Friedrich Schleiermacher und die Frage nach dem Wesen der Religion: Ein Vortrag [Reprint 2021 ed.] 9783112435342, 9783112435335


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Friedrich Schleiermacher und die Frage nach dem Wesen der Religion: Ein Vortrag [Reprint 2021 ed.]
 9783112435342, 9783112435335

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Friedrich Schleiermacher und die ^rage

nach dem Wesen der Religion.

Lin Vortrag

Wilhelm Bender, Dr. theol. et philos. ord. Professor ein der Universität Bonn.

Bonn, Eduard Weber’s Verlag (Julius Flittner). l877.

Über Friedrich Schleiermacher und die Frage nach dein Wesen der Religion habe ich im Laufe dieses Monats in Bonn und Frankfurt a. M. frei vorgetragen. Auf mehrfach geäußerten Wunsch hie­ siger und dortiger Zuhörer übergebe ich meine nachträg­ lich erweiterte Darstellung dein Drucke in der Hoffnung, daß dieselbe gerade in der jetzigen kirchlichen Krisis auch für weitere Kreise ein Interesse bieten wird. Zugleich erlaube ich mir Solche, welche sich für die genauere wissenschaftliche Begründung meiner Darstel­ lung und Kritik der Schleiermacher'schen Theorie interessiren, auf mein Buch über Schleiermachers Theologie ^Nördlingen bei Beck, h Bd. ^876) zu verweisen. Bonn, im November s877.

Ls war eine Zeit gewaltiger Gährung im Völker­ leben, in welcher Friedrich Schleiermacher seine weit über Deutschland hinaus gehörten Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern richtete. Ueberall dasselbe Mißbehagen an den bestehenden Verhält­ nissen, dieselbe leidenschaftliche Neigung zur Kritik der überkommenden Autoritäten; überall im staatlichen und kirchlichen, im geselligen und wissenschaftlichen Leben derselbe ungestüme Drang zur Neubegründung und Neu­ gestaltung. Line Stunde der Abrechnung mit der Ver­ gangenheit, wie sie im Völkerleben die schöpferischen Lpochen einzuleiten pflegt, schien gekommen zu sein. Und während die englischen Freidenker, die französischen Lncyclopädisten und die deutschen Aufklärer der Reihe nach die menschliche Natur mit ihren angeborenen Bedürfnissen und Rechten als obersten Maßstab für die Beurtheilung aller Verhältnisse im öffentlichen und privaten Leben auf­ stellten, glaubte ein Goethe das verschleierte Bild be­ reits enthüllen und der abgelebten Menschheit das neue Lebensideal offenbaren zu dürfen, das sie verjüngen werde: die reine Menschlichkeit, wie sie unter keinen anderen Ge­ setzen als den ewigen des Universums stehend, in der freien Entfaltung ihres eigenen Lebensgehaltes ihre wahre Be­ stimmung und ihre innerste Befriedigung finden sollte.

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Freilich eine Volksbewegung im großen Stile war es nicht, welche aus dem ^8. in das 19- Jahrhundert hinüberführte, wenigstens nicht in Deutschland. Denn während das französische Volk die in seiner Person be­ leidigte Majestät der Menschenrechte in dem Blute eines entarteten Königsgeschlechts sühnte, kam es in Deutsch­ land nur. zu akademischen Erörterungen über die beste Welt und die vollkommenste Staatsform. Und während man dort nicht nur der zur Hofdienerin herabgesunkenen römischen Priesterkirche den Vernichtungskrieg erklärte, sondern in knabenhaften: Frevelmuthe die Zügel der Weltregierung der Hand Gottes entreißen wollte, um sie in die blutbefleckte Hand des souveränen Pöbels zu legen, begnügte man sich in Deutschland damit, die officielle Kirche mit der Verachtung überlegener Bildung zu bestrafen und in Kunst und Wissenschaft die Befrie­ digung jener geheimnißvollen Bedürfnisse zu suchen, die das gemeine Volk nur immer weiter in der ihm eben­ bürtigen Kirche finden mochte. Aber ein gemeinsamer Geist ist es doch, der durch die ganze Bewegung der Zeit hindurch geht: der Geist der Kritik des Bestehenden nach Maßgabe der unver­ äußerlichen Forderungen und Rechte der überall gleichen Menschennatur, und der Geist der Neugestaltung des Lebens in allen seinen Formen aus den Grundlagen heraus, die nicht die Willkür, sondern die Gesetze des Daseins selbst dem Menschen gelegt haben. Und wenn insbesondere für das kirchliche Gebiet eine Vergleichung mit der Neformationszeit gestattet ist, so lautete die Lo­ sung hier und dort: zu den Quellen! Zu den Quellen -des Wissens, des Glaubens und der Sitte! Aber damals stand die christliche Religion noch in ungebrochenem An­ sehen. Das Bedürfniß nach Versicherung über die Grund-

lagen des Glaubens fand daher leicht seine Befriedigung in dem Rückgang auf die heilige Schrift, auf Christus. Jetzt dagegen war mit der Airche das Christenthum und mit dem Christenthum die Religion überhaupt in Frage gestellt. Jetzt galt es die Religion selbst zu retten. Und zu retten schien sie nur, wenn auch sie auf ein allgemeines und gesetzmäßiges Bedürfniß der menschlichen Natur zu­ rückgeführt werden konnte. Das ist die Frage, in deren Lösung Friedrich Schleier­ macher seine Lebensaufgabe gefunden hat. Aus dem Drange der Zeit hat er sie aufgenommen, um für alle Zeit wenigstens den rechten Weg zu ihrer Beantwortung zu zeigen. Nicht die Rirche hat ihm diese Frage gestellt: sie konnte das Wesen der Religion nicht in Gefahr sehen, solange nur der Mechanismus ihrer Bekenntniß- und Rultusformen den Dienst nicht versagte. Und nicht die schulmäßige Theologie hat ihm bei ihrer Lösung geholfen: sie war immer mehr um die Formulirung der Produkte ihrer erleuchteten Vernunft wie um die Erkenntniß der Religion, wie sie in der Geschichte, wie sie im Men­ schen lebt, bekümmert. Vielmehr im schneidendsten Gegen­ satze zum officiellen Rirchenthume jeder Facon hat Schleier­ macher eine Lebensfrage der Menschheit aufgeworfen, um sie aus der Tiefe seines eigenen Gemüthes — und freilich auch in den Schranken seiner eigenthümlichen Bildung — zu beantworten.

Ein Uopf ersten Ranges und zugleich ein Mensch von tiefstem Gemüthe, ein Charakter von seltener Rein­ heit und zugleich ein Geist der, man darf sagen, alle Lebensinteressen seines Volkes zu seinen eigenen gemacht hat, war Friedrich Schleiermacher schon durch die An-

8 sänge seiner Entwickelung auf das große Endziel seiner Lebensarbeit hingewiesen worden. Der Sohn einer schlesischen Predigerfamilie hat er in frühester Jugend unter der Zucht eines Vaters ge­ standen, für den es bezeichnend ist, daß er eine lange Reihe von Zähren die orthodoxe Auffassung des Christenthums auf seinen Amtseid hin vertrat, ohne von ihr überzeugt zu sein. Als er dann unter dem Einflüsse des Pietismus auch innerlich für das gewonnen war, was er von amtswegen gelehrt hatte, glaubte er für den Sohn nicht besser sorgen zu können, als durch seine Einführung in den Schooß der Herrnhuter'schen Brüdergemeinde. Ls ist das Charakteristische dieser Form des deutschen Pietismus, daß sie das religiöse Verhältniß als ein privatverhältniß zwischen der einzelnen Seele und dem Er­ löser auffaßt, das indessen bald nach Analogie des Freundschafts- bald des Liebesverhältnisses ausgedeutet wird. Zudem man somit, in absichtlicher Opposition gegen den damals herrschenden Nationalismus, den Erlöser aus seiner Mittlerstellung hinaufrückte an die Stelle Gottes selbst und ihn als letzte und einzige Quelle alles Heiles anbetete, zog man ihn andererseits in der religiösen Praxis zu einem Ver­ kehr auf gleichem Fuße herab, ohne zu beachten, wie leicht in dem zärtlichen Umgang mit dem ,,Bräutigam und Freund der Seele“ die Ehrfurcht vor dem Herrn der Seele vertändelt wird. Zn diesem unmittelbaren Verkehr mit dem Erlöser sollte nun der Mensch persönlich alle jene seelischen Vorgänge erleben, in welchen der Pie­ tismus mit Recht das Wesen des Christenthums erkannte: die Beruhigung des um seine Sünde und sein ewiges Schicksal bekümmerten Gemüths und die Heiligung des Charakters in der Hingabe an das mit Christus in die Geschichte eingetretene ethische Lebensideal.

9 Der junge Schleiermacher hat sich anfangs ganz dem Genusse dieses unmittelbaren Seelenverkehrs mit dem Heilande hingegeben. Don keinem Luftzuge aus der kalten Welt berührt, schien er die Seeligkeit des Fimmels irrt Vergessen der Trde vorweggenommen zu haben. „Je ungestörter desto bester, je einförmiger desto ruhiger, desto näher dem Fimmel, am liebsten ganz da", so lautet das Bekenntniß, welches der föjährige damals seiner Schwester ablegte. Bald genug sollte es ganz anders lauten. Seine thatkräftige Natur konnte sich auf die Dauer doch nicht in einer religiösen Mystik befriedigt finden, die, blind und kalt der Welt und ihrer Noth ge­ genüber, die eigenthümliche Verbindung von religiöser Genußsucht und weltlicher Askese des Mönchthums in der evangelischen Kirche zu erneuern schien. Die angst­ volle Frage faßt ihn an, ob der intime Verkehr mit dem persönlich nahen Heilande nicht auf eine holde Täuschung seiner Einbildungskraft Hinauslaufe. Dazu kamen Zweifel an dem orthodoxen System, das der Pietismus bei seinem ausschließlichen Interesse für die individuelle Bekehrung in Geltung ließ, ohne sich dafür erwärmen zu können. Harte Seelenkämpfe stellen sich ein. Aber einmal zur Klarheit mit sich selbst gekommen, duldete es seine wahr­ haftige Natur nicht, daß er mit dem Geständniß seines völligen Zerfalls mit einer Auffassung des Christenthums zurückhielt, die ihm ebenso unbiblisch wie widersinnig er­ schien. Lr kann es nicht glauben, „daß derjenige ewiger, wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte". Und ebensowenig kann er sich überzeugen, daß sein Tod „eine stellvertretende Genugthuung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat und er nicht glaubet! könne, daß sie nöthig gewesen". „Denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkom-

\0 menheit, sondern zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind." Der Bruch mit dem geliebten Vater und mit der Gemeinde war die unmittelbare Folge dieses Bekenntnisses. Aber während der junge Schleiermacher sich lossagte von der orthodoxen Auffassung und der pietistischen Methode des Christenthums, nahm er als bleibende Errungenschaft aus dieser Epoche seines Lebens die Ueberzeugung von der Realität der Religion und die warme Begeisterung für den Erlöser mit, in dem er alle Zeit das Urbild voll­ kommener mit Gott versöhnter Menschlichkeit erkannt hat. Und der feinsinnige Uebersetzer des Plato, der Schüler und Kritiker Kants, der schwärmerische Verehrer Spinozas hat es nachmals nicht verschmäht, sich im Einblick auf diese Zeit einen „Herrnhuter höherer Ordnung" zu nennen. Aus der Stille des in Gott verborgenen Lebens der Herrnhutischen Gemeinde tritt Schleiermacher hinaus auf den Markt des Lebens, um die Wahrheit seiner Ideale im harten Kampfe mit der Welt zu erproben. Die Hörsääle der Wissenschaft, die fallen der Kunst thun sich vor ihn: auf; das öffentliche Leben in Staat und Kirche erregt sein Interesse. An Alles gibt er sich im fröhlichen Glauben unverdorbener Jugend hin, um aus Allem zu nehmen, was dem Aufbau seines eigenthümlichen Cha­ rakters dienen konnte. Ich darf diese Epoche seiner Entwickelung flüchtiger berühren. Von den Herrnhutern eilt er nach Halle, um — trotzdem ihn sein Vater wie einen Verlorenen beklagte — Theologie zu studiren. Freilich scheinen auch jetzt die alten Heiden eine stärkere Anziehungskraft auf ihn aus­ geübt zu haben wie die Kirchenväter. Und dem heftig entbrannten Kampfe der Rationalisten und Supernatura-

u listen um den Besitz der Kirche bat er mit vornehmer Gleichgültigkeit zugeschaut, ohne für etwas anderes als für die Fehler beider Richtungen ein Interesse zu zeigen. Dem akademischen Studium folgt der leidige theo­ logische Zwischenzustand der Hofmeisterei. Die freie Zeit wird auch weiter ernster wissenschaftlicher Arbeit ge­ widmet, und zwar ist es neben Plato und Spinoza hauptsächlich die epochemachende Philosophie Kants, welche ihn jahrelang fesselt. An ihr hat Schleiermacher wissenschaftlich denken gelernt, und im Gegensatze zu ihr hat seine ethisch-religiöse Lebensansicht zuerst Gestalt gewonnen. Und während sein Denken ganz gefangen war von solchen Meistern der Wissenschaft, ist er als Prediger auf die Kanzel gestiegen, um aus eigenster innerer Er­ fahrung Zeugniß abzulegen von der versöhnenden und heiligenden Macht des Christenthums — ein laut reden­ der Beweis dafür, daß die christliche Heilserfahrung nicht abhängt von der Einsicht in die objectiven Beding­ ungen oder auch die geschichtliche Entstehung des christ­ lichen Glaubens. Die Berufung Schleiermachers als Prediger an die Charite in Berlin bezeichnet einen Wendepunkt in seinem Leben. Hier ging ihm im Verkehre mit Männern, wie Brinckmann und Friedrich Schlegel, mit Frauen, wie Henriette Herz und Dorothea Veit, sein Berus auf als Verkündiger einer neuen Lebensanschauung vor die Nation zu treten. Und wie sich sein ganzes Arbeiten und Denken Jahre hindurch immer um das eine Problem der Religion bewegt hatte, so war es denn auch die Religion, welche er jetzt als die Grundkraft alles mensch­ lichen Lebens zu deuten unternahm.

\2 Was ist eigentlich Religion? Mit dieser Frage wendet sich Schleiermacher in seinen berühmten Reden zunächst an die Gebildeten seiner Zeitgenossen. Wäre sie wirklich nur ein Mittel, um die freie Entwickelung der Menschheit niederzuhalten? Erfunden von schlauen Priestern, welche die geheimnißvollen Seiten des Lebens ausbeuten für ihre egoistischen Zwecke? Und bewährt erfunden von gewaltthätigen Staatskünstlern, welche die Furcht vor Gott brauchen, um ihre Herrschaft um so fester zu begründen? Dann allerdings müßte mm: sie bekämpfen als die schlimmste Feindin der Menschheit, die durch kein anderes Gesetz beherrscht werden darf als durch das Gesetz ihres eigensten Lebens. Nun kann man sich freilich nicht wundern, daß eine so niedrige Vorstellung von der Religion sich verbreitet hat, wo die Kirche selbst, die berufene Dienerin und Pflegerin der Religion, von den thörichtsten Vorurtheilen über das Wesen der Religion beherrscht wird, und eben dadurch so viele Menschen von gesundem Gemüth und klarem Kopfe an aller Religion irre macht. Der Redner wendet sich zu der Kirche seiner Zeit, um deren Besitz damals wie heute Orthodoxe und Ratio­ nalisten stritten, während die Pietisten, von beiden ab­ gestoßen, in ihren Privaterbauungen das suchten, was die Kirche ihnen versagte. was ist Religion? Ist sie wirklich, wie es das gemeinsame Vorurtheil der Rationalisten und Orthodoxen zu sein scheint, ein doktrinärer oder historischer Glaube, ein bestimmtes wissen über die Religion und ihre Ge­ schichte? Unmöglich! Dann wäre die Menge oder die Klarheit oder die Sicherheit des dogmatischen wissens Merkmal der wahren Frömmigkeit. Nun lehrt aber die

\3 einfachste Erfahrung, daß man alle Dogmen, Vernunft­ ideen und Historien wissen und bekennen kann, ohne auch nur eine Ahnung von Religion zu haben. Also kann das Mesen der Religion unmöglich in einem bestimmten Missen dogmatischer oder historischer Natur, liberaler oder orthodoxer Facon gefunden werden. Oder wäre die Religion vielleicht ein bestimmtes Thun, — ein Dorurtheil, in dem die verwandten Seelen der Rationalisten und Orthodoxen wieder zusammenfließen — sei es die einfache Pflichterfüllung in Haus und Beruf, sei es die freiwillige Merkthätigkeit im Dienste der bedürftigen Menschheit oder sei es endlich die regelmäßige Clus­ übung kultischer und kirchlicher Handlungen? Unmöglich, antwortet Schleiermacher, dann wäre ja die Torrektheit des äußeren, moralischen oder kirchlichen handelns die zuverlässige Probe aus die Aechtheit der Religiosität eines Menschen. Nun lehrt aber die alltägliche Er­ fahrung, daß man außerordentlich rechtschaffen leben kann, ohne auch nur eine Ahnung von Religion zu haben, daß man der regelmäßigste Kirchengänger und der eifrigste Förderer aller kirchlichen Merke sein kann, ohne daß auch nur ein Funke, ihres heiligen Geistes in der Seele gezündet hat. Nimmermehr kann also das Mesen der Religion in einem bestimmten moralischen oder kirchlichen Thun gefunden werden. Indessen wenn die Religion nicht in dem Bekennen bestimmter Lehren und in dem Ausüben bestimmter Merke besteht, was ist sie dann? Um diese Frage richtig zu beantworten und zugleich zu zeigen, wie die Religion mit Nothwendigkeit aus jeder besseren Seele hervorbricht, muß man eindringen in das innere Heiligthum der Seele, muß man es ver­ stehen diese Seele in den Momenten der Erhebung zu

Gott zu belauschen. Wenn die Seele, ergriffen von der Majestät des Weltalls, erschüttert von dem ehernen Gange der Nemesis in der Geschichte gar nicht anders kann als fühlen und denken: es ist ein Gott — das ist Religion. Wenn sie überwältigt von einem unendlichen Glück im reinsten Dankesgefühl nach oben blickt, oder im Kampfe mit der Noth und Versuchung von aller Welt verlassen sich hilfesuchend aufbäumt nach oben — das ist Religion. Unter dem Eindruck des Welt­ alls und des Geschichtsganges und mehr noch unter dem Eindrücke des eigenen wechselvollen Schicksals überwältigt werd en von dem Bewußt­ sein der eigenen wie der ganzen Welt Abhängig­ keit von einem unendlichen, Alles hervorbrin­ genden, Alles durchdringenden Leben — das ist Religion, kein Erkennen und kein handeln, sondern ein Lrgriffensein des innersten Ge­ müths von Gott! Diese Antwort, obwohl sie Schleiermacher wie eine neue Offenbarung aufgegangen war, ist nicht neu. Ls ist das Bekenntniß der religiösen Mystik aller Zeiten und aller Religionen. Ein Plato und ein Augustin, ein Meister Eckhart und ein Luther, ein Spinoza und ein Tersteegen bekennen es mit Schleiermacher: Das Wesen der Religion ist die innerliche Erfahrung der Abhängig­ keit unseres Lebens von einem einzigen, unendlichen, Alles beherrschenden und durchdringenden Leben, eine Abhängigkeit, in der wir die Lösung des Räthsels des Daseins und den Schutz unseres von Uebel, Tod und Gericht bedrohten Lebens suchen und finden.

\5 Aber Schleiermacher wollte doch mehr als ein per­ sönliches Bekenntniß seiner eigenthümlichen Religiosität ablegen. Ls galt ihm nicht nur darum, der trostlosen Veräußerlichung der Religion in der Rirche entgegen­ zutreten, die immer in der Gefahr schwebt, die geistige Anbetung Gottes mit der Verehrung ihrer Tultus- und Bekenntnißformen zu vertauschen. Er wollte ungleich mehr. Er wollte den Beweis antreten, daß die Religion eine gesetzmäßige Erscheinung im geistigen Leben des Menschen überhaupt ist. Und er war sich dessen sehr wohl bewußt, daß mit der Behauptung, die Religion sei das Gefühl für die absolute Abhängigkeit der ganzen Welt von Gott, dieser Beweis nicht erbracht sei. In der That, das batte auch die alte Theologie gelehrt, daß wir gar nicht uni hin können, uns mitsammt der ganzen Welt als Wirkung oder Offenbarung oder Geschöpf einer allmächtigen Tausalität, die wir Gott nennen, zu fühlen und zu denken.. Und es wäre ja nur die bequeme Auskunft der Gedankenlosigkeit ge­ wesen, wenn er bei der Tonstatirung dieses absoluten Abhängigkeitsgefühls als eines „Faktums" im geistigen Leben des Menschen hätte stehen bleiben wollen. Gerade hier, wo es sich um die Erklärung der Entstehung und der mannichfachen Vermittelung dieses „unmittelbaren" Bewußtseins von Gott handelt, setzt seine tiefgreifende Untersuchung ein. Wie kommen wir überhaupt dazu uns mitsammt der ganzen Welt absolut abhängig von Gott zu füh­ len ? Genügt es nicht unser Dasein als Lrzeugniß der menschlichen Gattung, der Natur, des Universums zu erklären P In der Umgäbe an die Menschheit und an die große Natur den Schutz, die Sicherheit und die Vollendung des eigenen Daseins zu suchen?

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Sind nicht die alten Religionen mit ihrer Vergötter­ ung der Welt ein Beweis dafür, daß das Bedürfniß des Menschen, sein abhängiges und beschränktes Dasein zu erklären und zu bereichern, nicht nothwendig über die Grenzen dieser Welt, in der wir leben und von der wir leben, hinausführt? Und haben nicht Wissenschaft und Kulturarbeit längst die Religion abgelöst, indem sie dem Menschen seine Stellung im Universum und die aus ihr sich ergebende Lebensaufgabe erklären und sichern, ohne Hilfe der Idee eines überweltlichen Gottes? Vielleicht gelingt es mir Schleiermachers Antwort auf diese wichtigen Fragen zu verdeutlichen, wenn ich Ihnen seine Vorstellung von der Entstehung des religi­ ösen Bewußtseins im Verhältniß zu den übrigen gesetz­ mäßigen Funktionen des Geistes erläutere. Ohne Zweifel, die Frage ist richtig gestellt: wie kommt der Mensch überhaupt zur Erfahrung seiner ab­ soluten Abhängigkeit oder seiner Abhängigkeit von Gott? Abhängig, beschränkt — Gott sei's geklagt — fühlen wir uns freilich überall und von Allem: von der mensch­ lichen Gesellschaft, von der Natur. Aber das ist eine Abhängigkeit, die wir aufheben können. Sie tritt uns, wie es den Anschein hat, überhaupt nur in's Bewußtsein, um den energischsten Trieb, die Selbstständigkeit unseres Lebens zu behaupten, wach zu rufen. So entsteht die Wissenschaft — denn die Erkenntniß unserer Stellung in der Gesellschaft und zur Natur ist die Voraussetzung der Befriedigung und Regelung jenes Triebes, der das Leben selbst ist, unser Dasein zu sichern und aus Gesellschaft und Natur zu bereichern. So entsteht das sittliche Han­ deln und alle Tulturarbeit — denn damit wollen wir nichts anderes als die Natur in unseren Dienst ziehen und unsere Existenz gegen ihre Störungen schützen, während

17 wir sie andererseits durch die Rücksicht auf die mensch­ liche Gemeinschaft beschränken, um doch wieder gerade in dieser Beschränkung ihr persönliches Lxistenzrecht sicher zu stellen. So entsteht endlich die Runst, in der wir unsere Siege über den spröden Stoff und über unsere eigenen Leidenschaften darstellen und feiern. Aber so lange der Mensch seinen Lebensdrang in Wissenschaft und Kulturarbeit befriedigt findet, scheint kein Raum für die Religion zu bleiben. Und doch sind Wissenschaft und Kulturarbeit ein weg zur Religion. Nämlich im Wechselverkehr mit der Gesellschaft und der Natur erweitert sich unser Bewußtsein. Wir entdecken gleichsam die Menschheit, wie sie der Natur durch Ver­ nunft überlegen, doch nur in der Wechselwirkung mit ihr existiren kann, wir fassen Natur und Menschheit als ein Ganzes zusammen in der Weltidee. Aber gerade hier wo wir uns als Glieder einer einzigen unendlichen Welt erkennen, wo wir an die Grenzen alles Daseins geführt werden, stellt sich auch unvermeidlich das religiöse Bewußtsein ein. Woher nun die ganze unendliche Welt, wie sie in der Wechselwirkung von Vernunft und Natur das Gesetz ihres Daseins auslebt P Wir können ja ihre Grenzen nicht ermessen, aber soweit wir mit ihr in Wechselwirkung stehen, wissen wir, daß dieselben Elemente, die unser Leben constituiren, auch das Weltleben constituiren, daß dasselbe Gesetz der Wechselwirkung des Geistigen und physischen, das unser Leben beherrscht, auch das Gesetz der ganzen Welt ist. Gerade hier wo wir unser Selbstbewußtsein zum Weltbewußtsein erwei­ tern, verschärft sich unser Abhängigkeitsgefühl. wir finden uns jetzt nicht sowohl von Gesellschaft und Natur, wir finden uns mitsammt der Natur und der Menschheit, wir finden uns ,,gleichsam als Welt," wie Schleiermacher 2

18 sagt, absolut abhängig. Denn dagegen daß wir mitsammt der ganzen Welt dasind und unter dem allge­ meinen Gesetze des Daseins stehen, dagegen können wir nicht reagiren, dahinein müssen wir uns beding­ ungslos ergeben. Dieses Bewußtsein absoluter Abhängigkeit, be­ hauptet nun Schleiermacher, stelle sich nothwendig und gesetzmäßig im menschlichen Leben ein, es erkläre sich nur als ursprüngliche und allgemeine Offenbarung Gottes und sei darum die unveräußerliche Grundlage und Form aller Religion. Freilich sind wir uns der Vermittelung des religiösen Bewußtseins nicht immer bewußt. Ls gibt Ereignisse, die unmittelbar religiös zu wirken scheinen, z. B. der Tod, der uns unsere absolute Abhängigkeit sofort zu Gemüthe führt. Das Gleiche pflegt der Fall zu sein, so oft uns persönliche Schicksale oder weltgeschichtliche Ereignisse die Erkenntniß gleichsam aufnöthigen, daß wir die Gesetze des Daseins nicht machen, sondern lediglich ihnen uns unterwerfen müssen. Aber in seiner vollen Schärfe tritt das Abhängigkeitsgefühl doch erst da auf, wo wir ent­ deckt haben, daß die ganze (selbstredend uns bekannte) Welt demselben Gesetze des Daseins unterworfen ist wie wir. Nur so erklärt es sich, daß der Mensch auf einer niedrigeren Entwickelungsstufe sein Dasein aus der Natur oder der Gattung zu erklären sucht. Er hat eben noch nicht entdeckt, daß der Natur so gut wie den einzelnen Naturdingen, der Gattung so gut wie den einzelnen Menschen das gleiche Gesetz des Daseins auferlegt ist. Deshalb beherrscht auch die alten Religionen neben dem Abhängigkeitsbewußtsein das Vorurtheil, daß der Mensch die Götter so gut beherrschen und leiten könne, wie die

19 Menschen oder die Naturdinge, nach deren Bild sie ge­ schaffen sind. Und deßhalb sind alle diese Religionen der fortschreitenden Eultur erlegen, die dem Menschen eben zu Gemüthe führt, daß die Naturkräfte wie die Menschen, daß die ganze Welt denselben Gesetzen des Daseins unterworfen ist wie er. DOo sich hingegen der Welthorizont des Menschen mit Hilfe der Kulturarbeit in allen ihren Formen über die Landes- undNolksgrenzen erweitert hat, wo der Mensch seine Ueberlegenheit über die Natur und zugleich seine Gebundenheit an die Natur, mit einem Worte, wo er die wesentliche Gleichheit alles Daseins, mit dem er in Wechselwirkung steht, entdeckt hat, da kann er sein Da­ sein nicht mehr aus der Welt erklären, mit der er sich eins weiß, da verschärft sich sein Abhängigkeitsgefühl zum absoluten, da erkennt er sein und der ganzen Welt Dasein als Wirkung einer überweltlichen Ursache. Denn weder von der Natur noch von der Menschheit fühlen wir uns absolut abhängig. Die Störungen, welche die Natur unserem Leben bereitet, können wir abwehren, die Hemmungen, welche die Gesellschaft ihm entgegensetzt, können wir überwinden, die Dunkelheiten unserer Welterkenntniß können wir aufhellen. Wissen­ schaft, Sittlichkeit, Kunst: die ganze Kulturarbeit bieten wir auf, um unsere Freiheit von der Natur und in der Gesellschaft zu behaupten. Aber gerade an der Grenze unseres wissens und unserer Willenskraft geht uns die absolute Abhängigkeit der ganzen Welt auf, deren Da­ sein nach Ursprung und Endzweck keine Wissenschaft zu erklären und keine endliche Kraft zu beherrschen vermag. Sobald wir daher uns selbst und dem gesummten Welt­ leben, in das wir verflochten sind, die Existenzfrage stellen, überkommt uns, wir mögen wollen oder nicht, das Be-

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wußtsein von der ganzen Welt absoluten Abhängigkeit. Und zwar nothwendig, gesetzmäßig, wir können nicht anders als uns absolut abhängig fühlen, weil wir es sind. Und wir fühlen uns absolut abhängig sobald wir die Existenzbedingungen Falles endlichen Daseins ins Auge fassen. Schleiermacher behauptet geradezu: wir können uns nicht als Glieder der Welt denken, ohne uns mit dieser absolut abhängig zu fühlen, und wir können uns nicht mitsammt allem Dasein absolut abhängig fühlen, ohne für alles Dasein, für die ganze Welt dieselbe ab­ solute Ursache zu postuliren. Das Erleben dieser abso­ luten Abhängigkeit ist aber zugleich ein Erleben Gottes. Denn, wie gesagt, in ihr kommt uns unser und der ganzen Welt Dasein als Wirkung oder Offenbarung einer überweltlichen Ursache zum Bewußtsein.

Friedrich Schleiermacher glaubte damit erwiesen zu haben, daß sich das religiöse Bewußtsein gesetzmäßig im Verlaufe der Lebensentwickelung des Menschen Heraus­ stelle. Er hat dabei nur das Line übersehen, daß sich das Bewußtsein der absoluten Abhängigkeit nicht nur einstellt, wenn wir uns der ganzen Welt gleich setzen, sondern ebenso wenn wir uns als durch einen sittlichen Lebenszweck beherrschte Wesen der ganzen Welt über­ ordnen. Und zwar pflegt, wie die allgemeine Religions­ geschichte bezeugt, das Bewußtsein einer unbedingten sitt­ lichen Verbindlichkeit das Gottesbewußtsein hervorzurufen, bevor noch Wissenschaft und Lulturarbeit dem Menschen die Ueberzeugung vermittelt haben, daß er als Glied des weltganzen denselben Gesetzen des Daseins unter­ stellt ist wie die übrige Welt. In dieser Verkennung

2\ des ethischen Faktors in der Erfahrung der religiösen Abhängigkeit liegt eine Schranke seiner Religionswissen­ schaft. Sieht man davon ab, so kann kaum ein Zweifel darüber entstehen, daß Schleiermacher die Entstehung des religiösen Bewußtseins im Zusammenhänge der geistigen Entwickelung des Menschen richtig erklärt und in dem Bewußtsein der absoluten Abhängigkeit ^die Grundlage und die gesetzmäßige Form aller Religion mit Recht ge­ funden hat. Denn es wäre leicht an dem Beispiele aller Religionen zu zeigen, was Schleiermacher lediglich aus der Analyse des religiösen Bewußtseins nimnrt, daß aller Glaube und aller Tultus eben aus der Erfahrung der absoluten Abhängigkeit des gesummten endlichen Daseins von einem unendlichen Alles hervorbringenden und be­ herrschenden Leben hervorgehen. Mb es aber richtig ist, daß sowohl der Erkenntniß- wie der Selbsterhaltungstrieb des Menschen in diesem Bewußtsein der absoluten Ab­ hängigkeit ihre Ruhe und Befriedigung finden? Mb es richtig ist, daß wir in diesem Bewußtsein nicht nur die objective Bedingung und die Form, sondern gleich auch das Wesen der Religion gefunden haben? Thatsache ist es ja, daß man sich bei dem Bewußt­ sein der absoluten Abhängigkeit der ganzen Welt be­ ruhigen kann. Der religiöse Fatalismus bezeugt das. Thatsache ist es weiter, daß man es ja allerdings ab­ lehnen kann, sich ein bestimmtes Bild von dem Gott zu machen, der uns in absolute Abhängigkeit versetzt oder gar sich anbetend zu ihm zu erheben, zumal dann und solange als man den Trieb das eigene Leben zu erhal­ ten und zu bereichern, in der Tulturarbeit befriedigt findet. Das alles beweist aber nur, daß mit der Erfahrung absoluter Abhängigkeit wohl die naturgesetzliche Be-

22 dingung zur activen Religiosität, noch nicht aber diese selbst, die immer zugleich auf einem Willensact des Menschen beruht, gegeben ist. Nur mit einem gewissen Widerstreben ist Schleier­ macher auf die Frage eingegangen, wie sich nun aus dieser religiösen Grunderfahrung bestimmter Glaube ent­ wickele und bestimmter Cultus. Dennoch hat er für die Erklärung der Entstehung des religiösen Glaubens und des Cultus, in ihren ver­ schiedenen Lntwicklungsformen, die Gesichtspunkte ange­ deutet, welche auch heute noch als maßgebend gelten dürfen. Einmal die Richtigkeit der Erklärung des religiösen Bewußtseins vorausgesetzt, läßt sich auch für die Ent­ stehung von Glaube und Cultus im allgemeinsten Wort­ verstande eine Gesetzmäßigkeit der Form des Processes nicht verkennen. Wir kommen zum Bewußtsein abso­ luter Abhängigkeit; wir machen uns ein Bild von der Causalität, die uns und die ganze Welt in diese Ab­ hängigkeit versetzt; wir nehmen je nachdem uns die Erfahrung dieser absoluten Abhängigkeit mit Lust oder Unlust erfüllt, ein bestimmtes praktisches Verhalten zu einer Thatsache ein, in die wir uns unbedingt ergeben müssen. So entsteht der religiöse Glaube und die praktisch religiöse Erhebung zu Gott. Beide entspringen dem­ selben Erkenntniß- und Selbsterhaltungstriebe, auf dem die gesammte Tulturarbeit beruht. Sie können deshalb wohl als Fortsetzung und Ergänzung derselben aufge­ faßt werden. Andererseits aber unterscheiden sich der allgemeine Lulturproceß und der religiöse Vorgang sehr bestimmt. Die Natur erkennen und organisiren müssen

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wir; wir können anders gar nicht existiren. Ls ist das ein naturnothwendiger Proceß. Nun stellt sich freilich das schlechchinige Abhängigkeitsgefühl auch mit naturge­ setzlicher Nothwendigkeit ein. soweit reicht das Natur­ gesetz, wenn ich so sagen darf, auch im religiösen Pro­ cesse. Aber auch nicht weiter. Denn Glaube und An­ betung Gottes sind ethische Funktionen, zu deren Aus­ übung in der absoluten Abhängigkeit wohl der Anlaß, nicht aber die Nöthigung gegeben ist. Ueberdies ist mit alledem nur die gesetzmäßige Form der Religion beschrieben, nichts dagegen ist über ihren Gehalt ausgesagt. Wenn also die Erfahrung absoluter Abhängigkeit von Gott eine allgemeine und unumgängliche Erfahrung ist, wie erklärt es sich, daß sie so verschieden ausgedeutet wird und daß sich so verschie­ dene religiöse Organismen aus ihr entwickeln? Diese Frage läßt sich nur aus der Neligionsgeschichte beantworten. Denn wir sind wohl im Stande die gesetz­ mäßige Form des religiösen Lebens festzustellen, seinen Inhalt müssen wir dem wirklichen, geschichtlichen Leben der Neligion entnehmen, um aus der Vergleichung der positiven Religionen das Urtheil über ihre verschiedene Art und ihren verschiedenen Werth zu bilden. Fassen wir zunächst den Glauben ins Auge. Er erhebt sich an der Grenze der Wissenschaft aus der Er­ fahrung der absoluten Abhängigkeit der ganzen Welt, indem er nach der Ursache alles Daseins fragt, in welcher er zugleich den letzten Zweck und das Gesetz der Welt in seiner Weise zu deuten unternimmt. Denn anders ver­ mögen wir überhaupt nicht zu erkennen, als indem wir nach Ursache und Zweck des Lebens fragen. Und es ist eben das Charakteristische des religiösen Erkennens oder des Glaubens, daß er die Frage nach Ursache und Zweck

24 der ganzen Welt auf Grund des Bewußtseins ihrer absoluten Abhängigkeit, welches ihm die Wissenschaft ver­ mittelt, ohne doch eine exakte Erklärung desselben geben zu können, zu beantworten sucht. Aber diese Antwort hat immer nur subjektive Gültig­ keit. Sie ist immer bedingt, durch die Stellung, welche der Mensch sich selbst im Universum anweist, durch das höhere oder niedere Lebensideal, das sich ihm im Ver­ hältnisse zur Naturwelt als sein Lebensgesetz aufdrängt. Wir sind Alle absolut abhängig, wir haben Alle das Bedürfniß uns über unser abhängiges Dasein aufzuklären, wir können Alle dieses Bedürfniß nur befriedigen, indem wir nach Ursache und Zweck alles Daseins fragen. So­ weit reicht die Uebereinstimmung. Aber die positive Ant­ wort fällt verschieden aus nach dem Werthurtheil, welches wir über unser eigenes Leben in der Welt, nach Maß­ gabe unserer Entwickelungsstufe und unserer Lebensrich­ tung abgeben. Dennoch lassen sich überall drei Hauptformen des positiven religiösen Glaubens klarstellen. Auf einer Entwickelungsstufe, aus welcher der Mensch sich lediglich oder doch vorwiegend als Naturwesen be­ urtheilt und in der Erhaltung und Bereicherung seiner materiellen Existenz seinen Lebenszweck findet, wird er sein Dasein materialistisch erklären. Das geistige Bewußt­ sein ist noch verdunkelt, sittliche Lebensideale fehlen, der Welthorizont ist durch die nächste Umgebung begrenzt — selbstredend, daß das Bedürfniß das eigene abhängige Dasein zu erklären auf dieser Stufe durch den materia­ listischen Glauben vollauf befriedigt wird. Und wo auf höheren Entwickelungsstufen dieser Glaube uns begegnet, wie im heutigen naturwissenschaftlichen Dogmatismus z. B., da beruht er auch nicht etwa auf einer exakten

25 Erkenntniß der Entstehung und der Gesetze der Welt, sondern lediglich darauf, daß die Vertreter dieses Glaubens in sich keine Veranlassung finden, den geistigen und ethischen Potenzen einen überlegenen und relativ selbst­ ständigen Werth zuzuerkennen. Line exakte Erkenntniß des Verhältnisses zwischen Geist und Materie gibt es nicht, wo also dennoch bei hochgebildeten Menschen der Glaube, daß die Materie das Wesen der Welt sei, sich entwickelt, da kann dies nur aus subjektiven Gründen erklärt werden. Auf einer höheren Entwickelungsstufe wird das Be­ dürfniß des Menschen eine befriedigende Antwort auf die Frage nach Ursprung und Zweck des Daseins zu finden, sich nicht in dem materialistischen Glauben be­ friedigt finden. Sd^on die alten Eulturreligionen der Indogermanen machen das deutlich. Durch handel und Verkehr ist der Welthorizont erweitert, durch Wissenschaft und Eulturarbeit aller Art ist der Mensch seiner geistigen Ueberlegenheit über die Natur inne geworden, ethische Ideale, die seinem Leben erst wahren Werth geben, sind in sein Bewußtsein eingetreten. Andrerseits freilich kann er sich der Erkenntniß nicht verschließen, daß er mit seinem gesammten geistigen Leben so enge mit der Natur­ welt verwachsen ist, daß er ohne sie sich ein Leben über­ haupt nicht zu denken vermag. Erscheint ihm hier sein Lebenszweck in der Bethätigung seiner Ueberlegenheit über die Natur zur Ausbeutung derselben für die Gesell­ schaft , wie sie in der gesammten (Kulturarbeit erfolgt, und in der rechtlichen und ethischen Organisation der Gesellschaft zum gesicherten Genusse des Glückes, welches ihm aus dem Allem erwächst, so führt ihn doch nichts über die Grenzen dieser Welt, wie sie im Wechselverkehr des Geistigen und Materiellen ihr Daseinsgesetz hat,

26 hinaus, als höchstens — der Trieb der Selbsterhaltung, wie er auch dem Tode Trotz zu bieten scheint und das Bedürfniß einer einheitlichen Erklärung dieser gegensätz­ lichen Welt aus ihrer Ursache. Diesem Bedürfniß dient der Glaube. Aber dieser Glaube gestaltet sich jetzt, wo die unbedingte Ueberlegenheit des Geistigen über das Materielle sich dem Bewußt­ sein aufdrängt, wesentlich anders. Ist in der Welt der Geist das leitende Princip, ist es das Gesetz des Geistes, daß er die Natur erkennt und organisirt, daß er sie ledig­ lich als Mittel für seine Zwecke ausnutzt, so muß diese Weltordnung auch in der Weltursache begründet sein. Hier ist die Nöthigung gegeben, die absolute Abhängig­ keit der Welt oder ihr endliches Dasein aus einer Ursache zu erklären, welche sowohl Geist ist wie Materie und in welcher die Ueberlegenheit des Geistes über die Natur selbst ihren letzten Grund hat. 5o entsteht ein geistiger Gottesglaube. Aber dieser Gottesglaube wird noth­ wendig dem ästhetisch - pantheistischen Typus folgen, wo als höchster Lebenszweck dem Menschen nichts an­ deres aufgegangen ist, .als die Herstellung der Harmonie des Geistigen und physischen durch Unterwerfung der Natur unter den Geist in Wissenschaft, Kunst und der gesummten Tulturarbeit, wo er demgemäß nichts anderes in Gott sucht als die Erklärung des Daseins und des Zusammenwirkens des Geistigen und Materiellen in der Welt. Das erklärt sich aber lediglich daraus, daß dem Geiste bei aller Anerkennung seiner Führerrolle im Tulturprocesse doch kein über die Organisation und Erkennt­ niß von Natur und Gesellschaft hinausgehender sittlicher Lebenszweck aufgegangen ist. Hat er seine Kraft ver­ braucht in Wissenschaft und Berussübung, so hat er auch seinen Zweck erfüllt. Die Einzelperson ist auch nur Mittel

27 für den allgemeinen Menschheitszweck. Lin sittliches Ideal, das über die Organisation der Natur und Ge­ sellschaft hinausführte, das dem persönlichen Geiste einen überweltlichen Werth und eine über das natürliche Da­ sein hinausreichende Ausgabe (die sittliche Vollendung der Person) sicherte, wird nicht anerkannt. Die einfache Folge davon ist, daß das teleologische Eausalitätsbedürfniß vollkommen befriedigt wird von der sog. aesthetisch-monistischen Welterklärung, welche in Gott lediglich die Garantie für die Zusammengehörigkeit des ideellen und materiellen Faktors zu suchen pflegt. Schleiermacher hat dieser Weltanschauung eine gewisse Anerkennung nicht versagt. Es ist interessant zu sehen, wie er in ihr die Ueberwindung des kantischen Dualismus erkennen wollte. Die Skepsis, welche den ganzen Eulturprozeß — die Er­ kenntniß und Organisation der Natur durch den Geist — für eine Illusion erklärt, weil man niemals sicher sein könne, ob die feindlichen Brüder der Materie und des Geistes denn auch von einem Vater stammen, will er durch den religiösen Glauben überwinden, welcher sich über die gegensätzliche Welt erhebt, um in der Einheit ihrer Ursache die Bürgschaft für die Zusammengehörig­ keit des Idealen und Realen zu suchen. Denn ohne die Ueberzeugung von der Einheit der gespaltenen Welt in Gott, fehle dem gesammten auf Herstellung der Har­ monie des Geistes und der Natur gerichteten Eulturprocesse das leitende Motiv und die Bürgschaft seiner Wahrheit. Indessen wie diese Weltanschauung bereits die Mo­ mente zur Bildung der dritten Grundform des religiösen Glaubens in'sich trägt, so hat auch Schleiermacher, wie seine predigten bezeugen, ihre Grenzen nicht innegehalten, wenn es auch zu einer principiellen Entscheidung gegen

28 die ästhetisch-pantheistische und für die ethisch-theistische Weltanschauung bei ihm nicht gekommen ist. Dieser letztere Glaube entwickelt sich, wie das Christen­ thum am deutlichste?: zeigt, aus dem Ergriffensein des Menschen von einem ethischen Lebensideal, so hoch und so werthvoll, daß nach ihm als dem höchsten Gute die ganze Welt berurtheilt werden muß. Es ist das Pro­ gramm des Christenthums, daß der Mensch auf Grund seiner Bestimmung zu ethischer Vollkommenheit mehr Werth hat wie die ganze Welt. Ls ist feine Grundan­ schauung , daß alle irdische Culturarbeit in: Vergleiche zu jenem höchste?: Zwecke, der ethische?: Volle?:dung des Charakters, nur eine?: relative?: Werth beanspruche?: könne, weil der Christ i?: der Bildung seines Charakters nach Maßgabe des h: Christus erschiene?: konkrete?: Lebens­ ideals die einzige Aufgabe vo?: absolute?n Werthe er­ griffe?: hat, deshalb sieht er sich innerlich ge?:öthigt, nach Maßgabe dieses sei?:es höchste?: Lebenszweckes die ganze Welt zu beurtheilen. Nicht daß der Christ eine Einsicht hätte in die Entstehung und Leitung der Welt. 5o wenig wie der Materialist oder Pantheist verfügt er darüber. Aber wie diese nach Maßgabe ihrer Erkennt­ niß des letzte?: Zweckes des Menschenlebens sich die Welt ausdeuten, so erklärt sich der Christ die Welt nach Maß­ gabe seines Lebensideals. Lediglich aus der Ver­ schiedenheit dieser Lebensideale ergibt sich die Verschiedenheit der religiösen Weltanschauung, wer das christliche Lebensideal :?: seiner verpflichtenden Rraft an sich erfahren hat, der muß auch nach Maß­ gabe sei?:es höchste?: Lebenszweckes sich den Weltzweck ausdeuten. In diesem Ideale liegt die Nöthigung, die ganze Welt, ?nit der wir in Wechselwirkung stehen, so zu beurtheilen, als ob sie für das, was den: Christe?: der

29 höchste Lebenszweck ist, geschaffen, regiert und geleitet würde. So bildet sich der christliche Schöpfungs- und Vorsehungsglaube. So bildet sich die christliche Gottes­ idee. wir haben keine Einsicht in das Wesen der ab­ soluten Lausalität, die uns mit Allem hervorbringt. Aber wir sind innerlich genöthigt und sogar verpflichtet durch unser sittliches Lebensgesetz die Weltursache so zu denken, daß das ethische Ideal, dessen Erreichung unsere heiligste Lebensaufgabe bildet, in Gott seinen Ursprung und die Bürgschaft seiner Erreichbarkeit findet. Diese Erfahrung der absoluten Gebundenheit des Menschen an einen sitt­ lichen Lebenszweck, tritt freilich auch in anderen Reli­ gionen hervor. Aber in seiner vollen Energie hat sich der Glaube an eine überweltliche, ewige Bestimmung des Menschen doch erst unter dem Eindruck der kon­ kreten Erscheinung des Erlösers entwickelt. Der Ehrist ist daher lediglich vor die Alternative gestellt: entweder sein ethisches Ideal preiszugeben oder aber nach ihm das gesammte Weltleben zu beurtheilen; denn es geht nun einmal nicht anders: wiftmüssen glauben, daß, was uns als höchster Zweck, als höchste Lebens­ aufgabe erscheint, in dem Dasein und dem Ver­ laufe des gesummten Weltlebens, in das wir verflochten sind, seine Begründung und seine Sicherung finde.

Aus diesem Gesichtspunkte erklärt sich nun aber auch am ungezwungensten das praktisch religiöse Verhalten und der Cultus. Aller Eultus entspringt dem Selbst­ erhaltungstriebe des Menschen, ebenso wie aller reli­ giöse Glaube dem teleologischen EausaliLätsbedürfnisse entspringt, während beide, wie Schleiermacher richtig er-

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sannt hat, in der allgemeinen Erfahrung der absoluten Abhängigkeit des Daseins ihre objective Bedingung und Veranlassung finden. Wir suchen nach Aufklärung über unser beschränktes endliches Dasein, und wir suchen nach Sicherung, Erhaltung, Bereicherung desselben, wir suchen das Alles in der Welt vermittelst der (Lulturarbeit zu erreichen, bis wir an den Grenzen unseres exakten Rönnens und wissens angelangt — entweder resigniren, oder in der freien Erhebung zu Gott das finden, was uns die Welt versagt. Ich sagte, was Schleiermacher unklar läßt: alle praktische religiöse Erhebung in Gebet, Opfer rc. entspringt dem Selbsterhaltungstriebe. Nun kommt es aber wieder darauf an, was für einen Inhalt, Werth und Lebens­ zweck der Mensch seinem Selbst gibt, oder je nach seiner Entwickelungsstufe und Lebensrichtung geben muß. was bei der Bildung des Glaubens den Ausschlag gibt, das bestimmt auch das praktisch - religiöse Verhalten des Menschen. Man kann es geradezu als ein Gesetz der geistigen Entwickelung bezeichnen, daß der Mensch immer nach Maßgabe dessen, was ihm als höchster Lebenszweck im Lulturpro cesse aufgegangen ist, die ganze Welt beurtheilen und sein Leben in derselben organisiren muß. Ls versteht sich hiernach sehr leicht, warum sich auf einer frühesten Entwickelungsstufe der Menschheit nur ein roher Naturdienst entwickelt hat. Es handelt sich um die Erhaltung der physischen Existenz durch Lrkaufung der Gunst der als Götter verehrten Naturkräste, wie sie zerstörend und segenspendend in das Leben des Menschen eingreifen. Aber dieser rohe Naturdienst mußte in dem Augenblicke sich vergeistigen, in dem der Mensch zu einer höheren Schätzung seines Lebens sich genöthigt sah.

51 Einmal zu der Erkenntniß seiner geistigen Ueberlegenheit über die Natur gelangt, mußte er auch seine geistige Person als die höchste Werthgröße beurtheilen. Nicht um die Erhaltung und Bereicherung einer bloß physischen Existenz handelt es sich mehr, sondern um die Erhaltung und Bereicherung seiner geistigen Person durch Aus­ nutzung der Natur, die nun zu dem werthe eines Lebens­ mittels für ihn herabsinkt. Wenn nun aber der Mensch auch auf dieser höheren Entwickelungsstufe seinen Lebens­ drang nicht befriedigt findet in der Sicherstellung und Bereicherung seiner Existenz durch Wissenschaft, Recht, Technik, handel u. s. w., wenn er auch jetzt, wie sämmt­ liche Tulturreligionen bezeugen, einen privaten oder öffentlichen Cultus brauchte, so beweist dies allerdings, daß die Bethätigung seiner geistigen Freiheit im Cultur­ processe das Bewußtsein seiner unbedingten Abhängigkeit nicht aufhebt. Gerade hier, wo ihm die Ueberlegenheit seiner geistigen Person über alle Natur ins Bewußtsein tritt, wird ihm sein natürliches Dasein zur Schranke, wird ihm seine Abhängigkeit vom Naturgesetze zum Hinderniß seiner geistigen Entwickelung. Mit Schmerz überzeugt er sich, wie sein bestes Streben keine volle Befriedigung findet in den Grenzen und während der Dauer seines natürlichen Daseins auf Erden. Sein Wissensdurst, sein Vervollkommnungstrieb, sie bleiben unbefriedigt, wo er seine Ideale fortwährend bedroht sieht durch das Dunkel und das Unglück in der Welt, durch seine eigene Sünde und Hinfälligkeit. Aus diesem Contraste zwischen dem idealen Streben und der natür­ lichen Ohnmacht erhebt sich in vergeistigter Gestalt der Selbsterhaltungstrieb des Menschen, um in Gott die Sicherung und den Schutz seiner geistigen Ideale zu suchen, die ihm eine durch das Gesetz der Vergänglich-

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feit beherrschte Welt versagt.