischen Disziplin vorgetragen wird,⁴¹ andererseits aber aus den realphilosophischen Zusammenhängen heraustritt und um einen transzendentalen Teil erweitert wird, der eigentlich die Stelle der 1803 geforderten obersten Wissenschaft einnimmt.⁴² In der Ankündigung seiner ersten Vorlesung über diesen Gegenstand definiert Schleiermacher die Dialektik mit dem Zusatz: „das heißt den Umfang der Principien der Kunst zu philosophiren“.⁴³ Offen bleibt, ob die Dialektik den Umfang dieser Prinzipien zum Gegenstand hat, auf den sie sich reflektierend bezieht, oder ob sie den Zusammenhang solcher Prinzipien im vollständigen Umfang als Zusammenhang der Wirklichkeit selbst zu entwickeln beansprucht. Solche Schwebe aber scheint für das Konzept der Dialektik in ihrem Verhältnis zur Realphilosophie geradezu konstitutiv zu sein.
Gegenüber Fichte, Schelling und Hegel wird noch 1833 der Vorwurf erhoben, sie gingen von einem obersten Grundsatz aus und isolierten das reine Denken gegenüber allem anderen (vgl. KGA II/10, 1, 416 f.). Diese Abgrenzung geht, vor allem was das Verhältnis von Spekulation und Empirie betrifft, zumindest an Schellings und Hegels Positionen vorbei. Hieran ist die forcierte These von Gunter Scholtz zu messen, das „unterscheidende Merkmal des Schleiermacherschen Systemkonzepts, durch das es sich von den Entwürfen Fichtes, Schellings und Hegels abhebe, liege in der Einbeziehung der Empirie“ (Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 69). Vgl. Schleiermachers Notizheft zur Dialektik 1811 (KGA II/10, 1, 11): „Weshalb ich nicht die Principien als Einleitung vortrage zur Ethik. […] Darum wünschte ich sie mehr als Kunst behandeln zu können, als als Wissenschaft.“ Zwar proklamiert Schleiermacher auch hier: „Kunstlehre und Wissenschaft gehn oben zusammen“ (KGA II/10, 1, 17, Nr. 87), das Verhältnis beider Seiten bleibt aber m. E. unterbestimmt, denn die technisch (im Sinne des technischen Teils) aufgefasste Dialektik hatte ihren entscheidenden Bezugspunkt ursprünglich in den besonderen Wissenschaften, während sie jetzt im Ausgang vom Spekulativen unter Absehung von aller bestimmten Empirie als Gegenstand dieser Wissenschaften begründet wird. So die Ankündigung im „Verzeichniß der von der hiesigen Universität im nächsten Sommerhalbenjahre vom 25. März an zu haltenden Vorlesungen“, Berlin 1811.
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(3) Schleiermachers Begriff von Dialektik erwächst vor allem aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Fichteschen Wissenschaftslehre und entwickelt sich damit in demselben philosophischen Kräftefeld wie die parallelen Theoriebildungsprozesse der Klassischen Deutschen Philosophie, ohne indes auf andere Positionen mit gleicher Intensität Bezug zu nehmen, wie es mit Fichte der Fall ist. Gleichwohl zeigte sich eine Konvergenz mit dem Dialektik-Begriff in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, die deshalb besonders bemerkenswert ist, weil Schelling hier, wie erwähnt, erstmals in der nachkantischen Philosophie ein gegen Kant gerichtetes, positives Verständnis der Dialektik in einer Druckschrift vorlegt. Beiden, wie übrigens auch Hegel, der um dieselbe Zeit ebenfalls den Terminus „Dialektik“, wenn auch in einem spezifisch abweichenden Sinne, gebraucht,⁴⁴ ist dabei nicht zu unterstellen, dass sie sich unter Umgehung der Kantischen Konzeption transzendentaler Dialektik einfach eines unkritischen Rückfalls in antike Wissenschaftskonzeptionen schuldig machen. So auffällig die Konvergenz ist, so ist doch eine wechselseitige Beeinflussung Schellings und Schleiermachers (die sich nur literarisch kannten) auszuschließen. Dagegen wäre es durchaus plausibel, eine gemeinsame Quelle dieses spezifischen Dialektik-Verständnisses anzunehmen, die darüber hinaus, durch die Vermittlung Schellings, auch Hegels Konzeption beeinflusst haben könnte. In der Tat hatte bereits Klaus Düsing bei der Suche nach den begriffsgeschichtlichen Ursprüngen des Hegelschen Dialektik-Begriffs eine Notiz Friedrich Schlegels von 1796 herangezogen, hierin aber – wohl in Unterschätzung der eher osmotischen Theorietransfers innerhalb der symphilosophierenden Romantikerkreise, von denen Hegel auf dem Weg über Schelling sehr wohl infiziert werden konnte – keinen entscheidenden Hinweis gesehen.⁴⁵ Dabei war Schlegels Notiz nur „privat“ in dem Sinne, dass sie von ihm nicht zum Druck gebracht wurde; der Austausch und die wechselseitige Lektüre philosophischer Notizen gehörte aber zu den Selbstverständlichkeiten des frühromantischen Symphilosophierens. Von Schleiermacher ist sogar sicher bezeugt, dass er Schlegels Notizhefte auf Aphorismen hin durchlas.⁴⁶ Weniger gut durchleuchtet ist hingegen die poetisch-philosophische
In Hegels Aufsatz „Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ (1802) wird der Dialektik die negative Aufgabe zugewiesen, zu zeigen, „daß das Verhältniß überhaupt nichts an sich ist“ (GW 4, 446). Zwar bereitet auch diese Negativität, in der sich die Totalität der endlichen Verstandesbestimmungen vernichtet, die positive Beziehung auf das Absolute vor, doch liegt der Akzent des Hegelschen Dialektik-Begriffs deutlicher als bei Schlegel und Schelling auf der negativen Funktion. Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn 1976, 103; Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1986, geht diesem Hinweis nicht mehr nach. Vgl. Schleiermacher an A.W. Schlegel unter dem 15.1.1798 (KGA V/2, 250)
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Gemeinschaft Schlegels und Schellings in Jena;⁴⁷ ihre Intensität dürfte aber wenigstens negativ schon daraus erhellen, dass die Krise in den persönlichen Beziehungen auch einen Streit um das geistige Eigentum herbeiführte.⁴⁸ Im Blick auf Schleiermacher hatte Josef Körner bereits 1934 die These vertreten, seine Dialektik lasse „gewisse Gedanken der Jenaer Transzendentalphilosophie [Friedrich Schlegels] aufscheinen“.⁴⁹ Die philosophiegeschichtliche Forschung ist diesem Hinweis, soweit ich sehen kann, bisher nicht nachgegangen. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die frühromantische Philosophie, trotz der biographischen und konzeptionellen Vernetzungen mit den Zeitgenossen, von den bisherigen Versuchen einer genetischen Rekonstruktion der Klassischen Deutschen Philosophie weitgehend vernachlässigt wurde. Besonders die Erforschung der Philosophie Friedrich Schlegels war lange Zeit Desiderat; seine Dialektik-Konzeptionen, die die Notizhefte der „Philosophischen Lehrjahre“ durchziehen, sind, so scheint es, noch nicht einmal als Thema zur Kenntnis genommen worden. Solchem Mangel der Forschung kann im Rahmen dieser Ausführungen selbstverständlich nicht abgeholfen werden; sie beschränken sich daher auf die Exposition einer These, der historisch und systematisch weiter nachzugehen sein wird. Um diese These plausibel zu machen, seien zunächst die entscheidenden Definitionen der Dialektik bei Friedrich Schlegel, Schelling und Schleiermacher zitiert. „Sehr bedeutend ist der Griechische Nahme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bey Plato Gorgias – cfr. Aristoteles); ist ein Theil
Verwiesen sei nur auf die Dante-Studien im Jenaer Freundeskreis, aus denen Schellings Plan eines philosophischen Lehrgedichts erwuchs; vgl. Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis, Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter“, Frankfurt/Main 1989, 14– 39. Vgl. Friedrich Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm, 26. 3.1804, über Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums: „Seine Methodenlehre finde ich unverschämt genug, daß er nämlich nicht wenigstens zwei Drittel des Honorars an uns gesandt hat […] Er ist nun einmal an das Stehlen gewohnt, und bildet sich vielleicht am Ende selbst ein daß dieses seine Gedanken seien“ (Friedrich Schlegel: Neue Philosophische Schriften, hg.v. J. Körner, Frankfurt/Main 1935, 83, Anm. 1). Ebd., 51; für die Hermeneutik und Ästhetik hatte Körner (ebd., 357) geradezu eine Abhängigkeit Schleiermachers von Schlegel behauptet (zuerst in der Einleitung zu seiner Edition „Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie“, in: Logos 17, 1928, 1– 72); Hermann Patsch ist diesen Hinweisen im Blick auf die Hermeneutik ausführlicher nachgegangen („Friedrich Schlegels ‚Philosophie der Philologie‘ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63, 1966, 434– 472).
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der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen.“ (Friedrich Schlegel, 1796)⁵⁰ „Das, was von der Philosophie, nicht zwar eigentlich gelernt, aber doch durch Unterricht geübt werden kann, ist die Kunstseite dieser Wissenschaft, oder was man allgemein Dialektik nennen kann. Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie! Schon ihre Absicht, Alles als eins darzustellen und in Formen, die ursprünglich dem Reflex angehören, dennoch das Urwissen auszudrücken, ist Beweis davon. Es ist dieses Verhältniß der Speculation zur Reflexion, worauf alle Dialektik beruht.“ (Schelling, 1803)⁵¹ „Unter Dialektik verstehn wir […] die Prinzipien der Kunst zu philosophieren. […] Das Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Prinzipien des Philosophierens selbst sind dasselbe. […] Konstitutive und regulative Prinzipien lassen sich also nicht mit Kant unterscheiden. Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name der Dialektik,welcher bei den Alten gerade diese Bedeutung hatte. […] Der Name bezieht sich auf die Kunst, mit einem Andren zugleich eine philosophische Konstruktion zu vollziehen. […] Die Dialektik […] kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen.“ (Schleiermacher, 1811; KGA II/10, 2, 5 – 8)
Die so plakatierten Dialektik-Begriffe kommen in entscheidenden Punkten überein. (a) Sie sind zunächst als Abgrenzungen gegenüber Kant zu verstehen. Dieser hatte die transzendentale Dialektik als „Logik des Scheins“ verstanden, eines Scheins aber, der nicht durch besondere rhetorische und sophistische Machinationen erzeugt wird, sondern einen notwendigen Selbstwiderspruch der Vernunft mit sich bezeichnet: „spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch ist an sich dialektisch“.⁵² Kant sah in dem Selbstwiderspruch ein Scheitern der Vernunft am Verstande; in der notwendigen Beziehung auf das Unbedingte werde die Vernunft auf die für diesen Zweck untauglichen Mittel des Verstandes zurückgeworfen. Die Konsequenz, die Kant daraus zog, war die Restriktion des Vernunftgebrauchs im transzendentalphilosophischen Sinne. Für Schlegel, Schelling und Schleiermacher dagegen hat es die Dialektik mit der Hervorbringung objektiv gültigen Wissens zu tun; in ihr werde die Wahrheit erreicht (Schlegel), das Urwissen (das Unbedingte) ausgedrückt (Schelling) bzw. sei der Unterschied konstitutiver und regulativer Prinzipien aufgehoben (Schleiermacher). (b) Vor diesem Hintergrund erst wird der Bezug auf einen platonisierenden Dialektik-Begriff verständlich, der die Dialektik als Kunst der Mitteilung versteht. Damit ist ja nicht eine Begründung des Wissens aus den Regeln eines kommunikativen Vernunftgebrauchs gemeint, sondern Mit-teilung steht hier für das, was
KFSA 18, 509 (Beilage I, Nr. 50). „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“, in: Schelling: Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, Stuttgart und Augsburg 1859, 501. KrV B, 805.
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Schelling die Reflexion nennt: das In-Beziehung-Setzen bzw. Vermitteln des Endlichen und insofern Getrennten als Teilen des Unendlichen oder Absoluten im Medium des Endlichen oder Geteilten. Auf eine Formel gebracht: indem in der Beziehung des Endlichen oder Bedingten auf das Unbedingte sich das Unbedingte als dessen Grund mitteilt, ist es auch mitteilbar. ⁵³ Kant verwechselt dieser Auffassung zufolge den Schein als Erscheinung oder Vorschein des Unbedingten im Bedingten mit dem Schein als bloßem, wenn auch notwendigen Schein. (c) In diesem Kontext signalisiert der Bezug auf Platon das, was man bei allen drei Autoren als das poetische Element der Philosophie bezeichnen könnte: das Sich-Mitteilen des Absoluten (der Wahrheit, des Urwissens, des höchsten Wissens) im Wissen erfolgt über die Nachkonstruktion des Absoluten in der Mitteilung der am Erkenntnisprozess Beteiligten, in der das Produkt des gemeinschaftlichen Tuns den Charakter einer Nachbildung hat. Aus dieser Perspektive wird Platon im Sinne eines „ästhetischen Platonismus“ wahrgenommen,⁵⁴ woraus schon erhellt, dass in erster Linie Kant und nicht Platon den Problemhintergrund und Anknüpfungspunkt des Dialektik-Begriffs bildet. (d) Die Dialektik als „Mitteilung“ in diesem reflexionsphilosophischen Sinne wird verstanden als „Kunstlehre“, womit sowohl der Schwerpunkt auf dem Verfahren der Zustandebringung des Wissens angezeigt ist als auch das Poetische dieses Verfahrens selbst als einer Nachkonstruktion des Absoluten. Damit schließlich ist die Dialektik auch Organ der Philosophie im Sinne eines Erkenntnismittels (bzw. eines Ensembles solcher Mittel), das dem Gegenstand der Erkenntnis insofern adäquat ist, als es ihn mitteilbar macht bzw. dieser sich darin mitteilt. Während Schelling den Dialektik-Begriff der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums nicht weiter verfolgte, plante Schlegel über viele Jahre hinweg die Ausarbeitung einer Dialektik, deren Begriff jedoch mit den Wandlungen seiner philosophischen Positionen mehrfach einschneidende Änderungen erfuhr. Konzeptionell ausgearbeitet ist das, was sich in der Notiz von 1796 und ihrem sachlichen Umkreis ankündigte, vor allem in der Jenaer Vorlesung zur Transzendentalphilosophie (1800/1801), deren Kenntnis wir einer von Josef Körner edierten Nachschrift verdanken, die es erlaubt, den systematischen Kern der überlieferten philosophischen Fragmente Friedrich Schlegels herauszuheben.⁵⁵ Eine eingehende Rekonstruktion dieser Konzeption würde vielleicht deutlich
KFSA 18, Beilage I, Nr. 4.64.95. Vgl. Klaus Düsing: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg.v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981, 101– 117. Schlegel: Neue Philosophische Schriften, Frankfurt/Main 1935; Wiederabdruck in KFSA 12.
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machen, dass Schleiermachers Dialektik deren systematisierbaren Gehalte in eine systematische Form bringt und insofern als Vollendung eines frühromantischen, wesentlich von Friedrich Schlegel beeinflussten Konzepts angesehen werden kann.
2 Unmittelbarkeit als Reflexion. Voraussetzungen der Dialektik Friedrich Schleiermachers Ihrem Anspruch nach begründet sich Friedrich Schleiermachers Dialektik im Vollzug ihrer selbst als dem Vollzug des Philosophierens unter der Form reinen Denkens, das allenfalls eines Anknüpfungspunktes bedarf.¹ Mit diesem Selbstverständnis unterwirft sie sich einem Anspruch, der dem der Hegelschen Wissenschaft der Logik adäquat ist.² Wo sie daran gemessen wird, zieht sie sich allerdings leicht den Vorwurf der Inkohärenz und des Eklektizismus zu.³ Zudem scheint die Begründung der philosophischen Positionen an der zentralen Stelle der Dialektik, der Theorie des Gefühls als unmittelbarem Selbstbewusstsein, von dem her erborgt zu sein, was man Schleiermachers „Gefühlstheologie“ genannt hat. Die Interessiertheit des Theologen Schleiermacher kann jedoch ebenso wenig als Ursache von Aporien seiner Dialektik gelten wie sein etwaiger – von ihm selbst eher kokettierend eingestandener – philosophischer Dilettantismus.⁴ Vielmehr sind, und zwar gerade in Bezug auf die Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins, die theoretischen Mittel in Betracht zu ziehen, mit denen Schleiermacher seine philosophischen Positionen begründen will. Voraussetzung der Dialektik als philosophischer Theorie ist zunächst die romantische Weltansicht, wie sie in der Formel des „individuellen Allgemeinen“ zum Ausdruck kommt. Die Schwierigkeit, sie zu systematisieren, liegt in der romantischen Ansicht selbst begründet: die Apriorität des Individuellen verweist auf
Vgl. KGA II/10, 1, 75. Schleiermacher geht von der ursprünglichen Zirkelstruktur eines Wissens aus, das nur weiß, indem es schon ein Wissen ist. Ein Wissen vor dem Wissen im Sinne der Kantischen Erkenntniskritik ist ihm nicht weniger absurd als Hegel. Schleiermachers Dialektik ist zwar nicht als Konkurrenzunternehmen zu Hegel entstanden, hat aber auch und gerade als eine Theorie der Logik diesen Status gewonnen, indem sie untergründig die logische Hegelkritik des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusste. Vgl. Friedrich Ueberweg: System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, Bonn 18693, 111 ff. Der Vorwurf des Eklektizismus macht nur dann einen Sinn, wenn Schleiermachers Dialektik nicht als Systemversuch gesehen wird. Diejenige Schleiermacher-Rechtfertigung, die in dem Unsystematischen gerade die Stärke seiner Dialektik sieht, liefert ihn diesem Vorwurf geradezu aus. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über seine Glaubenslehre, an Herrn Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben, KGA I/10, 390: „Lassen Sie mich […] freuen, daß ich dem Vorsaz treu geblieben bin, meinem eignen philosophischen Dilettantismus […] keinen Einfluß auf den Inhalt der Glaubenslehre gestattet zu haben.“
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ein Nichtidentisches als Voraussetzung, das gleichwohl im unmittelbaren Zusammengehen mit sich Allgemeines soll darstellen können. Schleiermachers Dialektik lässt sich als der Versuch begreifen, der romantischen Weltansicht eine systematische Form zu geben. Die als „Programmschrift der romantischen Weltanschauung“ apostrophierte Gegensatzlehre Adam Müllers von 1804 liest sich denn auch wie ein Problemaufriss des späteren Schleiermacherschen Systemversuchs: „Es ist Zeit […], daß wir die neben- und ineinanderbestehenden beiden Reiche der Wissenschaft und Religion mit aller Strenge, die uns unsre Ansicht der Welt an die Hand gibt, voneinander scheiden und sie dann mit der ganzen Kraft unsers Gefühls wieder vereinigen.“⁵ Das Problem dieser „Philosophie des Selbstbewußtseins“⁶ versucht Schleiermacher mit der Kraft seines Begriffs des Gefühls als unmittelbarem Selbstbewusstsein zu lösen. Dieser Begriff zielt auf die Vermittlung von Getrenntem, dem Übergang vom Wissen zum Wollen und darin auf die Einheit von Wissen und Tun. Er soll das leisten, was bei Kant der Begriff der Reflexion als eines ursprünglichen Vermögens des Subjekts leistet. Indem er Kants Subjektbegriff im Rahmen einer Individualitätstheorie aufnimmt, kommt Schleiermacher zu der Auffassung, dass das Reflexive als ein selbst Vermitteltes nicht Grund der Vermittlung sein könne. So entzieht er die in der Reflexion vorausgesetzte Selbstgewissheit des Ich durch deren Fundierung im unmittelbaren Selbstbewusstsein der Reflexion. Die Unmittelbarkeit tritt an die Stelle der Reflexion. In einer gegenläufigen Bewegung zum Denkweg Schleiermachers hat Hegel die Struktur des transzendentalen Subjekts in einen Begriff der Wirklichkeit der Idee als Totalität aufgehoben, der das Subjekt nicht mehr als Vorausgesetztes und Äußerliches der Wirklichkeit begreift, sondern diese Wirklichkeit als Selbstbewegung ist für ihn die Selbsterzeugung des transzendentalen Subjekts in der Arbeit des Geistes.⁷ In der Struktur des Geistes ist die Leistung der Reflexion als
Adam Müller: „Die Lehre vom Gegensatze. Erstes Buch. Der Gegensatz“ (Berlin 1804), in: Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, hg.v. W. Schroeder und W. Siebert. Neuwied/Berlin 1967, Bd. 2, 247. Müller, der von Schleiermacher nicht sonderlich geschätzt wurde, feiert Novalis, Fichte, Fr. Schlegel, Schelling und Schleiermacher als Helden einer noch zu vollendenden wissenschaftliche Revolution (230). Vgl. ebd., 206. „Arbeit“ ist hier nicht metaphorisch zu verstehen; der für die Tätigkeit des Geistes charakteristische Begriff der Arbeit wurde vielmehr von Jenaer Hegel in der Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Arbeitsbegriff gewonnen. Vgl. Heinz Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ‚System der Philosophie‘ in den Jahren 1800 – 1804, Bonn 19822, 219 ff. Zur systematischen Bedeutung des Hegelschen Arbeitsbegriffs für Hegels Dialektik-Verständnis vgl. Arbeit und Reflexion. Zur materialistischen Theorie der Dialektik – Perspektiven der Hegelschen ‚Logik‘, hg.v. P. Furth, Köln 1980.
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Vermittlung ihrem auf Allgemeinheit zielenden Weltbegriff gemäß fundiert; objektiv gegenüber den Individuen als einzelnen Subjekten. Sie sind dann aber nicht an und für sich, sondern nur durch ihre Aufhebung in den Geist – dessen vermittelnde Bewegung – Allgemeines (etwa als Werkzeuge einer listigen Vernunft). In ihrer Selbständigkeit als Endliche erweisen sie sich als vielmehr Unselbständige, die sich nur durch die Beziehung auf Anderes erhalten.⁸ Dagegen protestiert – bis heute – eine romantische Ansicht, die für das Individuum selbst die Fülle der Möglichkeiten seiner Verwirklichung reklamiert und dieses Individuum als Selbstbewusstsein an die Stelle einer konkreten Allgemeinheit setzt. Die universelle Teleologie des Weltprozesses als Werden des Geistes zu sich (die in der Tat zu massiven Verlegenheiten im Umgang mit Hegel Anlass gibt) scheint für die Individuen nur einen abstrakt-allgemeinen Zusammenhang zu bezeichnen, in dem sie sich nicht als in ihrem eigenen Produkt wiedererkennen können. Das dagegen gesetzte individuelle Allgemeine soll diese Entfremdung aufheben, indem die Möglichkeit einer abstrakt-allgemeinen Vermittlungsstruktur durch den Rekurs auf die behauptete Struktur des Selbstbewusstseins geleugnet wird⁹ – eine Aufhebung nur in der Theorie. Schleiermacher will die Vernunft in ihrer Endlichkeit als Individualität zur Geltung bringen, diese Individualität aber zugleich als allgemein und objektiv fassen. Damit spricht er, seinem Selbstverständnis nach, den Gegensatz gegen „die gewöhnlichen Formen der Transcendental-Philosophie“ aus, „die ein allgemeines objectices Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will“.¹⁰ Mit dieser Formulierung grenzt Schleiermacher sich nach zwei Seiten ab: gegen die Äußerlichkeit der Reflexion als eines Vermögens gegenüber der durch sie vermittelten Wirklichkeit und gegen die Objektivierung des in der Selbstbewegung der Wirklichkeit werdenden und sie vermittelnden Subjekts gegenüber den endlichen Individualitäten. Die Leistung der Reflexion wird an die Wirklichkeit von Individuen gebunden, die die Vernunft in ihrer Endlichkeit repräsentieren. Diese Position enthält die Schwierigkeit, die Allgemeinheit und Objektivität der individualisierten Vernunft im Zusammenbestehen der Individualitäten zu denken. Sofern Schleiermacher in seiner philosophischen Ethik das vertragstheoretische Modell der Vergesellschaftung ablehnt, d. h. den Staat nicht als mechanistisches Aggregat oder Maschine aus dem Zusammenwirken ungesell-
Zur Dialektik des Endlichen bei Hegel vgl. Paul Guyer: „Hegel, Leibniz und der Widerspruch im Endlichen“, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg.v. R.-P. Horstmann. Frankfurt/ Main. 1978, 230 – 260. Vgl. dazu oben „Der berechtigte Gegensatz der Romantik“. Schleiermacher: Sittenlehre, 175.
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schaftlicher Individuen erklären,¹¹ zugleich aber auch die Gesellschaft den Individuen nicht als ein Vorausgesetztes voranstellen will, lässt sich das Problem auch auf der handlungstheoretischen Ebene formulieren: wie lässt sich die Gesellschaftlichkeit als ein von den Handlungen der Individuen Vermitteltes begreifen? Dies ist das zentrale Problem der philosophischen Ethik, deren Gegenstand das Handeln der Vernunft ist. Die Schwierigkeiten dieses Handlungsbegriffs strukturieren den Einsatz der Dialektik, in der, als philosophischer Kunstlehre, die theoretischen Mittel zur Lösung des Problems der Vermittlung im Endlichen entwickelt werden müssen. Sofern dies mit der Strenge des von Schleiermacher beanspruchten reinen Denkens geschieht, wäre zu fragen, ob die Preisgabe der Reflexion an die Unmittelbarkeit eines Gefühls der Kritik durch einen Begriff der Reflexion standhält, der beansprucht, eben diese Struktur der Unwahrheit überführen zu können. Indem aber dieser Begriff der Reflexion selbst nicht als voraussetzungslos genommen werden kann, sondern sich einer bestimmten Perspektive auf den Prozess gegenständlicher Vermittlung im Arbeitsprozess verdankt, wie sie der Geistesphilosophie Hegels zugrundeliegt, ließe sich die Berechtigung des romantischen Gegensatzes jenseits der durch diesen Gegensatz bezeichneten Extreme erweisen, ohne den Zauber der Unmittelbarkeit im Sinne einer Philosophie des Selbstbewusstseins zu erneuern. (2) „Verhältnisse“, auf die sich die Ethik bezieht, sind – so Schleiermacher – „Selbst Producte des menschlichen Handelns“, woraus für die Ethik folge, „daß alle socialen Verhältnisse in ihr entstehen müssen nach denselben Gesetzen, nach welchen das Verhalten in diesen Verhältnissen regulirt wird. Analogisch folgt, daß auch das Wissen als Wirkliches, als Handeln durch die Ethik entstehen muß.“¹² Die Verhältnisse erscheinen hier als Einheit mit dem Verhalten, aus denen sie hervorgehen, wobei das Verhalten denselben Gesetzen folgt wie das Hervorbringen. Für diese Einheit steht der Begriff des „Producirens“; in ihm sind die Grundfunktionen der Vernunfttätigkeit zusammengefasst, die Bildung und der Gebrauch der Organe und darin zugleich die erkennende und darstellende Funktion der Vernunft.¹³ Die Einheit dieser Funktionen hat zur Folge, dass für die Ethik in der Darstellung der Güterlehre (die für das Handeln der Vernunft in der Totalität der Individuen steht) „Produciren und Product […] identisch gesetzt
Vgl. ebd., 140 f. Sittenlehre, 79. Hier und im Folgenden wird in der Regel auf den ersten erhaltenen Gesamtentwurf Schleiermachers, das „Brouillon“ von 1805/06 Bezug genommen, das der ersten Dialektik-Vorlesung 1811 vorangeht und deren Problematik vorzeichnet. Vgl. ebd., 89.92.
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ist“.¹⁴ Mit anderen Worten: das Produzieren ist an dem Begriff der Praxis orientiert, die ihr telos in sich selbst hat und auf keinen außerhalb ihrer liegenden Zweck gerichtet ist. In diesem Sinne betont Schleiermacher, dass es in der Ethik „keine Mittel“ geben könne: „Jedes Handeln soll entweder für sich sein, oder es darf auch als Mittel nicht sein.“¹⁵ Das Handeln der Vernunft ist die Totalität ihrer Handlungen in ihrer unaufhebbaren Individualität. Den Individuen als den Subjekten der Handlungen muss die Allgemeinheit, d. h. der Zusammenhang ihrer Handlungen als intersubjektives Verhalten im Handeln schon immer gewiss sein können. Denn als Praxen sind die Handlungen nichts anderes als Entäußerung von Subjektivität, deren Objektivierung auch in der intersubjektiven Verschränkung der Praxen in der Verfügung der handelnden Subjekte bleiben soll. Der Begriff des Handelns sollte die Gesellschaftlichkeit als ein von den Handlungen der Individuen Hervorgebrachtes erklären; aus dem Begriff der Handlung als Praxis kann aber nicht die Komplementarität der Praxen gefolgert werden, zu deren Sicherung es zusätzlicher begründender Annahmen bedarf.¹⁶ Statt die Verhältnisse aus dem Verhalten der Individuen in ihren Handlungen zu erklären durch die „Beschreibung“, „schlichte Erzählung“ oder „das Aufzeigen“ der Gesetze des Handelns (ein geradezu empiristisch anmutendes Programm),¹⁷ erneuert sich die konstitutionstheoretische Problematik. Die reflexive Selbstgewissheit, die in der Intersubjektivität der Handlungen angezeigt ist, kann nicht aus ihnen selbst hervorgehen, sofern sie als Praxen unvermittelte Selbstbezüglichkeit der Momente des Handlungsprozesses bedeuten, in der weder am Gegenstand noch an den Mitteln der Handlung die Struktur der vermittelten Selbstbezüglichkeit als Beziehung auf sich durch anderes zustande kommen kann, für die der Name der Reflexion steht. Reflexion also kann in der Konsequenz des Schleiermacherschen Handlungsbegriffes der Handlung als sie ermöglichender Grund nur vorgeordnet sein, indem sie als Vermögen der Subjektivität vorausgesetzt wird. Diese Voraussetzung erscheint bei Schleiermacher in doppelter Gestalt, zum einen direkt als Naturausstattung der Individuen, denn „Wissen und Handeln sind als Vermögen Natur und müssen als solche nachge-
Ebd., 256 (Ethik 1812/13). Der Sache nach schon im Brouillon, ebd., 84 ff. Ebd., 86. Zur Problematik des an der Praxis orientierten Handlungsbegriffs vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Lefèvre: „Poiesis, Praxis, Arbeit. Zur Diskussion handlungstheoretischer Grundbegriffe“, in: Arbeit und Philosophie, hg.v. P. Damerow, P. Furth und W. Lefèvre, Bochum 1983, 21– 34. Sittenlehre, 80.
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wiesen werden“;¹⁸ zum anderen auf dem Umweg der Anerkennung der Individuen im Tauschen und Sprechen: Geld und Sprache sind der „ewige Präliminarvertrag“ der Gesellschaft.¹⁹ Diese Auffassungen laufen darauf hinaus, die Äußerlichkeit der Reflexion als eines Vermögens gegenüber der durch sie vermittelten Wirklichkeit zu erneuern und zugleich in die Aporien des vertragstheoretischen Vergesellschaftungsmodells zurückzufallen. Die Modellierung des Handlungsbegriffs nach dem Muster der aristotelischen Praxis stößt vor allem dort auf Schwierigkeiten, wo sich das „Produciren“ auf nichtidentische Voraussetzungen bezieht, nämlich die Naturbasis und Naturseite des Handelns. Das Handeln ist nicht nur als Vermögen Natur, sondern vollzieht sich als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ im „Bilden der Natur zum Organ und Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft.“²⁰ Die Vervollkommnung im Sinne der Ethik besteht in der „Aufhebung der Irrationalität zwischen Natur und Vernunft.“²¹ Wie aber kann Handeln unter der Voraussetzung der noch bestehenden Irrationalität als Entäußerung von Subjektivität gefasst werden, wenn das Subjekt in seinem Handeln an die Natur als eine noch ihm fremde gebunden bleibt? In dieser Beziehung auf Anderes könnte die Reflexion als Prozess, als in sich selbst vermittelt, als Arbeit begriffen werden. Diesen Weg geht, zeitlich nahezu parallel zu den Hallenser Ethik-Vorlesungen Schleiermachers, Hegel in seinen Jenaer Systementwürfen, indem er die Selbsterzeugung des Subjekts als vermittelt durch den von ihm hervorgebrachten Gegenstand, als Arbeitsprozess beschreibt.²² Diese Möglichkeit einer Begründung von Reflexion hat Schleiermacher nicht ergriffen, obwohl schon im Begriff des Produzierens als Bildung und Gebrauch der Organe der Schluss auf das Organon als Mitte nahe lag. Das aber hätte bedeutet,
Ebd. Diesen Nachweis von Seiten der Natur lieferte für Schleiermacher Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806. Die Einleitung dieser Schrift endet (XXII) mit einer Huldigung an Schleiermacher. Schleiermacher seinerseits empfang Steffens’ „Wissenschaft der Ideen“ (15) als dem Unternehmen seiner Dialektik kongenial (vgl. KGA II/10, 1, 8). Den Zuhörern seiner ersten Dialektik-Vorlesung empfahl er sie als seinen Ansichten am meisten entsprechend (vgl. August Twesten: „Vorrede“, in: Friedrich Schleiermacher: Grundriß der philosophischen Ethik, Berlin 1841, XCVII). Vgl. oben „Tauschen und Sprechen“. Sittenlehre, 87.89. Ebd., 87. Interessant an dieser Parallele ist, dass Schleiermacher und Hegel – wie es scheint, konkurrenzlos – der ökonomischen Problematik eine entscheidende systematische Funktion zuschreiben. Vgl. oben „Tauschen und Sprechen“ sowie, für Hegel, Manfred Riedel: „Die Rezeption der Nationalökonomie“, in: (ders.:) Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main. 1969, 75 – 99.
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die unmittelbare Einheit des Individuellen und Allgemeinen und damit die Grundannahme der romantischen Weltansicht preiszugeben. Schleiermacher geht einen anderen Weg als Hegel. In der Totalität erweist sich die Irrationalität von Natur und Vernunft als bloß scheinbar, indem „die Natur überall für die Vernunft gebraucht werde, und […] alles, was in der Vernunft an sich liegt, auch durch die Natur in der endlichen Vernunft zu Bewußtsein komme. Die Möglichkeit dieses liegt in der durch die Naturphilosophie aufgezeigten Harmonie der menschlichen Natur mit der allgemeinen“; die Natur ist so schon immer „ein vollkommenes Organ der Vernunft.“²³ Die prästabilierte Harmonie von Natur und Vernunft kommt systematisch in dem wechselseitigen Begründungsverhältnis von Naturphilosophie und Ethik zum Ausdruck, die zusammen die beiden Seiten der Philosophie als theoretische und praktische umfassen. Ihre Einheit setzt voraus, dass Natur und Vernunft, Reales und Ideales auf einen gemeinsamen Grund zurückgeführt werden, aus dem sie als gleichursprünglich hervorgehen und der weder das eine noch das andere ist. Seine Voraussetzung ist aber nur dann zwingend, wenn die Reflexion nicht als Prozess, sich in dem wechselseitigen Bestimmen von Natur und Vernunft immanent erzeugende gefasst wird, sondern beide unmittelbar identisch sein sollen. Das Vermögen dieser Einheit soll nun weder in die Wirklichkeit eines Geistes als Subjekt des Weltprozesses gesetzt werden, noch soll sie etwas äußerlich Vorausgesetztes sein. Die Individuen müssen als wirkliche Individuen nicht nur die reflexive Selbstgewissheit der gelingenden intersubjektiven Komplementarität ihrer Praxen mitbringen, sondern sie müssen zugleich der Einheit von Natur und Vernunft, Realem und Idealem in ihrem Handeln unmittelbar gewiss sein. In der Hallenser Ethik 1805/06 wird dieses Vermögen einer ursprünglichen Anschauung zugeschrieben,²⁴ die der Anschauung des Universums in den „Reden über die Religion“ verwandt ist. Wie diese ist sie vom Wissen und Tun als ein eigenes Vermögen geschieden und ihnen als Grund vorgeordnet. Dieses Vermögen als Grund der Reflexion aber muss von den Voraussetzungen Schleiermachers her wiederum individuell gefasst werden. Die Anschauung des Lebens in der philosophischen Ethik bezieht sich auf die Totalität der Vernunfthandlungen. Sie scheint in der durch sie begründeten Reflexion das Einzelne als unselbständig zu setzen. Das Einzelne soll aber als Punktualität die Sittlichkeit ganz in sich enthalten; dies nachzuweisen ist die Aufgabe der Tugendlehre, die von dem einzelnen Subjekt der Handlung ausgeht,
Sittenlehre, 96.99. Vgl. ebd., 82– 84.88.
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bzw. der Pflichtenlehre, die von dem einzelnen Moment der Handlung ausgeht.²⁵ Die Anschauung als Vermögen des Einzelnen vermittelt diesen mit dem Allgemeinen durch die Erfahrung der Totalität, deren subjektives Innewerden auf Seiten des Gefühls fällt. Ebenso vermittelt die Anschauung als innerer Entwurf die Objektivierung des Subjekts als subjektive telos-Realisation in einer einzelnen Handlung, während mit dem Gefühl das in das Subjekt eingeschlossene Spiel der Fantasie als Spekulation bezeichnet wird. In der Nebenordnung von Gefühl und Anschauung würde sich aber der Dualismus, den Schleiermacher vermeiden will, erneuern, wenn sie nicht beide „auf Einer Potenz stehen“ und sich unmittelbar auseinander ergeben würden.²⁶ Das einzelne Subjekt als Einheit dieser Vermögen und der an ihnen jeweils hervortretenden Charaktere der Rezeptivität und Spontaneität ist, nach dieser Konzeption, ein Vermitteltes. Es bedarf in sich eines Grundes der Vermittlung als Bedingung der Möglichkeit seiner Reflexion. Diesen nachzuweisen wird die Aufgabe der Dialektik, der Prinzipien der Kunst zu philosophieren, deren Inhalt die „Zurückführung aller Verknüpfungen aus Gegensätzen zur Indifferenz“ ist. (KGA II/10, 1, 8) (3) Von den problematischen Voraussetzungen der Ethik her hat die Dialektik die Aufgabe, die Einheit der Vernunft in ihrer Individualität und darin zugleich die Einheit von Natur und Vernunft, Realem und Idealem im Individuellen als Grund der Reflexion nachzuweisen, ohne diesen der Wirklichkeit in äußerer Weise vorzuordnen. Die Zuweisung dieser Aufgabe an die Dialektik ist schon insofern problematisch, als sie nicht gegenüber den sich wechselseitig begründenden realphilosophischen Systemteilen der Naturphilosophie und Ethik verselbständigt werden darf. Sie fällt aber auch nicht in die Ethik des Wissens,²⁷ denn da wäre die Ethik (als unter dem Titel der Einbildung der Vernunft in die Natur stehend) das Übergreifende und das Gleichgewicht des Idealen und Realen wäre zugunsten eines Monismus der Vernunft idealistisch aufgelöst. Umgekehrt dürfen auch nicht die Naturbasis und Naturseite des Handelns als das Übergreifende dargestellt werden, eine Alternative, die Schleiermacher freilich nie ernsthaft erwogen hat. Wenn keine der Seiten der Philosophie über die andere übergreifen darf, bedürfen sie eines Dritten, worin sie als gleich aufeinander bezogen werden. Dies war die Anschauung, deren Funktion jedoch innerhalb der Ethik selbst nicht begrifflich begründet werden konnte. Die Dialektik thematisiert nun dieses Dritte (das kein Drittes sein soll), ohne doch den anderen Systemteilen als ein Drittes gegen Ebd., 201. Ebd., 211. Vgl. Eilert Herms: „Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 73 (1976), 471– 525.
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übertreten zu können. Sie soll aber auch nicht nur formal sein. So schwebt sie zwischen Natur und Vernunft, von ihnen losgelöst, im Absoluten doch deren Grund aufweisend. Die Unmöglichkeit, der Dialektik einen festen Ort zuzuweisen, reproduziert deren interne Schwierigkeit, jenseits des obersten Gegensatzes des Seins und Denkens oder Realen und Idealen eine Einheit zu finden, die deren Grund ist, aber nicht selbst in die Endlichkeit der Entgegensetzung fallen darf, also auch mit den endlichen Mitteln des Erkennens nicht erfasst werden kann. Als der Reflexion verschlossener Grund der Reflexion ist er schon darum ein unmittelbar Gegebenes. Indem er aber den Mitteln der Reflexion im Endlichen sich entzieht, ist er nicht im Endlichen selbst als Grund anwesend. Er soll aber nicht außerhalb der endlichen Wirklichkeit verortet werden, also muss er in ihr als Beziehung des Endlichen auf das Absolute anwesend sein. Das Endliche als Ich, Subjektivität des Einzelnen, wie er sich in der Endlichkeit seiner selbst reflexiv gewiss werden kann, reicht aber als reflektiertes und reflektierendes Subjekt nicht an das Unendliche, denn dies wäre dann selbst als ein Vermitteltes der Reflexion zugänglich. So muss die Beziehung aufs Unendliche im Einzelnen unmittelbar anwesend sein, ohne dass sie in ihm auf äußere Weise als ein Vermögen gesetzt wäre, und der Einzelne muss sich ihrer unmittelbar inne sein können. Für dieses unmittelbare Gegebensein des Absoluten im Endlichen, als Beziehung des Endlichen auf das Absolute aus dem Endlichen selbst, stehen die Begriffe der Anschauung bzw. des Gefühls. In der Dialektik-Vorlesung von 1811 werden beide noch, dem Entwurf der philosophischen Ethik von 1805/06 entsprechend, als zwei Vermögen einer Potenz vorgestellt.²⁸ Weder dort noch in den Lemmata aus der Dialektik in der Ethik 1812/14 wird jedoch die Gleichsetzung mit dem Selbstbewusstsein vollzogen. In der zweiten Dialektik-Vorlesung von 1814 steht für die Funktionen der Anschauung und des Gefühls nur noch das Gefühl, das aber, dem jeweiligen Überwiegen der Totalität bzw. Individualität in diesen Funktionen entsprechend, als „Bestandtheil unseres Selbstbewußtseins sowol als unseres äußeren Bewußtseins“ verortet wird. (KGA II/10, 1, 143) Selbstbewusstsein und äußeres Bewusstsein sind jedoch von den Voraussetzungen Schleiermachers her gar nicht zu trennen. Ihre Identität muss sich im Handeln zeigen, sofern es als Entäußerung von Subjektivität begriffen wird, in der das Subjekt mit sich zusammengeht und darin Allgemeines darstellt. Um die Komplementarität der Praxen zu sichern, muss aber in dem unmittelbaren Zusammengehen mit sich selbst zugleich die Beziehung auf Anderes anwesend sein. Dieses Andere ist nicht nur das der Reflexion Zugängliche, das durch ein reflek-
Vgl. KGA II/10, 1, 37.
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tiertes Selbstbewusstsein erschlossen sein kann.Wird,wie bei Schleiermacher, das Handeln als Produzieren nicht im Sinne der Genesis der Reflexion aufgefasst, so muss die Vermittlung von Natur und Vernunft unmittelbar gegeben sein und also metaphysisch vorab gesichert werden in der Identität aller Gegensätze als Indifferenz. Ebenso muss dann das Bewusstsein dieser Indifferenz dem Subjekt der Handlung unmittelbar gegeben sein als ein Unmittelbares. Dieses kann nur als Selbstbewusstsein auftreten, da die Handlung nichts sein soll als Entäußerung von Subjektivität. Als unmittelbares Selbstbewusstsein ist es der Grund der Reflexion, der diese übersteigt. Ohne dieses Selbstbewusstsein wäre das Handeln grundlos. Eine solche Konzeption des Selbstbewusstseins trägt Schleiermacher erstmals in der Dialektik-Vorlesung 1822 vor. Er unterscheidet das unmittelbare Selbstbewusstsein (= Gefühl) von dem reflektierten Selbstbewusstsein (= Ich). Während letzteres „nur die Identität des Subjects in der Differenz der Momente aussagt“ (KGA II/10, 1, 266), ist der Ort des unmittelbaren Selbstbewusstseins die Identität des Denkens und Wollens. Das Denken bezeichnet das Gesetztsein der Dinge in uns auf unsere Weise, das Wollen das Gesetztsein unseres Seins in die Dinge auf unsere Weise. Die Identität von Denken und Wollen steht also für die Indifferenz aller Gegensätze im Handeln und namentlich für die Einheit der ursprünglich unter Gefühl und Anschauung (bzw. dem Gefühl im Selbstbewusstsein und äußeren Bewusstsein) gefassten Funktionen.Was im Selbstbewusstsein identisch ist, tritt „im Leben als Reihe“ (KGA II/10, 1, 266) in der Zeit auseinander. Im Nullpunkt des aufhörenden Denkens und anfangenden Wollens bleibt unser Sein als das Setzende übrig. Dies ist das unmittelbare Selbstbewusstsein, das, als Grund der Reflexion, in jedem Moment des Wissens und Wollens anwesend sein muss. Als dieser immanente Grund in seiner kontinuierlichen Anwesenheit ist das Gefühl geschieden von der Empfindung als einer momentanen Affektion des Subjekts. Damit will Schleiermacher dem Vorwurf des Subjektivismus entgehen. In der Tat bezeichnet das Gefühl ein Vermögen, in dem sich das Subjekt als setzend in seiner Freiheit und zugleich der Bedingungen seines Seins und Handelns, seiner Determiniertheit, bewusst wird. Indem es als Grund der Vermittlung aber nicht selbst ein Vermitteltes ist, besteht die Objektivität des unmittelbaren Selbstbewusstseins nur zum Schein, denn es bleibt darin unmittelbar bei sich. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist nur ein anderer Name für die Behauptung, Handeln sei unmittelbare Objektivierung von Subjektivität. Als Grund der Reflexion, ohne den es keine Vermittlung der Welt zur Einheit gäbe, sondern sie in eine Vielheit von gleich-gültigen, indifferenten Prozessatomen auseinanderfiele, würde es aber als Selbstbewusstsein eines Subjekts dieses zum Gott qualifizieren. Diese mögliche Konsequenz hat der Schleiermacher-Schüler Max Stirner in seinem „Einzigen“ auf der Grundlage der Feuerbachschen Religionskritik gezogen.
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Die Aufblähung des Selbst zur Welt hat Schleiermacher gerade vermeiden wollen. Die Behauptung, das Endliche sei das Absolute, kehrt aber nur im Feuerbachschen Sinne um, was Schleiermacher behauptet: dass das Endliche analogisch das Absolute repräsentiere. (4) In der Unmittelbarkeit des Selbstgefühls befindet sich das Subjekt „im Widerspruche seiner in seinem Bewußtseyn systematisirten Totalität, und der besondern in derselben nicht flüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit, – die Verrücktheit.“²⁹ Was Hegel als pathologische Struktur der Seele diagnostiziert, trägt eine Spannung zwischen dem Subjekt und der Welt aus, die noch in dieser Form, als Ver-rückung der Totalität in die Seele, die dem Bewusstsein eigene Würde eines reflexiven Innewerdens des abstrakten Selbst des Gefühls und Bewusstseins im Widerspruch ihrer bewahrt. Sie ist damit zugleich eine notwendige Gestalt der Selbsterzeugung des Geistes auf dem Wege der Reflexion. Sie ist aber nicht nur Gestalt als Moment seines Werdens, sondern anthropologisch-naturwüchsiges Element der endlichen Individuen, das sie als Moralität auf der Stufe ihres vernünftigen Bewusstseins heimsuchen kann, indem sie ihr Inneres als abstrakten Widerspruch gegen die Welt kehren und, dem Gesetz des Herzens folgend, in den Wahnsinn des Eigendünkels verfallen, der nicht nur eine bestimmte Ordnung, sondern mit dieser die Sittlichkeit schlechthin negiert.³⁰ Diese Pathologie im Sittlichen bezeichnet die Struktur des romantischen Protestes gegen die Wirklichkeit, in dem die unmittelbare Einheit des Einzelnen und Allgemeinen als das Subjektive zur Totalität erweitert wird.³¹ Vor dem Hintergrund seiner Kritik an der Struktur des romantischen Bewusstseins ist Hegels fast durchweg als ungerecht empfundene Polemik gegen Schleiermachers Gefühlstheologie zu lesen.³² Der polemischen Form entkleidet,
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), GW 19, 311, § 408. Die Beziehung zur Pathologie im Sittlichen wird hergestellt in den Zusätzen zu § 408 der Enzyklopädie; damit nimmt Hegel die Romantik-Kritik auf, die er in der Phänomenologie des Geistes in dem Abschnitt „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ entwickelt hatte. Die Struktur des romantischen Bewusstseins und ihre Kritik durch Hegel als Kritik einer bis in die Gegenwart reichenden Reflexionsphilosophie ist eindringlich untersucht von Nicola de Domenico: „Alienazione, Riflessione, Utopia. La Critica dei Paradossi della Riflessione in Hegel e Marx“, in: Nuovo Annali della Facoltà di Magistero dell’Università di Messina 1983. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorrede zu Hinrichs’ Religionsphilosophie (1822), GW 15, bes. 136 f. Die Antikritik an Hegel hat zumeist nur das Wort von dem Hund als dem besten Christen beachtet und den Amphibolievorwurf, der für Hegel den Kern der Kritik bildet, übersehen. Ob Hegels Vorwurf theologisch anders gewertet werden muss, als es hier geschieht, lasse
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behauptet Hegel zweierlei: (1) Ist das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen, so befestigt diese Bestimmung seine Knechtschaft als absolut und setzt ihn dem Tiere gleich. (2) Da das Gefühl als bloße Form jeden Inhalt ermöglicht, bedeutet diese Bestimmung aber zugleich auch, „dem Subjecte es zu überlassen, welche Gefühle es haben will; es ist […] die Willkür und das Belieben, zu seyn und zu thun, was ihm gefällt“.³³ Mit dem unvermittelten Gegensatz, den Hegel Schleiermacher zuschreibt, beschreibt er die Struktur eines Bewusstseins, das er als Verbindung der „Zufälligkeit und Willkühr des subjectiven Gefühls und seines Meynens, mit der Bildung der Reflexion“ charakterisiert³⁴ und an anderer Stelle (ebenfalls gegen Schleiermacher) als Scheindialektik, „leere Verstandesdialektik“ bezeichnet³⁵. Hegel behauptet nicht, dass Schleiermacher die eine oder die andere Intention verfolge, sondern er behauptet, dass sein Prinzip keine theoretischen Mittel enthalte, die Amphibolie zu vermeiden. In der Religion ist das „natürliche Gefühl des Herzens, die besondere Subjectivität“³⁶ gebunden von Seiten des Geistes, der dem Gefühl einen objektiven Inhalt gibt, aber nicht aus der Unmittelbarkeit des Gefühls: „Auf diesen Unterschied der Stellung kommt Alles an.“³⁷ Lässt man sich auf den Kern des Hegelschen Arguments ein, so schreibt er Schleiermacher lediglich zu, was dieser mit „Schweben“/„Oszillation“ als Reflexionsform des unvermittelten Ineinanderschlagens der Gegensätze beschreibt. Sie ist für Hegel im strengen Sinne des Begriffs eine Scheindialektik als Dialektik bloß des Scheins. Ihr adäquater Begriff ist der der setzenden Reflexion, in der das Unmittelbare unmittelbar als ein Vermitteltes gesetzt wird; das heißt: die Unmittelbarkeit wird der Vermittlung vorausgesetzt. Das Einzelne ist unmittelbar Allgemeines; diese Einheit des Einzelnen und Allgemeinen lässt aber, als unmittelbare, ihr Substrat als deren Einheit unberührt: Einzelheit und Allgemeinheit sind ihm gleich-gültige Bestimmungen, deren unendliches, nicht-fixierbares Ineinanderspiegeln eben jene Dialektik des Scheins ausmacht. Es kann sich ebenso gut ins Allgemeine verlieren wie in die Einzelheit versenken oder im Spiel der Spiegelungen in der Schwebe halten.
ich dahingestellt, da es im Rahmen meiner Erörterung nur auf die Bestimmung der Struktur einer philosophischen Theorie ankommt. GW 15, 138. Ebd.; die Spitze dieser Formulierung richtet sich gegen Friedrich Schlegel. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Exzerpt aus Schleiermachers Glaubenslehre, Bd. 2 (1822)“, in: Berliner Schriften, hg.v. J. Hoffmeister, Hamburg 1956, 688. GW 15, 137. Ebd., 138.
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
Die setzende Reflexion geht in die äußere über, indem die Unmittelbarkeit als Voraussetzung genommen wird, wie sie als Ergebnis der setzenden Reflexion gefunden wird. Indem sie das Unmittelbare als Vermitteltes setzt, setzt sie es dem Vermittelten voraus. Es bleibt, als der Reflexion entzogen, ein Nichtidentisches gegenüber der ihm äußerlich zugeordneten reflexiven Identität. Das Einzelne schlägt zwar nicht unmittelbar in Allgemeines um, indem es, als Einzelnes, jenseits der in der Reflexion gesetzten Form der Allgemeinheit bleibt; in der Äußerlichkeit der Reflexion aber sind die Substrate gleichgültig gegen ihre Bestimmungen in der Reflexion, die nur gebunden ist an die unvermittelte Vermitteltheit ihrer Voraussetzung, die sie auch gegeneinander als gleichgültig qualifiziert. Im Übergang von der setzenden zur äußeren Reflexion erschöpft sich die Scheindialektik in der Verstandesdialektik, die die Reflexion an einem Gegebenen entfaltet. Diese Kombination von Unmittelbarkeit als Nichtidentischem und Reflexion war es, die Hegel Schleiermacher vorhielt. In ihr kann sich im Spiel der Indifferenz, die zugleich als gleich-Gültigkeit Differenz bezeichnet, das individuelle Allgemeine in das allgemeine Individuelle verwandeln und umgekehrt. Auf dieser Austauschbarkeit der Substrate als der Reflexion vorgeordneter und nicht in ihr vermittelter beruht die Möglichkeit analogischer Repräsentanz des Einzelnen und Allgemeinen. Sie ist nur eine positive Formel für die Amphibolie der (äußerlichen) Reflexionsbestimmungen. In diesem Sinne kann Hegel Schleiermacher zu Recht vorwerfen, mit seinem Prinzip die Abhängigkeit vom Allgemeinen wie die Willkür des Subjektiven nur zum Schein, d. h. als Formen des Scheins, unterschieden zu haben, die nicht in eine wesentliche Vermittlung der Entgegengesetzten übergeführt sind. Das tierische Ausgeliefertsein an die Allgemeinheit bezeichnet für Hegel einen Mangel an reflexiver Distanz zur Natur, für die das bloß konsumptive Verhalten steht: die Erlösung des Begehrens durch den Gegenstand ist dessen reines Verschwinden und darin die Erneuerung der Begierde. Sie ist, nicht anders als die Unmittelbarkeit des Selbstgefühls, naturwüchsige Voraussetzung als Moment des Werdens der Reflexion (die Hegel am Modell der Arbeit orientiert), welche die reflexive Distanz in der Hemmung der Begierde gewinnt. Die reine Vermittlung geht in eine vermittelte über, in der das Mittel der Arbeit dasjenige ist, worin die Subjektivität wahrhaft zur Allgemeinheit erhoben wird, weil es einen selbständigen Inhalt gegenüber dem in ihrer Vereinigung immer wieder auseinandertretenden Subjektiven und Objektiven bildet, der diese vermittelt und in sich als einem Subjekt-Objektiven selbst reflektiert. Die Arbeit ist so die Reflexion als ihr Werden. Dies kommt in der Entwicklung des Reflexionsbegriffs in der Weise zur Geltung, dass sich die Wahrheit der setzenden und äußeren Reflexion in der bestimmenden Reflexion nun nicht mehr als Scheindialektik entwickeln lässt. In-
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dem die Unmittelbarkeit, wie sie in der äußeren Reflexion vorausgesetzt ist, als Vermitteltes gesetzt wird, ist das Wesen des Unmittelbaren selbst ein Allgemeines, d. h., es ist ein Gesetztsein. Als Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist sie Beziehung auf Anderes und darin zugleich Zusammengehen mit sich. In der Wiederherstellung der ursprünglichen Unmittelbarkeit als vermittelter erweist das Subjekt der Arbeit sich als in der Beziehung auf Anderes mit sich so zusammenschließendes, dass es am Ende das ist, was es am Anfang war. Mit anderen Worten: die Einheit des Werdens dieser Reflexion wird über die Antizipation des ausgeführten Zwecks in der Zwecksetzung gesteuert, die mit der Realisation identisch ist. Arbeit wird von ihrem subjektiv-teleologischen Moment her begriffen als Entäußerung von Subjektivität, die sich darin in ihrem Anderen reflektiert. (5) Mit der Struktur der Selbsterzeugung des Geistes als Reflexion der Unmittelbarkeit in sich wiederholt Hegel auf einer anderen Stufe das, was er der Dialektik des Scheins vorhielt. Indem der Geist so zwar gegenüber den endlichen Subjekten eine sie vermittelnde und durch sie vermittelte Objektivität darstellt, ist er für sich betrachtet nichts anderes als eine intelligible Gottheit, deren Begriff durch eine Setzung zustande kommt, die nicht weniger dogmatisch ist als die Schleiermachersche, nämlich, dass es ein sich identisch reproduzierendes Absolutes als Subjekt gäbe. An diesem Punkt wird deutlich, dass und inwiefern Hegel und Schleiermacher von denselben Voraussetzungen ausgehen. Insofern beide die Wirklichkeit aus ihr selbst begreifen wollen, deren Einheit aber auf die Seite eines Unendlichen, Gottes oder Absoluten als unmittelbar mit sich zusammengehender Totalität schlagen, der sie schon immer garantiert und entweder (wie bei Hegel) selbst als Subjekt, oder (wie bei Schleiermacher) als Grund analogischer Repräsentanz in der Struktur endlicher Subjektivität gefasst wird, verhalten sich beide indifferent zueinander. In der Gleichgültigkeit dieser Hinsicht aber fällt die Kritik der Romantik selbst der romantischen Kritik anheim. Dies zeigt sich in der Auflösung der Hegelschen Schule, in der, unter dem Generaltitel einer „Philosophie des Selbstbewusstseins“, die Struktur des Geistes entweder (wie bei Feuerbach) als Gattungswesen den Menschen zurückgegeben, oder – mit allen absurdistischen Konsequenzen – in die endliche Subjektivität selbst gesetzt wird. Stirner ist nicht nur der legitime Schüler Schleiermachers, sondern auch Hegels. In ihm verbindet sich der Protest gegen die Verselbständigung ihres Zusammenhangs gegenüber den Individuen mit der Religionskritik, die mit Hegel das Absolute als in der Verfügung der Reflexion stehend und darin zugleich die Reflexion als absolute, unmittelbare Selbstbezüglichkeit begreift, zur Ohnmacht eines subjektivistischen Protestes, der alle Züge der von Hegel diagnostizierten Verrücktheit der Seele und der Moralität trägt.
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
Die Naturwüchsigkeit dieser Verrücktheit, die in der neoromantischen Beund Empfindlichkeit der unmittelbaren Selbstverwirklichung als sozialpathologisches Phänomen auch in der Gegenwart aufbricht, wollten Hegel und Schleiermacher – jeder auf seine Weise – durch die Verpflichtung des endlichen Subjekts auf die Objektivierbarkeit seiner Handlungen binden. Hegel, indem er das Subjekt im Endlichen als Moment einer sich ihm gegenüber objektiv vollziehenden Reflexion fasste; Schleiermacher, indem er die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins des endlichen Subjekts unmittelbar als Reflexion setzte. Konnte Hegel mit seinen theoretischen Mitteln gegenüber Schleiermacher die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins im Endlichen überzeugend ihres Gesetztseins überführen, so gelingt ihm das doch nur, indem er sie auf einer anderen Ebene erneuert. Gegen diese Festschreibung eines verselbständigten Allgemeinen richtet sich zu Recht der Protest der romantischen Ansicht. Indem sie aber die Reflexion an die Unmittelbarkeit preisgibt, verzichtet sie auf das Begreifen dessen, wovon die Individuen abhängen, und befestigt darin, nicht anders als Hegel, deren Abhängigkeit. Es ergibt sich das scheinbar paradoxe Resultat, dass die entgegengesetzten Ansichten der Romantik und ihrer bürgerlichen Kritik sich in einem Zirkel bewegen, in dem die eine die Voraussetzungen der anderen, die sie kritisieren wollte, erneuert. Sie bewegen sich in der Tat innerhalb derselben Voraussetzungen der bürgerlichen Gesellschaft, in der der Arbeit als Quelle allen Reichtums übernatürliche Schöpferkraft zugeschrieben, d. h. von der Naturbasis und der Naturseite der Arbeit als der grundlegenden Gattungstätigkeit der Individuen abstrahiert wird.³⁸ Dieser Mythos der bürgerlichen Gesellschaft trägt den fragwürdigen Begriff des Handelns als Entäußerung von Subjektivität, dessen sich Schleiermacher und Hegel auf je eigene Weise bedienen, um die Reflexion begrifflich zu erfassen. Erst indem diese Voraussetzung kritisiert wird, lässt sich jenseits der in dem aufgezeigten Zirkel sich bewegenden scheinbaren Alternative der historische Gegensatz als der Standpunkt der Selbsterzeugung der Menschen durch Arbeit formulieren, der mit der Einsicht in die Bedingungen der Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Individuen der Hypertrophierung der Subjektivität ebenso entgegensteht, wie er darin deren Möglichkeiten begründet, durch Umformung des Gegebenen die unmittelbare Abhängigkeit von den vorgefundenen Bedingungen der Produktion und Reproduktion zu brechen.
Dazu und zu dem materialistisch verstandenen Zusammenhang von Arbeit und Reflexion vgl. Peter Furth: „Arbeit und Reflexion“, in: Arbeit und Reflexion, hg.v. P. Furth, Köln 1980, 70 ff.
3 Schleiermacher und Hegel. Versuch einer Zwischenbilanz (1) Als Walter Jaeschke Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Blick auf Schleiermacher und Hegel über „neue Ausgaben und alte Fragen“ referierte, gab er der Hoffnung Ausdruck, dass von kommenden Bänden der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe und besonders durch die Erschließung von Schleiermachers Vorlesungen erneut Licht auf das Verhältnis beider Repräsentanten der klassischen Epoche des Geisteslebens in Deutschland fallen werde.¹ Da im Rahmen der KGA inzwischen zahlreiche weitere Bände erschienen sind, ist eine Nachlese zur Vervollständigung der bisherigen Bilanz wohl an der Zeit. Ein solcher Versuch sieht sich jedoch weiterhin fundamentalen Schwierigkeiten ausgesetzt, die Jaeschke bereits benannt hatte:² es fehlt an Zeugnissen über die Berührungen zwischen Schleiermacher und Hegel, die vordergründigen Entgegensetzungen beider verdecken ihre sachlichen Berührungspunkte und Überschneidungen, und schließlich: Schleiermachers Werk – einschließlich seiner philosophischen Schriften und Vorlesungen – ist weitgehend Domäne der Theologen geblieben und wurde und wird in der philosophischen Diskussion, abgesehen von der Hermeneutik, wenig beachtet. Die Ausnahmen scheinen hier nur die Regel zu bestätigen. Der letztere Umstand hat sicherlich dazu beigetragen, dass Schleiermachers Philosophie in dem ganzen Umfang der in ihr behandelten Disziplinen und in ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Seine Philosophie wurde vielmehr, wie übrigens schon von einigen Zeitgenossen, in erster Linie auf ihre theologischen Aspekte hin gelesen und bestenfalls unter religionsphilosophischen Gesichtspunkten diskutiert.³ Dabei hatte Schleiermacher selbst schon 1799 in den Reden Ueber die Religion Religion auf der einen, Metaphysik und Moral auf der anderen Seite als gleichursprünglich geschieden⁴ und auch später allen Versuchen, die Philosophie für die Theologie zu instrumentalisieren (oder umgekehrt), eine Absage erteilt: Im Blick auf das Verhältnis
Walter Jaeschke: „Schleiermacher und Hegel. Neue Ausgaben und alte Fragen“, in: HegelStudien 23 (1988), 327– 341; vgl. hier 340 f. Ebd., 327 f. Noch immer gilt weithin, was Leopold George bereits 1842 schrieb: „Freilich ist die Bedeutung, die Schleiermacher auch als Philosoph hat, bisher nicht recht erkannt oder vielmehr verkannt worden, man hat nur seine Verdienste um die Reorganisation der Theologie gewürdigt, und seine Philosophie erst beachtet, um daraus seinen Standpunkt in jener aufzuklären“ (Princip und Methode der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel und Schleiermacher, Berlin 1842, V). Vgl. KGA I/2, 211.
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
von Theologie und Philosophie heißt es in dem Zweiten Sendschreiben an Lücke (1829): „zeigt die Philosophie sich bald für, bald wider uns: so haben wir gar kein festes Verhältniß mit ihr, seit wir beide frei geworden sind von einander; und dies ist das einzige, was mir räthlich scheint zu sagen und durch die That zu befestigen.“ (KGA I/10, 390) Nach Schleiermachers Überzeugung gab es zwar auch keinen Gegensatz von Religion bzw. theologischer Dogmatik einerseits und Philosophie andererseits, jedoch sollte diese Konvergenz zwanglos zustande kommen und sich von Seiten der Philosophie aus deren autonomen Arbeit ergeben: „Aber will der Speculative rein auf seinem Gebiete bleiben, so ist er doch, was er ist, unabhängig von der Religion, rein aus sich selbst; denn er wird durch die Religion an und für sich gar nicht weiter befördert in seiner Philosophie. […] Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung.“ (KGA II/10, 2, 242)⁵ Die Kritische Ausgabe der Vorlesungen über die Dialektik (KGA II/10) könnte einen Anstoß dazu geben, die Diskussionen über Schleiermachers Philosophie von den bisherigen Engführungen zu befreien und sie als einen eigenständigen Entwurf in der Nähe und Distanz zu den Zeitgenossen und insbesondre auch zu Hegel zur Kenntnis zu nehmen, denn ihrem Selbstverständnis nach ist die Dialektik nicht weniger als eine Grundlegung des philosophischen Wissens als Alternative zu Fichtes Wissenschaftslehre. Damit rückt auch gegenüber dem gängigen Bild vom „Hermeneutiker“ Schleiermacher dessen eigenständiger Systemansatz insgesamt in den Blick, was hier jedoch nicht weiter auszuführen ist. Im Folgenden soll es vielmehr darum gehen, zunächst unsere Kenntnis der direkten Berührungen zwischen Schleiermacher und Hegel zu bilanzieren und anhand der neu erschlossenen Quellen zu vervollständigen (2) und sodann die philosophische Aufgabe im Blick auf das systematische Verhältnis der Schleiermacherschen Dialektik im Verhältnis zur Hegelschen Wissenschaft der Logik zu bestimmen (3). (2) (a) Schleiermacher und Hegel haben, so scheint es, voneinander weder in Affirmation noch Kritik wesentliche theoretische Anregungen erfahren, sondern sich nur äußerlich berührt. Jedoch ist dabei weiterhin offen, ob Hegel bereits in seiner Frankfurter Zeit die Reden „Über die Religion“ gekannt hatte. Für eine solche Kenntnis hat Ernst Müller votiert und dabei – trotz der zunehmend negativen Äußerungen Hegels zu Schleiermacher in seiner Jenaer Zeit – jenseits der polemischen Entgegensetzung auch eine partielle Übereinstimmung in den Religi-
KGA II/10, 2, 242. Das Zitat stammt aus einer (anonymen) Nachschrift zur Vorlesung 1818/19.
3 Schleiermacher und Hegel. Versuch einer Zwischenbilanz
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onsauffassungen beider angenommen.⁶ In der „Vorerinnerung“ zu seiner Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie hatte Hegel die Reden zwar positiv hervorgehoben, sie jedoch zugleich von der eigentlich spekulativen Philosophie getrennt: „Wenn Erscheinungen, wie die Reden über die Religion, – das spekulative Bedürfniß nicht unmittelbar angehen, so deuten sie und ihre Aufnahme […] auf das Bedürfniß nach einer Philosophie hin, von welcher die Natur für die Mishandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichte’schen Systeme leidet,versöhnt, und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird“.⁷ In dem Aufsatz Glauben und Wissen von 1802 dagegen finden sich solche versöhnlichen Töne nicht mehr; stattdessen steht die Kritik an der Subjektivität der Schleiermacherschen Religionsauffassung nun ganz im Vordergrund,⁸ wie sie auch noch Hegels spätere Polemik gegen die Glaubenslehre beherrscht. Diese ist – ebenso wie die Auseinandersetzungen um Hegels Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften⁹ sowie die politischen Kontroversen zwischen Schleiermacher und Hegel anlässlich der Entlassung De Wettes¹⁰ – hinlänglich bekannt,¹¹ so dass hier nicht weiter darauf einzugehen ist. Zu erwähnen ist jedoch, dass der Zusammenstoß zwischen Hegel und Schleiermacher bei diesem Anlass in den darüber kursierenden Gerüchten auch Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2003, Kap. 1. GW 4, 8. – Die Verfasserschaft Schleiermachers dürfte Hegel durch Schelling bekannt gewesen sein. Im übrigen muss die Verbannung der Reden aus dem Bereich des spekulativen Interesses wohl durchaus auch als Spitze gegen Schelling verstanden werden, denn nach anfänglicher Ablehnung hatte Schelling bereits 1801 seine Ansicht über die Reden radikal geändert, wie er es in einem Brief vom 3.7.1801 an A. W. Schlegel zum Ausdruck brachte: „ich ehre jetzt den Verfasser als einen Geist, den man nur auf der ganz gleichen Linie mit den ersten OriginalPhilosophen betrachten kann. Ohne diese Originalität ist es nicht möglich, so das Inerste der Speculation durchdrungen zu haben, ohne auch nur eine Spur der Stufen, die man durchgehen mußte, zurückzulassen. Das Werk, wie es ist, scheint mir bloß aus sich selbst entsprungen, und ist dadurch nicht nur die schönste Darstellung, sondern zugleich selbst ein Bild des Universums, und gleichwohl muß, wer etwas der Art hervorbringen will, die tiefsten philosophischen Studien gemacht haben – oder er hat durch blinde göttliche Inspiration geschrieben.“ (Aus Schellings Leben. In Briefen, hg.v. G.L. Plitt, Bd. 1, Leipzig 1869, 345) Vgl. GW 4, 385 f. Vgl. Gunter Scholtz: „Die Philosophie und die Wissenschaften in der Akademie. Schleiermacher und Hegel“, in: (ders.): Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/Main 1995, 147– 169. Vgl. Hegel: Briefe, hg.v. J. Hoffmeister, Bd. 2, Hamburg 1969, 221 und 448 – 450; Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: „Hegel und die ‚Gesetzlose Gesellschaft‘“, in: Hegel-Studien 20 (1985) 113 – 116. Vgl. Walter Jaeschke: „Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 1157– 1169.
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
mit sachlichen Differenzen in Bezug auf die Dialektik in Verbindung gebracht worden war. So hatte Schleiermachers Freund, der Breslauer Theologe Joachim Christian Gaß derartiges in Heidelberg gehört.¹² Tatsächlich hat Hegel dann in den 1820 veröffentlichten Grundlinien der Philosophie des Rechts in der Anmerkung zum Paragraphen 31 gegen einen platonisierenden Dialektik-Begriff Stellung genommen: „Das bewegende Princip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik, – Dialektik also nicht in dem Sinne, daß sie einen dem Gefühl, dem unmittelbaren Bewußtseyn überhaupt gegebenen Gegenstand, Satz usf. auflößt, verwirrt, herüber und hinüber führt und es nur mit Herleiten seines Gegentheils zu tun hat, – eine negative Weise, wie sie häufig auch bey Plato erscheint. Sie kann so das Gegentheil einer Vorstellung, oder entschieden wie der alte Skepticismus den Widerspruch derselben, oder auch matterweise eine Annäherung zur Wahrheit, eine moderne Halbheit, als ihr letztes Resultat ansehen.“¹³ Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese Anspielung sich – wenn auch nicht ausschließlich – an die Adresse Schleiermachers richtete; zu auffällig ist die Verbindung des Platonismus mit den Stichworten „Gefühl“ und „unmittelbares Bewusstsein“ und zudem der Hinweis auf die „moderne Halbheit“ einer „Annäherung zur Wahrheit“, womit das Selbstverständnis der Schleiermacherschen Dialektik als Theorie des werdenden Wissens beschrieben wird. Schleiermacher seinerseits wurde bereits im Dezember 1820 von De Wette auf die soeben erschienene Rechtsphilosophie aufmerksam gemacht, wobei jedoch nicht auf den zitierten Paragraphen verwiesen wurde: „Von Hegel liest und hört man schreckliche Dinge. Lies doch die Vorrede zu seiner Staatslehre, worin er gegen mich und Fries spricht“.¹⁴ Ob und ggf. wann Schleiermacher Hegels Buch zur Kenntnis genommen hat, lässt sich aber nicht mit Sicherheit sagen. In einem Brief an den Theologen Lücke von Anfang 1821 heißt es: „Hegel’n denke ich gar nicht in die Parade zu fahren; ich habe keine Zeit dazu. Auch ist es mehr eine Herabsezung der Religion überhaupt, die ihm eine niedere Stufe bezeichnet als des Christenthums […]. In philosophische Polemik kann ich mich gar nicht einlassen, weil ich sie als einen Unsinn ansehe.“¹⁵ Diese Stelle könnte mit Hegels Polemik in der Rechtsphilosophie in Verbindung gebracht werden; der vorangehende Brief Lückes, auf den Schleiermacher antwortet, ist jedoch nicht überliefert, so dass hierüber keine letzte Klarheit zu gewinnen ist.
Vgl. Gaß an Schleiermacher, 28.11.1819, in: F. Schleiermacher: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg.v. W. Gaß, Berlin 1852, 180. GW 14, 1, 47. An Schleiermacher, 30.12.1820, in: Briefe, Bd. 4, 266 f. Ebd., 272.
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(b) Hegel war bereits durch seine ersten Jenaer Publikationen in Schleiermachers Blickfeld gerückt. Eine Schelling gewidmete Notiz im fünften „Gedanken“-Heft, das Schleiermacher zwischen 1800 und 1803 führte, spielt auf die Differenzschrift an,¹⁶ eine andere nimmt kritisch Bezug auf Hegels Habilitationsschrift: „Hegel hat in seiner lateinischen Dissertation die Pythagoreische oder vielmehr platonische Zahlenreihe 1.2.3.4.9.8.27. gar nicht verstanden sonst hätte er nicht statt 8 sezen wollen 16. Die Eins nemlich ist nur als Maaß, als Princip vorausgesezt. 2 und 3 stehn da als Anführer der beiden Hauptstämme des Geraden und Ungeraden, und das folgende sind Potenzen von ihnen; so kommt die 8 ganz natürlich hinter die Neun.“¹⁷ Öffentlich hat Schleiermacher jedoch auch dann nicht Stellung genommen, nachdem Hegel ihn in seinem Aufsatz Glauben und Wissen direkt angegriffen hatte.¹⁸ Hegels Polemik bestärkte ihn vielmehr in seiner Auffassung, dass jede philosophische Polemik fehlgehen müsse, weil es kein gesichertes, objektiv gültiges Wissen über die Prinzipien des philosophischen Wissens geben könne, eine Auffassung, die zu den Grundvoraussetzungen seiner Dialektik gehört. Auch Friedrich Heinrich Jacobi, zu dem Schleiermacher selbst sich unter allen philosophischen Zeitgenossen in der größtmöglichen sachlichen Nähe sah, habe die ihm mögliche führende Position durch Polemik aufs Spiel gesetzt: „In der Philosophie sind Gott sei Dank die Revolutionen gar zu schnell gewesen als daß man von einer Sekte reden könnte. Auch giebt es da, leider keinen olympischen Jupiter. Jacobi hätte es zu sein verdient, und hätte es werden können wenn es ihm gefallen hätte tüchtige ganz unpolemische Darstellungen seiner Philosophie zu geben, und sich dann weiter in nichts zu mischen“. (An Brinckmann, 26.11.1803, KGA V/7, 122) In diesem Zusammenhang beklagt Schleiermacher besonders auch die „Jüngersucht“, von der er frei bleiben wolle: „Die Sklaverei scheint mir von beiden Seiten gleich arg zu sein. Man sehe nur wie sich Schelling behängt mit dem Hegel, AW Schlegel mit dem Bernhardi, Jacobi mit dem Köppen.“ (KGA V/7, 122) Schleiermacher hatte Hegel demnach vor allem als Nachbeter Schellings und nicht als einen eigenständigen Kopf wahrgenommen. Schleiermachers Abneigung gegen Schelling musste daher auch sein Interesse an Hegel gering halten. Noch 1804, als er – wie auch Schelling – einen Ruf nach Würzburg erhalten hatte, gehörte die Nähe Schellings für Schleiermacher zu den unangenehmsten Vorstellungen:
Vgl. KGA I/3, 296 f., Nr. 58. Es heißt dort unter Bezug auf S. 146 f. der Differenzschrift (GW 4, 74): „Sein [Schellings] Bliz der im Hegel auch wieder vorkommt ist wohl nicht viel besser als Fichtes Anstoß.“ KGA I/3., 304, Nr. 80; vgl. GW 5, 252 („Dissertatio philosophica de orbitis planetarum“, 32). Dass Schleiermacher hiervon Kenntnis genommen hatte, zeigt sein Brief an Brinckmann vom 19.10.1803, KGA V/7, 55.
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„Dann ist mir Schelling mit seiner liebeleeren Weisheit, denn anders hat sie mir noch nicht erscheinen wollen, und seinem ganzen Schreckenssystem ein unangenehmer Nachbar“. (KGA I/7, 213) Diese Einstellung bestimmte Schleiermacher letztlich auch dazu, alle Annäherungsversuche Schellings abzuweisen, der ungeachtet dessen Schleiermacher zunehmend auch und gerade als Philosophen schätzte.¹⁹ Bereits 1800, als die Brüder Schlegel zusammen mit Schleiermacher und zeitweilig auch mit Schelling und Fichte das Projekt einer Kritischen Zeitschrift in Konkurrenz zur Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung verfolgten, befürchtete Schleiermacher, durch Schelling (und Fichte) in der philosophischen Rezensionstätigkeit eingeschränkt zu werden.²⁰ Wie bekannt, hat Schelling nach dem Scheitern des Projekts zusammen mit Hegel den reduzierten Plan eines Kritischen Journals der Philosophie verwirklicht. Weniger bekannt ist – trotz entsprechender Hinweise in der Hegel- und Schleiermacherforschung²¹ –, dass Schelling versucht hatte, auch Schleiermacher in dieses Unternehmen einzubinden. Über August Wilhelm Schlegel, der zu Schleiermacher in engem persönlichen Kontakt stand, ließ Schelling am 10.12.1801 anfragen, ob Schleiermacher nicht für das zweite Heft des Kritischen Journals eine Jacobi-Kritik liefern wolle, was dieser aber offenbar abschlägig beschied. Wohl in diesem Zusammenhang notierte Schleiermacher Anfang 1802 in sein GedankenHeft: „Schelling ist im Journal grob und skurril. Das ist unphilosophisch und ist nichts damit gewonnen.“ (KGA I/3, 300) Weitere Versuche unterblieben, und Hegel war es dann, der in seinem Journalaufsatz über Glauben und Wissen eine umfassende Kritik der Jacobischen Philosophie vorlegte, als deren Potenzierung er die Reden über die Religion ansprach. Die Möglichkeit einer, wenn auch indirekten, philosophischen Zusammenarbeit Schleiermachers und Hegels war damit endgültig vorbei. Dank des Auktionskataloges von Schleiermachers nachgelassener Bibliothek und der erhaltenen Hauptbücher des Reimer-Verlages, über den Schleiermacher seine Bücher zu beziehen pflegte, ist recht gut belegt, wie Schleiermacher Hegel Als Zeichen seiner Wertschätzung hatte sich Schelling sein Exemplar der Reden 1801 „wie ein wahrhaft geistliches Buch in schwarzen Corduan mit goldnem Schnitt binden lassen“ (Von A.W. Schlegel, 7.9.1801, KGA V/5, 194. Schellings Prachtexemplar ist in der Harvard-Library zugänglich. Vgl. die Historische Einführung in KGA V/4, XXIX–LV. Dort wird erstmals eine umfassende Übersicht über diese Streitsache unter Einbeziehung aller Beteiligter gegeben. Vgl. den Editorischen Bericht in GW 4, 535 sowie die Historische Einführung in KGA V/5, XXVI; letztere bezieht im Unterschied zu GW 4 Schellings spezifische Anfrage nach der Rezension eines Jacobischen Aufsatzes auf F.H. Jacobis Abhandlung Über eine Weissagung Lichtenbergs, die in dem von J.G. Jacobi herausgegebenen Taschenbuch für das Jahr 1802 erschienen war (Hamburg, 3 – 46).
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literarisch zur Kenntnis genommen hat, wobei jedoch die Anschaffung eines Buches damals wie heute noch nichts über die Kenntnisnahme des Inhalts durch den Käufer aussagt. So wurde jüngst der Schleiermacher-Forschungsstelle an der Kieler Universität das ursprünglich aus Schleiermachers Besitz stammende Exemplar der Hegelschen Wissenschaft der Logik zum Kauf angeboten, das jedoch keinerlei Notizen oder sonstige Gebrauchsspuren aufwies.²² Neben der Differenzschrift besaß Schleiermacher laut Auktionskatalog die Erst- und Zweitauflage der Enzyklopädie, die Grundlinien der Philosophie des Rechts und die drei (Teil‐) Bände der Wissenschaft der Logik;²³ das Hauptbuch des Reimer-Verlages verzeichnet darüber hinaus am 17.6.1816 die Lieferung der Phänomenologie des Geistes und am 20.6.1832 die Lieferung der Zweitauflage der Seinslogik an Schleiermacher.²⁴ Schließlich hatte Schleiermacher auch die seit 1832 erscheinende „Freundesvereinsausgabe“ der Hegelschen Werke bezogen.²⁵ Aus den Lieferdaten der Bücher (und besonders der späten Bestellung der Phänomenologie) geht hervor, dass Schleiermacher Hegels literarische Produktionen erst ab 1816 zur Kenntnis nahm, also nachdem er an der Berliner Universität bereits zweimal (1811 und 1814/15) über Dialektik gelesen hatte. Den Anstoß zu diesem Interesse an Hegel dürfte der Kieler Theologe und Philosoph Detlev August Christian Twesten (später Schleiermachers Nachfolger in Berlin) gegeben haben. Twesten war ein Schüler Schleiermachers und hatte 1811 dessen erste DialektikVorlesung gehört, die ihn von seiner anfänglichen Begeisterung für Fichte abbrachte und auch in der Philosophie Schleiermacher folgen ließ.²⁶ Er machte den mit ihm inzwischen auch persönlich eng befreundeten ehemaligen Lehrer im Juni 1815 auf die Wissenschaft der Logik aufmerksam, nachdem er ihn zunächst aufgefordert hatte, durch eine entsprechende Darstellung seiner Dialektik die spe-
Freundliche Mitteilung des Leiters der Kieler Forschungsstelle, Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock. Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Berlin und New York 1993, 197 f., Nr. 854– 858. – Laut Hauptbuch bezog Schleiermacher die Erstauflage der Enzyklopädie von 1817 am 9.9.1817, die Zweitauflage von 1827 hingegen erst am 26.1.1830. Die Grundlinien sind im Hauptbuch unter dem 12. 5.1821 verzeichnet, die Logik ist unter dem 1. 5.1816 (Bd.1, 1), 22. 8. 1816 (Bd. 1, 2) und 6.11.1816 (Bd. 2) notiert. Ebd., 315, Nr. 2386 f. Ebd., 197, Nr. 853; laut Hauptbuch wurden die bereits erschienenen 3 Bände nach Schleiermachers Tod (12. 2.1834) am 25. 3.1834 an den Reimer-Verlag zurückgeliefert; sie dürften daher von Schleiermacher nicht einmal mit einem Besitzvermerk versehen, geschweige denn aufgeschnitten und gelesen worden sein. Twestens Nachschrift ist die einzig erhaltene zum Kolleg 1811 und in KGA II/10, 2 vollständig ediert.
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kulative Ansicht „in sich selbst klarer und denen, die sich in ihr fester setzen möchten, etwas verständlicher zu machen. Hegels objektive Logik, die sich das zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, enthält nach einer trefflichen Einleitung doch wunderbare Dinge. Alles versteht man nicht, und was man versteht, kommt einem oft mehr als eine gewisse Taschenspielerei vor denn wie eine tüchtige und wahrhaft ersprießliche Spekulation. Haben Sie das Buch einmal angesehen? ich möchte wohl wissen, was Sie darüber urtheilen, um entweder veranlaßt zu werden, die starke Unlust zu überwinden, die mich abhält recht daran zu gehen, oder es mit ruhigerem Gewissen ganz liegen lassen zu können.“²⁷ Schleiermacher antwortete hierauf ausweichend, da er in der Tat die bis dahin erschienenen Bände der Logik noch nicht einmal besaß: „Den Hegel habe ich nicht angesehen, aber aus Recensionen habe ich ohngefähr so eine Vorstellung davon wie die Ihrige“.²⁸ Twesten war wohl der erste unter den Zeitgenossen, der Schleiermachers Dialektik und Hegels Wissenschaft der Logik als Konkurrenzunternehmen ansah, gerade weil beide nach seiner Auffassung darin übereinkamen, die Wissenschaftslehre logisch-spekulativ zu begründen, denn in der Tat verfolgen ja Schleiermacher wie Hegel das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik. So war Twesten auf Hegel offenbar im Zuge der Vorarbeiten für die von ihm geplante Logik aufmerksam geworden, welche 1825 erschien. In einem programmatischen Vorwort gab Twesten dort der Hoffnung Ausdruck, dass die Wissenschaftslehren „nicht bloß die transzendentalphilosophische sondern auch die logische Richtung nähmen“;²⁹ eine solche umfassende, logisch ausgerichtete Wissenschaftstheorie würde „Schleiermachers Dialektik seyn, in Ansehung deren mir der gewiß von vielen getheilte Wunsch gestattet sey, daß sie uns nicht zu lange vorenthalten werden möge!“³⁰ Indessen hat es Schleiermacher weder vermocht, zu Lebzeiten seine eigene Dialektik zu publizieren, noch hat er sich – weder öffentlich noch privat – je mit der Hegelschen Philosophie konzeptionell auseinandergesetzt. Im Zusammenhang
C.F. Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, 261; Brief Twestens vom 26.6.1815. Ebd., 264; an Twesten, 5.7.1815. August Twesten: Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825, XXXVIII. Ebd., XXXIX; vgl. auch den Brief an Schleiermacher vom 20.7.1819: „was namentlich Hegel betrifft, so müssen ihm die logischen Formen entweder mehr, oder sie können ihm auch das nicht bedeuten, was sie ihm bedeuten. Was für ein ganz anderer Geist ist doch in Ihrer Dialektik als in dieser Logik! oder sollte ich doch das Rechte darin nur nicht gesehen haben? Finden Sie wirklich etwas darin? ein College hier, Berger, ist sehr davon entzückt; aber noch soll ich das erste verständliche Wort von ihm hören, wodurch dieses Entzücken gerechtfertigt würde.“ (C.F. Georg Heinrici: Twesten, Berlin 1889, 347) Schleiermacher hat sich auch zu dieser Anfrage nicht geäußert.
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mit Überlegungen zum Anfang philosophischer Systeme heißt es in den Vorarbeiten zu einer späten, wohl 1833 abgefassten Ausarbeitung einer „Einleitung“ zur Dialektik lapidar: „Hegel vor der Hand noch ausgesezt“. (KGA II/10, 1, 385) Tatsächlich findet sich in den Manuskripten zur Dialektik auch nur in diesen Vorarbeiten eine sachhaltige Anspielung auf einen Hegelschen Text, die nahelegt, dass Schleiermacher diesen Text bei der Niederschrift auch vor Augen gehabt habe.³¹ Eine vergleichbar eindeutige Bezugnahme findet sich sonst nirgends. Für die früheren Fassungen der Dialektik kann dies indessen auch nicht verwundern, denn sie ist als Gegenentwurf vor allem zu Fichtes Wissenschaftslehre entstanden und ausgearbeitet worden;³² dass sie in Konkurrenz zu Hegels Wissenschaft der Logik geriet, verdankte sich einer geistigen Problemlage, die erst zutage trat, nachdem sowohl Schleiermacher als auch Hegel ihre systematischen Konzeptionen in den Grundzügen bereits ausgearbeitet hatten. In diesem Sinne gilt, was Bruno Weiß bereits 1879 feststellte: „Hegels Philosophie ist an Schleiermacher beinahe spurlos vorübergegangen“.³³ (3) Im Blick auf das systematische Verhältnis der grundlegenden philosophischen Disziplinen bei Hegel und Schleiermacher hatte bereits Twesten den entscheidenden Punkt getroffen: nicht anders als Hegel in der Wissenschaft der Logik verfolgt Friedrich Schleiermacher in seiner Dialektik das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik. So heißt es in dem Entwurf zur Dialektik-Vorlesung 1814/15: „Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische.“ (KGA II/10, 1, 77, § 16) Dies ist deshalb besonders in Erinnerung zu rufen, weil Schleiermachers Dialektik bisweilen eher als kritisches Gegenprogramm zu Hegel stilisiert wird, welches besonders dessen Metaphysik des Absoluten unterminiere. „Dem Rausch des Höhenfluges ins Absolute“, so können wir bei Rudolf Odebrecht 1942 lesen, „steht
Vgl. KGA II/10, 1, 372; Schleiermacher erörtert hier die Unzulänglichkeit von Grundsätzen an der Spitze des Systems anhand von Spinozas Begriff der Substanz, den er – ohne Hegel namentlich zu erwähnen – mit Hegels Begriff der Substanz in der Wesenslogik vergleicht. Vgl. dazu ausführlich die Historische Einführung in KGA II/10, 1. Bruno Weiß: „Untersuchungen über Friedrich Schleiermacher’s Dialektik“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 74 (1879), 36. – Außer der zitierten Stelle aus der Dialektik ist nur noch eine direkte Bezugnahme auf Hegel in Schleiermachers Heft zur Ästhetik-Vorlesung von 1819 überliefert; dort wird Hegel in einer (vermutlich späteren) Randnotiz als „Drittes Avancement“ der Ästhetik seit Kant namhaft gemacht: „Drittes bei Hegel zum absoluten Geist. Aber er tritt doch nicht ein, zerfällt in unbestimmte Vielgötterei, die Begeisterung in unfreies Pathos.“ (F.D.E. Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, hg.v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984, 3)
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Schleiermacher mit sokratischer Nüchternheit und Ironie gegenüber.“³⁴ Und bei Gunter Scholtz heißt es 1984, die Dialektik verzichte im Unterschied zu Hegel und Anderen „auf einen absoluten philosophischen Standpunkt, der von der Ebene des gemeinen und empirischen Denkens durch einen Sprung geschieden ist“, sie habe „keinen aparten Objektbereich jenseits der realen Wissenschaften“ und nehme zugleich „die Vernunft aus ihrer monologischen Selbstanalyse und Selbstkontrolle heraus.“³⁵ Abgesehen davon, ob hiermit überhaupt charakteristische Unterschiede zu Hegel bezeichnet sein könnten, enthält Schleiermachers Dialektik doch sehr viel weitergehende metaphysische Implikationen, als dass sie als ein bloßes „Bewußtsein“ der realen Wissenschaften ausgegeben werden könnte, das lediglich „die jedem wirklichen inhaltlichen Wissen zugrundeliegenden Voraussetzungen und Regeln“ enthalte. ³⁶ Nicht der fehlende Bezug auf das Absolute unterscheidet Schleiermacher von Hegel, sondern die Auffassung, dass es kein begrifflich vollziehbares Wissen des Absoluten gebe. Dies erhellt aus dem Grundriss seiner kritischen Metaphysik, wie er in der Dialektik angedeutet wird.³⁷ Über die wechselseitige Abhängigkeit beider Disziplinen heißt es in einer Nachschrift zum Kolleg 1818/19, die Metaphysik setze die Logik voraus, weil ihre Gedankenreihen auf „Gesetze über die Verbindung der Gedanken“ angewiesen seien; die „Kenntniß der Gesetze selbst“ könne jedoch wiederum nur auf der Metaphysik beruhen, da das „Richtige […] doch nur das mit dem Sein Zusammenstimmende“ sei. „Also kann die Logik nur wieder auf Metaphysik beruhen. Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen, und zwar ohne sich Rechenschaft geben zu können: warum denn das Wissen nicht erweitert werden könne.“ (KGA II/10, 2, 110) Metaphysik erscheint hier als Wissen vom Sein (und insofern ist sie für Schleiermacher durchaus Wissenschaft), in welchem Bezug die Logik selbst allererst als Wissenschaft fundiert werden kann. Der Sache nach greift Schleiermacher hier auf Kants Programm einer transzendentalen Logik in der Kritik der reinen Vernunft zurück, die ja in der Analytik
Rudolf Odebrecht: Einleitung des Herausgebers, in: F. Schleiermacher: Dialektik, Leipzig 1942, V. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 106. Ebd. – Anzumerken ist, daß Scholtz von der metaphysischen Komponente der Dialektik keineswegs absieht, in den zitierten Formulierungen jedoch das logisch-erkentnistheoretische Verfahren weitgehend für sich stellt. Vgl. hierzu ausführlicher vom Verf.: „Die Metaphysik der ‚Dialektik‘“, in: Schleiermachers „Dialektik“. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg.v. Ch. Helmer, Ch. Kranich und B. Rehme-Iffert, Tübingen 2003, 135– 149.
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die vormalige metaphysica generalis (Ontologie) thematisiert, in der Dialektik die vormalige metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie). Im Unterschied zu Kant vertritt Schleiermacher jedoch in Bezug auf die Erfahrung einen stärkeren Realismus, der sich in der These einer durchgängigen Entsprechung von Denken und Sein manifestiert. Mit Kant jedoch bestreitet Schleiermacher die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkenntnis der Vernunftgegenstände, auch wenn er diesen – ungeachtet ihrer Nicht-Wissbarkeit – eine konstitutive und keineswegs nur regulative Funktion für das Wissen zuschreibt. Auch der Aufbau des transzendentalen Teils der Dialektik lehnt sich offenkundig an Kant an: parallel zur Kantischen Analytik wird zunächst in der Theorie des Begriffs und des Urteils, welche sich auf das wissbare Sein bezieht, die Ontologie thematisiert, sodann kommen mit der Präsenz des transzendentalen Grundes im (unmittelbaren) Selbstbewusstsein und mit den Ideen der Welt und Gottes die traditionellen Vernunftgegenstände ins Spiel. Hierbei erfolgt eine tiefgreifende Revision, sofern Schleiermacher der rationalen Psychologie – der Theorie des Selbstbewusstseins – als Innewerden des transzendentalen Grundes einen systematischen Primat zuspricht. Sie subsumiert auch die Ontologie, „weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.“ (KGA II/10, 1, 152 f., § 228) Gegenstand der rationalen Psychologie ist „die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.“ (Ebd.) Auch Kosmologie und Theologie werden somit der rationalen Psychologie zugeordnet. Im Unterschied zu Hegel entwirft Schleiermacher keine Metaphysik des Absoluten in dem Sinne, dass sich das Wissen als absolutes begründen ließe. Schleiermachers Dialektik stellt kein Wissen um die Gründe des Wissens dar und will somit keine umfassende Wissenschaft des Wissens begründen. In seiner späten, fragmentarisch gebliebenen Einleitung zur Dialektik konstatiert Schleiermacher ausdrücklich das Scheitern aller Versuche, eine „Wissenschaft des Wissens“ aufzustellen, in der Hoffnung, dadurch den Streit zwischen den philosophischen Systemen zu beenden. In dieser Situation komme es darauf an, „eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen“. (KGA II/10, 1, 372) Die Dialektik ist demnach für Schleiermacher eine Theorie des Streits oder der Gesprächsführung auf dem Gebiet des reinen Denkens mit dem Ziel, ein streitfreies Denken zu entwickeln. Ihr Ausgangspunkt ist die Anerkennung einer Pluralität philosophischer Positionen, die einander prinzipiell widersprechen, deren Streit sich aber (noch) nicht prinzipiell zum Austrag bringen lässt. Schleiermachers Dialektik reagiert damit auf die um 1800 einander in rascher Folge einander ablösenden Systementwürfe der Klassischen Deutschen Philosophie, die vielfach
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den Abschluss des philosophischen Wissens proklamierten. Die Anerkennung der Pluralität bedeutet jedoch keine Beliebigkeit philosophischer Positionen. Die Perspektive der Einheit des Wissens ist der Dialektik ebenso vorgegeben wie die Anerkennung des Streites um die Prinzipien als Ausgangspunkt. Zur Sicherung dieser Perspektive greift Schleiermacher auf subjektivitätstheoretisch transformierte metaphysische Bestände zurück, die er als Minimalvoraussetzungen eines auf Wissen zielenden Prozesses in Anspruch nimmt und mit Aussicht auf allgemeine Zustimmung rechtfertigen zu können meint. In diesem Sinne wurde Schleiermachers Dialektik auch im Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie rezipiert. Adolf Trendelenburg etwa, der unter ihrem Einfluss eine erkenntnistheoretisch-logische Wende in der Wissenschaftstheorie herbeiführen wollte und die logische Hegel-Kritik des 19.Jahrhunderts prägte, hat Schleiermacher nicht als metaphysikfreien Denker, sondern eher als den – gegenüber Hegel – besseren Metaphysiker ins Spiel gebracht. In der kurzen Periode zwischen dem Tod Hegels und dem durch Feuerbach herbeigeführten Bruch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, die Klaus-Christian Köhnke in seiner Studie zur Entstehung des Neukantianismus ausgeleuchtet hat,³⁸ war Schleiermachers Dialektik auf dem Höhepunkt ihrer philosophischen Wirkung, und zwar nicht trotz, sondern wegen ihrer metaphysischen Implikationen, die eine Art Minimalkonsens des bereits erschütterten metaphysischen Bewusstseins ausdrückten. Erst in den angeblich ‚nachmetaphysischen‘ Zeiten seit dem späteren 19. Jahrhundert hat sich die Diskussionslage dramatisch verändert. Für Friedrich Nietzsche war Schleiermacher zum Synonym für eine ganze, aus seiner Sicht abgelebte Epoche der deutschen Philosophie geworden: „Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntniss mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur ‚unbewusste‘ Falschmünzer hervorgebracht ( – Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher gebührt dies Wort so gut wie Kant und Leibniz, es sind Alles blosse Schleiermacher – )“³⁹ Weder ist die Dialektik überhaupt als (technisches) Rezeptbuch für die Konstruktion eines metaphysikfreien philosophischen Wissens zu gebrauchen, noch wird Schleiermachers kritische Metaphysik heute einfach affirmiert werden können. Vielleicht aber kann sie – ebenso wie Hegels Wissenschaft der Logik und in Konfrontation mit ihr – dazu
Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/Main 1986, Teil 1. Vgl. auch die ausführliche Darstellung der Rezeption und Wirkung der Dialektik bei Ingolf Hübner: Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schleiermachers Dialektik, Berlin und New York 1997, 204 ff. Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg.v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 6, München, Berlin und New York 1980, 361.
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beitragen, darüber nachzudenken, ob die Philosophie wirklich so metaphysikfrei verfahren kann, wie sie es oft vorgibt, oder ob sie nicht implizite metaphysische Annahmen auch zu reflektieren hat, wenn sie nicht blind sein soll gegenüber ihren eigenen Voraussetzungen. Ob hierfür Schleiermachers Programm hinreicht oder ob sie dafür eines sehr viel weiter gehenden Programms in Anlehnung an Hegels Wissenschaft der Logik bedarf, ist eine systematische Frage, die im vergleichenden Blick auf Schleiermacher und Hegel zur Beantwortung ansteht.
4 Mehr als Gefühl. Logik und Metaphysik bei Schleiermacher und Hegel (1) Schleiermacher und Hegel gehören zweifellos zu den herausragendsten Gestalten in der philosophischen Tradition der 1810 gegründeten Berliner Universität. Dass sie sich nicht immer grün waren, ist bekannt, und auch, dass Schleiermacher der von Hegel offenbar gesuchten Auseinandersetzung aus dem Weg ging. An der Philosophischen Fakultät, wo Schleiermacher als Akademiemitglied regelmäßig philosophische Vorlesungen hielt, lehrten beide seit dem Winter 1818 nebeneinander – und beide durchaus mit großem Erfolg – auch, was die Hörerzahlen betraf.¹ An der Theologischen Fakultät war Hegels Lehre durch Philipp Konrad Marheineke vertreten, der zugleich Schleiermachers Kollege im Pfarramt an der Dreifaltigkeitskirche war. Hier, auf Schleiermachers eigenem Terrain, der theologischen Dogmatik, ging Hegel 1822 mit der Vorrede zur Religionsphilosophie seines Schülers Hermann Wilhelm Friedrich Hinrichs zum Angriff über. Ohne einen objektiven Inhalt des Glaubens könne es nur noch Religion, aber keine Theologie geben.² Schleiermachers Berufung auf die Subjektivität des Gefühls in der Glaubenslehre stehe damit im Widerspruch zu dem, was eine Glaubenslehre in Wahrheit sein müsse. Solle aber das Gefühl die Grundlage der Religion sein, so werde der Mensch „dem Tiere gleichgesetzt“, so dass schließlich „der Hund der beste Christ“ sei.³ Die scharfe Polemik Hegels sollte jedoch nicht dazu führen, die Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen Schleiermacher und Hegel auf dem Gebiet der Philosophie zu übersehen. Diese sind bisher noch kaum herausgearbeitet worden.⁴ Es geht also um mehr als Schleiermachers Konzept von ‚Gefühl‘ und im Blick auf dieses Konzept darum, allererst die Grundlage und damit den Einsatzpunkt der Berufung bzw. Nichtberufung auf ein ‚Gefühl‘ zu bestimmen. (2) Ich beginne mit einem Prolog, der im oder zumindest nahe dem Paradies spielt. Dazu muss man wissen, dass das Paradies noch heutigentags gut erreichbar ist
Vgl. zu den (tatsächlichen) Hörerzahlen Wolfgang Virmond: Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810 – 1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, Berlin 2011. G.W.F. Hegel: Berliner Schriften (1818 – 1831), hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1997, 70. Ebd., 77 f. Walter Jaeschke: „Schleiermacher und Hegel. Neue Ausgaben und alte Fragen“, in: HegelStudien 23 (1988), 327– 341; vgl. auch oben: „Schleiermacher und Hegel“.
4 Mehr als Gefühl. Logik und Metaphysik bei Schleiermacher und Hegel
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und sogar über einen Bahnhof verfügt: die Station Jena-Paradies. In Jena, wo er seit 1798 lehrte, hatte Schelling – wohl durch Friedrich Schlegel mit veranlasst – sich wiederholt mit Schleiermachers Reden über die Religion auseinandergesetzt. In unmittelbarer Reaktion auf die Reden, die er zunächst als Symptom einer auch bei Novalis sichtbar werdenden schwärmerisch-religiösen Wende der Frühromantik ansah, verfasste er 1799 ein Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Wiederporsts, das diese Wende in Knittelversen verspottete.⁵ Im Juni 1801 studierte Schelling die Reden erneut und kam zu einem ganz anderen Urteil. „Sie wißen,“, so heißt es in einem Brief an August Wilhelm Schlegel, „wie es mir, aus einer unverzeihlichen Nachlæßigkeit oder Trägheit damit ergangen war. – Ich ehre jetzt den Verf[asser] als einen Geist, den man nur auf der ganz gleichen Linie mit den ersten Original-Philosophen betrachten kann.“⁶ Schellings Wertschätzung ging so weit, dass er – über August Wilhelm Schlegel – bei Schleiermacher anfragen ließ, ob dieser nicht für das gemeinsam mit Hegel geplante Kritische Journal der Philosophie, das seit 1802 erscheinen sollte, eine Abhandlung zu Jacobi beisteuern wolle: „Es würde uns nicht nur unsres Journals, sondern der Sache selbst wegen sehr wichtig seyn; denn von S[chleiermacher] læßt sich über Jacobi etwas ganz Eigenes erwarten. Die beiderseitigen Individualitäten mögen einen besondern Berührungspunct bilden.“⁷ Schleiermacher ist hierauf nicht eingegangen, wohl aufgrund seiner eher idiosynkratischen Abneigungen gegenüber Schelling. Die Aufgabe der Auseinandersetzung mit Jacobi übernahm dann Hegel mit seinem Aufsatz über Glauben und Wissen (1802), in dem dann ironischerweise Schleiermachers Reden zur höchsten Potenzierung der Jacobischen Philosophie erklärt wurden. Für Schleiermacher war Hegel umgekehrt nicht mehr als ein Nachbeter Schellings und ein warnendes Beispiel dafür, wohin die „Jüngersucht“ führe, von der er frei bleiben wolle: „Die Sklaverei scheint mir von beiden Seiten gleich arg zu sein. Man sehe nur wie sich Schelling behängt mit dem Hegel“. (KGA V/7, 122) Nachdem Schlei-
Das Gedicht wurde erst postum veröffentlicht; die für den Druck im Athenaeum der Brüder Schlegel bestimmte Fassung befindet sich im Schleiermacher-Nachlaß und wurde 1994 von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond veröffentlicht in: Der Streit um die Religionsphilosophie und spekulative Theologie Göttlichen Dinge (1799 – 1812). Quellenband, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1994, 21– 31. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe, Bd. 2. Briefwechsel 1800 – 1802, 2 Teilbände, hg.v. Th. Kisser unter Mitwirkung von W. Schieche und A. Wieshuber, Stuttgart 2010, 355 f. – Als Zeichen seiner Wertschätzung hatte sich Schelling sein Exemplar der Reden 1801 „wie ein wahrhaft geistliches Buch in schwarzen Corduan mit goldnem Schnitt binden lassen“ (von A.W. Schlegel, 7.9.1801, KGA V/5, 194). Schelling: Briefe, Bd. 2, Stuttgart 2010, 388; Brief vom 10.12.1801. – Vgl. den Editorischen Bericht in GW 4, 535 sowie die Historische Einführung in KGA V/5, XXVI.
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ermacher u. a. Hegels Habilitationsschrift über die Planetenbahnen und die Differenzschrift studiert und in seinen Notizen kritisiert hatte,⁸ schien er genug zu haben: Hegel verschwand bis 1816 aus Schleiermachers Blickfeld, also bis genau zu dem Zeitpunkt, als Hegel den ersten Ruf an die Berliner Universität erhielt, den er aufgrund seiner bereits erfolgten Zusage in Heidelberg nicht annehmen konnte. Das Jenaer Vorspiel ist symptomatisch für das Verhältnis beider Denker: sie nehmen sich eher oberflächlich zur Kenntnis, Hegel polemisiert öffentlich, Schleiermacher schweigt. Das Jenaer Vorspiel zeigt aber noch mehr. Zumindest für Schelling – neben Fichte damals der einflussreichste Protagonist der nachkantischen Philosophie – war Schleiermacher kein philosophischer Exot, sondern ein gesuchter und gleichberechtigter Gesprächspartner. Man kann sich leicht ausmalen, welche Folgen es für die philosophische Wahrnehmung Schleiermachers gehabt hätte, wenn er auf Schellings Angebot eingegangen wäre und wir heute vom Kritischen Journal Schellings, Hegels und Schleiermachers sprechen würden. (3) Schleiermachers Vorlesungen über die Dialektik, die er seit 1811 an der Berliner Universität hält, entwickeln im Wesentlichen ein Gegenmodell zur Fichteschen Wissenschaftslehre.⁹ Hegel spielt in der Herausbildung und Weiterentwicklung dieser Konzeption gar keine Rolle. Nicht zuletzt wegen des Reizwortes ‚Dialektik‘ sahen aber schon etliche Zeitgenossen in ihr ein Alternativprogramm zur Hegelschen Wissenschaft der Logik. Unstrittig konkurrieren Schleiermachers und Hegels Konzeptionen aufgrund gewichtiger sachlicher Unterschiede, aber es sind Unterschiede auf einem sehr weiten Feld von gemeinsamen Problemlagen, die durch die nachkantische Philosophie eröffnet wurden. Und jedenfalls liegt der Unterschied nicht dort, wo er gern plakativ festgemacht wird: hier Idealismus (Hegel) – dort nachidealistisches Denken (Schleiermacher). Beide nämlich sind sich darin einig, dass die Aufgabe gerade darin bestehe, die Alternative von Idealismus und Realismus zu überwinden. Wir werden sehen, dass ihre Konzeptionen gerade an der unterschiedlichen Art und Weise auseinandergehen, wie sie diese Aufgabe lösen.¹⁰ Die grundlegende Gemeinsamkeit beider Konzeptionen hatte zuerst Schleiermachers Schüler und späterer Nachfolger August Twesten erkannt, nämlich das Programm einer logisch-spekulativen Begründung der Wissenschaftslehre. In seiner 1825 erschienenen Logik gab er der Hoffnung Ausdruck, dass die Wissenschaftslehren „nicht bloß die transzendentalphilosophische sondern auch die Zur Differenzschrift vgl. die Notizen in KGA I/3, 296 f. (Nr. 58); zur Habilitationsschrift ebd., 304, Nr. 80. Vgl. die Historische Einführung in KGA II/10, 1. Vgl. oben „Dialektik und Transzendentalphilosophie“.
4 Mehr als Gefühl. Logik und Metaphysik bei Schleiermacher und Hegel
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logische Richtung nähmen“;¹¹ eine solche umfassende, logisch ausgerichtete Wissenschaftstheorie würde „Schleiermachers Dialektik seyn“,¹² der Twesten den Vorzug vor Hegel gab. Dieses Programm wurde in der Philosophie des späteren 19. Jahrhunderts vielfach aufgenommen,¹³ jedoch ohne das von Twesten als spekulativ bezeichnete Element. Wilhelm Dilthey, der in Schleiermachers Dialektik „die erste erkenntnistheoretische Logik“ erblickte,¹⁴ wollte sie als solche nur gelten lassen, wenn alle seiner Auffassung nach vorkritisch-metaphysischen, auf Platon zurückgehenden Auffassungen einer Abbildung des Seins im Denken aus ihr getilgt seien.¹⁵ Solche Flucht vor der Metaphysik will jedoch, so scheint mir, nur vordergründig zurück zu Kant, sofern Kant selbst dabei weitgehend ohne sein Programm einer Erneuerung der Metaphysik gelesen und von den Abgründen der transzendentalen Dialektik befreit wird, die ein metaphysisches Ausgreifen auf ein Unbedingtes als unabweisbar ansieht. Schleiermacher und Hegel und ihre gemeinsame Problemlage sind so jedenfalls nicht zu verstehen. Beide konzipieren ihre grundlegenden Disziplinen – die Dialektik bzw. die Wissenschaft der Logik – im kritischen Rückbezug auf Kant als Einheit von Logik und Metaphysik. So heißt es in Schleiermachers Entwurf zur Dialektik-Vorlesung 1814/15: „Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcendentale Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische.“ (KGA II/10, 1, 77, § 16) Und bei Hegel heißt es im § 18 der Enzyklopädie von 1817: „Die Logik, in der wesentlichen Bedeutung speculativer Philosophie, tritt an die Stelle dessen, was sonst Metaphysik genannt wurde. Die Natur des Logischen […] erhält seine nähere vorläufige Aufklärung aus der Natur
August Twesten: Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825, XXXVIII. Ebd., XXXIX; vgl. auch den Brief an Schleiermacher vom 20.7.1819: „was namentlich Hegel betrifft, so müssen ihm die logischen Formen entweder mehr, oder sie können ihm auch das nicht bedeuten, was sie ihm bedeuten. Was für ein ganz anderer Geist ist doch in Ihrer Dialektik als in dieser Logik! oder sollte ich doch das Rechte darin nur nicht gesehen haben? Finden Sie wirklich etwas darin? ein College hier, Berger, ist sehr davon entzückt; aber noch soll ich das erste verständliche Wort von ihm hören, wodurch dieses Entzücken gerechtfertigt würde.“ (C.F. Georg Heinrici: Twesten, Berlin 1889, 347) Schleiermacher hat sich auch zu dieser Anfrage nicht geäußert. Vgl. Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/Main 1986, Teil 1. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, hg.v. M. Redeker, Bd. 2, 1: Schleiermachers System der Philosophie und Theologie, Berlin 1966 (Gesammelte Schriften 14, 1), 157; vgl. Gunter Scholtz: „Schleiermachers Dialektik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik“, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), 171– 189. Vgl. W. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, 1, a.a.O. (Anm. 14), 158.
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der Metaphysik und dann der kritischen Philosophie, durch welche die Metaphysik ihre Endschaft erreicht hat.“¹⁶ Bei diesem Programm ist selbstverständlich nicht von der gewöhnlichen, aristotelisch geprägten formalen Logik die Rede, denn diese hätte zu metaphysischen Fragen inhaltlich gar nichts beizutragen, sondern nur vor Argumentationsfehlern zu schützen; eine – wie auch immer geartete – Einheit von Logik und Metaphysik kann auf dieser Basis nicht begründet werden. Bereits in seiner ersten Dialektik-Vorlesung 1811 betont Schleiermacher das Unzureichende der „gewöhnliche[n] Logik“: sie könne „höchstens Anleitung geben, einen einzelnen Gedanken zu untersuchen, aber nicht um von einem ein Wissen zu machen. Dazu bedarf es einer Regel des Fortschreitens.“ (KGA II/10, 2, 52) Und weiter: „Die Logik ist nur für das Gebiet des fragmentarischen Wissens gemacht, worin man sich über gewisse Dinge schon versteht. […] Die bisherige Logik darf uns daher nicht irren.“ (KGA II/10, 2, 54) Auch Hegel ist der Auffassung, dass die Ansicht, „daß das Logische nur formell sei und von allem Inhalt vielmehr abstrahiere“, nur „eine leere, bestimmungslose Form“ und nicht wahrheitsfähig sei, da Wahrheit auf der Übereinstimmung des Begriffs mit dem Inhalt beruhe.¹⁷ Hegels Bemerkung steht im Kontext einer Auseinandersetzung mit den einleitenden Abschnitten zur transzendentalen Logik in Kants Kritik der reinen Vernunft. Diese Kantische Konzeption einer transzendentalen Logik steht offenbar bei Schleiermacher und Hegel im Hintergrund, wenn sie Logik und Metaphysik verbinden wollen. Der entscheidende Unterschied der transzendentalen zur formalen Logik besteht bekanntlich darin, dass erstere nicht wie letztere von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, sondern nur von bestimmten empirischen Inhalten, indem sie es „bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird“.¹⁸ Dies ermöglicht allererst die Thematisierung metaphysischer Gegenstände in ihrem Rahmen, wobei jedoch für Kant vorausgesetzt wird, dass jeder Inhalt in der Erfahrung als Anschauung gegeben sein muss, weshalb sie zugleich zur Kritik der objektiven Geltungsansprüche der traditionellen Metaphysik gerät. Die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik als die beiden Bestandteile der transzendentalen Logik behandeln demgemäß Themen der vormaligen metaphysica generalis oder Ontologie – dies geschieht in der Analytik – bzw. der metapysica specialis mit den Vernunftgegenständen Gott, Welt und Seele – dies geschieht in der transzendentalen Dialektik. Während die transzendentale Dialektik zu dem
GW 13, 26. Vgl. GW 12, 26 f. KrV B, 81.
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Ergebnis kommt, dass eine objektiv gültige Erkenntnis des Unbedingten scheitert, entwickelt die Analytik Denkbestimmungen, mit denen wir Objektivität konstituieren. Dabei besteht jedoch für Kant nicht mehr die Anmaßung, „von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben“, vielmehr geht es darum, die Denkbestimmungen subjektiv als unsere Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt zu erweisen: die Ontologie müsse daher ihren stolzen Namen aufgeben und dem „bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen“.¹⁹ (4) Bei aller Nähe zu Kants Programm einer transzendentalen Logik geben sowohl Hegel als auch Schleiermacher diesem Programm eine andere Richtung. Beide kritisieren, dass den Denkbestimmungen nur subjektive Bedeutung für unsere Erkenntnisart der „Dinge“ zukommt, sie selbst aber keine objektive Bedeutung haben sollen. Bei Hegel heißt es in der Einleitung zum ersten Band der Wissenschaft der Logik (Seinslogik 1812): „Die kritische Philosophie machte zwar bereits die Metaphysik zur Logik, aber sie, wie der spätere Idealismus, gab […] zugleich aus Angst vor dem Objekt den logischen Bestimmungen eine wesentlich subjektive Bedeutung“, – mit der Konsequenz, dass sie sich als „Rest“ der vormaligen Metaphysik ein „Ding-an sich“ einhandelte.²⁰ Hegels Wendung gegen die bloße Subjektivität der Denkbestimmungen zielt demnach auf eine Radikalisierung der Kantischen Metaphysikkritik und nicht auf eine Restitution der vormaligen Metaphysik. Auch Schleiermacher behauptet, „Kants Polemik gegen die ehemalige Metaphysik“ sei „durch Mißverständnisse“ verunreinigt. (KGA II/10, 1, 153) Er zielt dabei auf denselben Punkt wie Hegel. Die „Idee der Gottheit“ als der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns könne nicht nur regulativ sein, d. h. „Princip des formalen“ – also unserer Form der Konstitution von Objektivität im Erkennen – sondern sie müsse zugleich konstitutiv sein, nämlich unser Sein konstituierend. Dahinter steht die Auffassung, es komme beim Wissen, welches auf Wahrheit des Erkennens zielt, nicht auf einen Inhalt überhaupt, sondern auf die Übereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten an, und diese Übereinstimmung habe der transzendentale Grund zu sichern. Auch Schleiermacher wendet sich demnach gegen die bloße Subjektivität der Denkbestimmungen und spricht ihnen selbst objektive Bedeutung zu. Wenn er gleichwohl auf die Konstitution unseres Seins (und nicht des Seins überhaupt) abhebt, dann deshalb, weil unser Sein, wie es uns im reflektierten Selbstbewusstsein gegeben ist, der aus-
KrV B, 303. GW 11, 22.
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gezeichnete Ort der Wissens- und Handlungsvollzüge ist, in denen wir nach Schleiermachers Auffassung schon immer die Zusammengehörigkeit von Denken und Sein (und damit die Objektivität der Denkbestimmungen) voraussetzen.²¹ Hegel knüpft in seiner Wissenschaft der Logik an dem Resultat der Phänomenologie des Geistes an, wonach das Bewusstsein sich von seinem Gegensatz, der objektiven Welt, befreit habe. Dies ist nicht so zu verstehen, dass die objektive Welt in das Bewusstsein zurückgenommen werde. Die Einsicht des Bewusstseins besteht vielmehr darin, dass es nicht einer Welt abstrakt gegenübersteht, sondern mit ihr schon immer auf eine nicht äußerliche Weise vermittelt ist. Der Ort dieser Vermittlung ist der Begriff, dessen Entwicklung und Selbsterfassung den Inhalt der Wissenschaft der Logik ausmacht.²² Der Begriff ist die Einheit des Subjektiven und der objektiven Welt in dem Sinne, dass er als Denkbestimmung zugleich objektive Existenz hat. Dies, so erläutert Hegel diesen auf den ersten Blick befremdlichen Gedanken, werde schon zugegeben, „insofern gesagt wird, daß Verstand, daß Vernunft in der gegenständlichen Welt ist, daß der Geist und die Natur Gesetze haben, nach welchen ihr Leben und ihre Veränderungen sich machen“.²³ Für die Metaphysik bedeutet dies, dass die Bestimmungen des Seins, welche die vormalige Metaphysik denkend zu erschließen versuchte, als Denkbestimmungen zu erweisen und zu reformulieren sind. Diese kritische Darstellung der Metaphysik vollzieht Hegel im ersten Band der Logik, der objektiven Logik, d. h. den Büchern über das Sein und über das Wesen. Indem gezeigt wird, dass die Bestimmungen des Seins sich nicht als solche festhalten lassen, wie es in der Seinslogik geschieht, besteht das Wesen vielmehr in einer „Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“.“²⁴ Das besagt vor allem, dass die Bestimmungen des Seins keinen ontologischen Status beanspruchen können und insofern „Nichts“ sind; aber auch das Wesen ist als die Bewegung von Nichts zu Nichts nicht mehr unter der Voraussetzung von Seinsbestimmungen zu betrachten. So erweist sich das Wesen als Genese des Begriffs, dessen Entwicklung den Inhalt des zweiten Bandes bzw. dritten Buchs der Logik, der subjektiven Logik bzw. Im reflektierten Selbstbewusstsein ist uns dreierlei gegeben: (1) „daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider“, (2) dass „das Wissen selbst […] uns […] nur im Sein gegeben“ sei, „aber als ein von ihm verschiedenes“, und (3), dass „ein gegenseitiges Werden“ von Denken und Sein „durch einander in der Reflexion und im Willen gegeben“ sei und niemand glauben könne, „daß beide beziehungslos neben einander hingehen“. (KGA II/10, 1, 93) Vgl. Georg Sans: Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre, Berlin 2004. GW 11, 22. Ebd., 250.
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der Lehre vom Begriff bildet. Subjektiv ist diese Logik, sofern der Begriff sich selbst zu seinem Inhalt und in der Übereinstimmung der Begriffsform mit diesem Inhalt objektive Bedeutung und Wahrheit hat. Eine Restitution vormaliger Metaphysik bedeutet auch dies nicht, und deshalb ist es z. B. auch sinnlos, nach dem metaphysischen Status des Begriffs oder der absoluten Idee zu fragen: die Logik ersetzt Metaphysik, aber restituiert sie nicht. Dies gilt auch für Schleiermacher, sofern er die vormalige Metaphysik gerade deshalb verabschiedet, weil sie sich nicht unter der Form der Logik verstanden und begründet habe. In den Notizen zur Dialektik-Vorlesung 1818/19 heißt es: „Identität von Logik und Metaphysik unter der Form der Logik“. (KGA II/10, 1, 211) Dies bedeutet, dass wir es in der Dialektik zunächst mit Denkbestimmungen zu tun haben. Die Dialektik ist „das System der Anweisungen, nach welchen das Denken erzeugt wird“; d. h. aber, sie fragt zugleich danach, „wie wir überhaupt zu einem Wissen auf dem realen Gebiet in uns kommen“. (KGA II/10, 1, 125) Hierbei kommt es im Blick auf die logische Form auf das „in uns“ an. Entsprechend sind die transzendentallogischen Formen in ihrer metaphysischen Bedeutung nichts anderes als die Denkformen, unter denen wir ein Wissen vollziehen. Damit diese Denkformen aber ein Wissen sind, müssen sie zugleich auch objektive Bedeutung haben, d. h.: sie müssen einem Sein entsprechen. In dieser Hinsicht ist die Logik dann zugleich Metaphysik, d. h. die metaphysische Bedeutung der logischen Formen hängt an dem Begriff des Wissens. Hierzu heißt es in der Dialektik-Vorlesung 1818/19: „die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhanges zwischen dem Denken und Sein überhaupt ist die sogenannte Metaphysik.“ (KGA II/10, 1, 110) Da Wissen Beziehung des Denkens auf das Sein ist, bilden Denken und Sein bzw. Ideales und Reales für das Wissen einen unhintergehbaren „höchsten Gegensaz“, der als Denkgrenze nach „oben“ anzusehen und für Schleiermacher auf ein ungeteiltes Sein zurückzuführen ist, „welches ihn und mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt“; dies ist die „Idee des Seins“ als Idee einer nichtrelationalen Identität. (KGA II/10, 1, 101) Da alles Denken und Wissen jedoch relational verfasst ist, bedeutet dies notwendig, dass die Idee des Seins nicht gewusst werden kann; das Wissen ist auf den Bereich der Entgegensetzung beschränkt. Als solches steht es unter den Formen des Begriffs und des Urteils.²⁵ Die Grenzen des Begriffs und des Urteils markieren die Grenzen des Wissens. Der Syllogismus dagegen wird von Schleiermacher nicht als eine eigenständige logi-
Der Schluss gilt Schleiermacher, anders als in der traditionellen formalen Logik, nicht als eine eigenständige Form, sondern nur als Kombination von Urteilen; hierzu vgl. Friedrich Ueberweg: System der Logik und Geschichte der logischen Lehren, Bonn 41882, 61– 63.
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sche Form anerkannt, sondern nur als eine Komplexion von Urteilen im Sinne eines abgeleiteten Wissens, dessen Gehalt allein in den Urteilen liegt.²⁶ Wie in der Analytik von Kants Kritik der reinen Vernunft wird der Bereich des objektiv gültigen Wissens auf Begriff und Urteil beschränkt; der Schluss jedoch, der in Kants transzendentaler Dialektik der vergeblich auf das Unbedingte ausgreifenden Vernunft zugehört, hat bei Schleiermacher keine eigenständige Bedeutung mehr. An die Stelle des Schlusses und der transzendentalen Dialektik insgesamt muss daher etwas Anderes treten, um die Idee des Seins als den im Wissen in Anspruch genommenen Grund der Einheit von Denken und Sein plausibel zu machen. Dies ist das Selbstbewusstsein, das auf eine noch zu erörternde Weise mit ‚Gefühl‘ verknüpft und als Analogon des transzendentalen Grundes, der Idee Gottes, verstanden wird. Bevor ich dazu und damit doch noch zum ‚Gefühl‘ komme, ist anzugeben, welche Konsequenzen Schleiermachers Auffassung für die Kritik der vormaligen Metaphysik hat. Sie wird, kurz gesagt, in eine Art transzendentale Psychologie transformiert, nämlich subjektivitätstheoretisch im Selbstbewusstsein fundiert. Als Nachfolgerin der rationalen Psychologie fasst sie nicht nur die Ontologie unter sich, „weil uns nur in der Grundbedingung unseres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist.“ (KGA II/10, 1, 153, § 228) Inhalt der Psychologie ist ferner „die Entwiklung der Idee des Wissens und der Idee des Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen.“ (KGA II/10, 1, 152 f.) (5) Schleiermachers kritische Darstellung der Metaphysik basiert auf einer Theorie der Subjektivität, die das Ich wohl an ein Absolutes bindet, aber nicht – wie der Fichte der frühen Wissenschaftslehre – an ein absolutes Ich. In der ersten Dialektik-Vorlesung 1811 betrachtet Schleiermacher „uns“, die empirischen Subjekte, „in der Identität unseres Seins und unseres Begriffs“ – des Selbstbewusstseins also – als „ein Bild der Gottheit“ oder des Absoluten; als nur mit unserem Selbstbewusstsein gegeben sei aber unsere Auffassung des Absoluten notwendig inadäquat (KGA II/10, 1, 37). Gleiches gelte vom religiösen Gefühl, welche niemals „reines Gefühl der Gottheit an sich, sondern zugleich mit dem Selbstbewußtseyn“ sei (KGA II/10, 2, 28). Eine Gleichsetzung von Selbstbewusstsein und Gefühl findet hier (noch) nicht statt und auch von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein ist (noch) nicht die Rede. Wodurch aber können wir uns bewusst werden, dass unser
Vgl KGA II/10, 1, 102 und KGA II/10, 2, 167 f. – Ueberwegs Behauptung, Schleiermacher spreche dem Syllogismus im technischen Teil durchaus Bedeutung zu, trifft nicht zu (vgl. Ueberweg: System der Logik, 63; KGA II/10, 1, 194).
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Selbstbewusstsein in Analogie zur Einheit von Denken und Sein im Absoluten steht? Und woher nehmen wir die Gewissheit, dass es sich tatsächlich so verhält? Die Antwort, die Schleiermacher 1811 gibt, unterscheidet sich von den späteren Antworten. Wir haben, so schreibt er, den Begriff des Absoluten „nur als gemeinsames formales Element aller Acte des Erkennens“ (KGA II/10, 1, 43), nämlich als Begriff derjenigen Identität, die allen Erkenntnisakten zugrundeliegt, sofern wir mit ihnen ein Wissen erstreben. Es sei ein leerer, nur formaler Begriff, da ihm der Anschauungsgehalt fehle. Dieser wäre nur durch die „Totalität aller Erkenntniß des endlichen einzelnen“ zu gewinnen, also in der „Vervollständigung der realen Wissenschaften“, in welcher wir – wenn auch in unendlicher Annäherung – eine „lebendige Anschauung der Gottheit“ herausbilden (KGA II/10, 1, 43). Nur die reale Wissenschaft, so heißt es an entsprechender Stelle in der Vorlesungsnachschrift, führe „zu einer vollständigen Einsicht des höchsten Wesens“: „Für den, der dis nicht kann, giebt es einen Ersatz im Gefühl“. (KGA II/10, 2, 28) Das Gefühl ist hier nur ein Supplement des totalisierenden Verfahrens, aber keineswegs der Ort der Gewissheit oder des „Habens“ des Absoluten.²⁷ Was das Gefühl intendiert, ein systematisches Ganzes, erfüllt sich nur in der Anschauung der Totalität: das Absolute steht unter der „Form der Identität“, „welche aber die Fülle der Gegensäze unter sich und in sich begreift.“ (KGA II/10, 1, 49) Die Analogie zu dem – in diesem Falle reflektierten – Selbstbewusstsein besteht demnach darin, dass ich mich selbst als eine in sich unterschiedene Totalität verstehe, in deren Selbstbezug Gegensätze unter die Form der Identität gebracht werden. Mehr noch: Das einzelne, selbstbewusste Individuum versteht sich zugleich als Moment eines systematischen Ganzen, so dass es die Selbstanschauung zur Anschauung des Universums erweitert. Diese Figur der totalisierenden Anschauung hat Schleiermacher in seiner Hallenser Ethik an die Stelle einer Grundsatzphilosophie, also einer Wissenschaftslehre als oberster Wissenschaft, gesetzt, für welche seit 1811 die Dialektik eintritt. Ich zitiere aus der unveröffentlichten Nachschrift Köpke zur Vorlesung 1805/06: „Wir gehen hier durchaus von keinem ersten Grundsatz aus, […] sondern von der unmittelbaren Anschauung des gesamten Menschen. Wir erhalten ihn von der theoretischen Philosophie oder besser von der Naturphilosophie welche sich bestrebt von einzelnen ausgehend zur Anschauung des Universums fortzuschreiten und wiederum von dieser aus das Einzelne in allen seinen Modifikationen und tausendfachen Beziehungen anzuschaun.“ Auch, wenn es hier darum geht, das Ganze der Philosophie in der Einheit der Realwissenschaften Physik (Naturphilosophie) und
Dieser Aspekt wird in der Literatur nahezu durchgängig übersehen; vgl. z. B. Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974, 139.
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Ethik zu fundieren, ist dieses Verfahren weniger von Schellings Identitätssystem erborgt, als vielmehr an Friedrich Schlegels Methode des „Totalisierens von unten herauf“ orientiert, dessen Konzeption von Dialektik einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für Schleiermachers Dialektik darstellte.²⁸ In der zweiten Dialektik-Vorlesung 1814/15 tritt an die Stelle der vom Selbstbewusstsein ausgehenden totalisierenden Anschauung das „Haben“ des transzendentalen Grundes im Gefühl, wobei jedoch der Einsatzpunkt – wie auch in den folgenden Vorlesungen – das Verhältnis des „Physischen“ und „Ethischen“, also die Einheit der Realwissenschaften, bleibt. Das Gefühl wird bestimmt als „relative Identität des Denkens und Wollens“; es ist „im Wechsel als das lezte Ende des Denkens auch das erste des Wollens“ (KGA II/10, 1, 142 f.), wobei mit diesem Gefühl zugleich ein „Gefühl von Gott“ verbunden ist, d. h. des transzendentalen Grundes als einer absoluten, die Einheit des Idealen und Realen verbürgenden Identität. Diese bleibt aber auch hier ein leerer Begriff oder – wie Schleiermacher sagt – ein „Schema“, das im Gebiet des Gegensatzes – der Realwissenschaften also – lebendig gemacht werden müsse (KGA II/10, 1, 145). Anders als 1811 wird hier das Gefühl zur Grundlage der Anschauung gemacht und diese Anschauung nicht mehr auf das Absolute selbst – die Idee Gottes –, sondern auf die Idee der Welt bezogen, welche jetzt als in sich gegensätzliche Einheit der nichtrelationalen Identität der Gottesidee gegenübersteht.²⁹ Die Vorlesung 1822 bringt dann eine weitere Verschiebung mit sich. Der Übergangspunkt vom Denken zum Wollen und umgekehrt wird jetzt als „Nullpunkt“ oder „Indifferenz“ beider Formen bezeichnet und mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl identifiziert.Was in diesem Nullpunkt zwischen dem Gesetztsein der Dinge in uns (Denken) und dem Setzen unseres Seins in die Dinge (Wollen) „übrig“ bleibe, sei „unser Sein als das sezende“ (KGA II/10, 1, 266). Das Bewusstsein dieses Seins ist als Selbstbewusstsein das Bewusstsein der Aufhebung der Gegensätze und insofern nicht auf den Nullpunkt beschränkt, sondern – wie das Kantische „Ich denke“ – jeden Moment „begleitend“; dieses unmittelbare Selbstbewusstsein als „unser“ Bewusstsein (und nicht das eines absoluten Ich) ist zugleich auch das Bewusstsein eines Bedingten oder Bestimmten, aber es ist nicht bedingt oder bestimmt durch ein Äußerliches, die „Dinge“, sondern durch ein Transzendentes (KGA II/10, 1, 266). Diese Bestimmtheit des Selbstbewusstseins „ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl“, welches die „Bedingtheit alles Seins“ (einschließlich unserer selbst) „als allgemeines Abhängigkeitsgefühl“ innewerden lässt (KGA II/10, 1, 266). Genaugenommen ist also das Selbstbe-
Vgl. oben „Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik“. Vgl. KGA II/10, 1, 147.
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wusstsein das Bewusstsein des Gesetztseins unseres Seins als setzend und in diesem Gesetztsein selbst vermittelt und nicht unmittelbar.³⁰ Unmittelbar ist das Selbstbewusstsein nur als Indifferenz der Gegensätze im Sein, also der Entgegensetzung des Selbst zu den Dingen. Dass es den Gegensatz im Sein aufgehoben hat, also seine Unmittelbarkeit, verdankt es aber gerade seinem Gesetztsein durch den transzendentalen Grund; es ist somit gesetzte, nicht vermittelte Unmittelbarkeit. Das reflektierte Selbstbewusstsein dagegen besteht gerade in der Totalität des Bezugs des Ich auf sich und die Dinge. Die Nähe dieser Schleiermacherschen Konzeption zum Schellingschen Identitätssystem ist unübersehbar. Wie bei Schelling verdankt sich die relative Identität der Gegensätze in der Indifferenz von Denken und Wollen einer absoluten Identität. Im Unterschied zu Schelling jedoch geht Schleiermacher nicht vom Absoluten aus und er modelliert den Bezug auf das Absolute nicht als intellektuelle Anschauung, sondern als Gefühl. Das Gefühl, in dem wir den transzendentalen Grund „haben“, so betont er schon in der Vorlesung 1814/15, ist Resultat, nicht Ausgangspunkt des ersten, transzendentalen Teils der Dialektik: „Wir sind hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege“ (KGA II/10, 1, 143). Die Einheit des Denkens und Seins im Absoluten, die durch den transzendentalen Grund verbürgt werden soll, ist Voraussetzung des Wissens, kann aber im Wissen nicht vollzogen werden, da das Absolute jenseits der Grenze des Begriffs und Urteils liegt. Es bleibt somit, wie Schleiermacher in der Vorlesung 1818/19 betont, „bloße Voraussetzung“; im Gefühl dagegen sei „die höchste Identität des Idealen und Realen wirklich vollzogen, und was wir im Denken und Wollen nur voraussetzen haben wir vollkommen im Gefühl, und im Gedanken haben wir es nur, in sofern wir das Gefühl darin abbilden.“ (KGA II/10, 2, 239) Nun ist Schleiermacher sich durchaus bewusst, wie prekär die Berufung auf ein Gefühl ist. Hegels Invektive, nach Schleiermacher sei der Hund der beste Christ, ist ja z. B. auch als Anspielung auf eine Wendung Schleiermachers selbst zu verstehen; in den Monologen heißt es, habe sich einer „dem Gefühl ergeben, das er mit dem Thiere teilt: wie kann er wissen, ob er nicht in plumpe Thierheit ist hinabgestürzt?“ (KGA I/3, 16) Auch in der Dialektik-Vorlesung 1818/19 hatte Schleiermacher eingangs noch davor gewarnt, die Logik einfach vorauszusetzen und sie nicht auf das Verhältnis der logischen Formen zum Sein, also die Metaphysik, zu gründen: „Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll So auch schon Hans-Richard Reuter, der von vermittelter Unmittelbarkeit spricht. Er übersieht jedoch, dass die Unmittelbarkeit – anders als bei Hegel – nicht in sich vermittelt ist, sondern als unvermittelt äußerlich gesetzt wird (vgl. H.-R. Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systematische Interpretation, München 1979, 230).
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dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen.“ (KGA II/10, 2, 110) Nun tritt aber in Bezug auf den transzendentalen Grund genau dies ein, denn die Einheit des Denkens und Seins soll alles Wissen begründen, beruht aber dezidiert auf einem Nichtwissen, dem Gefühl. Dieses Gefühl kann m. E. nicht als eine grundlegende Überzeugung verstanden werden, die ich schon immer mache, wenn ich erkenne und handle. Denn dann wäre es ein bloßes Überzeugungsgefühl, das nach Schleiermacher den Irrtum nicht ausschließen kann. Das Gefühl, welches den transzendentalen Grund verbürgen soll, wäre auch massiv unterbestimmt, wenn es nur „basic belief“ wäre, denn für Schleiermacher resultiert es ja letztlich nicht aus uns, sondern aus unserem Gesetztsein durch das Absolute. Im Gefühl werde ich auch keines regulativen Prinzips inne, dessen ich mich im Modus des „Als-ob“ bedienen kann, um ein Wissen zu erzeugen und den Bedingungen angemessen zu handeln. Hiergegen steht Schleiermachers eindeutige Behauptung, die Idee Gottes als der absoluten Identität sei nicht regulativ, sondern konstitutiv, nämlich unser Sein konstituierend. Auch die von Peter Grove in Bezug auf Schleiermachers Reden ins Spiel gebrachte Annahme, es handle sich im Sinne Heideggers um eine „vorprädikative“ Erschlossenheit unseres Selbst im Verhältnis zum Ganzen, scheint mir philosophisch nicht wirklich weiterzuhelfen.³¹ Denn erstens geht es bei Schleiermacher nicht um eine Deutung der Lebenswelt bzw. des innerweltlich Seienden, und zweitens besteht die Eigenart der im Gefühl vollzogenen Deutung ja gerade darin, dass sie als Erfahrung einer praereflexiven Einheit ausgegeben wird, welche als solche nicht in apohantische Sätze, also in Aussagen, überführt werden kann. Damit bliebe die vorprädikative Deutung des Gefühls ein bloß subjektives Meinen. Aber auch dann, wenn man Schleiermachers ‚Gefühl‘ den Status einer vorprädikativen Deutung zuerkennen würde, müsste man – wie Grove dies auch getan hat – diese Deutung als eine implizite Metaphysik auffassen, da sie sich ja nicht auf empirische Sachverhalte bezieht. Damit indes wäre das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik gescheitert: die Metaphysik stünde dann nicht, wie Schleiermacher es wollte, unter der Form der Logik, sondern die Dialektik insgesamt stünde unter den Prämissen einer vorprädikativen und insofern auch vorlogischen Metaphysik. (6) Es spricht – und damit komme ich zum Schluss – Vieles dafür, dass genau dies zutrifft. Der Grund dafür scheint mir jedoch nicht darin zu liegen, dass Schleiermacher auf ein Gefühl setzt, sondern er braucht das Gefühl, weil er der Auf-
Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 343 ff.349.
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fassung ist, dass nur eine absolute, nichtrelationale Identität die Identität des Idealen und Realen und damit das Wissen und Handeln verbürgen könne; eine solche Identität ist notwendig praereflexiv, da Identität logisch ein Relationsbegriff ist und begrifflich nur so vollzogen werden kann. Auch in Bezug auf Hegel liegt der Grund des Dissenses nicht darin, dass Schleiermacher ein Gefühlskonzept in seine Philosophie integrieren würde und Hegel nicht. Ich darf hierzu auf Hegels Ästhetik verweisen: „in dem Innern als solchem, in dem reinen Denken, in der Welt der Gesetze und deren Allgemeinheit kann der Mensch nicht aushalten, sondern bedarf auch des sinnlichen Daseins, des Gefühls, Herzens, Gemüts usf.“³² Das Gefühl konstituiert das Absolute ebenso wenig wie den Zugang zu ihm, aber es ist für Hegel eine notwendige Form seines subjektiven Innewerdens und spielt gerade in der Religion eine bedeutende Rolle. Im Unterschied zu Schleiermacher aber ist für Hegel der objektive Inhalt des Gefühls aus der subjektiven Form herauszulösen und in ein begreifendes Denken zu überführen. Dass dies möglich ist, liegt für Hegel daran, dass der Inhalt des Gefühls dem Begriff nicht entgegengesetzt ist. Er ist es deshalb nicht, weil Hegel die Einheit des Denkens mit dem Sein, also die Objektivität der Denkbestimmungen, nicht in einer präreflexiven Identität begründet, sondern aus der Selbstvermittlung der reinen Denkbestimmungen herleitet. Diese Selbstvermittlung wird freilich nur dadurch ermöglicht, dass die systematische Totalität der Denkbestimmungen, wie sie in der Wissenschaft der Logik entwickelt wird, als selbstbezügliche Identität von Gegensätzen, also als Identität der Identität und der Nichtidentität verstanden wird. Schließt Schleiermachers Rede von der ‚Identität‘ des transzendentalen Grundes jede Relationalität und damit jede Entgegensetzung aus, so schließt Hegels Rede von der Selbstbezüglichkeit des Begriffs den Widerspruch ein. Hegels Konzept ist hier nicht weiter zu erläutern. Ich habe aber hoffentlich auch so deutlich machen können, dass Schleiermachers Dialektik wie auch Hegels Wissenschaft der Logik Konzepte auf dem Boden einer gemeinsamen Problemlage der nachkantischen Philosophie darstellen. Das Programm einer Einheit von Logik und Metaphysik haben auf diesem Boden nur Hegel und Schleiermacher mit vergleichbarer Intensität verfolgt. Aus der Perspektive dieser Gemeinsamkeiten ist das, was sie philosophisch trennt, nur sekundär die Auffassung von ‚Gefühl‘. Es geht um mehr, nämlich um die begrifflichen Möglichkeiten unserer Rede von ‚Identität‘. Und zugleich geht es darum, wieweit diese Rede von Identität auch eine kritische Darstellung der Metaphysik zu realisieren vermag.
HW 11, 185.
5 Philosophie und Religion bei Schleiermacher und Hegel (1) „Ach, mein Sohn! kehre wieder – menschliche Tugend (so schreibt der weise Confucius) ist nicht Vollkommenheit, sondern vom Weg des Irrthums eiligst zurück kehren. O Du Menschenhüter, Herr Jesu! Führe Du selbst dein verirrtes Schäflein zurück, thue es zu Deines Namens Verherrlichung! Amen!“ (KGA V/1, 56) Mit diesen Worten beschloss Schleiermachers Vater 1787 den beschwörenden Appell an den Sohn, die Herrnhuter Brüdergemeine nicht zu verlassen und zur Frömmigkeit der Brüder zurückzukehren. Es war vergeblich, und auch der weise Konfuzius konnte nicht mehr helfen, der – neben einer stattlichen Anzahl von Bibelzitaten – als letztes autoritatives Argument ins Feld geführt wurde. Konfuzius als Mahner für eine Rückkehr zum Pietismus – dies ist die Umkehr einer Konstellation der Aufklärungsphilosophie. Konfuzius und Christus hatte Christian Wolff in seiner Hallenser Prorektoratsrede De Sinarum philosophia practica von 1721 hinsichtlich ihres Ansehens in einem Atemzug genannt,¹ was Wolff aber seinerzeit gerade in Konflikt mit dem Halleschen Pietismus gebracht und zu seiner Entlassung und Vertreibung geführt hatte. Die chinesischen Morallehren sollten nachweisen, dass auch Nichtchristen und selbst Atheisten tugendhaft sein könnten und damit die Autonomie der Philosophie gegenüber der theologischen Orthodoxie stärken. Vermutlich hat Schleiermacher den weisen Konfuzius auch in diesem, von der Aufklärungsphilosophie ursprünglich gemeinten Sinne verstanden, denn noch im November 1803 erinnert er sich in einem Brief an seinen Freund Carl Gustav von Brinckmann, dass „am Anfange des vorigen Jahrhunderts die Philosophen die chinesische Moral gegen die Orthodoxen brauchten. Wenn nun diese darauf dem Confucius immer vorgeworfen hätten, er wäre ein Wolfianer und Deist; hätte er nicht am Ende aus der Unterwelt herauskommen müssen um zu fraternisiren?“ (KGA V/7, 121 f.) Dass Religion nicht moralisch und Moral nicht religiös instrumentalisiert werden dürfe, an dieser Überzeugung hielt Schleiermacher auch nach seinen jugendlichen Glaubenskrisen fest und er vertrat sie – wie in den Reden über die Religion von 1799 – auch gegenüber der Kantischen Ethikotheologie. Hegel ist einen anderen Weg gegangen als Schleiermacher. Zwar kritisiert er, dass die Theologen sich der Kantischen Postulatenlehre bedienen, um „kritisches
Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, hg.v. M. Albrecht, Hamburg 1985, 18 f.
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Bauzeug zur Befestigung ihres gotischen Tempels“² herbeizuschaffen, jedoch übernimmt er Kants Auffassung, dass die „Annäherung des Reichs Gottes“ der „allmählige Übergang des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ sei,³ wenn er das Christentum im Kantischen Geist als Morallehre zu interpretieren und diese von der „Positivität“ des Christentums abzugrenzen versucht. Im Ergebnis jedoch wird die Kantische Ethikotheologie untergraben.⁴ Christus ist nicht Konfuzius oder Sokrates: das Christentum lässt sich nicht in Moral auflösen und es lässt sich auch nicht als reine Lehre von der Positivität absondern. Dies nötigt Hegel zur Umorientierung auf einen spekulativen Gottesbegriff. Dabei konnte er gegen Ende der Frankfurter Zeit schon auf Schleiermachers Reden über die Religion zurückblicken, und es ist noch immer eine offene Frage, ob und wieweit sich Hegel in seinen Entwürfen auch auf Schleiermacher bezieht.⁵ Für Schleiermacher jedenfalls geht es nicht um eine moralische oder metaphysische Grundlegung der Religion bzw. um eine Integration der Religion in Moral oder Metaphysik, sondern er betont den „schneidenden Gegensatz“, „in welchem sich die Religion gegen Metaphysik und Moral befindet.“ (KGA I/2, 211) Tatsächlich macht er, um diese Trennung zu installieren, jedoch nicht nur ausgiebig von einer „impliziten Metaphysik“⁶ Gebrauch, sondern er begründet die Eigenständigkeit des religiösen Bewusstseins geradezu im Rückgang auf die Philosophie Spinozas. Eben diese Philosophie wiederum lieferte Hegel entscheidende Argumente für seinen spekulativen Gottesbegriff. Um diese gegensätzlichen Entwicklungen und ihre Konsequenzen geht es im Folgenden. (2) In den Reden verankert Schleiermacher das religiöse Bewusstsein in einer präreflexiven Einheit der Anschauung und des Gefühls, in der das Universum sich uns offenbart. Nach Ansicht mancher Interpreten handelt es sich daher um eine Art vorprädikativer Deutung oder Erschlossenheit des Universums.⁷ Ich möchte dies bestreiten. Tatsächlich ist die Unmittelbarkeit des religiösen Bewusstseins philosophisch vermittelt und das Ergebnis einer riskanten Konstruktion, die An Schelling, Januar 1795, in: Briefe von und an Hegel, hg.v. J. Hoffmeister, Bd. 1, Hamburg ³1969, 16. Immanuel Kant: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 6, 115. Vgl. Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 18 – 133. Vgl. ebd., 123 ff.; Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2003, Kap. 1. Vgl. Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 343 ff. Ebd., 349.
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Schleiermacher mit Spinoza vornimmt. Die bekannte Apotheose Spinozas, der voller Religion und voll Heiligen Geistes gewesen sei, steht unmittelbar vor der zentralen These, das „Anschauen des Universums“ sei „die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (KGA I/2, 213).⁸ Die Philosophie soll zum Kronzeugen der Nichtphilosophie gemacht werden, aber nicht durch eine Selbstbegrenzung der Philosophie nach dem Vorbild Kants, denn Spinoza ist für Schleiermacher deshalb voll des Heiligen Geistes, weil er nach seiner Auffassung in Wahrheit gar keine Philosophie vorträgt, sondern etwas Anderes zur Philosophie. Im Hintergrund von Schleiermachers Inanspruchnahme Spinozas für das religiöse Bewusstsein steht eine Denkfigur Friedrich Schlegels: dieser interpretiert Spinoza als Mystiker des Unendlichen oder Absoluten,⁹ und dieser Mystizismus sei eine Gestalt der „philosophirende[n] Unphilosophie“.¹⁰ Im Unterschied zu Schlegel ist der Mystizismus für Schleiermacher jedoch keine Abart der Philosophie, sondern das Andere zur Philosophie. Jede Philosophie, so schreibt er 1800 in Bezug auf Jacobi, führe auf eine Mystik, jedoch sei ihr Zusammenhang nur „Schein“, „weil sie sich in der Tangente berühren“ (KGA V/4, 169 f.). Mystizismus und Philosophie verhalten sich nach Schleiermacher wie Religion und Philosophie, und deshalb lassen sie sich auch nicht als Alternativen behandeln. Das „Anschauen des Universums“ hat einen offensichtlichen terminologischen und auch strukturellen Bezug zu Spinozas dritter Erkenntnisart, der scientia intuitiva. Warum Spinoza hier von Intuition spricht, ist nicht ganz eindeutig zu bestimmen. Sicher hingegen ist, dass Spinoza hiermit weder Unmittelbarkeit noch Präreflexivität meint.¹¹ Die intuitive Erkenntnis bezeichnet ein Wissen, welches „von der adäquaten Vorstellung gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge“ übergeht.¹² Sie kommt dort zum Zuge, wo wir, nach Lehrsatz 24 des fünften Teils der Ethik, Gott umso mehr erkennen, je mehr wir
Vgl. Konrad Cramer: „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, hg.v. U. Barth u. C.-D. Osthövener, Berlin und New York 2000, 118 – 141; ausführlich Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva: Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin und New York 2006. Vgl. Andreas Arndt: „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Friedrich Heinrich Jacobi und die klassische deutsche Philosophie, hg.v. W. Jaeschke und B. Sandkaulen, Hamburg 2004, 126 – 141. KFSA 18, 13, Nr. 101 Vgl. K. Cramer: „‚Anschauung des Universums‘“, 141: „Spinozas anschauende Erkenntnis des Universums ist denkendes Begreifen des Universums, Schleiermachers Anschauung des Universums […] nicht.“ Spinoza: Ethica, Teil 5, Prop. 25, Dem.
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die einzelnen Dinge erkennen. Gegenüber Schleiermachers These, dass wir im religiösen Bewusstsein das Einzelne als das Ganze anschauen – in der doppelten Bedeutung, dass Alles in Einem und Eins in Allem ist –, bedeutet dies bei Spinoza, dass Gott als Ursache der Einzeldinge in ihrer Singularität angesehen wird.¹³ In dieser Art der Erkenntnis wird, wie Spinoza sich ausdrückt, der Geist von zweierlei Vorstellungen „begleitet“, nämlich der Vorstellung seiner selbst und der Vorstellung Gottes als Ursache.¹⁴ Hieraus entspringt der Amor Dei intellectualis, der als Liebe des Geistes zu Gott zugleich „Gottes Liebe selbst“ ist, „womit Gott sich selbst liebt […] sofern er durch die unter der Form der Ewigkeit betrachtete Wesenheit des menschlichen Geistes erklärt werden kann“.¹⁵ Weder die scientia intuitiva noch der Amor Dei intellectualis haben etwas mit Anschauung, Gefühl und Unmittelbarkeit im Schleiermacherschen Sinne zu tun. Es sind Figuren der denkenden, begreifenden Erfassung eines philosophischen Gottesbegriffs und der Ausblick auf Religion im Schleiermacherschen Sinn als eine eigene, abgesonderte Provinz im menschlichen Gemüt eröffnet sich dabei nicht. (3) In Hegels 1798 – 1800 entstandenen Entwurf, der unter dem Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal bekannt ist, gibt Hegel seine Versuche auf, die Lehre Christi im Sinne einer moralischen Religion und einer Liebesreligion zu interpretieren. Im Mittelpunkt steht jetzt die Überwindung jeder Form der Entzweiung und damit besetzt – im Kontext der Vereinigungsphilosophie des Frankfurt-Homburger Kreises¹⁶ – das spinozistische Hen kai Pan eine entscheidende Stelle im Hegelschen Denken. Moralität¹⁷ und selbst Liebe sind jetzt Figuren der Entzweiung und Beschränkung, die durch Religion überwunden werden müsse.¹⁸ Auf den ersten Blick scheint sich das Hegelsche Konzept in großer Nähe zu Schleiermachers Reden zu bewegen. Wie dort das religiöse Bewusstsein jenseits aller Entgegensetzungen der Reflexion verortet wird, so bedeutet auch hier die Religion die Rückkehr zu einer Einheit, welche die Trennungen der Reflexion hinter sich gelassen hat. Auf den zweiten Blick freilich tritt der Gegensatz deutlich hervor. Die Religion ist für Hegel die letzte Stufe eines Aufhebungsprozesses, in dem der Gegensatz von unmittelbarer Einheit („Universum“) und Reflexion aus
Vgl. K. Cramer: „‚Anschauung des Universums‘“, 138. Ethica, Teil 5, Prop. 32, Dem. Ethica, Prop. 36. Vgl. Christoph Jamme: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797 – 1800, Bonn 1983. HW 1, 303. Ebd., 302.
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der Reflexion heraus vermittelt wird. In der zweiten Fassung des Fragments welchem Zwekke denn (1798) heißt es von der wiederhergestellten, vollendeten Einigkeit, in ihr sei „auch der Reflexion Genüge geleistet worden […]; der unentwickelten Einheit stand die Möglichkeit der Reflexion, der Trennung gegenüber; in dieser ist die Einigkeit und Trennung vereinigt, ein Lebendiges, das sich selbst entgegengesetzt worden war, aber diese Entgegensetzung nicht absolut machte“.¹⁹ Vorgestellt wird hier ein „Harmonischentgegengesetztes“ im Sinne Hölderlins, keine relatlose Identität wie bei Schleiermacher. In diesem Zusammenhang ist Hegels Rekurs auf den Spinozismus von besonderer Bedeutung. Hegel deutet den Substanzbegriff christologisch und die Christologie vereinigungsphilosophisch um: „Hat der Mensch selbst Willen“, so heißt es im sogenannten „Grundkonzept“ zum Geist des Christentums, „so steht er in ganz anderem Verhältnis zu Gott als der bloß passive; zwei unabhängige Willen, zwei Substanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein – aber der Mensch der Sohn und Gott der Vater; der Mensch nicht unabhängig und auf sich selbst bestehend, er ist nur, insofern er entgegen[ge]setzt, eine Modifikation ist, und darum auch der Vater in ihm“.²⁰ Dieses Verhältnis wird weiterhin so vorgestellt, dass auch die Jünger im Sohn und eins mit ihm sind, sie sind aber alle „nicht Substanzen, schlechthin getrennte und nur im allgemeinen Begriffe vereinigt“, sondern es ist „ein lebendiges Leben der Gottheit in ihnen“.²¹ Der Richtungssinn dieser Ausführungen lässt sich an dem sogenannten Systemfragment von 1800 ablesen, wo es heißt, Religion sei nicht Erhebung des Menschen vom Endlichen zum Unendlichen, sondern „vom endlichen Leben zum unendlichen Leben“, und dieses unendliche Leben können man „einen Geist nennen […] denn Geist ist die lebendige Einheit des Mannigfaltigen“.²² Die Gottheit ist nicht als ein verselbständigtes Sein gegenüber dem Endlichen, sondern „Geist des Ganzen“, der diesem Ganzen immanent ist.²³ Während in dem Systemfragment das unendliche Leben noch ein „Sein außer der Reflexion“²⁴ ist, wird dieses in der Jenaer Zeit schließlich als in sich reflektiertes Sein verstanden. Damit entfällt die Notwendigkeit einer Erhebung über die philosophische Reflexion und an ihre Stelle tritt die Aufhebung der äußerlichen Verstandesreflexion. Das unendliche Leben verbindet sich mit dem Geistbegriff so, dass dieser jetzt als in sich reflek-
Christoph Jamme: „Hegels Frankfurter Fragment ‚welchem Zwekke denn’“, in: Hegel-Studien 17 (1982), 14. HW 1, 304; vgl. W. Jaeschke: Vernunft in der Religion, a.a.O. (Anm. 4), 133. HW 1, 304. Ebd., 421. Ebd. Ebd.
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tierter Selbstbezüglichkeit und Selbsterkennen in sich schließt. Sofern der Geist sich als Geist (und nicht im Verhältnis zu Anderem, z. B. zur Natur) erfasst, hat er damit auch nicht mehr ein Erkanntes im Gegensatz zum Erkennen oder ein Gedachtes im Gegensatz zum Denken vor sich: „die Beziehung der Einzelnen Lebendigen, ist allein die Beziehung des Ich, die Beziehung des Erkennens auf ein Erkennen“.²⁵ In der Phänomenologie des Geistes ist mit dieser Struktur – dem Verhältnis des Selbstbewusstseins zu einem anderen Selbstbewusstsein – „schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden“: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“²⁶ Das Sich-durchsichtig-Werden des Geistes als Geist, die Entwicklung seines Selbstbewusstseins, erfolgt geschichtlich: Geist ist geradezu synonym mit Geschichte.²⁷ Damit sind entscheidende Koordinaten für die Thematisierung von Religion innerhalb der Hegelschen Philosophie genannt. (1) Religion ist absoluter Geist, aber sie ist nunmehr nicht mehr die höchste Gestalt, die allein fähig ist, den Mangel der Reflexion zu kompensieren und ein „Sein außer der Reflexion“ zugänglich zu machen. Indem der Geist in sich reflektiert ist, kann er vielmehr auf gültige Weise nur durch den philosophischen Begriff erfasst werden. In dieser Hinsicht ist das religiöse Bewusstsein defizitär: es operiert im Medium der Vorstellung – wodurch es zwar der Kunst überlegen ist, die dem Medium der Anschauung verhaftet ist – aber die Religion als Religion erhebt sich doch nicht zum Medium des Begriffs. Erst die Philosophie macht dies, denn sie hebt die Religion auf und expliziert deren Wahrheit. (2) Religion hat qua Geist Geschichte. Diese Feststellung ist im zeitgenössischen Kontext der Hegelschen Religionsphilosophie – auch im Blick auf Schleiermacher – keineswegs trivial, sondern kennzeichnet geradezu das Neue der von ihm begründeten Religionsphilosophie, welche erstmals die Religionen in ihrer Vollständigkeit zum Thema macht.²⁸ (3) Die Geschichte der Religion ist Teil der Freiheitsgeschichte als Hinwegarbeiten der Natürlichkeit und Fremdheit, in die der zum Selbstbewusstsein erst erwachende Geist noch versenkt ist und die er vollständig erst unter der Form des philosophischen Begriffs überwindet. Im Medium der Vorstellung, d. h. in der Religion, stellt sich der Geist im Wortsinne vor, d. h. er projiziert sich in ein Gegenüber; erst im Begriff erreicht er sein Anundfürsichsein.
Ebd., 186. GW 9, 108. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2003, 198. Jaeschke sieht darin „einen der charakteristischen und gleichsam revolutionären Züge“ der Hegelschen Religionsphilosophie; vgl. ebd., 460.
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(4) Sowohl Schleiermacher als auch Hegel verabschieden den Gedanken einer natürlichen oder Vernunftreligion. Schleiermacher, indem er der Religion eine „eigene Provinz“ im Gemüt neben Erkennen und Handeln zuweist, Hegel, indem der an die Stelle der Vernunftreligion die Vernunft in der Religion setzt. Für Schleiermacher ist dabei zwar die Bedeutung des religiösen Bewusstseins begrifflich explizierbar, nicht jedoch dieses Bewusstsein selbst, wie für Hegel. Im Ergebnis sind Philosophie und Religion bei Schleiermacher gleichursprünglich und einander nebengeordnet, während bei Hegel die Religion als Vorstellung dem philosophischen Begriff untergeordnet und in diesen aufgehoben wird. Hegels Explikation der Vernunft in den Religionen ist in der Lage, deren geschichtliche Formen umfassend zu thematisieren. Dies gilt auch für die chinesische Religion, die zwar als Zauberei und Staatskultus noch ganz der Unmittelbarkeit einer Naturreligion angehöre, deren Wesen und Gegenstand aber kein Jenseitiges sei, so dass das menschliche Selbstbewusstsein hier schon sein eigenes Wesen sich vorstelle.²⁹ Für Schleiermacher dagegen kommt die Geschichtlichkeit der Religionen deshalb nicht in den Blick – neben der christlichen Religion thematisiert er nur noch die jüdische – weil Religionen letztlich gleich geltende Ausprägungen religiösen Bewusstseins sind. Der in den Reden unternommene Versuch jedenfalls, das Christentum als Religion der Religionen zu privilegieren, ist systematisch kaum haltbar. In seinen späteren philosophischen Begründungsverfahren hat Schleiermacher die in den Reden implizite These einer Beschränkung der Philosophie durch ein Anderes zur Philosophie aufgegeben; die Philosophie hat sich selbst zu begrenzen, und diese Grenze sieht Schleiermacher im transzendentalen Grund, der Gottesidee, die als schlechthinnige, relationslose Identität denknotwendige Voraussetzung der jedes Wissen begründenden Identität sei, ohne selbst gewusst werden zu können. Unter dieser Voraussetzung begründet sich das philosophische Wissen in einem „Gefühl von Gott“ (KGA II/10, 1, 143), das mit dem religiösen Bewusstsein konvergiert. Philosophie und Religion sind verschiedene Interpretationsweisen eines unmittelbaren Gefühls. Hegels bekannte giftige Polemik gegen die bloße Subjektivität solcher Gefühls-Unmittelbarkeit gründet philosophisch darauf, dass die Voraussetzung einer schlechthinnigen Identität einem Verstandesdenken entspringt, das Identität und Unterschied abstrakt gegeneinander fixiert. Die Grenze, an der für Schleiermacher Philosophie und Religion in einem gemeinsamen Grund wurzeln, ist für Hegel nur eine Grenze des Verstandes, nicht der Vernunft. An dieser philosophischen Pro-
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Die bestimmte Religion, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1985, 209 (Kolleg 1824).
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blematik entscheidet sich das Verhältnis von Philosophie und Religion bei Schleiermacher und Hegel.
6 Philosophie und Theologie in Schleiermachers „Dialektik“ Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie in Schleiermachers Denken gehört zweifellos zu den Fragen, mit denen sich die Schleiermacher-Interpretation und vor allem die theologische Schleiermacher-Interpretation seit jeher besonders intensiv auseinandergesetzt hat. Noch für Gerhard Ebeling galt sie als „das Kernproblem der Schleiermacherinterpretation“,¹ während Hans-Joachim Birkner ihr in seinem 1974 erschienenen Buch Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation die „Würde des Grundthemas“ in Schleiermachers Denken abspricht.² Zum Beleg hierfür verweist Birkner vor allem auf die Wissenschaftssystematik Schleiermachers, in der die Theologie „eine funktionsbedingte Zusammenfassung von wissenschaftlichen Disziplinen“ darstelle, „deren Gegenstände auch außerhalb der Theologie wissenschaftlich bearbeitet werden“.³ Dabei setze Schleiermacher die „inhaltliche Unabhängigkeit“ der christlichen Glaubenslehre von der spekulativen Philosophie ebenso voraus wie „die ‚Zusammenstimmung‘ von philosophischem Gottesgedanken und dogmatischer Entfaltung des christlichen Gottesglaubens“.⁴ Birkner hat die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Schleiermacher vor allem aus der Sicht der theologischen Dogmatik behandelt. Aus Sicht der Philosophie ergeben sich indessen spezielle Probleme selbst dann, wenn auch dort das Verhältnis zur Theologie bzw. zur Religion nicht als ein „Grundthema“ angesehen wird, wobei es aus dieser Sicht weniger auf den Unterschied von Theologie und Religion ankommt, ist doch die Theologie in Schleiermachers Verständnis die wissenschaftliche Reflexionsform eines bestimmten und auf bestimmte Weise auch institutionell verfassten religiösen Selbstbewusstseins als Gefühl. Das Problem wird bereits deutlich, wenn – anknüpfend an Birkners sorgfältig abwägende Darstellung – die Problemlage noch einmal vergegenwärtigt wird. Philosophie und Theologie haben demnach, ungeachtet ihrer inhaltlichen Unabhängigkeit, gleichwohl gemeinsame Gegenstände. Die Thematisierung dieser Gegenstände im theologischen bzw. spekulativen Zusammenhang soll jedoch inhaltlich verschieden und nicht nur einer formal anderen Betrachtungsweise geschuldet sein. So ist die Dialektik nach Schleiermachers Auffassung zwar eine formale Theorie der Gründe und des Zusammen-
„Theologie und Philosophie“, in: RGG3, Sp. 813 f. München 1974, 43. Ebd. Ebd., 44.
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hangs des werdenden Wissens, aber sie thematisiert zugleich auch die inhaltlichen Grundlagen der Realwissenschaften; auf der anderen Seite übernimmt die theologische Dogmatik unbeschadet ihrer spezifischen Inhalte die Form der wissenschaftlichen Darstellung von der Dialektik. ⁵ Und weiterhin treffen sich Philosophie und Theologie gerade dort, wo es um die philosophische Begründung sowohl des Wissens und Handelns geht. „Die Frömmigkeit“, so lesen wir in einer Notiz Schleiermachers zur Glaubenslehre, „hat ihre Quelle, ihren Sitz in dem Gefühl. Das Gefühl ist auch das Ursprüngliche im Wissen und Thun, aller Anfang des Denkens oder Handelns, oder aller Uebergang aus einem zum andern kann nur im Selbstbewußtsein geschehen, dessen Ursprüngliches nur eine Bestimmung des Gefühls ist“ (KGA I,/7, 3, 657).⁶ Das Getrenntsein und doch Zusammenstimmen von Philosophie und Theologie erfolgt also im Zentrum des spekulativen Begründens selbst und bedarf gerade unter den Voraussetzungen Schleiermachers der Aufklärung, denn beide gehen auf das Universum, also auf Totalität. Ob und wie eine Grenzziehung hier möglich ist, die aus der Philosophie selbst und nicht von außen gesetzt wird, möchte ich im Folgenden erörtern. Ich gehe zunächst (1) auf die Grenzziehung von Seiten der Religion bzw. Theologie ein, die Schleiermacher im Kontext der philosophischen Theologie (Reden über die Religion ⁷) und der Dogmatik gemacht hat. Sodann möchte ich (2) die Grenzziehung von Seiten der grundlegenden philosophischen Disziplin, der Dialektik aus beleuchten. Und schließlich möchte ich (3) in einem kurzen Resümee Probleme und offene Fragen benennen. (1) Bereits in den 1799 anonym publizierten Reden über die Religion macht Schleiermacher die schwierige Abgrenzung von Philosophie und Religion deutlich: „Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet Ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm. Diese Gleichheit ist von lange her ein Grund zu mancherlei Verirrungen gewesen; daher ist Metaphysik und Moral in Menge in die Religion eingedrungen, und manches was der Religion angehört, hat sich unter einer unschiklichen Form in die Metaphysik oder die Moral verstekt.“ (KGA I/2, 207 f.) Obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass Religion und Philosophie aufgrund ihres gemeinsamen Gegenstandes tatsächlich nicht schlechthin beziehungslos gedacht werden können, will Schleiermacher das Problem dadurch entwirren, dass er den Gordischen Knoten
Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube1, KGA I/7, 1, 108 ff. (§ 31). Die Notizen beziehen sich auf die §§ 8 und 9 der ersten Auflage der Glaubenslehre. Vgl. zu dieser Einordnung H.-J. Birkner: Theologie und Philosophie, München 1974, 25.
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durchhaut und „mit dem schneidenden Gegensatz“ beginnt, „in welchem sich die Religion gegen Metaphysik und Moral befindet.“ (KGA I/2, 211) Sie wolle das Universum weder „bestimmen“ noch „erklären“ wie die Metaphysik, noch es „fortbilden“ und „fertig machen“ wie die Moral (KGA I/2, 211). Der Bezug der Religion auf das Universum ist im Unterschied zur Philosophie nicht-instrumentalistisch; weder bestimmt sie ihren Gegenstand mit (begrifflichen) Denkmitteln, noch sieht sie das Universum als Reservoir zur Realisierung menschlicher Zwecke an. Ihr Gestus ist kontemplativ, der des Sein-lassens, der passiven Hingabe an das Universum in Anschauung und Gefühl. „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (KGA I/2, 213). Anschauung und Gefühl bilden nach der Position der Reden eine ursprüngliche Einheit,⁸ in der wir uns der Einheit des Universums selbst innewerden. Erlebnis und Perspektive dieser Einheitserfahrung verbindet Schleiermacher mit dem Namen Spinozas:⁹ das Individuelle ist Moment des Universums, der All-Einheit, aber so, dass diese Einheit nur in den Individuationen oder Modifikationen zugänglich wird. Über den vorgeblichen Pantheismus und Spinozismus der Reden ist viel gestritten und geschrieben worden;¹⁰ erstaunlicherweise haben sich die Interpreten aber wenig darum bekümmert, welches Licht die Berufung auf Spinoza auf den Gegensatz von Metaphysik und Religion wirft, denn sie erfolgt im Zentrum der Darlegung dessen, was das Eigene, Unterscheidende der Religion gegenüber der Philosophie sein soll. Konrad Cramer hat gezeigt, dass Schleiermachers Berufung auf Spinoza ihm in diesem Kontext in der Sache Gewalt antut, denn „Spinozas anschauende Erkenntnis des Universums ist denkendes Begreifen des Universums, Schleiermachers Anschauung des Universums […] nicht.¹¹ Dies ist schon deshalb ein für Schleiermachers Konstruktion gewichtiger Einwand, weil Schleiermacher seine religiöse Deutung Spinozas benutzt, um seine These von den Grenzen der Philosophie in Spinoza hineinzuprojizieren. Die Abgrenzung von Philosophie und Religion, der „schneidende Gegensatz“, mit dem Schleiermacher anfängt, dient in der Tat auch dazu, die Ansprüche des philosophischen Erken-
Vgl. KGA I/2, 220: „vergönnt mir […] einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann […]. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen“. Vgl. ebd., 213. Vgl. Konrad Cramer: „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, hg.v. U. Barth und C.-D. Osthövener, Berlin und New York 2000, 118 – 141. Ebd., 141.
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nens überhaupt zu beschneiden. Unmittelbar vor dem Hymnus an Spinoza nämlich wird der Religion eine solche Funktion für die Philosophie ausdrücklich zugeschrieben. Sie bilde das „Gegengewicht“ zu dem „Triumph der Spekulation […], dem vollendeten und gerundeten Idealismus“, indem sie ihn „einen höheren Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet.“ (KGA I/2, 213) Gemeint ist die Fichtesche Philosophie, welche die Realität der Außenwelt dem Ich unterordnet. Es geht Schleiermacher hierbei nicht um eine philosophische Widerlegung des Fichteschen „Idealismus“, also eine Selbstbegrenzung der Vernunft nach dem Vorgang Kants, sondern um die äußere Begrenzung der Spekulation durch einen „höheren Realismus“, der den Absolutheitsanspruch des Ich bricht, und eben hierfür steht Spinoza, der damit aber gerade nicht, und dies wird vielfach übersehen, als spekulativer Philosoph ins Spiel gebracht wird, auch wenn Schleiermacher meint, mit ihm als Philosophen in der Sache einig zu sein. Vielmehr interpretiert er Spinoza – darin Friedrich Schlegel folgend¹² – als Mystiker des Unendlichen oder Absoluten. Im Unterschied zum frühen Friedrich Schlegel ist der Mystizismus für Schleiermacher jedoch keine Abart der Philosophie, sondern das Andere zur Philosophie. ¹³ „Der scheinbare Streit der neueren PopularPhilosophie gegen den Mysticismus“, so heißt es in einem Brief an C.G. v. Brinckmann vom 19.7.1800, habe Jacobi „die falsche Meinung beigebracht, als ob es in der That einen Streit zwischen der Philosophie und der Mystik geben könne, da doch im Gegentheil jede Philosophie denjenigen der soweit sehen kann und soweit gehn will auf eine Mystik führt.“ (KGA V/4, 169) Dies ist aber für Schleiermacher schon ein Überschreiten der Philosophie, denn der „Schein“ des Zusammenhanges von Philosophie und Mystik komme nur daher, „weil sie sich in der Tangente berühren“ (KGA V/4, 169 f.). Auch der vielzitierte programmatische Brief Schleiermachers an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. März 1818 bekräftigt diese Position. Dort heißt es unter anderem: „Sie sind mit dem Verstand ein Heide mit dem Gefühl ein Christ. Dagegen erwiedert meine Dialektik Heide und Christ sind als solche einander entgegen gesezt auf demselben Gebiet, nämlich dem der Religion […] Die Religiosität
Vgl. Andreas Arndt: „Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher“, in: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Friedrich Heinrich Jacobi und die klassische deutsche Philosophie, hg.v. W. Jaeschke und B. Sandkaulen, Hamburg 2004, 126 – 141. Diese Perspektive übersieht Peter Grove, wenn er Schleiermachers Reden eine implizite Metaphysik zuschreibt, welche ihnen als einer philosophischen Theorie der Religion zugrundeliege (Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin und New York 2004, 271 f.); stark zugespitzt wäre eher zu sagen, es handle sich in dieser Frage bei den Reden um eine religiös grundierte Theorie der Philosophie.
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ist die Sache des Gefühls; was wir zum Unterschiede davon Religion nennen, was aber immer mehr oder weniger Dogmatik ist, das ist nur die durch Reflexion entstandene Dolmetschung des Verstandes über das Gefühl. […] Mein Saz dagegen ist also der ich bin mit dem Verstande ein Philosoph, denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Thätigkeit des Verstandes und mit dem Gefühl bin ich ganz ein Frommer und zwar als solcher ein Christ“ […] Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen; aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und so lange ich denken kann haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert“.¹⁴ Schleiermacher bekräftigt hier die Trennlinie zwischen Religion und Philosophie, indem er die Philosophie auf ein Feld verweist, das mit dem eigentlich Religiösen, dem Gefühl, nichts zu tun hat. Die Philosophie berührt sich mit der Religion, indem sie das Gefühl „dolmetscht“, aber auch hier besteht nur der Schein eines Zusammenhanges. Diese Auffassung impliziert weitgehende Annahmen hinsichtlich der Philosophie, z. B. die Annahme, es könne so etwas wie eine grundsätzliche philosophische Religionskritik oder gar einen philosophisch begründeten Atheismus gar nicht geben, eine Auffassung, die Schleiermacher in der Tat hat: Atheismus beruht für ihn auf einem grundsätzlichen Missverständnis des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, das durch eine unzulässige Vermischung von Dogmatik und Metaphysik auf beiden Feldern entstanden sei.¹⁵ Weit davon entfernt, die Philosophie sein zu lassen, wie es die Unabhängigkeitsthese zunächst nahezulegen scheint, hat Schleiermacher die Philosophie vielmehr von Seiten der Religion und Theologie schon immer äußerlich begrenzt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass ein Theologe, folgt man der Glaubenslehre, nur ein solches philosophisches System annehmen kann, „welches die Ideen Gott und Welt irgendwie auseinanderhält, und welches einen Gegensaz zwischen gut und böse bestehen läßt. Mit jedem solchen aber verträgt sich das Christenthum“. (KGA I/7, 1, 112) Wollte man dies so verstehen, als könne man sich die Philosophie ungeachtet des Begründungsverfahrens der Vernunft nach Geschmack und Meinung aussuchen, würde man Schleiermacher gründlich missverstehen. Gleichwohl ist er in Gefahr, einem solchen beliebigen Perspektivismus Vorschub zu leisten, solange er die Kriterien einer mit der (christlichen) Religion zu vereinbarenden Philosophie – Begrenzung der Philosophie gegenüber dem Religiösen, Unterscheidung von Gott Auf der Grundlage der Handschrift neu ediert von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge, Quellenband, hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1994, 395 f. Vgl. KGA II/10, 1, 271 f.
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und Welt, Gut und Böse – nicht durch eine philosophische Argumentation zwingend zu machen vermag, die das religiöse Interesse ganz beiseitesetzt. In der philosophischen Situation seiner Zeit, der Zeit sich in rascher Folge ablösenden Systeme, konnte Schleiermacher indes nach seiner eigenen Überzeugung – trotz aller Verheißungen einer wissenschaftlichen Philosophie – nicht auf allgemein akzeptierte und gesicherte Prinzipien zurückgehen. Um in diesem Zustand gleichwohl die Philosophie auf gesicherten Boden stellen zu können, plädiert Schleiermacher für eine Verständigung wenigstens über die Prinzipien des philosophischen Streits, d. h. die Prinzipien, nach denen ein philosophisches Wissen zustande zu bringen ist. Dies ist die Aufgabe der Dialektik, der ich mich nun zuwenden will. (2) Nach Schleiermachers Überzeugung ist auch die Dialektik als Kunstlehre des Philosophierens gleichwohl keine bloße Formalwissenschaft, sondern eine Theorie, in der Logik und Metaphysik eine Einheit bilden. Das Verfahren der Philosophie – die Theorie des werdenden Wissens,wie sie im zweiten, technischen Teil der Dialektik dargelegt wird – wird daher an eine transzendentale Prinzipienlehre angeschlossen. Hierzu heißt es in einer Nachschrift der Vorlesung 1818/19: „wir wollen nur die letzten Gründe alles Wissens als die Gesetze, wie wir überhaupt zu einem Wissen auf dem realen Gebiet in uns kommen; in dem Gebiete des Gegebenen wollen wir nur ein wirkliches Wissen construiren, im Gegensatz gegen das bloße Meinen.“ (KGA II/10, 2, 125) Die Bescheidenheit des Schleiermacherschen Unternehmens bezieht sich daher nicht auf eine epoché des Urteils hinsichtlich der letzten Gründe des Wissens und Handelns, sondern darauf, dass diese nur im Zusammenhang mit dem realen Wissen zu thematisieren seien, ohne „das Reale von dem Transcendenten abzuleiten“ (KGA II/10, 2, 124). Resultat der Dialektik ist demzufolge „ein vollständiger Organismus alles realen Wissens“ und sie will „ein wahres Organon des realen Wissens sein.“ (KGA II/10, 2, 127) Ob dieses Programm tatsächlich eine Alternative zu den Systemen um 1800 darstellt, sei dahingestellt. Die Kritik, dass die Prinzipien des Wissens nicht im Zusammenhang mit dem realen Wissen entwickelt werden, ließe sich mit großen Einschränkungen vielleicht noch auf Kant und Fichte beziehen, mit Sicherheit nicht auf Schelling und Hegel. Schleiermacher jedenfalls ist offenbar der Überzeugung, dass mit dem Verzicht auf ein Wissen des Absoluten und (des Endlichen) aus dem Absoluten eine Grundlage gegeben sei, sich ohne konkurrierende Prinzipien der Letztbegründung über die Gründe und den Zusammenhang des realen Wissens zu verständigen. Sofern er meint, hierin ein Zusammenstimmen von Religion und Philosophie auch von philosophischer Seite aus begründen zu können, gilt ihm dann seine Dialektik auch als Philosophie schlechthin. Wollte man ihm indes seine Sicht der letzten Gründe alles Wissens und Handelns be-
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streiten, so würde Schleiermacher im Gegenzug behaupten, dass ohne diese Sicht – völlig unabhängig von den religiösen Interessen, die philosophisch nicht zur Geltung gebracht werden dürften – ein reales Wissen nicht zustande kommen könnte. Hieran hängt von Seiten der Philosophie das Zusammenstimmen mit der Religion. Tatsächlich legt Schleiermacher großen Wert darauf, dass die Dialektik auch im Ausgriff auf den letzten Grund des Wissens und Handelns, den transzendenten bzw. transzendentalen Grund, auf rein philosophischem Wege verfahre. Er betont dies eigens in einer Erläuterung zum § 215 seiner Ausarbeitung zur Dialektik 1814/ 15: „Wenn nun das Gefühl von Gott das religiöse ist: so scheint deshalb die Religion über der Philosophie zu stehen, wie auch viele behaupten. Es ist aber nicht so.Wir sind hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege.“ (KGA II/10, 1, 143) Und auch in der Nachschrift zur Vorlesung 1818/19 heißt es, dass „die Speculation unabhängig von der Religion“ sei „und umgekehrt; nicht so, daß eins dem andern entgegen ist, sondern daß jedes ist was es ist, durch sich selbst.“ (KGA II/10, 2, 240) Auf welchem Wege kommt aber das philosophische Verfahren in Berührung mit dem religiösen Gefühl, wie es dort der Fall ist, wo wir den transzendentalen Grund „haben“? Als Wissen gilt nach Schleiermacher ein Denken dann, wenn es allgemein und objektiv zugleich ist, nämlich (a) „vorgestellt wird mit der Nothwendigkeit daß es von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde“ (KGA II/10, 1, 90) und wenn es (b) dem Sein entspricht. Kurz: „Alles Wissen sezt Parallelism des Denkens und Seins voraus“ (KGA II/10, 1, 13). Dies ist auch eine Formel für das erste Kriterium des Wissens, denn das Sein der Denkenden – das, was Schleiermacher auch ihre Organisation nennt – entspricht insofern dem Denken, als die Selbigkeit dieser Organisation auch die Selbigkeit der Wissensproduktion verbürgen soll. Bei näherer Betrachtung dieses Theorems wird der spinozistische Hintergrund deutlich: „Da nun die Vernunftthätigkeit gegründet ist im Idealen, die organische aber als abhängig von den Einwirkungen der Gegenstände im Realen: so ist das Sein auf ideale Weise eben so gesezt wie auf reale, und Ideales und Reales laufen parallel neben einander fort als modi des Seins.“ (KGA II/10, 1, 100) Offenbar lehnt sich Schleiermacher daran an, dass gemäß Ethik 1, Lehrsatz 7 die Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieselbe ist, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge, weil Ideen und Dinge beide ihre Ursache in Gott haben. Schleiermacher folgt Spinoza insoweit, wie er es für unmöglich hält, ohne den Rückgang in einen gemeinsamen Grund des Denkens und Seins ein Wissen zu sichern. In der Nachschrift zur Vorlesung 1818/19 heißt es hierzu: „leugnen wir das Absolute, so können wir auch das Bestreben des Wissens nicht rechtfertigen, weil wir dann völlig im Dunkeln bleiben über den Zusammenhang des Denkens mit
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dem Sein, daß wir also in dieser Voraussetzung bleiben müssen, um das Streben nach dem Wissen nicht aufzugeben“. (KGA II/10, 2, 241) Im Unterschied zu Spinoza ist nun aber das Absolute als der Grund dem begreifenden Denken nicht zugänglich; insofern gilt für Schleiermacher die Kantische Restriktion der Vernunfterkenntnis uneingeschränkt. Gleichwohl macht Schleiermacher hier ausdrücklich einen weitreichenden Unterschied zu Kant: für ihn nämlich folgt daraus, dass wir vom Unbedingten oder von Gott kein objektiv gültiges Wissen haben können, nicht, dass die Gottesidee für uns nur regulativ sei: „Die Idee der Gottheit könnte nicht regulativ sein, Princip des formalen, und zwar nicht bloß im Handeln sondern auch im Denken, wenn sie nicht constitutiv wäre, nemlich unser eignes Sein constituirend.“ (KGA II/10, 1, 153) Warum das für Schleiermacher so ist, lässt sich vor dem Hintergrund seiner spinozistischen Argumentation leicht einsehen: für ihn beruht unsere Erkenntnisart der Dinge auf einem Sein, nämlich unserer „Organisation“, das konstitutive Voraussetzung des Wissens ist. Indem das Formale – Kantisch gesprochen: das Transzendentale, nämlich unsere Erkenntnisart der Gegenstände¹⁶ – auf einem Sein beruht und nicht, wie bei Kant, durch ein denkbares Sein, das Ding-an-sich, begrenzt wird, verzichtet Schleiermacher mit der Unterscheidung regulativer und konstitutiver Prinzipien zugleich auch auf die Unterscheidung von „transzendent“ und „transzendental“, da beides für ihn im absoluten Grund zusammenfällt.¹⁷ Mit dem Argument, Wissen setze den Unterschied des Denkens und des Gedachten voraus, bestreitet Schleiermacher schließlich die Möglichkeit eines Wissens des Absoluten, denn in ihm seien Denken und Sein identisch. Genauer gesagt ist die absolute Einheit, auf die Schleiermacher als seiner Auffassung nach notwendige Voraussetzung des Wissens zielt, für das Denken bloße Voraussetzung und ebenso für das Handeln, und in beiden nicht „vollziehbar“: im (endlichen) Handeln wäre sie „ein Einzelnes, in Gedanken ein Begriff oder ein Urtheil“ (und damit in Differenz zum darin Gedachten). (KGA II/10, 2, 239) An diesem Punkt gerät Schleiermachers Programm in Gefahr, philosophisch zu scheitern. Wenn die Philosophie ihren Grund nur postulieren, die Voraussetzung dieses Grundes aber nicht nachvollziehbar machen kann, dann versinkt sie nach Schleiermachers eigenen Kriterien in einen bodenlosen Skeptizismus. Schleiermacher rekurriert an dieser Stelle darauf, dass es zwischen Denken und Wollen einen Übergang geben müsse, in dem Denken und Sein zur Einheit gebracht seien. Warum das so sein soll, geht aus dem Manuskript zur Dialektik-Vorlesung 1822 am deutlichsten her KrV B 25 Vgl. Andreas Arndt: „Sentimento e riflessione: Schleiermacher e la filosofia trascendentale“, in: Giornale critico della filosofia italiana 71 (1992), 422– 446; dagegen behauptet Sergio Sorrentino einen Unterschied beider Termini; Ermeneutica e filosofia trascendentale, Bologna 1986.
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vor: „Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. Also: Sofern nicht mehr das Sein der Dinge in uns gesezt wird wird unser Sein in die Dinge gesezt. Aber unser Sein ist das sezende und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl“. (KGA II/10, 1, 266) Schleiermacher sieht unser (endliches) setzendes Sein „in Analogie mit dem transcendenten Grunde“, sofern hierin Denken und Sein zusammenfallen. Nun ist aber prima facie gar nicht einzusehen, weshalb dieser Übergang ein Unbegreifliches sein soll, weshalb hier auf ein Gefühl zurückzugehen ist. Ein Indifferenzpunkt zwischen Denken und Wollen lässt sich ebenso begrifflich einsichtig machen wie ein Übergang vom Denken zum Wollen, wenn der Begriff des Wollens so gefasst wird, dass er ein bestimmtes Wollen einschließt, zumal es als ein leeres, nicht auf ein Gedachtes bezogenes Wollen gar kein Wollen wäre. Ich sehe nicht, wie Schleiermacher – selbst innerhalb seiner eigenen philosophischen Voraussetzungen – den Übergang zum Gefühl, der ja eine metábasis eis allo génos darstellt, zwingend machen könnte. Und ebenso bleibt auf philosophischem Wege unverständlich, weshalb dieses Gefühl ein religiöses sein soll, denn der Übergang vom Denken zum Wollen ist ja an sich schwerlich als ein religiöser Akt anzusehen. Für Schleiermacher indessen ist die „transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins“ zugleich auch „die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl“ (KGA II/10, 1, 267), weil er die Indifferenz von Denken und Wollen schon immer in Analogie zu einem mit einer Gottesvorstellung zusammengebrachten Grund als Einheit des Denkens und Wollens zusammenbringt. Indem beide – das religiöse Gefühl wie der „Urgrund“ (KGA II/10, 1, 267) – als unmittelbar charakterisiert werden, wird dabei das eine nicht begrifflich Fassbare – der „Urgrund“ – durch ein anderes nicht begrifflich Fassbares – das „Gefühl“ – repräsentiert, womit für die philosophische Reflexion tatsächlich die, von Schleiermacher auch diskutierte, Schwierigkeit entsteht, ob nicht die Religion die Philosophie begründet. Schleiermachers Antwort ist die, dass er religiöses und philosophisches Gottesbewusstsein als Korrelate ansieht: im Religiösen knüpft sich das Gottesbewusstsein an Endliches, während es im Philosophischen rein hervortreten soll.¹⁸ Sofern es aber die Philosophie ist, die das Gottesbewusstsein derart isoliert, ist sie auch nur Dolmetscherin des religiösen Gefühls, auf das sie reflektiert. Ich sehe auch nicht, dass diese Reflexion im Gefühl selbst angelegt ist, wie Peter Grove in seiner Deutung der Schleiermacherschen Religionsphilosophie
Vgl. KGA II/10, 2, 242. – Dieses korrelative Verhältnis steht im Mittelpunkt des oben erwähnten Buches von Peter Grove.
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behauptet, wenn er die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins als Gefühl als in sich latent unterschieden bzw. differenziert auffasst.¹⁹ Abgesehen davon, dass sich Schleiermachers Rede von „Unmittelbarkeit“ im Unterschied zu „Reflexion“ dann kaum noch rechtfertigen ließe, wäre eine begriffliche Explikation des im religiösen Gefühl bloß Latenten nichts anderes als das, was Schleiermacher und seine religiös motivierten Interpreten perhorreszieren: eine Aufhebung des religiösen Inhalts in das philosophische Begreifen. Tatsächlich erweist sich das Gefühl als eine black box, in die neben allem möglichen anderen Differenzen auch die Differenz von Religion und Philosophie versenkt ist, aus der heraus sie aber – jedenfalls auf philosophischem Wege – nicht einsichtig gemacht werden kann. Die Schwierigkeit, die philosophische von der religiösen Seite des Gefühls zu unterscheiden, kehrt auf der Ebene der transzendentalen Ideen wieder mit der Unterscheidung der Ideen von Gott und Welt, die von Schleiermacher für eine mit dem Christentum kompatiblen Philosophie als unverzichtbar gilt. Die Idee Gottes bezeichnet als der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns das Unbedingte, von dem alles Bedingte abhängt und seinen Ausgang nimmt. Sie ist Idee der Gewissheit im Wissen und des Gewissens im Handeln,²⁰ die wir im Gefühl als der „relativen Identität des Denkens und Wollens“ „haben“ (KGA II/10, 1, 142). Korrelat der Gottesidee als der Idee des Unbedingten ist die Idee der Welt als Idee der Totalität des Bedingten, in der alles „unter der Form des Gegensazes“ steht (KGA II/10, 1, 49). Als Totalität des Endlichen bestimmt sie, Schleiermacher zufolge, „auch die Grenze unseres Wissens. Wir sind an die Erde gebunden. Alle Operationen des Denkens, auch das ganze System der Begriffsbildung muß darin gegründet sein.“ (KGA II/10, 1, 48) Beide Ideen liegen außerhalb des realen Wissens: die Gottesidee, weil die absolute Einheit des Seins und Denkens kein Wissen sein kann, die Idee der Welt, weil die Totalität des Seins von unserem Wissen nicht erschöpft werden kann. Ist erstere der Grund und terminus a quo des Wissens, so ist letztere der „transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“ (KGA II/10, 1, 149) Die hier vorgenommene Unterscheidung beruht indessen darauf, dass Schleiermacher auf der dem begreifenden Denken überhaupt nicht zugänglichen Ebene des transzendenten bzw. transzendentalen Grundes einen logischen Formunterschied einführt, nämlich, dass die Idee Gottes eine Einheit ohne Gegensatz, die Idee der Welt aber die Einheit aller Gegensätze sei. Die Annahme dieser Idee ist indessen ebenso wie der Rekurs auf das religiöse Gefühl im Übergang vom Denken zum Wollen philosophisch Vgl. P. Grove: Deutungen des Subjekts, Berlin und New York 2004, 528. – Dass Unmittelbarkeit immer in der Funktion von Vermittlung steht, heißt nicht, das sie begrifflich als in sich differenziert, d. h. vermittelt gedacht wird. Vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004. Vgl. KGA II/10, 1, 141 f. (§ 215) und 143 f. (§ 216).
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Teil IV: Die Dialektik und das Verhältnis zu Hegel
nicht zwingend zu machen. Nichts spräche dagegen, die mit der Idee der Welt bezeichnete Struktur einer in sich gegensätzlichen Einheit auch als terminus a quo des werdenden Wissens in Anspruch zu nehmen, denn die Einführung der als relationslose Identität ausgegebenen Gottesidee an dieser Stelle beruht allein auf Versicherungen über den angeblichen Inhalt eines Gefühls, der unserem Begreifen so unzugänglich ist wie der deus absconditus selbst. (3) Am Ende seiner eingangs zitierten Abhandlung über Theologie und Philosophie schreibt Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Erklärungen der Unabhängigkeit der Theologie von der Philosophie „präzisieren sein Programm der Dogmatik: sie markieren die inhaltliche Unabhängigkeit der christlichen Religion […] von spekulativer Begründung“, wobei sie jedoch die Zusammenstimmung des christlichen Glaubens mit dem philosophischen Gottesgedanken voraussetzen.²¹ Tatsächlich denkt Schleiermacher das Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. Religion in erster Linie von der Religion her; dies legt auch Peter Grove in seiner eingehenden Interpretation nahe, wenn er am Schluss vor allem den „Gewinn für die religiöse Deutung“ bilanziert: „Für ihre Wahrheit bürgt die allgemein begründete metaphysische Gottesidee“.²² Letzteres scheint mir indessen auch unter Schleiermachers Voraussetzungen der Philosophie zu viel aufzubürden. Sie kann schlechthin nicht die religiöse Wahrheit affirmieren, sondern sie nur gelten lassen, indem sie keine ausschließende philosophische Deutungsalternative zu ihr formuliert. Dass Schleiermacher dies nicht tut, ist jedoch, jedenfalls nach meiner Auffassung, keineswegs philosophisch zwingend, sondern beruht darauf, dass er das philosophische Begründungsverfahren durch einen Sprung, den Sprung in das religiöse Gefühl, vermeintlich löst, indem er es in Wahrheit abbricht. An dieser Schwierigkeit partizipiert auch die Dogmatik, wie die Erläuterung zum § 36 der ersten Auflage der Glaubenslehre deutlich macht, in der die „unfromme Erklärung“ des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit zurückgewiesen wird, „als sage es eigentlich nur die Abhängigkeit eines einzelnen Endlichen von der Ganzheit und Gesammtheit alles endlichen aus, und beziehe sich der Wahrheit nach nicht auf die Idee Gott, sondern auf die Idee Welt“. (KGA I/7, 1, 124) Hiergegen wehrt sich Schleiermacher unter Verweis auf die Unterscheidung der Ideen von Gott (ungeteilte, absolute Einheit) und Welt (geteilte Einheit als Gesamtheit aller Gegensätze und Differenzen); beide Ideen seien „auf irgend eine Weise“ auseinander zu halten. Dies geschieht hier im Blick auf die in der Philosophie getroffene Unterscheidung beider Ideen dadurch, dass eine „unfromme“
H.-J. Birkner: Theologie und Philosophie, München 1974, 43. Grove: Deutungen des Subjekts, Berlin und New York 2004, 618.
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Erklärung des religiösen Gefühls „denen, welche das religiöse Gefühl in sich tragen, nicht zusagen“ könne (KGA I/7, 1, 124). Inhaltlich beruft sich Schleiermacher darauf, dass mit der Ineinssetzung der Ideen Gottes und der Welt auch das in der Idee der Welt begründete Freiheitsgefühl geleugnet werden müsse, da es in dem religiösen Gefühl, schlechthin abhängig zu sein, ausgeschlossen sei. Diese Erklärung nimmt indessen reflexive Unterscheidungen in Bezug auf ein Gefühl vor, das als unmittelbares Selbstbewusstsein gar nicht als solches der Reflexion zugänglich ist. Die Abgrenzung gegen eine unfromme philosophische Deutung des Gefühls hängt daran, dass die Subjektivität des Gefühls der Philosophie keine Deutungsmacht über sich einräumt. Es gehört zur Ironie der Schleiermacherschen Wirkungsgeschichte, dass gerade seine Dogmatik, der er doch ebenso wenig einen Einfluss auf die Philosophie gestatten wollte wie umgekehrt der spekulativen Philosophie auf die Dogmatik, dazu beitrug, die philosophische Landschaft neu zu gestalten. Feuerbach nahm das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl als ein religiöses Gefühl ernst, um es zugleich als entfremdetes Selbstbewusstsein zu dechiffrieren. Ob diese Lesart in der Sache durchschlagend ist, kann mit Recht bezweifelt werden; wirkungsgeschichtlich war sie durchschlagend, denn sie leitete den Bruch mit einer Epoche der Philosophiegeschichte ein, auf deren Boden sich Schleiermacher bewegt hatte. Auch wenn damit die Probleme, die diese Epoche gestellt hatte, noch nicht bewältigt sind, so dürfte es danach kaum mehr möglich sein, ein religiöses Gefühl im Zuge eines philosophischen Begründungsverfahrens in Anspruch zu nehmen. Wenn die Religion, wie Schleiermacher es voraussetzte, eine eigene Wahrheit beansprucht, die nicht durch die Philosophie erst begriffen und verbindlich gemacht werden muss, dann würde sie dadurch wohl auch nichts verlieren, denn sie darf dann nicht mehr nur, sie muss auch nicht mehr darauf hoffen, dass sie sich mit der Philosophie berührt. Sie müsste sich dann allerdings, ungeachtet ihres auf Totalität zielenden Anspruchs, damit begnügen, eine Welt- und Lebensdeutung neben anderen zu sein. Zu einer solchen radikalen Provinzialisierung der Religion hat Schleiermacher sich nicht verstehen können. Alles andere aber wäre heute, so fürchte ich, nur Grundlage eines Fundamentalismus.
Teil V: Antike Philosophie
1 Schleiermacher und Platon „Es giebt gar keinen Schriftsteller der so auf mich gewürkt und mich in das Allerheiligste nicht nur der Philosophie sondern der Menschen überhaupt so eingeweiht hätte, als dieser göttliche Mann“. (KGA V/4, 82) Aus diesem brieflichen Selbstzeugnis ist immer wieder gefolgert worden, Platon habe einen bestimmenden Einfluss auf Schleiermachers eigene Philosophie gehabt. Bei aller Verehrung des Platon, die Schleiermacher auch sonst bezeugt, steht diese Äußerung indes relativ isoliert da. Entwicklungsgeschichtlich lässt sich ein bestimmender Einfluss auf seine Systemkonzeption nicht belegen.¹ Schleiermachers eigenständige philosophische Positionen formieren sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Hallischen Schulphilosophie seines akademischen Lehrers Johann August Eberhard (1739 – 1809), mit der Kantischen Vernunftkritik und mit Friedrich Heinrich Jacobis Spinoza-Buch. Im Mittelpunkt steht dabei das Problem der Ethik, und in diesem Zusammenhang ist es unter den antiken Philosophen vor allem Aristoteles, auf den sich Schleiermachers Aufmerksamkeit richtet. Von Platon ist bis 1794, als Schleiermacher zu den Grundlagen seines Ansatzes findet, den er dann seit 1797 in die philosophische Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel einbringt, kaum die Rede. Dies legt die nüchterne Einsicht nahe, dass Schleiermachers Wahlverwandtschaft mit Platon sich erst im Gefolge eines Prozesses einstellte, der weitgehend unabhängig von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dessen Philosophie verlief. Gewiss war Schleiermacher, der eine humanistische Erziehung genossen hatte, wie alle Gebildeten seiner Zeit schon seit der Jugend durch eigene Lektüre mit Platonischen Dialogen vertraut. Am Nieskyer „Pädagogium“, dem Gymnasium der Herrnhuter Brüdergemeine, das er 1783 – 1785 besuchte, stand Platon bereits auf dem Programm.² Während der Studienzeit in Halle (1787– 1789) geriet jedoch Aristoteles ins Zentrum des Schleiermacherschen Interesses, dessen Nikomachische Ethik er ebenso wie die Politik übersetzen und kommentieren wollte. Als Schulamtskandidat am Gedikischen Seminar in Berlin verfasste er um die Jahreswende 1793/94 eine (in Latein geschriebene) Abhandlung mit der Überschrift „Philosophiam politicam Platonis et Aristotelis comparavit Schleiermacher“.³
Vgl. zur philosophischen Entwicklung Schleiermachers Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974; Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spimoza 1789 – 1794, Berlin und New York 1988; Andreas Arndt: „Kommentar“, in: Schleiermacher: Schriften, Frankfurt/Main 1996, 1034– 1104. Vgl. KGA V/1, XXVIII. Vgl. KGA I/1, 501– 509.
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Teil V: Antike Philosophie
Diese Pflichtarbeit lässt Schleiermachers eigene Stellung zu Platon kaum hervortreten und belegt jedenfalls nicht einen besonderen Enthusiasmus für dessen Philosophie. So überzeugt seine 1802 geäußerte Selbsteinschätzung, wonach er Platon in seinen früheren Jahren zwar bewundert, aber nicht eigentlich verstanden habe: „Wie wenig habe ich den Platon, als ich ihn zuerst auf Universitäten las im Ganzen verstanden daß mir oft wohl nur ein dunkler Schimmer vorschwebte, und wie habe ich ihn dennoch schon damals geliebt und bewundert“. (KGA V/6, 70) Dies ist nicht intellektuelle Koketterie, sondern entspricht dem, was die Forschung von Schleiermachers philosophischer Entwicklung zu sagen weiß. Seine Lehrerausbildung, in deren Rahmen er die erwähnte Abhandlung schrieb, brach Schleiermacher 1794 ab, als sich ihm die Möglichkeit bot, eine Hilfspredigerstelle in Landsberg an der Warthe anzutreten. Zum Herbst 1796 wurde er dann als reformierter Prediger an die Berliner Charité berufen, wo er bis zum Frühjahr 1802 sein Amt versah. Nach einem Zwischenspiel als Hofprediger im Pommerschen Stolp wurde Schleiermacher zum Wintersemester 1804/05 als Theologieprofessor an die Universität Halle berufen. Hier lehrte er bis zum Zusammenbruch Preußens und ging dann, als Halle im Tilsiter Frieden von Preußen abgetrennt und dem Königreich Westfalen zugeschlagen worden war, nach Berlin. Dort fand er seinen endgültigen Wirkungskreis als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche (seit 1809), Professor der Theologie an der neugegründeten Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften (seit 1810). Noch während der Stolper Zeit, zur Ostermesse 1804, erschien im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung (Georg Andreas Reimer) Platons Werke von F. Schleiermacher. Ersten Theiles Erster Band mit den Dialogen Phädros, Lysis, Protagoras und Laches. Bis 1809 kamen dann in rascher Folge vier weitere Bände hinzu,⁴ bevor das Unternehmen ins Stocken geriet; der erste Band des dritten Teils mit dem Staat konnte, nachdem er seit 1810 vom Verlag vielfach angekündigt worden war,⁵ erst 1828 publiziert werden. Die Übersetzung blieb insgesamt ein Torso. Schleiermachers Platon-Beschäftigungen fanden ihren Höhepunkt und sichtbarsten Ausdruck demnach in den Jahren vor der Gründung der Berliner Universität, wobei das Stocken der Übersetzung nach 1809 eher den beruflichen Verpflichtungen und dem Hervortreten anderer Arbeitsprojekte als einem ab-
1805 erschienen zwei weitere Bände (Teil 1, Bd. 2 mit Charmides, Euthyphron, Parmenides, Apologie, Kriton, Ion, Hippias minor, Hipparchos, Minos, Alkibiades II; Teil 2, Bd. 1 mit Gorgias, Theätetos, Menon, Euthydemos). Der zweite Band des zweiten Teils (Kratylos, Sophist, Politikos, Symposion) erschien 1807, der dritte 1809 (Phädon, Philebos, Theages, Nebenbuhler, Alkibiades I, Menexenos, Hippias maior, Kleitophon). Vgl. Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers, Berlin und New York 1992, 68 f.
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nehmenden Interesse geschuldet ist. Für die frühen Jahre aber gilt, dass Schleiermachers Entwicklung zunächst keineswegs in den Bahnen der Platonischen Philosophie verlief, sondern erst auf sie hingeführt werden musste. Tatsächlich scheint Schleiermacher erst durch die philosophische Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel, dessen philosophische Überlegungen – auch vermittelt durch den niederländischen Philosophen Franz Hemsterhuis – vielfach affirmativ auf Platon Bezug nehmen, zu einem eingehenderen Studium der Platonischen Philosophie angeregt worden zu sein. Während seines Aufenthaltes in Potsdam von Mitte Februar bis Mitte Mai 1799, wo er eine Hofpredigerstelle vertrat und in dieser Zeit die Reden über die Religion vollendete, hatte sich Schleiermacher das Studium Platonischer Dialoge zur besonderen Aufgabe gemacht.⁶ Wenn er über ein Jahr später in brieflichen Äußerungen rückblickend von seiner Verehrung des Platon und der außerordentlichen Wirkung dieses Philosophen auf ihn spricht, so dürfte sich dies vor allem auf die intensiven Studien seit 1799 beziehen.⁷ Hierbei stand Friedrich Schlegels Interesse an einem gemeinsamen Arbeitsprojekt im Hintergrund, der dann unmittelbar nach dem Abschluss der Reden den Vorschlag machte, die Werke Platons zu übersetzen.⁸ Schleiermacher stimmte sofort zu, denn die Notwendigkeit eines solchen Unternehmens hatte ihm Schlegel bereits 1798 nahegebracht. So erinnert sich Schleiermacher einem Brief an den Altphilologen August Boeckh (1785 – 1867) vom 18.6.1808: „Es muß schon Ao. 1798 gewesen sein, als Fr. Schlegel in unsern philosophierenden Unterhaltungen, in denen Platon nicht selten vorkam, zuerst ganz flüchtig den Gedanken äußerte, daß es notwendig wäre, in dem dermaligen Zustand der Philosophie den Platon recht geltend zu machen, und ihn deshalb vollständig zu übersetzen. Schon mit der
Vgl. KGA V/3, XX Vgl. Schleiermacher an C.G. von Brinckmann, 22.4.1800: „Ich fordere Deinen Glükwunsch und Deinen Segen zu einem großen Werk, zu welchem ich mich mit Friedrich Schlegel verbunden habe. Es ist die bereits angekündigte Uebersezung des Plato. […] Es begeistert mich: denn ich bin von Verehrung des Platon seit ich ihn kenne unaussprechlich tief durchdrungen – aber ich habe auch eine heilige Scheu davor, und fürchte fast über die Grenze meiner Kräfte hinausgegangen zu sein“. (KGA V/3, 486) Vgl. Schleiermacher an H. Herz, 29.4.1799: „Schlegel schrieb mir kurz vor meinem letzten Berlin von einem großen Coup den er noch vorhätte mit mir und das ist denn nichts geringeres als den Plato übersetzen. Ach! es ist eine göttliche Idee, und ich glaube wol daß es wenige so gut können werden als wir, aber eher als in einigen Jahren wage ich doch nicht es zu unternehmen, und dann muß es so frei von jeder äußern Abhängigkeit unternommen werden als je ein Werk ward und Jahre die darüber hingehen müssen nichts geachtet werden. Doch das ist ein Geheimniß und liegt noch sehr weit.“ (KGA V/3, 101)
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Teil V: Antike Philosophie
ersten Äußerung war auch die verbunden, daß dies unser gemeinsames Werk sein müsse.“⁹ Schleiermachers Platon-Übersetzung ist an ihrem Ursprung ein Projekt frühromantischen „Symphilosophierens“ und in Genese und Entwicklung untrennbar mit Friedrich Schlegel verknüpft. Der Plan der Übersetzung konkretisierte sich, als Schlegel, der inzwischen nach Jena übergesiedelt war, im Februar 1800 mit dem dortigen Verleger Karl Friedrich Ernst Frommann verhandelte¹⁰ und im März schließlich handelseinig wurde.¹¹ Der Vertrag sah zwei Bände vor, deren erster bereits Ostern 1801 erscheinen sollte. Die Übersetzungen wollte Schlegel arbeitsteilig durchgeführt wissen, wobei die Resultate wechselseitiger Kritik unterworfen werden sollten. Er selbst wollte für den ersten Band eine ausführliche (und mit 15 Reichstalern besonders honorierte) „Einleitung über das Studium des Plato“ verfassen, die dessen Bedeutung für die philosophische Diskussionssituation um 1800 erläutern sollte; Schleiermacher dagegen sollte den letzten Band mit einer „Charakteristik des Plato“ beschließen, worunter nach dem damaligen Sprachgebrauch Schlegels eine systematische Nachkonstruktion zu verstehen ist. Besonderen Wert legte Schlegel auf die Anordnung der Dialoge und plädierte für eine historische Ordnung: „Bey der letzten Lektüre schien es mir als müßte sich ein Stufengang entdecken lassen, als schlössen sich mehr Gespräche an einander als man gewöhnlich annimmt, und als sey es sehr möglich eine instructive Suite herauszuheben die die Uebersicht des Ganzen nicht wenig aufhellen würde, wenngleich es gar nicht nöthig wäre, daß jeder Dialog seine Stelle darin fände“.¹² Schlegels Hauptinteresse galt somit dem Allgemeinen, dem systematischen Zusammenhang des platonischen Denkens in seiner Entwicklung, der aus den überlieferten Dialogen zu rekonstruieren war. Sein Übersetzungs-Projekt zielte auf ein ganzheitliches Verständnis des Platonischen Geistes, und hierin ist Schleiermacher ihm – trotz aller Unterschiede der Auffassung im Einzelnen – auch dann verpflichtet geblieben, als er das Unternehmen schließlich allein durchführte. Die
Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1, 2, Göttingen ³1970, 70; der dort 70 – 75 zitierte Brief gibt einen Überblick über den ganzen Verlauf des Unternehmens aus Schleiermachers Sicht. Vgl. ferner die dazu gehörige Darstellung (Schleiermachers Übersetzung des Platon) ebd., 37– 62; Günter Meckenstock: „Historische Einführung“, in: KGA I/3, XCVI–CVI; zu Schlegel vgl. den Kommentar in KFSA 19, 535 – 539 sowie – mit wichtigen Korrekturen hinsichtlich des Standes der Schlegelschen Übersetzungsarbeiten – Hermann Patsch: „Friedrich Asts ‚Euthyphron‘ Übersetzung im Nachlaß Friedrich Schlegels. Ein Beitrag zur Platon-Rezeption in der Frühromantik“, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1988, 112– 127. Vgl. KGA V/3, 378 f.385. Vgl. F. Schlegel an Schleiermacher, 10. 3.1800, ebd., 412. Ebd.
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Übersetzung als systematische und genetische Nachkonstruktion eines Ganzen¹³ – dies ist das Programm einer „hermeneutischen Wende“ um 1800, welche die aufklärerische Stellenhermeneutik in das umfassendere Programm einer Erklärung des Ganzen aus seinen Teilen einstellte. Diese Wende, für die vielfach Schleiermacher das Verdienst zugesprochen wurde, ist in den entscheidenden Punkten von Friedrich Schlegel vollzogen und dann in der Systematisierung seiner Ansätze von seinen Weggefährten Schleiermacher und Friedrich Ast zur Geltung gebracht worden.¹⁴ In seinen Briefen gestand Schleiermacher auch zu, dass für ihn auf dem Gebiet der „höheren“ philologischen Kritik Friedrich Schlegel das maßgebende Vorbild sei, wenngleich es er ihr durch die „niedere“ erst ein tragfähiges Fundament verschaffen müsse: „Meine Ideen würden wol nicht so viel umfassend sein als die seinigen, und meine Constructionen nicht so groß aber die Ausführung vielleicht in mancher Hinsicht tüchtiger und brauchbarer. Allein diese höhere Philologie hat keine andere Basis als die niedere und ohne große Virtuosität in dieser schwebt jene nur in der Luft, und kann vielleicht sehr wahr sein, aber sich nicht beweisen […]. Hier fehlt es mir nun noch gar sehr, und ich werde mich deshalb nie an etwas Großes wagen können wie Wolf oder Schlegel […] sondern nur an solche Einzelheiten wie den Platon“. (KGA V/7, 154) Eine erste Verstimmung entstand, als Schlegel in seiner Ankündigung der geplanten Übersetzung Schleiermacher nicht nannte.¹⁵ Andere literarische Vorhaben, vor allem die Arbeit an dem nie fertiggestellten zweiten Teil seines Romans
Vgl. zur schrittweisen Einbeziehung des genetischen Aspekts in Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ Hendrik Birus: „Hermeneutische Wende? Anmerkungen zur Schleiermacher-Interpretation“, in: Euphorion 74 (1980), bes. 219 – 222. Vgl. ebd. – Bereits Josef Körner hatte hinsichtlich der Hermeneutik die Abhängigkeit Schleiermachers von Schlegel erkannt („Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie“, in: Logos 17, 1928, 1– 72); Hermann Patsch hat diese These dann, auch auf der Grundlage der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, überzeugend belegen können („Friedrich Schlegels ‚Philosophie der Philologie‘ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63, 1966, 434– 472). – Vgl. auch Hendrik Birus: „Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik“, in: Hermeneutische Positionen, hg.v. H. Birus, Göttingen 1982, 15 – 58; Hermann Patsch: „Friedrich August Wolf und Friedrich Ast: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie“, in: Klassiker der Hermeneutik, hg.v. U. Nassen, Paderborn 1982, 76 – 107. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen ihnen in KGA V/3; in der Anzeige im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 43 vom 29. 3.1800, hieß es: „Warum ich es überhaupt und besonders jetzt, nach der Erfindung und Aufstellung der Wissenschaftslehre, für nützlich ja für nothwendig halte, das Studium dieses großen Autors, mit welchem das der Philosophie am schicklichsten angefangen und am würdigsten beschlossen wird, allgemeiner zu verbreiten, werde ich in einer besondern Abhandlung, welche das ganze Werk eröffnen soll, zu entwickeln suchen.“
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Lucinde, hinderten Schlegel auch daran, selbst an die Übersetzung zu gehen und Schleiermacher seine Hypothesen zum inneren Zusammenhang der platonischen Dialoge umfassend darzulegen. Erst auf wiederholtes Drängen des Freundes schickte er ihm im Dezember 1800 seinen „Complexus von Hypothesen“, die Grundsätze zum Werk Platons. ¹⁶ Schleiermacher, der bereits zuvor einige der ihm bruchstückhaft mitgeteilten Hypothesen Schlegels bezweifelt und besonders hinsichtlich der Echtheit einiger Dialoge andere Auffassungen geäußert hatte, war hiervon keineswegs beeindruckt. Er sah sich jetzt aber genötigt, über seine historisch-philologischen Detailstudien hinauszugehen, die er zusammen mit dem befreundeten Philologen Ludwig Friedrich Heindorf (1774– 1816) betrieben hatte, und seinerseits den Zusammenhang des Ganzen zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Im Zuge dieser Arbeit entstand ein Heft Zum Platon (KGA I/ 3, 343 – 375), dessen erste Notiz sich kritisch auf Schlegels Ordnung der Dialoge bezieht.¹⁷ Als erste Publikation Schleiermachers zum Thema „Platon“ erschien am 12. April 1802 in der Erlanger Literaturzeitung anonym die Rezension von Friedrich Asts Untersuchung De Platonis Phaedro (Jena 1801),¹⁸ die vor allem deshalb bemerkenswert ist, weil darin die Tendenz kritisiert wird, die eigenen systematischen Auffassungen zur Maxime einer Interpretation der Platonischen Philosophie zu machen.¹⁹ Ast wird hierbei als Anhänger des Idealismus vorgestellt, in dem er sehr bewandert sei; gemeint ist der transzendentale Idealismus auf der Linie Fichtes und Schellings. Nicht abzuweisen ist die Vermutung, dass dies auch als versteckte Kritik an die Adresse Friedrich Schlegels zu werten ist, dessen Platon-Beschäftigung wesentlich durch die Aktualität dieses Denkens für die Entwicklung der Transzendentalphilosophie motiviert war. Schließlich war Friedrich Ast mit Schlegel bekannt und in der Folge nicht nur der Schellingianer in der Philologie und Ästhetik, sondern in seinen Untersuchungen zum Platon der Schüler Friedrich Schlegels. Das Verhältnis seiner eigenen philosophischen Position zu Platon bestimmte Schleiermacher erstmals in den 1803 erschienenen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Hierin versucht er, den Status der Ethik als Wissenschaft im
So der redaktionelle Titel der Erstveröffentlichung in KFSA 18, 526 – 530; vgl. KGA V/4, 350 – 359, wo die Grundsätze als Bestandteil des Schlegel-Briefes ediert sind und deren Aufnahme durch Schleiermacher im Apparat ausführlich dargestellt wird. Die Aufzeichnungen sind zwischen Ende 1800 und 1803 entstanden (vgl. ebd., XCVI–CVI). In Nr. 1 (343) wird, abweichend von Schlegel, eine Zuordnung des Dialogs Lysis zur ersten Periode erwogen; vgl. dazu auch an F. Schlegel, 27.4.1801, KGA V/5, 110. KGA I/3, 469 – 481; vgl. die Vorüberlegungen ebd., 304, Nr. 81. Vgl. KGA I/3, 471.474.477.
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systematischen Zusammenhang der Wissenschaften zu bestimmen. Das Prinzip der Ethik soll in einer „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften“ (KGA I/4, 48) gefunden werden. Das Fehlen einer solchen Wissenschaft macht sich für Schleiermacher darin bemerkbar, dass – sowohl in der antiken Einteilung in Logik, Physik und Ethik als auch der neueren in theoretische und praktische bzw. Naturphilosophie (Physik) und Ethik – die realphilosophischen Systemteile untereinander nicht zur Einheit gebracht worden sind. Diese Kritik wird ausführlich im Blick auf Kant und besonders auch Fichte durchgeführt, während Schelling (dem Schleiermacher das Fehlen einer Ethik vorwarf) nur am Rande Erwähnung findet. Als Anknüpfungspunkt für eine wissenschaftliche Begründung der Ethik bleiben nur Platon und Spinoza, welche „objectiv philosophirt haben, das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendigen Gegenstande ausgegangen sind.“ (KGA I/4, 66) Der Mangel bestehe bei Spinoza darin, dass die „einzelnen Naturen“ zwar formal aus dem Unendlichen abgeleitet, aber nicht in ihrer besonderen Bestimmtheit begreiflich gemacht sind; Platon dagegen habe die oberste Wissenschaft als den gemeinschaftlichen Grund der Ethik und Physik nur poetisch bezeichnet. Gleichwohl erhellt aus dieser Bezugnahme, in welcher Weise Schleiermacher systematisch an Platon anknüpfen will: die endliche, im Werden begriffene und unter dem Gegensatz stehende „Welt“ soll unmittelbar auf das Unwandelbare und Unendliche ihres Einheitsgrundes so bezogen werden, dass die Besonderungen der erscheinenden Wirklichkeit als individualisierte Darstellungen dieser „Idee“ gelten. Platon steht hier als Zeuge für die Annahme eines unmittelbaren, absolutidentischen Seins, welches den Entgegensetzungen der endlichen Wirklichkeit voraus- und zugrunde liegt. In dieser Konzeption, die sich den Debatten der nachkantischen Philosophie in Deutschland verdankt, sind Kantisch-Fichtesches Transzendentalsubjekt und Spinozistische Substanz zu einem bewusstseinstranszendenten Einheitsgrund zusammengeschmolzen. Der Sache nach wird nur die Position bekräftigt, die Schleiermacher bereits 1793/94 in der Konfrontation Kants mit Spinoza erreicht hatte. Ihre Verknüpfung mit der Platonischen Ideenlehre führt zu keiner tiefgreifenden Modifikation und bleibt insofern äußerlich. Als Bezugspunkt fungiert dabei ein wenig spezifiziertes, ästhetisch gerichtetes Verständnis des Platonismus, das über die bezeugte Verehrung für den Geist Platons hinaus kein systematisches und kritisches Eingehen auf die Sache und die theoretischen Mittel seiner Philosophie selbst erkennen lässt. Als die Grundlinien erschienen, war Friedrich Schlegel bereits nach Paris übergesiedelt (1802), ohne seinen Teil für die Übersetzung des Platon beigesteuert zu haben. Weder die Mahnungen des Verlegers noch Schleiermachers zum Teil
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verbitterte Vorhaltungen und sein Rückzug von der Mitherausgeberschaft hatten hier etwas bewirken können.²⁰ Nachdem Schlegel wenigstens seine Einleitungen zum Parmenides und Phädon geschrieben²¹ und auch eine kurze, allgemeine Einleitung in das Studium des Platon vollendet hatte,²² setzte Frommann eine letzte Frist bis Anfang 1803, die erfolglos verstrich. In einem Brief an Schleiermacher vom 5. Mai 1803 zog Schlegel sich schließlich von dem gemeinsamen Unternehmen zurück, denn: „Das Uebersetzen ist wohl eigentlich nicht sehr meine Stärke. Ich habe keine rechte Neigung dazu“. (KGA V/6, 363) Er behielt sich aber vor, eine Kritik des Plato auf der Grundlage seiner bisher geleisteten Unter-
Vgl. seinen Brief vom 27.4.1801, worin es heißt: „Ja wenn ich aufrichtig sein soll muß ich Dir gestehen, daß Du durch die Art wie Du den Platon und meinen Antheil daran behandelst das Mögliche thust, um mir die Lust zur ganzen Sache zu verleiden. […] Du siehst leicht, daß […] ich eigentlich gar keine öffentliche Verantwortlichkeit übernehmen kann, und es also ganz unnüz wäre meinen Namen zu nennen.“ (KGA V/5, 108 f.) Nach Schlegels Brief vom 16.11.1801 war Schleiermacher zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bereit, seinen Namen für das Unternehmen herzugeben; Schlegel akzeptierte dies, bat aber Schleiermacher gleichwohl, ihm auch noch bei der Einleitung über das Studium des Platon mit einer Vorlage beizustehen (vgl. ebd., 259 f.). KFSA 18, 531– 537. Vgl. den Brief vom 13. Frimaire (4. Dezember) 1802: „Mich wundert daß Du die beiden kleinen Einleitungen noch nicht hattest da Du schriebst; sie sind schon sehr lange abgesandt; die große hast Du nun wohl auch, wiewohl auch diese nur intensiv groß ist.“ (KGA V/6, 233). Diese große Einleitung ist nicht überliefert, aber sie ist wohl in Schlegels Charakteristik des Platon in der Geschichte der europäischen Literatur (1803/04) eingegangen (KFSA 11, 118 – 125); vgl. ferner Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (Köln 1804/05; KFSA 12, 207– 226), wo Schlegel auch noch einmal seine Ansichten über die Echtheit und die Ordnung der platonischen Dialoge vorträgt: „Eine vorzügliche Aufmerksamkeit verdient die Untersuchung über die Echtheit aller dem Plato zugeschriebenen Dialoge; hier ist wirklich das größte Mißtrauen nicht genug zu empfehlen. Es war in der damaligen Zeit kein seltener Fall, daß Schüler zu den hinterlassenen Werken des Meisters Zusätze machten, die in seinem Geiste geschrieben, oder ihnen wenigstens so schienen. Die Kritik erwachte erst spät; früher interessierte man sich zu viel für den Inhalt, und nahm daher manches, was mit diesem in den Hauptideen übereinstimmt, ohne Bedenken an. […] Wir gehn nach dieser kurzen Untersuchung die echten Werke in der teils historisch, teils durch wechselseitige Beziehung begründeten Folge durch. – Da bei einer so durchaus progressiven Philosophie die allmähliche Entwicklung und Ausbildung des Gedankensystems die Hauptsache ist, so muß man, um den Zusammenhang des Ganzen zu übersehen, die Ordnung, wie die Dialoge aufeinander folgen, gefunden haben, da die einzelnen uns oft sehr im Dunkeln lassen, und nur eine vollständige Übersicht des Ganzen das richtige Verstehen erleichtern kann. Die Dialoge also, wie sie aufeinander folgen, sind: Phädrus – Parmenides – Protagoras (im Fall er echt ist) – Gorgias – Kratylus (wenn er von Plato ist) – Theätetus – Sophista – Politikus – Phädon – Philebus – Republik – Fragment des Timäus – Fragment des Kritias. Aus diesen Dialogen läßt sich der Geist und die Geschichte der platonischen Philosophie befriedigend aufstellen und erklären“. (212 f.)
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suchungen gesondert herauszugeben.²³ Hierauf kündigte Frommann den Vertrag auf und Schleiermacher gewann den befreundeten Berliner Verleger Georg Andreas Reimer dafür, Frommanns Forderungen zu begleichen und das Projekt zu übernehmen. Schlegel erhob schon nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Übersetzung den Vorwurf, Schleiermacher habe seine Ideen benutzt, ohne ihn auch nur zu erwähnen. In einem Brief an Schlegel vom 10. Oktober 1804 verwahrte sich Schleiermacher dagegen,²⁴ sah sich aber auch in der Folge noch genötigt, den von Schlegel weiterhin verbreiteten Behauptungen entgegenzutreten. Im November 1803 erschien eine auf den 29.7. des Jahres datierte Anzeige die Übersetzung des Platon betreffend, mit der sich Schleiermacher öffentlich als der alleinige Fortsetzer des Schlegelschen Unternehmens darstellte.²⁵ Die darin er-
Diese Schrift, die ebenfalls nie vollendet wurde, hat Schlegel in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Europa auch angekündigt (1, 1, 1803, 54). Auch Friedrich Ast verwies bereits 1803 öffentlich auf diese in Aussicht gestellten „scharfsinnigen Untersuchungen; vgl. Patsch: „Friedrich Asts ‚Euthyphron‘ Übersetzung“, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1988, 120. KGA V/7, 467 f. Im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 212 vom 12.11.1803, Sp. 1732 f, heißt es u. a.: „Vor nunmehr drey Jahren verhieß Fr. Schlegel den Freunden der Philosophie eine vollständige und reichlich ausgestattete Übersetzung der Schriften des Platon. Wiewohl damals nicht öffentlich genannt, und von seiner durch Umstände beschleunigten Ankündigung in der Ferne nichts wissend, sollte dennoch und wollte, einer alten Verabredung gemäß, ich sein Gehülfe seyn an diesem Werke. Welche Ursachen die Erscheinung desselben immer hingehalten, gehört nicht hieher; sondern nur dieses, daß jetzt fast zu gleicher Zeit auf der einen Seite der Verleger, durch immer erneuerte Verzögerung nicht mit Unrecht ermüdet, sich zurückgezogen, auf der andern auch Friedr. Schlegel sich überzeugt hat, er werde in den nächsten Jahren das Geschäft des Übersetzens nicht so eifrig und ausdauernd betreiben können, als dem Fortgange des Unternehmens nothwendig wäre. Solchergestalt von den Verbündeten verlassen, vermag ich dennoch nicht das Werk zu verlassen, sondern finde mich auf alle Weise gedrungen, es auch allein zu wagen. […] Vorzüglich darauf ist der Wunsch gerichtet, die Werke des Platon mehr als bisher geschehen in ihrem Zusammenhange verständlich zu machen; dann auch die Verbindung möglichst zu erhalten und ins Licht zu setzen zwischen dem Zweck und Geist eines jeden und der Methode der Ausführung. […] Eine allgemeine Einleitung soll vorangehend die Leser mit dem Standpunkt des Übersetzers und den Grundsätzen seiner Arbeit bekannt machen, und wenn das günstige Geschick Vollendung gewährt, soll das Ganze beschlossen werden durch einige erläuternde Aufsätze über den Charakter des Platon und der Stelle, welche ihm zukommt unter den Beförderern der Philosophie. Auf gleiche Weise wird jedem Gespräch eine Einleitung vorangehn, und nachfolgende Anmerkungen werden theils die nöthigsten Erläuterungen des Einzelnen enthalten, theils auch für den Sprachkenner die rechtfertigende Anzeige jeder gewagten Änderung. […] Und da auch diejenigen, welche einiges Vertrauen haben könnten zu meinen übrigen Bemühungen, sich ungern von der Hoffnung trennen werden, Fr. Schlegels so eigenthümliches und tief greifendes kritisches Talent auf die Werke des Platon angewendet zu sehen; so wird es diese erfreuen zu erfahren, daß er die Resultate seiner Studien in einer eigenen
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wähnte allgemeine Einleitung am Beginn der Übersetzung stimmt nicht mit dem überein, was Friedrich Schlegel konzipiert hatte; vielmehr sollten zwei (nicht ausgeführte) Aufsätze zum Charakter Platons (also die von Schlegel Schleiermacher zugedachte „Charakteristik“) sowie zu seiner historischen Stellung (dies entsprach Schlegels Plan für die Einleitung) das Unternehmen beschließen. Schleiermachers allgemeine Einleitung zur Platon-Übersetzung stellt demnach nur die Prolegomena einer umfassenderen Würdigung dar, für welche allenfalls die Platon-Abschnitte seiner späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Ersatz bieten können. Entsprechend weist Schleiermacher auch gleich zu Beginn des Textes darauf hin, dass er hier nicht beabsichtige, die Philosophie Platons darzulegen. Er möchte vielmehr grundlegende Hindernisse wegräumen, welche den Zugang zu deren Verständnis versperren. Dies sind insbesondre (1) die Annahme einer esoterischen, „ungeschriebenen“ Lehre, (2) das Fehlen einer „natürlichen“ Folge der Gespräche, welche ihre Systematik erst hervortreten lässt; (3) die Ungewissheit über die Echtheit einzelner Dialoge. Die Einleitung enthält somit nur die hermeneutisch-technischen Prolegomena der Übersetzungsarbeit, nicht aber eine Charakteristik der Platonischen Philosophie. Schleiermachers Einleitung ist auch als Vorwegnahme grundlegender Prinzipien seiner Hermeneutik zu verstehen, wie er sie dann seit 1805 in Halle ausgearbeitet hat.²⁶ Maxime ist hier wie dort der Ausgang vom Nichtverstehen des Autors, wodurch es nötig wird, die Missverständnisse offenzulegen, in denen dieses grundsätzliche Nichtverstehen seinen Ausdruck findet. Der Verstehensprozess orientiert sich dann an der Idee einer organologischen Einheit, in welcher Teil und Ganzes aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig erhellen. Voraussetzung hierfür ist eine spekulativ begründete, strukturelle Homologie zwischen dem Autor und seinem Interpreten. Schleiermacher findet sie in dem Prinzip der Individualität, das es erlauben soll, die geistige Entwicklung – ungeachtet aller Modifikationen durch äußere Einflüsse – als deren Entäußerung, als „Auswickeln“ und Fortbilden eines „Keimentwurfs“ zu verstehen. Sobald man sich
Kritik des Platon den Freunden solcher Untersuchungen, und zwar bald, vorzulegen gedenkt. Desto besser wird dann sowohl was uns gemeinschaftlich ist, als worin wir abweichen diejenigen, welchen beides vor Augen liegt, anleiten können, zum richtigen Verständnis und zur Bildung eines eigenen Urtheils.“ Dies hat Wolfgang Virmond umfassend belegt („Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805)“, in: Archivio di Filisofia 52, 1984, 225 – 232).
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dieses Keimentwurfs versichert hat, ergibt sich gleichsam zwanglos der innere Zusammenhang und die Folge des Ganzen.²⁷ Vor diesem Hintergrund bekommt für das Verständnis Platons die Frage der Datierung der Dialoge ein besonderes Gewicht. Wie Friedrich Schlegel möchte Schleiermacher im Phaidros das früheste Werk erblicken, weil in ihm die Keime seiner ganzen Philosophie versammelt seien und es eine „Ahnung des Ganzen“ hervortreten lasse. Diese Annahme wurde seit 1832 hinfällig, als der Phaidros von der historisch-philologischen Forschung aus dem Kreis der frühen Dialoge ausgeschieden und der Reifezeit Platons zugeordnet wurde.²⁸ Dies bedeutete mehr als nur eine Korrektur des Schleiermacherschen Platon-Bildes, nämlich eine Infragestellung grundlegender Annahmen seiner hermeneutischen Theorie. Wenn die neuere Forschung Schleiermachers Platon-Interpretation kritisiert, weil sie durch frühromantisch-identitätsphilosophische Grundannahmen belastet sei, die zu einer Überformung der historischen Zeugnisse zugunsten eines teleologisch strukturierten Gesamtbildes führen, so ist in erster Linie dieser Sachverhalt angesprochen. Die Auseinandersetzung mit dieser Kritik verlangt auch eine Klärung des Problems, in welchem Verhältnis Schleiermachers eigene Philosophie zu derjenigen Platons steht. Die Schleiermacher-Forschung hat sich indessen dieser Frage bisher noch nicht umfassend angenommen.²⁹ Schleiermacher selbst hat sich hierzu nicht bestimmter geäußert. Die Tatsache, dass in der Entwicklungsgeschichte seines eigenständigen philosophischen Standpunktes aus dem Bereich der Antike eher aristotelische als platonische Einflüsse spürbar sind und er zu einem eingehenden Platon-Studium erst von Friedrich Schlegel angeregt wurde,
Vgl. Schleiermacher an Gaß, 16.11.1805: „Der erste Entwurf, die Idee ist ja das innerste eines Werkes, hängt am unmittelbarsten mit dem Verfasser selbst zusammen“. (KGA V/8, 364) Dies geschah in Gottfried Stallbaums 1832 veröffentlichten Edition des Phaidros; Karl Friedrich Hermann zog daraus die Schlußfolgerung, daß Schleiermachers Platon-Interpretation unhaltbar sei; vgl. bes. Geschichte und System der Platonischen Philosophie, Bd. 1, Heidelberg 1839. Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Schleiermacher als Platoniker“, in: (ders.:) Kleine Schriften, Bd. 3, Tübingen 1972, 141– 149; Gustav Adolf Krapf: Platonic Dialectics and Schleiermacher’s Thought: an Essay towards the Reinterpretation of Schleiermacher, Yale University Ph.D. 1953; Karl Pohl: Studien zur Dialektik Friedrich Schleiermachers, Diss. Mainz 1954; Gunter Scholtz: „Schleiermacher und die Platonische Ideenlehre“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 849 – 871; Giovanni Moretto: „Platonismo e romanticismo. Platone nei ‚Discorsi sulla religione‘ di Schleiermacher“, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 233 – 269; ferner finden sich mehrere einschlägige Beiträge in: La naissance du paradigme herméneutique. Schleiermacher, Humboldt, Boeckh, Droysen, hg.v. A. Laks und A. Neschke, Lille 1990.
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lässt vermuten, dass der Einfluss Platons auf die Formierung seines Systems eher gering zu veranschlagen ist und auf der Linie der nachkantischen Wende zu einer Philosophie des Absoluten lag, die sich historischer Anknüpfungspunkte versichern wollte. Dass Schleiermacher dann seit 1803 in Platon – neben Spinoza – einen Zeugen für sein eigenes System fand, spricht eher für die These, hier habe eine systematisch interessierte Interpretation stattgefunden, die in vielem eher für Schleiermacher als für Platon erhellend ist und einen vagen Platonismus als Folie zur Darstellung von Positionen benutzt, die in der Diskussionssituation der nachkantischen Philosophie um 1800 ihren Ursprung haben. Dies verhindert nicht, dass dann im Einzelnen Elemente der platonischen Tradition in die Darstellung eingehen und als theoretische Mittel benutzt werden, aber nur vor diesem Hintergrund werden die – insgesamt eher spärlichen – Bezugnahmen auf Platon, die sich vor allem in Schleiermachers Dialektik finden, angemessen zu gewichten sein.
2 „Das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbinden“. Friedrich Schleiermacher und Platons „Symposion“ (1) Friedrich Schleiermacher, der Übersetzer und Interpret Platons, war nicht von Anfang an ein Platoniker in dem Sinne, dass er bewusst an dessen Philosophie angeknüpft oder in ihr eine Entsprechung zu seinen eigenen philosophischen Bemühungen erblickt hätte.¹ Der erste Gegenstand wissenschaftlicher Studien zur antiken Philosophie war ihm die Ethik des Aristoteles, und noch 1802, als der Enthusiasmus seines Freundes Friedrich Schlegel für Platon schon bei ihm gezündet hatte und er ausdauernd mit der Ordnung und Übersetzung der Dialoge beschäftigt war, bekannte er gegenüber Henriette Herz: „Wie wenig habe ich den Platon, als ich ihn zuerst auf Universitäten las im Ganzen verstanden daß mir oft wohl nur ein dunkler Schimmer vorschwebte, und wie habe ich ihn dennoch schon damals geliebt und bewundert“ (KGA V/6, 70).² Dies gilt auch für Platons Symposion, zu dessen Kenntnis sich eine Spur aus Schleiermachers Studentenzeit in Halle (Frühjahr 1787 bis Frühjahr 1789) erhalten hat. Am 26. März 1788 schreibt ihm sein Freund, der spätere Bischof der Brüdergemeine, Johann Baptist v. Albertini: „Für Platons Symposion danke ich Dir gar sehr, es hat mir, wie Du auch ohne meine Versicherung glauben wirst, sehr gut gefallen. Ich würde es Dir schon jezt wiederschicken, wenn Zäslin es nicht auch gerne lesen wollte“. (KGA V/1, 102) Anzunehmen ist, dass Schleiermacher den Dialog kannte und schätzte, als er ihn zur Lektüre empfahl und Albertinis Gefallen nur die Bestätigung einer entsprechenden Äußerung des Freundes darstellt.³ Gleichwohl sollte Schleiermacher sich erst Jahre später im Zusammenhang mit der geplanten Platon-Übersetzung wieder zu dem Dialog äußern. Anlass ist Friedrich Schlegels Ansicht, das Symposion gehöre einer zweiten Periode der Entwicklung Platons an, in der er noch „mit sich selbst“ kämpfe und daher „oft seltsam, verworren, zerdrückt, grämlich, unverständlich“ sei (KGA V/4, 354); inhaltlich sei der Dialog vor allem eine Wiederholung und Erklärung des Lysis und verfolge im Übrigen die „Nebenabsicht, den Sokrates wegen des Trunks und der Liebe zu rechtfertigen“ (KGA V/4, 356). Es sei zwar „in hohem Grade vortrefflich“
Vgl oben „Schleiermacher und Platon“. Zu den Aristoteles-Studien vgl. KGA I/1, XLVIIIf. Briefe Schleiermachers an Albertini sind nicht überliefert; ansonsten findet das Symposion in den frühen Briefen Schleiermachers keine Erwähnung.
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(von F. Schlegel, 23.1.1801, KGA V/5, 34), jedoch kann Schlegel ihm auch dann keine eigenständige Bedeutung zuerkennen, als er sich von der Unechtheit des Lysis überzeugt zu haben glaubt.⁴ Schleiermacher reagiert dem Freund gegenüber zunächst zurückhaltend, indem er erklärt, er habe „das Symposium in Beziehung auf den Lysis“ noch nicht wieder lesen können (KGA V/5, 9); in seinen zur Selbstverständigung niedergeschriebenen Notizen bezweifelt er jedoch nicht nur Schlegels Datierung des Lysis (KGA I/3, 343), sondern kommt schließlich auch zu einer ganz anderen Auffassung hinsichtlich des Symposion. Dies betrifft weniger die inhaltliche Einschätzung, wozu sich in Schleiermachers Papieren nur ein eher kryptischer Hinweis findet („Das Gastmal läßt sich ansehn als die erste physische Production die sehr natürliche Palingenesie einer alten Würde“; KGA I3, 371), als vielmehr die Zuordnung innerhalb der Dialoge. Schleiermacher unterscheidet in einer wohl 1802 niedergeschriebenen Notiz „drei Trilogien“ bei Platon: (1) Phaedrus, Protagoras, Parmenides; (2) Theaetet, Sophist, „Philosoph“; (3) Respublica, Timaeus, Critias – „Das Uebrige sind Ausflüsse“ (KGA I/3, 373).⁵ Hinter dem „Philosophen“ verbergen sich, wie aus Schleiermachers späteren Einleitungen zu seiner Übersetzung hervorgeht, die Dialoge Symposion und Phaidon. ⁶ Im Unterschied zu Schlegel sieht Schleiermacher das Symposion demnach als eines der Hauptwerke Platons an, dem grundlegende Bedeutung für sein Verständnis des Philosophen zukommt. Im Folgenden möchte ich zunächst Schleiermachers Deutung des Symposion vorstellen, wie sie sich in den Einleitungen zu seiner Platon-Übersetzung niederschlägt (2). In einem zweiten Schritt soll dann gefragt werden, ob sich in Schleiermachers Bild des platonischen Philosophen, wie es sich in seiner Interpretation des Symposion darstellt, Motive freilegen lassen, die sein eigenes Selbstverständnis und die philosophischen Praxen und Theorien seiner frühromantischen Phase widerspiegeln (3). (2) In den Einleitungen zu seiner Platon-Übersetzung ordnet Schleiermacher das Symposion und den Phaidon dem Sophisten und dem Staatsmann zu; bereits im Dialog Sophistes werde „auf dieselbe Weise wie nach dem Sophisten auch nach
Vgl. von F. Schlegel, 25. 2.1802, KGA V/5, 333. Hierbei handelt es sich offenkundig um eine Abwandlung der drei Gruppen, die Friedrich Schlegel in seinem Brief an Schleiermacher vom 25. 2.1802 vorgeschlagen hatte („I. Phaedrus, Parmenides, Protagoras. / II. Theätetus, Gorgias, Sophist und Politikus / III. Republik, Philebus, Timaeos und Kritias“; KGA V/5, 333). Das Symposion erschien 1807 im zweiten Band des zweiten Teils der Ausgabe Platons Werke von F. Schleiermacher bei Reimer in Berlin (als letzter Dialog zusammen mit Kratylos, Sophist und Politikos); der Phaidon eröffnet den daselbst 1809 erschienenen dritten Band des zweiten Teils.
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dem Staatsmann und Philosophen gefragt, und dadurch der Grund zu einer großen Trilogie gelegt […], die zwar, wie es scheint, Platon nicht vollständig ausgeführt hat, deren Absicht aber doch offenbar muß gewesen sein, die Darstellung des Wesens dieser Künste, und die Schilderung der Handlungsweise ihrer Meister in einem desto lebendigeren Ganzen zu vollenden.“⁷ Dem Sophistes kommt dabei, Schleiermacher zufolge, eine grundlegende Funktion nicht nur für die thematisch an ihn anschließenden Dialoge zu, sondern für die Platonische Philosophie überhaupt; in ihm schließe sich „fast zuerst in den Schriften des Platon das innerste Heiligtum der Philosophie rein philosophisch“ auf ⁸ und man könne ihn „als den innersten Kern aller indirekten Darstellungen des Platon ansehn, und gewissermaßen als das erste in seiner Art vollständige Bild des Mannes selbst.“⁹ Dem entsprechend hat Schleiermacher die theoretischen Mittel seiner eigenen Dialektik vor allem auch im Blick auf diesen Dialog platonisch zu verankern versucht.¹⁰ Mit der Zuordnung des Symposion zum Sophistes gewinnt daher auch das erstere an Gewicht. Gleichwohl sind die Dialoge für Schleiermacher nicht gleichwertig. Während Sophistes und Politikos eine „strenge Form“¹¹ durchhielten und „als Hälften eines Ganzen“ angesehen werden könnten, die einander so genau entsprächen „wie nicht zwei andere platonische Dialoge“,¹² habe Platon die Trilogie – „ermüdet von der schon zweimal wiederholten strengen Form“¹³ – nicht mehr in dieser Weise fortgesetzt, sondern das Thema des Philosophen im Symposion und Phaidon auf andere Weise aufgegriffen. Beide Dialoge sind für Schleiermacher somit Stellvertreter eines unausgeführt gebliebenen dritten, der die Trilogie abschließen sollte; „für den aber der es auf eine freiere Weise betrachtet“, sei sie damit „nur schöner und herrlicher vollendet worden […], eben durch unser vorliegendes Gespräch, das ‚Gastmahl‘, und das nächstfolgende den ‚Phaidon‘, in welchen
Einleitung zu „Der Sophist“, in: Friedrich Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, hg.v. P. Steiner mit Beiträgen von A. Arndt und J. Jantzen, Hamburg 1996, 246. – Schleiermacher bezieht sich auf die Frage des Sokrates zu Beginn des Sophistes, 216c–217a. Ebd., 248. Ebd., 250 f. Vgl. hierzu Gunter Scholtz: „Schleiermacher und die platonische Ideenlehre“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 849 – 871. Einleitung zu „Das Gastmahl“, in: Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, Hamburg 1996, 273. Einleitung zu „Der Staatsmann“, in: ebd., 261. Einleitung zu „Das Gastmahl“, in: ebd., 273.
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beiden zusammengenommen Platon uns ein Bild des Philosophen darstellt in der Person des Sokrates“.¹⁴ Dem entsprechend ist für Schleiermacher die Lobrede des Alkibiades auf Sokrates (Symposion 214e–222b) „der Gipfel und die Krone des ganzen Gespräches“,¹⁵ sofern Sokrates hier „in der vollendeten Tüchtigkeit des Leibes und der Seele und also des ganzen Lebens“¹⁶ dargestellt werde. Dies bedeutet nun keineswegs, dass die anderen Teile des Dialogs mit den Reden über die Liebe nur als Beiwerk zu betrachten seien, vielmehr sei „die dort beschriebene Liebe das Bestreben […], das Unsterbliche mit dem Sterblichen zu verbinden“,¹⁷ die ihre „einzige Bewährung“ in dem Bestreben finde, „in Andere das Wahre hineinzubilden“.¹⁸ Im Unterschied zu anderen seiner Generation, die das Symposion im Sinne eines „ästhetischen Platonismus“¹⁹ interpretiert und die Idee der Schönheit in den Mittelpunkt gestellt hatten, bleibt Schleiermacher in seiner Deutung beim expliziten Thema des Symposion. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass er – anders als die meisten Frühromantiker und auch Schelling um 1800 – dem Ästhetischen niemals eine ausgezeichnete Erkenntnisfunktion zugesprochen, sondern es gegenüber Philosophie und Religion als den beiden gleichursprünglichen Erkenntnisweisen des Absoluten als nachrangig angesehen hatte. Dies kommt auch in seiner Deutung der Rede der Diotima über den Weg zur Erkenntnis des Schönen (Symposion 210a–211c) zum Ausdruck. Dieser Weg, so heißt es in der Einleitung zum „Gastmahl“, stimme „auf das genaueste zusammen mit der sich weiter entwickelnden philosophischen Darstellung in den Werken des Platon“; zuerst werde der Phaidros „mit seiner Verliebtheit in Einen als ein Werk der Jugend entschuldigt“, dann erhebe sich der Anfänger „zur Betrachtung des Schönen in den Bestrebungen und Gesetzen, also zu Untersuchungen über die bürgerlichen Tugenden“ (z. B. Protagoras und Gorgias), darauf kämen „die Erkenntnisse in ihrer Vielheit freilich, aber doch als Erkenntnisse, also mit dem Bewußtsein des eigentümlichen der Erkenntnis“, bis sich der Geist schließlich „zur bewußten Anschauung des absolut Schönen“ erhebe, „wie es ohne an ein Einzelnes gebunden zu sein, sondern als jedes Einzelne hervorbringend in der Harmonie der Welt der sittlichen sowohl als der leiblichen angeschaut wird, und
Ebd., 274. Ebd. Ebd. Einleitung zu „Phaidon“, in: ebd., 289. Ebd., 290. Vgl. Klaus Düsing: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg.v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981, 101– 117.
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sich uns in dem letzten späteren Teile seiner Werke offenbaren wird.“²⁰ Das Aufsteigen zum „absolut Schönen“ ist zugleich der Rückgang in den Grund des Erkennens, wobei es Schleiermacher mehr auf das Absolute, das Losgelöstsein von dem Einzelnen, d. h. Endlichen ankommt als auf das Schöne als solches. Dies wird durch seine Bestimmung des Verhältnisses des Symposion zum Phaidon unterstrichen: letzterer stelle eine „reine Betrachtung“ dar, welche das Bestreben sei, „das Unsterbliche als solches aus dem Sterblichen zurückzuziehn“.²¹ Hierbei gehe es um „die Ewigkeit der Seele“ als „Bedingung der Möglichkeit alles wahren Erkennens für den Menschen“,²² und diese reine Betrachtung werde auch bei der „Darstellung der Liebe in der Rede der Diotima“ im Symposion vorausgesetzt, welche „gar nicht bestehen konnte ohne Rückweisung auf die reine Betrachtung“.²³ Umgekehrt aber verweise auch die reine Betrachtung vielfach auf das Bestreben, „immer mit Gleichgesinnten zusammen zu leben, und in ihnen das Wahre mit zu erzeugen als gemeinsames Werk und Gut“.²⁴ In seiner Deutung des Symposion und des Phaidon hält Schleiermacher sich prägnant an den Wortsinn von „Philosoph“ als eines Menschen, der die Liebe zur Weisheit zum Bestimmungsgrund seines Lebens macht. Wer „die Weisheit liebt“, der Philosoph also, wolle „auch die Weisheit vorzüglich für sich haben“, und dies gehöre „eben so wesentlich zu seinem Tun und Leben […], als sie Andern mitzuteilen und einzupflanzen“.²⁵ Das Für-sich-Haben der Weisheit, wie es Gegenstand des Phaidon ist, ist zugleich ein Für-sich-Stellen der Weisheit, die auf das Unsterbliche als den Grund des Erkennens als solchen zielt; diese Praxis des Philosophen ist aber zugleich immer notwendig von der gegenläufigen begleitet, das Unsterbliche mit dem Sterblichen zu verbinden, indem die Weisheit anderen mitgeteilt und eingebildet wird. Die Darstellung des letzteren ist für Schleiermacher der eigentliche Gegenstand des Symposion, wobei mit den Voraussetzungen dieser Seite des Philosophen aber auch die „reine Betrachtung“, das Für-sich-Sein der Weisheit im angeführten Doppelsinne, immer wieder ins Spiel kommt. Indem erst beide Dialoge zusammengenommen ein vollständiges Bild des Philosophen entwerfen, tritt im Symposion spezifisch hervor, „daß auch das Leben des Philosophen nicht etwa ein Ruhen in der Weisheit ist, sondern ein Streben sie festzuhalten und an jeden erregbaren Punkt anknüpfend der ganzen Zeit und dem
Einleitung zu „Das Gastmahl“, in: Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, Hamburg 1996, 285. Einleitung zu „Phaidon“, in: ebd., 289. Ebd. Ebd., 290. Ebd. Ebd., 287.
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ganzen Raume einzubilden, auf daß eine Unsterblichkeit werde in dem Sterblichen“,²⁶ und dieses Bestreben sei nichts anderes als die Liebe, die darum auf das Schöne gehe, weil dieses „das empfängliche für jede Zeugung“²⁷ sei, also auch für das Fortpflanzen der Weisheit durch den Philosophen. Hierbei kommt es für Schleiermacher jedoch darauf an, dass – wie Diotima dem Sokrates erklärt (Symposion 203c–e) – Eros (das philein des Philosophen) der Sohn nicht nur „des unsterblichen ewig quellenden Poros“, sondern „auch der bedürftigen Penia“ sei,²⁸ d. h. die Endlichkeit nicht hintergehen könne, sondern ihr verhaftet bleibe. Der Sinn von Diotimas Rede sei es, „deutlich zu machen, daß in dem sterblichen Menschen auch die Erkenntnis selbst erscheine als ein sterbliches, nicht als das sich selbst durchaus gleiche“;²⁹ somit könne die Liebe auch nicht „das ewige Wesen und unsterbliche Sein der Erkenntnis selbst […] erzeugen, sondern nur dieses ihr sterbliches Vorkommen […] und mache es nicht nur in dem Einzelnen lebendig, sondern durch dies Übertragen von einem auf den andern im sterblichen unsterblich.“³⁰ In dieser Deutung ist ewig die Sehnsucht nach der vollendeten Erkenntnis, aber eben deshalb gelangt die Philosophie auch als philosophia perennis nie an ein Ziel, welches sich als absolutes Erkennen bezeichnen ließe. In einem späten Entwurf zum Paragraphen 2 der „Einleitung“ in die Dialektik von 1833, einer für den Druck bestimmten Ausarbeitung seiner Vorlesungen, hat Schleiermacher ein solches Verständnis von Philosophie für seinen eigenen systematischen Entwurf ausdrücklich in Anspruch genommen. Man müsse, „statt eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen […] eine Kunstlehre des Streitens“ aufstellen, „in der Hofnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen.“ (KGA II/10, 1, 372) Dies sei der Weg, den die alte Philosophie schon einmal begonnen, der aber zu zeitig aufgegeben worden sei: auf ihm behalte die „Wissensliebe“ das letzte Wort und nicht ein Wissen, „daß man am Ende auch wol ohne Liebe muß besizen können“ (KGA II/10, 1, 373). (3) Wenn Schleiermacher an der Darstellung des Philosophen im Symposion hervorhebt, hier werde Sokrates „in der vollendeten Tüchtigkeit des ganzen Lebens“ dargestellt, so ist dieser Bezug auf das Leben für ihn nicht etwas, was neben die eigentliche, rein auf das Wissen und die Wahrheit gerichtete philosophische
Einleitung zu „Das Gastmahl“, in: ebd., 276. Ebd. Ebd., 284. Ebd. Ebd., 284 f.
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Tätigkeit tritt, sondern notwendiges Moment einer angemessenen Selbstreflexion der Philosophie, für welche das „Leben“ eine wesentliche Konstitutionsbedingung darstellt. Nur unter dieser Voraussetzung konnte Schleiermacher auch eine notwendige Wechselbeziehung zwischen den Tätigkeiten des Philosophen im Symposion und im Phaidon, der Hinwendung zum sterblichen Leben und dem Rückzug aus dem Sterblichen, behaupten. Der Gedanke einer solchen (notwendigen) Verbindung von Philosophie und Leben findet sich bei ihm bereits um 1800, wobei er damit vor allem eine kritische Distanz zu Fichte bezeichnet,³¹ gegen dessen Wissenschaftslehre ja auch vor allem sein Konzept einer Philosophie als eines werdenden Wissens gerichtet ist, wie er es in seiner Dialektik entwickelt.³² Philosophie und Leben sind für Schleiermacher deshalb nicht zu trennen, weil die Endlichkeit und Individualität der erkennenden und handelnden Subjekte unhintergehbare Voraussetzungen alles Wissens und Handelns sind, wobei diese jedoch zugleich als Verendlichung eines Unendlichen bzw. Individuation eines Identischen angesehen werden: „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt. Ist denn die ganze Welt etwas andres als Individuation des Identischen? Und kann man sie also erreichen wenn man, wie Schelling troz seines Rühmens von der Indifferenz meines Erachtens nach thut, sich nur auf den einen Pol stellt? Wenn nun aber die strenge Philosophie der Gegensaz ist zur Poesie, wie soll man das unstreitig Höhere nennen, was Beide verbindet? Im Göttlichen ist es eben die Weisheit, die, wie Platon sagt, nicht mehr philosophirt, sondern bei der Gedanke und Bildung Eins ist; bei uns ist es eben, was Du die Einheit des Lebens nennst, die lebendige Persönlichkeit, die auch nachbildend jenen Gegensaz in sich zu überwinden sucht, wenn dies gleich nie völlig zu Stande kommt“. (An Brinckmann, 14.12.1803, KGA V/7, 158). Im Sinne dieser Grundanschauung hat Schleiermacher in seiner Dialektik den Prozess des werdenden Wissens als einen unaufhebbar an Individualität gebundenen und damit unabschließbaren dargestellt, der gleichwohl auf einen transzendentalen Grund schlechthinniger Identität verwiesen bleibt, der im unmittelbaren Selbstbe-
„Fichte […] habe ich freilich kennen gelernt – er hat mich aber nicht sehr afficirt. Philosophie und Leben sind bei ihm – wie er es auch als Theorie aufstellt – ganz getrennt“ (an C.G. v. Brinckmann, Ende 1799, KGA V/3, 313 f.). In diesem Sinne heißt es auch in einem Brief von 1801, der Hauptpunkt seiner Verschiedenheit zu Fichte sei, dass er „die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne“ (an F. H. C. Schwarz, 28. 3.1801, KGA V/5, 76). Vgl. hierzu die „Historische Einführung“ in KGA II/10, 1.
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wusstsein als Gefühl präsent ist.³³ Schleiermachers Deutung der Rede der Diotima über den Aufstieg zur Erkenntnis des Schönen liest sich wie das Aufsuchen des transzendentalen Grundes in der Dialektik, der ja gleichfalls als absolut jenseits aller Entgegensetzungen und diese in sich vereinigend vorgestellt wird. Und ebenso hat Schleiermacher unterhalb dieser transzendentalphilosophischen Höhenlage der Dialektik in seiner Ethik und den in ihr begründeten Disziplinen (wie z. B. der Pädagogik und Ästhetik) den Aspekt philosophischer Tätigkeit ausführlicher behandelt, den er in Bezug auf das Symposion besonders betont hatte: das Einbilden der Vernunft nicht nur in die Menschen, sondern auch in die Natur, d. h. in die endliche Wirklichkeit überhaupt. Aber nicht nur in den späteren philosophischen Vorlesungen Schleiermachers finden sich Parallelen zu seiner Interpretation des Symposion, sondern auch in seinen im engeren Sinne frühromantischen Schriften, wie den Reden über die Religion (1799) und den Monologen (1800), deren erste noch während seiner Gemeinschaft mit Friedrich Schlegel konzipiert und verfasst worden war. Beide verhalten sich in gewisser Hinsicht so, wie sich Platons Symposion und Phaidon in Schleiermachers späterer Deutung zueinander verhalten. Während die Reden die Anschauung des Universums als des Unendlichen, Ewigen, Absoluten und schlechthin mit sich Identischen in den Mittelpunkt stellen, betrachten die Monologen das Verhältnis des Individuums zur Menschheit und zur Welt, womit die in sich gegensätzliche Totalität des Endlichen bezeichnet ist. In der Terminologie der Einleitungen zur Platon-Übersetzung: die Reden beziehen sich auf das Unsterbliche als solches, während die Monologen die Einheit des Unsterblichen und Sterblichen im Sterblichen zum Thema haben. Die Parallele findet jedoch dort ihre Grenze, wo Schleiermacher in den Reden die Eigenständigkeit der Religion gegenüber der Philosophie betont und infolgedessen auch eine von der philosophischen Mitteilung und Bildung spezifisch verschiedene „Bildung zur Religion“ als notwendiges Korrelat des religiösen Standpunktes darstellt.³⁴ In den Monologen dagegen wird die Einheit von Philosophie und Leben programmatisch ins Zentrum gestellt: „Es sagen zwar die Weisen selbst, mäßig sollest du dich mit Einem begnügen; Leben sei eins, und im ursprünglichen und höchsten Denken sich verlieren ein Anderes; indem du getragen werdest von der Zeit geschäftig in der Welt, könntest du nicht zugleich ruhig dich anschauen in
Zu Schleiermachers philosophischen Positionen vgl. den Kommentar in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg.v. A. Arndt, Frankfurt/Main 1996, bes. 1032– 1118. Vgl. KGA I/2, 248 – 265. – Eine eindringende Interpretation der dritten Rede unter ästhetischen Gesichtspunkten findet sich bei Thomas Lehnerer: „Kunst und Bildung – zu Schleiermachers Reden über die Religion“, in: Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795 – 1805), hg.v. W. Jaeschke, Hamburg 1990, 190 – 200.
2 „Das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbinden“
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deiner innersten Tiefe. Es sagen die Künstler, indem du bildest und dichtest müße die Seele ganz verloren sein in das Werk, und dürfe nicht wißen was sie beginnt. Aber wage es mein Geist, troz der verständigen Warnung! […] Kann das heiligste innerste Denken des Weisen zugleich ein äußeres Handeln sein, hinaus in die Welt zur Mittheilung und Belehrung: warum soll denn nicht äußeres Handeln in der Welt, was es auch sei, zugleich sein können ein inneres Denken des Handelns?“ (KGA I/3, 13) Die „höchste Anschauung“, die sich daraus ergibt, ist, „daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.“ (KGA I/ 3, 18) Die Ausbildung der eigenen Individualität ist zugleich die Individuation der unendlichen Menschheit, die sich darin in einer ihrer unendlichen Möglichkeiten darstellt. Diese Position schließt ein, dass die anderen Individuen ebenso als Darstellungen des Unendlichen erkannt und anerkannt werden müssen, dass das Individuelle gleich gilt und als solches schon immer Darstellung des Allgemeinen, des Unendlichen ist. Liebe und Freundschaft sind daher der Modus der Mitteilung (vgl. KGA I/3, 24 f.), die nicht auf die Unterordnung von Personen und Positionen, sondern den freien Austausch in der wechselseitigen Anerkennung von Individualitäten zielt: „Nur wenn der Mensch im gegenwärtigen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten“. (KGA I/3, 22) Diesen Aspekt hatte Schleiermacher in seinem 1799 anonym publizierten Versuch einer Theorie des geselligen Betragens ausgearbeitet, der als Theoretisierung der Gesprächskultur in den Berliner Salons aufzufassen ist.³⁵ Die freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene Geselligkeit, die das Ideal einer Vereinigung freier und gleicher Individuen darstellt, ist freilich nur ein Aspekt des Miteinander als „Sym-“, wie es in der Frühromantik vor allem als „Symphilosophieren“ beschworen und praktiziert wurde. Wie in Schleiermachers späterer Ethik die freie Geselligkeit nur eine der Gemeinschaftssphären neben anderen darstellt,³⁶ so tritt auch hier neben die Gesprächskultur der Salons die philosophische Mitteilung und die gemeinsame philosophische Darstellung, wie sie Schleiermacher seit 1797 mit Friedrich Schlegel praktizierte, der seinerseits in ihm den geeigneten Partner sah, um seine „Ideen von Symphilosophie“ realisieren zu können.³⁷ Diese phi-
Vgl. oben „Geselligkeit und Gesellschaft“. Sie tritt dort neben Staat, Akademie und Kirche. An A. W. Schlegel, 28.11.1797, KFSA 24, 31.
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losophisch-literarische Gemeinschaft erstreckt sich auch auf das „Sym-“ im alltäglichen Leben, denn im Dezember 1797 war Schlegel in Schleiermachers damalige Predigerwohnung mit eingezogen.³⁸ So umfassend das frühromantische „Sym-“ auch gemeint und praktiziert worden sein mag: es ist für Schleiermacher nicht zu denken ohne jene Anschauung des Unendlichen im Endlichen, die Spekulation und Leben zur Einheit bringt, indem sie sich in Liebe und Freundschaft den anderen Individuen um ihrer selbst willen zuwendet. Hier schließt sich der Kreis zu Schleiermachers Interpretation des Symposion. In ihr spiegelt sich die Theorie und Praxis der Berliner Frühromantik. Aber auch, wenn diese durch Friedrich Schlegel platonisch inspiriert war, wird man doch mit der Behauptung zögern müssen, sie spiegele ihrerseits eine forcierte Lektüre Platons und des Symposion. Vielmehr dürfte davon auszugehen sein, dass die komplexe Theorienkonstellation am Ende des 18. Jahrhunderts, in der Platon neben Spinoza, Kant, Reinhold, Jacobi, Fichte u. a. nur ein Element darstellte, im Ganzen die Ausgangslage der Frühromantik bestimmt hatte. Wohl aber ist einsichtig, dass die frühromantische Theorie und Praxis in Platons Dialogen eine geeignete Projektionsfläche und ein Medium ihrer Selbstverständigung im Rahmen der philosophischen Tradition fand. Auf diesem Wege konnten auch die romantische Gesprächskultur und Symphilosophie um 1800 ihren praktischen Niedergang theoretisch überdauern. Der Zusammenhang von Philosophie und Leben freilich, der das große „Sym-“ der Frühromantik bis in die Interpretation des Symposion hinein inspiriert hatte, war damit schon zerrissen.
Den (letztlich gescheiterten) Dialog zwischen Schleiermacher und Schlegel analysiert unter hermeneutischen Gesichtspunkten Toni Tholen: „Erfahrung des Dialogs. Zu einer Ethik der Interpretation“, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, hg.v. D. Burdorf und R. Schmücker, Paderborn 1998, 107– 123.
3 „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“. Schleiermacher und Sokrates Friedrich Schleiermacher gilt als der deutsche Übersetzer des Platon, dessen Übertragung noch heute immer wieder nachgedruckt und gelesen wird, also den Rang einer klassischen Übersetzung seit gut 200 Jahren (der erste Band war 1804 erschienen) behaupten konnte. Dass der Übersetzer des Platon sich zwangsläufig auch mit Sokrates, der zentralen Figur der platonischen Dialoge, auseinandersetzen musste, scheint nur eine Selbstverständlichkeit zu sein, sind diese Dialoge doch – neben Xenophons Memorabilien und einigen wenigen anderen Zeugnissen – die entscheidende Quelle für unsere Kenntnis des Sokrates. Dennoch ist es keineswegs selbstverständlich, dass Schleiermacher sich auch eigens nicht nur mit der literarischen Figur des Sokrates bei Platon und ihren historischen Bezügen, sondern auch mit der mutmaßlichen Lehre des Sokrates beschäftigt hat. Schleiermachers Interesse an Platon nämlich, das wesentlich von Friedrich Schlegel angeregt und beeinflusst worden war, zielte auf eine entwicklungsgeschichtliche und systematische Rekonstruktion der Platonischen Philosophie. Diese Philosophie enthielt aus seiner Sicht Elemente, die in der Problemlage der nachkantischen Philosophie um 1800 fruchtbar zu machen waren. Hierzu gehörte – ganz im Sinne der frühromantischen Konzeption einer Universalpoesie, die zugleich Unversalphilosophie ist – nicht zuletzt die literarische Form des Dialogs selbst, in der Schleiermacher ein Korrektiv gegenüber der Einseitigkeit einer rein logisch-begrifflich argumentierenden Philosophie sah, wie sie ihm unter den Zeitgenossen vor allem durch Reinhold und Fichte, unter den antiken Autoren aber vor allem durch Aristoteles repräsentiert wurde.¹ Schleiermachers Fixierung auf die Dialoge, deren Form ihm für die Platonische Philosophie wesentlich war, schloss nicht nur – wie bekannt – die Annahme einer esoterischen Lehre aus, sondern machte auch die Frage nach deren historischen Charakter weitgehend obsolet, sofern es nicht um Anhaltspunkte für deren relative Chronologie ging. Platons Sokrates war für Schleiermacher zunächst und vor allem eine literarische Figur, deren eigene Lehre seine Interpretation gar nichts anzugehen brauchte. Erst relativ spät, nämlich in den Aufzeichnungen zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aus dem Jahre 1812, finden wir unter Schleiermachers überlieferten Papieren eine Charakteristik des Sokrates selbst und seiner
Vgl. Andreas Arndt: „Schleiermachers Spinoza“, in: Kontexte. Spinoza und die Geschichte der Philosophie, hg.v. H. Pisarek und M. Walther, Wroclaw 2001, hier 204– 208.
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Lehre.² Etwa drei Jahre später, am 27. Juli 1815, hielt Schleiermacher vor der Philosophischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin dann einen Vortrag Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen. ³ Hier geht es ausdrücklich um die Bestimmung der genuin philosophischen Leistung des Sokrates und nicht um sein Charakterbild oder seine Erscheinung bei Platon. Dieses Interesse an der Lehre des Sokrates selbst ist weder durch die Beschäftigung mit Platon noch durch eine angestrebte Vervollständigung des Bildes der antiken Philosophie hinreichend zu erklären, sondern auch hier spielen, so meine These, aktuelle systematische Überlegungen Schleiermachers eine Rolle, die sich aus seiner eigenen, seit 1811 vorgetragenen Dialektik – einer Theorie des werdenden Wissens – herleiten. Entgegen einer langen und ja noch heute nicht nur weit verbreiteten, sondern wohl auch vorherrschenden Lesart, bringt Schleiermacher – dessen eigenes Interesse ja vor allem den Problemen der Ethik galt – Sokrates nämlich nicht in erster Linie mit den Problemen der Ethik und der Frage nach dem guten Leben in Verbindung,⁴ sondern mit der Frage nach der Idee des Wissens. Was es damit auf sich hat, möchte ich im Folgenden in zwei Schritten entwickeln. Zunächst möchte ich Schleiermachers Auffassung vom Werth des Sokrates als Philosophen, also seine Auffassung von der eigentlichen Lehre des Sokrates vorstellen. Sodann möchte ich darauf eingehen, welchen Wert Schleiermacher dieser Lehre beimisst, d. h., welchen systematischen Stellenwert diese Interpretation der Philosophie des Sokrates für Schleiermachers eigene Philosophie hat. (1) In Schleiermachers Vorlesungen über die Geschichte der alten Philosophie steht Sokrates am Beginn der zweiten Periode. Diese Einteilung folgt dem bekannten Schema der Unterscheidung von vor- und nachsokratischer Philosophie; sie ist – so sehr sie auch heute, etwa im Blick auf die Abgrenzung zur Sophistik, umstritten sein mag – für Schleiermacher historisch unmittelbar gewiss, denn „alles würdige ist aus seiner Schule hervorgegangen“, und dass Sokrates „diese Stellung hat, kann doch unmöglich Zufall oder bloße persönliche Vorliebe sein“.⁵ Erklärungsbedürftig hingegen ist, wie Sokrates als Stammvater einer über Platon und
F. Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, hg.v. H. Ritter, Berlin 1839, 81– 85 (Sämmtliche Werke, 3, 4, 1). KGA I/11, 201– 218; Erstveröffentlichung in den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Aus den Jahren 1814 – 15, Berlin 1818, 50 – 68. Vgl. z. B. Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Reinbek 1996, 15 ff. (Die sokratische Wende in der Philosophie). Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, Berlin 1839, 81.
3 „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“. Schleiermacher und Sokrates
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Aristoteles bis auf die Stoiker und Neuplatoniker reichenden systematischen Philosophie angesehen werden kann. Denn der Unterschied der vorsokratischen zur sokratischen Periode der antiken Philosophie besteht nach Schleiermacher darin, dass „nicht mehr vereinzeltes philosophisches Talent als Instinct waltet, sondern der speculative Geist rein hervortritt und mit Bewußtsein das ganze Gebiet [d.h.: alle philosophischen Disziplinen, Verf.] umfaßt.“⁶ Sokrates als systematisch ausgerichteter, spekulativer Philosoph? Schleiermacher gibt sofort zu, dass der „Anschein“ dagegen sei, „weil jene Vereinigung der Disciplinen gar nicht in ihm erscheint und überhaupt fast nichts wissenschaftliches unmittelbar aus ihm hervorgeht.“⁷ Schleiermachers entscheidendes Argument ist auch nicht ein positiver Beleg für seine These, wenn er auch, worauf ich später noch zu sprechen kommen werde, einen solchen Beleg bei Aristoteles finden zu können glaubt. Entscheidend ist vielmehr die bereits erwähnte unmittelbare historische Gewissheit über die Stellung des Sokrates am Anfang einer Periode, welche als systematische Periode der antiken Philosophie anzusprechen sei. Sokrates, so schließt Schleiermacher, könne nicht Ausgangs- und Bezugspunkt einer Periode sein, wenn deren systematischer Geist nicht in ihm selbst lebendig gewesen sei. Sokrates müsse wenigstens den Keim zum systematischen Philosophieren in sich gehabt und anderen eingepflanzt haben, um diese historische Stellung einnehmen zu können. In Schleiermachers Worten: „Der scheinbare Widerspruch ist […] aus seiner Stellung als erster Anfang zu erklären. Der Geist, der Charakter der ganzen Philosophie war in ihm; von der Ausführung, den realen, aber nur ein minimum. Sein Geist war keinesweges ein bloß populärer, unwissenschaftlicher. Aber“ – so fügt er hinzu – „schwer zu bestimmen, was er eigentlich gewesen ist.“⁸ Ich verlasse hier zunächst die Vorlesungen von 1812 und wende mich der Akademierede vom Juli 1815 zu, in der Schleiermacher eben diesen Versuch unternimmt, zu bestimmen, was Sokrates eigentlich gewesen sei. Im Unterschied zu den Vorlesungsnotizen tritt in dem ausgearbeiteten Vortrag das methodische Instrumentarium Schleiermachers, das historisch-kritische Verfahren, wie er es im Zusammenhang mit seiner Hermeneutik vortrug, deutlich hervor. Es ist, kurz gesagt, eine Kombination von (a) philologischer Kritik, die auf die Echtheit einzelner Textstellen bzw. Texte abhebt, (b) historischer Kritik, welche Tatsachen aus „Relationen ermittelt“ (KGA II/4, 1005), und (c) doktrinaler oder rezensierender Kritik, deren Geschäft nach Schleiermacher darin besteht, „Werke von Männern in Beziehung auf ihren Werth richtig zu schätzen.“ (KGA II/4. 1007) Der Titel der Aka-
Ebd., 80. Ebd., 81. Ebd.
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demierede – Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen – ist also wohl kaum zufällig gewählt, sondern bezeichnet präzise die Absicht Schleiermachers, die Doktrin des Sokrates einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Die Schwierigkeit besteht aber gerade darin, dass eine eigentliche Doktrin des Sokrates, die einer solchen Kritik unterworfen werden könnte, nicht in der Gestalt mehr oder weniger glaubwürdiger Texte überliefert ist, deren Aussagekraft sich durch philologische Kritik ermitteln ließe. Sokrates hat eben nicht geschrieben, sondern auf der Agora sowie auf Gelagen und anderen Zusammenkünften Gespräche angezettelt. Die Berichte über solche Gespräche – wie auch über andere Wahrnehmungen – leiden aber, Schleiermacher zufolge, prinzipiell darunter, dass jede Beschreibung das Kontinuum der Wahrnehmung in diskrete Gegenstände, in eine „aus einzelnen Sätzen bestehende Beschreibung“ (KGA II/4, 1010) verwandelt. Bei dem Versuch, aus den Relationen die Tatsachen zu ermitteln, macht Schleiermacher zunächst – wie bereits in den Vorlesungen über die Geschichte der alten Philosophie – auf das auffällige Missverhältnis zwischen der dem Sokrates allgemein zugeschriebenen Stellung am Beginn einer neuen Periode der antiken Philosophie und den Berichten über Sokrates eigene Philosophie aufmerksam. Man finde, so resümiert er, darin „nichts, worin ein solcher Einfluß könnte begründet gewesen seyn.“ (KGA I/11, 201) Er habe sich nicht mit der Naturphilosophie beschäftigt, der Ethik keine wissenschaftliche Gestalt gegeben und überhaupt für „keinen Zweig menschlicher Erkenntniß ein festes Princip aufgestellt.“ (KGA I/11, 201) Fasse man die Berichte zusammen, so erscheine Sokrates „als ein Virtuose des gesunden Menschenverstandes“, verbunden mit Rechtlichkeit, Menschenfreundlichkeit und „dies alles […] versetzt mit einem leisen Anhauch von Schwärmerei“ (KGA I/11, 201 f.), letzteres übrigens auch eine Anspielung auf die „enthusiastische“ Philosophie des ehemaligen Freundes Friedrich Schlegel.⁹ Nach Schleiermachers Auffassung sind von diesem überkommenen – ja auch heute in den Grundzügen noch gängigen – Bild des Sokrates auch die philosophiehistorischen Einschätzungen des Sokrates am Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt. Wilhelm Gottlieb Tennemann etwa stellte ihn in seiner Geschichte der Philosophie als Tugendlehrer vor, der seine Einsichten aus dem gesunden Menschenverstand schöpfte.¹⁰ Mit diesem Bild eines „gefälligen menschlichen Weisen, der gar nichts für die Schule war sondern alles für die Welt“ (KGA I/11, 203), lasse sich aber die Annahme einer von Sokrates eingeleiteten Wende in der athenischen Philosophie schlechthin nicht vereinbaren. Hieraus
Vgl. Birgit Rehme-Iffert: Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001. 11 Bde., Leipzig 1798 – 1819, Bd. 2, 64. Vgl. KGA I/11, 202.
3 „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“. Schleiermacher und Sokrates
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habe Wilhelm Traugott Krug in seiner Geschichte der Philosophie in alter Zeit mit gewissem Recht die Konsequenz gezogen, Sokrates an das Ende der bisher als „vorsokratisch“ geltenden Periode zu setzen.¹¹ Allerdings habe er dann die neue Periode mit den Schülern des Sokrates anfangen lassen, die doch eben nur Sokratiker seien, wie Xenophon. Das Problem werde dadurch nur verlagert, was nach Schleiermachers Ansicht vor allem darin begründet sein dürfte, dass ein unmittelbarer Neubeginn der Philosophie mit Platon nicht plausibel zu machen sei. Georg Anton Friedrich Ast – ein Schüler Friedrich Schlegels – hatte Sokrates daher in seinem Grundriß einer Geschichte der Philosophie an der Spitze der neuen Periode gelassen, ihm aber die Sophisten zur Seite gestellt, denn Sokrates selbst sei auch für Ast nur ein Tugendlehrer, dessen Wesen „ihm aus Enthusiasmus und Ironie“ bestehe.¹² Auch die Auseinandersetzung mit den Sophisten erfolge bei ihm um der Durchsetzung der Tugend willen. Es muss noch einmal besonders unterstrichen werden, dass Schleiermacher sich mit Entschiedenheit von dem Bild des Sokrates als Muster eines tugendhaften Menschen und Märtyrers der Tugend verabschiedet. Dieses Bild hatte die Sicht der Aufklärung entscheidend geprägt und war nicht zuletzt durch theologische Interessen bestimmt. Sokrates, der unschuldig zum Tode verurteilte, von reiner Tugendliebe beseelte Mensch, wurde gewissermaßen zum Christus ante Christum stilisiert und damit aus der Philosophie- in die Heilsgeschichte transponiert. Als ein herausragendes Beispiel sei hier auf den sprechenden Titel einer weit verbreiteten Schrift des Hallenser Philosophen Johann August Eberhard, des akademischen Lehrers Schleiermachers, verwiesen: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden. ¹³ Schleiermacher hatte gegen solche Tendenzen bereits früh Stellung bezogen,¹⁴ die seiner prinzipiellen Überzeugung widersprachen, dass Philosophie und Theologie nicht miteinander vermengt werden dürften. Das Insistieren auf dem philosophischen Wert des Sokrates hat demnach auch die Funktion, ihn aus der Inanspruchnahme durch die Aufklärungstheologie zu befreien. Zurück zu Ast. Dieser (und mit ihm indirekt Friedrich Schlegel) ist gleichwohl der eigentliche Gegner Schleiermachers in der Sache des Sokrates, denn Ast be-
Leipzig 1815; vgl. KGA I/11, 204. Landshut 1807; vgl. KGA I/11, 204 f. 2 Bde., Stettin 31788. Vgl. an Brinckmann, Oktober 1789, KGA V/1, 156, wo es heißt, auch wenn Sokrates selbst zur Verteidigung des Christentums aufstehen sollte, könne er ihn nicht zu diesem zurückbringen. Schleiermacher bezieht sich hier auf die anonnym publizierte Schrift von Johann Konrad Pfenninger: Sokratische Unterhaltungen über das Aelteste und Neueste aus der christlichen Welt. Ein Versuch. Teil 1– 3, Leipzig 1786 – 1789.
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stimmt den Charakter der neuen Epoche ebenfalls durch den systematischen Charakter der Philosophie, der aber bei Sokrates und den ersten Sokratikern noch nicht zu finden sei, sondern erst bei Platon in der Auseinandersetzung mit Sokrates und den Sophisten hervortrete. Gegen den eigentlichen Beginn der neuen Periode mit Platon spricht nach Schleiermacher jedoch vor allem dessen Verhältnis zu Sokrates. Wäre Sokrates nur Tugendlehrer gewesen, so hätte ihn Platon kaum als literarische Figur benutzen können, um „tiefsinnige philosophische Untersuchungen“ (KGA I/11, 205) vorzuführen, welche jede Tugendlehre des gesunden Menschenverstandes weit hinter sich lassen. Entscheidend ist also auch hier wieder das historische Argument, dass Sokrates speziell von Platon als sein Lehrmeister in der Philosophie dargestellt werde. Dies zwingt nun freilich dazu, „mehr eigentlich philosophisches als gewöhnlich geschieht dem Sokrates zu[zu] schreiben“ (KGA I/11, 206) und eine neue Untersuchung mit dem Ziel anzustellen, den eigentlich philosophischen Gehalt seiner Lehre festzustellen. Hierzu bedient sich Schleiermacher der historischen Kritik, indem er – wie schon 1812 in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – die Darstellungen des Sokrates bei Platon und Xenophon gegeneinander abwägt. Während Platon, der sich aber „nirgends für einen Geschichtsschreiber des Sokrates“ ausgebe (KGA I/11, 206), diesen als literarische Figur gewissermaßen zu viel sagen lasse, erscheine er bei Xenophon als zu dürftig, was darauf zurückzuführen sei, dass der Autor der Memorabilien als Staatsmann keinen Sinn für die eigentliche philosophische Lehre des von ihm vor allem als Mensch und Tugendlehrer bewunderten Sokrates gehabt habe (KGA I/11, 207). Aber, so Schleiermacher, „nicht nur kann Sokrates, sondern er muß auch mehr, und mehr muß hinter seinen Reden gewesen seyn, als Xenophon uns wiedergiebt.“ (KGA I/11, 207) Wäre nämlich Sokrates in dem Gehalt seiner Lehre so dürftig gewesen, wie er bei Xenophon erscheint, so hätte Platon sich selbst dadurch geschadet, ihn literarisch zum Verkünder seiner spekulativen Philosophie zu machen. Obwohl Schleiermacher also den weitgehend literarisch-fiktiven Charakter des Platonischen SokratesBildes betont, scheint ihm diese Stilisierung nur dann möglich zu sein, wenn sie auf einem historischen Kern beruht, nämlich einer Lehre des Sokrates, die sich mit der Platonischen Lehre vermitteln lässt. Dass diese Annahme für sich genommen hermeneutisch gewagt ist, ist leicht einzusehen, denn die Stilisierung könnte ja auch ganz andere, z. B. politische Motive haben, und es wäre durchaus denkbar, dass Platon den von ihm geteilten antidemokratischen politischen Auffassungen des Sokrates¹⁵ einen philosophi-
Herman Hansen Mogens: The Trial of Sokrates: from the Athenian Point of View, Copenhagen
3 „Ueber den Werth des Sokrates als Philosophen“. Schleiermacher und Sokrates
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schen Begründungszusammenhang unterlegen wollte. Dergleichen Überlegungen stellt Schleiermacher nicht nur deshalb nicht an, weil er Platon in erster Linie als systematischen und nicht als politischen Philosophen versteht, sondern auch deshalb, weil er nicht nur Elemente des platonischen Denkens – wie z. B. die politischen Auffassungen –, sondern den ganzen Platon bei Sokrates im Keim wiederfinden will. An diesem Punkt könnte Schleiermacher durchaus – und nicht zum erstenmal – ein Opfer seiner eigenen Hermeneutik geworden sein, die bei einem Autor so etwas wie einen Keimgedanken unterstellt, aus dem heraus sich das ganze Werk entwickeln lasse. Diesem organologischen Modell gemäß hatte Schleiermacher die Entwicklungsgeschichte Platons mit dem Phaidros als ‚Keim‘ beginnen lassen, eine Konstruktion, der bereits 1832 von Gottfried Stallbaum der Boden entzogen wurde.¹⁶ Ebenso unterstellt Schleiermacher, dass Sokrates nur dann als der philosophische Lehrer Platons angesehen werden könne, wenn er in diesen den Keim zu seiner ganzen Philosophie gelegt habe. Es ist hier nicht der Ort, über den Wahrheitsgehalt der Konsequenzen zu entscheiden, die Schleiermacher aus seinen hermeneutisch-kritischen Prämissen hinsichtlich der Lehre des Sokrates zieht. Schleiermacher will sie dadurch absichern, dass er versucht, die von Platon her unterstellte philosophische Bedeutung des Sokrates mit den Zeugnissen Xenophons in Übereinstimmung zu bringen (KGA I/11, 210). Entscheidend ist für ihn jedoch weiterhin die Überlegung, dass Sokrates selbst den Beginn der neuen Periode repräsentieren müsse, die durch die systematische Einheit von Physik, Ethik und Dialektik geprägt sei. Dieses Schema entspricht Schleiermachers eigener Systematik des Wissens und wird von ihm in die Sokratische Periode der griechischen Philosophie zurückverlagert, obwohl es sich in dieser Form erst bei Xenokrates findet.¹⁷ Da er selbst die Dialektik als das spekulative Zentrum der Begründung des Wissens ansieht, muss für ihn auch Sokrates’ eigene Lehre dieses Zentrum betreffen und aus ihm heraus verstanden werden. Bei den Sokratikern sei die „Idee des Wissens zum Bewußtseyn gekommen; daher die Hauptsache überall die ist, die Erkenntniß von der Meinung zu unterscheiden, daher die bestimmte Form des wissenschaftlichen Vortrages, daher das besondere Heraustreten der Dialektik, die keinen anderen Gegenstand hat als die Idee des Wissens“. (KGA I/11, 211) Bei Sokrates selbst werde dies deutlich, wenn er – nach den übereinstimmenden Berichten des Platon und des Xenophon
1995 (The Royal Danish Academy of Sciences and Letters, Historisk-filosofiske Meddelelser 71); Isidor F. Stone: The Trial of Socrates, Boston 1989. Vgl. Wolfgang Virmond: „Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805)“, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 225 – 232. Vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 68.
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– in seinen Gesprächen die Meinung als Nichtwissen entlarve. Dies habe er, so Schleiermachers Umkehrschluss, „vermöge einer richtigeren Vorstellung vom Wissen und vermöge eines darauf beruhenden richtigeren Verfahrens“ (KGA I/11, 212) tun können: „So daß, wenn man sich dieses als den Mittelpunkt des sokratischen Wesens denkt, man sowol den Platon und Xenophon einigen als auch die geschichtliche Stellung des Sokrates verstehen kann.“ (KGA I/11, 212) Damit hat Schleiermacher seine Aufgabe grundsätzlich bereits gelöst, auch wenn er hierbei nicht stehen bleibt, sondern nun seine durch historische Kritik gewonnene These noch durch philologische Kritik zu ergänzen sucht. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schreibt Schleiermacher ihm dabei auch einen Keim von Naturphilosophie zu, um die These zu stützen, Sokrates stehe am Beginn einer systematischen Einheit von Dialektik, Ethik und Physik. „Der wissenschaftliche Keim der Physik war nämlich in Sokrates seine Teleologie. […] Dies sieht man sehr deutlich aus einer Stelle im Philebos, wo durch Induction der allgemeine Verstand, der Weltgeist, bewiesen wird, welche Stelle als ächt sokratisch sich auch im Xenophon findet.“¹⁸ Schleiermacher hebt hier auf die Harmonie von Natur und Mensch ab,wobei er sich auf den Beweisgang in Philebos 28d–31a stützt, nach dem die Vernunft – der nous – Ordnungsprinzip des Körpers und des Weltalls sei und zur Gattung der Ursache gehöre.¹⁹ In der Akademierede kommt Schleiermacher hierauf nicht zurück, sondern stellt seine Argumentation ganz auf die Dialektik als das spekulative Zentrum der Philosophie ab, die als Idee des Wissens in Sokrates lebendig gewesen sei. Hierbei beruft er sich auf den Phaidros, der ja nach seiner Auffassung auch der Keim des Platonischen Werkes war. Schleiermacher verweist auf Sokrates’ Rede über das Verhältnis von Dialektik und Rhetorik (Phaidros 264e–266c). Die Konstruktion aller sokratischen Gespräche – bei Platon wie bei Xenophon und in den unechten platonischen Dialogen – beruhe nämlich auf dem dort Entwickelten, das Schleiermacher wie folgt resümiert: „zu wissen, wie man richtig vieles zur Einheit zusammenfasse und eine große Einheit auch wieder ihrer Natur gemäß in mannigfaltiges theile, und dann zu wissen welche Begriffe sich mit welchen verknüpfen lassen und welche nicht.“ (KGA I/11, 214) Diese Interpretation werde durch das unverdächtige (weil antiplatonische) Zeugnis des Aristoteles im 6. Kapitel des ersten Buches der Metaphysik gestützt, wonach Sokrates „die Induction und die allgemeinen Erklärungen eingeführt“ (KGA I/11, 214) habe. Bei Aristoteles (Met. 987a.b) heißt es: „Und da sich nun Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine
Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, Berlin 1839, 83. Vgl. Xenophon: Memorabilien, I, 4.6.14.
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suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete, brachte dies den Platon, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, daß die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe“. ²⁰ Ob diese Passage tatsächlich das belegt, was Schleiermacher mit ihr beweisen will, sei hier dahingestellt. Deutlich wird, dass er Sokrates ein klares Bewusstsein der Idee des Wissens auch ohne die realphilosophische Realisierung dieser Idee zuschreiben möchte, ihm aber zugleich auch ein methodisches Bewusstsein zur Realisierung dieser Idee, nämlich ein Bewusstsein dialektischer Prinzipien, unterstellt. (2) Ich hatte bereits gezeigt, dass Schleiermachers Versuch, den Wert des Sokrates als Philosophen zu bestimmen, auf zentrale Annahmen seiner Hermeneutik und Kritik zurückgreift, die im Einzelnen durchaus als fraglich erscheinen können. Die Plausibilität seiner Sokrates-Deutung hängt jedoch nicht nur an solchen hermeneutisch-kritischen, sondern ebenso auch an systematischen Voraussetzungen, und zwar an systematischen Voraussetzungen der Schleiermacherschen Philosophie. Für ihn selbst ist seit 1811 die Dialektik so etwas wie eine spekulative Grundwissenschaft, die zugleich als Organon des realen Wissens auftritt. Sie ist darüber hinaus transzendentale Begründung des Wissens und stellt insofern die Idee des Wissens als solche dar, als auch Theorie des werdenden Wissens in seinem Vollzug und stellt insofern eine Kunstlehre dar,Wissen und Nichtwissen zu unterscheiden und das Nichtwissen durch Wissen zu ersetzen.²¹ Kurz gesagt: sie ist Prinzipienlehre und technisches Verfahren der Erzeugung des Wissens in einem. Schleiermacher schließt seine Dialektik ausdrücklich an die sokratischplatonische Denkweise an, weil er in ihr – ob nun zu Recht oder Unrecht – ein Verfahren erblickt, das auch dann das Wissen zu sichern vermag, wenn noch keine Einigkeit über die Prinzipien herrsche und die Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang des Wissens sich als Philosophie, als ‚Liebe zum Wissen‘, und nicht als ein Wissen des Wissens verstehe. In einem Entwurf zur Einleitung in die Dialektik aus dem Jahre 1833 führt Schleiermacher aus, dass es nicht darum gehe, „eine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen“, sondern darum, „eine Kunstlehre des Streitens aufzustellen in der Hofnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Anfangspunkte für das Wissen zu kommen“ (KGA II/10, 1, 372); dies sei der Weg,
Aristoteles: Metaphysik. Neubearbeitung der Übersetzung von H. Bonitz, hg.v. H. Seidl, Hamburg 1989, 39. Vgl. den Kommentar in Schleiermacher: Schriften, hg.v. A. Arndt, Frankfurt/Main 1996, 1209 ff.
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den die alte Philosophie schon einmal begonnen habe, der aber zu zeitig aufgegeben worden sei und zu dem Schleiermacher nun zurückkehren möchte. Die Idee des Wissens – deren klare Erfassung Schleiermacher Sokrates zuschreibt – ist treibendes Moment dieser Dialektik, sofern sie sich im Wissenwollen sowohl der Prinzipien des Wissens als auch des Realen artikuliert. Sie ist also keineswegs mit den Prinzipien des Wissens selbst identisch und wird insofern auch nicht von dem Streit über die Prinzipien der Philosophie außer Kurs gesetzt. Die Idee des Wissens selbst aber ist, wie es in den Aufzeichnungen Schleiermachers zu seinem Dialektik-Kolleg 1814/15 heißt, „in ihrer Bewegung betrachtet […] ein Werdendes, sowol im Einzelnen als im Ganzen. Denn im Einzelnen kommt aus dem thierischen analogen Zustand erst der Gegensaz zwischen dem idealen und realen allmählig zu Stande und in dem Maaß auch erst bestimmte Positionen. – Im ganzen ist der Prozeß des reinen Denkens eine spätere Entwiklung als der des bedingten; er enthält die Idee des Wissens ausgebildeter und reiner und ist also ein Werden derselben.“ (KGA II/10, 1, 162) Schleiermachers These vom Werden nicht nur des Wissens, sondern auch der Idee des Wissens, impliziert, dass sich dieses Werden „im Ganzen“ vor allem in der Geschichte der Philosophie muss nachweisen lassen können. Wenn diese Idee nun, Schleiermacher zufolge, bei Platon erstmals vollkommen auftritt und sich in einer systematischen Form darstellt, dann muss es zwischen der nach seiner Auffassung unsystematischen und insofern noch im bedingten Denken verhafteten, sogenannten ‚vorsokratischen‘ Philosophie und der platonischen Philosophie noch eine Zwischenstufe geben, in der sich die Idee des Wissens zwar noch nicht vollkommen, aber in nuce erstmals in reiner Form darstellt. Diese notwendige Zwischenstufe repräsentiert Sokrates, und insofern ist Schleiermachers Frage nach dem Wert des Sokrates als Philosophen von seiner eigenen Systematik her nicht zu umgehen, und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass er sie in aller Schärfe gerade dann gestellt hatte, nachdem er mit seiner eigenen Konzeption von Dialektik mit der Vorlesung 1814/15 im Wesentlichen ins reine gekommen war. In dem Akademievortrag vom Juli 1815 findet sich dann auch eine längere Betrachtung über den philosophiegeschichtlichen Umbruch, den die platonische Philosophie voraussetzt, und diese Betrachtung liest sich wie eine Illustration der eben zitierten Passage der Dialektik. Es werde, so heißt es dort, „folgendes […] nicht viel Widerspruch finden. Je leichter noch die forschenden unvermerkt von einem Gebiet des Erkennens auf ein anderes überspringen, desto mehr hängt noch der ganze Verlauf der intellectuellen Thätigkeiten von äußeren Umständen ab.“ (KGA I/11, 211) Hiermit charakterisiert Schleiermacher die vorsokratische Periode, die sich – im Sinne seiner Dialektik – als noch im bedingten Denken befangen darstellt. In diesem Falle, so fügt Schleiermacher hinzu, sei „die Idee des Wissens an sich noch nicht ausgebildet […], vielleicht noch nicht einmal zum Bewußtseyn
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gekommen“. (KGA I/11, 211) Dies aber sei in der zweiten, nachsokratischen Periode der antiken Philosophie der hervorstechende Grundzug; in ihr herrsche „das allgemeine wissenschaftliche Talent der Speculation“ (KGA I/11, 211): „Dieses Erwachen nun der Idee des Wissens und die ersten Aeußerungen derselben, das muß zunächst der philosophische Gehalt des Sokrates gewesen sein“. (KGA I/11, 211 f.) Schleiermachers Sokrates-Bild, wie er es in der Akademierede entwickelt, ist, so lässt sich diesen Ausführungen entnehmen, wesentlich durch eine philosophiehistorische Konstruktion motiviert und bedingt, die seiner eigenen Auffassung vom Werden der Idee des Wissens entspringt. Dass der philosophische Gehalt des Sokrates das Erwachen der Idee des Wissens gewesen sein müsse, wie Schleiermacher betont, hängt einzig und ausschließlich an der Plausibilität dieser Konstruktion, deren Voraussetzungen im Übrigen auch in der hermeneutischen Unterstellung einer ‚Keimidee‘ wiederkehren.Wo diese Voraussetzungen nicht auf stillschweigende Zustimmung stoßen, wie Schleiermacher es unterstellt hatte, wird auch das mit ihrer Hilfe generierte Bild des Sokrates als zweifelhaft und wenigstens einer weitergehenden historisch-kritischen Absicherung bedürftig gelten müssen. Schleiermacher selbst, das muss noch einmal betont werden, hat sich in Bezug auf die Sache des Sokrates historisch-philologischer Argumente erst in zweiter Linie bedient, nachdem er auf dem Wege seiner eigenen systematischen Konstruktion bereits apodiktisch festgestellt hatte, was die Lehre des Sokrates ihrem Gehalt nach gewesen sein müsse. Schleiermacher setzt sich energisch von der überkommenen Stilisierung des Sokrates als eines Märtyrers der Tugend ab. Hierin wird man ihm ebenso Recht geben müssen wie hinsichtlich der Leitfrage seiner alternativen Interpretation: nämlich, wie es zu erklären sei, dass Sokrates nach übereinstimmenden Zeugnissen der nachfolgenden Philosophen als ein Wendepunkt in der Philosophie angesehen wurde. Die entscheidende Prämisse von Schleiermachers Antwort jedoch, die Annahme einer sich in der systematischen Einheit von Dialektik, Physik und Ethik realisierenden Idee des Wissens, wird eher als Rückprojektion seines eigenen Programms in die Antike zu werten sein.
Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
1 Dialektik und Hermeneutik. Zur kritischen Vermittlung der Disziplinen bei Schleiermacher (1) Schleiermachers Hermeneutik ist im 20. Jahrhundert diejenige der von ihm behandelten Disziplinen, mit der er über die Grenzen der Theologie und Religionsphilosophie hinaus vor allem in der philosophischen Diskussion präsent ist und wo er, trotz aller inzwischen erfolgten historischen Differenzierungen und Relativierungen,¹ unumstritten als Klassiker gilt.² Man muss in dieser Wirkung jedoch eine „fast groteske Verzerrung“³ seiner eigenen systematischen Intentionen erkennen. Das beginnt damit, dass Schleiermacher zwar die Hermeneutik als eine allgemeine, d. h. nicht auf die Bedürfnisse besonderer Fächer Umstritten sind vor allem die Fragen, wieweit Schleiermachers Konzeption von Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ beeinflusst sei und ob diese Konzeption, seinem Selbstverständnis entsprechend, als eine „hermeneutische Wende“ im Sinne der Etablierung einer allgemeinen Hermeneutik gewertet werden könne. – Zu Schlegel vgl. Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“, hg. und eingel. v. J. Körner, in: Logos 17 (1928), 1– 72; Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962; Hermann Patsch: „Friedrich Schlegels ’Philosophie der Philologie’ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), 434– 472; Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und literarische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken (1795 – 1801), Göttingen 1982; Die Aktualität der Frühromantik, hg.v. E. Behler und J. Hörisch, Paderborn 1987; Reinhold Rieger: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund, Berlin und New York 1988; Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. – Zur zweiten Frage vgl. Hendrik Birus: „Hermeneutische Wende? Anmerkungen zur Schleiermacher-Interpretation“, in: Euphorion 74 (1980), 213 – 222; Wolfgang Hübener: „Schleiermacher und die hermeneutische Tradition“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 561– 574; Oliver R. Scholz: „Der Niederschlag der allgemeinen Hermeneutik in Nachschlagewerken des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Aufklärung 8/2, Hermeneutik der Aufklärung, hg.v. A. Bühler und L.C. Madonna, Hamburg 1994, 7– 26. Eine Gegenposition, die Schleiermachers Anspruch, die Stellenhermeneutik der Aufklärung durch eine allgemeine Hermeneutik abgelöst zu haben, affirmiert, bezieht Harald Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert, Stuttgart und Weimar 1994. Vgl. Hendrik Birus: „Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik“, in: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer, hg.v. H. Birus, Göttingen 1982, 15 – 58; Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, bes. 145 – 152; ders.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main 1995. Gunter Scholtz: „Grundlegung der Geisteswissenschaften“, in: Ethik und Hermeneutik, 86.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
spezifisch zugeschnittene konzipiert, sie jedoch vorwiegend in der theologischen Fakultät⁴ und „in besonderer Anwendung auf das Neue Testament“⁵ vorgetragen hat.⁶ Auch wenn dabei immer zwischen den allgemeinen Grundsätzen einerseits und ihrer besonderen Anwendung andererseits sorgfältig unterschieden wird, wird hieran doch deutlich, dass Schleiermacher die Hermeneutik nicht als eine philosophisch grundlegende Disziplin entworfen und ausgearbeitet hatte. Sie ist bei ihm in der Tat auch in philosophischer Hinsicht eine relativ untergeordnete, „technische“ Disziplin.⁷ Von Seiten der Ethik ist es die Aufgabe der technischen Disziplinen, die Behandlung der „besondere[n] Gegensäze und besondere[n] Naturbedingungen“ zu klären, in die der sittlich handelnde Einzelne gestellt ist;⁸ das „regelgebende oder technische Verfahren ist die praktische Beziehung des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen auf einander, und liegt außer der Wissenschaft überhaupt auf der Seite der Kunst.“⁹
Schleiermacher hat die Hermeneutik insgesamt neunmal vorgetragen: 1805 in Halle, 1809/10 vor der Eröffnung der Berliner Universität als Privatvorlesung, sodann 1810/11, 1814, 1819, 1822, 1826/27, 1828/29 und 1832/33 an der Berliner Universität. Lediglich die Privatvorlesung 1809/10 und der erste Teil der Vorlesung 1814 wurden außerhalb des Rahmens der theologischen Fakultät gelesen; bei der letztgenannten Vorlesung hatte Schleiermacher Die allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst für die erste Hälfte des Sommersemesters in der philosophischen Fakultät angekündigt, wobei er als „Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften“ firmierte, während er die Fortsetzung als Professor der Theologie und in der theologischen Fakultät zum Thema Die Hermeneutik des Neuen Testaments las (in der lat. Ankündigung: „Absoluta hermeneutice universali, hermeneuticen specialem Nov. Test. docebit […]“). Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992, 300 – 329. So die Ankündigung von 1826/27; entsprechende präzisierende Zusätze finden sich auch 1819, 1822, und 1832/33, wobei Schleiermacher jeweils zwischen den allgemeinen Grundsätzen und ihrer besonderen Anwendung auf die Exegese des Neuen Testaments sorgfältig unterscheidet. Die erste Nachlassausgabe der Hermeneutik, herausgegeben von Friedrich Lücke, erschien dann auch im Rahmen der Sämmtlichen Werke innerhalb der ersten, theologischen Abteilung (Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg.v. F. Lücke, Berlin 1838, Sämmtliche Werke, Abt. 1, Bd. 7). Vgl. Schleiermacher: Sittenlehre, 356, § 189 (Ethik 1812/13): „Von Seiten der Sprache angesehen entsteht aber die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“ Ebd., 252, § 59. Ebd., 550, § 109 (Ethik 1816).
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Der relativ untergeordnete systematische Ort der Hermeneutik im Zyklus der philosophischen Disziplinen bei Schleiermacher selbst steht in auffälligem Kontrast zu der philosophischen Aufwertung der Hermeneutik in letzten Jahrhundert. Sofern diese Schleiermacher als Ahnherrn einer sich fortschreitend durchsetzenden Wende der Philosophie insgesamt zur Hermeneutik in Anspruch nimmt, erliegt sie einer Täuschung.¹⁰ Die Hermeneutik ist bei Schleiermacher Bestandteil eines umfassenden systematischen Entwurfs, der in der Dialektik als der „höchsten“ philosophischen Disziplin und der Ethik als spekulativer Realphilosophie fundiert ist. Auch wenn in diesen Systemteilen hermeneutische Verfahrensweisen zum Zuge kommen, so ist dennoch in jedem einzelnen Falle ihre Bedeutung im jeweiligen Kontext genau zu bestimmen. Nur so kann vermieden werden, dass die Hermeneutik Schleiermachers mit Ansprüchen der hermeneutischen Philosophie bzw. philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts überfrachtet wird, womit zugleich die innerhalb seiner eigenen Systematik grundlegenden Disziplinen marginalisiert bzw. auf hermeneutisch einholbare Denkfiguren reduziert werden. Die Inanspruchnahme der Schleiermacherschen Hermeneutik im Rahmen eines nachmetaphysischen Bewusstseins seit Dilthey ging mit solchen Verkürzungen des systematischen Kontextes einher.¹¹ Mit Hilfe der Hermeneutik sollte, unter weitgehender Abschattung der in der Dialektik begründeten spekulativen Voraussetzungen, eine historische Vernunft etabliert werden, die den spekulativen Ansprüchen der nachkantischen Philosophie insgesamt den Boden entzieht. Während Dilthey die Ethik noch als grundlegend mit in Anschlag brachte, glaubte die spätere, einseitig an einem Methodenverständnis orientierte philosophische
Vgl. z. B. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991. Vgl. Wilhelm Diltheys Preisschrift zur Hermeneutik von 1860, in: Leben Schleiermachers, Bd. 2, hg.v. M. Redeker, Göttingen 1966, 595 – 787; Ders.: „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Göttingen 51968, 317– 338. Dilthey hat die Hermeneutik in seiner Philosophie der Geisteswissenschaften im Rahmen einer an Hegel orientierten Theorie des objektiven Geistes zur Wirkung gebracht, die sich darüber hinaus v. a. auf Schleiermachers Ethik stützte, der bereits seine Dissertation von 1863/64 gewidmet war. Diese Einbettung in einen ihr fremden Kontext und die Engführung ihres eigenen Kontextes hat die Rezeption der Schleiermacherschen Hermeneutik im Anschluss an Dilthey mitgeprägt. Seine ausführliche Darlegung der Hermeneutik selbst und ihrer geschichtlichen Stellung in der Preisschrift wurde vollständig erst 1966 zugänglich. Schleiermachers Dialektik dagegen, mit deren Durchdringung sich Dilthey zeitlebens schwertat (vgl. den Briefwechsel 1877 – 1897 zwischen Dilthey und Paul Graf Yorck von Wartenburg, Halle 1923), wurde von ihm weitgehend umgangen; die voluminösen, gleichwohl fragmentarischen und insgesamt über ein Referat kaum hinausgehenden Aufzeichnungen hierzu erschienen gleichfalls erst 1966 im zweiten Band des Leben Schleiermachers (65 – 227).
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
Hermeneutik – etwa bei Gadamer¹² –, auch hierauf verzichten zu können. Im Ergebnis wurde die Hermeneutik aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und verselbständigt, was notwendig die Enttäuschung philosophischer Erwartungen nach sich ziehen musste. So rechnet Gadamer seinen eigenen Umgang mit Schleiermachers Hermeneutik diesem selbst zu: er habe „die Hermeneutik zu einer von allen Inhalten abgelösten Methode verselbständigt“ und damit – wie die Romantik insgesamt – „die vom Sachverständnis geführte Kritik aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auslegung“ herausgedrängt.¹³ Dieser Schein entsteht freilich nur dann, wenn der von Schleiermacher etablierte Sachzusammenhang mit den anderen philosophischen Disziplinen abgeschnitten wird. Rudolf Odebrecht hatte bereits 1942 wieder die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Dialektik und Hermeneutik gelenkt, dabei allerdings die Dialektik selbst als „Kunst der Gesprächführung“ in eine hermeneutische Perspektive gerückt. Er betrachtete die Hermeneutik geradezu als den (gleichberechtigten) „Gegenpol zur Dialektik“; beide Disziplinen seien „Fundamentallehren von der Wirklichkeit des menschlichen Seins“,¹⁴ eine Auffassung, die offenbar von Heideggers Fundamentalontologie geleitet wurde.¹⁵ Schleiermacher wird auf diesem Wege insgesamt einer hermeneutischen Philosophie zugeordnet. Ohne solche massiven Vorentscheidungen hat dagegen Heinz Kimmerle in seiner bei Gadamer entstandenen Dissertation Schleiermachers Hermeneutik in den Zusammenhang seines spekulativen Denkens und dessen Entwicklung eingestellt.¹⁶ Eine systematische Verortung der Hermeneutik im engeren Sinne erfolgt dabei jedoch nicht, sondern es wird vor allem ihr Richtungssinn in Bezug auf die Entwicklung der philosophischen Systematik Schleiermachers insgesamt herausgearbeitet. In ähnlicher Weise, wenn auch mit anderen systematisch-aktualisierenden Intentionen, hat Manfred Frank das Schleiermachersche Œuvre umfassend zum Hintergrund seiner Interpretation der Hermeneutik gemacht.¹⁷ Beide kommen darin
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 61990 (11960). Ebd., 198.200. „Einleitung des Herausgebers“, in: Schleiermacher: Dialektik, hg.v. R. Odebrecht, Leipzig 1942 (Reprint Darmstadt 1976), XXIII. Vgl. ebd., XI. Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Diss. Heidelberg 1957 (masch.); ders.: „Das Verhältnis Schleiermachers zum transzendentalen Idealismus“, in: Kant-Studien 51 (1959/60), 410 – 426. Vgl. die Einleitung und die Textauswahl in: Hermeneutik und Kritik, hg.v. M. Frank, Frankfurt/Main 1977; Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main 1977; ders.: „Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie“, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt/Main 1980, 13 – 35; ders.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt/Main 1986.
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überein, die Hermeneutik letztlich auf die spekulative Grundlegung der Philosophie in Schleiermachers Dialektik zu beziehen.¹⁸ Hierüber dürfte gegenwärtig ein breiter Konsens bestehen,¹⁹ aber das genaue Verhältnis beider Disziplinen kann noch keineswegs als geklärt gelten. Gunter Scholtz dagegen hat die Möglichkeit einer Fundierung der Hermeneutik in der Dialektik bestritten und die These vertreten, Schleiermachers Hermeneutik sei „unmittelbar in der Ethik basiert“, wobei sich der „sachliche Befund“ mit dem „historischen“ decke, denn: „schließlich hat Schleiermacher Ethik und Hermeneutik viel früher in seinen Vorlesungen vorgetragen als Dialektik“.²⁰ Während es die Dialektik mit der allgemeingültigen Erkenntnis der Kräfte und Erscheinungen sowohl in der Natur („Physik“) als auch in der sittlichen Welt („Ethik“) nach einheitlichen Grundsätzen zu tun habe und daher die Individualität des Erkennens in ihr nur als zu überwindende Bedingung angesehen werden könne, kämen Ethik und Hermeneutik darin überein, einen Gegensatz des Individuellen und Allgemeinen vorauszusetzen und zu vermitteln. Das aber bedeute, dass die hermeneutische Tätigkeit nur ein Mittel für die wissenschaftliche Tätigkeit sei, „indem sie erkennen hilft, was andere erkannt haben“.²¹ Sie sei „Kunst“ im Sinne der artes liberales, als Kultivierung von Fertigkeiten, die in den Wissenschaften nur in besonderer Weise gebraucht werden. Die von Scholtz vorgeschlagene Lösung nimmt Schleiermachers Charakteristik der Hermeneutik als technischer Disziplin auf und macht mit Recht geltend, dass die Legitimierung der Hermeneutik durch die Dialektik noch nicht die
Vgl. Heinz Kimmerle: „Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophisch-theologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 39 – 59. Vgl. hierzu u. a. folgende, im Einzelnen aus unterschiedlichen Perspektiven argumentierende Arbeiten: Karl Pohl: „Die Bedeutung der Sprache für den Erkenntnisakt in der ‚Dialektik‘ Friedrich Schleiermachers“, in: Kant-Studien 46 (1954/55), 302– 332; Dietrich Böhler: „Das dialogische Prinzip als hermeneutische Maxime“, in: Man and World 11 (1978), 131– 164; Wolfgang Hinrichs: „Standpunktfrage und Gesprächsmodell. Das vergessene Elementarproblem der hermeneutisch-dialektischen Wissenschaftstheorie seit Schleiermacher“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 513 – 538; Maciej Potepa: „Hermeneutik und Dialektik bei Schleiermacher“, in: ebd., 485 – 497; Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie, Berlin und New York 1988 (Kap. IV: „Eine Theorie des Gesprächs – Der Zusammenhang von Anthropologie, Dialektik und Hermeneutik“). Gunter Scholtz: „Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft“, in: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/Main 1995, 108. – Zu fragen wäre allerdings, ob nicht die frühen Entwürfe zur Ethik bereits eine Theorie des Wissens enthalten, die in der Dialektik später nur weiter ausgearbeitet wird. Ebd., 108 f.
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Grundlegung ihrer spezifischen Verfahren bedeute.²² Von Seiten der Dialektik aus wäre gegen ihre enge Koppelung mit der Hermeneutik auch darauf hinzuweisen, dass die etwa bei Odebrecht zu beobachtende Reduktion der Dialektik auf dialogisch-kommunikative Vermittlungen, auf die Gesprächsführung als Verstehensprozess von Rede und Gegenrede, den von Schleiermacher aufgestellten Bedingungen des Wissens nicht gerecht wird. Sie erfasst von dem einen Merkmal – der „Gleichmäßigkeit“ der Produktion in Allen²³ – nur die Form der Vermittlung des Resultats, nicht aber den Grund seiner Produktion in der in Allen identischen Vernunft. Das zweite Merkmal, die Entsprechung des Denkens mit dem Sein, wird daher auch nur hinsichtlich des Gegebenseins der zu verstehenden Rede thematisch, nicht aber hinsichtlich ihres spekulativen Wahrheitsgehalts. Gegenüber dem vorherrschenden Konsens neuerer Interpretationen, Dialektik und Hermeneutik direkt aufeinander zu beziehen, ist demnach die Komplexität ihrer Vermittlung stärker hervorzuheben. Gleichwohl berühren sich beide Disziplinen auch, sofern die Dialektik selbst notwendig als Kunstlehre des werdenden Wissens auftritt, da die vorauszusetzende Identität, Schleiermacher zufolge, nie erreicht werden kann. „Kunst“ und Wissenschaft sind nicht scharf zu trennen, sondern beide gehen in der Dialektik zusammen und sollen schließlich konvergieren. In diesem Zusammenhang ist der zweite, „technische“ Teil der Dialektik (der im Unterschied zum ersten, „transzendentalen“ in der Diskussion kaum Beachtung findet²⁴) von besonderer Bedeutung, in dem dann auch das Verhältnis zur Hermeneutik angesprochen wird. Schleiermachers ausdrücklichen Hinweisen auf dieses Verhältnis soll im Folgenden zunächst nachgegangen werden (Teil 2). Dabei zeigt sich, dass die Hermeneutik in der Dialektik im Zusammenhang mit kritischen Verfahrensweisen thematisiert wird, die weder in der Hermeneutik aufgehen, noch in der Dialektik vollständig bestimmt werden. Sie weisen vielmehr auf geschichtliche Voraussetzungen des Wissensprozesses hin, die Thema der Ethik und der von ihr abhängigen Disziplinen sind (Teil 3). Schleiermachers mehrdeutiger und vielschichtiger Kritikbegriff ist demnach als Schlüssel zur Bestimmung des Verhältnisses von Dialektik und Hermeneutik zu betrachten, wodurch auch seine systematische Konstruktion im Ganzen (Teil 4) sowie deren geschichtlicher Hintergrund (Teil 5) neu beleuchtet wird.
Vgl. ebd., 107. Zu den Merkmalen des Wissens vgl. KGA II/10, 1, 90. Vgl. aber Werner Hartkopf: Dialektik – Heuristik – Logik. Nachgelassene Studien, hg.v. H. Baum u. a., Frankfurt/Main 1987 (bes. 77– 86, 119 – 130); ferner Christian Berner: La Philosophie de Schleiermacher. Herméneutique – Dialectique – Ethique, Paris 1995, Chaiptre III („Dialectique et critique“).
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(2) Ausgehend von der Relativität aller Begriffe, „die ein wirkliches Zusammensein der organischen und intellectuellen Function ausdrücken“ (KGA II/10, 1, 190), behandelt Schleiermacher am Ende der Theorie der Begriffsbildung im zweiten, technischen Teil der Dialektik die Möglichkeit eines Ausgleichs der Relativität bzw. Irrationalität der Einzelnen. Damit ist der Sachverhalt angesprochen, dass die in der Idee des Wissens vorausgesetzte Identität uns nur in einer relativen Entgegensetzung zugänglich wird, d. h. die in Allen identische Vernunft sich nur in relativ entgegengesetzten individuellen Ausprägungen realisiert. Diese sind nun wiederum im Blick auf die Einheit der Vernunft auszugleichen: „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprachen nur durch die Einheit der Vernunft.“ (KGA II/10, 1, 190) Dies könne darum geschehen, weil jeder Einzelne „mit seinem Denken in der Sprache aufgeht“; ebenso „gehen die Operationen aller Sprachen auf in denselben Combinationsgesezen und stehen unter selben Regeln.“ (Ebd.) Zu diesem abgestuften Verfahren des Ausgleichs der Relativität bzw. Irrationalität in der Begriffsbildung bemerkt Schleiermacher abschließend: „Auf jeden Fall ist hier die Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik, die aber auch wieder von jener abhängig ist.“ (KGA II/10, 1. 191) Die wechselseitige Abhängigkeit der Dialektik und Hermeneutik scheint auf den ersten Blick Rudolf Odebrechts oben zitierte Auffassung zu stützen, es handle sich hierbei um zwei polar aufeinander bezogene Fundamentaldisziplinen. Unbestritten ist, dass die Hermeneutik in Schleiermachers Selbstverständnis selbst philosophisch ist und einen Beitrag zur Etablierung des Wissens leistet, der über das hinausgeht, was andere, zumal technische Disziplinen leisten. Sie hat es nicht nur mit sprachlichem Rohmaterial zu tun, sondern auf eine ausgezeichnete Weise mit Artikulationen und Gestaltungen der reinen Vernunft selbst. Die Hermeneutik entfaltet sich zwischen den einander korrespondierenden Polen des Redens und Verstehens,wobei das Verstehen als Umkehrung der Rede gilt. Sie ist philosophisch, sofern das Reden die äußere Seite des Denkens ist, nämlich „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, und hieraus erklärt sich auch ihr „Verhältniß zur Dialektik“. (KGA II/4, 120) Dieses Verhältnis wird in der Hermeneutik ebenfalls als Abhängigkeit bestimmt: „Die Abhängigkeit darin daß alles Werden des Wissens von beiden [Hermeneutik und Rhetorik,Verf.] abhängig ist.“ (Ebd.) Eine Bemerkung von 1828 präzisiert im Blick auf Hermeneutik, Kritik und Grammatik: „da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten desselben giebt
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ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht so sind auch alle drei mit der Dialektik genau verbunden.“ (KGA II/4, 161)²⁵ Der genaue Punkt dieser Verbindung wird in einer von Lücke mitgeteilten Vorlesungsnachschrift von 1832 erläutert: „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhältniß der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“²⁶ Nach dieser Seite ist die Hermeneutik zunächst ein notwendiges Mittel, die Gemeinschaftlichkeit des Denkens hervorzubringen und hat daher die gleiche Tendenz wie die Dialektik, die auf die Einheit des Wissens zielt. Eine Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik besteht hier insofern, als die Dialektik den sprachlich vermittelten Prozess der Realisierung der Einheit nicht umgehen kann. Die Hermeneutik ist daher ein internes Moment im dialektischen Prozess des werdenden Wissens, in dem die Einheit des Wissens realisiert wird. Sie ist aber zugleich auch eine Disziplin, deren Verfahrensweisen in der Dialektik selbst nicht thematisch werden; vielmehr setzt die Dialektik mit der Möglichkeit des Verstehens zugleich die Hermeneutik und ihre Techniken voraus. Dies gilt indessen auch für die spezifischen Verfahrensweisen anderer Disziplinen,welche die Dialektik voraussetzt, indem sie ihnen zugleich die Bedingungen der Einheit des Wissens vorgibt. Auch dieser Sachverhalt kommt in der Vorlesung 1832 zum Ausdruck, wenn die Hermeneutik auf geschichtliche und natürliche Differenzen zurückgeführt wird: „Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik führen wieder zurück auf die Dialektik, als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“²⁷ Sowenig aber die „Einheit des Wissens“ von der Ethik oder Physik selbst theoretisch begründet wird, obwohl auch ihnen die Tendenz zur Einigung, zur Aufhebung der Irrationalität von Natur und Vernunft eignet, so wenig lässt sie sich auch von der Hermeneutik begründen. Die „Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ geht nicht aus dem Prozess der Vermittlung des individuellen Denkens für die Gemeinschaftlichkeit gleichsam naturwüchsig hervor und geht in diesem Prozess auch nicht auf. Die Vergewisserung der Einheit des Wissens hat die Bedingungen und den Grund des Wissens zu bestimmen, wie dies im transzendentalen Teil der Dialektik geschieht. Ohne die Klärung dieser Bedingungen und Eine weitere, systematisch wenig ergiebige Bezugnahme auf die Dialektik findet sich sonst nur noch in Schleiermachers Notizen zum Hermeneutik-Kolleg von 1832 (KGA II/4, 163). Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. 7, Berlin 1838, 11. Ebd.
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dieses Grundes ließe sich für den Prozess des werdenden Wissens, der im Zeichen unaufhebbarer Gegensätzlichkeit und Relativität steht, ein prinzipieller Skeptizismus nicht abweisen, dessen Widerlegung ein durchgängiges Anliegen der Dialektik ist.²⁸ Hierbei kommen Bestimmungen und Instanzen ins Spiel, die weit über die sprachliche Vermittlung zur Gemeinschaftlichkeit des Denkens hinausgehen und letztere allererst auf die Einheit des Wissens hin orientieren.²⁹ Ein Wissen nämlich wird nur dann kommuniziert, wenn die Rede als äußere Seite des Denkens auch dessen Seinsbezug und die Kriterien seiner (vielfach – wie im Experiment – nicht nur sprachlichen) Überprüfung mitteilt. Dies übersteigt schon deshalb die Aufgabe der Hermeneutik, weil Schleiermacher – wenn auch mit Schwankungen – die traditionelle Bestimmung der Hermeneutik als ars intelligendi, explicandi et applicandi im Wesentlichen auf die subtilitas intelligendi, also die Aufgabe des Verstehens, beschränkt.³⁰ Der für das Wissen konstitutive Seinsbezug tritt daher in der Hermeneutik ganz zurück. Ebenso verhält es sich mit dem zweiten Kriterium
Schleiermachers Verhältnis zum Skeptizismus bedürfte einer eigehenderen Auseinandersetzung, die hier nicht geleistet werden kann. Drei Punkte sind aber wenigstens zu benennen: (1) Unstrittig dürfte sein, dass Schleiermacher einer Radikalisierung des Skeptizismus im Gefolge des Kantischen Kritizismus widersteht, weil er von Anfang an einer Entsprechung des Denkens und Seins festhält, welche die objektive Gültigkeit des Erkennens verbürgt. (2) Dies gilt nicht nur in praktischer Hinsicht, wie etwa im Skeptizismus Humes, sondern auch in theoretischer Hinsicht und prinzipiell. Mit einer bloß faktischen, aus der Praxis des menschlichen Naturverhältnisses oder aus der Praxis dialogisch-intersubjektiver Vermittlungen hervorgehenden relativen Einheit gibt sich die Dialektik nicht zufrieden, sondern versucht, sie auf einen transzendentalen Einheits-Grund zu beziehen. (3) Gleichwohl nimmt die Dialektik dort, wo sie es mit dem werdenden Wissen als solchem zu tun hat, nämlich in ihrem technischen Teil, einen methodischen Skeptizismus in Anspruch, der darauf gerichtet ist, ein „Überspringen“ von notwendigen Erkenntnisschritten, d. h. vorzeitige Generalisierungen zu vermeiden. Vgl. hierzu auch die Einleitung zur Dialektik (1833), KGA II/10, 1, 398: „nur wo der Streit schon war, und zugleich die Richtung auf das Wissen stark genug und das reine Denken bestimmt genug von dem andern unterschieden […], nur da hat die Dialektik entstehen und sich ausbilden können. Wo hingegen reines Denken und künstlerisches nicht recht aus einander treten, oder auch wo es zwischen verschieden Denkenden keine Denkgemeinschaft giebt, sondern nur die einfache Mittheilung der selbständig Denkenden an die Aufnehmenden, da tritt keine Dialektik ans Licht.“ Vgl. KGA II/4, 5. Demnach ist die Explikation selbst Objekt der Hermeneutik. Das Erklären fällt den kritischen und spekulativen Disziplinen zu, während die Anwendung im Sinne der Bildung von der Ethik her zu begründen und in der Durchführung arbeitsteilige Aufgabe mehrerer technischer Disziplinen ist. Erst in der Auseinandersetzung mit Ast, dessen Hermeneutik wesentlich von Schlegel geprägt war, diskutiert Schleiermacher 1829 das Erklären als Bestandteil der Hermeneutik (2. Abhandlung, KGA I/11, 637 ff.), ohne daraus indessen weitergehende systematische Konsequenzen zu ziehen.
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des Wissens, der Einheit der Vernunft als Grund des Zusammenstimmens im Denken, und zwar im Prozess des werdenden Wissens selbst. Diese Einheit ist für Schleiermacher nur transzendental zu begründen und zu rechtfertigen, denn sie überschreitet, wie in der Dialektik selbst gezeigt wird, die Individualität und damit „Irrationalität“ der einzelnen Sprachen. Dem scheint, wenigstens für die späteren Fassungen der Dialektik, die stärkere Betonung ihrer Bindung an bestimmte Sprachkreise zu widersprechen. So heißt es im Paragraphen 2 der Einleitung zur Dialektik (1833): „Die Dialektik kann sich nicht in einer und derselben Gestalt allgemein geltend machen, sondern muß zunächst nur aufgestellt werden für einen bestimmten Sprachkreis; und es ist im voraus zuzugeben, daß sie in verschiedenem Maaß werde anders gestellt werden müssen für jeden anderen.“ (KGA II/10, 1, 401) Dieser Grundsatz gilt indessen bereits auch für die früheren Fassungen der Dialektik. Schon im Manuskript von 1814/15 ist zu lesen, dass es „in der Realität kein reines Wissen sondern nur verschiedene concentrische Sphären der Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Principien“ gebe; dies liege daran, dass das „medium der Mittheilung“, die Sprache, immer nur begrenzt sei (KGA II/10, 1, 98) und die mit der Idee des Wissens vorausgesetzte Identität sich in der Wirklichkeit nie rein manifestieren könne; selbst das Mathematische und Transzendentale werde, „als bestimmtes Denken hervortretend […] durch die Sprache relativirt.“ (KGA II/10, 1, 99) Entsprechende Ausführungen finden sich in allen Fassungen der Dialektik. Die damit angezeigte Relativität alles Wissens für uns dementiert jedoch weder die Idee der Einheit des Wissens,³¹ noch ist sie letztlich in der sprachlichen Verfasstheit des Denkens begründet. Sie gründet vielmehr in der Reflexivität unseres Erkennens und Wissens überhaupt, das sich seiner selbst nur dadurch vergewissern kann, dass es sich auf Anderes bezieht und dabei von ihm unterscheidet: „Die Relativität des Wissens ist mit demjenigen zugleich gegeben, wodurch wir uns seiner in seinem Unterschiede von andern Operationen bewußt sind, also mit dem Bewußtsein des Wissens selbst gesezt und ihm wesentlich.“ (KGA II/10, 1, 99) Die Bindung des reinen Denkens in seinem realen Vollzug an bestimmte Sprachkreise ist demnach nur der ausgezeichnete, weil für die Bedingungen dieses Vollzugs grundlegende Fall von Reflexivität in der erscheinenden Wirklichkeit überhaupt, die sich durchgängig in relativen Entgegensetzungen bewegt. Die „unaustilgbare Differenz im Denken“, von der Schleiermacher in seiner Einleitung zur Dialektik 1833 spricht (KGA II/10, 1, 403), ist Ausdruck seiner Grundposition, der für uns
„Dennoch müssen wir hinter der Differenz des gesonderten Wissens eine allgemeine Identität nothwendig voraussezen und halten daran die Reinheit der Idee des Wissens fest, wenn wir auch kein Object aufzeigen können woran sie sich manifestirt“ (KGA II/10, 1, 99).
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nicht erreichbaren, schlechthinnigen Identität des Absoluten eine Welt der relativen Gegensätze entgegenzustellen. Wäre die Differenz zu tilgen, so könnte auch ein absolutes Wissen etabliert werden. Aber auch unter der Voraussetzung, dass dies unmöglich ist, folgt für Schleiermacher aus der unaustilgbaren Differenz keineswegs, dass sie ihrerseits nicht relativiert werden könnte. Dies gilt auch für die Position der Einleitung von 1833, wenn es heißt, dass die Aufgabe darin bestehe, „die an verschiedenen Orten sich bildenden verschiedenen Methoden einander möglichst anzunähern und sie nur so auf einander zurükzuführen, daß einleuchtet wie allen dasselbe zum Grunde liegt, und nur jede Sprache von einer andern geistigen Eigenthümlichkeit aus auch eine andere Natur und Geschichte zu betrachten hat.“ (KGA II/10, 1, 404) Was als „dasselbe zum Grunde liegt“, ist der transzendentale Grund selbst, in dem die Identität der Vernunft und Organisation in Allen gründet, denn die Annahme einer solchen Identität ist die Voraussetzung dafür, dass die verschiedenen Methoden einander überhaupt angenähert werden können. Die Vergewisserung dieses transzendentalen Grundes mag auf unterschiedliche Weise erfolgen und diese Versuche mögen aufgrund der jeweiligen Tradition philosophischen Sprechens nicht restlos ineinander übersetzbar sein und damit eine „Irrationalität“ gegeneinander behalten: gleichwohl geht Schleiermacher davon aus, dass alle diese Versuche notwendig dasselbe Gravitationszentrum haben, das in seiner Dialektik im transzendentalen Teil zur Sprache kommt. Dass die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftretende Kunstlehre des reinen Denkens „zunächst“ nur für bestimmte Sprachkreise aufgestellt werden kann, bedeutet demnach nicht, dass ihr der Grund fehlt und sie insgesamt der Relativität erliegt.³² Das „zunächst“ bezieht sich nur auf die Vorläufigkeit des Verfahrens in Ansehung der praktischen Unabschließbarkeit des Wissensprozesses. Die in ihm vollzogene relative Einigung, auch wenn sie nur für einen bestimmten Sprachkreis gelten mag, beruht jedoch darauf, dass die Vorläufigkeit der Einigung zugleich auch immer einen Vor-Lauf auf den transzendentalen Einheitsgrund darstellt, der gerade deshalb, weil er an und für sich unzugänglich bleibt, der Relativität enthoben ist: „Das Wissen ist im realen Denken nicht inwiefern das Ganze aus dem Einzelnen entsteht, sondern nur in wie fern das Einzelne aus dem Ganzen entsteht.“ (KGA II/10, 1, 162) Nur unter Umgehung dieser spekulativen Voraussetzung kann die Hermeneutik der Dialektik neben- oder gar übergeordnet werden.
Vgl. Karl Pohl: Studien zur Dialektik Friedrich Schleiermachers, Diss. Mainz 1954 (masch.), 65.
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(3) Dieser Befund wird dadurch gestützt, dass die Hermeneutik in Schleiermachers Dialektik nur im Anschluss an die transzendentale Grundlegung im zweiten, technischen Teil ausdrücklich Erwähnung findet, welcher die Idee des Wissens in der Bewegung betrachtet. Dieser Teil gliedert sich in zwei Abschnitte, deren erster „Von der Construction des Wissens an sich“ und deren zweiter „Von der Combination“ handelt; der konstruktive Teil umfasst die Begriffs- und Urteilsbildung, der kombinatorische die heuristischen und architektonischen Verfahren. Auf die Hermeneutik wird am Ende der Theorie der Begriffsbildung Bezug genommen, und zwar nur in dem Entwurf von 1814/15 und den Nachschriften zur Vorlesung 1818/19. Lediglich in der Nachschrift der vierten Vorlesungsstunde des Kollegs von 1811 findet sich darüber hinaus noch die allgemeine Bemerkung, dass von der Dialektik die „Leichtigkeit alles Verstehns“ abhänge (KGA II/10, 2, 8), was auf den Ausgleich der Irrationalität der Sprache durch die Einheit der Vernunft gemünzt sein dürfte. Gerade die späteren Vorlesungen aber, in denen sich nach der Auffassung Odebrechts das Sprachgeschehen und damit der hermeneutische Gegenpol zur Dialektik in den Vordergrund schiebt, nehmen gar nicht ausdrücklich Bezug auf die Hermeneutik. Diese auffällige Tatsache ist bisher, soweit ich sehen kann, noch nicht auf angemessene Weise zur Kenntnis genommen worden. Sie macht deutlich, dass die Hermeneutik für die dialektischen Verfahrensweisen selbst nicht konstitutiv ist und auch die hermeneutischen Verfahrensweisen nicht im Vollzug des dialektischen Denkens begründet werden. Die Dialektik, so scheint es, bezieht sich in einer eher äußerlichen Weise auf hermeneutische Techniken, die sie – wie auch die gewöhnlichen Regeln der Logik – als gegeben annimmt und benutzt, soweit sie als Voraussetzungen des Wissensprozesses angesehen werden müssen. Gleichwohl bedarf dieses Voraussetzen der Legitimation durch die Dialektik selbst. In diesem Sinne können die ausdrücklichen Hinweise in den Vorlesungen von 1814/15 und 1818/19 dazu beitragen, das Verhältnis beider Disziplinen im Kosmos des systematischen Gesamtentwurfs Schleiermachers näher zu bestimmen,wobei zunächst der Berührungspunkt beider Disziplinen ins Auge zu fassen ist. Die Theorie der Begriffsbildung hat in besonderer Weise mit der sprachlichen Verfasstheit der Begriffsform zu tun, die von Schleiermacher als Resultat eines ursprünglichen Schematisierungsprozesses verstanden wird, in dem bildlich gedacht wird und allgemeine Bilder erzeugt werden. Der Schematisierungsprozess ist jedoch schon als Wissen zu bestimmen: er ist ein dem Sein entsprechendes Denken und der Tendenz und Wirkung nach auch ein „in Allen gleich construirtes Denken“ (KGA II/10, 1, 177). Der Tendenz nach, indem die Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes eine Fixierung verlangt und daher Namengebung und mitteilende, vergleichende Rede zur Entwicklung eines verbindlichen „Bezeichnungssystems“ hervorbringt. Schematisierung und Spracherwerb seien daher
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auch ontogenetisch als zwei Seiten eines Prozesses anzusehen. Der Wirkung nach, indem die Stammwörter einer Sprache nach Schleiermachers Auffassung solche allgemeinen Bilder zum Gegenstand haben und in der sprachlichen Kommunikation sowie dem Spracherwerb „die Ueberzeugung von der Identität des bezeichneten Bildes“ (KGA II/10, 1, 178) vorausgesetzt wird. Die identitätsstiftende Funktion der Begriffsbildung geht jedoch mit einer prinzipiellen Relativität des Wissens einher. Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von einer „Irrationalität“ der Sprache, die nicht nur die äußere Seite, die Differenz der Sprachen, betreffe (KGA II/10, 1, 178). Die Irrationalität besteht zunächst darin, „daß das innere Bild an und für sich immer ein inneres bleibt, das Wort aber immer ein äußeres ist. […] Das ganze Bezeichnungssystem des Bildes für sich bleibt immer im einzelnen Menschen verschlossen, wogegen die Sprache die active Seite dazu herstellt und die Schranken der Persönlichkeit durchbricht. Die Vernunft, auch als Trieb in allen dieselbe, […] ist überall auf Gemeinschaftlichkeit gerichtet, sucht darum immer Vermittelung und bricht auf unserm Gebiet jene Schranken durch das Zusammengehören der Rede und des Ohrs.“³³ Die Einheit der Vernunft, so muss dieser Gedankengang wohl präzisiert werden, vermittelt die im Inneren, der Eigentümlichkeit der Individuen, begründete Differenz, hebt sie aber nicht so auf, dass die Identität des Denkens im gemeinschaftlichen Gebrauch der Vernunft durch Reden und Vernehmen auch das Gedachte, die durch die Begriffsform sprachlich bezeichneten Schemata, zur Einheit bringt. Sie kann dies auch deshalb nicht, weil in den Schemata oder Bildern – ungeachtet dessen, dass sie selbst Zeichen sind, die Begriffe als Zeichen also Zeichen zum Gegenstand haben³⁴ – „doch organische Eindrüke aufgefaßt sind“ (KGA II/10, 1, 178), wodurch die sprachlich artikulierte Rationalität, ebenso wie die Individualität der Denkenden und Sprechenden, relativ an die organische Seite gebunden bleibt. Da also „die Differenz des Gedachten und die Identität des Denkens im Streit sind: so muß entweder wo die Relativität ist kein Wissen sein, oder die Relativität muß selbst auf ein Wissen gebracht werden“, d. h., sie muss – wie Schleiermacher erläuternd hinzufügt – in der Konstruktion des Wissens ausdrücklich gemacht und
Schleiermacher: Dialektik, hg.v. L. Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke 3/4, 2), 227 f. (aus einer Nachschrift zum Kolleg 1818/19); vgl. KGA II/10, 2, 304. – Zu der hier angesprochenen Dimension des Hörens in der Hermeneutik vgl. Manfred Riedel: Hören auf die Sprache, Frankfurt/Main 1990. Vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg.v. L. Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke 3/4, 2), 226: „die allgemeinen Bilder, die mit den einzelnen zugleich entstehen, können wir nur unter den Begriff des Zeichens subsumiren, und die Wörter sind eben auch Zeichen“ (Nachschrift zum Kolleg 1818/19).
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auf identische Weise mitkonstruiert werden (KGA II/10, 1, 179). Dies ist Aufgabe eines kritischen Verfahrens, welches als ein „unnachläßliches Correlatum“ (KGA II/ 10, 1, 180) der unmittelbaren Konstruktion des Wissens anzusehen ist und neben diesem beständig herläuft. In diesem Zusammenhang macht Schleiermacher eine wichtige Bemerkung, die auf die Unterscheidung des reinen vom bedingten Denken zielt. „Die große Masse“ sei im alltäglichen Verstandesgebrauch „nicht im Besiz des kritischen Elementes aber auch nicht in Berührung mit dem außer der Sprache gelegenen“ (KGA II/10, 1, 180), d. h. mit den transzendentalen Voraussetzungen der Konstruktion des Wissens. In einer späteren Randbemerkung hierzu (wahrscheinlich von 1828) heißt es: „Insofern also scheidet sich das reine Denken vom bedingten durch das jenem zukommende philologische Interesse, und hier der Zusammenhang dieses ganzen Gebietes mit der allgemeinen dialektischen Aufgabe.“ (KGA II/109, 1, 180) Das philologische Interesse, welches sich auf die sprachlichen Voraussetzungen des Denkens richtet, hat demnach das bedingte Denken zum Gegenstand. An diese Voraussetzung ist zu erinnern, wenn die Dialektik in der spätesten, scheinbar die größte Nähe zur Hermeneutik anzeigenden Definition von 1833 als „Darlegung der Grundsäze für die kunstmäßige Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens“ (KGA II/10, 1, 393) bezeichnet wird. Die Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens ist durch das Interesse der Vernunft geleitet, es ist „Denken um des Denkens selbst“ (KGA II/10, 1, 394) oder „um des Wissens willen“ (KGA II/10, 1, 395). Das philologische Interesse der Hermeneutik dagegen ist um das Verstehen der Artikulationen eines Denkens bemüht, das „um eines anderen willen“ geschieht (geschäftliches Denken) oder aber, obgleich selbstzweckhaft, so doch nicht um des Wissens, sondern um eines „Wohlgefallens“ willen vollzogen wird (künstlerisches Denken).³⁵ Nun betont Schleiermacher in seiner Dialektik jedoch von Anfang an, dass das reine bzw. spekulative Denken und Wissen nicht voraussetzungslos anfange, sondern sich aus dem bedingten bzw. empirischen müsse herleiten lassen können. Mehr noch: sofern die Relativität alles Denkens und Wissens unaufhebbar ist und die Einheit des Wissens eine für uns nicht realisierbare Idee bleibt, kann das Denken der Dialektik den Bereich des Bedingten gar nicht hinter sich lassen. Dialektik und Hermeneutik bleiben daher aufeinander bezogen, indem ihre Sphären nicht schlechthin getrennt sind. Der Unterschied, durch den sie relativ voneinander geschieden werden können, besteht vielmehr in der Richtung, die Die Unterscheidung des bedingten vom reinen oder spekulativen Denken wird hier differenzierter vorgenommen als in den vorausgegangenen Vorlesungen, ist jedoch mit der Unterscheidung von Denken und Wissen am Beginn des transzendentalen Teils ebenso vorausgesetzt, wenn das reine Denken als „Wissenwollen“ bestimmt wird; vgl.KGA II/10, 2, 262.
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beide Disziplinen als Kunstlehren nehmen: die Hermeneutik (und dies entspricht ihrem Charakter als technische Disziplin) schließt das Bedingte gewissermaßen als solches mit sich zusammen, indem sie es in seiner Bedingtheit zu verstehen sucht; die Dialektik (und dies entspricht ihrem Charakter als spekulativer Disziplin) bezieht das Bedingte auf die Idee der Einheit des Wissens und schließt es daher nicht mit sich selbst, sondern mit dem Bedingenden des Bedingten, dem transzendentalen Grund, zusammen. An den unterschiedlichen Interessen der Hermeneutik und Dialektik scheiden sich demnach die Gebiete und spezifischen Aufgaben beider Disziplinen. Die Hermeneutik ist um ein Verstehen des bedingten Denkens als solchem bemüht, die Dialektik betrachtet es im Blick auf das reine Denken unter dem Gesichtspunkt des werdenden Wissens. Beide vermitteln auf ihre Weise das Individuelle des Denkens und der Rede zur Allgemeinheit, aber die Hermeneutik bleibt dabei den bedingten Intentionen und Mitteln der Denkenden und Mitteilenden verhaftet, während sie die Dialektik zugunsten der Einheit des Wissens transzendiert. Gleichwohl ist die Hermeneutik nicht nur Voraussetzung, sondern auch Moment des werdenden Wissens, sofern die spezifisch hermeneutische Vermittlung zur Allgemeinheit im Vollzug des Wissens immer wieder geleistet werden muss und nicht ein für allemal abgemacht werden kann. Erst auf dieser Basis kann die Dialektik die Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens beginnen, um die verbleibende Irrationalität der Sprache zur Einheit der Vernunft zu transzendieren. Die Hermeneutik ermöglicht es, die Relativität des Denkens zu „beherrschen“,³⁶ wie sie umgekehrt für die Vervollkommnung des Verstehens von der Klärung der Voraussetzungen des Denkens in der Dialektik profitiert. Die hermeneutische Aufgabe selbst ist nicht Bestandteil der Dialektik, ebenso wenig, wie es Aufgabe der Hermeneutik ist, rein denken zu wollen. Wohl aber markiert die Hermeneutik, indem sie das Verstehen im Bereich des Bedingten vollbringt, immer wieder neu den Unterschied des reinen vom bedingten Denken, jene Differenz also, die den Einsatzpunkt der Dialektik bildet. Schleiermachers Rede von der wechselseitigen Abhängigkeit beider Disziplinen bezeichnet präzise diesen Sachverhalt. In diese Abhängigkeit ist dann aber über die wechselseitige Vervollkommnung beider in ihrem gemeinsamen Werden hinaus auch nicht mehr hineinzulegen, als eben nur der Vollzug dieser konstitutiven Unterscheidung des reinen vom bedingten Denken: keine Begründung der
Schleiermacher: Dialektik, hg.v. L. Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke 3/4, 2), 260 (Nachschrift zum Kolleg 1818/19).
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Hermeneutik in der Dialektik oder umgekehrt, aber auch keine Komplementarität beider als „Fundamentallehren“ im Sinne Odebrechts.³⁷ Dem entspricht das mehrstufige Modell des Ausgleichs der Irrationalität im Wissensvollzug, wie es Schleiermacher am Ende des Abschnitts über die Begriffsbildung im zweiten, technischen bzw. formalen Teil der Dialektik vorstellt: „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.“ (KGA II/10, 1, 190) Die hermeneutische Aufgabe ist dabei nur Bestandteil eines umfassenderen kritischen Geschäfts, dessen Prinzipien jedoch in der Dialektik selbst nicht ausdrücklich thematisch werden.³⁸ Als kritisch gilt „im Allgemeinen überall die Construction des Individuellen in einen Begriff.“ (KGA II/10, 1, 180) Die Vorlesung von 1822 präzisiert laut einer Nachschrift, dass hierbei das Individuelle „in seinem Positiven und in seinen Gränzen“ zu verstehen sei (KGA II/ 10, 2, 633). Dies erweitert sich schließlich zu einem geschichtlichen Verstehen: „Es kann auf keinem Gebiet ein vollkommenes Wissen geben als zugleich mit der lebendig aufgefaßten Geschichte desselben zu allen Zeiten und allen Orten“ (KGA II/10, 2, 634); „dieses kritische Verfahren liegt im Empirischen, im Geschichtlichen, dem unentbehrlichen Supplement der reinen Wissenschaft“. (KGA II/10, 2, 635) (4) Im Sinne dieser Ausführungen sind Hermeneutik und Dialektik durch ihre geschichtlichen Voraussetzungen zusammengeschlossen, die in den kritischen Verfahren thematisch werden. Dies entspricht der abstrakten Bestimmung ihres Zusammenhangs, dass sie „mit einander werden“.³⁹ Geschichte kann nun bei Schleiermacher zweierlei bedeuten: entweder die empirische Geschichtskunde oder aber die Ethik als spekulative Realwissenschaft der Geschichte; beide verhalten sich zueinander wie Bilderbuch und Formelbuch; ersteres gibt den empirischen Inhalt, letzteres das „Fachwerk“ der Vernunfttätigkeiten.⁴⁰ Eine empiri-
Dem steht entgegen, dass die Dialektik das Gebiet der Hermeneutik auf seine Voraussetzungen hin überschreitet, und zwar nicht nur im Blick auf das Transzendentale, das Bedingende des Bedingten überhaupt, sondern auch auf die nichtsprachlichen Voraussetzungen des bedingten Wissens. Vgl. KGA II/10, 1, 180: „Die Principien des kritischen Verfahrens selbst können nicht auf den Schematismus allein gehen und sind also auch hier nicht auszuführen.“ Sie werden dann aber auch nicht in anderem Zusammenhang ausdrücklich gemacht, sondern gehen in die technischen Regeln des direkt auf die Konstruktion des Wissens bezogenen Verfahrens ein. Schleiermacher: Dialektik, hg.v. L. Jonas, Berlin 1839 (Sämmtliche Werke 3/4, 2), 261. Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 36; Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 68 f.
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sche Vervollständigung des Wissens im Sinne der Geschichtskunde kann mit der geschichtlichen Erweiterung des kritischen Verfahrens der Dialektik nicht gemeint sein, auch wenn eine vollständige Einheit des Empirischen und Spekulativen mit der Idee des Wissens als ein unerreichbares Ziel des Prozesses gesetzt ist. Gegen die Auflösung des Wissens in Geschichte macht Schleiermacher geltend, dass man dann der Wissenschaft „ihr innerstes Leben ausziehn“ würde, „denn sie ist nur fruchtbar, wenn man die Wissenschaft weiterbildet; sonst ist sie todtes Sammeln.“ (KGA II/10, 2, 635) Für eine solche Weiterbildung der Wissenschaft hat sich die Dialektik auf eine bereits strukturierte und spekulativ bearbeitete geschichtliche Empirie zu beziehen, wie sie Gegenstand der Ethik als Wissenschaft der Geschichte ist. Die Geschichtlichkeit des werdenden Wissens, wie sie im kritischen Verfahren der Dialektik reflektiert wird, stellt daher zuallererst eine Brücke zwischen Dialektik und Ethik dar. Die Ethik thematisiert mit den geschichtlichen Voraussetzungen des Handelns der Vernunft auch geschichtliche Bedingungen der Produktion des Wissens, die das Thema der Dialektik ist. Der Unterschied besteht darin, dass die Ethik hierbei die transzendentalen Voraussetzungen der Dialektik schon als gegeben unterstellt und in Anspruch nimmt, um den geschichtlichen Prozess zu strukturieren, während die Dialektik diese Voraussetzungen im Rückgang auf den transzendentalen Grund allererst zu begründen versucht.Wenn es so scheinen kann, als sei die Dialektik in der Ethik des Wissens schon enthalten, wie Eilert Herms in Bezug auf den späten Schleiermacher behauptet hatte,⁴¹ so dürfte dies in der kritischen Dimension der Dialektik selbst begründet sein. Indessen ist, wie oben gezeigt wurde, das kritische Verfahren in der Dialektik selbst nur ein begleitendes, und zwar begleitend zur technischen Seite und nicht zur transzendentalen Begründung, wie auch die Geschichte als Erweiterung der Kritik nur Supplement der reinen Wissenschaft ist. Die Kritik hat daher keine wissenskonstitutive Bedeutung in dem Sinne, dass sie die Idee des Wissens und damit das Wissenwollen des reinen Denkens im strikten Sinne zu begründen vermag. Die geschichtliche Ausbildung dieser Idee und der Verfahrensweisen des reinen Denkens ist vielmehr nur das schrittweise Hervortreten und Bewusstwerden derjenigen Voraussetzungen, die dem wissenwollenden Denken schon immer zugrunde liegen und die den geschichtlichen Prozess insgesamt bedingen.
Eilert Herms: „Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 73 (1976), 471– 523. In dieser Form ist Herms von seiner These inzwischen abgerückt; vgl. ders.: „Die Bedeutung der „Psychologie“ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verb. mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 369 – 401.
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Dagegen weist Herms auf Formulierungen hin, die seiner Meinung nach deutlich machen, dass Schleiermacher selbst die Idee des Wissens von kritischen Verfahren abhängig gemacht, ihnen also eine wissenskonstitutive Funktion zugeschrieben habe. Er führt dabei vor allem die letzte Bearbeitung der Einleitung zur Ethik an, die vermutlich 1816/17 niedergeschrieben wurde.⁴² Während an einer Stelle behauptet werde, das kritische Verfahren habe die Empirie in Spekulation aufzulösen und aus dem Spekulativen philosophisch zu begreifen,⁴³ sei zuvor die Kritik als der Versuch vorgestellt worden, „schon im Werden der Wissenschaft ihre Vollkommenheit aufzufinden“.⁴⁴ Auch in diesem Zusammenhang spricht Schleiermacher jedoch nur von der Kritik als einem „begleitenden“ Verfahren, durch welches allein die Wissenschaft nicht zur Vollendung gelangen könne, weshalb ein höchstes Wissen angenommen werden müsse, aus dem sie sich ableiten lasse.⁴⁵ Die Rechtfertigung dieser allererst das Wissen der Wissenschaft konstituierenden Annahme erfolgt jedoch nicht in der Ethik, sondern wird aus der Dialektik vorausgesetzt. Von einer Gegensätzlichkeit beider Formulierungen, die Herms nur entwicklungsgeschichtlich auflösen zu können meint,⁴⁶ kann daher schwerlich die Rede sein. Gleichwohl hat Herms mit Recht in der Kritik eine systematische Schaltstelle zwischen Dialektik und Ethik einerseits sowie den an die Ethik anschließenden kritischen Disziplinen andererseits gesehen und in diesem Zusammenhang auch auf das Problem des Verhältnisses von Technik und Kritik sowie auf Defizite und Mehrdeutigkeiten des Schleiermacherschen Kritikbegriffs aufmerksam gemacht.⁴⁷ Dieser Kritikbegriff hat bisher, soweit ich sehen kann, in der Forschung nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Gunter Scholtz hat jüngst darauf hingewiesen, dass Schleiermacher „den Begriff der Kritik mindestens in drei sich überschneidenden Bedeutungen benutzt“:⁴⁸ (1) in der ersten Bedeutung, wie sie in der frühen Ethik vorherrsche und die auch dem kritischen Verfahren der Dialektik entspreche,
Schleiermacher: Sittenlehre, 515 ff. Ebd., 549 f. Ebd., 523. Ebd., 524. Vgl. „Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher“, 509: „Eine Tendenz, die Abhängigkeit der Kritik von der Idee des Wissens hervorzuheben, geht über in eine Tendenz, die Abhängigkeit auch noch der Idee des Wissens hinsichtlich ihres Gewußtwerdens vom wissensproduzierenden kritischen Verfahren zu betonen. In diesem Übergang setzt sich eine Einsicht des jungen Schleiermacher in die wissenshervorbringende Funktion von Kritik durch.“ Herms übersieht vor allem, daß das geschichtliche Bewußtwerden der Idee des Wissens diese nicht konstituiert. Vgl. ebd., 510 f. Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/Main 1995, 118 f.
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werde Kritik mit der Hermeneutik selbst als „höherer Kritik“ synonym gebraucht; (2) in der zweiten Bedeutung sei der Begriff der Kritik auf die an die Ethik anschließenden „kritischen Disziplinen“ bezogen und schließlich (3) gebe es Kritik als unmittelbar an die Hermeneutik anschließende Disziplin, die sich in historische, philologische und „doctrinale“ Kritik teile. Gegen diese Unterscheidungen sind jedoch massive Bedenken anzumelden. Die erste Bedeutung von Kritik, die Scholtz hervorhebt, identifiziert die Hermeneutik als Kritik mit dem kritischen Verfahren der Dialektik, was der hier entwickelten These widerspricht. Scholtz stützt sich vor allem auf das Brouillon zur Ethik von 1805/06, wo das Individualisieren des Allgemeinen im Sprachgebrauch des einzelnen Menschen unter Berufung auf den Glauben an eine „höhere Kritik“ als „wahr und nothwendig“ bezeichnet wird.⁴⁹ Die höhere Kritik bezeugt zunächst nur, dass der individuelle Sprachgebrauch nicht als Irrationalität, sondern als Individualisierung des allgemeingültigen Denkens anzusehen ist. Dass sie deshalb aber auch mit der Hermeneutik „zusammenfällt“,⁵⁰ ist damit nicht gesagt. Ebenso gut wäre denkbar, dass die Hermeneutik nur Moment eines solchen kritischen Verfahrens ist, dieses aber nicht vollständig erschöpft. In Bezug auf die Sprache besteht für Schleiermacher „das eigentümliche Gebiet der Kritik“ in der „Darstellung der gemeinschaftlichen Individualität in dem Besonderen und umgekehrt“,⁵¹ wobei hier von der Sprache als Voraussetzung des Wissens und nicht als Mittel künstlerischer Darstellung die Rede ist. Die „größte Anwendung“ des kritischen Verfahrens findet schließlich „in dem höchsten Gebiet“ statt, wo „die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt wird, als Identität eines Allgemeinen und Besonderen.“⁵² Die Kritik ist hier „die allgemeine Form alles wissenschaftlichen Verkehrs“, die „bewußte Anschauung des Erkennens“ und zielt auf die „Weltanschauung“ als „Selbsterkennen des Erdgeistes.“⁵³ In ihrer höchsten Stufe ist die Kritik demnach identisch mit der bewussten Anschauung der relativen Einheit der „Welt“ unter den Bedingungen des irdischen Daseins. Damit dürfte die Aufgabe der Hermeneutik weit überschritten Schleiermacher: Sittenlehre, 100. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/Main 1995, 118. Schleiermacher: Sittenlehre, 173. Ebd., 175; um unmittelbaren Anschluss daran findet sich die vielzitierte programmatische Formulierung Schleiermachers: „Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der Transscendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will, auf diese Art aber nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann, und der allgemeinen Sprachlehre“. Ebd., 175 f. ; zur Metapher des Erdgeistes vgl. Hermann Patsch: „Der ‚Erdgeist‘ als philosophischer Topos bei Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Schelling und Hegel“, in: Schleiermacher’s Philosophy and the philosophical Tradition, hg.v. S. Sorrentino, Lewiston u. a. 1992, 75 – 90.
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sein, denn hier geht es darum, das relative Wissen zu einer Anschauung der Welt zu vereinigen und darin die Idee des Wissens als eines objektiven, d. h. noch unter dem Gegensatz stehenden, zu realisieren.⁵⁴ Diese These wird erhärtet, wenn man die Hermeneutik mit hinzuzieht. Die Hermeneutik hängt unmittelbar mit der Kritik als der „Kunst“ zusammen, „die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren“,⁵⁵ also mit der philologischen Kritik, die es mit der Restitution von Texten zu tun hat. Schleiermachers Ausführungen zur Kritik im Rahmen seiner Vorlesungen über „Hermeneutik und Kritik“ gehen auf den Unterschied von doktrinaler, historischer und philologischer Kritik nur insoweit ein, wie die letztere von den beiden anderen bestimmter geschieden und in unmittelbare Nähe zur Hermeneutik gerückt werden soll.⁵⁶ Der Begriff der Kritik wird im Rahmen der Hermeneutik auch sonst nur in diesem Sinne verwendet.Von der historischen Kritik sagt Schleiermacher ausdrücklich, dass sie über das Gebiet der Hermeneutik hinausgehe,⁵⁷ und gleiches wird man von der „doktrinalen oder rezensierenden Kritik“⁵⁸ sagen müssen, welche ein Werk hinsichtlich seiner
Der Terminus „Anschauung“ verweist darauf, dass es sich hier nicht um ein vollendetes Wissen, sondern um eine heuristisch-architektonische Kombination im Sinne des späteren zweiten, technischen Teils der Dialektik handelt; der Begriff der Kritik wird daher im Broullion auch (außerhalb des Vorgriffs in der allgemeinen Übersicht) im Zusammenhang mit kombinatorischen Verfahren eingeführt. Das Erkennen, so heißt es, sei „schon an sich eine Combination“ (Sittenlehre, 168); um aber den „objectiven Charakter“ des Erkennens hervortreten zu lassen, sei „im Erkennen des Erkennens eine Aufgabe gesezt das Individuelle in Objectives aufzulösen, und dies ist das Object der Kritik“ (ebd., 169). Die Kritik wird hier m. E. nicht, wie Scholtz schreibt, „als das „Erkennen des Erkennens“ bestimmt (Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/Main 1995, 118), sondern als besondere Aufgabe im Erkennen des Erkennens gefasst. Deshalb bringt sie es auch nur zu einer Anschauung des Erkennens im Rahmen der Relativität des Wissens, nicht aber zu einem Erkennen seiner transzendentalen Voraussetzungen. Hierbei ist freilich zu berücksichtigen, dass Schleiermacher diese 1805/06 noch nicht, wie seit 1811 in der Dialektik, eigens thematisiert, sondern auf eine „Theorie der Natur des Erkennens“ (Sittenlehre, 160) nur verweist. Stattdessen geht er von einer „ursprünglichen Anschauung“ der Einheit von Natur und Vernunft aus (82), die eine Allbeseelung des Universums einschließt (84). Insofern ist diese Anschauung, in der sich das Verfahren der Ethik verankert, höher als die Weltanschauung als Resultat der Kritik. – Für das Verhältnis der Kritik zur Hermeneutik ist noch darauf aufmerksam zu machen, dass die Sprache nur das anschaulichste Beispiel für die Individualisierung des Erkennens sein soll und nicht mit jener identisch ist (vgl. 166). Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg.v. M. Frank, Frankfurt/Main 1977, 71. Vgl. ebd., 241 ff.; ebenso die Akademierede Über Begriff und Einteilung der philologischen Kritik, KGA I/11, 643 – 656. Vgl. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg.v. M. Frank, Frankfurt/Main 1977, 246 f.; vgl. KGA II/4, 921. Ebd., 243; vgl. KGA II/4, 1007.
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Vollkommenheit und Unvollkommenheit bewertet und damit letztlich an ethischen Maßstäben misst, denn dies gehört nicht mehr zur „Kunst des Verstehens“, sondern zur „Darlegung des Verständnisses“ (KGA II/4, 73.119). Weder also erschöpft der mit der Hermeneutik assoziierte Begriff der philologischen Kritik die kritischen Verfahren überhaupt, noch kann die Hermeneutik selbst die Aufgaben der Kritik in ihrem vollen Umfang erfüllen. Dabei versteht es sich von selbst, dass diese Abgrenzungen im Rahmen der Schleiermacherschen Systematik nur relativ vorgenommen werden können, da alle Disziplinen nur zusammen werden und in Wechselwirkung miteinander stehen. Das Verhältnis aller drei Kritiksorten zueinander bestimmt Schleiermacher so, „daß die doktrinale Kritik, die ethische mit umfassend, eine ganz allgemeine Aufgabe hat, die überall vorkommt in jedem Zustande der Menschen. Sie bezieht sich auf das Verhältnis des Einzelnen Bestimmten zum Begriff. Hier liegen die letzten Gründe auf dem dialektischen und spekulativen Gebiete. Die historische Kritik ist eine Aufgabe, die ebenfalls überall vorkommt, wo Vergangenheit und Gegenwart einander gegenübertreten. Da ist immer eine Vergleichung zwischen der Tatsache (in der Vergangenheit) und der Relation (in der Gegenwart) anzustellen. Die Aufgabe ist überall, wo es geschichtliches Dasein gibt. Die philologische Kritik hat es zu tun mit der allmählichen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnehmen und Wiedergeben, Rezeptivität und Spontaneität entsteht.“⁵⁹ Die Lösung der begrenzten Aufgabe der philologischen Kritik geht offenbar ebenso als Voraussetzung in die anderen Kritiken ein, wie die Hermeneutik überhaupt eine Voraussetzung kritischer Verfahrensweisen bildet. Und umgekehrt sind doktrinale und historische Kritik in ihrer Allgemeinheit als Voraussetzungen der Hermeneutik und auch der philologischen Kritik anzusehen. In diesem Sinne vermittelt Schleiermachers mehrstufige Konzeption von Kritik zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen derart, dass sie diese auf ein umfassendes kritisches Verfahren bezieht, das sich in der Dialektik vollendet und dort zugleich von seinen transzendentalen Voraussetzungen her begründet wird. Hierin sind auch Hermeneutik und Dialektik systematisch aufeinander bezogen, aber ungeachtet ihrer direkten Berührung mit der Dialektik findet die Hermeneutik ihren nächsten spekulativen Verankerungspunkt in der Ethik, die auch (neben der nicht ausgeführten Physik) den nächsten realphilosophischen Verankerungspunkt der Dialektik bildet. Dieser Zusammenhang wird von der Ethik aus dadurch thematisch, dass in ihr die kritischen und technischen Disziplinen begründet werden. Das Wesen der
Ebd., 249 f.; vgl. KGA II/4, 1015.
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Kritik ist nach dem Entwurf von 1812/13 die „Verbindung des Empirischen mit der spekulativen Darstellung, nämlich zu beurteilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee […] verhalten“.⁶⁰ Die Technik dagegen hat es mit der Produktion dieser Erscheinungen durch den Einzelnen und den besonderen Gegensätzen und Naturbedingungen zu tun, in die er dabei gestellt ist. Als zu der ersten Kategorie gehörig werden Grammatik, Religionsphilosophie und Ästhetik namhaft gemacht, während Didaktik, Hermeneutik, praktische Theologie und die technische Seite der einzelnen Künste der letzteren Kategorie zugerechnet werden. In der Einleitung zur Ethik (1816) wird dieses Verhältnis so gefasst, dass die kritischen Disziplinen „abhängig von dem Speculativen“, die technischen „von dem Empirischen abhängig zwischen der Geschichte und der Ethik schweben“.⁶¹ Darüber hinaus erwähnt Schleiermacher aber auch noch ein höheres kritisches Verfahren, welches die spekulative Realwissenschaft der Ethik mit dem reinen Denken der Dialektik vermittelt: „Das höhere kritische Verfahren,welches in jedem Ausdruck eines Endlichen, aus seiner Einzelheit heraus in die Totalität versezt das Absolute nachweiset, ist die Vermittlung auch zwischen der Ethik und dem absoluten Wissen“.⁶² In diesen Bestimmungen tritt die vermittelnde Funktion der Kritik für den Zusammenhang der Disziplinen deutlich hervor. Ob dieser Zusammenhang sich stringent durchführen lässt oder aber durch die Uneindeutigkeiten im Kritikbegriff belastet bleibt, soll hier nicht weiter erörtert werden. Auffällig ist, dass eine zusammenhängende Begründung und Darlegung der Kritik auch in der Dialektik nicht erfolgt und sie eher beiläufig als ein begleitendes Verfahren eingeführt wird, obwohl die unterschiedlichen Ebenen der Kritik als konstitutiv für die Abgrenzung Schleiermacher: Sittenlehre, 252. Ebd., 505 f. Ebd., 507. Dass diese höhere Kritik noch nicht existiert und nach Schleiermacher auch nicht vollständig ausgebildet werden kann, weil sie eine empirische Vollständigkeit des Wissens voraussetzen würde, ist der Einsatz der Dialektik, die auch als „Kunst der philosophischen Kritik für jedes fragmentarisch gegebene Wissen“ auftritt (KGA II/10, 1, 81). Durch die „Anknüpfung an die zur Klarheit gebrachten lezten Principien alles Wissens“, also die Klärung der transzendentalen Voraussetzungen, könne sie ein „Supplement alles realen Wissens“ erzeugen, „welches man nicht auf dem scientifischen Wege selbst erlangt hat“ (KGA II/10, 1, 82). In dieser Weise knüpft der technische Teil der Dialektik an den transzendentalen an. Das dort thematisierte kritische Verfahren steht also im Bezug zu den Aufgaben der höheren Kritik, es wird von Seiten der Ethik ergänzt durch die kritische Beziehung alles vernünftigen Handelns auf das höchste Gut. Tatsächlich aber ist die dialektische Kritik auch nur ein Supplement der höheren, die im ethischen Prozess nicht zu realisieren ist. Eine direkte Beziehung eines Teilbereichs des Empirischen auf das spekulative Prinzip leistet nur die Psychologie, die daher innerhalb ihrer Grenzen auch die Funktion einer höheren kritischen Disziplin erfüllt. Vgl. hierzu unten „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“.
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der Disziplinen voneinander gelten müssen. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass Schleiermacher hier die systematischen Voraussetzungen seines Verfahrens nicht vollständig reflektiert habe. Unaufgeklärt bleibt auch das besonders für den Status der Hermeneutik grundlegende Verhältnis von Kritik und Technik.Während die Kritik insgesamt über der Technik steht, kehrt sich das Verhältnis in Bezug auf die philologische Kritik um: „Hermeneutik wird billig vorausgesezt weil sie auch da nöthig ist wo Kritik fast gar nicht stattfindet, überhaupt weil Kritik aufhören soll ausgeübt zu werden, Hermeneutik aber nicht.“ (KGA II/4, 161) Mehr noch: aus der Sicht der Dialektik wird die Hermeneutik selbst als Bestandteil kritischer Verfahren thematisch und der Bezugspunkt ist hierbei keineswegs die philologische Kritik. Eine mögliche Erklärung hierfür, die freilich die Inkonsistenzen des Konzepts nicht beseitigt, lässt sich dem Brouillon von 1805/06 entnehmen, in dem der Unterschied kritischer und technischer Disziplinen noch nicht durchgeführt ist. Schleiermacher redet hier allgemein von Kunstlehren, die auf „ethische Vollendung“ zielen.⁶³ Unter Kunst ist hier das Produzieren als Darstellen eines Vernunftgehalts zu verstehen;⁶⁴ dieses darf nicht als Mittel zu äußeren Zwecken dienen, sondern ist auf den Selbstzweck des höchsten Gutes ausgerichtet. Von dorther unterscheidet Schleiermacher die „Disciplinen neben der Sittenlehre. Sie sind von zweierlei Art. Ascetik und Pädagogik sezen eigentlich Mittel zum Besserwerden; in der Ethik kann es aber keine Mittel geben. Jedes Handeln soll entweder für sich sein, oder es darf auch als Mittel nicht sein. Anders ist es bei einzelnen Künsten, die eine Technik haben.“⁶⁵ Offenbar bezieht sich Schleiermacher hier auf denjenigen Sachverhalt, der später die Unterscheidung kritischer und technischer Disziplinen veranlasst. Die technischen Disziplinen wären demnach solche, worin Handlungen als Mittel zu Zwecken angesehen werden und ihren Zweck nicht in sich selbst haben, die aber zugleich eine unverzichtbare Seite der Kunstlehren darstellen und mittelbar nicht nur zur ethischen Vollendung, sondern, im Gesamtprozess der Kritik, auch zur Vollendung des Wissens beitragen. Von dorther könnte die Hermeneutik als eine besonders ausgezeichnete technische Disziplin angesehen werden, da sie sich unmittelbar mit der technischen Seite der obersten Wissenschaft als Kunstlehre, der Dialektik, berührt. (5) Schleiermachers kritische Vermittlung der Disziplinen erfolgt vor dem Hintergrund transzendentaler Voraussetzungen des Wissens, die selbst nicht im Prozess der Kritik konstituiert werden. An die Stelle der Vermittlungen tritt viel-
Schleiermacher: Sittenlehre, 80. Vgl. ebd., 98. Vgl. ebd., 86.
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mehr ein unmittelbarer Bezug, indem die Dialektik den transzendentalen Grund in einem unmittelbaren Selbstbewusstsein verankert. Ein solches unmittelbares InBeziehung-Setzen gilt Schleiermacher als Grundzug der Moderne, in der, wie es in der Ästhetik heißt, „die Beziehung auf die Idee der Gottheit“ dominiert, und dieses Verhältnis sei „ein schlechthin unmittelbares“ und könne „von jedem einzelnen Punkt ausgehn“.⁶⁶ Um dieser Unmittelbarkeit willen, die den transzendentalen Grund der Geschichtlichkeit und Relativität überhebt, konzipiert Schleiermacher die Kritik als ein äußerlich begleitendes Verfahren, das die Sphären des Bedingten und Relativen fortlaufend auf einen als unmittelbar vorausgesetzten Einheitsgrund bezieht. Sie ist nur die nachgängige Reflexion eines unmittelbar schon immer erfolgten Bezugs, nicht aber seine konstitutive Vermittlung. Deshalb werden auch die Ebenen der Kritik, durch welche die Disziplinen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, in letzter Konsequenz zu äußerlichen, gleichgültigen Unterschieden herabgesetzt. Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass sich die Dialektik schließlich unmittelbar, unter Umgehung der außersprachlichen natürlichen, individuellen und allgemein-geschichtlichen Voraussetzungen des Wissensprozesses, mit der technischen Disziplin der Hermeneutik berührt. Die auf der realphilosophischen Ebene aufgebaute Komplexität der kritischen Vermittlung findet in der Dialektik keine Entsprechung in der Reflexion und transzendentalen Begründung eines umfassenden Kritikbegriffs. Die geringe Aufmerksamkeit, die Schleiermachers Konzeption von Kritik bisher gefunden hat, ist sicher auch Folge ihrer systematischen und begrifflichen Uneindeutigkeit. Eine Erklärung hierfür dürfte noch am ehesten im Rückgang auf die Entwicklungsgeschichte zu erwarten sein, denn Schleiermachers Systematik befindet sich, ungeachtet der Kontinuität grundsätzlicher Positionen, bis in die späten Berliner Vorlesungen hinein im Fluss. Mit Recht hat Scholtz gerade im Blick auf das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik in Erinnerung gerufen, dass die Ausbildung der Hermeneutik zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die Dialektik noch gar nicht konzipiert war. Die Hermeneutik ist von Anfang an auf das Verstehen als einen weitgehend eigenständigen Vorgang beschränkt, d. h., die besonderen historischen Bedingungen sowohl des jeweiligen Gegenstandes als auch des Verstehensprozesses gehen nicht in die hermeneutischen Verfahren selbst ein und auch die Darlegung des Verständnisses fällt nicht in ihren Bereich. Auf Seiten der Kritik führt dies später zu der Abgrenzung der philologischen gegenüber der doktrinalen und historischen Kritik. Von Anfang an ist Schleiermacher also be-
Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, hg.v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984, 49.
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müht, die Hermeneutik nicht aus ihr selbst heraus mit einer umfassenden Konzeption von Kritik zusammenzuschließen und in sie übergehen zu lassen. Genau dies hatte Friedrich Schlegel in seiner Philosophie der Philologie getan und die Kritik schließlich als „pragmatische Dialektik“ bestimmt, die mit der von ihm als Dialektik konzipierten Transzendentalphilosophie konvergiert. Schleiermacher hat diese Konzeption wenigstens in ihren Grundzügen mit Sicherheit gekannt, und so ließe sich schon seine frühe Konzeption der Hermeneutik als Reaktion auf eine umfassende frühromantische Konzeption dialektischer Philosophie verstehen, in welcher der Kritik tatsächlich die Funktion einer konstitutiven Vermittlung zukommt. Der demgegenüber wesentlich abgeschwächte und weitgehend auch unausdrücklich bleibende Schleiermachersche Kritikbegriff ließe sich von dorther als Restbestand einer anderen systematischen Konzeption begreifen, deren Konsequenzen Schleiermacher, trotz vielfacher Übereinstimmungen, abwehren möchte.⁶⁷ An dieser Stelle muss ich es bei einem Hinweis darauf bewenden lassen, wo der entscheidende Abstoßungspunkt beider Konzeptionen liegt. Die Dialektik konzipiert Schlegel seit 1796, die Hermeneutik seit 1797 als Bestandteile einer kritischen Philosophie in der Nachfolge Kants.⁶⁸ Während die Dialektik von der Beziehung auf das Unbedingte ausgeht und im Bezug auf die Grenze des Erkennens die Formen alles bedingten Wissens und Handelns begründet, setzt die Hermeneutik in einer gegenläufigen Bewegung von unten an. Durch die Einbeziehung kritischer Verfahren, mit denen die historischen Bedingungen des Verstehensprozesses ins Spiel kommen, erweitert sie sich aufgrund der inneren Logik dieses Prozesses selbst⁶⁹ schrittweise zu einer Enzyklopädie,⁷⁰ welche die Ge Zur Hermeneutik Schlegels in ihrer Beziehung auf Schleiermacher vgl. die oben in Anm. 1 genannten Arbeiten. – Bereits Josef Körner („Friedrich Schlegels philosophische Lehrjahre“, in: Friedrich Schlegel: Neue philosophische Schriften, hg.v. J. Körner, Frankfurt/Main 1935, 51) hatte die These vertreten, auch Schleiermachers Dialektik lasse „gewisse Grundgedanken der Jenaer Transzendentalphilosophie [Friedrich Schlegels, Verf.] aufscheinen“. Vgl. hierzu oben „Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik“; Andreas Arnsdt: „Dialettica romantica. Friedrich Schlegel e Schleiermacher“, in: Fenomenologia e Società 15 (1992), 85 – 107; ders.: „Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796 – 1801“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), 257– 273. Vgl. die Selbstaussage von 1818, dass er „in der ersten Epoche meiner Philosophie davon durchdrungen war, die Philosophie müsse kritisch seyn, – aber in einem ganz anderen und viel höheren Sinne als bei Kant, nach einer lebendigen Kritik des Geistes“ (KFSA 19, 346, Nr. 296). „Das kleinste Philologem ist encyclopaedischer Art und kann nur von einem Polyhistor beantwortet werden“ (KFSA 16, 65, Nr. 60). Ebd., 46, Nr. 139, wo die Enzyklopädie als Produkt der historischen Philologie angesprochen wird. – Ebd., 65, Nr. 59, betont Schlegel den etymologischen Zusammenhang von Zyklus und Enzyklopädie im Blick auf die Philologie.
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schichte überhaupt zum Gegenstand hat.⁷¹ Der hermeneutisch-kritische Prozess ist daher „wie eine Totalisazion von unten herauf“,⁷² in der sich die „vollendete, absolute Philologie“ schließlich selbst „annihilirt“.⁷³ Der Hermeneutik liegt unbewusst das Streben nach einem absoluten Verstehen zugrunde,⁷⁴ das in der höheren Kritik bewusst aufgenommen wird; sie ist „die Hochzeit der Philologie und der Philosophie zur Constitution der Wahrheit.“⁷⁵ Das bedeutet, dass nur im geschichtlichen Prozess das Unbedingte und das Bedingte in ihrer Einheit zur Darstellung gebracht werden können.⁷⁶ Gelegentlich spricht Schlegel daher auch davon, dass die Kritik das Transzendentale historisieren müsse.⁷⁷ Hierin besteht die eigentliche Pointe seines Kritikbegriffs. Die Vernunft realisiert sich, indem sie durch die Kritik historisch wird, und die Kritik wird damit selbst zum Verfahren einer mit dem Verstehen zusammengeschlossenen, „pragmatischen Dialektik“.⁷⁸ Es scheint, als habe Schleiermacher gerade diese, von Schlegel keineswegs radikal zu Ende gedachte Konsequenz einer Konstitution der Wahrheit im kritischen Prozess abwehren wollen und daher die Kritik, ungeachtet ihrer vermit-
„Die Wissenschaft die aus der Philologie entspringt heißt Historie“ (ebd, 67, Nr. 75); „Der Zweck der Philologie ist die Historie“ (ebd., 37, Nr. 27). Ebd., 68, Nr. 84. Ebd., 48, Nr. 158; vgl. 47, Nr. 143: „Die ganze Philosophie der Historie muß aus der Philosophie der Philologie postulirt und deducirt werden können.“ Ebd., 71, Nr. 120: „Die recht kritischen Philologen lesen sehr philosophisch ohne es zu wissen. Streben nach einem absoluten Verstehen.“ KFSA 18, 272, Nr. 925. KFSA 12, 98: „Alle Resultate der Philosophie sind enthalten in dem einen: daß Theorie und Empirie eins ist, daß sie nicht absolut getrennt werden können. Das Mittelglied ist Geschichte, daher die Materie der Philosophie Geschichte ist. Die Methode der Philosophie soll historisch seyn“. KFSA 18, 92, Nr. 756: „Auch in der Philosophie soll nur das Classische kritisirt werden, das Transcendentale aber historisirt. Alle Philosophie als Kunst soll = Kritik sein.“ Ebd., 117. Nr. 1063. – Der Begriff der pragmatischen Dialektik erinnert an Kants Anthropologie, dürfte aber vor allem an Fichtes Wissenschaftslehre anknüpfen, die ihrem Selbstverständnis nach ihren Wahrheitsanspruch in einer „pragmatischen Geschichtsschreibung“ des menschlichen Geistes zu bewähren hat (vgl. Johann Gottlieb Fichte: Werke, Akademie-Ausgabe, hg.v. R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Canstatt 1962 ff., Abt. I, Bd. 3, 147): „Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“ (ebd., 365). In der Durchführung dieses Programms gewinnt bei Schlegel das Pragmatisch-Historische jedoch eine neue systematische Bedeutung, da es sich nicht mehr auf einen infalliblen obersten Grundsatz stützen kann, sondern die Wahrheit allererst zu konstituieren, d. h. selbst die Funktion des Prinzipiierens und des Bewährens zugleich zu übernehmen hat. Insofern ist das kritische, systematische Nachkonstruieren nicht nachgängiges, sondern konstitutiv-setzendes Moment der zur Dialektik transformierten Wissenschaftslehre. Die Dialektik selbst in ihrem Begründen ist pragmatisch.
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telnden Funktion innerhalb seiner Architektonik des Wissens, nur als begleitendes Verfahren gelten lassen.
2 Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers (1) Hans-Georg Gadamers Verhältnis zu Friedrich Schleiermacher erscheint als vielfach gebrochen: nicht nur durch seinen eigenen hermeneutischen Ansatz, nach dessen Maßstab er Schleiermacher beurteilt, sondern auch durch die Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Hermeneutik, die ihm den Blick auf deren philosophische Grundlagen in entscheidenden Punkten verstellt. In Gadamers Versuch einer Selbstkritik aus dem Jahre 1985, die er unter den Titel „Zwischen Phänomenologie und Dialektik“ gestellt hatte, findet sich hierzu eine bemerkenswerte Ausführung: „Mir ging es eben nicht darum, Schleiermacher in allen seinen Dimensionen zu würdigen, sondern ihn als den Urheber einer Wirkungsgeschichte zu charakterisieren, die bereits mit Steinthal einsetzt und in der Zuspitzung wissenschaftstheoretischer Art, die Dilthey vorgenommen hat, unstreitig beherrschend wurde. Das hat nach meiner Meinung das hermeneutische Problem verengt, und diese Wirkungsgeschichte ist keine Fiktion.“¹ Gewirkt aber hat nach Gadamer „die psychologische Interpretation, die das eigentlich Neue war, was Schleiermacher beitrug“ (WM 2, 14), und die im Mittelpunkt seiner Kritik steht. Schleiermacher – und mit ihm die ‚romantische Hermeneutik‘ überhaupt – habe, so Gadamers Grundvorwurf, das Verstehen auf den Ausdruck, die Individualität, nicht jedoch auf das Erfassen der Wahrheit ausgerichtet.² Nun ist Gadamers Kritik an der psychologischen Interpretation bzw. genauer: der Engführung der Schleiermacherschen Hermeneutik auf die psychologische Interpretation, nicht unwidersprochen geblieben. Peter Szondi hat gerade der von Wilhelm Dilthey inaugurierten lebensphilosophischen Schleiermacher-Interpretation vorgeworfen, dass sie von den beiden Teilen der Schleiermacherschen Hermeneutik – der „grammatischen“ und der „psychologischen“ bzw. „technischen“ Auslegung – „die grammatische Interpretation überging und die andere nur qua psychologische, d. h. auf die Individualität des Autors rekurrierende, aufnahm, nicht aber als die technische, welche in den Grundzügen der Komposition eines Werkes die Individualität des Autors konkretisiert findet.“³ Auch für Manfred Frank ist die Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Hermeneutik keineswegs eine einfache Fortschreibung ihrer Intentionen und philosophischen
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2 Bde., Tübingen 61990, Bd. 2, 15 (im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle WM und der Bandzahl). Vgl. hierzu Jean Grondin: Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 89. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/Main 1975, 166.
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Grundlagen, sondern deren Umbildung und Überlagerung, was dazu führt, dass ihre Aktualität auch nur im Rückgang auf Schleiermacher selbst herausgearbeitet werden kann; hierbei überwindet Frank die Engführung auf die HermeneutikVorlesungen selbst und bezieht Schleiermachers Dialektik als spekulative Grundlage ebenso ein wie etwa die Ethik und die Ästhetik. ⁴ Entschieden kritisiert auch Henrik Birus Gadamers „Nivellierung wesentlicher historischer und begrifflicher Differenzen“ in seiner Konstruktion einer einlinigen Wirkungsgeschichte;⁵ gerade der Spannungs- und Problemreichtum der Schleiermacherschen Hermeneutik habe „zu einer produktiven Fortführung und vertieften Neubegründung“ gereizt,⁶ die sich – bis hin zu Gadamer – in z.T. ganz unterschiedlichen Positionen niederschlage. Christian Berner kritisiert ebenso die einseitige Interpretation der Schleiermacherschen Hermeneutik von der „psychologischen Auslegung“ her und wirft Gadamer darüber hinaus vor, er verkenne die systematische Verankerung der Hermeneutik in der Dialektik und Ethik.⁷ Jean Grondin hat diese Einwände der von ihm so genannten „revisionistischen Literatur“ durch den Hinweis zu entkräften versucht, dass Gadamers Kritik der romantischen Hermeneutik eine „grundlegende Solidarität“ voraussetze: „Insofern sich Gadamers Hermeneutik auch gegen die Verführung einer rein methodischen Hermeneutik erhebt, ist sie selbst urromantisch.“⁸ Deshalb möchte Grondin – ungeachtet der Gadamerschen Kritik an der Wirkungsgeschichte der „romantischen“ Hermeneutik – Gadamer selbst noch in diese Wirkungsgeschichte einreihen: erst „die philosophische Nobilitierung der Hermeneutik bei Gadamer“ habe es erlaubt, „auf die fragmentarischen Ansätze bei Schleiermacher und Dilthey zurückzukommen“.⁹ Genau hierin aber besteht das grundlegende Problem von Gadamers Lektüre der Schleiermacherschen Hermeneutik. Er liest sie, im Gefolge der von Dilthey begründeten Tradition,¹⁰ in der er insoweit auch tatsächlich steht, als eine philosophische Fundamentaldisziplin und macht die Ansprüche genau einer solchen Disziplin zum Maßstab seiner Kritik an der „romantischen Hermeneutik“. Darin lässt er sich auch durch die Einbeziehung anderer philosophischer Disziplinen bei Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und –interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main 1977. Hendrik Birus: „Einleitung“, in: Hermeneutische Positionen, hg.v. H. Birus, Göttingen 1982, 11. Hendrik Birus: „Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik“, in: ebd., 41. Christian Berner: La Philosophie de Schleiermacher, Paris 1995, 19. Grondin: Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 8. Ebd., 88. Vgl. Erwin Hufnagel: „Diltheys Würdigung der Schleiermacherschen Hermeneutik“, in: Synthesis philosophica 12 (1997), 65 – 97.
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Schleiermacher nicht beirren, denn er liest diese wiederum einzig und allein unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags für eine philosophische Hermeneutik in seinem eigenen Sinne, nicht aber hinsichtlich ihres Beitrags für die systematische Bestimmung der Hermeneutik bei Schleiermacher selbst. Weder die HermeneutikVorlesungen noch Schleiermachers einschlägige Akademie-Abhandlungen, so schreibt Gadamer, ließen sich „an theoretischem Gewicht für eine philosophische Hermeneutik […] mit dem vergleichen, was Schleiermachers Dialektik-Vorlesung, insbesondere auch der dort erörterte Zusammenhang von Denken und Sprechen, enthält.“ (WM 2, 463) Zu fragen ist freilich, ob Schleiermachers Dialektik, immerhin nicht weniger als eine mit Fichtes Wissenschaftslehre konkurrierende grundlegende Theorie des Wissens,¹¹ ihr theoretisches Gewicht in dieser Sache nicht gerade darin hat, dass sie der Hermeneutik einen anderen philosophischen Status verleiht als den einer philosophischen Hermeneutik in Gadamers Sinne. Anders gesagt: die Nicht-Fiktionalität der Wirkungsgeschichte, auf die Gadamer sich beruft, könnte sehr wohl auf einer Fiktion über den tatsächlichen philosophischen Status der Hermeneutik bei Schleiermacher beruhen.¹² Dieser Status soll im Folgenden näher bestimmt und mit Gadamers Sichtweise konfrontiert werden. Zunächst soll gefragt werden, was es für den Status und die Verfahrensweisen der Hermeneutik bedeutet, dass Schleiermacher sie als eine technische Disziplin bestimmt; sodann soll auf das systematisch grundlegende Verhältnis der Hermeneutik zur Dialektik bei Schleiermacher eingegangen werden. (2) Dass „Gadamers Schleiermacherbild Züge der Fiktion aufweist“,¹³ hat in dieser Schärfe zuerst Manfred Frank behauptet. Er meint damit vor allem die Vernachlässigung der ‚grammatischen‘ gegenüber der ‚psychologischen‘ Interpretation, in welcher Gadamer ja in der Tat das „Eigenste“ Schleiermachers erblickt (WM 1, 190): „Was verstanden werden soll, ist nun nicht nur der Wortlaut und sein objektiver Sinn, sondern ebenso die Individualität des Sprechenden bzw. des Verfassers. Schleiermacher meint, nur im Rückgang auf die Entstehung von Gedanken lassen sich diese wirklich verstehen.“ (Ebd., 189) Obwohl Gadamer in diesem Zusammenhang auch die „an sich sehr geistvollen Ausführungen Schleiermachers zur grammatischen Interpretation“ würdigt, geht er auf diese doch nicht weiter
Vgl. hierzu die Historische Einführung in KGA II/10, 1. Der berechtigten Frage, wieweit nicht Gadamers eigene hermeneutische Konzeption der ‚Horizontverschmelzung‘ eine solche Verschleifung von Positionen geradezu provoziert, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Manfred Frank: „Einleitung“, in: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg.v. M. Frank, Frankfurt/Main 1977, 60.
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ein, weil die „psychologische Interpretation für die Theorienbildung des 19. Jahrhunderts – für Savigny, Boeckh, Steinthal und vor allem Dilthey – die eigentlich bestimmende geworden“ sei. (Ebd., 190) Indem auch hier die Wirkungsgeschichte und nicht die innere Systematik der Schleiermacherschen Texte zum Leitfaden der Interpretation erhoben wird, erscheint die romantische Hermeneutik letztlich als „ein divinatorisches Verhalten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers“ (ebd., 191), kurz: als Einfühlungshermeneutik. Eine „solche isolierende Beschreibung des Verstehens“ aber bedeute, „daß das Gedankengebilde, das wir als Rede oder Text verstehen wollen, nicht auf seinen sachlichen Inhalt hin, sondern als ein ästhetisches Gebilde verstanden wird, als Kunstwerk oder ‚künstlerisches Denken‘. Hält man das fest, so versteht man, warum es hier gar nicht auf das Verhältnis zur Sache (Schl. ‚das Sein‘) ankommen soll.“ (Ebd., 191) Nun dürfte kaum bestritten werden, dass Schleiermachers Hermeneutik auch beansprucht, ästhetische Gebilde zu verstehen; hieraus lässt sich jedoch nicht folgern, ihr Verfahren sei an „ästhetischen Grundbestimmungen Kants“, nämlich dem Maß des „Wohlgefallens“ orientiert (ebd.), wie Gadamer es nahelegt.¹⁴ Tatsächlich redet Schleiermacher von der Hermeneutik als einer „Kunst des Verstehens“ (KGA II/4, 194) und bestimmt auch das Auslegen selbst als „Kunst“ (KGA II/4, 201), jedoch hat der Ausdruck ‚Kunstlehre‘ bei Schleiermacher eine weitere Bedeutung, sofern Kunst ganz allgemein als ein auf den Vernunftgehalt bezogenes Darstellen verstanden wird;¹⁵ Kunst ist demnach überhaupt die individuelle Darstellung eines Allgemeinen, nämlich des Vernunftgehalts. Dies betrifft nicht nur die schönen Künste, sondern ebenso alle anderen ‚Kunstlehren‘ wie Politik, Pädagogik etc.;¹⁶ ja auch die Dialektik ist Kunstlehre, nämlich „Kunst des Gedankenwechsels von einer Differenz des Denkens aus […] bis zu einer Uebereinstimmung“ (KGA II/10, 1, 81). Im weitesten Sinne ist jedes reale Wissen „ein Kunstwerk in so fern die beiden philosophischen Elemente [Formal- und Tran-
Gadamer verweist in diesem Zusammenhang auf Schleiermachers späte Einleitung (1833) zur Dialektik (Schleiermacher, Dialektik, hg.v. Ludwig Jonas, Berlin 1839, 569 f.; in WM 1, 191, Anm. 29 wird irrig auf die Ausgabe der Dialektik von Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942 verwiesen). Die dort getroffene Unterscheidung des reinen vom geschäftlichen und künstlerischen Denken ist jedoch nicht ohne weiteres auf den Status einer Kunstlehre bzw. eines künstlerischen Verfahrens im wissenschaftlichen Zusammenhang anwendbar; vielmehr differenziert Schleiermacher zwischen künstlerischem Denken im engeren Sinne, das es mit ästhetischen Phänomenen zu tun hat, und dem künstlerischen Verfahren im weiteren Sinne, das Bestandteil auch des auf das Sein bezogenen Wissens der Dialektik ist. Gadamer verschleift techne und schöne Künste. Schleiermacher: Sittenlehre, 98. Vgl. Andreas Arndt: „Kommentar“, in: Schleiermacher: Schriften, Frankfurt/Main 1996, 1109 ff.
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szendentalphilosophie, Verf.] als ein allgemeines in einem einzelnen Denkact dargestellt werden.“ (KGA II/10, 1, 78) Gadamer erblickt hierin nur eine Universalisierung des ästhetischen Gesichtspunktes; es sei „für Schleiermacher charakteristisch, dass er dieses Moment der freien Produktion überall aufsucht.“ (WM 1, 192) ‚Freie‘ Produktion meint hier die durch objektive Regeln und Inhalte nicht gebundene, „geniale“ Produktion, der auf Seiten der Hermeneutik die Divination korrespondiere (ebd., 193). Solche Ästhetisierung laufe darauf hinaus, dass bei Schleiermacher „die Hermeneutik zu einer von allen Inhalten abgelösten Methode verselbständigt“ werde. (Ebd., 198) Schleiermachers Annahme einer unhintergehbaren Individualität der Darstellung des Allgemeinen – in Gadamers Worten: die „Voraussetzung, daß jede Individualität eine Voraussetzung des Allebens ist“ (ebd., 193) – wird mit einer „ästhetischen Metaphysik der Individualität“ (ebd.) gleichgesetzt, die es nicht mehr mit den objektiv-allgemeinen Inhalten des Darstellens und der Darstellung zu tun habe, sondern nur noch (dies jedenfalls suggeriert Gadamers Darstellung) mit der subjektiven Form und dem Grad des Wohlgefallens an ihr. Diese Zuspitzung der Interpretation, die Behauptung, es handle sich bei Schleiermacher nicht mehr um die individuelle Darstellung eines Allgemeinen, sondern um blanke Individualität jenseits aller Inhalte, bildet den Kern der Gadamerschen Kritik an der ‚romantischen Hermeneutik‘ überhaupt. Diese Interpretation wäre nur dann schlüssig, wenn sich die Hermeneutik verselbständigen und in dieser Verselbständigung als Grundlegung einer ‚ästhetischen Metaphysik der Individualität‘ ansehen ließe. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, denn Schleiermacher beschränkt die Hermeneutik ausdrücklich auf das sprachliche Verstehen in Abkoppelung von universellen Sinnverweisungszusammenhängen. Das bedeutet zunächst, dass die Hermeneutik im Schleiermacherschen Kosmos der philosophischen Disziplinen als eine technische Disziplin bestimmt ist, die an spekulative Disziplinen wie die Dialektik¹⁷ und die Ethik anschließt.¹⁸ Technisch ist hier im Sinne von techne zu verstehen, d. h. es geht darum, wie der Einzelne in der Darstellung des Allgemeinen „in besondere Gegensäze und Naturbedingungen gestellt“ ist und „wie diese zu behandeln sind.“¹⁹ Ausdrücklich haben es die technischen Disziplinen weder mit der spekulativen Erfassung des Allgemeinen selbst noch damit zu tun, „wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthüm-
Vgl. oben „Dialektik und Hermeneutik. Zur kritischen Vermittlung der Disziplinen bei Schleiermacher“. Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main 1995. Schleiermacher: Sittenlehre, 252.
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lichen Beschränktheit nach verhalten“;²⁰ letzteres ist vielmehr Aufgabe der kritischen Disziplinen im Unterschied zu den technischen. Für die Hermeneutik folgt hieraus, dass sie in der Tat die Gehalte der Darstellung nicht beurteilt; sie ist aber darum nicht gehaltlos, sondern setzt die spekulativen Gehalte als durch die spekulativen Disziplinen gegeben voraus; Aufgabe der Beurteilung der Gehalte der Rede ist ebenso nicht die Aufgabe der Hermeneutik, sondern der kritischen Disziplinen. Es versteht sich, dass Schleiermacher, der generell nur in relativen und nicht in absoluten Entgegensetzungen denkt, hierbei nicht eine strikte Trennung der Disziplinen und ihrer Verfahrensweisen im Auge hat, sondern ihre wechselseitige Durchdringung. Nun ist Schleiermacher aber auch innerhalb der Grenzen der Hermeneutik als einer technischen Disziplin mit objektiven Voraussetzungen konfrontiert, die jenseits der Individualität liegen und mit der behaupteten ‚freien‘, genialischen Produktion, die nur der subjektiven Willkür folgt, nicht zusammenstimmen können. Für Schleiermacher steht jede Rede in der Spannung, zugleich objektive Darstellung und Resultat der Aktion eines Einzelnen zu sein, und gerade diese Spannung begründet die Notwendigkeit der Hermeneutik als einer technischen Disziplin, die es ja, wie erinnert, mit der Behandlung der ‚besonderen‘ Gegensätze und Bedingungen zu tun hat, also im Blick auf das Verstehen damit, wie mit den individuellen Elementen einer objektiven, auf Allgemeinverständlichkeit zielenden Mitteilung umzugehen sei, ohne das Allgemeine der Darstellung zu verletzen. „Von Seiten der Sprache angesehen“, so heißt es in der Ethik, „entsteht aber die technische Disziplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Elemente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“²¹ Die Spannung beider Elemente reproduziert sich innerhalb der Hermeneutik in der Unterscheidung der grammatischen und der psychologischen Interpretation. Von Seiten der Ethik hat Schleiermacher übrigens die Grammatik als solche als eine kritische Disziplin angesehen und der Hermeneutik zur Seite gestellt;²² die grammatische Seite der Hermeneutik als einer technischen Disziplin ist zwar mit der Grammatik als solcher nicht gleichzusetzen, enthält aber Momente der in ihr
Ebd. Ebd., 356. Ebd.
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thematisierten spekulativ-allgemeinen Voraussetzungen; sie betrachtet „die Sprache weil sie das Denken aller Einzelnen bedingt“, den einzelnen Menschen aber nur „als einen Ort für die Sprache […] und seine Rede nur als das worin sich diese offenbart.“ (KGA II/4, 121) Die psychologische Interpretation hingegen betrachtet die Sprache „nur als das Mittel […], wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt“ (KGA II/4, 121). Indem aber, Schleiermacher zufolge, auf der einen Seite „die Sprache wird durch das Reden“, auf der anderen Seite aber die jeweilige Rede auch nur zu verstehen ist „aus der Totalität der Sprache“ (KGA II/4, 202), so ist das Verstehen nur in Bezug auf beide Elemente möglich als deren „Ineinandersein“, bei dem beide „einander völlig gleich“ stehen (KGA II/4, 121). Dies ist in einem strikten Sinne zu nehmen: die grammatische Interpretation selbst hat mit der Sprache als einer lebendigen, sich in der individuellen Rede verändernden zu tun und die psychologische mit der Sprache als Mittel, welches objektive Bedingungen seines Gebrauchs vorgibt. Die „absolute Lösung“ der relativen Entgegensetzung beider Momente des Verstehens wäre es daher für Schleiermacher, „wenn jede Seite für sich behandelt die andere völlig ersezt die aber eben so weit auch für sich behandelt werden muß.“ (KGA II/4, 121) Auf eine Formel gebracht: Sprache erscheint nur subjektiv in individualisierter Rede, Individualität aber auch nur objektiv in der Rede als allgemeiner Darstellung. Sofern die Rede beides vereinigt, ist sie der Gegenstand der Hermeneutik und die hermeneutische Aufgabe ist nur gelöst, wenn beide Seiten als gleichgewichtig behandelt werden. Die damit zusammenhängende objektive und allgemeine Bindung der Individualität innerhalb der Hermeneutik selbst hat Gadamer theoretisch nicht wirklich ernstgenommen. (3) Der relativ untergeordnete systematische Ort der Hermeneutik als technischer Disziplin im Kosmos der philosophischen Disziplinen bei Schleiermacher selbst steht im Widerspruch zu der philosophischen Aufwertung der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, die bei Gadamer einen Höhepunkt erreicht. Schleiermachers Philosophie kann daher auch nicht im Ganzen als eine hermeneutische bestimmt werden, wiewohl besonders Versuche gemacht worden sind, die wissenschaftstheoretisch grundlegende Disziplin der Dialektik in eine hermeneutische Perspektive zu rücken.²³ Auch Gadamer scheint der Ansicht zu sein, dass sich Schleiermachers Philosophie im Ganzen von der Hermeneutik her zureichend
Zuerst bei Rudolf Odebrecht; er betrachtete die Hermeneutik geradezu als den (gleichberechtigten) „Gegenpol zur Dialektik“; beide Disziplinen seien „Fundamentallehren von der Wirklichkeit des menschlichen Seins“ (Einleitung, in: Schleiermacher: Dialektik, Leipzig 1942, XXIII).
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bestimmen lasse, wenn er ihr eine ‚ästhetische Metaphysik der Individualität‘ unterstellt.²⁴ Tatsächlich lässt sich das Verhältnis von Dialektik und Hermeneutik schon deshalb nicht als ein gleichberechtigtes beschreiben, weil die Dialektik als spekulative Theorie des Wissens mit der Hermeneutik als einer sich zunächst an die Ethik anschließenden technischen Disziplin nicht auf eine Stufe zu stellen ist. Die Beziehung beider Disziplinen aufeinander ist jedoch dadurch höchst komplex, dass auch hier die Entgegensetzung nur relativ ist und beide auf vielfältige Weise miteinander vermittelt sind. Zunächst kommen beide formal darin überein, dass sie als ‚Kunstlehren‘ auftreten, denn auch für Dialektik gilt, dass das Wissen nie vollendet ist, die Theorie des Wissens also zugleich immer eine Theorie der Produktion des Wissens und d. h.: eine Kunstlehre des werdenden Wissens sein muss (vgl. KGA II/10, 1, 79 f.). Dies führt dazu, dass die Dialektik nicht in dem Sinne Prinzipien des Wissens enthält, dass die anderen Wissenschaften sich aus ihnen deduzieren ließen. Vielmehr hat die Dialektik in ihrem Vollzug als werdendes Wissen Voraussetzungen, auf die sie verwiesen ist, und zwar nicht nur in der empirischen, geschichtlichen Wirklichkeit, sondern auch in anderen Wissenschaften, zu denen sie daher in ein Wechselverhältnis tritt: die Dialektik weist ihnen ihren Ort im Kosmos der Wissenschaften zu, bedarf aber auch ihrer Verfahrensweisen und Resultate, um den Prozess der Wissensbildung zu vollziehen. Der Ort, wo das werdende Wissen als solches thematisch wird, ist der zweite, „technische“ Teil der Dialektik. Hier finden sich denn auch Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik. Thema ist hier der auch in der Hermeneutik in Bezug auf die Allgemeinheit der Sprache erörterte Sachverhalt, dass die in der Idee des Wissens vorausgesetzte Identität uns nur in einer relativen Entgegensetzung zugänglich wird, d. h. die in Allen identische Vernunft sich nur in relativ entgegengesetzten individuellen Ausprägungen realisiert. Diese sind nun wiederum im Blick auf die Einheit der Vernunft auszugleichen: „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.“ (KGA II/10, 1, 190) Dies könne darum geschehen, weil jeder Einzelne „mit seinem Denken in der Sprache aufgeht“; ebenso „gehen die Operationen aller Sprachen auf in denselben Combinationsgesezen und stehen unter selben Regeln.“ Zu diesem abgestuften Verfahren des Ausgleichs der Relativität bzw. Irrationalität in der Begriffsbildung bemerkt Schleiermacher abschließend: „Auf jeden Fall ist hier die Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik, die aber auch wieder von jener abhängig ist.“
Für Schleiermacher ist die Metaphysik – in Einheit mit der Logik – Gegenstand der Dialektik, vgl. oben „Mehr als nur Gefühl“.
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Auch in der Hermeneutik wird das Verhältnis zur Dialektik angesprochen, sofern das Reden die äußere Seite des Denkens ist, nämlich „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“, und hieraus erklärt sich auch das „Verhältniß zur Dialektik“ (KGA II/4, 120). Dieses Verhältnis wird ebenfalls als Abhängigkeit bestimmt: „Die Abhängigkeit darin daß alles Werden des Wissens von beiden [Hermeneutik und Rhetorik, Verf.] abhängig ist.“ (KGA II/4, 120) Eine Randbemerkung von 1828 präzisiert im Blick auf Hermeneutik, Kritik und Grammatik: „da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht so sind auch alle drei mit der Dialektik genau verbunden.“ (KGA II/4, 161) Der genaue Punkt dieser Verbindung wird in einer von Lücke mitgeteilten Vorlesungsnachschrift von 1832 erläutert: „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhältniß der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“²⁵ Nach dieser Seite ist die Hermeneutik zunächst ein notwendiges Mittel, die Gemeinschaftlichkeit des Denkens hervorzubringen und hat daher die gleiche Tendenz wie die Dialektik, die auf die Einheit des Wissens zielt. Eine Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik besteht hier insofern, als die Dialektik den sprachlich vermittelten Prozess der Realisierung der Einheit nicht umgehen kann. Die Hermeneutik ist daher ein internes Moment im dialektischen Prozess des werdenden Wissens, in dem die Einheit des Wissens realisiert wird. Sie ist aber zugleich auch eine Disziplin, deren Verfahrensweisen in der Dialektik selbst nicht thematisch werden; vielmehr setzt die Dialektik mit der Möglichkeit des Verstehens zugleich die Hermeneutik und ihre Techniken voraus. Dies gilt indessen auch für die spezifischen Verfahrensweisen anderer Disziplinen, welche die Dialektik voraussetzt, indem sie ihnen zugleich die Bedingungen der Einheit des Wissens vorgibt. Auch dieser Sachverhalt kommt in der Vorlesung 1832 zum Ausdruck, wenn die Hermeneutik auf geschichtliche und natürliche Differenzen zurückgeführt wird: „Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik führen wieder zurück auf die Dialektik, als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“²⁶ Sowenig aber die „Einheit des Wissens“ von der Ethik oder Physik selbst theoretisch begründet wird, obwohl auch ihnen die Tendenz zur Einigung, zur
Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg.v. M. Frank, Frankfurt/Main 1977, 77. Ebd.
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Aufhebung der Irrationalität von Natur und Vernunft eignet, so wenig lässt sie sich auch von der Hermeneutik begründen. Die „Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ geht nicht aus dem Prozess der Vermittlung des individuellen Denkens für die Gemeinschaftlichkeit gleichsam naturwüchsig hervor und geht in diesem Prozess auch nicht auf. Sie hat die Bedingungen und den Grund des Wissens zu bestimmen, wie dies im transzendentalen Teil der Dialektik geschieht. Dies übersteigt schon deshalb die Aufgabe der Hermeneutik, weil Schleiermacher die Hermeneutik auf die Aufgabe des Verstehens beschränkt und die doktrinale Kritik von ihr abspaltet. Die für das Wissen konstitutiven Bezüge auf das Sein und die Einheit der Vernunft treten in der Hermeneutik ganz zurück. Die hier skizzierte Stellung der Hermeneutik im spekulativen Zusammenhang des Wissens bei Schleiermacher macht deutlich, dass Gadamers Vorwurf der inhaltlichen Leere und des Ästhetizismus an die Adresse der ‚romantischen Hermeneutik‘ darauf beruht, dass die Hermeneutik aus ihrem systematischen Kontext herausgelöst wurde. In diesem Kontext selbst ist sie Moment eines arbeitsteiligen Zusammenhangs der Disziplinen, in dem sie Mittel des Verstehens auch für den Prozess des werdenden Wissens bereitstellt, der Theorie des Wissens bzw. den Realwissenschaften (Ethik und Physik) und den an die Ethik anschließenden kritischen Disziplinen jedoch die Beurteilung der Gehalte, also die doktrinale Kritik zu überlassen hat. Gadamer hat zweifellos Recht, wenn er sich für seine Sichtweise auf die Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Hermeneutik beruft. Indessen beruht diese Wirkungsgeschichte auf einer Voraussetzung, die Schleiermacher selbst nie angenommen hätte: der Voraussetzung, dass die Hermeneutik sich gegenüber den spekulativen Zusammenhängen des Wissens verselbständigen und zu einer Fundamentaldisziplin erheben lasse. Für sich gestellt und ohne begleitende spekulative und kritische Verfahren scheint sie es in der Tat nur noch mit der Individualität und der bloßen Form der Rede bzw. Schrift als einer durch die Individualität geprägten zu tun zu haben. Jedoch: für diese Wirkungsgeschichte, wiewohl sie zweifellos real ist, lässt sich Schleiermacher kaum verantwortlich machen, denn die Voraussetzung einer solchen isolierten Rezeption der Hermeneutik war, seit Dilthey, der antispekulative Affekt eines postmetaphysischen Denkens, das meinte, sich von den spekulativen Voraussetzungen der Schleiermacherschen Hermeneutik abstoßen zu müssen. Und im Blick auf Gadamers Psychologismus-Vorwurf an die Adresse Schleiermachers ist es dabei nicht ohne Interesse, dass gerade Dilthey meinte, die spekulative durch eine psychologische Grundlegung ersetzen zu müssen. Gadamer hat Schleiermacher innerhalb des engen Horizontes einer von antispekulativen Affekten motivierten Wirkungsgeschichte gelesen und dabei bis zur Unkenntlichkeit umgeschmolzen. Seine Sichtweise bedarf allererst einer historischen Kritik.
3 „Bedenke, dass alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist“. Ethik und Ästhetik bei Schleiermacher (1) Philosophische Klassiker sind gewöhnlich nicht ein bevorzugtes Thema von Boulevardzeitungen. Schon gar nicht erwartet man, auf einen Autor wie Schleiermacher in einer Reportage zu stoßen, die den reißerischen Titel trägt: „Die Lust auf das Verbotene.Von Frauen beschrieben: Sex einmal ganz anders“.¹ Es handelt sich bei diesem im Münchener Blatt „AZ“ Anfang 1993 erschienenen Text übrigens nicht um eine Männerphantasie; der Artikel aus der Zeitungsserie „Frauen erzählen von der Liebe“ wurde tatsächlich von einer Frau geschrieben. Aber was hat Schleiermacher mit dieser Perspektive zu tun? Wir wissen zwar, dass Schleiermacher selbst dem frühromantischen Androgyniekonzept anhing und seinen eigenen weiblichen Anteil hoch einschätzte; in seiner Berliner Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel seit 1797 galt er den Freunden im Scherz als der weibliche Part (vgl. KGAV/2, 220).² Das freilich dürfte kaum im Blickfeld der Autorin gewesen sein. Sie rekurriert vielmehr auf Schleiermacher – genauer gesagt: auf seine 1800 anonym publizierten Vertraute[n]Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (KGA I/3, 143 – 216) –, um ein, wie sie schreibt, „Menschenrecht“ auf sexuelle Phantasie zu reklamieren. Es ist bekannt, auf welche Weise Friedrich Schlegels 1799 erschienener Roman Lucinde von den meisten Zeitgenossen missverstanden und skandaliert worden war: als Schlüsselroman über das Verhältnis des Autors zu der geschiedenen Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn, Brendel (Dorothea) Veit. Die moralische Empörung dürfte sich dabei – wie es üblicherweise der Fall ist – umgekehrt proportional zur tatsächlichen Kenntnis des angeblich schamlosen Textes verhalten haben. Die Entrüstung ist Abwehr der eigenen Phantasien, die sich am Gerücht über vermeintlich Schamloses entzünden. In seinem „Versuch über die Schaamhaftigkeit“, der Bestandteil des dritten der Vertrauten Briefe ist, charakterisiert Schleiermacher solche Moralapostel sehr treffend so, „daß ihre eigne rohe Begierde überall auf der Lauer liegt, und hervorspringt, sobald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war.“ (KGA I/3, 176) Diese Stelle zitiert auch die Autorin des Zeitungsartikels und knüpft hieran
AZ, 16./17. Januar 1993, 3. Schleiermacher an seine Schwester Charlotte, 31.12.1797. Vgl. oben „Eine literarische Ehe. Schleiermachers Wohngemeinschaft mit Friedrich Schlegel“.
3 „Bedenke, dass alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist“
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ihre weiteren Betrachtungen. Ihr entgeht jedoch, dass Schleiermacher im Folgenden den Frauen eine besondere Rolle bei der Überwindung dieser Bigotterie zuschreibt: „Das erste, was nothwendig ist, […] ist die Hülfe der Frauen; […] auch weil von ihnen […] der Beweis ausgehen muß, daß es mit diesem verbotenen Verkehr der Vorstellungen und der Sinne so arg nicht ist, als die Meisten befürchten; sie sind es, die durch die That alles dasjenige heiligen müssen, was bis jetzt durch falschen Wahn geächtet war. Nur wenn sie zeigen, daß es sie nicht verlezt, kann das Schöne und der Witz frei gegeben werden.“ (KGA I/3, 177) Nächst den Frauen aber ist es die Kunst, welche für Schleiermacher Liebe und Schönheit vereinigen und damit die falsche Schamhaftigkeit beseitigen kann (vgl. KGA I/3, 178). Diese Vereinigung von Poesie und Liebe steht, ohne Zweifel, im Horizont des „ästhetischen Platonismus“,³ den für die Frühromantik vor allem Friedrich Schlegel formuliert und dem sich Schleiermacher in wesentlichen Punkten angeschlossen hatte.⁴ Das Wahre, Schöne und Gute konvergieren deshalb mit der Liebe, weil die Liebe, wie das Schöne, als seinen Zweck in sich selbst habend gedacht wird. Bei Schlegel liest sich das in der Lucinde so: „Die begeisterte Diotima hat ihrem Sokrates nur die Hälfte der Liebe offenbart. Die Liebe ist nicht nur das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Übergang vom Sterblichen zum Unsterblichen, sondern sie ist eine völlige Einheit beider. Es gibt eine reine Liebe, ein unteilbares und einfaches Gefühl ohne die leiseste Störung von unruhigem Streben. Jeder gibt dasselbe was er nimmt, einer wie der andre, alles ist gleich und ganz und in sich vollendet wie der ewige Kuß der göttlichen Kinder.“⁵ Die Liebe ist in Schlegels Konzeption gleichsam der Indifferenzpunkt, in dem Alles zum Hen kai pan verschmilzt, zugleich aber auch in die Fülle und Unterschiedenheit der Welt wiederum auseinander tritt: „die Liebe trennt die Wesen und bildet die Welt, und nur in ihrem Licht kann man diese finden und schauen. Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen.“⁶ Nicht ein unterschiedsloses Verschmelzen mit dem Ganzen, sondern die Individualisierung des Unendlichen vom einzelnen Subjekt aus – die Figur der „individuellen Allgemeineit“ – ist das, worum es bei Schlegel geht. Diese Individualisierung ist Werk
Vgl. Klaus Düsing: „Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel“, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin, hg.v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981, 101– 117. Vgl. oben „‚Das Unsterbliche mit dem Sterblichen verbinden‘. Friedrich Schleiermacher und Platons ‚Symposion‘“. KFSA 5, 60. Ebd., 61.
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der Bildung und insofern der Poesie: „In den Mysterien der Bildung schaut der Geist das Spiel und die Gesetze der Willkür und des Lebens. Das Werk des Pygmalion bewegt sich, und den überraschten Künstler ergreift ein freudiger Schauer im Bewußtsein eigner Unsterblichkeit.“⁷ Schleiermachers Satz in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde, dass alle Poesie als Werk der Liebe anzusehen sei (KGA I/3, 214), zielt auf denselben Sachverhalt, und auch der Schluss von Schleiermachers Rezension der Lucinde im Berlinische[n] Archiv der Zeit und ihres Geschmacks (1800) liest sich wie eine Paraphrase des Schlegelschen Gedankenganges, nur, dass jetzt noch die Religion hinzutritt: „Durch die Liebe eben wird das Werk [Lucinde,Verf.] nicht nur poetisch, sondern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überall auf dem Standpunkt gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche sieht; moralisch, indem sie von der Geliebten aus sich über die ganze Welt verbreitet, und für Alle, wie für sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schranken und Vorurtheilen fordert.“ (KGA I/3, 223) Tatsächlich steht die Phantasie und ihr Produkt, das Schöne, hier, in den Lucindebriefen, als ein drittes Vermögen zwischen Erkennen (theoretisches Verhalten) und Begehrungsvermögen (praktisches Verhalten) und ist damit, was in den Reden über die Religion (1799) die Religion als Anschauung und Gefühl des Universums war: das Dritte zu Erkennen und Handeln.⁸ Dem Konzept einer ästhetischen Religion, eines gottähnlichen Künstlers und Künstler-Gottes, steht Schleiermacher wohl nie so nahe wie in den Vertrauten Briefen. Allerdings, das muss hinzugefügt werden, bleibt dies doch nur ein Augenblick der symphilosophischen Konvergenz der Positionen: Schleiermacher wird, wie wir noch sehen werden, Kunst und Religion zwar benachbart lassen, sie aber doch klar trennen. Hierin liegt m. E. die eigentliche Spannung zwischen Schleiermacher und Schlegel, die dann auch durch Schlegels Fragmentsammlung Ideen (1800) offenkundig war, welche gegenüber Schleiermachers Reden ein poetisches Religionsverständnis pointierten.⁹ Hans Dierkes hat dagegen mit großem interpretatorischen Aufwand versucht, eine wesentliche Differenz zwischen Schlegel und Schleiermacher in der Behandlung der Leiblichkeit zu finden.¹⁰ Während Schlegel die Liebe, wie schon zitiert, als „völlige Einheit“ des Sterblichen (das Dierkes mit der Leiblichkeit gleichsetzt) und Unsterblichen ansehe, denke Schleiermacher die Liebe als vom
Ebd. Vgl. KGA I/3, 174; zu den Reden vgl. KGA I/2, 211. Vgl. KFSA 2, 256 – 272. Hans Dierkes: „Die problematische Poesie. Schleiermachers Beitrag zur Frühromantik“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 61– 98.
3 „Bedenke, dass alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist“
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Geist bestimmt und veredelt.¹¹ Ich halte diese Argumentation für wenig überzeugend, denn auch für Schlegel ist die Einheit des Sterblichen und Unendlichen oder Unsterblichen das Ergebnis eines Bildungsprozesses, wie z. B. aus folgender Passage der zur Lucinde gehörenden „Allegorie von der Frechheit“ hervorgeht: „Du mußt das unsterbliche Feuer nicht rein und roh mitteilen wollen […] Bilde, erfinde, verwandle und erhalte die Welt und ihre ewigen Gestalten im steten Wechsel neuer Trennungen und Vermählungen. Verhülle und binde den Geist im Buchstaben. Der echte Buchstabe ist allmächtig und der eigentliche Zauberstab. Er ist es, mit dem die unwiderstehliche Willkür der hohen Zauberin Fantasie das erhabene Chaos der vollen Natur berührt, und das unendliche Wort ans Licht ruft, welches ein Ebenbild und Spiegel des göttlichen Geistes ist“.¹² Dierkes versteht diese Stelle so, als sei der ‚echte Buchstabe‘ die „Sinnlichkeit qua Naturtrieb“,¹³ tatsächlich ist er aber doch wohl die poetische Gestaltung des Geistes, mit welcher die Phantasie erst die Natur berührt, um sie als Spiegel des göttlichen Geistes darzustellen. Beide, Schlegel wie Schleiermacher, verstehen Liebe wie Poesie in und aus einem weiten ethischen Horizont, der nicht moralgetränkt ist im Sinne der von Schleiermacher in den Vertrauten Briefen als „Engländerei“ bezeichneten und vorzugsweise den englischen Damen zugeschriebenen Prüderie wie der einer von ihm zitierten „Mistreß B.“, welche sich „ächtenglisch[]“ darüber erregte, wie man in Gegenwart von Mädchen nur von Strumpfbändern reden könne (KGA I/3, 158).¹⁴ Schlegels wie Schleiermachers ethischer Horizont ist vielmehr übereinstimmend der der Sittlichkeit als eines geschichtlichen Bildungsprozesses der Menschheit im unendlichen Nach- und Fortbilden der „Welt“ – so Schlegel¹⁵ – bzw. in der „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“ – so Schleiermacher.¹⁶ (2) Dieses weite Verständnis von Ethik, dem in der Epoche wohl Hegels Begriff der Sittlichkeit am nächsten kommt, bestimmt über die frühromantischen Stellungnahmen zur Lucinde hinaus das Verhältnis von Ethik und Ästhetik bei Schleiermacher. Die Kunst – im Sinne der Rede von den schönen Künsten – ist für Schleiermacher Bestandteil des ethischen Prozesses, also des Prozesses der Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft. Dieser Prozess ist für
Vgl. ebd., 71. KFSA 5, 20. Dierkes: „Die Problematische Poesie“, 71. Vgl. KGA I/3, 158. – Vgl. oben „Schleiermacher und die englische Aufklärung“. Vgl. Andreas Arndt: „Naturgesetze der menschlichen Bildung. Zum geschichtsphilosophischen Programm der Frühromantik“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), 97– 105. Schleiermacher: Sittenlehre, 87.
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Schleiermacher identisch mit dem geschichtlichen Prozess und die Ethik daher „Wissenschaft der Geschichte“ oder der „Intelligenz als Erscheinung“.¹⁷ Diese Wissenschaft hat es mit den, wie es ausdrücklich heißt, „Naturgesetzen“ des menschlichen Handelns zu tun.¹⁸ Für die Ästhetik folgt daraus zweierlei. Sie hat es erstens mit Produktionen in diesem Prozess der Naturbildung zu tun, und sie ist zweitens geschichtlich verfasst. Ihr genauer Ort ergibt sich, wenn man Schleiermachers Unterscheidung von Vernunfttätigkeiten näher ins Auge fasst. Die zwei grundlegenden Formen sind das Organisieren als Bilden der Natur zum Organ der Vernunft einerseits und das Erkennen und Darstellen bzw. Symbolisieren als Gebrauch des Organs – also der umgebildeten Natur – zum Handeln der Vernunft andererseits. Beide Tätigkeiten – die organisierende und die erkennende (auch: symbolisierende) – werden nun unter den Gesichtspunkten überwiegender Individualität bzw. überwiegender Allgemeinheit (Gemeinschaft) näher bestimmt, wodurch sich eine „Quadruplizität“ als Einteilungsschema ergibt, die für Schleiermachers Konstruktionen überhaupt grundlegend ist. Die organisierende, also die auf die Natur gerichtete Tätigkeit unter dem Vorherrschen der Gemeinschaft ergibt das gesellschaftliche Naturverhältnis (Arbeit, Arbeitsteilung und Tausch); mit vorherrschender Individualität ergibt sie das Privateigentum und die Privatsphäre. Die überwiegend gemeinschaftliche symbolisierende Tätigkeit bezeichnet die Sphäre des Wissens, die überwiegend individuelle symbolisierende Tätigkeit die Sphäre des Gefühls, in der Kunst und Religion zu verorten sind. Diesen vier Sphären entsprechen vier institutionelle „Räume“: Staat (der das gesellschaftliche Naturverhältnis organisiert), freie Geselligkeit, Akademie und Kirche. Der Ort des Ästhetischen innerhalb der Ethik ist somit klar bestimmt. Die Kunst gehört zum individuellen Symbolisieren qua Gefühl und steht damit systematisch in größtmöglicher Nähe zur Religion. Hierin wiederholt sich grundsätzlich die bereits in den Lucindebriefen vorhandene Konstellation. Noch in den Aufzeichnungen zur Hallenser Ethik-Vorlesung 1805/06 spricht Schleiermacher von der Identität von Kunst und Religion: „Die eigentliche Sphäre des Gefühls im sittlichen Sein ist nun die Religion. […] Also muß auch Religion und Kunst zusammenfallen, und die sittliche Ansicht der Kunst besteht eben in ihrer Identität mit der Religion. Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös.“¹⁹ Nun ist Gefühl nicht einfach nur Gefühl in dem Sinne, wie wir es meinen, wenn wir sagen, wir fühlen etwas so oder so oder fühlen uns so oder so gestimmt.
Ebd., 80. Ebd. Ebd., 99 f.
3 „Bedenke, dass alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist“
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Schleiermacher unterscheidet durchgängig zwischen dem Gefühl als einer bloßen Affektion, die sich auf momentane Sensationen bezieht, und dem Gefühl als Organ eines unmittelbaren Innewerdens des Absoluten oder, wie es 1799 in den Reden über die Religion heißt, des Universums. Dagegen schrieb Schleiermacher in den Monologen (1800) im Blick auf bloße Affekte über denjenigen, der sich „dem Gefühl ergeben, das er mit dem Tiere teilt: wie kann er wissen, ob er nicht in plumpe Thierheit ist hinabgestürzt?“ (KGA I/3, 16) Das religiöse Gefühl und, wenn man die Stellung der Kunst in den Vertrauten Briefen mit hinzuzieht, das ästhetische Gefühl erheben sich über die momentane Affektion, indem sie das Denken und Handeln kontinuierlich begleiten und so etwas wie einen Bezug auf das Ganze herstellen. Nach den Reden besteht Religion darin, dass wir „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen“, wobei wir „in die Natur und Substanz des Ganzen“ selbst nicht eindringen können (KGA I/2, 214). Gerade hierin verbindet sich Religion mit der Kunst, denn wenn die Natur und Substanz des Ganzen größer ist als das, was wir uns denkend vorstellen können, dann ist es in Kantischer Terminologie ein Erhabenes, das wir nur symbolisieren können. Und damit haben wir auch den Ort sowohl der Religion als auch der Kunst in der Ethik bezeichnet: im individuellen Symbolisieren. In der Vorlesung 1805/06 spricht Schleiermacher in diesem Zusammenhang von einer „durchgängige[n] Sittlichkeit des Gefühls“, die dann gegeben sei, wenn eine Einheit des Bewusstseins bestehe und diese „für das Product des höhern Vermögens erkannt werde und also alles, was in ihr vorkommt, auf die Identität der Vernunft und der Organisation bezogen“ sei.²⁰ Werde das subjektive Erkennen nur auf Lust und Unlust bezogen – also auf momentane Affektionen – so sei es „das Böse, die sinnliche Denkungsart, Egoismus und in der Reflexion […] Eudämonismus“; das Gute sei dagegen dasjenige subjektive Erkennen, welches „auf die Identität der Vernunft und der Organisation“ bezogen werde, wodurch das Gefühl „auf die Potenz der Sittlichkeit erhoben“ werde, „und dies Verfahren ist nichts anders als das, was wir Religion nennen.“²¹ Die Kultivierung oder Potenzierung des Gefühls erfolgt nicht etwa, wie es traditionell gedacht wurde, auf der Basis einer rationalen Kontrolle der Affekte und Leidenschaften, sondern dadurch, dass ein Gefühl als höheres Vermögen in der Einheit des subjektiven Bewusstseins kontinuierlich anwesend ist und die Erkenntnis dieses Gefühls, so Schleiermacher, den affektiven Haushalt insgesamt verändert, denn „indem das Gefühl auf die Potenz der Sittlichkeit erhoben wird, bekommt auch die Succession der ein-
Ebd., 176 f. Ebd., 177.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
zelnen Gefühle ein anderes Gesez, statt des bloß organischen des Reizes und Gegenreizes das höhere der freien individuellen Combination.“²² Mit dieser freien individuellen Kombination haben wir das Reich der Phantasie und der Kunst erreicht. Die Kunst ist demnach ein Produkt der sittlichen Kultivierung bzw. Potenzierung des Gefühls. Das Problem besteht allerdings darin, wie diese Kultivierung erfolgen kann, wenn sie selbst auf einem Gefühl beruht – genauer gesagt: auf einem als religiös zu apostrophierenden Gefühl, das sich von bloßen Affekten grundlegend unterscheidet –, wenn doch zugleich auch für Schleiermacher gilt: „Mein Gefühl ist absolut das meinige und kann so keines Andern sein.“²³ Hier setzt Schleiermacher voraus, dass das Gefühl „in sich zur Klarheit“ kommen könne, ohne dass er zu sagen vermag, wie dies geschehen könne, denn hier besteht eine Aporie, die Friedrich von Hardenberg (Novalis) so auf den Punkt brachte: „Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen.“²⁴ Die Jemeinigkeit des Gefühls verhindert dessen Übertragbarkeit als Gefühl. Nicht das Gefühl selbst kann also dargestellt werden, um es im Anderen ebenso hervorzurufen; dies sei, so Schleiermacher, unmöglich: „Sondern es [das Gefühl, Verf.] kann nur als Object der Beziehung hingestellt werden, damit dadurch in dem Andern sein Gefühl erregt werde.“²⁵ Die Darstellung ist demnach die Darstellung von etwas, was die objektive Grundlage des Gefühls bildet, also des Ganzen (der Totalität oder des Universums) als des Inhalts des (wie auch immer) zur Klarheit über sich selbst gekommenen Gefühls, von dem das „höhere“ Gefühl seinen Ausgang nimmt. Hier verhält sich, in Schleiermachers Worten, „die Darstellung (Kunstwerk) zum Ursprünglichen (Gefühl) wie reales Object zum Gebrauch“.²⁶ Das Kunstwerk erweckt das Gefühl des Rezipienten, indem es das Objekt darstellt, an dem das Gefühl des Produzenten erweckt worden war. Nicht auf die Identität der Gefühle Beider kommt es an – die Gefühle selbst werden im Wesentlichen unübertragbar bleiben –, sondern auf die Identität des Inhalts der Gefühle, wie immer auch das Gefühl sich über diesen Inhalt klar werden mag. Nun ist das Kunstwerk aber selbstverständlich keineswegs objektiv in dem Sinne, dass es von der Subjektivität des Darstellenden abstrahiert. Das Gefühl, dessen Inhalt der Künstler zur Darstellung bringen will, ist ja vielmehr die subjektive Reaktion auf etwas, das außerhalb des Gefühls gar nicht zu „haben“ ist, also nur in der subjektiven Brechung und nur mit dieser auch darstellbar ist: „Also
Ebd., 180. Ebd., auch das Folgende. Novalis: Schriften, Bd. 2, hg.v. R. Samuel in Zusammenarbeit mit H.-J. Mähl und G. Schulz, Darmstadt 1981, 114. Schleiermacher: Sittenlehre, 181. Ebd.
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ist in diesem Sinne nicht das rein Objective Gegenstand der Kunst, sondern das Abspiegeln der Individualität im Objectiven.“²⁷ Gegenstand der Kunst ist damit, kurz gesagt, die Reaktion des Gefühls auf ein Objektives, was als solches nicht fassbar ist, sondern – als ein Erhabenes – die Fassungs- und Darstellungskraft des Individuums übersteigt. Hinsichtlich der Darstellungsmöglichkeiten unterscheidet Schleiermacher die sogenannten „beweglichen Künste“ einerseits, also Mimik und Musik, welche die Reaktion des Gefühls „als Action“ darstellen, von „Bilder[n]“ andererseits, welche als „symbolische Gestalten […] das Individuelle eines Gefühls objectivirt in sich“ enthielten und dadurch imstande seien, „als Bilder des Universums das Gefühl des Betrachters zu afficiren“.²⁸ Die Objektivierung des Gefühls ist nach Schleiermacher gleichbedeutend mit dessen Ethisierung, die darin besteht, „daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe: Alle Menschen sind Künstler“.²⁹ Hiermit wird nicht nur Joseph Beuys Programm „Jeder Mensch ist ein Künstler“ antizipiert, das seinem Konzept der sozialen Plastik zugrundeliegt (womit also Kunst in eine vergleichbare ethische Dimension gerückt wird wie bei Schleiermacher),³⁰ es wird vor allem auch das frühromantische Programm der „Universalpoesie“ aufgenommen, wie es Friedrich Schlegel in dem AthenaeumFragment 116 formuliert hatte, welches die Poesie als Poiesis entgrenzt³¹ und auch die scheinbar kunstlosen Darstellungen zur Poesie zählt.³² Bisher habe ich die Hallenser Ethik-Vorlesung von 1805/06 betrachtet; in den Aufzeichnungen zum Berliner Vortrag der Ethik 1812/13 wird Kunst dann vor allem mit dem Charakter der Eigentümlichkeit in Verbindung gebracht: „In allen Kulturgebieten ist soviel Schönheit und Kunst, als die Eigenthümlichkeit sich darin manifestirt“.³³ Kunst bringt Eigentümlichkeit zur Anschauung und ist Heraustreten des Bildens der Phantasie oder Ausdruck des Gefühls. Ihren Vernunftgehalt aber hat sie jetzt nicht mehr nur mit der Religion gemeinsam, sondern – und darin besteht eine nur auf den ersten Blick geringfügige, in Wahrheit aber weitreichende Verschiebung – die Kunst hat ihren Inhalt durch die und aus der Religion: „Wenn […] das Bilden der Fantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Ebd., 182. Ebd., 183. Ebd., 184. Joseph Beuys: „Jeder Mensch ein Künstler“. Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus. 23. März 1978, Internationales Kulturzentrum Achberg, Wangen 1991 (Vortrag auf 2 Tonträgern). Vgl. Andreas Arndt: „Poesie und Poiesis. Anmerkungen zu Hölderlin, Schlegel und Hegel“, in: Sprache – Dichtung – Philosophie. Heidegger und der Deutsche Idealismus, hg. v. B. Frischmann, Freiburg und München 2010, 61– 75. Vgl. KFSA 2, 182 f. Schleiermacher: Sittenlehre, 288.
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Vernunftgehalt in dem eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen.“³⁴ Kunst ist Sprache der Religion, aber sie muss damit nicht selbst religiös sprechen, denn ihre Produktionen können in einem religiösen oder aber profanen Stil erfolgen.³⁵ Jenseits solcher Stilfragen jedoch hat Schleiermacher damit den Schritt vollzogen, Ästhetik und Religion auf dem gemeinsamen Boden des individuellen Erkennens bzw. Symbolisierens klar voneinander zu trennen. Die Ethisierung des Gefühls und damit die Dignität der Kunst hängt offensichtlich davon ab, wie nahe die Kunst zum Gehalt der Religion steht,³⁶ wobei freilich Religion nicht eine bestimmte Konfession bezeichnet, sondern als Religion gilt „auch alles reale Gefühl und Synthesis, die auf dem physischen Gebiete liegt als Geist und auf dem ethischen als Herz, insofern beides über die Persönlichkeit heraus auf Einheit und Totalität bezogen wird.“³⁷ (3) Wie stellt sich das Verhältnis von Ethik und Ästhetik nun von Seiten der Ästhetik dar? Schleiermacher hat die Ästhetik seit 1819 dreimal (1819, 1825, 1832/33) an der Berliner Universität als eine eigene Disziplin vorgetragen; sie ist bei ihm eine auf der Ethik basierte kritische Disziplin, die zwischen Empirie und Spekulation vermittelt, indem sie den „Cyclus der Künste“ deduziert und „das Wesen der verschiedenen Kunstformen“ darstellt.³⁸ Die Ästhetik steht aber nicht nur in einer engen Beziehung zur Ethik, sondern auch zur Psychologie, welche das ästhetische Gefühl dem religiösen koordiniert und in der Theorie der Selbstmanifestation das Thema künstlerischer Produktivität behandelt, welches für Schleiermachers Ästhetik von grundlegender Bedeutung ist. In der Ästhetik selbst spielt jedoch der Begriff des Gefühls nicht mehr die zentrale Rolle wie in den Hallenser Vorlesungen zur Ethik; man müsse, so heißt es in dem Manuskript zur Vorlesung 1819, „über den dem gemeinen Sprachgebrauch nach zu beschränkten Ausdruck Gefühl hinwegsehen und mehr auf die Charaktere selbst achten“;³⁹ gemeint sind die Charaktere des eigentümlichen Erkennens als Grundlage der Kunstproduktion. Im Mittelpunkt steht damit terminologisch, wie schon in der Ethik-Vorlesung 1812/13, Ebd., 314 f. Ebd., 368. Vgl. ebd., 315: „Wie das eigenthümliche Erkennen nur werdende Religion ist, so kann auch die Darstellung nur die innerlich gegebene Gradation des Vernunftgehaltes bezeichnen.“ Ebd. Ebd., 366. – Vgl. Friedrich Schleiermacher: Ästhetik, hg.v. R. Odebrecht, Berlin und Leipzig 1931; eine kritische Ausgabe ist noch immer Desiderat; zu den Mängeln aller bisherigen Ausgaben vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: „Rezension zu: F.D.E. Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, hg.v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984“, in: New Athenaeum/ Neues Athenaeum 2, 1991, 190 – 196. F. Schleiermacher: Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, Hamburg 1984, 16.
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die Darstellung des Eigentümlichen, die hier als Selbstmanifestation vorgestellt wird. Der Gehalt der Kunst wird nun als „Urbild“ bestimmt, das als „innerer Typus“ gefasst wird, welcher „der Ausführung vorangeht und zwischen die Erregung und sie tritt.“⁴⁰ Erregung (Gefühl) und Darstellung werden in der Kunst also gerade vermittelt, indem das Gefühl durch das Urbild einen objektiven Inhalt bekommt. „Sobald die Besinnung positiv dazwischen tritt, sind […] Erregung und Darstellung als Momente getrennt. Man muß daher sagen, daß in dem Gebiet der Kunst nicht nur jene Identität nicht nothwendig, sondern daß sie in demselben wesentlich aufgehoben ist, und die Darstellung unmittelbar nur auf das Urbild bezogen wird.“⁴¹ In dieser vermittelten Beziehung nun kommt es zu einer Asymmetrie, welche die Gleichsetzung von Kunstwerk und Rede in der Ethik-Vorlesung 1812/13 differenziert. Die Rede im Verhältnis zum Gedanken sei, so schreibt Schleiermacher jetzt, ein „natürliches Aeußerlichwerden, um den Gedanken für sich oder andere […] zu fixieren.“ Rede und Gedanke sind also wesentlich identisch, nicht aber Kunstwerk und Urbild, denn das Werk sei „nicht das Urbild selbst, sondern dieses immer unbestimmter als jenes“.⁴² Übertragen werde auch nicht das Gefühl, also die Erregung durch das Urbild, „sondern das Urbild selbst“. Eine weitere Differenzierung, welche die Kunst von dem religiösen Gebiet noch weitergehend unterscheidet, als dies in der Vorlesung 1812/3 der Fall war, besteht darin, dass Schleiermacher den Charakter des Wissens neu fasst. Hier steht seine Theorie der Dialektik im Hintergrund, in der das Denken, welches ein Wissen werden will, sich auf zwei Ideen bezieht: die Idee Gottes als Ausgangspunkt (terminus a quo) des Wissens und die Idee der Welt als Ziel (terminus ad quem) des Wissensprozesses. Erstere, die Idee Gottes, ist relationslose Identität, letztere, die Idee der Welt, ist Totalität als in sich unterschiedene Einheit.⁴³ Diese Ideen werden realisiert, indem sich das Denken sowohl auf das Allgemeine als Idee Gottes als auch auf das Einzelne richtet, um es in der Idee der Welt zur Einheit zu bringen. Dies gilt auch für das eigentümliche Wissen, zu dem die Kunst gehört: „Alle Kunst hat auf der einen Seite eine religiöse Tendenz, auf der anderen verliert sie sich in das freie Spiel mit dem Einzelnen. In beiden zusammen manifestiert
Ebd., 11. Ebd. Ebd., 20; auch das Folgende. Vgl. dazu Heinz Kimmerle: „Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophischtheologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg.v. K.-V. Selge, Berlin und New York 1985, 39 – 59, hier 49 ff.
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sich die eigenthümliche Welt“.⁴⁴ Die Kunst als Selbstmanifestation des Individuums ist demnach mehr als nur die Objektivierung eines religiösen Gehalts, selbst wenn das Religiöse in einem sehr weiten Sinne genommen wird. Sie ist zugleich ein freies Spiel mit Einzelnem, welches freilich in dem Maße gebunden bleibt, wie dieses Spiel den Bezug auf einen Einheitsgrund – die Idee Gottes – wiederum voraussetzt. Das Urbildliche selbst, um das es der Kunst geht, entsteht aber offenbar aus der Beziehung beider Ideen, der Ideen Gottes und der Welt, die im Prozess des eigentümlichen Wissens gleichermaßen anwesend sind. Die „Permanenz des religiösen Gefühls“ in Abstraktion von der Idee der Welt ist für Schleiermacher jetzt die „Stimmung“,⁴⁵ die als ausdrücklich religiöses Kunstwerk oder als Grundierung profaner Kunst erscheinen kann. Der Widerstreit gegen „die religiöse Tendenz“ erscheine „am meisten in dem Erotischen, welches man beschuldigt, die Begierde zu reizen und nun daran Veranlassung nimmt, auch die religiöse Kunst selbst zu beschuldigen, daß sie doch am Sinnlichen festhalte“.⁴⁶ Es ist hier, wohlgemerkt, von erotischen Darstellungen in der religiösen Kunst die Rede, und dies bedeutet eben auch, dass auch das religiöse Kunstwerk mehr als nur religiös ist. Umgekehrt gilt dann für Schleiermacher aber auch, dass die „erotische Kunst“ als solche ihre Berechtigung hat; auch sie ist jedoch nicht unmittelbare Einheit von Erregung und Darstellung, sondern Darstellung eines Urbilds, welches durch eine quasi-religiöse „Stimmung“ mitgeprägt ist, nämlich „die Freude an dem Erhaltungs- und Vereinigungstriebe, und wie er sich die Menschen zu Organen bildete.“⁴⁷ Wirft man von hier aus noch einmal einen Blick zurück auf die Position in den Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde etwa zwei Dezennien zuvor, so wird deutlich: auch der Schleiermacher der Ästhetikvorlesungen von 1819 müsste in der Konsequenz keine Abstriche machen. Der „Versuch über die Schamhaftigkeit“ wäre als Traktat über erotische Kunst noch immer in den Begründungsrahmen des ethisch-ästhetischen Diskurses integrierbar. Und es würde auch weiterhin gelten, dass „alle Poesie schlechthin als Werk der Liebe anzusehen ist“, denn das versittlichende religiöse Element in der künstlerischen Darstellung beruht auf einer Liebe zum Wissen, die sich als amor dei intellectualis – im Sinne eines genitivus obiectivus – beschreiben ließe, sofern die Gottesidee für Schleiermacher unverzichtbare Voraussetzung des Wissensprozesses ist. Genau hierin aber liegt die crux der Schleiermacherschen Ästhetik und ihres Begründungsrahmens. An einer Stelle im Manuskript der Vorlesungen zur Ästhetik
Schleiermacher: Ästhetik, Hamburg 1984, 21. Ebd., 22. Ebd., 23. Ebd., 24.
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1819 redet Schleiermacher von der „modernen Kunstwelt“ und sagt ihr (und mit ihr wohl der Moderne insgesamt) nach, in ihr dominiere „die Beziehung auf die Idee der Gottheit“, und dieses Verhältnis sei „ein schlechthin unmittelbares“ und könne „von jedem einzelnen Punkt ausgehn“.⁴⁸ Diese unmittelbare Beziehung ist Errungenschaft des Christentums, und letztlich setzt Schleiermacher auch das Christentum mit der Moderne gleich. Von den Brüchen, Verwerfungen und Abgründen der Moderne spricht Schleiermacher nicht, und in dieser Hinsicht ist der ethische Rahmen seines ästhetischen Projekts aus heutiger Sicht wohl das, was er nach Schleiermacher gerade nicht sein soll, die Position eines bloßen Sollens gegen die Wirklichkeit.
Ebd., 49.
4 Schleiermacher und Caspar David Friedrich Schleiermacher und Caspar David Friedrich – dieses Thema ist Gegenstand mehr noch von Spekulationen als von gesichertem Wissen. Dass Friedrichs Werk Anregungen durch Schleiermachers Reden über die Religion erhalten habe ist ebenso vermutet worden wie ein Einfluss von Friedrichs Werken auf Schleiermachers Vorlesungen über die Ästhetik. ¹ Wahrscheinlich gemacht werden Affinitäten beider durch auffällige Überschneidungen im Freundes- und Bekanntenkreis, wobei vor allem der Buchhändler und Verleger Georg Andreas Reimer, aber auch Ludwig Tieck und Ernst Moritz Arndt, seit 1817 Schleiermachers Schwager, genannt werden. Das gesicherte Wissen über die tatsächlichen Beziehungen des Theologen und Philosophen zu seinem künstlerisch herausragenden Zeitgenossen ist demgegenüber, wie es denn oft zu gehen pflegt, recht dürftig. Es beschränkt sich im Wesentlichen auf den Nachweis zweier Begegnungen, wobei wir zwar gerne wüssten, worüber dabei gesprochen wurde, jedoch lassen uns hier bereits die Quellen im Stich. Miteinander korrespondiert haben beide Männer nicht, obwohl dies, nach Schleiermachers Gepflogenheiten, nicht einmal eine persönliche Bekanntschaft vorausgesetzt hätte. Auch finden sich in Schleiermachers Briefen und Aufzeichnungen – auch in den noch nicht veröffentlichten, soweit wir sie zur Zeit Vgl. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens, hg.v. K.-L. Hoch, Dresden 1985. – Rudolf Odebrecht konstatiert einen „Einklang“ der Auffassungen Schleiermachers zur Malerei „mit den Ideen eines Runge und K.D. Friedrich“ (Friedrich Schleiermacher: Ästhetik, hg.v. R. Odebrecht, Berlin und Leipzig 1931, 550). – Auch Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, bes. 161 ff., vermutet vor allem in Schleiermachers Reden eine „gedankliche Anleitung“ für Friedrich, „Kunst und Religion zu verbinden, ja Kunst religiös zu betreiben.“ (161) Da Busch auch keine weiteren Quellen hierfür benennen kann, als die im Folgenden diskutierten, verweise ich hierzu auf die nachfolgenden Ausführungen. Darüber hinaus legt Busch nahe, dass Friedrichs „Ineinanderblendung von genau studiertem Naturfragment und abstrakter geometrischer Matrix“ (166) auf Schleiermachers „Verschränkung von Religion, Philosophie und Mathematik“ zurückgehen könne (165): „Es dürfte kein Zufall sein, daß Friedrich in einer Fülle von Bildern gerade geometrische Figur und arithmetische Reihe miteinander verschränkt“ (166). Gewährsfrau hierfür ist vor allem Inken Mädler: Kirche und bildende Kunst der Moderne, Tübingen 1997. Mädler legt hierin eine forcierte Interpretation der Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) im Blick auf den mathematischen Funktionsbegriff vor und zieht Parallelen zu Friedrich. Ob diese Interpretation und ihre Adaption durch Busch so zutrifft, mag dahingestellt bleiben (unrichtig ist auf jeden Fall Buschs ebd. 165 aufgestellte Behauptung, Schleiermacher habe in den Grundlinien versucht, „zu bestimmen, inwieweit die Zeichen der Sprache in rein mathematische Verhältnisse zu überführen sind“, denn die Idee einer characteristica universalis lag Schleiermacher immer fern). Dass Friedrich ausgerechnet von diesem selbst von den meisten philosophisch gebildeten Zeitgenossen als völlig unverständlich angesehenen Buch sollte beeinflusst worden sein, ist jedoch kaum wahrscheinlich.
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übersehen können – keine Urteile über Friedrichs Person und sein Werk, auch keine weiteren Hinweise auf ihren tatsächlichen Umgang. Dies gilt selbstverständlich nur unter dem Vorbehalt des gegenwärtigen Kenntnisstandes, wobei jedoch umso weniger Raum für inhaltlich überraschende Funde bleibt, je besser die Biographien Schleiermachers und Friedrichs ausgeleuchtet sind. Da ein negativer Befund zwar nie spektakulär ist, aber doch die Wissenschaft weiterbringt, weil er unter die Kategorie des gesicherten Wissens gehört, sei auch noch angemerkt, dass Caspar David Friedrich und sein Werk weder in Schleiermachers eigenhändigen Aufzeichnungen zur Ästhetik noch in den uns bekannten Hörernachschriften der Vorlesungen zur Ästhetik – einschließlich der bisher ungedruckten – ausdrücklich Erwähnung finden und sich auch keine eindeutigen Anspielungen ausmachen lassen. Helmut Börsch Supan warnte 1988 bereits völlig zu Recht davor, Schleiermachers Beziehung zu Friedrich zu überschätzen. Dies gelte jedenfalls so lange, wie nicht neues Material entdeckt worden sei.² Mehr als zehn Jahre später liegt neu entdecktes Material nicht vor, und so ist es vielleicht an der Zeit, Bilanz zu ziehen und zu fragen: was eigentlich wissen wir wirklich über die Beziehungen Schleiermachers zu Friedrich? und weiter: welche Möglichkeiten einer (vielleicht sogar wechselseitigen) Beeinflussung sind auf der Grundlage unseres Wissens nicht nur dieser Beziehungen, sondern auch der Werke Schleiermachers und Friedrichs überhaupt wahrscheinlich zu machen? Zur Beantwortung der ersten Frage werde ich ein kurzes Resümee des Forschungsstandes geben, das sich vor allem auf die biographischen Forschungen von Karl-Ludwig Hoch zu Friedrich und Schleiermacher und auf die Darstellung der Geschichte der Reimerschen Gemäldesammlung von Doris Fouquet-Plümacher und Liselotte Kaweletz³ stützen wird. Im zweiten Teil meiner Ausführungen möchte ich dann – im Blick auf behauptete Affinitäten und mögliche Einflüsse zwischen Schleiermacher und Friedrich – der Frage nachgehen, ob überhaupt – und wenn ja: welche – Beziehungen zwischen Schleiermachers in diesem Zusammenhang immer wieder bemühten Reden über die Religion einerseits und den Werken Friedrichs andererseits denkbar wären. Und schließlich möchte ich im dritten Teil meiner Ausführungen auch danach fragen, wie sich Schleiermachers Ästhetik zur Kunst Friedrichs verhält. Auf diesem Wege, so hoffe ich, könnte wenigstens deutlich werden, wo die Probleme und Aufgaben der weiteren Forschung, auch der kunsthistorischen, liegen.
Helmut Börsch-Supan: „Caspar David Friedrich und Berlin. ‚Der Anfang einer Vorgeschichte‘“, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1988, 51– 80, hier 69. Doris Fouquet-Plümacher und Liselotte Kaweletz: „Die Reimersche Gemäldesammlung. Geschichte einer großen Berliner Bildersammlung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Neue Folge 18 (1996), 77– 110.
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(1) Karl-Ludwig Hoch, der bereits Anfang der 80er Jahre im Rahmen seiner Forschungen zu Friedrich und Schleiermacher Kontakt mit der damaligen Schleiermacher-Forschungsstelle an der Kirchlichen Hochschule in Berlin (West) aufgenommen hatte, kommt unbestritten das Verdienst zu, neue Quellen zu ihrem Verhältnis erschlossen und die bis dahin nur vermutete persönliche Bekanntschaft⁴ durch den Nachweis zweier Begegnungen zur Gewissheit gebracht zu haben. Einschlägig ist hier vor allem das von Hoch herausgegebene Buch Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens (1985). Betrachten wir zunächst die Quellen, die darin zitiert werden. Hierbei handelt es sich (1) um einen Eintrag Schleiermachers in seinem Notizkalender („Erinnerungsbüchlein“) für 1810 während seines Aufenthaltes in Dresden vom 5. bis zum 21. September dieses Jahres.⁵ Unter dem 12. September ist für den Nachmittag vermerkt: „Gallerie Besuch bei Friedrich“. Hinzu kommt ein Brief Christian Gottfried Körners an seinen Sohn Theodor vom 11.9.1810, in dem es heißt: „Friedrich sollte mit Schleiermacher bei uns essen, nahm die Einladung halb an, ließ es aber nachher wieder absagen“.⁶ (2) Ein weiterer Besuch im Jahre 1818 lässt sich aus einem Brief Schleiermachers an seine Frau vom 3. und 4. September dieses Jahres erschließen;⁷ Schleiermacher machte in Dresden Station auf einer Reise, die ihn – zusammen mit seinem Freund Georg Andreas Reimer – über Prag nach Salzburg führen sollte.⁸ Am Tage der Ankunft, dem 3. September, heißt es: „Da sind wir mein liebes Herz, sind schon auf der Gallerie gewesen, haben Friedrichs besucht, und wiewol in einigem Regen auf der Brücke gestanden […]“. Weiterhin kündigt Schleiermacher an, er wolle am kommenden Vormittag „noch auf die Gallerie und die hiesige Ausstellung, die eben los ist und Nachmittag entweder noch einmal auf die Gallerie oder zu den Antiken“. In der Fortsetzung des Briefes vom Freitag, den 4. September berichtet Schleiermacher dann, dass er vormittags „die Ausstellung und Gallerie“ besucht, nachmittags aber eine „Wasserfahrt“ unternommen habe; die Reisegesellschaft wolle „nun noch den Sonnenuntergang auf der Brühlschen Terrasse genießen und den Abend mit Friedrichs zubringen.“ Aus einem Brief Georg Andreas Reimers an seine Frau vom 3.9.1818, den Hoch erstmals nach einer
Vgl. Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, 50 (Anm. 191). Vgl. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, Dresden 1985, 42. Vgl. Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich, 168; Hoch (Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, 46) zitiert diesen Brief, der nicht eben für seine These spricht, dass Schleiermacher aufgrund vermuteter Seelenverwandtschaft die Nähe Friedrichs suchte. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, 76 – 79. Vgl. Wolfgang Virmond: „Schleiermachers Reisen nach Salzburg“, in: Sommerreisen nach Salzburg im 19. Jahrhundert, hg.v. W. Morath, Salzburg 1998, 93 – 97.
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Akte der Untersuchungen gegen Reimer im Zuge der Demagogenverfolgungen zugänglich macht, ergibt sich, dass Caspar David Friedrich die Berliner Gäste am 4. September bei dem Besuch der Ausstellung und der Dresdner Gemäldegalerie begleiten wollte. Bei der Ausstellung handelt es sich um die erst am 3.9. eröffnete Dresdner akademische Kunstausstellung, auf der Friedrich zwei Gemälde präsentierte: ein Seestück (Börsch-Supan Nr. 244, 1931 in München verbrannt) und Das Kreuz im Walde (vielleicht eine Vorstufe zu Börsch-Supan Nr. 450, jetzt Staatsgalerie Stuttgart⁹). Die Veranlassungen dieser Besuche sind bekannt, wodurch allerdings nicht der Eindruck einer dauerhaften und tiefgehenden Beziehung oder gar Freundschaft zwischen Schleiermacher und Friedrich bestärkt werden kann. 1810 reiste Schleiermacher in Begleitung seiner Frau Henriette, verwitwete von Willich, geborene Mühlenfels, die er im Mai 1809 geheiratet hatte und die damals mit dem ersten gemeinsamen Kind des Ehepaares, der im Dezember 1810 geborenen Tochter Elisabeth, schwanger war. Der Besuch bei Friedrich war jedoch nicht privater, sondern dienstlicher Natur. Schleiermacher war seit dem 27. Juni 1810 Mitglied der Sektion für den öffentlichen Unterricht im Preußischen Innenministerium und in dieser Funktion auch mit zuständig für die Berliner AkademieAusstellung 1810, die zum Ankauf der dort ausgestellten Werke Friedrichs Mönch am Meer (Börsch-Supan 168) und Abtei im Eichenwald (Börsch-Supan 169) durch das Preußische Königshaus führte.Vermutlich besuchte Schleiermacher Friedrich, um mit ihm über die bevorstehende Ausstellung zu sprechen.¹⁰ Die zweite Reise, 1818, unternahm Schleiermacher mit seinem Verleger, Freund und Vermieter Georg Andreas Reimer, in dessen Haus, dem hochherrschaftlichen Sackenschen Palais (dem späteren Reichspräsidentenpalais) in der Wilhelmstraße 73, er seit 1817 wohnte. Dritter im Bunde bei dieser Reise war der Leutnant Leopold von Plehwe. Alle drei standen – mit welchem Recht auch immer – bei der Preußischen Obrigkeit im Geruch aufrührerischer Gesinnungen und besonders Reimer, aber auch Schleiermacher, gerieten ja auch bald in den Sog der Demagogenverfolgungen.¹¹ Obwohl auch Friedrich den Gesinnungen der Reise-
Da dieses Gemälde zwischen 1820 und 1835 datiert wird, kann das auf der Ausstellung gezeigte Gemälde– sofern diese Datierung zutrifft – nicht mit der jetzt bekanten Fassung identisch sein. Vgl. Helmut Börsch-Supan: „Caspar David Friedrich und Berlin. ‚Der Anfang einer Vorgeschichte‘“, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1988, 51– 80, hier 52 f. Vgl. Doris Fouquet-Plümacher: „Jede neue Idee kann einen Weltbrand anzünden. Georg Andreas Reimer und die preußische Zensur während der Restauration“, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 29 (1987), 3 – 114.
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gesellschaft nahegestanden haben dürfte, handelte es sich nicht um eine politisch motivierte Reise oder gar um ein konspiratives Unternehmen. Schleiermacher wollte, wie Wolfgang Virmond plausibel gezeigt hat, in die Alpenregion, um dort, zur Kräftigung und zum Erhalt seiner Gesundheit, ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen.¹² Der Besuch bei Friedrich – der Gang zur Gemäldegalerie war ja damals wie heute ohnehin Pflicht jedes gebildeten Dresden-Besuchers – dürfte in erster Linie auf Reimer zurückgehen, der seit 1814 eine beträchtliche Gemäldesammlung aufgebaut hatte, die bei seinem Tod (1842) ca. zweitausend Gemälde, darunter 31 von Friedrich, umfasste.¹³ Bei aller ästhetischen Wertschätzung der bildenden Künste und trotz seines offenkundigen Hanges zur gesellschaftlichen Repräsentation diente ihm die Gemäldesammlung jedoch in erster Linie als Kapitalanlage: Reimer investierte in Gemälde und handelte mit ihnen, beraten von Kunstkennern. Reimer – geb. 1776, zwei Jahre jünger als der Maler, – und Friedrich kannten sich zwar schon aus Greifswald, jedoch scheinen ihre Beziehungen, nach dem begründeten Urteil Doris Fouquet-Plümachers und Liselotte Kaweletz‘, trotz einer besonderen Wertschätzung für die Kunst Friedrichs in der Reimerschen Familie, eher geschäftlicher als freundschaftlicher Natur gewesen zu sein. Es ist zu vermuten, dass Reimer sich 1818 im Interesse seiner Gemäldesammlung zu Friedrich begab; im März 1821 kam es ja auch, ausweislich des Reimerschen Ausgabenbuches, zu einem Ankauf von drei großen, fünf kleinen und drei mittleren Bildern Friedrichs, für die 511 Taler und 18 Groschen „an Friedrich“ gezahlt wurden.¹⁴ Ob darunter auch jene drei Bilder Friedrichs waren, die Reimer im August desselben Jahres für 431 Taler 6 Groschen verkaufte, ist ungewiss. Deutlich wird jedenfalls, dass Reimer Friedrichs Bilder auch als Anlageobjekte sammelte. So ist auch kaum anzunehmen, dass ein besonderer Enthusiasmus des Freundes für Friedrich Schleiermacher angesteckt haben könnte; wir wissen noch nicht einmal, ob er als Freund, Haus- und vielfach auch Tischgenosse des Verlegers überhaupt Zugang zu dessen Sammlung hatte, denn diese war weder geordnet noch aufgehängt. Ausweislich der Auktionskataloge waren 15 der Friedrich-Gemälde bei der Versteigerung nach Reimers Tod nicht gerahmt. Festzuhalten ist, dass Schleiermacher und Friedrich sich zweimal persönlich begegnet sind; beide Treffen hatten äußere Veranlassungen: 1810 handelte es sich um einen Besuch im dienstlichen Auftrag, 1818 war Schleiermacher der Begleiter
Wolfgang Virmond: „Schleiermachers Reisen nach Salzburg“, in: Sommerreisen nach Salzburg, Salzburg 1998, 93 – 97. Doris Fouquet-Plümacher und Liselotte Kaweletz: „Die Reimersche Gemäldesammlung. Geschichte einer großen Berliner Bildersammlung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Neue Folge 18 (1996), 89. Ebd., 83.
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Reimers, der den Zwischenaufenthalt in Dresden nutzen wollte, um sich über mögliche Objekte für seine Gemäldesammlung zu informieren. Beide Begegnungen hatten, soweit wir wissen, keine weitergehenden Kontakte zur Folge und fanden auch sonst in Schleiermachers Korrespondenz keinen Niederschlag. Das ist, was das Faktische angeht, bereits Alles, was zurzeit an gesichertem Wissen über direkte Beziehungen Schleiermachers und Friedrichs zu sagen ist. Hieraus zu folgern, die Begegnungen beider Männer mussten „gegenseitig eindrucksvoll gewesen sein“, wie dies Hoch getan hat,¹⁵ bedarf einiger Divination, die durch das, was wir wirklich wissen, nicht gedeckt ist. Hochs weitreichende Thesen beruhen darauf, dass er um diese Fakten – deren Feststellung sein Verdienst bleibt – Indizien häuft, die weitergehende Beziehungen zwischen Schleiermacher und Friedrich sowie inhaltliche Berührungen ihrer Werke plausibel machen sollen. Bei näherer Betrachtung, so scheint mir, beweisen diese Indizien jedoch eher das Gegenteil von dem, was Hoch uns mit ihrer Hilfe nahelegen möchte. Hoch stützt sich vor allem auf zwei Indizien. (1) Es sei „nicht auszuschließen, daß schon vor 1810 die Wege der beiden Männer sich gekreuzt haben“.¹⁶ Das mag wohl wahr sein, indessen: wenn hierfür Belege fehlen, dann könnte das auch – und dies wäre (bis zum Erweis des Gegenteils) die einfachere Lesart – bedeuten, dass sie sich eben nicht begegnet sind, obwohl sie dazu Gelegenheit hatten. Jede verpasste Gelegenheit würde aber dafür sprechen, dass beide eben nicht sehr stark den Drang spürten, die Begegnung zu suchen, was ja an sich nicht unüblich gewesen und zudem durch Überschneidungen im Bekanntenkreis auch noch erleichtert worden wäre. (2) Solche Überschneidungen bilden das zweite Glied in Hochs Indizienkette. Er verweist vor allem auf Schleiermachers Berührungen mit dem damaligen Schwedisch-Pommern, die sowohl durch Reimer als auch durch Schleiermachers Freund, den Stralsunder Feldprediger Ehrenfried von Willich, vermittelt waren. Letzterer starb 1807; seine Witwe wurde dann 1809 in Sagard auf Rügen mit Schleiermacher getraut. Zu dem ausgedehnten Kreis von Freunden und Bekannten, die aus dieser Region stammten oder dort lebten und auch mit Friedrich bekannt waren, gehörten neben Reimer u. a. Ernst Moritz Arndt, der Greifswalder Jurist Carl Schildener (1777– 1843), der Greifswalder Philosoph Friedrich Muhrbeck (1775 – 1827), der Rügener Pfarrer, Dichter und Historiker Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten (1758 – 1818), der Rügener Pfarrer Theodor Schwarz (1777– 1850) sowie der Stralsunder Prediger und Dichter Adolf Friedrich Furchau (1787– 1868). Was kann diese Überschneidung der Bekanntenkreise beweisen? Hoch legt nahe, dass Friedrich und
Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, Dresden 1985, 46 Ebd., 43.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
Schleiermacher sich gewissermaßen im gleichen Milieu bewegten. Hier ist jedoch Skepsis angebracht, denn es handelt sich bei diesen Kreisen ja keineswegs um eine homogene Gruppierung. Die Beziehungen Schleiermachers zu Reimer und Arndt etwa waren enger und ganz anderer Natur als diejenigen Friedrichs zu diesen beiden Männern. Zu den anderen der eben angeführten Personen unterhielt Schleiermacher zwar zeitweilig auch briefliche Kontakte, jedoch gehörten sie keineswegs zu seinen bevorzugten Briefpartnern.¹⁷ Eine nähere Beziehung zwischen Schleiermacher und Friedrich lässt sich aus der partiellen Überschneidung des Freundes- und Bekanntenkreises gar nicht folgern. Umgekehrt: die Tatsache, dass in Schleiermachers überlieferter Korrespondenz aus diesem Kreise Friedrich nicht ein einziges Mal erwähnt wird, spricht eher gegen eine solche Beziehung. Und weiter: hätten Schleiermacher und Friedrich ein solches starkes Interesse aneinander gehabt, wie Hoch es immer wieder unterstellt, dann hätte der gemeinsame Bekanntenkreis es ihnen sehr erleichtert, miteinander in Korrespondenz zu treten. Aber dies erfolgte ja nicht einmal unter dem Eindruck der beiden persönlichen Begegnungen. Fazit: Bis zum Erweis des Gegenteils muss die Forschung davon ausgehen, dass Schleiermacher und Friedrich sich, ohne weitere Folgen für ihr persönliches Verhältnis, zweimal aufgrund äußerer Veranlassungen begegnet sind. Alles andere ist haltlose Spekulation. (2) „Wichtiger“ als der „Erweis biographischer Nähe“ ist für Hoch allerdings „die Frage nach direkter, geistiger Beeinflussung Friedrichs durch Schleiermacherfreunde“;¹⁸ diese wiederum wird in den Horizont einer „geistige[n] Nähe“¹⁹ beider Männer gerückt, um die es Hoch bei seinen Beweisgängen eigentlich zu tun ist.Wie steht es nun damit? Als „Übermittler Schleiermacherscher Religiosität“ an Friedrich macht Hoch Ludwig Tieck sowie den Theologen und Pädagogen Johannes Karl Hartwig Schulze (1786 – 1869) namhaft.²⁰ Letzterer hatte bei Schleiermacher in Halle studiert und war 1807 mit Friedrich in engere Beziehung getreten;²¹ seit 1818 war er in Berlin als Ministerialrat tätig, wo er vor allem mit Hegel befreundet war. Auch dem Briefwechsel Schulzes mit Schleiermacher ist – nach dem bisherigen Kenntnisstand – ein Hinweis auf Friedrich nicht zu entnehmen. Anzumerken ist ferner, dass Schleiermacher in Halle bereits von der Erstfassung der Reden über die Religion – deren Wirkung Hoch vor allem im Auge hat – ab-
Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, Dresden 1985, 43. Ebd., 44. Ebd. Ebd., 35.
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gerückt war und im Herbst 1806 eine wesentlich umgearbeitete zweite Auflage hatte erscheinen lassen, welche den frühromantischen Impuls des Textes von 1799 weitgehend verdeckte. Auch in Bezug auf Ludwig Tieck, der im Jenaer Romantikerkreis mit den Reden über die Religion konfrontiert worden war und der 1801/02 in Dresden weilte und dort auch mit Friedrich bekannt wurde, gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass er „Schleiermachersche Religiosität“ an Friedrich vermittelt habe.²² Überhaupt wäre zu fragen, ob es denn einer solchen Vermittlung bedurft hätte, denn schließlich handelt es sich ja nicht um eine ungeschriebene, esoterische Lehre, sondern um eine Religionsauffassung, die in den Schriften Schleiermachers jedermann frei zugänglich war. Wichtiger als die Frage nach möglichen geistigen Beeinflussungen Friedrichs durch Schleiermacherfreunde, die Hoch aufwirft, scheint mir daher die Frage zu sein, wieweit sich eine Rezeption Schleiermachers durch Friedrich erweisen lässt. Hierfür führt Hoch keinerlei Beleg an. Somit ist eine Kenntnisnahme der Schleiermacherschen Gedankenwelt durch Friedrich zwar möglich, aber eine solche bloße Möglichkeit ist bekanntermaßen nicht sonderlich aussagekräftig. Mehr als eine diffuse Kenntnisnahme der Reden durch Hörensagen dürfen wir derzeit nicht begründet vermuten.Was bleibt, ist die Feststellung, dass beide – Schleiermacher wie Friedrich – auf ihre Weise in der protestantischen Frömmigkeit ihrer Zeit verwurzelt waren, wobei das Maß der Übereinstimmungen und Differenzen mangels eindeutiger Zeugnisse nur schwer zu ermitteln sein dürfte. Für Hochs Behauptung, „Friedrichs Frömmigkeit in Wesen und Werk entspricht tatsächlich weithin den religiösen Gedanken des ‚Redners‘, also des frühen Schleiermachers“,²³ gibt es keine gesicherte Grundlage. Hochs Indizienkette gipfelt in der These, Friedrichs Werk Mönch am Meer sei gleichsam als Illustration der zweiten der Reden über die Religion zu verstehen, nämlich der Bestimmung der Religion als Anschauung des Universums.²⁴ Er mutmaßt, Schleiermacher könne Einfluss auf die Auswahl dieses Gemäldes für die Berliner Ausstellung genommen und sogar seine Überarbeitung veranlasst haben.²⁵ Während die letzteren Behauptungen reine Spekulation bleiben, kann Hoch sich für eine Berührung der Religiosität Friedrichs mit derjenigen Schleiermachers
Schleiermachers nicht sehr umfangreiche Korrespondenz mit Tieck setzt erst 1820 ein. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, Dresden 1985, 44. Die ebd. zitierte Passage aus den Reden („Religion ist andächtiges Anschauen und Fühlen des Universums […] des Unendlichen im endlichen, des Ewigen im Zeitlichen“) findet sich übrigens nicht in der Erstauflage, der Hoch ja eine besondere Wirkung auf Friedrich zuschreiben will. Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente, Dresden 1985, 46.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
auf andere Interpreten wie Klaus Lankheit²⁶ und Jens Christian Jensen²⁷ berufen. Lankheit weist jedoch in einer späteren, von Hoch nicht angeführten Arbeit selbst darauf hin, dass Friedrichs Übereinstimmung mit der Religiosität der Frühromantik nicht so zu deuten sei, als habe er „alle die Schriften der Philosophen und Dichter studiert oder gar illustriert“.²⁸ Den Mönch am Meer bringt er dann auch mit einem Friedrich-Schlegel-Zitat, nicht mit den Reden über die Religion in Verbindung.²⁹ Auch Jensen sieht keine direkte Verbindung zwischen Friedrichs Bildern und den religiösen Auffassungen der Epoche: „Friedrich schafft seine religiöse Landschaft, indem er sich auf sein ihm eigentümliches Gefühl beruft. Er malt nicht protestantische Theologie, sondern seine subjektive Auslegung der christlichen Botschaft, das Bild, das er in sich trägt.“³⁰ Das Bindeglied zu Schleiermacher (wobei auch Jensen eine „Vertrautheit“ Friedrichs mit Schleiermachers Theologie vermutet) sei in erster Linie der „religiöse Subjektivismus“. Und weiterhin komme Friedrich mit Schleiermacher darin überein, dass die „Welt“ oder „Natur“ nicht Inkarnation, sondern Gleichnis eines Gottes „jenseits der Natur“ sei. Die von Hoch zur Stützung seiner noch weitergehenden Thesen zitierten Deutungen berufen sich bei näherer Betrachtung nicht auf eine direkte Beeinflussung Friedrichs durch Schleiermacher, sondern auf Affinitäten im diffusen Medium romantischen Zeitgeistes, die sicherlich auch festgestellt werden können. Zu bezweifeln ist jedoch, dass Friedrich für seinen religiösen Subjektivismus,wenn man ihn denn so nennen will, eines Anstoßes durch Schleiermacher bedurfte. Eindeutig falsch und unhaltbar scheint mir jedoch die These zu sein, Werke Friedrichs wie der Mönch am Meer ließen sich gleichsam als Illustration der Schleiermacherschen Religionsauffassung deuten. Dagegen spricht nicht nur, dass Friedrich unzweifelhaft nicht protestantische Theologie gemalt hat, sondern es gibt gewichtige inhaltliche Gründe in den Werken sowohl Friedrichs als auch Schleiermachers, die gegen eine solche Engführung sprechen. Die Irritationen, die Friedrichs Mönch am Meer bei den zeitgenössischen Betrachtern auslöste, haben Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist in ihrer berühmten Besprechung in den Berliner Abendblättern 1810 auf den Punkt gebracht. Freudlosigkeit, Einsamkeit, Tod und Apokalypse sind die Stichworte, mit denen sie den Eindruck des Bildes charakterisieren. Kurz: sie
Klaus Lankheit: „Caspar David Friedrich und der Neuprotestantismus“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24 (1950), 134. Jens Christian Jensen: Caspar David Friedrich. Leben und Werk, Köln 1974, 99 f. Klaus Lankheit: „Caspar David Friedrich“, in: Romantik in Deutschland, hg.v. R. Brinkmann, Stuttgart 1978, 683 – 707, hier 688. Ebd., 693. Jensen: Caspar David Friedrich, Köln 1974, 99; auch zum Folgenden.
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beziehen Friedrichs Werk auf jene abgründige Seite des romantischen Weltverständnisses, welches man auch als dessen Nachtseite bezeichnet hat. Der „Kapuziner“ auf dem Bild, wie Arnim und Brentano ihn nennen, sei „die Sache selbst, er ist das Bild und indem er in diese Gegend wie in einen traurigen Spiegel seiner Abgeschlossenheit hineinzuträumen scheint, scheint das schifflose, einschließende Meer, das ihn wie ein Gelübde beschränkt, und das öde Sandufer, das freudenlos wie sein Leben ist, ihn wieder wie eine einsame, von sich selbst weissagende Uferpflanze symbolisch hervorzutreiben.“ Und hören wir Kleist: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte“.³¹ Nun mag es andere, plausiblere Deutungen geben, welche die Irritationen der damaligen Zeitgenossen korrigieren können. Hier muss ich das Urteil den Kunsthistorikern überlassen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass es legitime Deutungen des Mönch am Meer geben könnte, welche die Nachtgedanken in einen fröhlichen Fortschrittsoptimismus zu verkehren vermöchten. Das genau aber wäre erfordert, wenn das Bild tatsächlich in eine enge Verbindung mit der Anschauung des Universums in Schleiermachers Reden über die Religion gebracht werden sollte. Für Schleiermacher ist Gott nicht, wie Jensen behauptet, jenseits der Welt; er ist zwar nicht mit ihr identisch, aber auch nicht ohne die Welt, wie die Welt nicht ohne Gott ist. Gott und Welt, so lautet die Formel in Schleiermachers Dialektik, seien „Correlata“. Das hat zur Folge, dass zwar das Bewusstsein Gottes immer nur zugleich mit dem Bewusstsein der Welt gegeben ist, gleichwohl aber ist dieses Bewusstsein ein unmittelbares. Und umgekehrt kann die Welt nie als von Gott getrennt oder verworfen erscheinen. Nachtgedanken, Weltflucht, Gottverlassenheit und Apokalypse gehören nicht in Schleiermachers philosophische und theologische Gedankenwelt, er ist vielmehr – und zwar ungebrochen – ein aufklärerischer Fortschrittstheoretiker. Als Kontrast zu Kleists Worten sei aus der zweiten der Reden über die Religion zitiert: „so seht Ihr wie der hohe Weltgeist über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend widersetzt; Ihr seht wie die hehre Nemesis seinen Schritten folgend unermüdet die Erde durchzieht, wie sie Züchtigung und Strafen den Übermüthigen austheilt, welche den Göttern entgegenstreben und wie sie mit eiserner Hand auch den wackersten und treflichsten abmäht, der sich, vielleicht mit löblicher und bewunderungswerther Standhaftigkeit, dem sanften Hauch des großen Geistes nicht beugen wollte. Wollt Ihr
Zit. bei Lankheit: „Caspar David Friedrich“, in: Romantik in Deutschland, Stuttgart 1978, 693 und Jensen: Caspar David Friedrich, Köln 1974, 106.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen, so zeigt Euch die Religion wie die lebendigen Götter nichts haßen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und lezte Feind der Menschheit. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll todte Maße sein, die nur durch den todten Stoß bewegt wird, und nur durch bewußtlose Friktion widersteht: alles soll eigenes zusammengeseztes,vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein. Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Paßive, alle diese traurigen Symptome der Asphyxie der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden. Dahin deutet das Geschäft des Augenblicks und der Jahrhunderte, das ist das große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe.“ (KGA I/2, 234) (3) In Schleiermachers Aufzeichnungen zu seiner Hallenser Ethik-Vorlesung von 1805/06 findet sich ein Diktum, das auch von Joseph Beuys stammen könnte: „Alle Menschen sind Künstler“.³² Unter den schönen Künsten hat Schleiermacher ein besonders intensives Verhältnis zur Musik gepflegt: er besuchte regelmäßig die Berliner Singakademie und wohnte Konzerten und Opernaufführungen bei; hierzu finden sich auch zahlreiche Hinweise in seinem Briefwechsel.³³ Auch der Poesie, Erzählkunst und dramatischen Kunst war Schleiermacher zugetan, wenngleich sein Versuch, sich im Freundeskreis der Frühromantiker unter Anleitung August Wilhelm Schlegels zum Poeten zu bilden, misslang: die Resultate waren bisweilen einer Friederike Kempner würdig: „Endlich so wäre die Zeit die Arbeitschwere gewichen / Harrend des morgenden Rufs schlichen die Bücher sich fort“.³⁴ Immerhin war Schleiermacher ein eifriger Leser,³⁵ der sich auch brieflich vielfach über seine Lektüren äußerte. Schleiermachers Interesse an der bildenden Kunst hingegen hat einen vergleichbaren Niederschlag nicht gefunden und war daher vielleicht auch weniger intensiv; wir wissen hierüber jedenfalls kaum etwas. Unter diesen Umständen fällt es auch schwer, Schleiermachers sehr allgemein gehaltene Ausführungen zur Malerei in seinen Vorlesungen zur Ästhetik hinsichtlich ihrer Anschauungsgehalte näher zu bestimmen. Rudolf Odebrecht, der
Schleiermacher: Sittenlehre, 184. Vgl. Gunter Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981. Herman Patsch: Alle Menschen sind Künstler. Friedrich Schleiermachers poetische Versuche, Berlin und New York 1986, 187. Vgl. Wolfgang Virmond: „Schleiermachers Lektüre nach Auskunft seiner Tagebücher“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verbindung mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 71– 99.
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diese Vorlesungen 1931 neu ediert hatte,³⁶ sieht gleichwohl eine besonders enge Beziehung zu Runge und Friedrich: „In der Hochschätzung der Landschaftsmalerei“ wisse sich Schleiermacher „mit der Romantik einig. Wenn er von dem ‚Widerschein einer inneren Stimmung‘ spricht, ‚der auch eben diese Stimmung wieder zurückruft‘ […] und den auf Beleuchtung und Färbung gestellten Teil der Malerei musikalisch nennt, so steht dies im Einklang mit den Ideen eines Runge und K.D. Friedrich.“³⁷ Allerdings weist Odebrecht selbst darauf hin, dass Schleiermachers Formulierungen eine gewisse Nähe zu Reflexionen in Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbald verraten, so dass hierfür auch eine literarische Quelle in Betracht kommt. Wie dem auch sei: Malerei hat es für Schleiermacher nicht mit bestimmten Sujets, sondern mit dem Licht zu tun: „Das Licht ist […] so wesentlich, daß es zweifelhaft ist, ob wir sagen sollen, der Maler läßt das Licht in der Gestalt spielen, um leztere zu verschönern oder er will an den Gestalten das erhabene Spiel des Lichts zeigen.“³⁸ Die Darstellung des Lichtes sei „der Widerschein einer inneren Stimmung, der auch eben diese Stimmung wieder zurückruft“, wobei – im Anschluss an A.W. Schlegel – zwischen einer plastischen und musikalischen Darstellungsweise zu unterscheiden sei; erstere beziehe sich auf die reine Darstellung der Oberfläche, die Zeichnung und die „Lokalbeleuchtung“, letztere getrennt hiervon rein auf Beleuchtung und Färbung im Ganzen.³⁹ Dem Plastischen entspricht bei Schleiermacher die „Historienmalerei“, dem Musikalischen die Landschaftsmalerei; beides aber sei für sich genommen einseitig und müsse vereinigt werden, „so daß das Landschaftliche wenigstens als eine musikalische Begleitung für das Plastische erscheint. Dies wird die vollkommenste Gattung sein, weil die Gegensätze harmonisch vereint sind: der Mensch neben die ruhende Natur gestellt.“⁴⁰ Aber auch hier kommt es nicht so sehr auf das Thema des Bildes – Porträt oder Landschaft – sondern auf die Vollkommenheit und Ausgewogenheit der Erscheinungs- und Darstellungsweisen des Lichtes an. Denn: „Der Maler soll nicht Dichter sein. Solange man sich mit der Deutung eines Kunstwerkes beschäftigt, ist ein eigentlich malerischer Genuss nicht möglich.“⁴¹ Diesem kurzen Ausflug in Schleiermachers Ästhetik lässt sich immerhin entnehmen, dass Schleiermacher im Unterschied zu Goethe nicht darüber irritiert und entsetzt gewesen wäre, in Friedrichs Bildern eine Vernachlässigung des Sujets
Friedrich Schleiermacher: Ästhetik, Berlin und Leipzig 1931. Ebd., 350. Ebd., 241. Ebd., 242. Ebd., 243. Ebd., 247.
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Teil VI: Hermeneutik und Ästhetik
zugunsten von Licht und Farbe zu finden; Goethe, so berichtet Sulpiz Boisserée, habe sich darüber ereifert, dass „Mahler Friedrich seine Bilder […] eben so gut auf den Kopf gesehen werden“ könnten.⁴² Von solchen Vorkommnissen berichtet Carl Gustav Carus in seinen Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten: während der Weimarer Hofrat Böttiger eine Gebirgslandschaft als Seestück pries, stellte ein anderer Besucher des Ateliers „auch wohl einmal eins der von Friedrich allerdings etwas barock genommenen Seebilder, in denen aber doch stets irgendein der Ostseenatur charakteristischer Lichteffekt dem Künstler tiefempfunden vorgeschwebt hatte, verkehrt auf die Staffelei und hielt den dunklen Wolkenhimmel für die Wellen und den Himmel für das Meer, und sonst dergleichen.“⁴³ Dass Schleiermacher in seiner Ästhetik von Friedrich beeinflusst worden sei, lässt sich ebenso wenig beweisen wie ein Einfluss der Schleiermacherschen Religionsauffassung auf das Werk Friedrichs. Wohl aber gehören beide einem geistigen Zusammenhang an, innerhalb dessen es auch ohne die Annahme direkter, wechselseitiger Beeinflussungen sinnvoll ist, Nähe und Distanz festzustellen. Hinsichtlich der Religiosität scheint mir die bisherige Forschung zu sehr die Übereinstimmung betont zu haben, wobei vor allem das in Schleiermachers Religiosität verwobene Fortschrittsdenken der Aufklärung übersehen wurde. Hinsichtlich der Ästhetik wäre Schleiermachers Auffassung daraufhin zu überprüfen, ob sie es erlaubt, die Kunstpraxis seiner Zeit und insbesondre Friedrichs angemessen zu beschreiben. Vielleicht könnte sich Schleiermacher ja auch speziell in seiner Theorie der Malerei als derjenige erweisen, als der er im Allgemeinen schon gilt: als der „eigentliche Ästhetiker der Romantik.“⁴⁴
Zit. bei Lankheit: „Caspar David Friedrich“, in: Romantik in Deutschland, Stuttgart 1978, 702. Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Bd. 1, Leipzig 1865, 210. Rudolf Odebrecht: Schleiermachers System der Ästhetik. Grundlegung und problemgeschichtliche Sendung, Berlin 1932, 200.
Teil VII: Anthropologie und Psychologie
1 Schleiermachers Anthropologie (1) Wenn im Zusammenhang mit der philosophischen Anthropologie in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts der Name Friedrich Schleiermachers genannt wird, so drängt sich zunächst die Wirkung seiner Philosophie und Theologie auf, wie sie vor allem bei Ludwig Feuerbach und Wilhelm Dilthey hervortritt. Beide, der ehemalige Hörer Schleiermachers, der dessen Religionsbegriff für seine Religionskritik funktionalisierte, und der Biograph Schleiermachers, für den die Auseinandersetzung mit dessen Werk zur Lebensaufgabe wurde, benutzen Schleiermachersche Theoriestücke zur Grundlegung ihrer philosophischen Anthropologien. Feuerbach, indem er aus Schleiermachers Bestimmung der Religion als Gefühl ableitet, ihr Wesen sei etwas Subjektives, der Mensch selbst in einer entfremdeten Gestalt, die in das Gattungswesen zurückgenommen werden könne;¹ Dilthey, indem er sich bei der Bestimmung des Verhältnisses von „gemeinsamer Menschennatur“ und „Ordnung der Individuation“, ² das die Grundlage seiner Typologie des Geschichtlichen bildet, von Schleiermachers Ethik ein Formular vorgeben lässt und dessen Hermeneutik zum Leitfaden des historischen Verstehensprozesses macht. Beide, Feuerbach wie Dilthey, sehen zwar theoretische Anschlussmöglichkeiten an Schleiermacher, können aber dessen eigene Systematik nicht mehr affirmieren. Während Dilthey die platonisierende Identitätsphilosophie als nur mehr von historischem Interesse beiseiteließ und ihre realphilosophischen Gehalte auf psychologisch-anthropologischer Grundlage rekonstruierte,³ erfolgte die Funktionalisierung Schleiermachers durch Feuerbach geradezu in antispekulativer Absicht: indem er gegen Hegel ausgespielt wurde, sollte die idealistische Grundlage beider vernichtet werden. In der anthropologischen Wendung der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, so scheint es, kehrte sich die Wirkung der Schleiermacherschen Philosophie und Theologie gegen ihren Urheber. Dieser Befund setzt den Interpreten Schleiermachers in einige Verlegenheit, wenn er gefordert ist, dessen Beitrag zur Grundlegung einer Anthropologie zu explizieren. Sofern unter Anthropologie mehr verstanden werden soll, als die Rede vom Menschen, wie sie schon immer Sache der Philosophie war, nämlich der
Vgl. Ludwig Feuerbach: „Zur Beurteilung der Schrift ‚Das Wesen des Christentums‘“, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Berlin 1970, 30. Wilhelm Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung“, in: Schriften, Bd. 8, Leipzig und Berlin 1931, 85. Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, 1, Göttingen 1966, 465 f.
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Teil VII: Anthropologie und Psychologie
systematisch grundlegende Rekurs auf ein Wissen von der Natur des Menschen,⁴ kann ein solcher Begriff für Schleiermachers Philosophie nicht in Anspruch genommen werden. Zwar setzt die Ethik, worunter Schleiermacher die „Wissenschaft der Geschichte“ als Darstellung des Zusammenseins von Vernunft und Natur versteht,⁵ eine „Anschauung der menschlichen Natur als solcher“⁶ voraus, doch der Inhalt dieser Anschauung ist spekulativ, nicht anthropologisch fundiert. Der Mensch bezeichnet eine elementare Einheit von Natur und Vernunft, die systematisch auf den transzendentalen Grund der Einheit des Idealen und Realen bezogen ist, wie ihn die Dialektik als Kunstlehre des reinen Wissens aufstellt. Aus dieser werden die Prämissen der Ethik deduziert, d. h.: das Wissen der menschlichen Natur beruht auf dem spekulativen der Dialektik, und diese Natur wird angesehen als Repräsentant eines Absoluten. Gegenüber diesem Wissen, das im Absoluten gründet (wenn auch nicht als absolutes Wissen), ist die „empirische Beschreibung der menschlichen Natur“,⁷ als welche Schleiermacher die Anthropologie versteht, allemal von untergeordneter Bedeutung. Überdies bescheinigt er den Anthropologien seiner Zeit, man dürfe sie „nicht als eine Wissenschaft ansehen“⁸,wobei er keineswegs ausschließt, dass es den „dinglichen Wissenschaften“ gelingen könne, die vorausgesetzte Anschauung der menschlichen Natur „irgendwo und wie zur Wissenschaftlichkeit zu erheben“.⁹ Hieraus spricht indessen keine souveräne Verachtung des spekulativen Denkers gegenüber der Empirie, vielmehr ist es das ausdrückliche Programm Schleiermachers, den Gegensatz von Erfahrungswissenschaften und Philosophie aufzuheben. Die Erhebung der Anthropologie zur Wissenschaft würde nicht nur einen Fortschritt in der Empirie bedeuten, sondern zugleich auch ihre Erhebung zu einer wissenschaftlichen Form, durch die sie mit dem spekulativen Wissen vermittelt ist. Für die Spekulation bedeutet dies, dass sie zwar der Entwicklung der Erfahrungswissenschaften nicht vorgreifen oder deren Resultate gar deduktiv antizipieren darf, wohl aber ihre Verträglichkeit mit solchen Entwicklungen und Resultaten, wohin sie auch immer führen mögen, antizipierend zu sichern hat.
Vgl. Odo Marquard: „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts“, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main 1982, 122– 144. Schleiermacher: Sittenlehre, 251. Ebd., 542. Ebd. Ebd., 543. Ebd.
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Wie in diesem Sinne mit der Anthropologie als einer noch nicht zur Wissenschaft erhobenen Disziplin zu verfahren sei, führt modellhaft Schleiermachers Pädagogik vor. Die Anthropologie ist hier in zweifacher Hinsicht problematisch: ihr Wissen von der menschlichen Natur wäre der natürliche Ausgangspunkt des Erziehungsprozesses, aber sie vermag dieses Wissen empirisch nicht zu fundieren, da der Erfahrungszusammenhang sowohl im Sinne der These von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen als auch im Sinne der These von der natürlichen Ungleichheit der Menschen gedeutet werden kann. Diese Aporie, so Schleiermacher, lasse sich empirisch (noch) nicht auflösen, sie dürfe aber auch nicht durch apriorische Setzung der einen oder anderen Seite spekulativ entschieden werden. Die „Unentschiedenheit der anthropologischen Voraussetzungen“¹⁰ ist demnach anzuerkennen und ein „Kanon“ zu finden, der „beide Voraussetzungen […] berechnet“:¹¹ die Erziehung soll der „inneren Kraft“ des zu Erziehenden zu Hilfe kommen, aber in Bezug auf das, was von dieser Entwicklung bewirkt wird, Unterschiede im Sinne vermeintlich natürlicher gesellschaftlicher Schranken nivellieren. In unserem Zusammenhang ist dies weniger als Beispiel liberaler Gesinnungen von Interesse, sondern als Fall angewandter Dialektik im Schleiermacherschen Sinne. Ihr Verfahren besteht darin, den Prozess eines wissenwollenden Denkens oder werdenden Wissens so zu organisieren, dass das Denken des strittigen Wissens unter Regeln gebracht wird, die auf ein streitfreies Denken führen: „sie muß Grundsäze aufstellen, welche dieselben sind für Alle und allem Streit angemessen nicht um vorübergehend den einen Streitenden auf die Seite des andern hinüberzuführen, sondern um das zerfallene Denken zur Einheit des Wissens zu fördern“ (KGA II/10, 1, 401). Der spekulative Fluchtpunkt dieser Einheit ist der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns als Indifferenz aller Entgegensetzungen im Endlichen; auf ihn hin lässt sich das Wissen und Handeln so organisieren, dass es zwar den Streit nicht inhaltlich oder material auflöst, aber die entgegengesetzten Seiten als prinzipiell verträglich behandelt, d. h. als gleichgültige. In dieser Gleichgültigkeit der Entgegensetzung sichert sich das spekulative Verfahren den Bezug auf die Empirie, die der realen Entgegensetzung im Endlichen angehört, ohne indes beanspruchen zu müssen, die Empirie aus ihr selbst heraus „aufgehoben“ zu haben oder sie sogar aus den Bestimmungen des reinen Denkens entbinden zu können.
Schleiermacher: Pädagogische Schriften, hg.v. Th. Schulze und E. Weniger, Bd. 1, Frankfurt/ Main u. a. 1983, 19. Ebd., 41.
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Teil VII: Anthropologie und Psychologie
Hierin besteht ein eklatanter Unterschied zu Hegels Art, die Wirklichkeit als die der Vernunft aufzuweisen. Während Hegel das Risiko nicht scheute, Inhalte und Verfahren der empirischen Wissenschaften realphilosophisch zu durchdringen und aufzuheben, behandelt Schleiermacher sie weithin als indifferent, da er sich der Integrationsmöglichkeit ihrer Resultate sicher zu sein glaubte. Sein Thema sind nicht so sehr die besonderen Wissenschaften selbst, als vielmehr deren ethische Formbestimmtheit als institutionalisierte, organisierte und organisierende Prozesse des Wissens. Ob seine Art der Einbeziehung der Empirie ihm Vorteile gegenüber Hegel verschafft, wie manchenorts behauptet wird, sei dahingestellt. Sicher ist, dass seine Strategie der Immunisierung des spekulativen Wissens sich in der Wirkungsgeschichte seiner Philosophie als untaugliches Mittel erwiesen hat und eher die Möglichkeit eröffnete, ganze Theoriestücke aus dem spekulativen Kontext zu lösen. In dem Bemühen, die Erfahrungswissenschaften als gleichberechtigt anzuerkennen, legt das spekulative Wissen die Verträglichkeitsbedingungen seiner mit jeder möglichen Empirie fest und fungiert so als Platzhalter der Erfahrungswissenschaften in formaler, nicht materieller Hinsicht. Selbst unterstellt, sie könnten deshalb (wie Schleiermacher hoffte) nicht zur materiellen Einspruchsinstanz gegen das spekulativ begründete Wissen werden, so liegt darin noch keine Nötigung, dessen Ansprüche anzuerkennen. Die derart konstruierte Gleichgültigkeit von Empirie und Spekulation kann prinzipiell dazu benutzt werden, dem Bereich der Empirie die Rechte des Spekulativen zu vindizieren, wie Feuerbach dies tun wird. Der eingangs skizzierte Kontrast der Wirkungsgeschichte Schleiermachers einerseits und seiner Intentionen und systematischen Voraussetzungen andererseits, verlieren damit an Schärfe. So kann zwar von keiner Anthropologie im Sinne einer systematisch grundlegenden Disziplin bei Schleiermacher die Rede sein, wohl aber erscheint es als aussichtsreich, im Blick auf die Wirkungsgeschichte und am Leitfaden der spekulativ begründeten „Anschauung der menschlichen Natur als solcher“ nach den Vorgaben seiner Philosophie für eine anthropologische Wende zu fragen. Ich möchte dies in zwei Schritten versuchen: (1) durch die Explikation dieser Anschauung, wie sie im Spannungsverhältnis von Empirie und Spekulation entwicklungsgeschichtlich hervortritt; (2) durch die Diskussion des Verhältnisses von Schleiermachers Psychologie als einem ausgearbeiteten „Bruchstück“ der Anthropologie zur Dialektik als Grundlegung des spekulativen Wissens. (2) Sein Unbehagen an der traditionellen und zeitgenössischen Anthropologie formulierte bereits der 30jährige Charité-Prediger Schleiermacher in einer Rezension desjenigen Textes, dem begriffsgeschichtlich und systematisch zugeschrieben wird, die Wendung zur Anthropologie als Theorie der Lebenswelt ein-
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geleitet zu haben,¹² der Kantischen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Diese Rezension erschien 1799 anonym im „Athenaeum“ der Brüder Schlegel, bis in die ironische Form hinein als Beitrag zur frühromantischen Symphilosophie kenntlich. Sie kommt zu dem Ergebnis, Kants Werk sei „vortreflich […], nicht als Anthropologie, sondern als Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist“ (KGA I/2, 366). Woran Schleiermacher sich vor allem stößt, ist die Unterscheidung von physiologischer und pragmatischer Anthropologie, wie Kant sie in seiner Vorrede in Übereinstimmung mit der überkommenen von „anthropologia physica“ und „anthropologia moralis“ vorgenommen hatte.¹³ Schleiermacher sieht darin einen Gegensatz aufgestellt, der ganz „in Kants Denkart“ gründe (KGA I/2, 366). Die physiologische Frage, „was die Natur aus dem Menschen macht“ und die pragmatische, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht“,¹⁴ lösen sich für Schleiermacher von vornherein in eine auf: „alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung“ (KGA I/2, 366). Was Schleiermacher anmahnt, ist die Einheit von Natur- und Sittengesetz, physischer und moralischer Welt, theoretischer und praktischer Vernunft, und die Trennung von physiologischer und pragmatischer Anthropologie gilt ihm als Ausdruck eines Dualismus, den er in sachlicher Übereinstimmung mit Fichte und den Frühromantikern, wenn auch weitgehend unabhängig davon, bereits in seinen Jugendschriften kritisiert hatte. Dabei geht es keineswegs darum, nach dem Vorgang der französischen und englischen Aufklärungsphilosophie des 17./18. Jahrhunderts die Moralität als Gesellschaftsfähigkeit zur Naturausstattung des Menschen zu machen. Eine solche Rückkehr zur Anthropologie der Aufklärung steht für Schleiermacher nicht zur Diskussion; sein Programm zielt auf mehr: die Vollendung der Aufklärung durch ihre Universalisierung in dem Sinne, dass sie die Fremdheit der erscheinenden Wirklichkeit radikal tilgt und die Entgegensetzung im Endlichen im Absoluten versöhnt. Im Sinne dieses Programms argumentieren die zeitgleich mit der KantRezension entstandenen „Reden“ „Über die Religion“. In ihnen schreibt Schleiermacher der Religion als Anschauung und Gefühl die Leistung einer ursprüng-
Vgl. Marquard: „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘“, in: ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main 1982, 126 f. Immanuel Kant: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, 119. – Vgl. Johann Georg Walch, Art. „Anthropologie“, in: Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775, Sp. 173 f. Schleiermacher: Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/Main u. a. 1983, 41.
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Teil VII: Anthropologie und Psychologie
lichen Synthesis zu, durch die sie sich im „schneidenden Gegensatz“ gegen Metaphysik und Moral befindet, denn jene „sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen[…]; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung. […] Die Religion lebt ihr ganzes Leben […] in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen“; sie „athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht“ (KGA I/2, 211 f.). Die religiöse Erfahrung wird jener Einheit inne, die die Anthropologie in Schleiermachers Verständnis vorauszusetzen hatte, aber so, dass sie sich nicht nur auf den Menschen als Einheit von Natur und Freiheit bezieht, sondern diese Anschauung des Menschen nur die Anschauung einer Darstellung des Unendlichen ist. Die Formel „Anschauung und Gefühl“ verweist gleichwohl auf ein spezifisch menschliches Organ der Erfassung des Unendlichen; sie bezeichnet selbst eine unmittelbare Einheit (KGA I/2, 221), die in dem Medium der Reflexion, dessen sich das Reden über die Religion bedienen muss, schon immer getrennt ist (vgl. KGA I/ 2, 220). Während die Anschauung von einem Einfluss des Angeschauten ausgeht (KGA I/2, 213) und damit eine Objektbeziehung ausdrückt, entspringt das Gefühl dem Inneren des Gemüts (KGA I/2, 222). Ihre ursprüngliche Einheit bedeutet, dass „der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind“ (KGA I/2, 221). Dies hat zur Folge, dass die religiöse Erfahrung sich schon immer als je individuelle gestaltet, ohne indessen einer objektiven Bindung und darin der Allgemeinheit zu entbehren. In der Einheit der Anschauung und des Gefühls wird die ursprüngliche Einheit des Universums vor aller Reflexion verinnerlicht und aus dem Inneren heraus dargestellt. Das Sich-Emporarbeiten des Gefühls aus dem Inneren ist für Schleiermachers „die höchste Blüthe der Religion“ (KGA I/2, 222); es ist Entäußerung von Subjektivität in einem doppelten Sinne als (1) Bei-sich-Sein des Subjekts im Modus der Unmittelbarkeit und, unmittelbar in eins damit, (2) Entäußerung der Subjektivität an das Unendliche als ein bewusstseinstranszendentes Unmittelbares. In der Einheit von Anschauung und Gefühl als Instanz individueller Allgemeinheit sind Objektbezug und Entäußerung von Subjektivität als indifferent gesetzt; sie ist, als Selbstsein im Anderen, zugleich das Selbstsein des Anderen, des Unendlichen oder Absoluten in allen seinen Darstellungen im endlichen Selbst. Diese Figur des Selbstseins im Anderen strukturiert auch die Vermittlung der Individuen zur gesellschaftlichen Allgemeinheit im Horizont der „Menschheit“, wie sie in den „Monologen“ (1800) im Ausgang von einer Selbstanschauung des Menschen dargestellt wird. In ihr erfasst sich der Mensch als Freiheit, Geist und
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freie Tat, und die äußere Welt ist nichts anderes als ein „magischer Spiegel“, der „das Höchste und Innerste unsers Wesens auf uns zurük“ strahlt (KGA I/3, 6). Diese Anschauung, wie sie in einem „hellen Augenblik“ (KGA I/3, 17) unmittelbar einleuchtet, erfasst die unendliche Natur des Menschen als Freiheit, die im Unendlichen gründet, im Blick auf das Zusammensein der Individuen in einer „Gemeinschaft freier Geister“ (KGA I/3, 11) und erzeugt so „das klare Bewußtsein der Menschheit in mir“ (KGA I/3, 16). Das Selbst ist Darstellung der Menschheit unter der Form einer je eigenen Individualität, und die Darstellung des Selbst im Handeln aus Freiheit Offenbarung der unendlichen Menschheit; so kann Schleiermacher sagen, dass Bewusstsein der Eigenheit im Handeln sei Garantie, „sie auch im Nächsten nicht zu verlezen“ und umgekehrt sei die Anschauung der Menschheit Garantie, das „Bewußtsein seiner Eigenheit“ zu erhalten (KGA I/3, 22). Die Entäußerung der Subjektivität im Handeln aus Freiheit, dessen Möglichkeit der Mensch in der Unmittelbarkeit der Selbstanschauung innewird, ist somit schon immer die Entäußerung einer durch eben diese Anschauung objektiv gebundenen Subjektivität. Dies garantiert die prinzipielle Verträglichkeit der endlich-subjektiven Praxen untereinander, die in der Wirkung auf die „Welt“ unter das Gesetz der Notwendigkeit gestellt sind, sofern sich hier „Freiheit an der Freiheit“ stößt, welcher Konflikt aber nur das Dasein der Freiheit verkündet, denn was dem Einzelnen und Endlichen als frei Handelndem entgegengesetzt ist, ist nur „das unendliche All der Geister“ (KGA I/3, 10). Das Handeln aus Freiheit gründet in einer ursprünglichen, unmittelbaren Einheit von Spontaneität und Rezeptivität in der Natur des Menschen, die im Zusammensein individueller Handlungen in ein Reflexionsverhältnis auseinandertritt, das die Möglichkeit von Konflikten zwar einschließt, diese aber zugleich im Blick auf die Universalisierung der Individualitäten in der vollendeten Menschheit als dem virtuellen Ziel der Geschichte schon immer überwunden hat. Modell eines solchen Zusammenstimmens der Individualitäten aus Freiheit ist die „freie Geselligkeit“, wie Schleiermacher sie in seinem anonym publizierten Fragment „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ (1799) zuerst entworfen hat. Sie konstituiert sich als besondere Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in der Abstraktion von der Notwendigkeit des staatlich organisierten und institutionalisierten gesellschaftlichen Naturverhältnisses; in ihr wird durch das gelingende sprachlich-kommunikative Handeln ein Zustand erreicht, „der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre“ (KGA I/2, 165). Was hier erreicht wird, steht der „Weltkenntnis“, als welche Kant die Anthropologie definierte, nicht fern, nur ist sie Schleiermacher Resultat eines Handelns aus der Anschauung der Natur des Menschen und nicht die Grundlage einer prag-
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matischen Bestimmung dieser Natur. Aber auch der Anschauung dieser Natur als geistiger Individualität, wie sie die Monologen vollziehen, und die folglich auch nur in einer besonderen Sphäre unmittelbare Geltung erlangt, fehlt noch das, was Schleiermacher als Grundlage der Anthropologie eingeklagt hatte, die Anschauung des Menschen als Natur im Verhältnis zu allem anderen Einzelnen und Besonderen, was nicht Mensch ist. Diesen Schritt vollziehen die Entwürfe einer philosophischen Ethik, wie sie im Zusammenhang mit Schleiermachers akademischer Lehrtätigkeit in Halle und Berlin entstanden sind. In dem ersten erhaltenen Gesamtentwurf (1805/06) rekurriert die Ethik auf die Physik (im Sinne der Naturphilosophie), die ihr den Menschen als Natur, und d. h.: im natürlichen Zusammenhang gibt. Die „ursprüngliche Anschauung“ des Menschen als das „höchste Resultat der theoretischen Philosophie“, d. h. der Naturphilosophie, bildet als Indifferenzpunkt von Ethik und Physik den Ausgangspunkt der Ethik.¹⁵ Nach dieser Seite ist die Ethik „Beschreibung“, „schlichte Erzählung“, „Aufzeigen“ der „Geseze des menschlichen Handelns“ als „Naturgeseze“.¹⁶ Dies ist jedoch nicht empiristisch zu verstehen, sondern meint die Demonstration und Konstruktion dieser Gesetze aus der spekulativ begründeten Anschauung, denn die theoretische Philosophie selbst hängt „wieder von der Gesinnung ab“,¹⁷ womit zweifellos nicht eine beliebige Überzeugung als Meinen, sondern der spekulative Sinn als Beziehung auf das Unendliche angesprochen ist. So hatte Schleiermacher schon in den Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) die Begründung der Einheit von Ethik und Physik einer obersten Wissenschaft übertragen, als welche dann (seit 1811) die Dialektik fungierte. Die „ursprüngliche Anschauung“ betrachtet das Leben als Einheit von abgeschlossenem Dasein und Gemeinschaft mit dem Ganzen; ersteres bezeichnet die unhintergehbare Individualität als „Gebundensein aller Naturkräfte in einem Centro“, letztere die Einheit von Spontaneität und Rezeptivität.¹⁸ Diese Einheit tritt in zwei grundlegende „Functionen des Lebens“¹⁹ bzw., wie es in den späteren Entwürfen heißt, Handlungsweisen der Vernunft auseinander: die organisierende als Bilden der Natur zum Organ der Vernunft einerseits, die symbolisierende als Gebrauch des Organs zum Handeln der Vernunft andererseits. Beide Funktionen können unter die Charaktere überwiegender Individualität bzw. überwiegender Gemeinschaft gestellt werden, woraus sich ein Schema der Quadruplizität ergibt,
Schleiermacher: Sittenlehre, 81 f. Ebd., 80 f. Ebd., 82. Ebd., 88. Ebd., 89.
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das beansprucht, alle Formen ethischen Handelns zureichend beschreiben und ihre Sphäre bestimmen zu können. Das identische Organisieren ergibt die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft (Arbeit, Arbeitsteilung, Tausch), das individuelle Organisieren Privateigentum und Privatsphäre; das identische Symbolisieren das Gebiet des Wissens, das individuelle Symbolisieren das Gebiet des Gefühls (Kunst, Religion). Diesen vier Handlungsräumen entsprechen die (in sich noch weiter differenzierten) institutionalisierten Gemeinschaftssphären Staat, freie Gesellschaft, Akademie und Kirche. In diesem „Fachwerk“²⁰ der Vernunfttätigkeiten vollzieht sich der geschichtliche Prozess als wachsende Einstimmung, d. h. Universalisierung der Individuen zur Menschheit, und in eins damit als Aufhebung der Irrationalität von Vernunft und Natur. Das Handeln der Vernunft steht unter der doppelten Forderung, die Komplementarität individueller Praxen zu realisieren und darin zugleich die Fremdheit der Natur gegenüber diesem Handeln aus Freiheit zu tilgen. Der Begriff dieses Handelns wird durch den des „Producirens“ erfüllt, in dem Verhalten und Verhältnis, Hervorbringen und Produkt als identisch gesetzt sind.²¹ Dieser Begriff ist nach dem Vorbild der aristotelischen Praxis modelliert und bezeichnet das Beisichbleiben des Subjekts in der Entäußerung seiner. Eben deshalb ist alles Handeln unmittelbar und darf auch als Mittel nicht gebraucht werden: „Jedes Handeln soll entweder für sich sein, oder es darf auch als Mittel nicht sein“.²² Die Vermittlung des Individuellen zur Allgemeinheit und der Natur mit der Vernunft muss sich nach diesem Handlungsmodell unmittelbar aus den Handlungsvollzügen selbst ergeben, d. h. in ihnen als ihr telos unmittelbar gesetzt sein. Die Einstimmung des Handelns mit den Praxen Anderer und mit der Natur scheint vorab in der Anschauung des Menschen als unmittelbarer Einheit des zu Vermittelnden: Individualität und Allgemeinheit,Vernunft und Natur gesichert zu sein. Die so angeschaute menschliche Natur gilt aber selbst nur als Darstellung eines Unendlichen oder Absoluten; sie ist als Besonderheit der Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt zweier Realwissenschaften – Ethik und Physik – und ihrer Sphären. Diese bezeichnen die Totalität der erscheinenden Wirklichkeit des Absoluten als seine Darstellung im Endlichen, welche Totalität nur im Rückbezug auf das Absolute die Allheit des Einen in der Indifferenz aller Entgegensetzungen darstellt. Dies hat zur Konsequenz, dass die Vermittlung im Endlichen die vollkommene Einheit nur Näherungsweise unter der Form relativer Identität eines prinzipiell
Ebd., 90. Ebd., 79.84 ff.256. Ebd., 86.
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unabgeschlossenen Prozesses zu realisieren vermag und ferner, dass der Grund dieser Einheit als werdender Identität nicht die menschliche Natur selbst in ihrer Erscheinung sein kann, sondern diese ist als Indifferenzpunkt in der endlichen Totalität des Physischen und Ethischen nur der ausgezeichnete Ort der Beziehung auf die ursprüngliche Einheit im Absoluten. Folgerichtig stellt Schleiermacher die Anschauung der menschlichen Natur, auch wenn ihr spekulatives Gegründetsein nie verleugnet worden war, seit 1812 nicht mehr für sich an den Anfang der Ethik, sondern deduziert sie aus dem spekulativen Wissen der Dialektik. Sie zeigt, wie im reinen Denken die Unabweislichkeit einer Beziehung alles Wissens und Handelns auf einen transzendentalen Grund ihrer Einheit einleuchtet und diese Erfahrung reflektiert wird. Der Inhalt dieser Erfahrung aber ist kein der Reflexion zugängliches Wissen, sondern eine unmittelbare Beziehung des Endlichen auf das Absolute und daher ist auch der Ort, wo sie sich ereignet, nicht dem Wissen der Dialektik eigentümlich. Sie ereignet sich in einem und durch ein Vermögen der Menschen, das Schleiermacher in der Ethik 1805/06 in der Anschauung der menschlichen Natur als „Freiheit des Vermögens der Ideen“ in die „Seele“ gesetzt hatte.²³ Diese Seite der Anschauung arbeitet Schleiermacher seit 1818 in seiner Psychologie als „Bruch“ der Anthropologie aus. (3) Auch für die Psychologie gilt: „die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben“.²⁴ Die Einheit von Natur, geistigem Vermögen und Vermögen der Ideen im Menschen ist als „das letzte der Naturkunde […] Anthropologie“.²⁵ Für diese ist die Isolierung der Psychologie willkürlich, sie ist „ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie“. Ihre Rechtfertigung findet diese Isolierung darin, dass die empirische Wissenschaft der Anthropologie von „der ganzen Reihe der Pneumatologie“ durchkreuzt wird, deren Glied die Seele ist; sie repräsentiert „das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht, auf einer bestimmten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist“. Als empirisch gegebene Stufe eines geistigen Prinzips vermag die Seele zugleich Organ einer aufs Allgemeine zielenden Erfassung des Geistigen in der Reihe der Pneumatologie zu sein und diese „spekulativen Blikke sind […] der eigentliche Hauptzwekk der Psychologie“. Die Psychologie behauptet somit eine eigentümliche Position zwischen Empirie und Spekulation; im Rahmen der Ethik ist sie „empirisches Wissen um das Thun des Geistigen“,²⁶ andererseits gilt sie als Einheit von apriorischem und empiri-
Ebd., 82. Friedrich Schleiermacher: Psychologie, hg.v. L. George, Berlin 1862 (Sämmtliche Werke, Abt. 3, Bd. 6), 407. Ebd., auch die folgenden Zitate. Schleiermacher: Sittenlehre, 632.
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schem Wissen, die, in Schleiermachers Worten, einen „Indifferenzpunkt“ beider markiert.²⁷ Die Seele ist näher bestimmt als Einheit von Rezeptivität und Spontaneität. Die aufnehmende oder rezeptive Tätigkeit richtet sich auf die Wahrnehmung von Objekten außer uns, deren Einwirkung in Gefühl und Empfindung verinnerlicht wird. In dieser Einheit von Objektbezug und innerem Sinn wird die Seele ihrer selbst als Selbst im Gefühl inne. Die Verallgemeinerung oder Potenzierung des Objektbewusstseins durch Begriffsbildung und Sprache ermöglicht die Mitteilung des einzelnen objektiven Bewusstseins und Selbst und damit die Erweiterung des reflektierten Ich zum Wir des Gattungsbewusstseins. Dem entspricht auf Seiten des Selbstbezugs die Potenzierung des Gefühls zum ästhetischen des Schönen und religiösen des Erhabenen, worin es sich als endliches in der Beziehung auf ein Unendliches vollendet. – Die spontane oder „ausströmende“ Tätigkeit als die andere Seite des seelischen Prozesses ist als Objektbezug Aneignung bzw. Inbesitznahme der Natur durch Herrschaft über sie, als Selbstbezug Selbstmanifestation bzw. Entäußerung von Subjektivität; sie entspricht im Wesentlichen den organisierenden und symbolisierenden Funktionen der Vernunft in der Ethik. Der allgemeine Grundriss der Psychologie macht deutlich, dass die Einheit des Empirischen und Spekulativen dort in den Blick kommt, wo sich das Endliche im Gefühl als Beziehung auf ein Unendliches vollendet. Dieses Gefühl ist in der Vorlesung 1818 doppelt gesetzt, als Korrelat der „Idee der Welt“²⁸ einerseits, als Korrelat der Idee „der absoluten Einheit des Lebens d. h. der Gottheit“²⁹ andererseits. Die Frage nach dem Verhältnis beider Ideen und der ihnen entsprechenden Gefühle wird als transzendent und in die Dialektik gehörig abgewiesen, jedoch gilt in jedem Fall als „Anknüpfungspunkt“ für die Dialektik die Ursprünglichkeit des Gefühls gegenüber dem Gedanken, d. h. den Ideen Gottes und der Welt, der „erst aus der Reflexion entsteht“.³⁰ In diesem Sinne ist das immer noch empirisch konstatierte Gefühl, wie es die Psychologie beschreibt, dasjenige, an dem sich die spekulative Reflexion der Dialektik entfaltet. Mehr noch, die Psychologie motiviert auch diesen Übergang zur Reflexion, indem sich das Erkennen erst im „Gefühl der Befriedigung“ auf nichtreflexive Weise vollendet, wie umgekehrt das Gefühl sich erst im „Zurükkwerfen auf den Gegenstand“ im Erkennen befriedigt.³¹ Dieses Erkennen organisiert sich in der Psychologie selbst als Wissen im Zusammengehen von Objekt- und Selbstbeziehung als Bewusstsein. In
Schleiermacher: Psychologie, 492; vgl. 406 f.530. Ebd., 461.464 f. Ebd., 460. Ebd., 461. Ebd., 465.
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der Potenzierung des endlichen Wissens wird das Subjekt des Wissens von einem Transzendenten ergriffen, dessen Innewerden in der Erfahrung des Gefühls die Reflexion über das Endlich-Empirische hinaustreibt. Die Einheit von Objekt- und Selbstbeziehung in der Psychologievorlesung 1818 entspricht der von Anschauung und Gefühl, die von der ersten Auflage der Reden über die Religion bis in die erste Fassung der Dialektik (1811) den Ort der Beziehung auf das Unendliche markierte. In dem Dialektikentwurf von 1814/15 umfasst das Gefühl beides, Selbstbewusstsein und äußeres Bewusstsein (KGA II/ 10, 1, 142 f.), ohne dass zureichend geklärt wäre, unter welcher Form sie darin zur Einheit gebracht sind. Erst im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seines theologisch-dogmatischen Hauptwerks, der Glaubenslehre (1821/22), fasste Schleiermacher beide Funktionen des Gefühls in dem Begriff eines unmittelbaren Selbstbewusstseins zusammen (KGA I/7,1, 31 ff.), dessen philosophische Explikation in dem in dieser Hinsicht maßgebend bleibenden Dialektik-Entwurf von 1822 erfolgt. Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist als Gefühl vom reflektierten Ich unterschieden; der Reflexion zugänglich ist nur „die Identität des Subjects in der Differenz der Momente“ (KGA II/10, 1, 266), nicht aber der Grund dieser Einheit im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Analogon des transzendentalen Grundes. Das Gefühl markiert den Indifferenzpunkt des Denkens und Wollens; das Denken bezeichnet das Gesetztsein der Dinge in uns auf unsere, d. h. je individuelle Weise, das Wollen das Gesetztsein unseres Seins in die Dinge auf unsere Weise. Ihre Identität tritt im „Leben als Reihe“ in der Zeit auseinander und im „Nullpunkt“ des aufhörenden Denkens und anfangenden Wollens bleibt unser Sein als das Setzende übrig. Dieses ist, als unmittelbare Einheit des Gesetztseins und Setzens, das, was als gefühlter Grund der Reflexion in jedem Moment des Wissens und Wollens anwesend sein muss und durch diese Kontinuität von der Empfindung als momentaner Affektion unterschieden ist. Für die spätere Fassung der Psychologie von 1830 folgt daraus, dass eine „unmittelbare Richtung“ der Seelentätigkeit „auf das Unendliche“ angenommen wird, die sich als „absolutes Abhängigkeitsgefühl“ kundgibt, als Abhängigkeit von etwas, „worauf es nicht reagieren kann“, nämlich dem Absoluten als dem Grund des Gesetztseins des Selbst als setzend.³² Die Psychologie betrachtet dasjenige als ein unmittelbar gegebenes, d. h. empirisch vorausgesetztes, was die Dialektik im Überschritt zur Begründung der Einheit des Wissens und Wollens im transzendentalen Grund einholt: das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl. Dies heißt aber nicht, dass man sich für die Bestimmung des Verhältnisses von Dialektik und Psychologie die systematische Priorität der Dialektik dadurch sichern
Ebd., 522.492.
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kann, dass diese das Vorausgesetztsein des unmittelbaren Selbstbewusstseins im Vollzug des reinen Denkens setzt, auch wenn Schleiermacher versichert, er sei „hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege“ (KGA II/10, 1, 143). Dies besagt nur, dass die Dialektik in ihrem Gang auf den Punkt stößt, wo der Rekurs auf das Gefühl als Ort der Beziehung auf das Unendliche unabweisbar wird, aber das Gefühl selbst entzieht sich als ein Unmittelbares dem Setzen der Reflexion. Innerhalb der Dialektik markiert das unmittelbare Selbstbewusstsein den Punkt, von dem aus sich das werdende Wissen als Totalität in der Indifferenz seiner Momente reflektiert. Weder ist das Wissen des Selbstbewusstseins als Gefühl ein Wissen des Absoluten, noch ist dieses Wissen für die Reflexion als Wissen des Absoluten aufzuschließen. Die Reflexion richtet sich auf den gefühlten und darin verborgenen Grund ihrer Einheit, indem sie aus seinem unmittelbaren Gegebensein im Gefühl die Konsequenzen für die Totalität des Wissens und Handelns zieht, die sie aber nicht als objektives Wissen, sondern nur als Ideen (Gottes und der Welt) auszusprechen vermag. Die Dialektik schließt nicht, wie es den Anschein haben könnte, an die Psychologie in der Weise an, dass sie über den in jener erreichten Schnittpunkt des Endlichen und Unendlichen hinausgeht, sondern beide, Dialektik und Psychologie, kommen von verschiedenen Ausgangspunkten her an diese Grenze, ohne sie überschreiten zu können, und beide postulieren von dort aus die Kontinuität des Gefühls als Bedingung der Möglichkeit des durchgängigen Bezugs ihrer Momente auf das Unendliche. Umso erstaunlicher ist es, dass Schleiermacher das Verhältnis beider Disziplinen inhaltlich weitgehend unbestimmt gelassen hat. Die Dialektik erwähnt die Psychologie nur historisch, im Zusammenhang mit der Kantischen Kritik der vormaligen Metaphysik (KGA II/10, 1, 152 f.), die Psychologie die Dialektik nur dort, wo die dialektischen Regeln als gegeben unterstellt werden³³ und wo ihr die Kompetenz zur Bestimmung des Verhältnisses der Ideen Gottes und der Welt zugeschrieben wird. Bereits Dilthey sah darin eine „bemerkenswerte Undeutlichkeit“,³⁴ die dadurch aufzulösen sei, dass die Psychologie als das heimliche Zentrum der Schleiermacherschen Philosophie betrachtet werde. Dabei beruft er sich auf die Psychologie selbst, die lapidar als Voraussetzung von „Logik, Physik und Ethik“³⁵ vorgestellt wird; die Logik aber ist im Selbstverständnis der Dialektik von der Metaphysik nicht zu trennen. Tatsächlich, so Dilthey, setze die Gliederung der Dialektik „die Gliederung der Seele in Denken, Wollen und Fühlen voraus […],
Ebd., 407. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, 1, Göttingen 1966, 465 f. Schleiermacher: Psychologie, 530.
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d. h. die Dialektik ruht auf Schleiermachers psychologischer Grundanschauung“.³⁶ Diltheys Interpretation, die Schleiermachers Philosophie auf eine empirischanthropologische Grundlage stellt, ist nur dadurch zu widersprechen, dass Schleiermacher selbst die Seelenlehre in der durchgängigen Beziehung ihrer Momente auf das Unendliche spekulativ zu begründen suchte und folglich dem reinen, aufs Spekulative zielenden Denken der Dialektik systematische Priorität zusprach. In dieser Hinsicht kann die Diltheysche Interpretation nicht beanspruchen, hermeneutisch adäquat zu verfahren. Aber selbst dann, wenn Schleiermachers Intentionen akzeptiert werden, bleibt die Undeutlichkeit des Verhältnisses von Dialektik und Psychologie eine Herausforderung an den Interpreten. (4) Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass mit der empirisch-anthropologischen Interpretation der Schleiermacherschen Philosophie ihrer im Kern identitätsphilosophischen Systematik der Boden entzogen wird, die an der Behauptung hängt, im endlichen, unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl offenbare sich die notwendige Beziehung alles Wissens und Handelns auf einen bewusstseinstranszendenten Grund der Indifferenz aller Entgegensetzungen, der als ursprüngliche, schlechthinnige Identität alle synthetischen Leistungen singulärer und kollektiver Subjekte übersteigt und darin allererst begründet. Nun war Dilthey gar nicht daran interessiert, diese Behauptung zu affirmieren; er nimmt vielmehr Schleiermachers kritische Brechung der Identitätsphilosophie zum Anlass, sich von ihr zu verabschieden. Diese Brechung besteht darin, dass das Wissen nur in der Beziehung bzw. Beziehbarkeit auf die Erfahrung ein wirkliches, objektiv gültiges Wissen ist, der transzendentale Grund aber kein Gegenstand der Erfahrung des Wissens sein kann. Soweit er erfahren wird, nämlich im Gefühl, tritt er nicht an sich als Gegenstand der Erfahrung hervor, sondern unmittelbar in der Modifikation eines endlichen Selbst als Repräsentant des Absoluten. Dieses Gefühl ist daher auch nicht als unmittelbares Gefühl des Unendlichen qualifiziert, sondern als unmittelbares Selbstbewusstsein eines Selbst, das darin der Endlichkeit seiner als einem von anderwärts her Gesetztsein seiner als setzend innewird. Dieses Gefühl gehört, wie die Psychologie deutlich macht, der empirischen Wirklichkeit an und ist im Rahmen einer empirischen Wissenschaft, der Anthropologie, beschreibbar. Was in diesem Gefühl erfahren wird, ist das Gesetztsein des Setzenden. Diese Erfahrung ist unmittelbar, d. h. sie hat selbst den Status eines unmittelbar Gegebenen oder Vorausgesetzten, auf das sich die Reflexion richten, das sie aber nicht in der Weise einzuholen vermag, dass sie es aus
Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, 1, Göttingen 1966, 466.
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ihr heraus setzen und somit aufheben könnte. Von ihrem Status her ist diese Erfahrung als die eines unmittelbar Gegebenen und von der Reflexion nur Aufzunehmenden nicht von derjenigen Empirie unterschieden, die von den Erfahrungswissenschaften reflektiert wird, und nur deshalb kann sie auch empirischanthropologisch thematisiert werden. Indem die Reflexion diese Erfahrung aufnimmt, meint sie, die Spekulation lizensieren zu können, ohne in ein unkritisches Verfahren abzugleiten, das ein Wissen des die Erfahrung übersteigenden Transzendenten behaupten würde. Das aber heißt, dass die Reflexion nichts anderes sein kann als eine Interpretation der erscheinenden Wirklichkeit, die von der Empirie her als zwingend ausgewiesen sein müsste, denn diese Reflexion ist kein in sich begründbares reines Denken, das aus sich die Bestimmungen der Wirklichkeit hervorbringen könnte. Selbst wenn der Bereich der Erfahrungswissenschaften einmal beiseitegesetzt und nur diejenige Erfahrung betrachtet wird, an der sich die spekulative Reflexion legitimiert, so kann man sich, gerade angesichts der Wirkungsgeschichte, nur schwer dabei beruhigen, dass sie dieses Zwingende habe. Feuerbachs Funktionalisierung der Schleiermacherschen Gefühlskonzeption macht in aller Schärfe deutlich, dass Inhalt und Struktur dieser Erfahrung selbst dann anders interpretiert werden können, wenn die grundlegenden theoretischen Mittel der Schleiermacherschen Philosophie übernommen werden. Der vielzitierte Passus aus einer Gelegenheitsschrift Feuerbachs von 1842 lautet: „nach mir ist der Gegenstand, der Inhalt des religiösen Gefühls selbst nichts anderes als das Wesen des Gefühls. […] Ich tadle Schleiermacher […] nur deswegen, […] daß er nicht den Mut hatte, einzusehen und einzugestehen, daß objektiv Gott selbst nichts andres ist als das Wesen des Gefühls, wenn subjektiv das Gefühl die Hauptsache der Religion ist. Ich bin in dieser Beziehung so wenig gegen Schleiermacher, daß er vielmehr eine wesentliche Stütze, die tatsächliche Bestätigung meiner aus der Natur des Gefühls gefolgerten Behauptungen ist“.³⁷ Kein Zweifel, diese Attacke schlägt Schleiermachers Überzeugungen ins Gesicht, aber zerstört sie deshalb auch die Struktur des unmittelbaren Selbstbewusstseins, das diese Überzeugungen legitimieren sollte? Dieses war als Gefühl die Erfahrung des Gesetztseins des Setzenden als setzend durch ein Unendliches. Der transzendente Grund des Gesetztseins war dabei unmittelbar in die subjektive Form des Gefühls zurückgenommen. In der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins als Gefühl ist es frei von jeder reflexiven Beziehung nur in sich selbst. Nichts anderes behauptet Feuerbach, wenn er sagt, das Wesen des Gefühls sei selbst der Inhalt des Gefühls, und er
Feuerbach. „Zur Beurteilung der Schrift ‚Das Wesen des Christentums‘“, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Berlin 1970, 230.
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ist dabei nicht einmal genötigt, die spekulativ geladene Konstruktion des Selbstbewusstseins als Gefühl gegen einen vagen Gefühlsbegriff einzutauschen. Wenn es in der zitierten Schrift weiter heißt, er – Feuerbach – finde „schon im Endlichen das Unendliche, schon im Empirischen das Spekulative“, denn das Unendliche sei „das Wesen des Endlichen“ und das Spekulative das „Wesen des Empirischen“,³⁸ so lassen sich diese als Umkehrung Hegels behaupteten Sätze zugleich als kritische Affirmation Schleiermachers verstehen. Sie ziehen die Konsequenz daraus, dass Spekulation und Empirie sich indifferent verhalten, indem sie im Namen dieser Indifferenz die Transzendenz leugnen. Das unmittelbare Ergriffensein des Selbst in seiner Freiheit als setzendem durch ein Unendliches wird verstanden als Repräsentation der unendlichen Gattungsnatur im Menschen. Diese Konsequenz ist lediglich die Realisierung einer gleich geltenden anderen Möglichkeit, die in der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins als Selbstsein im Anderen angelegt ist. Wenn Schleiermacher die in der Unmittelbarkeit gesetzte Ambivalenz dahingehend auflöst, dass er das Endliche als Darstellung des Unendlichen verstehen will, so kehrt Feuerbach das Verhältnis der in der Unmittelbarkeit gleichgültigen Relate dahingehend um, dass er das ideelle Unendliche als Darstellung eines reell Unendlichen verstehen will. Die Unmittelbarkeit des Selbst- und Weltbewusstseins ist ihm dabei eine ebenso wesentliche Kategorie, wie sie es für Schleiermacher war, denn was der Hegelschen Philosophie als der vollendeten Gestalt spekulativer Theologie vor allem fehle, sei „unmittelbare Einheit, unmittelbare Gewißheit, unmittelbare Wahrheit“.³⁹ Die von Feuerbach eingeleitete anthropologische Wendung in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, mit denen der Bruch mit den Systemen der Klassischen Deutschen Philosophie herbeigeführt wurde, bedient sich, ob bewusst oder nicht, derjenigen theoretischen Mittel, die Schleiermacher bereitgestellt hatte. Eben deshalb aber konnte Feuerbachs Anthropologie ihrerseits mit Recht den Gestalten der Philosophie zugerechnet werden, von denen sie sich schon verabschiedet zu haben meinte; sie ist, in der Reflexion auf die behauptete Unmittelbarkeit der Erfahrung des Selbst, lediglich eine andere Interpretation der Wirklichkeit.
Ebd:, 231 f. Ludwig Feuerbach: „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, in: ebd., 247.
2 „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“. Friedrich Schleiermachers Psychologie. (1) Wer sich heute mit Schleiermachers Psychologie auseinandersetzt, muss sich zunächst die Schwierigkeiten des Zugangs vergegenwärtigen. In der Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Philosophie hat sie wenig Aufmerksamkeit gefunden. Bis heute sind nur knapp zehn Titel zu verzeichnen, die sich ausschließlich mit dieser Disziplin beschäftigen.¹ Das steht in auffälligem Kontrast zur Anziehungskraft, welche die Psychologie auf die Studenten der Berliner Universität ausgeübt hatte; sie fand mehr Hörer als jedes andere philosophische und (mit einer Ausnahme) auch jedes theologische Kolleg Schleiermachers.² Dieser Befund wirft mehrere Fragen auf. (1) Wie lässt sich das Auseinandertreten von unmittelbarer Wirkung und Wirkungsgeschichte erklären? Ferner: (2) wie konnte eine ganze Disziplin, die in Schleiermachers Selbstverständnis keineswegs marginal war, in der Schleiermacher-Forschung derart an den Rand geraten? Und schließlich: (3) was, wenn nicht ein eher archivarisches Interesse an Vollständigkeit, sollte heute noch dazu einladen, sich mit der Psychologie auseinanderzusetzen? Was die erste Frage betrifft, so ist anzunehmen, dass der bloße Titel „Psychologie“ für sich genommen an Anziehungskraft seit Schleiermachers Zeiten nichts eingebüßt hat.Wer jedoch mit dem heutigen Verständnis von „Psychologie“ die Ausgabe von Schleiermachers Vorlesungen zur Hand nimmt, wird wohl eher
Carl Platz: „Schleiermachers Psychologie“, in: Protestantische Kirchenzeitung 9 (1862), 479 – 485.543 – 551.567– 577; Ernst Lang: Ueber die Psychologie von Schleiermacher, Diss. Jena 1873; Otto Geyer: Friedrich Schleiermachers Psychologie, nach den Quellen dargestellt und beurteilt, Leipzig 1895; Friedrich Wilhelm Siegmund-Schultze: Schleiermachers Psychologie in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre, Tübingen 1913; Antonio Corsano: „La psicologia del linguaggio di Friedrich Schleiermacher“, in: Giornale critico della filosofia italiana 21 (1940), 385 – 397; Johannes Gröll: Rezeptivität und Spontaneität. Studien zu einer Grundkategorie im psychologisch-pädagogischen Denken Schleiermachers, Diss. Münster 1966; Eilert Herms: „Die Bedeutung der ‚Psychologie‘ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verb. mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 369 – 401; Terrence N. Tice: „Schleiermacher’s Psychology: An Early Modern Approach, a Challenge to Current Tendencies“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg.v. G. Meckenstock in Verb. mit J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 509 – 521. Schleiermacher hatte Psychologie viermal gelesen (1818, 1821, 1830 und 1833/34); die dritte dieser Vorlesungen fand 229 Hörer; diese Zahl wurde überhaupt nur vom Leben Jesu im WS 1829/ 30 übertroffen, wo 251 Hörer zu verzeichnen waren. Vgl. Wolfgang Virmond, Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge, in: New Athenaeum/Neues Athenaeum 3 (1992), 136 und 144.
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enttäuscht sein. Zwar wird er zahlreiche Beobachtungen und Überlegungen finden können, die ihn noch immer ansprechen; insgesamt aber steht er vor einer sperrigen Konstruktion, einem schwer zugänglichen Ineinander empirischer und spekulativer Elemente. Zu den philosophischen und einzelwissenschaftlich-psychologischen Voraussetzungen dieser Konstruktion haben wir keinen unmittelbaren Zugang mehr, denn kurz nach Schleiermachers Tod hat sich im Denken des 19. Jahrhunderts ein Bruch vollzogen, der die philosophische und wissenschaftliche Problemlage entscheidend verändert und bis heute geprägt hat. Hiervon ist die Psychologie in besonderer Weise betroffen. Während in Schleiermachers Epoche ihr Status als Wissenschaft überwiegend auf philosophischer Grundlage zu bestimmen versucht wurde, hat sie sich seither als besondere Wissenschaft auf ihrer eigenen Grundlage etabliert. Als Schleiermachers Psychologie 1862 aus dem Nachlass veröffentlicht wur³ de, erwartete der Herausgeber, Leopold George, gleichwohl ein besonderes Interesse für diese Vorlesung, denn – so hieß es im Vorwort – sie gebe „ja gewissermassen den Schlüssel nicht nur zu dem philosophischen System sondern auch zu der theologischen Grundanschauung des verehrten Meisters“ ab.⁴ In der Tat hatte zuvor bereits Christoph von Sigwart in dieser Weise Schleiermachers Denken insgesamt von seinen psychologischen Voraussetzungen her verstehen wollen.⁵ Hierin sind ihm andere Interpreten und nicht zuletzt Wilhelm Dilthey gefolgt.⁶ Für Dilthey bildete in letzter Konsequenz nicht die Dialektik, sondern die Psychologie die Grundlage der Schleiermacherschen Philosophie: „die Dialektik ruht auf Schleiermachers psychologischer Grundanschauung“.⁷ Die Interpretation der Psychologie als Schlüsselwerk war auch ein Versuch, Schleiermachers Philosophie insgesamt Aktualität zu sichern, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Friedrich Schleiermacher: Psychologie, hg.v. L. George, Berlin 1862; die Vorlesungen zur Psychologie waren im Rahmen der Sämmtlichen Werke 28 Jahre nach Schleiermachers Tod und 12 Jahre nach dem zuletzt erschienenen Band als Nachzügler erschienen; es folgte als letzter Band der (unvollständig gebliebenen) Ausgabe 1865 das Leben Jesu. Über die Gründe für das späte Erscheinen unterrichtet das Vorwort des Herausgebers: Leopold George hatte erst 1860, nach dem Tode von Schleiermachers literarischem Testamentsvollstrecker Ludwig Jonas (1797– 1859), der sich die Edition selbst vorbehalten hatte, den Auftrag zur Herausgabe der Psychologie erhalten (vgl. VII). Ebd., VII. Christoph von Sigwart: Schleiermachers Erkenntnistheorie. Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität (1857), Neudruck Darmstadt 1974. Vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 31 f. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2, aus dem Nachlaß hg.v. M. Redeker, Berlin 1966, 465 f.
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wurde von der Psychologie vielfach die Möglichkeit einer nicht-spekulativen Grundlegung der Philosophie erwartet. Schleiermachers Psychologie allerdings musste solche Erwartungen enttäuschen: ihre Konstruktion und ihre Begrifflichkeit sind nicht nur selbst spekulativ aufgeladen, sondern sie setzt ausdrücklich die Dialektik als gegeben voraus.⁸ Das muss zwar nicht heißen, dass die Psychologie in der Dialektik allein ihr Fundament habe, wohl aber erweckt es begründete Zweifel an Interpretationen, welche die Psychologie ihrerseits zur Basiswissenschaft innerhalb der Schleiermacherschen Philosophie machen wollen. Hieran müssten auch die unmittelbaren Aktualisierungsversuche der Psychologie scheitern. Aber auch die historisch orientierte Schleiermacher-Forschung hat sich, jenseits solcher Versuche, mit der Psychologie kaum befasst. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass Schleiermacher ihren systematischen Ort weitgehend unbestimmt gelassen hat. Sie erscheint somit im Rahmen der Architektonik seiner Philosophie als eine weitgehend funktionslose Zutat, die für das Verständnis des Ganzen nicht wesentlich sei. Mit der vorläufigen Antwort auf die ersten beiden Fragen ist zugleich gesagt, dass eine Annäherung an die Psychologie zunächst die Kenntnisnahme ihrer historischen Voraussetzungen erfordert, vor allem aber eine Klärung ihrer Intentionen und ihres systematischen Ortes. Schleiermacher selbst schrieb, es gehe ihm bei der Behandlung dieser Disziplin darum, „das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht, auf einer bestimmten Stufe, der einzigen, die uns wirklich gegeben ist, anzuschauen, und davon auf das allgemeine auszugehen. Die spekulativen Blikke sind also der eigentliche Hauptzwekk der Psychologie.“⁹ Dass dieser Zweck heute noch erreicht werden kann, ist kaum zu erwarten.Wohl aber dürfte die Psychologie, in Abwandlung des Zitats, geeignet sein, theoretische Blicke auf das spekulative Prinzip Schleiermachers zu werfen und dieses durch die Bestimmung ihres systematischen Ortes zu präzisieren. Auf dieser Grundlage erst wird sich auch ein Gespräch darüber führen lassen, ob die Psychologie heute noch mehr als ein bloß historisches Interesse beanspruchen kann und worin dieses bestehen könnte. Im Folgenden soll zunächst kurz auf die traditionelle Behandlung der Psychologie und die Diskussionssituation am Anfang des 19. Jahrhunderts eingegangen werden, der Schleiermacher mit dem Bewusstsein eines Neubeginns gegenübertritt, für den kaum Vorgänger da seien.¹⁰ Daran schließt sich ein Überblick über die Hauptthemen und die Konstruktion der Psychologie im Ganzen an, bevor Schleiermacher. Psychologie, 407.461. Ebd., 407. Vgl. ebd.: „Wenig Vorgänger sind erst da, und nur die ersten Schritte können gethan werden.“
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Teil VII: Anthropologie und Psychologie
schließlich in einem dritten Schritt der Versuch unternommen wird, den Ort der Psychologie in Schleiermachers System neu zu bestimmen. (2) Schleiermachers Konzeption von Psychologie reagiert auf eine Situation, in der ein Streit darüber geführt wurde,welcher Ort und welcher Rang der Psychologie im System der Wissenschaften zukommen. Christian Wolff, das Haupt der deutschen Schulaufklärung, hatte die Psychologie insgesamt der speziellen Metaphysik zugeordnet und rationale und empirische Psychologie unterschieden. Erstere habe es mit dem Wesen der Seele und des Geistes überhaupt zu tun, letztere mit unserer Wahrnehmung der Seele. Bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch beginnt die empirische Psychologie von der Metaphysik sich zu emanzipieren. Sie wird einerseits in die Nähe der Naturlehre gestellt, andererseits als Bewusstseinslehre in den Rang einer fundamentalen Disziplin erhoben. In dieser Form hatte der junge Schleiermacher die Psychologie auch bei seinem akademischen Lehrer Johann August Eberhard, dem damaligen Vertreter der Hallischen Schulphilosophie, kennengelernt, und es ist vermutet worden, dass diese Stellung der Psychologie Schleiermachers Gefühlskonzeption beeinflusst habe.¹¹ Der Gegenstand der empirischen Psychologie sind vornehmlich die „Vermögen“ des Menschen; in letzter Instanz Gefühl, Verstand und Wille, die jeweils in höhere und niedere differenziert werden. Auch Kant schloss sich der empirischen Psychologie und ihrer Vermögenslehre an, deren Emanzipation von der Metaphysik er dadurch vollendete, dass er die rationale Psychologie auf Fehlschlüsse (Paralogismen) der reinen Vernunft zurückführte und aus dem objektiv gültigen Wissen ausschloss. Zugleich aber wertete Kant auch die empirische Psychologie ab. Als „Physiologie“, d. h. als Naturlehre des „inneren Sinnes“ bleibe sie „jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt“, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt.¹² Weil Mathematik und Experiment hier nicht anwendbar seien, wird die empirische Psychologie bei Kant schließlich als Gegenstand der pragmatischen Anthropologie behandelt, die es – im Gegensatz zur Physiologie – mit dem Menschen als einem frei handelnden und sich selbst gestaltenden Wesen zu tun hat. Schleiermacher hat diese Auffassung bereits 1799 in seiner Rezension der im Vorjahr erschienenen Kantischen Anthropologie scharf zurückgewiesen, die im Athenaeum, der Zeitschrift der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, anonym veröffentlicht wurde: „alle Willkühr im Menschen ist Natur, […] alle Natur Vgl. Eilert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974; Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin und New York 1995, Kap. 2. KrV A, 381.
2 „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“
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im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existiren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung“. (KGA I/2, 366) Schleiermachers Protest gegen die Kantische Trennung von Physiologie und Pragmatik, d. h. von Naturbestimmtheit und Selbstbestimmung des Menschen, liegt auf der Linie seiner Anschauung des Lebens, die für seine späteren Entwürfe zur Ethik maßgebend sein wird und auch den Ausgangspunkt seiner Psychologie bildet. Seine Kritik kommt mit einem unter seinen Zeitgenossen verbreiteten Unbehagen an den Ergebnissen und Grundlagen der Kantischen Behandlung der Psychologie überein. Im Ergebnis nämlich löst sich bei Kant die empirische Psychologie als besondere wissenschaftliche Disziplin in die pragmatische Anthropologie als „Weltkunde“ auf und verliert ihr spezifisches Profil. Mit dem Ausschluss der rationalen Psychologie einerseits und der Auflösung der empirischen Psychologie in „Weltkunde“ andererseits scheint sich die Seele selbst als der eigentümliche Gegenstand der Psychologie verflüchtigt zu haben. Die Psychologie, die sich als Erfahrungsseelenlehre gleichwohl schon fest etabliert hatte, bedurfte daher zur Klärung ihres Gegenstandes, ihrer Prinzipien und ihres Status als Wissenschaft eines neuen Fundaments. Dieses konnte nur dadurch gewonnen werden, dass die Art und Weise ihrer Behandlung durch Kant, die strikte Trennung von Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft, überwunden wurde. Entsprechende Versuche erfolgten von verschiedenen Richtungen aus. Bestimmend wurde schließlich die an Schellings Identitätssystem anschließende, „romantische“ Psychologie,welche in der Einheit von Natur und Geist bzw. Intelligenz auch die Einheit von Leib und Seele denken wollte. Die Psychologie wurde Bestandteil und Kernstück der Anthropologie, die aber – im Unterschied zur Kantischen Konzeption – die Voraussetzungen des Ineinanderseins und der schließlichen Indifferenz von Natur und Geist bzw. Naturbestimmtheit und freier Selbstbestimmung thematisierte. Die Einheit von Leib und Seele galt dabei nicht als etwas empirisch Vorfindliches, sondern als Idee des organischen und insbesondre des menschlichen Lebens. Schleiermachers Auffassungen bewegen sich, wenn auch nicht kritiklos, in der Nähe dieser „romantischen“ Psychologie; so nimmt er in seinen Vorlesungen u. a. auf Carl August Eschenmayers Psychologie (1817) Bezug, später auch auf Henrich Steffens’ Anthropologie (1822), beides prominente Vertreter dieser Richtung. Gleichwohl muss betont werden, dass Schleiermacher, wie auch seine Rezension von Kants Anthropologie ausweist, in der Grundlegung seiner Psychologie einen selbständigen Weg gegangen ist. Seiner Ethik legt Schleiermacher von Anfang an die dort geforderte Einheit von Naturbestimmtheit und vernünftiger Selbstbestimmung zugrunde. „Die sittliche Anschauung“, so heißt es in dem ersten erhaltenen Gesamtentwurf, dem Brouillon zur Ethik (1805/06), „sezt nun
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den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen“.¹³ Dieses Vermögen der Ideen sei die den Menschen einwohnende Vernunft, in der ihre Freiheit von der unmittelbaren Naturbestimmtheit gründe.¹⁴ Die den Menschen beseelende Vernunft sei Teil eines universellen, sich durch alle Gestaltungen und Stufen des lebendigen Seins hindurchziehenden Prinzips. Mit der „alten Philosophie“ könne das ganze Universum „als ein Lebendes und Beseeltes“ gesetzt und (in Anlehnung an Anaxagoras) der nous als beseelendes Prinzip gesetzt werden.¹⁵ Der Ausdruck für die Beziehung der menschlichen Seele auf ein höheres geistiges Prinzip sei die zu „ahndende“ Gottebenbildlichkeit des Menschen.¹⁶ Hiermit ist bereits eine wichtige Bestimmung der Psychologie in der Vorlesung von 1818 vorgegeben; sie sei, so heißt es dort, „ein Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie“, also, traditionell gesprochen: der Geisterlehre.¹⁷ Wer bei „Pneuma“ an den Pneuma hagion, den Heiligen Geist, denkt, ist durchaus auf der richtigen Spur, denn in der Pneumatologie berührten sich in der vorkantischen Philosophie Psychologie, natürliche Theologie und Metaphysik. Erst Kant hatte die Geisterkunde zusammen mit der rationalen Psychologie entschieden verworfen; wenn Schleiermacher diesen Ausdruck dennoch aufgreift, so deshalb, weil „Pneumatologie“ um 1800 schon die Bedeutung von Geisteswissenschaft angenommen hatte. Nicht anders als Hegel in seiner Geistesphilosophie, welche ja auch die Psychologie als Bestandteil der Philosophie des subjektiven Geistes unter sich fasst, will Schleiermacher die Psychologie einem spekulativen Zusammenhang einordnen, in dem sie mit den theologischen und metaphysischen Gegenständen in Berührung steht. Dies ist zunächst auch mit der Rede von den „spekulativen Blikken“, welche die Psychologie eröffne, gemeint. Dass die Psychologie „Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie“ sei, ist aber nur eine Seite ihrer Bestimmung. Nach der anderen ist sie, wie es 1818 an derselben Stelle heißt, „Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie.“¹⁸ Das bedeutet erstens, dass die Anthropologie ihrem Begriff nach weiter reicht als die Psychologie. Anthropologie ist „empirische Beschreibung der menschlichen Natur“¹⁹, die Psychologie aber „erschöpft die empirische Seite nicht, sondern das
Schleiermacher: Sittenlehre, 82. Ebd. Ebd., 84. Ebd.; vgl. zur Bindung der Vernunft in der Natur auch ebd., 88. Schleiermacher: Psychologie, Berlin 1862, 407. Ebd. Schleiermacher: Sittenlehre, 506.
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thut die Geschichtskunde“.²⁰ Nun gibt es nach Schleiermacher aber noch gar keine Anthropologie, die den Namen einer Wissenschaft verdient.²¹ Hierin grenzt er sich eindeutig von der an Schelling anknüpfenden romantisch-naturphilosophischen Anthropologie ab. Die Psychologie ist aber zweitens nicht nur Bruch als Teil einer noch zu etablierenden Wissenschaft; sie ist vielmehr die weitgehend isolierte Behandlung eines der beiden Momente, deren Einheit Gegenstand der Anthropologie ist, nämlich des Geistigen im Unterschied zum Physiologischen. Die Psychologie setzt zwar voraus, dass „die Seele […] uns nur mit dem Leibe gegeben“ sei²², kann diese Einheit aber nicht vollständig durchführen. Sie bleibt „vorbereitende“ Seelenkunde, die erst in der vollständigen Durchdringung des Physischen und Ethischen vollendet wäre.²³ Die Psychologie hat daher etwas Provisorisches an sich, das ihr in besonderer Weise den Status eines werdenden Wissens verleiht. Eben deshalb muss sie sich auch die Regeln ihres Verfahrens von derjenigen Disziplin vorgeben lassen, die das werdende Wissen selbst zum Thema hat: von der Dialektik. Für die Psychologie tritt daher die Dialektik als eine Voraussetzung a priori auf; sie gibt die Regeln vor, nach denen die Empirie bearbeitet wird. Nach dieser Seite ist die Psychologie, die mit der „Darlegung der verschiedenen Thätigkeiten der Seele aus der Erfahrung“²⁴ anfängt, eine provisorische Verbindung empirischer Elemente einerseits und apriorischer, spekulativer Elemente andererseits. Deren vollständige Durchdringung wäre die Vollendung nicht nur der Psychologie, sondern des Wissens überhaupt; für Schleiermacher ein unerreichbarer Zustand. Umso dringlicher aber erscheint ihm die Aufgabe, den „künftigen Zustand“ vorzubereiten, indem „auf den sich dazu eignenden Punkten die Verbindung mit spekulativen Blikken“ herzustellen versucht wird.²⁵ (3) Folgen wir Schleiermachers Selbstverständnis, so kommt es bei der Psychologie vor allem darauf an, diejenigen Punkte hervorzuheben, bei denen sich die Verbindung empirischer und spekulativer Elemente ergibt. Hierfür ist zunächst die Konstruktion des Ganzen ins Auge zu fassen. Schleiermacher gliedert die Psychologie in einen elementarischen und einen konstruktiven Teil. Der elementa-
Ebd., 632 f. Schleiermacher bescheinigt den Anthropologien seiner Zeit, man dürfe sie „nicht als eine Wissenschaft ansehen“, wobei er keineswegs ausschließt, daß es den „dinglichen Wissenschaften“ gelingen könne, die vorausgesetzte Anschauung der menschlichen Natur „irgendwo und wie zur Wissenschaftlichkeit zu erheben“ (ebd., 543). Schleiermacher: Psychologie, Berlin 1862, 407. Ebd. Ebd. Ebd.
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rische befasst sich mit den grundlegenden Funktionen des menschlichen Lebens in ihrer Zusammengehörigkeit, der zweite, konstruktive soll auf dieser Grundlage „die Individualitäten zur Anschauung bringen, die einzelnen und die zusammengesetzten“, z. B. Volk und menschliche Gattung.²⁶ Vollständig ausgeführt ist nur der elementarische Teil; die Abgrenzung des konstruktiven schwankt²⁷ und zudem wird hier, in Schleiermachers Worten, „die Erkenntnis auch bleicher […] und das meiste wird hypothetischer erscheinen und fantastischer.“²⁸ Ich beschränke mich daher auf die elementaren Funktionen. Um deren „Fachwerk“ aufzufinden, wird, wie in der Ethik, auf „die allgemeine Formel des erscheinenden Lebens“ zurückgegangen, das „Zusammensein [des Einzelnen, Verf.] mit anderem“.²⁹ In deutlicher Abgrenzung gegenüber der Tradition der rationalen Psychologie, aber auch gegenüber Fichte, nimmt Schleiermacher den Ausgang nicht beim Ich des Selbstbewusstseins, denn dieses sei „kein Begriff, in dem etwas zu theilen wäre, sondern ein ungetheiltes Gefühl“.³⁰ Im Leben sei das Ich „eine Einheit […] im Wechsel der Erscheinungen“, die den Grund ihrer Veränderungen – im Gegensatz zum Toten – zum Teil in sich selbst und nur zum Teil in Anderem habe.³¹ Das Ich wird daher auch, in Anlehnung an die Kantische Formel des Ich denke, das alle Vorstellungen muss begleiten können, als eine „ursprüngliche Thätigkeit“ vorgestellt, „die alles übrige begleitet und allem andern vorangeht“.³² Während die Selbsttätigkeit allem Lebendigen zukomme, sei nur der Mensch fähig, ein Selbstbewusstsein zu haben. Dieses könne jedoch nicht auf der Selbsttätigkeit allein beruhen, da sie nur einen Teil des Lebens ausmache. Im Leben stehen wir in Wechselwirkung mit Anderem, von der organischen Natur
Ebd., 501 (Manuskript 1830). Die Gliederung, die George seiner Kompilation von Nachschriften des Kollegs von 1830 einzieht, lässt den konstruktiven Teil mit der Geschlechtsdifferenz beginnen. Dies entspricht Schleiermachers Manuskripten zur den Vorlesungen von 1830 (ebd., 529) und 1833/34 (ebd., 556). Im Manuskript zur Vorlesung 1818 dagegen wird die Gliederung in elementarisch und konstruktiv nur in der Einleitung erwähnt (416 – 418), aber im Folgenden nicht ausdrücklich durchgeführt. Schleiermacher will dort innerhalb des elementarischen Teils vom Aufstellen der Formeln als solcher, „durch welche die Thätigkeiten streng geschieden sind“ zur Betrachtung ihrer Vermittlung übergehen und dann das Ich „in die Differenz“ hineinführen (Temperament, Geschlechtsdifferenz, Leben und Tod); erst „hiemit ist das elementarische, durchaus gemeinsame der Zustände geschlossen“ (417). Die Vorlesung 1818 umfasst demnach nur den elementarischen Teil, während Schleiermacher die Differenz später dem konstruktiven Teil zuschlägt, ohne in der Sache weiter zu gehen. Ebd., 418. Ebd. Ebd., 406. Vgl. ebd., 415. Ebd., 15. Vgl. KrV B, 132.
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bis zum Gegenüber des anderen Ich.Von dieser Wechselwirkung können wir nicht abstrahieren, weshalb das Andere auch nicht – wie bei Fichte – als bloßes NichtIch nur negativ in den Blick zu nehmen sei.³³ Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass das Leben auf zwei elementaren Funktionen beruhe, der „spontanen“ oder „ausströmenden“ Tätigkeit, also der ursprünglichen Selbsttätigkeit einerseits, sowie der „rezeptiven“ oder „aufnehmenden“ Tätigkeit andererseits. In der einen Tätigkeit wirkt die Seele nach Außen auf Anderes ein, in der anderen empfängt sie von außen Einwirkungen von Anderem. Beides sind aber Tätigkeiten; sie lassen sich nicht als reine Aktivität und reine Passivität unterscheiden. Sie sind vielmehr gegenläufige Tätigkeiten in dem Sinne, dass sie von verschiedenen Punkten ihren Ausgang nehmen, aber nie vollständig voneinander getrennt werden können. Das Aufnehmen, d. h., das Verarbeiten der empfangenen Eindrücke, erfordert eine Selbsttätigkeit des Organismus ebenso wie umgekehrt die äußere Darstellung der Seele auf vermittelnde Organe angewiesen ist, die ihr vorgegeben sind, wie z. B. die Sprache der Mitteilung und selbst dem reinen Denken vorausgesetzt werden muss. Die Unterscheidung, wechselseitige Bestimmung und Differenzierung der beiden elementaren Funktionen macht den Inhalt der Psychologie aus, die auf diesem Wege die Gesamtheit des geistigen Lebens der Menschen zu erfassen sucht. Um die Unterscheidung des Natürlichen und Geistigen, des Leiblichen (Organischen) und Seelischen von einem empirischen Ansatz aus durchführen zu können, beginnt Schleiermacher mit der rezeptiven Tätigkeit. Deren Hauptmomente sind kurz vorzustellen. Das Aufnehmen der Eindrücke geschieht zunächst durch die Sinne, die im Unterschied zum Tier aber nicht an Instinkte, an elementare Funktionen des Selbsterhalts, gebunden sind, sondern sich auf die Totalität der Welt hin öffnen.³⁴ Schleiermacher unterscheidet hierbei zwischen den bekannten speziellen fünf Sinnen sowie einem allgemeinen Sinn, dem „Hautsinn“, der nicht den Eindruck einzelner Gegenstände vermittelt, sondern unmittelbar einen „atmosphärischen“ Gesamteindruck herstellt. Hierin tritt die Subjektivität stärker hervor, er ist mehr Selbst- als Weltbezug. Die Möglichkeit eines solchen Selbstbezugs beruht darauf, dass Schleiermacher Sinnlichkeit insgesamt als etwas versteht, worin schon Selbsttätigkeit enthalten ist. Der Selbstbezug erscheint, auch in den speziellen Sinnen, als Gefühl, das in dem allgemeinen Sinn vorherrscht. Hierin liegt eine weitere fundamentale Differenz des menschlichen zum tierischen Leben: wir sind nicht nur fähig, unsere Wahrnehmung für die
Ebd., 416; vgl. auch 18. Vgl. ebd., 425; auch zum Folgenden.
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ganze Welt zu öffnen, sondern wir sind auch fähig, uns durch das Gefühl auf uns selbst zu beziehen und von Anderem zu unterscheiden. Der auf der sinnlichen Ebene bereits präsente Unterschied von Objektbezug und Selbstbezug strukturiert nun den Gang der Höherentwicklung oder „Potenzierung“ der aufnehmenden Tätigkeit. Das Objektbewusstsein gewinnt durch Begriffsbildung und Sprache Allgemeinheit, d. h. die Fähigkeit zur Mitteilung des einzelnen Bewusstseins. Dies ermöglicht nicht nur ein reflektiertes Selbstbewusstsein, in dem das Selbst zum Gegenstand gemacht wird, es erfordert auch die Aufnahme der menschlichen Gattung in das Selbstbewusstsein. Die Mitteilung nämlich setzt voraus, dass das Mitgeteilte auch allgemein verstanden werden könne. Dies zwingt zu der Annahme eines prinzipiell identischen Bewusstseins aller Menschen, der Vernunft, die sich in der Gattung realisiert. Hierauf reflektiert das „Gattungsbewusstsein“, das sich – ungeachtet der Tatsache, dass jede Mitteilung in einer individuellen Sprache erfolgt – von der Annahme einer gemeinsamen menschlichen Vernunft leiten lässt. Dies kommt auch auf der subjektiven Seite in der Entwicklung des gefühlsmäßigen Selbstbezugs zur Geltung. Durch Übertragung von Gefühlen entstehen gesellige Gefühle, in denen das Selbst des Anderen als gleichberechtigt anerkannt wird. Aber auch das Selbstbewusstsein des Einzelnen erfährt, anknüpfend an den allgemeinen Sinn, eine Steigerung. Es erweitert sich zum ästhetischen Gefühl des Schönen und des Erhabenen und schließlich zum religiösen Gefühl. Hierin kommt der Geist an die Grenze des Endlichen und vollendet sich in der Ahnung des Unendlichen. Auch die spontane oder „ausströmende“ Tätigkeit ist durch den Unterschied von Objekt- und Selbstbezug charakterisiert. Sie ist auf der einen Seite Aneignung bzw. Inbesitznahme der Natur durch Herrschaft über sie, auf der anderen Seite Selbstmanifestation bzw. Entäußerung von Subjektivität; sie entspricht demnach im Wesentlichen den organisierenden und symbolisierenden Funktionen der Vernunft in der Ethik. Der allgemeine Grundriss der Psychologie macht deutlich, wo vor allem die Punkte liegen, auf denen spekulative Blicke auf das geistige Prinzip möglich und notwendig sind. Es sind dies die Punkte, an denen die Psychologie sich auf die für die Dialektik konstitutiven Ideen bezieht: die Idee des Wissens, die Idee der Welt und die Idee Gottes. Die Idee des Wissens, die im Gattungsbewusstsein reflektiert wird, ist in die Regeln des dialektischen Verfahrens eingelassen, welche die Psychologie als gegeben unterstellt und mit denen sie operiert. Ihre eigentliche Rechtfertigung erfolgt in der Dialektik als Theorie des werdenden Wissens, die hier gewissermaßen nur zitiert wird. Etwas anders liegt der Fall bei den Ideen der Welt und Gottes, auf die sich spekulative Blicke durch die Steigerung und Vollendung des Selbstbewusstseins ergeben, denn das Selbstbewusstsein ist im Unterschied zum Wissensprozess ein genuiner Gegenstand der Psychologie, genauer: sowohl
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der Psychologie als auch der Dialektik. Hier kommt es zu einer Berührung beider Disziplinen, die über ein bloßes Voraussetzen der dialektischen Regeln hinausgeht. Im gesteigerten Selbstbewusstsein, wie es die Psychologie darstellt, sind mit den Ideen der Welt und Gottes zwei Gefühle korreliert, das ästhetische Gefühl einerseits, „welches die Manifestation der Weltidee im Erkennen begleitet“³⁵, und das religiöse Gefühl andererseits. Die Frage nach dem Verhältnis beider Ideen und der ihnen entsprechenden Gefühle wird als transzendent und in die Dialektik gehörig abgewiesen.³⁶ In jedem Falle gilt jedoch, dass beide nicht identisch sind und das Gefühl, wie es die Psychologie im Ausgang von der Empirie findet, das Primäre gegenüber dem Gedanken ist. Die Ideen der Welt und Gottes entstehen nachgängig, „erst aus der Reflexion“ auf das Gefühl.³⁷ Psychologisch motiviert ist dieser Übergang dadurch, dass sich das Gefühl erst im „Zurückwerfen auf den Gegenstand“ im Erkennen befriedigt, wie das Erkennen seinerseits sich erst im „Gefühl der Befriedigung“ vollendet.³⁸ In diesem Wechsel des Fühlens und Erkennens realisiert sich der fortschreitende Selbst- und Weltbezug, das „Ich-sezenwollen“ und „Welt-suchen-wollen“³⁹ der Seele. In diesem Prozess stößt die Seelentätigkeit an die Grenzen des endlichen Bewusstseins und Erkennens. Sie wird gleichsam von einem Transzendenten ergriffen, das sich ihren Vermögen zugleich entzieht. Für die spätere Fassung der Psychologie von 1830 folgt daraus, dass eine „unmittelbare Richtung“ der Seelentätigkeit „auf das Unendliche“ angenommen wird, die sich als „absolutes Abhängigkeitsgefühl“ kundgibt, als Abhängigkeit von etwas, „worauf es nicht reagieren kann“, von einem Unendlichen oder Absoluten.⁴⁰ Betrachten wir nun die Ideen der Welt und Gottes in der Dialektik, so wird deutlich, dass in dieser Disziplin ein gegenläufiger Weg eingeschlagen wird. Schleiermacher versichert, er sei „hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege“ (KGA II/10, 1, 143). Dies gilt auch von dem Rekurs auf das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl, in dem wir des transzendentalen Grundes innewerden.Wie das philosophische Erkennen der Dialektik nicht vom Gefühl ausgeht, so geht es hierbei auch nicht darum, das transzendentale Erkennen in einem Gefühl zu befriedigen. Vielmehr bezeichnet
Ebd., 462. Ebd., 461. Ebd. Ebd., 464 f. Ebd., 465. Ebd., 522; vgl. 492.
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die Dialektik im Rekurs auf das Selbstbewusstsein den Ort des Innewerdens des Absoluten und seinen Modus, die Unmittelbarkeit. Von hier aus lässt sich das Verhältnis von Psychologie und Dialektik näher bestimmen.⁴¹ Die Psychologie geht vom Empirischen aus und stößt auf das Faktum des Selbstbewusstseins als Gefühl, in dem die Seele von einem Absoluten ergriffen wird. Die Reflexion auf das, was sich in diesem Gefühl kundtut, fällt jedoch außerhalb des Bereichs der Psychologie und ist für diese Disziplin transzendent. Die Dialektik hingegen richtet sich auf die transzendentalen Voraussetzungen des Wissens und Handelns als immanente Bedingungen ihres Vollzugs; sie stößt dabei auf das unmittelbare Selbstbewusstsein als den ausgezeichneten Ort ihres Innewerdens. Im Unterschied zur Psychologie ist sie in der Lage, den Gehalt dieses Gefühls auf seine Bedeutung für das transzendentale Verfahren hin zu reflektieren. Der Inhalt des Gefühls ist hier transzendent nur in dem Sinne, dass wir das Absolute an und für sich selbst nicht erschließen können. In diesem Sinne bildet die Unmittelbarkeit des Gefühls eine Grenze der Reflexion in beiden Disziplinen und zugleich einen Schnittpunkt, an dem sie sich treffen und voneinander unterscheiden. Sie nähern sich dieser Grenze in einer gegenläufigen Bewegung; die Psychologie von Seiten der Empirie, die Dialektik von Seiten der Spekulation. Und wie die Psychologie auf dieser Grenze spekulative Blicke auf die transzendentalen Voraussetzungen wirft, so wirft die Dialektik im Rekurs auf das unmittelbare Selbstbewusstsein gleichsam empirische Blicke auf das Prinzip des Lebendigen, auf ihre anthropologisch-psychologischen, um nicht zu sagen: existentiellen Voraussetzungen. (4) Schleiermacher hat sich erst relativ spät mit der Psychologie befasst und erst im Nachhinein und mit wenig eindeutigen Äußerungen ihren systematischen Ort unter den Wissenschaften zu bestimmen versucht.⁴² Die Notwendigkeit einer solchen Disziplin hatte Schleiermacher erstmals 1816 brieflich erwähnt.⁴³ In den
Erstaunlich ist, dass Schleiermacher selbst diese Aufgabe weitgehend offengelassen hat. Die Dialektik erwähnt die Psychologie nur historisch, im Zusammenhang mit der Kantischen Kritik der vormaligen Metaphysik (KGA II/10, 1, 152 f.), die Psychologie die Dialektik nur dort, wo die dialektischen Regeln als gegeben unterstellt werden und allein der Dialektik die Kompetenz zur Bestimmung des Verhältnisses der Ideen Gottes und der Welt zugeschrieben wird. Sie „entspricht“, so heißt es in den Bemerkungen zur Ethik (1832), „der Naturlehre und Naturbeschreibung, ist also empirisches Wissen um das Tun des Geistigen. […]. Die Psychologie aber erschöpft die empirische Seite nicht, sondern das thut die Geschichtskunde“ (Sittenlehre, 632 f.). An Joachim Christian Gaß, 29.12.1816 (vgl. Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg.v. W. Gaß, Berlin 1852, 128). Als Schleiermacher dann das Thema aufgriff, war der Gegenstand noch keineswegs durchgearbeitet und seine systematische Stellung noch unklar (vgl. an Gaß, 11. 5.1818, ebd., 149;
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Ausarbeitungen zur Ethik von 1816 finden sich dann auch zwei Hinweise, die es erlauben, den systematischen Ort der Psychologie näher zu bestimmen. Zu dem Verfahren der kritischen Disziplinen, welche das Spekulative und Empirische miteinander vermitteln, gehöre „noch ein anderes, leichter unmittelbar mit ihr zu verbindendes, welches an Hauptpunkten von der ethischen Betrachtung zu der physischen hinüberführt, aber noch so gut als gar nicht bearbeitet ist“.⁴⁴ Dem entspricht die Stellung der Psychologie als Bruch der Anthropologie.⁴⁵ Sie leistet diese Vermittlung aber nicht vollständig und auch nicht, wie es die Anthropologie ihrer Bestimmung gemäß tun müsste, auf rein empirischem Wege. Sie ist vielmehr eine kritische Disziplin, die vermittelt, indem sie empirische und spekulative Elemente miteinander verbindet. Während sie im Rahmen der Ethik, die selbst als spekulative Realwissenschaft bestimmt ist, nur als „empirisches Wissen um das Thun des Geistigen“ angesehen wird,⁴⁶ markiert sie für sich genommen einen „Indifferenzpunkt“ des Apriorischen (Spekulativen) und Empirischen.⁴⁷ Dies gilt nicht nur für die gewissermaßen horizontal verlaufende Vermittlung der einander nebengeordneten Disziplinen Physik und Ethik, die schon deshalb nur kritisch erfolgen kann und daher provisorisch bleiben muss, weil sich der Prozess des Wissens empirisch nicht vollenden lässt.⁴⁸ Daneben nämlich gibt es noch eine vertikale Richtung der Vermittlung, die ebenfalls in den Entwürfen zur Ethik von 1816 angesprochen wird. Schleiermacher fasst dort ein „höhere[s] kritische[s] Verfahren“ ins Auge, „welches in jedem Ausdruck eines Endlichen, aus
dort heißt es, er schreibe sich die Vorlesungen im nachhinein auf: „Dasselbe thue ich auch mit der Psychologie, einem ganz funkelnagelneuen Collegio, dem stärkstbesezten, was ich noch gehabt habe, so lange ich hier bin, denn ich habe 130 Zuhörer. Wie es recht werden wird, weiß ich noch nicht, bis jezt ist es leidlich gegangen“). Am 23. 3.1818 heißt es in einem Brief an den Philologen und Prediger Ludwig Gottfried Blanc: „dann soll ich nun noch meinen ganzen Leisten und Zuschnitt für die Psychologie erfinden. Diese Tollheit, auf die ich gar nicht recht weiß wie ich gerathen bin, werde ich schwer büßen müssen“ (Briefe, Bd. 4, 233). Gegenüber August Twesten bekannte Schleiermacher, daß er „ohne bestimmte Vorbereitung“ an die Vorlesung gegangen sei und nun „aus der Hand in den Mund lebe“ (11.6.1818; C.F. Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, 318). „Neuer Anfang der Ethik. Einleitung“, in: Sittenlehre, 550. Vgl. „Einleitung, 1816“, in: ebd., 506: „Beide also Logik als empirische Beschreibung des intellectuellen Prozesses und Anthropologie als empirische Beschreibung der menschlichen Natur vermitteln den Gegensaz zwischen Physik und Ethik als beiden angehörig auf verschiedene Weise“. Die Psychologie selbst versteht Schleiermacher dann freilich als Voraussetzung auch der Logik (vgl. Schleiermacher: Psychologie, Berlin 1862, 580). Schleiermacher: Sittenlehre, 632. Schleiermacher: Psychologie, Berlin 1862, 492; vgl. 406 f. und 530. Hinzu kommt, dass Schleiermacher die Physik, auf die er sich hierbei stützen müsste, nicht bearbeitet hat.
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seiner Einzelheit heraus in die Totalität versezt das Absolute nachweiset“; dieses „ist die Vermittlung auch zwischen der Ethik und dem absoluten Wissen“.⁴⁹ Diese Richtung auf das Absolute wohnt der Psychologie als Teil der Pneumatologie inne und wird in ihren spekulativen Blicken auch realisiert. In der Aufgabenstellung der Psychologie verbinden sich demnach die 1816 erhobenen Forderungen an zwei noch nicht entwickelte Disziplinen: sie vermittelt als Teil der Anthropologie zwischen Physik und Ethik, ist aber vor allem eine höhere kritische Disziplin, welche das empirisch gegebene Geistige mit dem Spekulativen, dem transzendentalen Grund der Dialektik, vermittelt. Es muss betont werden, dass es sich hierbei um einen Rekonstruktionsversuch handelt, da Schleiermacher selbst den Ort der Psychologie in dieser Weise nie eindeutig bestimmt hat. Ist diese Rekonstruktion richtig, so kann die Psychologie nicht vor allem als Ergänzung der Ethik und der an sie anschließenden Disziplinen verstanden werden⁵⁰ und schon gar nicht als die das Wissenschaftssystem Schleiermachers begründende Disziplin, wie es jüngst erneut behauptet wurde.⁵¹ Sie ist dann vielmehr als das von der Empirie ausgehende Komplement zur Dialektik zu verstehen. Indem sie der Dialektik das Empirisch-Geistige liefert, wie sie umgekehrt von ihr den spekulativen Fluchtpunkt und die Regeln ihres Verfahrens bezieht, markiert sie einen Indifferenzpunkt beider im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl. Diese Stellung der Psychologie als Gegenpol zur Dialektik tritt auch darin hervor, dass Schleiermacher seine philosophischen Vorlesungen an der Berliner Universität in Zyklen aufeinander folgen lässt, die jeweils von der Dialektik begonnen und – seit der Etablierung dieser Disziplin 1818 – von der Psychologie abgeschlossen werden.⁵² Von dort aus erscheint auch das System der Wissenschaften bei Schleiermacher insgesamt in neuem Licht. Es ist in seiner letztgültigen Gestalt nicht mehr als ein dreigliedriges anzusehen, wobei die Dialektik die einander nebengeordneten spekulativen Realwissenschaften Physik und Ethik unter sich befasst. Vielmehr wird es im Verlauf der Berliner Vorlesungstätigkeit zur Viergliedrigkeit erweitert. Die horizontale Reihe der nebengeordneten Disziplinen Physik und Ethik Schleiermacher: Sittenlehre, 507. Vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 165. Herms, „Die Bedeutung der ‚Psychologie‘“ in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin und New York 1991, 369 – 401. Vgl. Andreas Arndt: „Kommentar“, in: Schleiermacher, Schriften, hg.v. A. Arndt, Frankfurt/ Main 1996, 1113 ff. Lediglich der vierte Zykus, der mit der Dialektik-Vorlesung 1822 beginnt, wird mit der – innerhalb dieses Zyklus zweimal (1824 und 1827) vorgetragenen – Ethik abgeschlossen. Dies erklärt sich daraus, dass Schleiermacher zu dieser Zeit seine Ethik in Gestalt von Akademievorträgen für die Publikation ausgearbeitet hat. Die folgenden beiden Zyklen enden jeweils wieder mit der Psychologie.
2 „Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip“
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wird durchkreuzt von einer vertikalen Reihe, deren Pole Dialektik und Psychologie bilden. Die Psychologie ist dabei einerseits tiefer in das Empirische versenkt als Physik und Ethik, andererseits unmittelbar auf das Spekulative bezogen. In diesem Bezug schneidet sie die andere Reihe genau dort, wo auch der Indifferenzpunkt zwischen Physik und Ethik liegt. Dies ist zugleich der Punkt, wo Empirie und Spekulation sich berühren und im unmittelbaren Selbstbewusstsein als Gefühl ebenso ineinander fallen wie sie sich darin zugleich voneinander abstoßen. (5) Die schwierigste der eingangs gestellten Fragen, nämlich welches Interesse die Psychologie außerhalb einer historisch orientierten Forschung noch beanspruchen könnte, ist noch nicht beantwortet worden und dürfte auch kaum bündig zu beantworten sein. Zu befürchten ist, dass jede isolierte Rezeption von Schleiermachers Vorlesungen in der Gefahr steht, sie misszuverstehen oder enttäuscht zu werden. Dies war in unserem Jahrhundert selbst bei einem Leser vom Range Walter Benjamins der Fall, der von seinem sprachphilosophischen Ansatz und seiner kongenialen Auffassung der Frühromantik her noch am ehesten einen Zugang hätte gewinnen können. Seine Lektüre der Psychologie führt zu härtester Kritik: es sei ein Werk, „das keine philosophische Grundlage hat und nur in seiner Sprachtheorie negativ interessant ist“;⁵³ „eine Plage“;⁵⁴ „unfruchtbar“.⁵⁵ Man wird dem entgegenhalten können, dass die Psychologie sehr wohl eine philosophische Grundlage habe, die aber in ihr selbst zumeist stillschweigend vorausgesetzt und nicht hinreichend explizit gemacht werde. Und ebenso wird man sich darauf berufen können, dass die Psychologie, etwa mit der Rehabilitierung der Sinne und eines sinnlichen Selbstbewusstseins sowie mit dem Wir eines Gattungsbewusstseins, weit über die Epoche der Klassischen Deutschen Philosophie hinausweise und daher durchaus fruchtbar sei. Beides ist richtig, aber beides ist heute wohl nicht mehr in der Weise zusammenzubringen, wie Schleiermacher es versucht hat. Die mögliche Systematisierung des allgemeinen Sinns etwa zu einem „Haut-Ich“⁵⁶ ebenso wie die tatsächliche Systematisierung des Gattungsbewusstseins zu einer kommunikativen Vernunft⁵⁷ lässt sich nicht
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Teil VII: Anthropologie und Psychologie
bruchlos mit den philosophischen Voraussetzungen Schleiermachers zusammenbringen. Zwar gibt es bei ihm so etwas wie ein sinnlich-elementares Selbstbewusstsein, aber das Selbstbewusstsein vollendet sich erst in der Berührung mit einem Absoluten, das nicht die Welt ist. Und ebenso gibt es eine kommunikative Realisierung der menschlichen Vernunft, die Vernunft selbst aber konstituiert sich nicht darin, sondern in einem transzendenten Grund. Damit ist nicht gesagt, dass ein produktiver Umgang mit der Psychologie in der genannten Weise nicht möglich wäre; man muss sich dabei nur darüber im Klaren sein, dass man den philosophischen Zusammenhang des Schleiermacherschen Entwurfs verletzt. Gerade dieser Zusammenhang aber gibt ein systematisches Problem auf, das bei Schleiermacher durch die Voraussetzung eines absoluten Einheits-Grundes noch weitgehend verdeckt ist und erst im nachklassischen Denken, bis in die Philosophie der Gegenwart hinein, verstärkt hervorgetreten ist: wie lässt sich ein systematischer Zusammenhang denken, der nicht von einem Zentrum aus organisiert ist, sondern gleichsam mit mehreren Zentren operiert? Dass dieses Problem schon bei Schleiermacher virulent ist, lässt sich aber erst dann sichtbar machen, wenn sein systematischer Entwurf unter Einbeziehung der Psychologie rekonstruiert und deren Status im Blick auf die anderen Disziplinen zureichend bestimmt wird.
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Virmond, Wolfgang: „Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805)“, in: Archivio di Filosofia 52 (1984), 225 – 232 —: „Schleiermachers Lektüre nach Auskunft seiner Tagebücher“, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. v. G. Meckenstock und J. Ringleben, Berlin und New York 1991, 71 – 99 —: „Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge“, in: New Athenaeum/Neues Athenaeum 3 (1992), 127 – 151 —: „Schleiermachers Reisen nach Salzburg“, in: Sommerreisen nach Salzburg im 19. Jahrhundert, hg. v. W. Morath, Salzburg 1998, 93 – 97 —: Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810 – 1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, Berlin 2011 Wagner, Falk: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974 Walch, Johann Georg: „Anthropologie“, in: Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775, Sp. 173 f. Warnke, Camilla: „Systemdenken und Dialektik in Schellings Naturphilosophie“, in: Dialektik und Systemdenken. Historische Aspekte, Berlin 1977, 99 – 146 Weiß, Bruno: „Untersuchungen über Friedrich Schleiermacher’s Dialektik“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 73 (1879), 1 – 31 und Anhang, 1 – 43; 74 (1879), 30 – 93; 75 (1879), 250 – 280; 76 (1880), 63 – 84 Weiß, Peter: „Einige Gesichtspunkte zur Problematik der Denkgrenze in den verschiedenen Entwürfen der Dialektik Schleiermachers“, in: Schleiermacher in Context, hg. v. R.D. Richardson, Lewiston u. a. 1991, 203 – 226 Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780 – 1914), Berlin und New York 1989 Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, hg. v. S. Matuschek, Heidelberg 2002 Wolf, Ursula: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Reinbek 1996 Wolff, Christian: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, hg. v. M. Albrecht, Hamburg 1985 Wunderlich, Falk: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin und New York 2005 Wundt, Max: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945 [Reprint Hildesheim 1992] Zovko, Jure: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990
Personenregister Adriaanse, H. J 109 Anzieu, D. 393 Albertini, J.B. 275 Anaxagoras 384 Aristoteles 39, 51, 57, 80, 119, 135, 184, 194, 203, 230, 263, 273, 275, 285, 287, 292 f., 371 Arndt, A. IX, 3, 20 f., 23 f., 39, 42 f., 68 f., 71, 77, 79, 81, 98, 102, 156, 162, 164, 166, 202, 215, 227, 242, 251 f., 255, 257, 263, 285, 300, 329, 339, 343 f., 354 Arndt, E.M. 348, 353 f. Arnim, A.v. 356 f. Ashley-Cooper, A., Earl of Shaftesbury 102, 104 f., 110 f., 113 Ast, F.267 f., 271, 289, 307 Bamberger, J.P. 51 Bamberger, A.C.V. 53 Barth, K. 18 Barth, U. 17, 23 Bauer, M. 39 Baum, M. 182, 193 Behler, E. 299 Behrens, F. 119 Beiser, F. 22 Benjamin, W. 393 Berger, J.E. von 220, 229 Berner, C. 304, 327 Bernhardi, F.A. 217 Beuys, J. 343, 358 Birkner, H.-J. 12, 137, 139, 148, 248 f., 258, 314 Birus, H. 267, 299, 327 Blumenbach, J.F. 131 Boeckh, A. 117 f., 123, 128 f., 131 – 136, 138, 265, 329 Böhler, D. 303 Boisserée, S. 360 Bollacher, M. 81 Bolz, N.W. 130 Börsch-Supan, H. 349 – 351 Böttiger, C.A. 360 Bowman, B. 111
Braun, O. 137, 139 Brentano, C. 356 f. Brinckmann, K.G. von 3, 10, 13, 33, 61, 69, 71, 82, 103, 112, 170, 184 f., 217, 240, 251, 265, 281, 289 Brunner, E. 18 Bruno, G. 90 Bubner, R. 81 Büsch, J.G. 119, 127 Busch, W. 348 Butler, J. 110 Carus, C.G. 360 Corsano, A. 379 Cramer, K. 70, 72, 242 f., 250 Delbrück, F. 76 Descartes, R. 77, 88 f., 91, 98 – 101 Dierkes, H. 338 f. Dilthey, W. X, 3, 36, 47, 52, 102, 165, 181 f., 229, 266, 301, 326 f., 329, 335, 363, 375 f., 380 Dinsmore, P.D. 79 Dittmer, J.M. 17 Domenico, N. de 208 Düsing, K. 85, 193, 196, 278, 337 Ebeling, G. 248 Eberhard, J.A. 4, 6, 51, 111 f., 263, 289, 382 Eckert, M. 92 Ellsiepen, C. 8, 242 Engel, J.J. 60 Engstler, A. 90 Eschenmayer, C.A. 383 Falcke, H. 150 Feßler, I.A. 32, 51 f. Feuerbach, L. 20, 98, 207 f., 211, 224, 259, 363, 366, 377 f. Fichte, J.G. 3, 8, 10 f., 13, 17, 21, 23, 28, 33, 37 f., 43 f., 60 ff., 68 f., 73, 80 – 82, 84, 90, 106, 110, 118, 126 f., 132, 134, 137 – 139, 143, 157, 183 – 185, 187, 190 – 193, 199, 214 f., 217 – 219, 221, 224, 228, 234,
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Personenregister
251, 253, 268 f., 281, 284 f., 324, 328, 367, 386 Flitner, W. 44 Fouquet-Plümacher, D. 349, 351 f. Frank, M. 3, 17 f., 20, 27, 38, 45, 145, 170, 302, 326 ff. Friedrich, C.D. 348 – 360 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 51 Fries, J.F. 216 Frommann,K.F.E. 266, 270 f. Fuhrmans, H. 143 Furchau, A.F. 353 Furth, P. 147, 154, 212 Gadamer, H.-G. 165, 273, 302, 326 – 330, 332, 335 Garve, C. 112, 119 Gaß, J.C. 183, 187, 216, 273, 390 George, L. 213, 380, 386 Geulincx, A. 77, 100 Geyer, O. 379 Goebel, L. 95 Goethe, J.W. von 68, 359 f. Gröll, J.3 79 Grondin, J. 301, 326 f. Groos, F. 76 Groot, N. 109 Grove, P. 3, 17, 23 f., 66, 71, 238, 241, 251, 256 – 258 Grunow, E. 5, 43 f. Guyer, P. 200 Habermas, J. 63 Hammacher, K. 90 Hardenberg, F.v. 8, 36, 42 – 50, 80, 143, 181, 199, 227 Harnack, A. von 88 Harscher, N. 138 Hartkopf, W. 186, 304 Härtl, H. 95 Haym, R. 36 Hegel, G.W.F. IX, 17, 20, 21, 24 – 28, 37, 40, 69, 74, 90, 107, 119, 143, 145 – 148, 150 f., 153 f., 163, 181, 189, 192 f., 198 – 201, 203 f., 208 – 232, 237, 239 – 241, 243 – 247, 253, 301, 339, 354, 363, 366, 378, 384
Heidegger, M. 71, 238, 302 Heindorf, L.F. 268 Heinrich, K. 74 f. Heinrici, C.F.G. 183, 191, 220, 229, 391 Helmer, C. 18 Hemsterhuis, F. 265 Henning, C. 71 Henrich, D. 22, 139 Heraklit 89, 138 Herder, J.G. 95 f. Hermann, K.F. 273 Herms, E. 12, 95, 140, 147, 205, 263, 315 f., 379, 382, 392 Herz, H. 4, 32 f., 35, 51, 53, 171, 173, 265, 275 Hinrichs, H.W.F. 226 Hinrichs, W. 303 Hoch, K.L. 349 f., 353 – 356 Hogrebe, W. 194 Hölderlin, F. 181, 244 Hörisch, J. 299 Hübener, W. 299 Hübner, I. 224 Hufnagel, E. 327 Hume, D. 110, 307 Hutcheson, F. 105, 111 Iber, C.
83
Jacobi, F.H. 7 f., 11, 13 f., 18, 22, 37, 51, 62, 65, 67 ff., 80, 86, 90, 110 f., 161, 168 f., 217 f., 227, 242, 251, 263, 284 Jaeschke, W. IX, 20, 22, 42, 166, 213, 215, 226, 241, 244 f. Jähnig, K.W. 350 Jakob, L.H. von 118 Jamme, C. 181, 243 f. Jensen, J.C. 356 f. Jonas, L. 17, 76 f., 109, 380 Kant, I. 3, 6 ff., 17, 20 – 28, 39 f., 42 f., 51, 56, 61, 66, 68, 71 – 73, 77, 80 f., 83 f., 86 ff., 95, 97 f., 104, 106, 110 – 113, 118, 121, 142, 158, 160, 162, 166 – 181, 184, 190, 193 – 196, 198 f., 215, 221 – 224, 229 – 231, 234, 236, 240 – 242, 251, 253,
Personenregister
255, 263, 269, 284, 307, 323 f., 329, 341, 351, 367, 369, 375, 382 ff., 386, 390 Kaweletz, L. 349, 352 Keller-Wentorf, C. 167 Kimmerle, H. 15, 147, 160, 199, 302 f., 345 Klaproth, M.H. 34 Kleist, H.v. 356 f. Kliebisch, U. 130, 393 Knigge, A. von 58, 60 Köhnke, K.-C. 20, 165, 224, 229 Konfuzius 240 f. Köpke, R. 137 Köpke, F.K. 235 Köppen, F. 217 Körner, C.G. 350 Körner, T. 350 Körner, J. 39 f., 194, 196, 267, 299, 323 Kosegarten, G.L.T. 353 Krämer, H.J. 85 Kranich, C. 18 Krapf, G.A. 273 Krug, W.T. 76, 289 Kuczynski, J. 119 Laks, A. 273 Lang, E. 379 Lankheit, K. 356 f., 360 Lefèvre, W. 202 Lehnerer, T. 73, 282 Leibniz, G.W. 4, 28, 34, 77, 95, 99, 224 Lenz, M. 183 Lessing, G.E. 68 Linné, C. von 131 Litt, T. 58 Luft, E. von der 27 Lücke, F. 216, 300, 306, 334 Lukács, G. 36 Lukrez 67 MacIntyre, A. 105 Mädler, I. 348 Maimon, S. 90 Malebranche, N. 77, 88, 92, 99 Mandeville, B. 105, 110 Mann, G. 182 Marheineke, P.K. 226 Marquard, O. 364, 367
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Marx, K. 56, 117 – 119, 145 ff., 154 Meckenstock, G. 79, 113, 168, 219, 263, 266 Meding, W. von 264 Mendelssohn, M. 80, 86, 336 Michel, W. 299 Mogens, H.H. 290 Moretto, G. 273 Moxter, M 19 f. Muhrbeck, F. 353 Mulert, H. 102 Müller, A. 143, 199 Müller, E. 9, 214, 215, 241 Naschert, G. 11, 38 Neschke, A. 273 Niethammer, F. 33 f. Nietzsche, F. 28, 224 Nohl, H. 52 Novalis -> siehe Hardenberg Nowak, K. 3, 43, 168 Nüsse, H. 299 Oberdorfer, B. 169, 382 Odebrecht, R. 182, 221 f., 302, 304 f., 310, 314, 329, 332, 348, 358 – 360 Oesch, M. 50 Oranje, L. 92 Patsch, H. 39, 118, 120, 19, 266 f., 271, 299, 317, 358 Pfenninger, J.K. 289 Platon 5, 14, 32, 34, 36, 39 f., 42, 53, 53, 72 f., 80 f., 84 – 87, 95, 97, 101, 103 f., 118, 182, 187 f., 194 – 196, 216 f., 229, 263 – 274, 275 – 278, 281, 282, 284 – 287, 289 – 294, 337, 363 Platz, C. 379 Pleger, W.H. 303, 393 Plehwe, L. von 351 Pohl, K. 273, 303, 309 Potepa, M. 303 Quapp, E.H.U. 80 Rambach, F.E. 52 Rehme-Iffert, B. 18, 38, 69, 288
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Personenregister
Reimer, G.A. 73, 138, 184, 218 f., 264, 271, 276, 348 – 354 Reinhold, C.L. 13, 37, 66, 284 f. Reuter, H.-R. 92, 182, 237 Riedel, M. 119, 203, 321 Rieger, R. 299 Ritter, H. 17, 77, 87 f. Rohbeck, J. 166 Rosenau, H. 170 Ruben, P. 119 f. Runge, O. 348, 359 Sack, F.S.G. 91 Sack, K.H. 91 Sans, G. 232 Saunier, H. 98 Savigny, F.C. von 329 Say, J.-B. 118 Schelling, F.W.J. 13, 17, 21, 24, 27 f., 32, 37, 72, 81 – 84, 90, 96, 119, 125, 132, 143, 182, 184 f., 187 – 196, 199, 215, 217 f., 224, 227 f., 236 f., 241, 253, 268 f., 278, 281, 317, 383, 385 Schildener, C. 353 Schiller, F. von 58 – 61 Schlegel, A.W. 4, 31, 34, 51 f., 103, 143, 193 f., 215, 217 f., 227, 283, 358 f., 367, 382 Schlegel, C. 35 Schlegel, D. 51, 143, 336 Schlegel, F. IX, 4 f., 8, 10 f., 21, 24, 31 – 41, 43 f., 51 f., 54, 68 f., 71 f., 80 – 82, 85, 103, 143, 155, 162 f., 171, 193 – 197, 199, 209, 218, 227, 236, 242, 251, 263, 265 – 273, 275 f., 282 – 285, 288 f., 299, 307, 317, 323 f., 336 – 339, 343, 356, 367, 382 Schleiermacher, C. 33 f., 53, 336 Schmidt, P.W. 79 f. Schmidt, S. 8, 17 f., 24 Schneider 138 Schneider, H. 181 Schnur, H. 299 Scholtz, G. 79 f., 95, 165, 182, 192, 215, 222, 229, 273, 277, 291, 299, 303, 314, 316 – 318, 322, 330, 358, 380, 392 Scholz, O.R. 299 Schopenhauer, A. 28, 224
Schrader, F.E. 119 Schulze, G.E. 111 Schulze, K.H. 354 Schwarz, F.H.C. 11, 21, 37, 82, 185, 281 Schwarz, T. 353 Seibert, D. 169 Shaftesbury -> siehe Ashley-Cooper Siegmund-Schultze, F.W. 379 Sigwart, C.v.79, 380 Smith, A.106 f., 118 f., 126 Sokrates 86, 22, 241, 275, 277 f., 280, 285 – 295, 337 Sommer, W. 43 f. Sorrentino, S. 255 Spalding, G.L.112 Spalding, J.J. 102, 111 f. Spiegel, Y. 150 Spinoza, B. de 3, 4, 7 – 9, 22, 24, 42 f., 51, 64 f., 67 – 73, 76 – 92, 95 – 101, 103 f., 120, 148, 167 – 169, 188, 221, 241 – 244, 250 f., 254 f., 263, 269, 274, 284 Stallbaum, G. 273, 291 Steffens, H. 125, 186, 191, 203, 383 Steinthal, H. 326, 329 Stern, L. 139 Steuart, J. 119, 127 Stirner, M. 207, 211 Stone, I.F. 291 Stubenrauch, S.E.T. 4 Süskind, H. 125 Szondi, P. 326 Tennemann, W.G. 288 Theunissen, M. 20, 145 Thiel, J.E. 92 Tholen, T. 284 Thomasius, C. 60 Tice, T.N. 379 Tieck, L. 348, 354 f., 359 Timm, H. 43 Tönnies, F. 57 f. Trendelenburg, A. 20, 165, 224 Troeltsch, E. 18 Twesten, A. 40, 165, 183, 191, 203, 219 – 221, 228 f., 331
Personenregister
Überweg, F. 198, 233 Unger, R. 32 Varnhagen von Ense, K.A. 138 – 141, 187, 191 Vico, G. 145 Virmond, W. 77, 164, 215, 226 f., 252, 272, 291, 300, 344, 350, 352, 354, 358, 379 Wagner, F. 92, 182, 235 Walch, J.G. 367 Warnke, C. 119 f. Weiß, B. 182, 221 Weiß, P. 15 Wette, W.M.L. de 215 f. Wilhelmy, P. 59
Willich, E. von 14, 81, 184, Willich, H. 351 Wolf, F.A. 137, 267 Wolf, U. 286 Wolff, C. 173, 240, 382 Wunderlich, F. 173 Wundt, M. 60 Xenokrates 291 Xenophon 285, 289 – 292 Yorck von Wartenburg, P. 301 Zasulič, V. 147 Zovko, J. 24, 85, 299
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