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German Pages 59 [60] Year 1968
Religion des konkreten Geistes Friedrich Schleiermacher und Paul Tillich
RELIGION DES KONKRETEN GEISTES Friedrich
Schleiermacher
Vorlesung von Paul Tillidi
Schleiermacher
und Tillich
Essay von Ingeborg C. Henel
EVANGELISCHES VERLAGSWERK STUTTGART
Die deutsche Übersetzung der Vorlesung von Paul Tillich besorgte Dr. Ingeborg C. Henel Vorabdruck aus Paul Tillidi „Gesammelte Werke" Amerikanisches Original in "Perspectives on the 19 t h and 20 th Century" Harper & Row, N. Y. 1967
1 . Auflage Erschienen 1968 im Evangelischen Verlagswerk GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Union Druckerei GmbH Stuttgart
FRIEDRICH
SCHLEIERMACHER
Vorlesung von PAUL T I L L I C H
VORBEMERKUNG
Der vorliegende Aufsatz über Schleiermacher stammt aus einer Vorlesungsreihe über die protestantische Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, die nach einer Tonbandaufzeichnung unter dem Titel „Perspectives on igth and 2o,h Century Protestant Theology" posthum von Carl E. Braaten veröffentlicht wurde (Harper and Row, New York, 1967). Da diese Vorlesungen ohne ausgeschriebenes Manuskript gehalten wurden, finden sich in ihnen zwangsläufig Wiederholungen und Abschweifungen. Überdies waren sie für Studenten bestimmt, die wenig mit der europäischen Geistesgeschichte vertraut waren, so daß Erklärungen erforderlich waren, derer eine entsprechende deutsche Leserschaft kaum bedarf. In allen diesen Fällen hat die Übersetzerin gekürzt, wozu sie sich berechtigt fühlte in Erinnerung an einen Ausspruch Tillichs, daß nicht alles gedruckt werden dürfe, was man in einer Vorlesung zur Ermunterung der Studenten sage. Der Höhepunkt der in diesen Vorlesungen beschriebenen Entwicklung liegt in dem, was Tillich „die große Synthese" nennt, nämlich die Synthese von Spinoza und Kant, die Schleiermacher für die Theologie und Hegel für die Philosophie vollzogen haben. Spinoza steht bei Tillich für die mystische Tradition oder, wie Tillich es hier nennt, für das Identitätsprinzip, in dem der Unterschied von Gott und Welt, Subjekt und Objekt überwunden ist. Kant dagegen als der Vollender und Überwinder der Aufklärung repräsentiert das Prinzip der Differenz, des Abstandes: Die endliche Vernunft des Menschen ist angelegt, nur das Endliche zu erkennen; es gibt keinen Zugang durch die Vernunft zum Transzendenten; der Mensch erfährt es nur im kategorischen Imperativ. Es handelt sich also um eine Synthese von Identität und Differenz, von Partizipation am Göttlichen und Getrenntsein von ihm, von Abhängigkeit und Freiheit oder, wie Tillich die Synthese bei Schelling nannte, von Mystik und Schuldbewußtsein.
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Die Vorlesung über Schleiermacher bricht ziemlich unvermittelt ab, ohne daß Tillich noch einmal auf die Synthese zu sprechen kommt. Gleichwohl kommt er im letzten Absatz auf den mystischen Zug im Denken Schleiermachers zurück, und da er vorher das Kantische Element und sogar den Einfluß der Aufklärung (in der Idee der Perfektibilität) behandelt hat, wird auf diese Art das Gleichgewicht zwischen den beiden Polen der Synthese hergestellt. Ingeborg C. Henel
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bchleiermacher repräsentiert, was ich die große Synthese in der Theologie nenne. Auf ihr beruht die ganze spätere protestantische Theologie, einschließlich ihrer Verirrungen. Aber schließlich gibt es nur eine Alternative zu einem Leben mit Irrtümern, nämlich Leblosigkeit ohne Irrtümer. Schleiermacher gilt in der Theologie als der Überwinder der Aufklärung. Aber er hat die philosophischen Gedanken der Aufklärung nicht bestritten, sondern hat versucht, sie auf einer anderen Ebene zu überwinden. So hat er beispielsweise behauptet, daß ein echter Philosoph auch ein echter Gläubiger sein kann. Er konnte Frömmigkeit und Philosophie in sich vereinen, wenngleich seine Frömmigkeit, die auf seine frühe Zugehörigkeit zu der Brüdergemeine zurückgeht, nicht unterschätzt werden darf. Aber sie hinderte ihn nicht, in die Tiefen der Philosophie einzudringen, oder, um seine eigenen Worte zu gebrauchen: seine tiefsten philosophischen Ideen sind völlig identisch mit seinen innersten religiösen Gefühlen. Wenn wir Schleiermacher den Überwinder der Aufklärung nennen, so besagt das also nicht, daß er die Theologie von der Philosophie trennte, die Philosophie verachtete oder aus dem Unternehmen der Theologie ausschloß. Die Aufklärung hatte aus der Religion ein Wissen von Gott in Form von Beweisen für die Existenz Gottes gemacht, oder genauer: Theologie war zu natürlicher Theologie und zu Morallehre abgesunken. Die moralische Seite steht noch bei Kant im Vordergrund; seine Religionsphilosophie ist ein bloßer Anhang zu seiner Ethik und ist durch seine praktische Philosophie bestimmt. Die Religion ist bei ihm ein bloßes Mittel zur Erfüllung des moralischen Imperativs. Die Überzeugung der natürlichen Theologie, daß wir Gott mit der Vernunft erkennen kön9
nen, war noch ein Element in Hegels großer, umfassender Synthese, das schließlich zu ihrer Auflösung beitrug. Das Prinzip, auf dem die Theologie der Aufklärung beruhte, war das der Trennung von Gott und Welt, Gott und Mensch, ein Prinzip, das bereits vom englischen Deismus des frühen 18. Jahrhunderts vorweggenommen war. Die deistische Religionsphilosophie, d. h. die natürliche Theologie, behauptete zwar die Existenz Gottes, räumte ihm aber lediglich eine Stellung ein, von der aus er nicht in die bürgerliche Gesellschaftsordnung eingreifen konnte. Ohne diese Voraussetzung hätte sie die Existenz Gottes nicht zugeben können. Gott wurde als der Schöpfer der Welt anerkannt, aber in der Art eines Uhrmachers, dessen Werk, einmal vollbracht, von selbst läuft ohne Eingreifen des Schöpfers. Der Mensch, d. h. der intellektuelle Vertreter des Handel treibenden Bürgerstandes, sah sich auf seine eigene Vernunft angewiesen, und das bedeutete vor allem seine berechnende Vernunft. Dieser berechnenden und kritischen Vernunft wurde auch die christliche Tradition ausgesetzt, die schon vor Rousseau und Voltaire vom englischen Deismus kritisiert worden war. Erst Hume räumte auf Grund seiner positivistischen Haltung der Religion in Form der bestehenden Kirche ihr Recht neben der kritischen Vernunft ein; und so nebeneinander blieben sie in England bestehen, ohne kaum je miteinander in Berührung zu kommen. Die Deisten wurden in England von der Aristokratie und dem höheren Bürgertum als vulgär betrachtet. Es gilt noch heute in England als vulgär, die Religion im Namen der Vernunft zu kritisieren. Sie wird als das positiv Gegebene betrachtet und darf vielleicht soziologisch analysiert, nicht aber kritisiert werden. Die Folge einer solchen Haltung war, daß man Deisten wie Toland und Tindal vorwarf, daß sie auf einer niedrigeren Ebene der Vernunft, der einer ausgearteten Vernunft, argumentierten. Ausge-
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artet waren sie nun in der Tat. Der Titel eines ihrer Bücher hieß: Christianity not mysterious (1696, Das Christentum ohne Mysterium), das das Christentum aller übernatürlichen und wunderbaren Elemente entkleidete. Die Deisten übten Kritik an der Bibel, sie waren Vorläufer der historischen Kritik und kamen zu Ergebnissen, die vieles von dem vorwegnahmen, was später die moderne historisch-kritische Theologie entdeckte. Reimarus beispielsweise, dessen Fragmente von Lessing veröffentlicht wurden, war vom englischen Deismus abhängig; seine Ideen verursachten eine Revolution in der Beurteilung der biblischen Quellen in Deutschland. Auch Voltaire und die französischen Aufklärer stützten sich auf die englischen Deisten, und noch Schleiermacher steht in ihrer Tradition, wenn er sich auf die typischen Vertreter der Aufklärung beruft, was er häufig tut. Aber er steht zugleich in einer anderen Tradition, nämlich derjenigen, die sich von Spinoza herleitet. Das Prinzip, demgemäß Gott neben der Welt steht, wird sowohl von den konsequenten Rationalisten wie von den Supranaturalisten vertreten, mit dem Unterschied, daß erstere der Überzeugung sind, Gott greife überhaupt nicht in die Angelegenheiten der Welt ein, letztere, er greife nur gelegentlich ein. Dagegen steht die Idee vom deus sive natura, die von Johannes Scotus Erigena ausgeht, dem großen Theologen des 9. Jahrhunderts, der der mittelalterlichen Theologie mystisches Gedankengut vermittelte. Dieses Prinzip bildete die eigentliche Antithese zur Aufklärung und wurde von der Romantik als Identität von Endlichem und Unendlichem, ihrem wechselseitigen Ineinander, übernommen. Die Philosophie des Spinoza wurde in der Zeit der Romantik in modifizierter Form wieder aufgenommen: es war nicht mehr die Philosophie more geometrico. Spinoza hatte sich in seiner Behandlung der Metaphysik
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und der Ethik einer Methode bedient, die sich an die damals allmächtige Mathematik anlehnte, und hatte die Welt zu einem in geometrischen Begriffen beschreibbaren Ganzen gemacht. Auf diese Art schuf er eine äußerst statische Vorstellung von der Welt und ihrem göttlichen Grund, den er als,, Substanz" bezeichnete. Alles Bestehende ist nach ihm ein Modus der einen Substanz, sie ist die Identität von Räumlichkeit und Bewußtsein. Spinozas Philosophie beruht auf dem Identitätsprinzip im Gegensatz zu dem Prinzip des Abstandes und der Dualität, das in der Aufklärung herrschte. Nach Spinoza ist Gott im Hier und Jetzt gegenwärtig, er ist die Tiefe alles Seienden. Aber er ist nicht die Summe alles Seienden, wie man den Pantheismus häufig mißverstanden hat. Niemand hat jemals eine solch unsinnige Behauptung aufgestellt. Wenn man „Pantheismus" so versteht, sollte man den Begriff lieber aufgeben. Wenn er einen Sinn hat, so kann er nur bedeuten, daß die Macht des Göttlichen in allem Seienden gegenwärtig ist, daß Gott der Grund und die Einheit alles Seienden ist, nicht die Summe alles Partikularen. Das Wort „Pantheismus" ist recht eigentlich irreführend, und ich wollte, daß diejenigen, die Luther und Nikolaus von Kues, Schelling und Hegel, oder Nietzsche und mich des Pantheismus anklagen, den Begriff zuerst definierten, bevor sie ihn gebrauchen. Aber sie beschuldigen jeden, der kein supranaturalistischer Deist oder Theist ist und der das Prinzip der Identität vertritt, des Pantheismus. Das Identitätsprinzip bedeutet, daß Gott der schöpferische Grund alles Seienden ist; es steht im Gegensatz zu dem Prinzip der Dualität und gab Schleiermacher die Möglichkeit, eine neue Definition der Religion zu finden. Diese brachte er zum ersten Mal in seinen berühmten Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern zum Ausdruck, einer apologetischen Theologie im wahrsten Sinne des Wortes. „Apologetisch" be-
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deutet antwortend, und jede Theologie hat die Aufgabe, die Fragen, die sich aus der jeweiligen Situation ihrer Zeit ergeben, irgendwie zu beantworten — eine Aufgabe, die sie nicht vernachlässigen darf. Die christliche Theologie hat sich aus der Notwendigkeit entwickelt, daß die Kirche im römischen Reich gezwungen war, eine politische Antwort auf die Christenverfolgungen durch die Heiden und eine theologische Antwort auf die Kritik am Christentum durch die Philosophie zu finden. So wurde sie zu einer antwortenden Theologie, und die Apologeten, die im zweiten Jahrhundert eine besondere theologische Schule bildeten, repräsentieren weit mehr als eine partikulare Schule, nämlich den antwortenden Charakter der gesamten christlichen Theologie bis hin zu Augustin. Auch Schleiermacher vertritt diesen Typ der Theologie; er hört auf die „Verächter der Religion" und gibt ihnen eine Antwort. Aus dieser apologetischen Theologie ergeben sich dann neue Möglichkeiten für die Systematik. In seinen Reden argumentiert er in folgender Weise: Die theoretische Erkenntnis, die der Deismus vertritt, gleich ob er rationalistisch oder supranaturalistisch ist, und der moralische Gehorsam, den Kant postuliert, setzen eine Trennung von Subjekt und Objekt voraus. Hier bin ich, das Subjekt, und dort ist Gott, das Objekt; er ist für mich Objekt, und ich bin es für ihn. Zwischen beiden herrscht Abstand, Trennung. Aber in der Macht des Identitätsprinzips muß diese Trennung überwunden werden. Die Identität ist in uns gegenwärtig. Aber nun macht Schleiermacher einen großen Fehler: er nennt die Erfahrung dieser Identität „Gefühl". Religion ist weder theoretische Erkenntnis noch moralisches Handeln, sondern Gefühl, nämlich „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit". Das ist ein sehr zweifelhafter Ausdruck, denn er gab den Psychologisten geradezu den Anstoß, Schleiermachers „Gefühl" als eine psychologische Funktion zu verstehen. 13
Schleiermacher indes verstand unter Gefühl keine subjektive Gemütserregung, sondern den Eindruck des Universums auf uns in der Tiefe unseres Seins, in dem Subjekt und Objekt transzendiert sind. Deshalb konnte er statt Gefühl für das Universum auch „Anschauung des Universums" sagen und diese Anschauung als „Divination" beschreiben. Divination bedeutet das unmittelbare Bewußtsein vom Göttlichen, das unmittelbare Bewußtsein von etwas, das Subjekt und Objekt transzendiert, von dem Grund alles Seienden in uns. Es ist bedauerlich, daß ein Mann wie Hegel die Bezeichnung „Gefühl" mißverstanden hat, denn beide, Hegel und Schleiermacher, waren Schüler Schellings und wußten also, was das Identitätsprinzip bedeutet. Aber Hegel und Schleiermacher, die beide an der Universität Berlin lehrten, konnten einander nicht leiden, und so hat Hegel getan, was deutsche Philosophen und Theologen so oft tun: er hat den Gedanken seines Gegners im ungünstigsten Sinn, in pejorem partem, interpretiert. Der beste Beweis dafür, daß Schleiermacher unter „Gefühl" keine subjektive Empfindung verstand, ist die Tatsache, daß er in seiner Systematik, der Glaubenslehre, den Ausdruck „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" gebraucht. In dem Augenblick, in dem er Gefühl mit schlechthinniger oder unbedingter Abhängigkeit verband, transzendierte er das Psychologische. Jede Art von Gefühl im psychologischen Sinn ist nämlich bedingt; es ist ein in dauernder Veränderung begriffener Strom von Empfindungen, Gedanken, Willensregungen und Erfahrungen. Demgegenüber ist das Element des Unbedingten etwas von subjektivem Gefühl völlig Verschiedenes. Es ist also ganz deutlich, daß das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" nicht dasselbe ist wie das subjektive Gefühl des Individuums, und daß Hegels Kritik unberechtigt war. 14
Dieses Mißverständnis hatte unglückliche Folgen für die deutschen Kirchen. Wenn Religion als Gefühl ausgelegt und gepredigt wird und nicht als eine Angelegenheit klarer Erkenntnis und moralischen Verhaltens, bleiben die Männer dem Gottesdienst fern. Das habe ich selbst erlebt. Religion als Gefühl war ohne Bedeutung für die männlichen Glieder der Kirche und für die Jugend, die klares Denken und moralisches Gewicht von der Predigt verlangten. Als die Religion ausschließlich zu einer Angelegenheit des Gefühls wurde und der Gottesdienst durch sentimentale Lieder, die an Stelle der großen alten Kirchenlieder traten, verwässert wurde, verlor die Bevölkerung das Interesse an der Kirche. Audi in Amerika hatte Schleiermachers Bezeichnung der Religion als Gefühl bedauerliche Wirkungen. Wenn ich mit anti-theologisch eingestellten Kollegen über Theologie spreche, sind sie immer froh, wenn sie einen Theologen zitieren können, der die Religion in das dunkle Reich des Gefühls verbannt; dort ist die Religion nicht mehr gefährlich. Man kann seine wissenschaftlichen und politischen Aufgaben, seine ethischen und logischen Analysen verfolgen ohne Rücksicht auf die Religion, und die Kirche kann ruhig daneben bestehen bleiben. Man braucht sie nicht ernst zu nehmen, denn sie hat es ja nur mit subjektiven Gefühlen zu tun. Menschen, für die das wichtig ist, können in die Kirche gehen, aber den Gelehrten geht sie nichts an. In dem Augenblick jedoch, in dem diesen Menschen eine Theologie entgegentritt, die — nicht von außen, sondern von innen — in ihr Leben, in die Wissenschaft, die Politik und die Ethik eingreift und die zu zeigen versucht, daß es auf allen Gebieten um ein letztes Anliegen geht, wie ich es nenne, oder um eine schlechthinnige Abhängigkeit, wie Schleiermacher es nannte, dann setzen diese Menschen sich zur Wehr und versuchen, die Religion wieder in die Sphäre des Gefühls 15
zurückzutreiben. Wenn die Theologie oder die Religion ihnen das erlaubt, dann tut sie sich selbst einen schlechten Dienst. Das Gefühlsmoment 1 kann aus keiner Erfahrung, die die ganze Person einbezieht, ausgeschlossen sein; das gilt für die Religion noch mehr als für andere Gebiete. Sicher ist eine immittelbare Reaktion unserer gesamten Person — so könnte man wohl „Gefühl" definieren — mit einem ernsten Gebet, mit der Andacht einer Gemeinde oder mit dem Vernehmen eines prophetischen Wortes verbunden. Dieses emotionale Moment ist in allen derartigen Erfahrungen vorhanden. Wir wollen ein Beispiel aus der Kunst nehmen. Ein Gemälde, das wir in einem Museum sehen, ergreift uns tief, es bewegt uns, wir leben in ihm. Wenn man behaupten wollte, diese Erfahrung sei nur ein Gefühl, würden wir es bestreiten. Wäre sie nur Gefühl, so würde ihr die besondere Qualität fehlen, die gerade durch dieses Gemälde ausgelöst wird. In dem Augenblick der gefühlsmäßigen Ergriffenheit erfahre ich eine Dimension der Wirklichkeit, die mir auf keine andere Art zugänglich ist, und eine Dimension in mir selbst, die durch nichts als dieses Gemälde erschlossen wird. Dasselbe kann man von der Musik sagen. Man hat oft gesagt, daß die Musik der Sphäre des Gefühls angehöre. Das ist richtig, aber es ist eine ganz besondere Art von Gefühl, die in Beziehung steht zu der besonderen Art von Tonfolgen, die die Musik erst zum Kunstwerk macht. Auch hier wird uns eine Dimension des Seins, unser eigenes Sein eingeschlossen, offenbart, die uns ohne die Wirkung der Musik verschlossen bliebe. Obwohl in jeder Erfahrung ein Gefühlsmoment enthalten ist, kann man nicht sagen, daß eine bestimmte Erfahrung lediglich Gefühl sei. Denken wir i Die beiden folgenden Absätze sind der Antwort auf eine der Fragen entnommen, die die Studenten einreichen durften und auf die Tillidi zu Beginn der nächsten Vorlesung einging.
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nur an die Erfahrung der Liebe. Man kann nicht behaupten, Liebe sei Gefühl und sonst nichts. Liebe enthält ein Moment des Gefühls, und sogar ein sehr starkes, aber sie ist nicht Gefühl. Sie ist — wie ich sagen möchte — die Wiedervereinigung getrennter Wesen, die essentiell zueinander gehören. Diese Erfahrung ist nicht dasselbe wie die subjektive Reaktion, die wir Gefühl nennen. Was Schleiermacher „schlechthinnige Abhängigkeit" nennt, ist zweifellos mit einem starken Gefühlsmoment verbunden. Dieses hat Rudolf Otto in seinem Buch Das Heilige als ein Kontrast-Gefühl beschrieben, nämlich als das Gefühl zugleich von Faszination (faszinosum) und Schauder (tremendum). Dieses Kontrast-Gefühl ist im Religiösen vorhanden, aber es konstituiert es nicht. Es ist die Erfahrung des Unbedingten im religiösen Akt, die diesen Akt zu einem religiösen Akt macht; es ist das, was ich gewöhnlich „unbedingtes Anliegen" nenne. Dies ist auch ein Anliegen unseres Verstandes, denn es läßt uns nach seiner Wahrheit fragen, und es ist auch ein Anliegen unseres Willens, denn es treibt uns zum Handeln. Es verändert unser ganzes Sein; alle Dimensionen sind betroffen. Wenn es ein bloßes Gefühl wäre, dann handelte es sich um ein ästhetisches Vergnügen ohne innere Partizipation. Schleiermacher ist häufig in diesem Sinne mißverstanden worden, aber das ist nicht der wahre Schleiermacher. — Indem ich die Frage über Schleiermacher beantwortete, habe ich zugleich etwas über mich und meine Theologie ausgesagt, denn ich glaube, daß seine „schlechthinnige Abhängigkeit" nur ein etwas engerer Begriff für das ist, was ich „unbedingtes oder letztes Anliegen" nenne. Dieser Begriff betont nicht wie der von Schleiermacher das Element der Abhängigkeit, aber auch er versucht, das Subjekt-Objekt-Schema zu transzendieren. Er enthält die gleichen Grundmotive und ist Ausdruck für eine totale Erfahrung, die Erfahrung des Heili-
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gen. Es besteht kein dogmatischer Unterschied, sondern hauptsächlich ein Unterschied des Begriffsumfangs zwischen „letztem Anliegen" und „schlechthinniger Abhängigkeit". Schleiermacher hat sich nicht genügend gegen das Mißverständnis gesichert, daß das von ihm gemeinte Gefühl nichts anderes ist, als was Freud das „ozeanische Gefühl" nannte, d.h. das Gefühl des Unbestimmten. Es gibt jedoch noch einen weiteren Punkt, der es ganz deutlich macht, daß er etwas anderes darunter verstand: Schleiermacher unterscheidet nämlich zwischen zwei Arten der schlechthinnigen Abhängigkeit: die eine ist kausal, d.h. eine Abhängigkeit wie die des Kindes von der Mutter; die andere ist teleologisch, d.h. auf ein Ziel gerichtet, nämlich auf die Erfüllung des moralischen Imperativs. Schleiermacher rechnet nun das Christentum zu dem Typ des teleologischen Abhängigkeitsgefühls und nicht zu dem ontologischen Typ der mystischen Religionen Asiens. Die teleologische Abhängigkeit hat den unbedingten Charakter des moralischen Imperativs. Im Christentum sind zwar beide Elemente vorhanden, aber nach Schleiermacher ist das teleologisch-moralische Element das vorherrschende. Hier wird der Einfluß Kants sichtbar, und es zeigt sich so nodi deutlicher, wie unberechtigt es ist, Schleiermachers „Gefühl" als unbestimmt zu bezeichnen. Es ist in seinem moralischen Sinn sehr bestimmt, und auch bestimmt in seinem mystischen Sinn. Es ist kein subjektives ozeanisches Gefühl. Das Wesen der religiösen Erfahrung ist das Gefühl für die Gegenwart eines Unbedingten, ein Gefühl, das jenseits unseres Wissens und Handelns liegt. Diese Erfahrung enthält auch ein emotionales Element wie alles, was die ganze Person betrifft, aber das Emotionale bestimmt nicht den Charakter der Religion. Auf dieser Grundlage glaubte Schleiermacher auch den Konflikt zwischen Aufklärung und Orthodoxie oder zwi-
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sehen Rationalismus und Supranaturalismus (einer modifizierten Orthodoxie) lösen zu können. Von dem neuen Gesichtspunkt aus betrachtet, irren beide Seiten. Der Supranaturalismus ist im Unrecht, weil wundertätige Eingriffe Gottes, besondere Eingebungen und Offenbarungen auf einer niedrigeren Stufe stehen als die wirklich religiöse Erfahrung. Es sind objektive Ereignisse, die von außen betrachtet werden können und über die man streiten kann, aber Religion ist Unmittelbarkeit, eine unmittelbare Beziehung zum Göttlichen. Solche äußeren, objektiven Ereignisse sind ohne Bedeutung für die Grunderfahrung schlechthinniger Abhängigkeit oder die Divination des Göttlichen im Universum. Folglich sind auch alle autoritären Bezeugungen solcher übernatürlichen Eingriffe überflüssig. Jede Art von Autorität, gleich ob biblisch oder kirchlich, die Behauptungen über solche göttlichen Eingriffe aufstellt, muß beseitigt werden. Damit ist die Wissenschaft vor Übergriffen der Religion sichergestellt; die supranaturalistische Suspendierung von Naturgesetzen zugunsten von Wundern bricht völlig in sich zusammen. Und noch andere Ideen brechen auf dieser Grundlage zusammen: die Idee von einer existierenden Person, „Gott" genannt, und die Idee von einer Fortsetzung des persönlichen Lebens nach dem Tode, die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele. Diese ganze supranaturalistische Tradition lehnte Schleiermacher in seinen Reden ab. In welcher Weise er das Wesen der christlichen Tradition in der Glaubenslehre neu formulierte, werden wir noch sehen. Die erste radikale und fundamentale apologetische Behauptung, die Schleiermacher aufstellt, ist folgende: Die Einheit mit Gott, die Partizipation am Göttlichen, ist nicht Sache eines unsterblichen Lebens nach dem Tode; sie setzt nicht die Annahme eines himmlischen Gesetzgebers 19
voraus; sondern sie ist Partizipation am ewigen Leben hier und jetzt. Hier folgt Schleiermacher dem Vierten Evangelium, das die klassischen deutschen Philosophen das wahre Evangelium nannten — nicht weil sie glaubten, daß es gegenüber den Synoptikern historisch zuverlässigere Berichte über Jesus enthalte, sondern weil es nach ihrer Auffassung Prinzipien am nächsten kommt, die den Konflikt zwischen Rationalismus und Supranaturalismus lösen können. Einer der Hauptpunkte, die sie betonten, war die Idee, daß das ewige Leben hier und jetzt ist und nicht erst ein Leben nach dem Tode darstellt. Es ist die Partizipation an der Ewigkeit vor der Zeit, in der Zeit und nach der Zeit, und das heißt auch jenseits derZeit. Die gleiche Kritik richtet sich gegen alle Vermittler zwischen Gott und Mensch. Das Identitätsprinzip wie alle Mystik waren von jeher eine besondere Bedrohung für hierarchische Systeme und für die priesterliche Vermittlung zwischen Gott und Mensch. Dies gilt gleichermaßen für Katholizismus wie Protestantismus. Die protestantischen Kirchen waren den mystischen Religionsgrappen, beispielsweise den Quäkern, die in gewisser Weise das Identitätsprinzip vertreten, ebenso feindlich gesinnt wie die römisch-katholische Kirche. Beide verdächtigten die mystischen Religionen, weil diese eine unmittelbare Verbindung mit Gott für möglich hielten, die der Vermittlung durch die Kirche nicht bedurfte. Dies war auch die Haltung Schleiermachers gegen Priester und kirchliche Autorität: er hielt sie für überflüssig, da jeder Mensch zum Priester berufen ist und vom göttlichen Geist ergriffen werden kann. Aus diesem Grund ist der Widerstand der Kirche gegen alle schwärmerischen Bewegungen verständlich, die glaubten, daß das Individuum einen unmittelbaren Zugang zu Gott habe und vom göttlichen Geist selbst inspiriert werden kann. Und es erklärt auch, warum der Geist selbst, wo er erschien, dem Kriterium 20
des biblischen Buchstabens unterworfen wurde. Die Reformatoren, die am Anfang in der Kraft des göttlichen Geistes gegen die römische Kirche gekämpft hatten, stießen bald selber auf Schwierigkeiten in ihrem Kampf gegen die schwärmerischen Bewegungen der Reformationszeit. Es war ein Glück, daß es Länder gab wie Großbritannien, Holland und Amerika, in die sich die Vertreter dieser Bewegungen vor den strengen Verfolgungen beider Kirchen retten konnten. Anstatt die Religion als etwas zu betrachten, was durch die Kirche vermittelt wird, verglich sie Schleiermacher mit der Musik, die alle einzelnen Melodien des Lebens begleitet. Mit dieser Metapher beschreibt er die Gegenwart des religiösen, des letzten Anliegens in jedem Augenblick unseres Lebens. Dies ist die typische idealistische Antizipation des ewigen Lebens, in dem es keine Religion mehr gibt, sondern Gott in allem gegenwärtig ist. Schleiermacher spricht hier von dem Idealzustand, der im Neuen Testament mit dem Begriff „Beten ohne Unterlaß" umschrieben ist. Diesen Ausdruck wörtlich zu nehmen, wäre unsinnig. Aber richtig verstanden, hat er einen tiefen Sinn. Er besagt, daß jeder Augenblick unseres profanen Lebens erfüllt ist von der göttlichen Gegenwart, und daß diese nicht auf den sonntäglichen Gottesdienst beschränkt ist und im übrigen vergessen werden kann. Um die Gegenwart des Göttlichen im Universum finden zu können wie Pythagoras, der von der Harmonie der Sphären sprach, in der jede Sphäre, indem sie ihre eigene Melodie verfolgt, zur symphonischen Harmonie des Kosmos beiträgt, müssen wir die göttliche Gegenwart zuerst in uns selbst finden. Der Mensch als einzigartiger Spiegel des Universums ist der Schlüssel zum Universum. Ohne das Unendliche in uns selbst könnten wir das Unendliche im Universum nicht verstehen. Das Zentrum des Universums und unserer selbst ist göttlich, und da das Unend21
liehe in uns selbst gegenwärtig ist, können wir es in dem Universum wiedererkennen. Und was ist der Schlüssel zu dem Unendlichen in uns selbst? Schleiermacher sagt, daß es die Liebe sei, aber nicht die Liebe im christlichen Sinn, die agape, sondern die Liebe im platonischen Sinn, der eros. Eros ist die Liebe, die uns mit dem Wahren, Guten, Schönen vereinigt und uns über das Endliche hinaus zum Unendlichen treibt. Die verschiedenen Perioden der Menschheitsgeschichte drücken diese Begegnung des Unendlichen in uns mit dem Unendlichen im Universum in verschiedenen Bildern aus. Aus der Einmaligkeit jedes Individuums und jeder Periode ergibt sich die Notwendigkeit einer Vielheit von Religionen und von Unterschieden innerhalb derselben religiösen Tradition zu verschiedenen Zeiten der Geschichte. Sie sind das Ergebnis der Tatsache, daß sich das Unendliche in uns und im Universum in immer wieder anderer Weise spiegelt. Diese romantische Anschauung brachte Schleiermacher dazu, die Konkretheit der historischen Religionen hervorzuheben. Damit ging er entschieden über die Aufklärung und die natürliche Religion hinaus, die alle Religionen auf drei Prinzipien reduziert hatten: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Der Deismus, gleich ob rationalistisch oder supranaturalistisch, wurde durch die Wiederentdeckung des Reichtums, der Konkretheit und der Fülle der partikularen Religionen überwunden. Mit dem Prinzip der Immanenz des Unendlichen im Endlichen ging Schleiermacher über das naturalistische, rationalistische und supranaturalistische Denken hinaus, das aus den konkreten Religionen gewisse Prinzipien abstrahiert hatte, die für alle Religionen gelten sollten und alles Konkrete in ihnen auslöschten. Ohne die positive Bewertung der Individualität in der Renaissance und ohne die Betonung der ekstatischen Intuition in der Romantik hätte das religiöse Denken nicht 22
wieder zu den positiven, d. h. historisch gegebenen Religionen zurückfinden können; denn die gesamte Aufklärung hatte den Wert der positiven Religionen geleugnet und nur abstrakte religiöse Prinzipien gelten lassen. Von der Wiederentdeckung der konkreten, positiven Religionen ging Schleiermacher dann weiter zu der Betonung eines positiven Christentums. Seine Reden über die Religion (1799) hatten solchen Erfolg, daß er sich in dem Vorwort zur dritten Auflage (1821) nicht mehr gegen die aufgeklärten Verächter der Religion zu verteidigen brauchte, sondern statt dessen die orthodoxen Fanatiker abwehren mußte, die im Namen seiner Verteidigung des Christentums zu der voraufklärerischen orthodoxen Tradition zurückgekehrt waren und versuchten, die ganze Entwicklung, auf die Schleiermacher sein Werk gegründet hatte, zunichte zu machen. Die romantische Betonung des positiv Gegebenen unterscheidet sich scharf vom englischen Positivismus. Humes Positivismus ging von empirisch-wissenschaftlichen Erwägungen aus, sowie von einer kritischen Erkenntnistheorie, die nur empirische Daten oder Sinneseindrücke als gegeben betrachtete. Im kontinentalen Europa dagegen war der Positivismus ein Kind der Romantik, die die Betonung auf das durch Geschichte und Tradition Gegebene legte. Es ist bezeichnend, daß Schleiermacher seine Dogmatik „Glaubenslehre" nannte und nicht etwa „Lehre von Gott", was „Theologie" wörtlich bedeutet. Solch einen Titel wagte er nicht zu wählen, denn das, was positiv gegeben ist, ist der Glaube als solcher; er ist eine Realität. Die gleiche Haltung kann man bei Zinzendorf und den Herrnhutern antreffen, einer Gruppe, der Schleiermacher eine Zeitlang angehört hatte, sowie bei anderen pietistischen Bewegungen. Sie fassen systematische Theologie als die Beschreibung des gelebten Glaubens 23
auf, wie er in den christlichen Kirchen vorhanden ist. Das ist eine positivistische Begründung der Theologie. Sie verlangt nidit, daß man zuerst über Wahrheit oder Unwahrheit der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen entscheiden muß, sondern man nimmt das Christentum als empirische Tatsache der Geschichte an und beschreibt dann den Sinn seiner Symbole. So verstanden, ist Theologie positives Wissen von einer historischen Wirklichkeit. Schleiermacher unterscheidet sehr deutlich zwischen dieser empirisch-positiven Theologie und der sogenannten rationalen oder natürlichen Theologie der Aufklärung. Ja, er geht noch weiter, indem er behauptet, daß die christliche Theologie die Totalität aller theoretischen Einsichten und praktischen Vorschriften sei, ohne deren Besitz und Gebrauch keine Kirchenleitung bestehen könne. Das ist eine unerhörte Definition in der Geschichte der Theologie. Sie konstituiert deutlich den Übergang von den verschiedenen Formen der rationalen Theologie zur positiven Theologie; die Frage der Wahrheit wird dabei überhaupt nicht berührt. Ich würde diese Theologie die positivistische Beschreibung einer Gruppe nennen, die in der Geschichte zu finden und deren Existenz nicht zu leugnen ist. Man kann die Ideen, die in einer Gruppe wichtig sind, und die Vorschriften, die sie akzeptiert, beschreiben. Dann kann man junge Theologen auf Grund dieser Ideen und Vorschriften, die sie später vertreten sollen, zu Kirchenführern ausbilden. Damit ist ein Positivismus konstituiert, in dem die Frage der Wahrheit fehlt. Dieser Positivismus wird noch deutlicher in dem folgenden Gedanken: Schleiermacher teilt die Theologie wie auch wir heute in philosophische, historische und praktische Theologie ein, aber mit einem Unterschied: er ordnet Dogmatik und Ethik der historischen, nicht der philoso24
phischen Theologie zu. Sie gehören für ihn deshalb zu der historischen Theologie, weil sie die systematische Entwicklung der Lehre darstellen, wie sie durch eine Kirche oder eine besondere Konfession zu einer bestimmten Zeit vertreten wird. Positivistischer kann man nicht sein: die Theologie wird zur Beschreibung der empirisch gegebenen Wirklichkeit der christlichen Religion. Das nennt Schleiermacher systematische Theologie. Diese extreme Form des Positivismus hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber sie hat großen Einfluß gehabt. Heute gibt es philosophische und systematische Theologie und daneben historische und praktische Theologie — diese vier; aber die philosophische Theologie kann auch in die systematische Theologie einbezogen werden. Wenn sich Schleiermachers Theologie in diesem Positivismus erschöpfen würde, wäre er kein systematischer Theologe, sondern ein Kirchenhistoriker, der den gegenwärtigen Zustand der Kirche beschreibt. Seine positivistische Einstellung ist jedoch mit einer anderen Betrachtungsweise verbunden, wenn auch auf logisch unklare Weise. Schleiermacher geht nämlich von einem Allgemeinbegriff der religiösen Gemeinschaft aus, wie sie sich universal in der Geschichte der Menschheit manifestiert; und von ihm leitet er das Wesen der Religion ab. Das ist kein Positivismus mehr, sondern eine philosophische Analyse des Wesens einer Sache. Es setzt ein konstruktives Urteil über das voraus, was wesentlich ist und was nicht. Sein Begriff des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit" ist entschieden ein universaler und philosophischer Begriff. Schleiermacher unterstellt das Christentum einem Religionsbegriff, der nicht aus dem Christentum abgeleitet — zumindest nicht bewußt —, sondern aus dem Panorama der Weltreligionen gewonnen ist. Tatsächlich ist der Religionsbegriff, den ein Religionsphilosoph entwickelt, weitgehend durch den Standpunkt bestimmt, von 25
dem aus er das Panorama der religiösen Wirklichkeit in der Welt betrachtet. In Schleiermachers Fall war es der des pietistischen Christentums. In jedem philosophisch konzipierten Religionsbegriff sind Spuren des Standpunktes zu finden, den der jeweilige Religionsphilosoph vertritt, d. h. Spuren seiner eigenen Religion. Dieses subjektive Element kann in der Definition nicht ausgeschaltet werden, denn um einen Begriff aus der Wirklichkeit abzuleiten, muß man am Leben dieser Wirklichkeit teilhaben. Man kann beispielsweise keinen Begriff von der Kunst entwickeln ohne die Fähigkeit, ein Kunstwerk zu erleben. Aus dieser Tatsache folgt, daß das Christentum zu einer Religion unter anderen Religionen wird. Auf dieser Grundlage beschreiben die Theologen das Christentum in der Regel als die höchste, wahrste Religion, die Religion, die die größte Erfüllung verheißt. Das ist ein wichtiger Punkt, der in den letzten fünfzig Jahren im Mittelpunkt theologischer Diskussionen gestanden hat — nicht zuletzt wegen Barths Stellungnahme gegen ihn. In der protestantischen Theologiegeschichte findet sich ein Buch von Zwingli mit dem Titel: De vera et falsa religione. Darin beschreibt der Schweizer Reformator das Christentum als die wahre Religion im Gegensatz zu den falschen Religionen, die die göttliche Offenbarung verfälscht haben, und zieht dazu besonders das 1 . Kapitel des Römerbriefes heran. Aber Paulus spricht in dem Römerbrief nicht von der christlichen Religion, sondern von Christus; es geht ihm nicht um die christliche Religion. Man muß seinen ganzen Brief lesen, um zu sehen, wie er die christliche Religion in der Form, in der sie zu seiner Zeit bestand, angriff: die jüdisch-christlichen Verfälschungen (wegen ihres Legalismus) wie die gnostischen (wegen ihrer Gesetzlosigkeit). Das bedeutet, daß Paulus das Christentum gerade nicht von seiner Kritik an den Religionen ausnimmt. Er stellt nicht das Christentum den anderen 26
Religionen entgegen, sondern er stellt Christus gegen jede Religion, selbst gegen die christliche Religion, wie sie sich in den Gemeinden, die er gegründet hatte, entwickelt hatte. Bei Zwingli und den anderen Reformatoren ebenso wie in der orthodoxen Theologie wird diese Unterscheidung zwischen Christus und Christentum meist nicht deutlich durchgeführt. Wenn man das Christentum an die Spitze der Religionen stellt, dann erhebt sich die Frage, ob es nicht hinsichtlich seiner eigenen Verfälschungen dem gleichen Urteil untersteht wie die anderen Religionen auch. Die Geschichte des Aberglaubens zeigt, daß Abgötterei zu einem großen Teil im Namen des Christentums getrieben wurde. Die Absolutheit des Christentums, wie Troeltsch es nannte, ist nicht die der christlichen Religion, sondern die des Christus im Gegensatz zu allen Religionen. Barth hat diese Schwierigkeit erkannt und versucht deshalb den Begriff der Religion zu vermeiden; er wendet ihn nicht auf das Christentum an. Aber dies ist nur eine andere Art, die christliche Religion und nicht den Christus über die anderen Religionen zu erheben; ich kann jedoch nicht glauben, daß dies Barths Absicht ist. Wie dem auch sei, wir benötigen den Begriff „Religion", denn es gibt die empirische religiöse Wirklichkeit. Wenn man das Wort „Religion" verwirft, muß man ein anderes zur Bezeichnung der vorhandenen religiösen Wirklichkeit finden, das Wort „Frömmigkeit" oder ein ähnliches. Der Begriff „Religion" ist indes unvermeidbar, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. In den zwanziger Jahren schrieb ich einen Artikel mit dem Titel „Die Überwindung des Religionsbegriffes in der Religionsphilosophie", in dem ich weitgehend mit Barths Position übereinstimmte. Aber schon damals war mir klar, daß man den Religionsbegriff nur überwinden kann, wenn man auch das Christentum als Religion in der Religionsphilosophie überwindet und 27
wenn es in der Religion etwas gibt, was gegen die Religion steht. Ohne diese Einsicht kann der Religionsbegriff nicht wirklich überwunden werden. Aber Barths Einfluß war so stark, daß ich, als ich 1948 nach Deutschland zurückkehrte, sofort von meinen Freunden kritisiert wurde, weil ich das Wort „Religion" noch gebrauchte. Es war inzwischen aus der theologischen Diskussion ausgemerzt worden. Die Situation hat sich unterdessen geändert, aber es besteht noch immer ein Ressentiment gegen den Begriff „Religion". Ich glaube jedoch, daß dies auf einer Selbsttäuschung beruht, denn es geschieht nichts weiter, als daß man den Religionsbegriff durch einen anderen Begriff ersetzt. Man muß sich jedoch klar machen, daß die Methode von Schleiermacher, Troeltsch, Harnack und anderen, das Christentum als Religion zu definieren und es dann als die höchste oder absolute Religion zu bezeichnen, unzureichend ist. Ebenso falsch ist die Behauptung der Barthianer, das Christentum sei offenbarte Religion im Gegensatz zu den anderen Religionen, die bloße menschliche Versuche darstellten, Gott zu erreichen, und auf keine Offenbarung gegründet seien. Wenn wir den Religionsbegriff überwinden wollen, der das Christentum zu relativieren scheint, dann müssen wir allen Religionen den Christus entgegenstellen oder Gott, der im Kreuz sein Urteil gegen alle Religionen manifestiert, und wir dürfen das Christentum nicht als partikulare Religion über die anderen Religionen erheben. Wir kommen nun zu Schleiermachers Auffassung vom Wesen der Religion. In allen Theologiegeschichten wird er als der Überwinder der Verfälschung der Religion durch die Aufklärung betrachtet, die die Religion intellektualisiert und moralisiert hatte. Negativ definiert Schleiermacher die Religion als etwas seinem Wesen nach von Wissenschaft und Sittlichkeit Verschiedenes. Positiv be28
zeichnet er Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit", das unmittelbare Bewußtsein des Unbedingten in unserem Selbst, eine unmittelbare existentielle Beziehung, die der Reflexion vorausgeht. Alle diese Ausdrücke weisen auf die gleiche Wirklichkeit der religiösen Erfahrung hin. Wissen und Handeln folgen aus dieser Erfahrung; religiöses Wissen und religiöses Handeln gehen aus diesem unmittelbaren Bewußtsein hervor, aber sie sind nicht das Wesen der Religion. Das unmittelbare Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit transzendiert die Gefühle, die aus unserer Beziehung zur Welt hervorgehen und die eine Mischung aus Freiheit und Abhängigkeit sind. Ist unsere Lebenskraft groß, so fühlen wir uns verhältnismäßig frei in unserer Beziehung zur Welt; nimmt dieses Gefühl der Freiheit ab, so fühlen wir uns abhängig von anderen Menschen und allen möglichen endlichen Dingen. Dieser ganze Bereich unserer Beziehung zum Endlichen ist in dem Bewußtsein des Unbedingten transzendiert. Wenn wir von „Gott" sprechen, so ist das nur eine Bezeichnung für das, worauf sich unsere schlechthinnige Abhängigkeit bezieht. „Gott" ist also nicht als eine objektiv gegebene Wirklichkeit begriffen, als eine andere Sternenwelt. Er transzendiert jede endliche Beziehung und ist der Grund aller Beziehungen. Alle sind unbedingt von ihm abhängig. Wenn Gott ein Gegenstand neben anderen Gegenständen wäre, so könnten wir uns in den Kategorien des Wissens und Handelns zu ihm verhalten, d. h. Gott könnte bewiesen werden. Diese Beweise könnten verifiziert werden, und wir könnten Gott durch unser Handeln beeinflussen. Aber Gott ist kein Gegenstand neben anderen Gegenständen. Er ist in unserem unmittelbaren Bewußtsein gegenwärtig, und was wir über ihn aussagen, ist Ausdruck dieser Unmittelbarkeit. Schleiermacher befürchtete, daß der Personbegriff, auf Gott angewandt, ihn zu einem Ob-
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jekt unseres Wissens und Handelns machen würde. Deshalb gebraucht er statt dessen den Begriff „Geist". Allerdings ist in dem Begriff „Geist" ein personhaftes Element mitenthalten; es gibt keinen Geist, der nicht zugleich Träger der Person wäre. Trotzdem ist der Begriff des Geistigen besser als der des Personhaften geeignet, der Gefahr zu begegnen, daß die Idee von Gott vergegenständlicht und so entstellt wird. Schleiermachers philosophischer Religionsbegriff, der seiner gesamten Beschreibung des Christentums zugrunde liegt, erweist sich letzten Endes als das stärkere Element gegenüber der positivistischen Konzeption, d. h. der einfachen Annahme des Christentums als empirischer Wirklichkeit. In seiner Christologie, die wir jetzt zu besprechen haben, durchbricht Schleiermacher vollends den Positivismus. Die Behauptung, daß das Christentum die höchste Manifestation des Wesens der Religion sei, stützt er auf zwei Züge des Christentums, die es von anderen Religionen unterscheiden. Der erste ist, was Schleiermacher seinen ethischen Monotheismus nennt. Das bedeutet, daß die schlechthinnige Abhängigkeit in der Religion keine primär physische Abhängigkeit ist, die in materialistischen Begriffen ausgedrückt werden könnte. Sie ist keine mechanische Abhängigkeit, wie sie in den Prädestinationslehren einiger calvinistischer Theologen erscheint, die das religiöse Symbol der Vorsehung mit mechanischer Kausalität verwechseln. Das ist nicht Schleiermachers Idee der Abhängigkeit, obwohl auch diese sich auf calvinistische Einflüsse zurückführen läßt. Das Christentum ist nach Schleiermacher keine Religion, in der die Beziehung zu Gott einer physischen oder medianischen Abhängigkeit gleichkommt, sondern sie ist die einer teleologischen Abhängigkeit, einer Abhängigkeit von Gott als Gesetzgeber, der das Ziel zeigt, auf das wir zugehen sollen. Diese teleologische Abhängigkeit bedeutet, daß
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Gott das Woher unseres unbedingten moralischen Imperativs ist. Hier wird das Kantische Element in Schleiermacher deutlich. Seine Idee der Abhängigkeit unterscheidet sich also von Schellings Naturphilosophie, nach der der Mensch mittels der Natur vom Unbedingten abhängt. Der zweite Zug, der das Christentum zur höchsten Religion macht, ist die Beziehung alles Bewußtseins auf die Erlösung durch Jesus von Nazareth. Erlösung hat für Schleiermacher eine ganz bestimmte Bedeutung: sie ist die Verwandlung eines beschränkten, gehemmten und verzerrten religiösen Bewußtseins in ein vollkommen entwickeltes religiöses Bewußtsein. Derjenige ist erlöst, der ein voll entwickeltes religiöses Bewußtsein besitzt; er steht in immerwährender bewußter Gemeinschaft mit Gott. Die eschatologische Symbolik ist ungültig oder muß neu interpretiert werden. Dieses Werk der Erlösung, diese Befreiung unseres religiösen Bewußtseins von Hemmung, Beschränkung und Verzerrung ist das Werk Christi, der selbst ein vollkommen entwickeltes religiöses Bewußtsein hat. Da er selbst nicht erlösungsbedürftig ist, kann er zum Erlöser werden. Das bedeutet nicht, daß Jesus einfach ein Vorbild für den Menschen darstellt; er ist vielmehr das Urbild, die Verkörperung dessen, was der Mensch seinem Wesen nach, in seiner Einheit mit Gott, ist. Hier macht Schleiermacher hochchristologische Aussagen, was erstaunlich ist angesichts des universalen Religionsbegriffs, von dem er ausgeht. Es ist dadurch zu erklären, daß seine persönliche Frömmigkeit und seine positivistische Bejahung des Christentums hier zur Erfüllung gelangten. Emil Brunner hält in seinem Buch Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben (Tübingen 1924) Schleiermachers Christologie für ein Zwischenspiel in seiner Dogmatik. Sie passe nicht
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in sein System und sei seiner Frömmigkeit zuzuschreiben, die die systematischen Prinzipien durchbreche. Ich halte das nicht für richtig, denn der positivistische Zug in Schleiermacher ist echt. Er stellt einen der Versuche dar, die Probleme der Religionsphilosophie zu umgehen, die jedoch nidit eigentlich vermeidbar sind. Brunner hat nur insofern recht, als in Schleiermachers Denken im allgemeinen eine Spannung besteht zwischen dem rein philosophischen und dem mehr positivistischen Zugang zum Christentum. Alle späteren Schulen hatten die gleiche Schwierigkeit. Die ganze Ritschl-Schule, die von Schleiermacher abhängig ist, ist einerseits streng positivistisch und biblisch, aber andererseits doch von Kants Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie abhängig. Ohne im einzelnen auf Schleiermachers Ideen einzugehen, wollen wir hier einiges über die Methode sagen, die sein ganzes System durchdringt. Er beschreibt den Inhalt des religiösen Bewußtseins des Christen, wie er durch das Erscheinen des Christus bestimmt ist. Eine systematische Theologie oder ein Lehrsystem ist rational, insofern es ein in sich konsequentes System von Gedanken ist, die einander nicht widersprechen, aber unabhängig von einander sind. Schleiermacher schafft ein solches System mit allen Mitteln einer hoch entwickelten theologischen Dialektik. Wenn er sich mit besonderen Problemkreisen wie Bibel, Christus, Sünde, Erlösung, Versöhnung oder was auch immer beschäftigt, so erörtert er zuerst die beiden einander widersprechenden Auffassungen, die der klassischen Tradition, die er so gut kannte, wie sie ein protestantischer Theologe kennen muß, und die Kritik der Aufklärung an der orthodoxen Theologie des 1 7 . Jahrhunderts. Dann versucht er, das Problem zu lösen, indem er den Blick auf das christliche Bewußtsein richtet, das allerdings von seinem eigenen Religionsbegriff abhängig ist. 32
Das methodologisch Entscheidende ist, daß die theologischen Lehrsätze über Gott, Welt und Mensch aus der existentiellen Partizipation des Menschen am Unbedingten abgeleitet werden, d. h. aus dem religiösen Bewußtsein des Menschen. Diese Lehrsätze sind gültig begründbar, freilich nicht in dem Sinn, in dem es Aussagen über die neuesten Entdeckungen in der Physik oder Astronomie sind. Die Form der Aussagen ist anders, denn sie geht aus der existentiellen Partizipation, wie wir heute sagen würden, hervor. Das bedeutet, daß die Eigenschaften oder Charakteristika, die wir Gott zuschreiben, Ausdruck unserer Beziehung zu ihm sind. Als Nachfolger Calvins behauptet Schleiermacher, daß wir nichts über die essentia dei, über das eigentliche Wesen Gottes, aussagen können. Wir können nur auf Grund der Beziehung Gottes zu uns, die sich in Offenbarungserfahrungen manifestiert, von ihm sprechen. Das ist von Bedeutung für die Trinitätslehre, wird doch dadurch eine Lehre von der Trinität als transzendentem Gegenstand unmöglich. Die Trinitätslehre wird zum vollkommensten Ausdruck der menschlichen Beziehung zu Gott. In jeder der personae (das ist nicht dasselbe wie Person) manifestiert Gott eine gewisse Art seiner Beziehung zum Menschen und zur Welt. Nur so verstanden sind die personae sinnvoll. Deshalb stellt Schleiermacher seine Trinitätslehre an das Ende seines Systems als die Vervollständigung seiner Gotteslehre, nachdem er alle partikularen Beziehungen wie solche, die sich in Sünde und Vergebung oder in Schöpfung, Tod und ewigem Leben ausdrücken, positiv vom religiösen Bewußtsein des Christen aus beschrieben hat. Von diesen Beziehungen aus kann er die Linien weiterführen zum Göttlichen selbst und so zu trinitarischen Lehrsätzen gelangen. Ich folge derselben Methode wie Schleiermacher, aber mit einem Unterschied: ich begründe die Trinitätslehre auf 33
zwei Arten 2 . In der ersten gehe ich von der Lehre des lebendigen Gottes aus. Der lebendige Gott ist schon der trinitarische, noch bevor eine Christologie möglich ist, d. h. bevor der Christus erschienen ist. Wer von dem lebendigen Gott spricht, denkt trinitarisch, selbst wenn er sich als Unitarier bezeichnet. Wenn ich mit unitarischen Studenten und Kollegen diskutiere, beginne ich nicht mit der Christologie, sondern mit dem Symbol des lebendigen Gottes. Gott ist keine tote Einheit, keine tote Indentität mit sich selbst, sondern er geht aus sich heraus und kehrt zu sich zurück. Damit ist der Lebensprozeß als solcher definiert; wenn wir ihn symbolisch Gott zuschreiben, denken wir trinitarisch. Die Zahlen zwei, drei oder vier — die alle in der Geschichte der christlichen Theologie auftauchen — sind unwichtig. Aber die Bewegung des Göttlichen, seinAus-sich-Herausgehen und Zu-sich-Zurückkehren, ist entscheidend, wenn wir vom lebendigen Gott sprechen. Schleiermacher hat von dieser Möglichkeit, die Trinitätslehre zu begründen, keinen Gebrauch gemacht; er hat sie nur von der Christologie her gesehen. Aber wenn man sie nicht in ihrer Verbindung mit der Idee des lebendigen Gottes sieht, ist die trinitarische Symbolik kaum zu gebrauchen, denn sie erscheint an zu später Stelle im theologischen System. Wenn man sie nur mit einem einzigen Ereignis verbindet, wird sie leicht zum Aberglauben; und wenn man sie nur auf den geschichtlichen Jesus bezieht, wird sie zu etwas, das sich bloß feststellen läßt. 2 Tatsächlich begründet Tillich die Trinitätslehre auf drei Arten. Die erste Begründung, die hier nicht genannt ist, liegt in der Spannung zwischen dem absoluten und dem konkreten Element in der Gottesidee: je mehr das absolute oder unbedingte Element betont wird, um so stärker wird das Bedürfnis nach einer konkreten Manifestation des Göttlichen, d. h. nach Mittlergestalten zwischen Gott und Mensch, aus denen sidi dann in vielen Religionen ein trinitarisdier Symbolismus entwickelt (vgl. Systematische Theologie, Bd. III, S. 3 2 4 f . ) .
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Ich will an einem Beispiel klar machen, warum der Zugang zur Trinitätslehre so wichtig ist. Wenn wir heute die mögliche Existenz von geistbegabten Wesen in anderen Teilen des Universums erörtern und die Frage aufkommt, was Christus für sie bedeutet, würden die Vertreter einer rein christologisch orientierten Trinitätslehre behaupten, daß man ihnen die Botschaft von Jesus von Nazareth als dem Christus bringen müsse. Das erscheint mir absurd. Ida würde stattdessen sagen, daß der göttliche, der ewige Logos, das Prinzip, daß Gott aus sich herausgeht und sich manifestiert, überall erscheint, wo es geistige Wesen gibt, also in deren Geschichte ebenso erscheint, wie er in der Mitte der menschlichen Geschichte erschienen ist. Das, was erscheint, geht der menschlichen Geschichte voraus: „Ehe denn Abraham ward, bin ich" (Joh. 8,58). Das bedeutet, daß in Jesus von Nazareth der universale Logos gegenwärtig ist, das Prinzip der göttlichen Selbst-Offenbarung. Trotz dieser begrenzten Kritik an Schleiermacher würde ich sagen, daß die fundamentale methodologische Annahme, daß die Trinität keine a pn'on'-Spekulation über Gott darstellt, richtig ist. Sowohl die Erfahrung des lebendigen Gottes wie die Erfahrung des erlösenden Gottes legen die Idee von der Trinität nahe. Diese Idee folgt aus der Offenbarungserfahrung, sie kann ihr nicht vorausgehen. Mein Haupteinwand gegen die Methode von Barths Gotteslehre in seiner „Kirchlichen Dogmatik" ist, daß er sozusagen mit einem Sprung in die Trinitätslehre beginnt und nicht von der menschlichen Frage ausgeht. Hier bin ich trotz allem auf der Seite Schleiermachers. Ein weiterer Punkt, den wir erwähnen müssen, ist Schleiermachers Lehre von der Sünde, die von großem Einfluß gewesen ist. Er folgt hier der allgemeinen Auffassung der deutschen klassischen Philosophie und der Aufklärung, nach der Sünde lediglich eine Unzulänglichkeit ist. Sie ist 35
kein „Nicht", sondern ein „Noch-Nicht". Sünde entsteht durch die Diskrepanz zwischen dem schnell fortschreitenden Evolutionsprozeß in der biologischen Entwicklung der Menschheit und der langsamen Entwicklung des Menschen in moralischer und geistiger Hinsicht. Sie ist das Noch-Nicht der geistigen Entwicklung des Menschen bei schon voll entwickeltem körperlichem Organismus. Die biologische Entwicklung ist der geistigen weit voraus. Der Abstand oder die Kluft zwischen beiden wird Sünde genannt. Sie ist ein universaler Zustand der Menschheit. Der Christus ist demgemäß die Antizipation eines Zustandes, auf den die gesamte Menschheit zugeht. In gewissem Sinne ist Sünde also notwendig und unvermeidlich. Die Idee des Sündenfalls ist verschlungen von der Idee der evolutionären Notwendigkeit der Entfremdung oder der Sünde. In diesem Punkte sind später einige Theologen von Schleiermacher weg auf Kants Idee des transzendenten Sündenfalls zurückgegangen, und die Existentialisten haben diese Idee dann auf Grund von Schellings Freiheitslehre weiter entwickelt. In vielen Richtungen j edoch blieb Schleiermachers Relativierung der Sünde bestehen. Für Schleiermacher war, wie ich sagte, Erlösung die Gegenwart Gottes im Menschen, im menschlichen Bewußtsein, das in allen seinen relativen Beziehungen durch die Gegenwart des göttlichen Geistes bestimmt ist. Hier wird die mystische Herkunft von Schleiermachers Theologie deutlich, mystisch nicht im Sinn von „nebulös" verstanden, sondern als die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Der Erlöser nimmt die Gläubigen, die zu ihm gehören und an ihm partizipieren, in die Kraft seines Gottesbewußtseins auf. Und die Kirche ist die Gemeinschaft, in der dieses Gottesbewußtsein die bestimmende Macht ist. Sie besitzt dies als ihr Prinzip, wie relativ, entstellt und begrenzt es auch immer verwirklicht sein mag.
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SCHLEIERMACHER UND TILLICH Essay von Ingeborg C. Henel
N a c h Karl Barth beginnt die Theologie des 19. Jahrhunderts mit dem Jahr 1799, dem Erscheinen von Schleiermachers Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern1. Man kann dem heute vielleicht hinzufügen, daß sie mit dem Werk Paul Tillichs endet, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß dieses Werk noch in der Tradition steht, die mit Schleiermacher begann, sondern auch in dem Sinn, daß es eine Erneuerung der „großen Synthese" darstellt, in der Tillich die außerordentliche Bedeutung Schleiermachers gesehen hat. Er beschreibt diese Synthese als eine Verbindung von Spinoza und Kant und meint damit die Synthese von Mystik und ethischem Dualismus, von Identitäts- und Freiheitsprinzip. Nachdem sie durch die einseitige Betonung des kantischen oder moralischen Pols in der liberalen Theologie und durch die Ablehnung aller Mystik von Seiten der Neuorthodoxie zusammengebrochen war, versuchte Tillich sie neu zu finden, denn ohne sie konnte seiner Meinung nach die systematische Theologie nicht bestehen. Aber nicht nur gemeinsame Tradition und gemeinsames Ziel verbinden Schleiermacher und Tillich, sondern auch die Parallelität der Situationen, von denen beide ausgingen. Die geistige Lage am Ende des 18. Jahrhunderts, die Schleiermacher bewog, die Religion neu zu definieren und zu verteidigen, ist der religiösen Lage am Beginn des 20. Jahrhunderts erstaunlich ähnlich, die Tillich versuchen ließ, die Religion neu zu interpretieren und auf diese Art zu retten. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Religion durch Deismus, Rationalismus und Aufklärung untergraben und ihres spezifisch religiösen Charakters beraubt 1 Aus ihnen wird im Folgenden nadi der dritten Ausgabe, Berlin 1 8 2 t , zitiert.
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worden; seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist sie noch radikaler durch den direkten Angriff des Säkularismus bedroht. Diese gefährdete Lage der Religion war es, die beide Theologen zwang, in erster Linie apologetische und nicht spekulative Theologie zu treiben. Eine Apologie, die wirken soll, muß auf den Standpunkt und vor allem die Zweifel des Angreifers eingehen; sie muß nach einer gemeinsamen Basis suchen und die Religion auf dieser begründen. Das haben Schleiermacher und Tillich auf sehr ähnliche Art getan, und von diesen Ähnlichkeiten soll hier gesprochen werden, ohne zu untersuchen, wie weit sie auf direkter Beeinflussung, auf gemeinsamer Tradition oder auf innerer Verwandtschaft beruhen. Daß neben den Ähnlichkeiten auch wesentliche Unterschiede bestehen, daß beispielsweise Tillichs theologisches System trotz des existentiellen Ausgangspunktes mehr spekulativ-metaphysisch ist, während Schleiermacher sich mehr an die positive christliche Tradition anlehnt, braucht kaum erwähnt zu werden. Auf diese Unterschiede soll hier nur eingegangen werden, insofern sie ein Licht auf die Ähnlichkeiten werfen. Diese sind im allgemeinen da am auffallendsten, wo beide als Religionsphilosophen und nicht als Theologen sprechen, d. h. sie bestehen vorwiegend in ihrer Auffassung vom Wesen der Religion und nicht in ihrer Auslegung des Christentums. Die Gebildeten, an die sich Schleiermacher in seinen Reden wendet, sind vor allem Philosophen, Schriftsteller und Dichter. Schleiermacher hat sich in literarischen Kreisen bewegt, hat in den Salons der Romantiker verkehrt, für literarische Zeitschriften geschrieben und war mit Dichtern und Schriftstellern befreundet. Es war Friedrich Schlegel, der ihn zur Übersetzung von Piaton anregte und ihn für die Mitarbeit am Athenäum gewann. Er war ein großer Bewunderer des „tiefsinnigen" Novalis, den er in der zweiten Ausgabe seiner Reden neben den „heiligen" Spi40
noza stellte als einen Künstler, den er von der gleichen Frömmigkeit durchdrangen sah wie den großen Philosophen. Und er wagte es, in den Vertrauten Briefen über die Lucinde dieses höchst umstrittene, allgemein Anstoß erregende Werk von Friedrich Schlegel öffentlich zu verteidigen. Wie die Dichter der Romantik strebte auch er eine Höherbildung der Menschheit an, eine Verinnerlichung und Vergeistigung des Menschen, und diese bestand für ihn eben in der Vertiefung des religiösen Gefühls. Wenn er zu den Romantikern sprach, wußte er, daß er auf ein Echo rechnen konnte, denn sie waren wie er einerseits von einer Religion abgestoßen, die zur Dienerin der Morallehre geworden war, und andererseits unfähig, den orthodoxen Supranaturalismus anzunehmen. Sie suchten nach einem Inhalt, der das Verlangen nach geistiger Erfüllung befriedigte, ohne die Vernunft zu vergewaltigen, und diesen konnten sie in Schleiermachers Reden wie in keinem anderen Werk finden. Aber Schleiermacher nahm auch am politischen Leben teil, und sogar aktiv als Mitglied der Patriotenpartei. Er beteiligte sich an der Erhebung gegen Napoleon und setzte sich für staatliche Reformen ein. Seine freiheitlichen und fortschrittlichen Ideen zogen ihm die Feindschaft der Reaktionäre zu und setzten ihn in Gefahr, seine Professur an der Universität Berlin zu verlieren — der Universität, bei deren Gründung er noch wenige Jahre zuvor mitberaten hatte. Trotz alledem gehörte er zu den geachtetsten Menschen seiner Zeit, nicht nur wegen seiner geistigen Leistungen, sondern auch wegen seiner großen Menschlichkeit, die, wie die Tillichs, auf einer besonderen Fähigkeit zur Liebe im Sinne der christlichen agape beruhte. Heute spricht man sogar in Amerika — einem Land, dem wegen seiner pragmatischen und rationalistischen Tradition alles Romantische schwer zugänglich ist — von einer Schleiermacher-Renaissance. Diese kann, zumindest teil41
weise, auf die außerordentliche Wirkung, die Tillichs Persönlichkeit und Werk in diesem Lande ausgeübt haben, zurückgeführt werden. Ebenso vielseitig interessiert und tätig wie Schleiermacher war Paul Tillich. Audi er verkehrte nicht nur mit Gelehrten, sondern auch mit Künstlern, hauptsächlich Malern, und politisch Aktiven. Er nahm an allem teil, was die Geister zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem ersten Weltkrieg bewegte, an den neuen Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft wie an der Politik. Er war Mitbegründer des „Religiösen Sozialismus" und widmete dessen theoretischer Fundierung in den zwanziger Jahren einen großen Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Wie Schleiermacher die Lucinde, so verteidigte er die moderne Kunst gegen bürgerliche Vorurteile. Und er tat mehr: er griff mit seiner Kritik am Nationalsozialismus eine bereits mächtige politische Partei an und bewies damit denen, die ihn für zu liberal oder fortschrittlich hielten, daß er mehr geistige Kraft und moralischen Mut besaß, für eine Tradition und ein Prinzip einzustehen, als sie. Auch er hoffte auf eine Erneuerung der Kultur, und auch er glaubte, daß der Weg zu ihr der Weg der Religion sei. Tillich unterscheidet zwei Begriffe von Religion: neben den traditionellen, engeren Begriff stellt er die Idee der Religion als der Dimension des Unbedingten, Letztgültigen, die in der Tiefe aller geistigen Funktionen des Menschen wirkt. Religion in diesem Sinne ist es, über die Schleiermacher in seinen Reden spricht. An die Religion als solche und nicht an eine spezifische Religion denken beide, wenn sie von der Religion eine Erneuerung der Kultur erwarten. Und auch Tillich wendet sich wie Schleiermacher an Menschen, von denen er glaubt, daß sie Sinn für die Religion in dieser Bedeutung haben, und das schließt auch — und vielleicht sogar gerade — die Menschen außerhalb der Kirche ein.
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Wie die Zeit Schleiermachers war auch die Zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Zeit der Verworrenheit und der Umwälzung. Daß in solchen Zeiten die Geister offener sind als in Zeiten der Stabilität und der Zufriedenheit, wußten sowohl Schleiermacher wie Tillich. Letzterer hat immer wieder betont, daß der Existentialismus trotz seines nicht-religiösen Charakters und trotz seiner weitgehend sogar antireligiösen Einstellung den Boden für die Religion neu bereitet habe, weil er in den Menschen das Bewußtsein der Krise erweckt hat. Und Schleiermacher hatte am Ende seiner Reden ausgerufen: „Doch was ist nicht zu erwarten von einer Zeit, welche so offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge! Wenn nur erst die gewaltige Krisis vorüber ist, kann sie auch einen solchen Moment herbeigebracht haben", einen Moment nämlich, wo alles zusammentrifft, um einer Religion ein „weit verbreitetes und dauerndes Leben zu sichern" (S. 427). Wenn Schleiermacher sich an die Verächter der Religion und Tillich sich an die Menschen außerhalb der Kirche wendet, so glauben beide doch, zu Menschen zu sprechen, in denen eine Anlage zur Religion vorhanden ist, denn diese findet sich nach beider Meinung in den meisten Menschen. Schleiermacher versucht in seinen Reden die „Ungläubigen" davon zu überzeugen, daß sie nicht wirklich ungläubig seien und die Religion nur verachten, weil sie eine falsche Vorstellung von ihr haben — daß sie sie nämlich als eine bloße Dienerin der Morallehre betrachten oder als die Lehre von einem außerweltlichen Gott, sie mit der Annahme gewisser Lehrsätze verwechseln und mit dem Glauben an Wunder und Eingebungen identifizieren und schließlich meinen, daß Religion Preisgabe der Vernunft und der Persönlichkeit verlange. Indem sie diese Art von Religion verachten, beweisen sie jedoch gerade ihre Anlage zur wahren Religion; denn das wahre religiöse 43
Gefühl, das sich gegen die Entstellungen der Religion wehrt, ist dem Menschen eingeboren, er muß es sich nur zu Bewußtsein bringen und entwickeln. Gott ist in dem Bewußtsein des Menschen mitgesetzt, vor aller Reflexion. Es gibt kein sinnliches Bewußtsein, das nicht auf Gott hin ausgerichtet werden könnte. Was auch die Beziehung des Menschen zur Welt ist — und für Schleiermacher ist wie für Tillich die Selbst-Welt-Korrelation Voraussetzung des Menschseins —, in dieser Beziehung ist immer schon eine Beziehung auf Gott mitenthalten. Diese implizite Beziehung explizit zu machen, dem Menschen zum Verständnis seiner selbst zu verhelfen, indem sie ihm zeigen, daß Gott in ihm und nicht außerhalb ist, daß Religion immer latent in ihm vorhanden ist, daß er also sein religiöses Gefühl oder, wie Schleiermacher es auch nennt, „den Geschmack für das Unendliche" nur zu entwickeln braucht, ist die Absicht seiner Reden. Tillich muß sich — über hundert Jahre später als Schleiermacher — auf einen anderen Boden stellen. Er geht von negativen Erfahrungen aus, der Erfahrung der Zweideutigkeit alles Bestehenden, der Erfahrung der Endlichkeit, der Entfremdung und der Sinnlosigkeit des Lebens und von der Frage nach Ewigkeit, Versöhnung und Erfüllung, die sich aus den negativen Erfahrungen ergibt. Um jedoch diese Fragen stellen zu können, muß mehr als eine negative Erfahrung vorausgesetzt werden: das, wonach gefragt wird, muß schon in dem Fragenden vorhanden sein, sonst könnte er die Frage nicht stellen. Dies ist das Argument für die Gegenwart des Göttlichen im Menschen in Tillichs Theologie. Näher als die Systematische Theologie steht aber Schleiermachers Reden der Intention nach Der Mut zum Sein. Hier spricht Tillich nicht mehr wie Schleiermacher nur zu Verächtern der Religion, sondern zu Verächtern des Lebens, zu Verzweifelten. Diese können nicht mehr davon überzeugt werden, daß ein latentes reli44
giöses Gefühl in ihnen schläft, das sie nur ins Bewußtsein zu heben brauchen. Aber sie können darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie auch als Verzweifelte das Leben noch bejahen, d. h. daß die „Macht des Seins" auch in ihnen wirkt und sogar ihre Verzweiflung noch trägt. Diese Macht, die die Drohung des Nichtseins, des Todes, der Verdammung und der Verzweiflung besiegt, ist das, was wir „Gott" nennen, kein persönlicher Gott — es gibt ihn für Tillich ebensowenig wie für Schleiermacher —, sondern der „Gott über Gott", der Gott oder die Macht, die bestehen bleibt, wenn der Gott der traditionellen Religion in den Abgrund der Verzweiflung versunken ist. So geht auch Tillich wie Schleiermacher von dem Wirken und der Gegenwart des Göttlichen im Innern des Menschen aus, um zur Religion zu gelangen. Sein Verfahren, vom Konkreten auszugehen, um zum Absoluten zu gelangen, nennt Tillich „anagogisch" und gebraucht damit bezeichnenderweise ein Wort, das auch für die mystische Erhebung zu Gott gebraucht wird 2 . Was bedeutet es nun nach Schleiermacher, daß das Göttliche oder Unendliche im Menschen gegenwärtig ist und daß der Mensch „Sinn und Geschmack für das Unendliche", d. h. Religion, hat? Das Unendliche kann nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern nur mittelbar durch das Endliche, insofern dieses durch seine Verwurzelung im Unendlichen uns auf „das All und Ganze" hinführt. Was der Mensch wahrnimmt oder empfindet, das „bildet er sich ein", d. h. das nimmt er in sich hinein. Das Unendliche oder Göttliche ist also in dem Menschen dadurch gegenwärtig, daß er sich das Endliche „in seinem allgemeinen Sein im Unendlichen" zu eigen macht — nicht als Einzelnes oder Besonderes also, sondern in seiner Einheit mit dem „All und Ganzen". „Geschmack für das Unendliche" 2 In My Seardi for Absolutes, Simon and Sdiuster, New York 1967, S. 126.
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aber bedeutet, daß der Mensch „Lust und Verlangen [hat] durch alles Endliche auch des Unendlichen inne zu werden" (Reden, S. 1 7 7 f . ) . — Tillich hat Religion als das Ergriffensein vom Unbedingten, Letztwirklichen definiert. Auch Ergriffensein vom Göttlichen ist Gegenwart des Göttlichen im Menschen; dabei ist es für Tillich immer der ganze Mensch, der vom Göttlichen ergriffen wird. Ja, der Glaube zeichnet sich eben dadurch von allen anderen Funktionen des Menschen aus, daß er eine Funktion der gesamten Person ist, die alle Elemente des Menschlichen einschließt. Er ist der schlechthin zentrierende Akt des Menschen. Ganz so hat auch Schleiermacher den Glauben verstanden als Erregtheit der ganzen Person: Wie im religiösen Gefühl nicht ein Einzelnes als solches in uns eingeht, sondern durch das Einzelne das All und Ganze, so wird in uns auch nicht eine einzelne Bewegung ausgelöst, sondern das Ganze unseres Wesens erregt. Schleiermacher unterscheidet den Glauben zwar theoretisch als eine „Neigung und Bestimmtheit des Gefühls" vom Wissen und vom Handeln, und er kämpft gegen ihre Verwechslung an, deren sich seiner Meinung nach die natürliche Theologie schuldig macht. Aber er betont, daß im Leben die drei: Wissen, Handeln und Religion, nicht voneinander getrennt werden können, daß ohne Religion weder wahres Wissen noch richtiges Handeln möglich sind, denn in der Religion und durch die Religion wird die Spaltung von Subjekt und Objekt überwunden — eine Voraussetzung auch für das Erreichen der Wahrheit und die wahre Sittlichkeit. Alles Endliche hat nach Schleiermacher sein Sein im Unendlichen und durch das Unendliche. Deshalb ist alles Ergreifen der Welt, sofern es auf ihr „allgemeines Sein im Unendlichen" hin geschieht, auch Religion. Dem, was Schleiermacher „das Sein im Unendlichen" nennt, entspricht Tillichs Begriff des „Seinsgrundes" oder der 46
„Macht des Seins". Dieser Begriff ist dynamischer als der von Schleiermacher, obwohl auch Schleiermachers Ansicht des Universums als eines harmonischen Ganzen nicht die Lebendigkeit fehlt. Diese ist sogar einer seiner wesentlichen Begriffe und ist als „innige Lebendigkeit" mit Geistigkeit identisch — Geistigkeit im gleichen Sinn wie bei Tillich verstanden als „Einheit von Macht und Sinn" und auf die Gottheit wie den Menschen anwendbar. Nur spielt bei Schleiermacher die Idee des Nichtseins noch kaum eine Rolle und folglich gibt es bei ihm auch noch nicht den Gedanken, daß alles Sein eine ständige Überwindung des Nichtseins ist, was der Idee des Seins erst ihre eigendiche Dynamik verleiht. Die Bewegung des Universums besteht bei Schleiermacher vielmehr in der in unbegrenzter Vielfalt sich manifestierenden Göttlichkeit einerseits und in der Entwicklung einer sich dauernd veredelnden Menschheit andrerseits. Auf diese Art hängen auch für ihn wie für Tillich Religion und Kultur zusammen. Das, was Tillich später als „theonome Kultur" bezeichnet hat, nämlich die Einheit von Religion, Kultur und Moralität, ist auch das Ziel Schleiermachers. Und mit der „Dimension der Tiefe", d.h. der religiösen Dimension, die es nach Tillich in allen geistigen Funktionen des Menschen gibt, ist etwas sehr Ahnliches gemeint wie das, was Schleiermacher durch die Metapher der Musik umschreibt, die alles einzelne Sein und Werden begleitet und so zu einem harmonischen Ganzen zusammenschließt. In einer Anschauung, in der das Endliche als Manifestation des Unendlichen betrachtet wird, hat die endliche Wirklichkeit einen ganz anderen Wert als in einer Anschauimg, in der Endliches und Unendliches, Welt und Gott, einander entgegengesetzt werden. So spricht Schleiermacher davon, daß die Religion, wie er sie auffaßt, einen „ganz anderen Realismus ahnden" lasse (Reden, S. 68) als Religion, Wissenschaft und Sittenlehre seiner Zeit, die in 47
ihrem Separatismus und mit ihrem Formalismus das Universum vernichten, indem sie es zu bilden vermeinen. Diesen „Realismus" hat Tillich „gläubigen Realismus" genannt, und er hat ihn auf sehr ähnliche Art beschrieben wie Schleiermacher den „anderen Realismus": „Der gläubige Realismus ist eine Gesamthaltung zur Wirklichkeit. Er ist nicht eine theoretische Weltansicht, aber auch nicht eine Lebenspraxis, er liegt in einer Schicht des Lebens unterhalb der Spaltung in Theorie und Praxis. Er ist auch nicht eine besondere Religion oder eine besondere Philosophie. Er ist vielmehr eine Grundhaltung in jedem Lebensbereich, die sich in der Gestaltung jedes Bereiches ausdrückt. " 8 Er erfaßt in der Wirklichkeit nicht die Oberfläche, sondern die Tiefe. Das kann er aber nur, wenn der Mensch auch in die Tiefe des eigenen Selbst eindringt. Damit meint Tillich das gleiche wie Schleiermacher, wenn dieser in seinen Reden seine Leser auffordert, mit ihm in „das innerste Heiligtum des Lebens" hinabzusteigen: „Ihr findet euch versunken in euch selbst, alles, was ihr sonst als ein Mannigfaltiges getrennt in euch betrachtet... unzertrennlich zu einem eigentümlichen Gehalt eures Seins verknüpft" (S. 71). Der „gläubige Realismus" führt über die Vertiefung in das Mannigfaltige zur Erfahrung der Einheit; er erweist sich als „mystischer Realismus", wie Tillich ihn auch genannt hat, vor allem in seinen Kunstbetrachtungen. Wo wie bei Schleiermacher und Tillich das Unendliche im Endlichen gesehen wird, das All und Ganze im Individuellen, Eigentümlichen, kann auch der Mensch nicht als Dualität von Geist und Körper, die einander widerstreiten, verstanden werden. Tillich lehnt die Vorstellung von Schichten des Seins, die einander ausschließen, ab und spricht statt dessen von Dimensionen, denn Dimensionen 3 Gesammelte Werke, Stuttgart 1 9 5 9 ff., im Folgenden mit Angabe des Bandes im Text zitiert; hier Bd. IV, S. 89.
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liegen ineinander und können sich in einem Punkte treffen. Da in jeder Dimension alle anderen potentiell enthalten sind, können sie einander nicht ausschließen. Der Punkt, an dem sie sich alle als aktuelle treffen, ist der Mensch; er ist eine vieldimensionale Einheit. Wie Tillich wehrt sich auch Schleiermacher gegen eine Spaltung des Menschen in Geist und Körper. Die Erfahrung zeigt ihm, daß wir „keinen Augenblick ohne ein sinnliches Gefühl" sein können, „dieses also der beständige Gehalt unseres Selbstbewußtseins ist" (Gl. I, S. 4 1 ) D i e höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins ist die Frömmigkeit; sie ist jedoch eine Stufe, „welche die niederen mit in sich aufnimmt, nicht aber getrennt von ihnen vorhanden ist" (Gl. I, S. 37). Daher sind „der schwärmerische Ausweg, die sinnlichen Gefühle möglichst zu vernichten, und der ungläubige, alle frommen Gefühle auf sinnliche zurückzuführen", gleich verfehlt (Gl. I, S. 42). Diese Idee vom Menschen wirkt sich in der Ethik aus. Bevor wir auf sie eingehen, müssen wir jedoch ein Prinzip in Schleiermachers Denken erwähnen, das seine Interpretation der Religion, seine Kulturphilosophie und seine Ethik zusammenhält: das Prinzip der Individualisierung. In seiner fünften Rede hat Schleiermacher es in bezug auf die Religion ausführlich behandelt. Seine Hervorhebung der konkreten Religionen, sein Positivismus, ist nicht nur in seiner persönlichen Frömmigkeit begründet, sondern wird durch das Prinzip der Individualisierung auch philosophisch gerechtfertigt. Das Unendliche kann sich nur in einer unendlichen Vielfalt individueller Formen entfalten; jede Begrenzung widerspräche der Unendlichkeit. Die Individualisierung ist also nicht wie bei Schopenhauer ein tragisches Faktum, das nach Möglichkeit rüdegängig gemacht werden sollte, sondern Ausdrude der göttlichen All4 Der Christliche Glaube, 2 Bände, Berlin 1821, im Folgenden als Gl. I und Gl. II im Text zitiert.
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macht, das telos der Aktualisierung des Wesens (wie bei Aristoteles), eine positive Manifestation des Unendlichen, die nach immer weiterer Entfaltung strebt. Sie kann so aufgefaßt werden, weil sich im Individuellen nicht ein Teil der Allheit, sondern die Allheit selbst manifestiert, wenn auch in jeweils bestimmter, begrenzter Form. Auf dieses individuell Bestimmte, Positive kommt es an; es darf nicht beispielsweise zugunsten einer natürlichen Religion von ihm abstrahiert werden, denn nur durch die jeweils individuelle Bestimmtheit oder Konkretheit kann die Allheit dem individuellen Menschen oder einer individuellen Zeit und Kultur offenbar werden. Das Prinzip der Individualisierung ist also der andere, notwendige Pol zu dem mystischen Prinzip der Partizipation an dem All und Ganzen. Diese Polarität von Individualisierung und Partizipation ist bei Schleiermacher jedoch nur implizit gesetzt und nicht wie später bei Tillich als ontologische Struktur zum Teil einer Analyse des Seins gemacht. Wo Schleiermacher in den positiven, konkreten Religionen die Manifestation des Unendlichen sieht, spricht Tillich von dem Sakramentalen als dem Grundelement aller Religionen. In ihm erscheint das Heilige in einer individuellen und partikularen Verkörperung hier und jetzt. Da die Gefahr besteht, daß das Partikulare mit dem Heiligen selbst identifiziert wird, die Gefahr der „Dämonisierung" der Religion, wie Tillich es nennt, bedarf die Religion eines zweiten Elements, nämlich des mystischen, das über die konkreten Erscheinungsformen des Heiligen hinausweist auf das Unbedingte selbst. Das dritte Element der Religion, das der Dämonisierung des Heiligen ebenfalls Widerstand leistet, ist das moralisch-prophetische. In ihm ist das Urteil Gottes gegen alle Religion repräsentiert. Auch Schleiermacher war sich dessen bewußt, daß die Religionen keine wahrhaften Verkörperungen des Unendlichen sind, sondern daß man in den Religionen, „in dem, 50
was immer nur irdisch und verunreinigt" vor uns steht, erst die wahre Religion entdecken müsse (Reden, S. 355). Tillich hat die wahre Religion, die Einheit der drei eben beschriebenen Elemente, als „Religion des konkreten Geistes" bezeichnet, und er glaubte, daß die christliche Religion in dem Kreuz des Christus, d. h. in der Aufhebung der endlichen Verkörperung zugunsten des unendlichen Geistes, das Kriterium für die wahre Religion besitze, womit er aber keineswegs meinte, daß das Christentum selbst die wahre Religion sei-, es muß sich vielmehr selbst immer wieder diesem seinem Kriterium unterwerfen 5 . In dem Ausdruck „Religion des konkreten Geistes" sind die beiden Prinzipien genannt, die nach Schleiermacher und Tillich in der wahren Religion vereint sein müssen: das konkrete, individuelle Endliche, in dem sich das Göttliche manifestiert, und der Geist, das Unendliche, das sich in dem Konkreten entfaltet und es zugleich transzendiert. Audi Schleiermacher hat Gott als „Geist" oder „Weltgeist" bezeichnet; er lehnte die Vorstellung eines persönlichen Gottes ab, weil sie der Unendlichkeit Gottes widerspreche, und er betonte die Bedeutung des Konkreten im Gegensatz zu der Abstraktion der natürlichen Religion. Die Vielfalt der konkreten Religionen und die Einheit des Göttlichen oder, anders ausgedrückt, Konkretheit und Universalität, betrachten weder Schleiermacher noch Tillich als Gegensätze. Im Gegenteil: der Weg zur Allheit, zum Geist, ist kein Weg der Abstraktion — „diese würde die Religion selbst zerstören" 8 —, er führt vielmehr über und durch das Konkrete, durch die positiven Religionen, denn „in der Tiefe jeder lebenden Religion gibt es einen Punkt, an dem die Religion als solche ihre Wichtigkeit 5 „Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen", abgedruckt in Werk und Wirken Paul Tillichs, Stuttgart 1967, S. 1 9 5 ff. 6 ebenda, S. 202 f.
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verliert und das, worauf sie hinweist, durch ihre Partikularität hindurchbricht, geistige Freiheit schafft und mit ihr eine Vision des Göttlichen, das in allen Formen des Lebens und der Kultur gegenwärtig ist" 7 . Wie Schleiermacher sich in seinen Reden gegen die Abstraktion der natürlichen Religion wendet, so wendet er sich ein Jahr später in den Monologen gegen die Abstraktion der Gesetzesmoral. Das Prinzip der Individualisierung gilt für ihn in der Ethik ebenso wie in der Religion. Wie es eine Vielfalt des religiösen Bewußtseins gibt, gibt es auch eine individuelle Verschiedenheit der moralischen Vollkommenheit. Wir sahen, daß es nach Schleiermacher kein sinnliches Bewußtsein gibt, das nicht auf das Unendliche ausgerichtet werden kann. Ebensowenig gibt es einen menschlichen Zustand, der nicht moralisch verklärt werden könnte. Hatten die Reden sich auf das Identitätsprinzip des Spinoza gegründet, so sind die Monologen auf Fichtes Freiheitslehre bezogen. Das wahre Selbst ist frei; es ist nicht der Veränderung unterworfen und in seiner Selbstbestimmung nicht von äußeren Bedingungen abhängig. Es ist sein eigenes Gesetz; Sein und Sollen sind in ihm identisch. Wie die Frömmigkeit als Gefühl für die Gegenwart des Göttlichen im menschlichen Bewußtsein nicht mit subjektiver Gemütsbewegung verwechselt werden darf, so darf auch die Verschiedenheit der individuellen Sittlichkeit nicht mit Willkür oder Gesetzlosigkeit identifiziert werden. Die freie Entwicklung der Persönlichkeit führt vielmehr zu einer „hohen Harmonie der Freiheit", denn sie ist nur möglich in Verbindung mit der Offenheit für das Wesen anderer Menschen und durch die Liebe und kann nur in der Gemeinschaft realisiert werden. Es gibt eine Tradition der Individualmoral von der Romantik über Lebensphilosophie und Existentialismus bis 7 Gesammelte Werke V, S. 98.
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zu Tillichs Ethik, für die sie zwar nicht ausschließlich, aber doch sehr stark bestimmend ist. Für Tillich ist das moralische Gebot, das Gesetz, das eigene Wesen zu erfüllen, eben deshalb gültig, weil es nicht von außen kommt, auch von keinem himmlischen Gesetzgeber, sondern dem eigenen Wesen entstammt. Wie bei Schleiermacher kann jedoch das Gebot nur erfahren und befolgt werden in der Begegnung mit anderen Personen, für die das gleiche Gebot gilt, das eigene Wesen zu verwirklichen. Aber Tillich unterscheidet scharf zwischen dem wahren Wesen, der Essenz einer Person, und ihrer Existenz. Die Existenz ist immer „gefallene" Existenz, sie ist dem wahren Wesen entfremdet. Sein und Sollen fallen im Leben nicht zusammen. Aus der Spaltung von Essenz und Existenz ergibt sich die Notwendigkeit des Gesetzes, das die Wiederherstellung der essentiellen Einheit verlangt. Im Einklang mit der mystischen Tendenz in ihrem religiösen Denken liegt bei Schleiermacher wie bei Tillich das Gewicht auf dem Sein und nicht auf dem Sollen wie bei Kant. Aber innerhalb der Ethik unterscheiden sich beide radikal in ihrer Interpretation der Sünde. Sie ist nach Schleiermacher kein absoluter Abfall von dem Zustand der Vollkommenheit, sondern eine „Hemmung" in dem Erreichen des vollkommenen Gottesbewußtseins. Da jedoch, wie wir sahen, in jedem Mensdien ein latentes Gottesbewußtsein vorhanden ist, ist die Hemmung nicht absolut; es besteht nur ein gradueller Unterschied zwischen einem „kraftlosen" und einem „kräftigen" Gottesbewußtsein. Je ernster die Sünde genommen wird, um so wichtiger wird die Gnade. Es ist folgerichtig, daß Tillich, der die Existenz als solche als Zustand der Entfremdung oder der Sünde versteht, die Möglichkeit zum moralischen Handeln von der Gnade abhängig macht. Der entfremdete oder gefallene Mensch kann die Wiedervereinigung mit seinem wahren Selbst nicht aus eigener Kraft vollbringen; er 53
bedarf dazu der göttlichen Gnade. Die Erfüllung des Gesetzes, soweit sie dem Menschen möglich ist, ist nicht seine Leistung, sondern eine Wirkung der Gnade in ihm. Der Mensch ist nicht nur in seinem Sein, sondern auch in seinem Sollen von Gott abhängig. Wenn Schleiermacher in seiner Glaubenslehre Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" definiert und das Christentum als eine Religion, in der das Abhängigkeitsgefühl ein teleologisches, auf die Erlösung durch Christus ausgerichtetes ist, so klingt das zunächst ähnlich wie Tillichs Lehre von der Gnade als Voraussetzung der Moralität. Aber es besteht ein Unterschied, und sogar ein wesentlicher. Zunächst spricht Schleiermacher von dem „schlechthinnigen" oder absoluten Abhängigkeitsgefühl und meint damit eine „ursächliche" Abhängigkeit, wie er es nennt. Vielleicht wäre es besser, statt dessen von ontologischer Abhängigkeit zu sprechen, um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß es sich um ein Verhältnis von Ursache und Wirkung handelt, in dem die Ursache ein von dem Bewirkten Getrenntes ist, auf das eine Gegenwirkung möglich wäre — einen Gedanken, den Schleiermacher entschieden verwirft. Das Christentum unterscheidet sich nun nach Schleiermachers Auffassung von den anderen Religionen dadurch, daß in dem christlichen Bewußtsein alle frommen Regungen auf die Erlösung durch Christus bezogen sind. Die Abhängigkeit von Gott ist Abhängigkeit von der Erlösung, also eine teleologische Abhängigkeit. Erlösung ist Aufhebung der Sünde, und Sünde ist „Hemmung" in der Entwicklung des Gottesbewußtseins. Dieses kann, wie wir sahen, stärker oder schwächer sein; nur in Jesus ist es vollkommen, deshalb kann er der Erlöser sein. In Schleiermachers Glaubenslehre steht die Idee der Erlösung, auf die das christliche Bewußtsein ausgerichtet ist, nun so sehr im Vordergrund, daß sie das Faktum der 54
Sünde fast verdeckt. Das Sündenbewußtsein dient nur dazu, den Menschen daran zu gemahnen, daß er sich allein durch das Gottesbewußtsein bestimmen lassen soll. Es ist von Gott gesetzt, um den Menschen auf die Erlösung hin auszurichten. Da kein absoluter Sündenfall angenommen wird, ist auch die Idee der paradoxen Gnade, wie Tillich sie versteht, d. h. der Gnade, die trotz der Sünde vergibt, nicht nötig. Schleiermacher spricht zwar von einer zweiten Schöpfung durch die erlösende Liebe, aber im Grunde kommt die Versöhnung durch Christus oder die göttliche Gnadenwirkung einer allmählichen Entwicklung gleich, und zwar einer Entwicklung, bei der der Mensch mittätig ist. Durch diese Mittätigkeit hat die Ethik bei Schleiermacher ein größeres Gewicht als bei Tillich, der, in Übereinstimmung mit Luther, die Erlösung allein als Akt Gottes betrachtet. Die teleologische Ausrichtung auf die Erlösung, die an sich noch nicht moralisch bestimmt zu sein braucht, konnte Schleiermacher mit der Ethik verbinden, weil er dem Menschen und der Menschheit als ganzer die Möglichkeit der aktiven Mittätigkeit zugesteht. Er spricht davon, daß die Glaubenslehre sich zwischen den Extremen des Manichäismus und des Pelagianismus halten müsse (Gl. II, S. i n f f . ) . Das hat er getan mit einer leichten Neigung in die pelagianische Richtung. Wenn wir jetzt auf die Synthese von Mystik und ethischem Dualismus zurückkommen, so können wir sehen, daß trotz der großen Ähnlichkeit zwischen Schleiermacher und Tillich und trotz der Tatsache, daß Tillich Schleiermachers Synthese gewissermaßen als Vorbild betrachtet hat, die Versuche zur Synthese bei beiden verschieden ausfallen mußten. Was den einen Pol, die Mystik, betrifft, stehen beide auf demselben Boden: beide fassen die Religion als mystische Erfahrung auf. Aber in bezug auf den Gegenpol zeigt sich ein Unterschied. Schleier-
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macher konnte noch eine Ethik ausbilden (und sehr viel weiter ausarbeiten als Tillich), ohne mit seiner mystischen Religiosität in Widerspruch zu geraten, weil er das Freiheitsprinzip, auf dem alle Ethik beruht, durch den Glauben an eine „Harmonie der Freiheit" mit dem Identitätsprinzip, dem mystischen Pol, in Einklang bringen konnte. Im 20. Jahrhundert dagegen ist es nicht mehr möglich, sich auf eine „harmonische Weltordnung", welcher Art auch immer, zu berufen. Für den Menschen dieser Zeit steht die Entfremdung oder Sünde als Wirklichkeit im Vordergrund und nicht die Einheit der Welt wie noch in der Romantik. Auf die Sünde hat Tillich zwar eine religiöse, aber im Grunde keine moralische Antwort gefunden: sich der göttlichen Gnade öffnen und sie annehmen. In dieser Hinsicht ist der ethische Pol bei ihm — trotz des Dualismus von Essenz und Existenz — nicht vorhanden; aber er ist es auf eine andere Art. Tillich hat in seiner Schrift Der Mut zum Sein als das Hauptproblem des heutigen Menschen nicht die Sünde, sondern den Sinnverlust und die Verzweiflung darüber bezeichnet. Audi dieses Problem kann man als ein moralisches betrachten, und darauf hat Tillich eine Antwort gegeben, die er aus seiner mystischen Gottesidee ableiten konnte und die trotzdem ein ethisches Prinzip ausdrückt: den Mut zum Sein. Die Identität von Mensch und Gott ist nicht nur ein Zustand des Bewußtseins oder des Gefühls, sondern auch ein Zustand des Seins, nämlich der Seinsmächtigkeit, die die Verzweiflung überwindet und Mut zum Sein gibt. Wenn Mut zum Sein jedoch nur der Ausfluß der göttlichen Macht im Menschen wäre, könnten wir noch nicht von einem ethischen Prinzip sprechen, weil ihm das Element der Freiheit fehlte. Der entscheidende Punkt ist, daß der Mut zum Sein eine Bejahung des Selbst und der Welt trotz der Sinnlosigkeit des Seins ist. Das Negative wird nicht in einem größeren harmonischen Ganzen zum Verschwin-
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den gebracht, sondern es wird in unverminderter Bedeutung in den Mut aufgenommen. Der Mut zum Sein trotz der Negativität des Seins ist das menschliche Gegenstück zu der göttlichen Gnade trotz der Negativität des Menschen. Insofern die Negativität des Seins auch die Negativität des Selbst in Form der Sünde einschließt, ist der Mut zum Sein allerdings eine Antwort auch auf das Problem der Sünde. So hat Tillich es in dem Werk Der Mut zum Sein dargestellt. Aber der Mut, die Gnade anzunehmen, ist eben doch eine religiöse und keine moralische Haltung: er gründet auf dem Glauben an den Gott der Liebe. Der Mut angesichts der Sinnlosigkeit dagegen ist die Bejahung des Lebens, nachdem der Mensch den Glauben an den Gott der Liebe verloren hat. Wenn Tillich auch diesen Mut noch als Ausdrude des Glaubens versteht, nämlich eines „absoluten Glaubens", so ist damit nur gesagt, daß wir letzten Endes in allem unsere Abhängigkeit von Gott erkennen können, auch noch in unserem freien moralischen Handeln. Damit ist zwar auf den einen Pol der Synthese das größere Gewicht gelegt, aber der andere Pol ist noch nicht geleugnet; denn innerhalb dieser letzten Abhängigkeit von Gott muß der Mut zum Sein angesichts der Sinnlosigkeit des Seins trotz allem als freier Akt begriffen werden, als eine Bejahung des Seins, die die Negativität einschließt, d. h. als paradoxer Akt. Der Begriff der Paradoxie ist hier in dem Sinne verstanden, in dem ihn Tillich auf die göttliche Gnade anwendet, die den Sünder zum Gerechten macht, wie es in dem simul peccator, simul justus ausgedrückt ist. Der paradoxe Akt schafft eben kraft seiner Paradoxie eine neue Wirklichkeit — das gilt wie für die göttliche Gnade, so auch für den menschlichen Mut zum Sein trotz der Sinnlosigkeit des Seins. Tillich hat moralisches Handeln als „Sinnverwirklichung" definiert. Folglich kann man sagen, daß auch der Mut zum Sein trotz der Sinnlosigkeit des Seins ein moralischer Akt
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ist, denn er schafft kraft seiner Paradoxie neuen Sinn. — Während Schleiermacher die beiden Seiten der Synthese zusammenbringt, indem er behauptet, daß die individuelle Moralität zu einer Harmonie der Freiheit führt, löst Tillich den Widerspruch zwischen den beiden Polen dadurch auf, daß er sowohl die Einheit mit Gott wie das moralische Handeln als Ergebnis eines paradoxen Aktes begreift. Auf diese Art hat er die Synthese von Identitätsprinzip und ethischem Prinzip für den heutigen Menschen, der sie auf dem Schleiermacherschen Weg nicht mehr vollziehen kann, von neuem erreichbar gemacht. Schleiermacher hat den Geist der Religion ursprünglich gegen die Rationalisten und Vertreter der natürlichen Theologie verteidigt. Bei der dritten Ausgabe seiner Reden im Jahre 1 8 2 1 hielt er es für nötig, ihn auch gegen die theologischen Reaktionäre, gegen die „Frömmelnden" und „Buchstabenknechte" zu verteidigen. Bei dieser Gegnerschaft zwischen ihm und der orthodoxen Theologie ist es geblieben. Sie hat sich sogar seit dem Aufkommen der Neuorthodoxie und Emil Brunners Angriff auf Schleiermacher (in seinem Buch „Die Mystik und das Wort", 1924) noch verstärkt. Andererseits ist auch Sdileiermachers Fortwirken in der liberalen Theologie, als deren Vorläufer und Begründer er gilt, nicht nur positiv gewesen. Wie seine Anschauungen durch falsche Auslegung zu einer Subjektivierung und Relativierung der Religion beitrugen, hat Tillich in der vorstehenden Vorlesung beschrieben. Wie groß jedoch seine positive Wirkung war, ist durch nichts besser bezeugt als durch Tillichs eigenes Werk und seine außerordentliche Ausstrahlung. Ihre geistige Ehrlichkeit hat beide Denker der Gefahr des Mißverständnisses ausgesetzt. Daß sie die christliche Offenbarung nicht als unmittelbare Äußerung Gottes verstanden, sondern sie „nur in Verbindung mit ihrer Auffassung" sahen (GZ. 1, S. 102), daß sie den menschlichen Aspekt in allen
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religiösen Symbolen und Ideen hervorhoben, trug ihnen den Verdacht ein, daß sie die Religion psychologisierten. Was aber den Orthodoxen verdächtig war, das wurde von den Liberalen begrüßt. So ist es dazu gekommen, daß sich heute die Theologie des Säkularismus neben Bonhoeffer auch auf Tillich beruft 8 . In seiner letzten, kurz vor seinem Tode gehaltenen Rede hat Tillich noch einmal die Gelegenheit wahrgenommen, seine Stellung zum Säkularismus klarzumachen 9 . Er hatte ihn als notwendige Kritik an allen Formen dämonisierter Religion immer gelten lassen; aber er hatte sich wie gegen die Dämonisierung auch gegen die Profanisierung der Religion in Form ihrer Säkularisierung gewendet. Daß das Heilige sich im Säkularen ausdrückt — eine Auffassung, die Tillich mit Schleiermacher teilt —, bedeutet nicht, daß es im Säkularen aufgeht, d.h. daß es ohne Transzendenz ist. Und wenn wir das Unendliche audi nur am Endlichen und durch das Endliche erfahren, so ist diese Erfahrung, wie Schleiermacher gezeigt hat, nur insoweit eine religiöse, als sie sich in ihrer Beziehung auf das Endliche zugleich auf das Unendliche in ihm richtet. Es kommt nach Tillich auf den Unterschied an zwischen dem bloß Säkularen und einem Säkularen, das Träger des Göttlichen ist und als solches erfahren wird. Es ist also unberechtigt, die theologische Richtung, die durch Schleiermacher und Tillich vertreten wird, als eine Entwicklung zu betrachten, die folgerichtig zum Säkularismus führt. Beide haben die Vision von einer Religion des konkreten Geistes gehabt. Um sie zu verwirklichen, hielt Tillich die Uberwindung sowohl der orthodox-exklusiven wie der säkular-ablehnenden Haltung für nötig. Schleiermacher hatte gegen 8 Vgl. beispielsweise Thomas J. Altizer, The Gospel of Christian Atheism, Philadelphia 1966; deutsch: . . . daß Gott tot sei. Versuch eines christlichen Atheismus, Zürich-Stuttgart 1968. 9 Werk und Wirken Paul Tillidis, S. 189 f.
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die gleichen Fronten gekämpft, und seine Warnung vor den beiden der Religion feindlichen Prinzipien gilt auch heute noch und hätte ebenso gut von Tillich ausgehen können: „Mehr als alles aber bitte ich euch, laßt euch nicht verführen von den beiden feindlichen Prinzipien, die überall und fast von den ersten Zeiten an den Geist jeder Religion haben zu entstellen und zu verstecken gesucht. Überall hat es sehr bald teils solche gegeben, die ihn in einzelnen Lehrsätzen haben umgrenzen und das, was noch nicht zur Übereinstimmung mit diesen gebildet war, von ihr ausschließen wollen; teils auch solche, die, es sei aus Haß gegen die Polemik oder um die Religion den Irreligiösen angenehm zu machen, oder aus Unverstand und Unkenntnis der Sache und aus Mangel an Sinn, alles Eigentümliche als toten Buchstaben verschreien, um aufs Unbestimmte loszugehen. Vor beiden hütet euch! Bei steifen Systematikern, bei seichten Indifferentisten werdet ihr den Geist der Religion nicht finden; sondern bei denen, die in ihr leben als in ihrem Element und sich immer weiter in ihr bewegen, ohne den Wahn zu nähren, daß sie sie ganz umfassen können" (Reden, S. 402 f.).