Zur Neubestimmung der Technik 3772083749, 9783772083747

Hat die moderne Technik ein besonderes Wesen? Kann Kunst so gefährlich sein wie Technik? Und wieso macht Martin Heidegge

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German Pages 304 [305] Year 2010

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil - Das Wesen der modernen Technik
Erstes Kapitel Martin Heideggers Frage nach der Technik
A Eine Frage der freien Beziehung
B Das Wesen der modernen Technik als Gestell gedacht
C Die Technik in ihrer Begrenzung
Zweites Kapitel Die Geburt der modernen Technikaus dem Walten des Gestells:Die Reproduktion der modernen Technik
A Unter der Herrschaft des Gestells
B Die Selbstbewegung der ...
C Phänomenologie des Gestells
Drittes Kapitel Zum Verständnis des Wesens
A Heideggers Begriff des Wesens
B Die totale Mobilmachung des Seienden
C Eine Frage der Zeit
Zweiter Teil - Die Technik im Rahmen der Kunst
Erstes Kapitel ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘
A ‚Aus der dunklen Öffnung‘
B Die Wahrheit am Werk
C Die Wahrheit im Werk
Zweites Kapitel Die Wahrheit der Technik
A Zum Rätsel des Kunstwerkes
B Die Kunst im Werk der Technik
C Gefährliche Kunst
Dritter Teil - Geschichte zwischen Natur und Kunst
Erstes Kapitel Zur Genealogie der modernen Technik
A ... vs. moderne Technik
B Zur Geschichte der Metaphysik
C Ansätze zwei verschiedener Kritiken der Moderne
Zweites Kapitel Alternative Genealogien
A Die Bewandtnis des Seienden
B Biotechnologie
C Unterwegs zum Ursprung der modernen Technik
Drittes Kapitel Umstellung
A Ein zeitliches Kunstwerk
B ‚Wo aber das Rettende ist, wächst die Gefahr auch‘
C Der andere Anfang
Sigelverzeichnis Martin Heideggers Werke
Literaturverzeichnis
Register
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Zur Neubestimmung der Technik
 3772083749, 9783772083747

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Søren Riis

Zur Neubestimmung der Technik Eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger

Zur Neubestimmung der Technik

Basler Studien zur Philosophie 17 Herausgegeben von Henning Ottmann und Annemarie Pieper

Søren Riis

Zur Neubestimmung der Technik Eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titelbild: Dr. N. B., Das Geviert

© 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http://www.francke.de E-Mail: [email protected] Printed in Germany ISSN 0941-9918 ISBN 978-3-7720-8374-7

„Das Zeitalter der Bildung geht zu Ende, nicht weil die Ungebildeten an die Herrschaft gelangen, sondern weil Zeichen eines Weltalters sichtbar werden, in dem erst das Fragwürdige wieder die Tore zum Wesenhaften aller Dinge und Geschicke öffnet.“ (Martin Heidegger)

Vorwort Martin Heidegger ist wahrscheinlich der wichtigste Denker der Technik im 20. Jahrhundert. Seine Gedanken zur Technik sind zwar nur in wenigen seiner Schriften explizit ausgeführt, aber an Ihrer philosophischen Tragweite gemessen, sind sie bislang unübertroffen. Beides hängt damit zusammen, dass Heidegger keine systematische Philosophie der Technik entwickelt, sondern seine Überlegungen zur Technik vielmehr mit den verschiedenen Wegen und Gedanken seines umfangreichen Werkes verbindet. Trotz der großen Anerkennung seiner Untersuchungen, Beobachtungen und Beurteilungen der Technik, werden diese nur selten ausführlich miteinander verbunden. Oft werden seine Gedanken zur Technik ohne tieferen Zugang instrumentalisiert, um die Gefahren der modernen Technik zu betonen. Philosophisch gesehen ist das nur wenig ergiebig. Die vorliegende Arbeit beabsichtigt daher eine immanente kritische Studie von Heideggers verschiedenartigen Gedanken zur Technik. Dabei ist das Ergebnis anders als erwartet ausgefallen: Während der Beschäftigung mit Heidegger ist mir klar geworden, dass es in seinem Werk eine Reihe von Spannungen, Widersprüchen und Querverweisen seiner verschiedenen Bestimmungen der modernen und antiken Technik gibt, die in dieser Form bisher nicht gesehen worden sind und die seine Interpretationen äußerst fragwürdig machen. Die vorliegende kritische Untersuchung möchte aber nicht bei der immanenten Kritik stehen bleiben. Sie sucht die erarbeiteten Einsichten phänomenologisch nachvollziehbar zu machen und mit systematischen Gedanken zu verbinden, die durch Heideggers eigene Interpretation hindurch über ihn hinausweisen. Somit wird sein Verständnis der Technik am Ende in eine größere hermeneutische Theorie eingebettet, die hoffentlich nicht nur einige von Heideggers Schriften aufs Neue philosophisch virulent, sondern auch die systematische Verwandtschaft von Technik und Interpretation transparent macht. Um für die LeserInnen die folgende Auseinandersetzung mit Heideggers Gedanken zur Technik bestmöglich nachvollziehbar zu machen, beginnt die vorliegende Arbeit nahe am Text. Leser, die mit Heidegger vertraut sind, werden dieses Verfahren vielleicht zu distanzlos und langwierig finden, während andere vielleicht sofort erkennen werden, in welche Richtung die Arbeit sich bewegt. Genau in den Einzelheiten, besonderen Begriffen und scheinbar selbstverständlichen Schlüssen von Heidegger befinden sich aber die Gedanken, die für die nachfolgenden Interpretationen von großer Bedeutung sind. Auf den ersten Seiten der Arbeit wird der Leser tradierte Denkfiguren zum Verständnis von Heidegger wiederfinden. Über kritischen Interpretationen der ontologischen Differenz, der Autonomie des Gestells, des Wesens der antiken Technik, des Begriffs der Wahrheit und der Gefahr des Kunst7

werks zeichnen sich allmählich die Konturen eines neuen Verständnisses von Heidegger und der Technik ab. Am Ende der Arbeit kehrt Heidegger aber in mehr oder weniger erkennbare Gestalt wieder zurück als der Denker, der seinen Nachfolgern auch für das 21. Jahrhundert brisante und zugleich unumgängliche Gedanken zum Mit- und Weiterdenken aufgegeben hat. Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Jahre 2008 verteidigt habe. Meine Danksagung gilt im besonderen Professor Dr. Günter Figal und Professor Dr. Emil Angehrn. Günter Figal hat die Arbeit betreut und mir immer wieder neue Denkanregungen zur Auseinandersetzung mit Heidegger gegeben. Auch seine Vorlesungen über Friedrich Nietzsche an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen während meiner Hauptstudiumszeit haben eine nachhaltige Wirkung hinterlassen. Emil Angehrn hat mich während sehr aufschlussreicher Kompaktseminare in Basel und in Freiburg inspiriert und ermutigt. Als Zweitgutachter meiner Dissertation hat er mir immer wieder geholfen und sich anschließend um die Veröffentlichung dieser Arbeit sorgevoll gekümmert. Darüber hinaus bin ich den folgenden ProfessorInnen und DozentInnen verbunden, weil sie mir wichtige Anhalts- und Streitpunkte in der Forschung gezeigt haben: Prof. Gottfried Boehm, Dr. Reinhard Brunner, Prof. Marco Casanova, Prof. Peter Galison, Prof. Søren Gosvig Olesen, Prof. Lore Hühn, Prof. Don Ihde, Prof. Michael E. Lynch, Prof. Andrew Pickering, Prof. Stig Andur Pedersen, Prof. Robert Scharff, Prof. Evan Selinger und Prof. Peter-Paul Verbeek, Prof. Thomas Schwarz Wentzer. Dem Dänischen Forschungsrat und der Dänischen Forschungsgemeinde für Philosophie, Wissenschaft- und Ideengeschichte (PHIS) möchte ich danken, weil sie meine Forschungsaufenthalte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Stony Brook University, Harvard University und Université de Provence in Aix-en-Provence unterstützt haben. Während der Arbeit an meiner Dissertation waren meine FreundInnen immer wieder bereit, über Philosophie zu diskutieren und das Leben für mich zu verschönern. Herzlich gedankt sei: David Albaiceta, Dr. Peter Buhrmann, Dr. Evelin Cioflec, Matias M. Dalsgaard, Dr. Roswitha Dörendahl, Sonja und Dr. David Espinet, Dr. Pierfrancesco Stagi, Maria Girsel, Dr. Kristoffer Haugarvoll, Rocael Heilmann, Dr. Annette Hilt, Lilith Jappe, Dr. Amnon Lev, Dr. Pilar de Medeiros, Emilie und Stephan Mirbach, Dr. Adrián Navigante, Dr. Esther Oluffa Pedersen, Dr. Barbara Peron, Julia und Dr. Tillmann Raff, Dr. habil. Friederike Rese, Dr. Christian Sommer und Peter Toft. Ohne meine Freundin Sophie Floris und meine Familie hätte ich weder eine so schöne Studienzeit gehabt, noch diese Arbeit schreiben können.

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Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................................ 11 Erster Teil Das Wesen der modernen Technik ............................................................... 19 Erstes Kapitel ...................................................................................................... 21 Martin Heideggers Frage nach der Technik .................................................. 21 A Eine Frage der freien Beziehung ............................................................... 22 B Das Wesen der modernen Technik als Gestell gedacht ........................ 30 C Die Technik in ihrer Begrenzung ............................................................. 36 Zweites Kapitel ................................................................................................... 44 Die Geburt der modernen Technik aus dem Walten des Gestells: Die Reproduktion der modernen Technik .................................................... 44 A Unter der Herrschaft des Gestells ............................................................. 44 B Die Selbstbewegung der IXYVL .................................................................. 55 C Phänomenologie des Gestells..................................................................... 67 Drittes Kapitel .................................................................................................... 87 Zum Verständnis des Wesens .......................................................................... 87 A Heideggers Begriff des Wesens ................................................................. 87 B Die totale Mobilmachung des Seienden .................................................. 96 C Eine Frage der Zeit ................................................................................... 110 Zweiter Teil Die Technik im Rahmen der Kunst ............................................................ 117 Erstes Kapitel .................................................................................................... 119 ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ ................................................................... 119 A ‚Aus der dunklen Öffnung‘ ...................................................................... 120 B Die Wahrheit am Werk ........................................................................... 132 C Die Wahrheit im Werk ............................................................................ 139 Zweites Kapitel ................................................................................................. 155 Die Wahrheit der Technik ............................................................................. 155 A Zum Rätsel des Kunstwerkes .................................................................. 155 B Die Kunst im Werk der Technik ............................................................ 166 C Gefährliche Kunst ..................................................................................... 190 9

Dritter Teil Geschichte zwischen Natur und Kunst ...................................................... 195 Erstes Kapitel .................................................................................................... 197 Zur Genealogie der modernen Technik ....................................................... 197 A 7HYFQK vs. moderne Technik ................................................................... 197 B Zur Geschichte der Metaphysik ............................................................. 200 C Ansätze zwei verschiedener Kritiken der Moderne ............................. 234 Zweites Kapitel ................................................................................................. 240 Alternative Genealogien .................................................................................. 240 A Die Bewandtnis des Seienden ................................................................. 240 B Biotechnologie ........................................................................................... 249 C Unterwegs zum Ursprung der modernen Technik ............................. 256 Drittes Kapitel ................................................................................................... 262 Umstellung ........................................................................................................ 262 A Ein zeitliches Kunstwerk ......................................................................... 262 B ‚Wo aber das Rettende ist, wächst die Gefahr auch‘ ............................. 272 C Der andere Anfang .................................................................................... 284 Sigelverzeichnis ................................................................................................ 291 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 293 Register .............................................................................................................. 299

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Einleitung Die Technik erschließt dem Menschen ständig neue Möglichkeiten. Dank der modernen Technik können wir uns auf eine Art und Weise entfalten, von der unsere Vorfahren nur träumen konnten. Flugzeuge, Rechner und Biotechnologie eröffnen uns neue Raum-, Zeit- und Möglichkeitsdimensionen. Sie erlauben es uns, neue Perspektiven, zu entdecken und uns vor unzähligen Gefahren zu retten – aber können uns auch in neue stürzen. Das moderne Zeitalter markiert nicht das Ende dieser Entwicklung, sondern bildet vielmehr einen herausragenden Aussichtspunkt, von dem aus wir sehen können, dass die bisherige technische Entwicklung kein Zufall zu sein scheint und sich in der Zukunft mit aller Wahrscheinlichkeit noch intensiver fortsetzen wird. So entdecken wir allmählich die Zusammenhänge einer Entwicklung, in der bisherige Technologien neue Technologien erst denkbar machen und anschließend auch diese Möglichkeiten verwirklichen. Durch diese Entwicklung hindurch zeichnet sich eine besondere Autonomie der Technik ab, die einige für gefährlich erachten, weil sie die Menschen zugunsten einer immanenten Zweckmäßigkeit zu instrumentalisieren droht. Für andere wiederum scheint diese Entwicklung zur Allmacht des Menschen zu führen. Auf beiden Wegen spielt sich ein Kampf um die Technik ab. Je nach Gesichtspunkt wirft der Zuwachs an Technik eine Reihe von fundamentalen Fragen auf: Was bedeutet eine selbst-reproduktive Entwicklung der Technik? Geht es hier um eine Autonomie der Technik? Falls die Entwicklung der Technik ständig fortschreitet, verdrängt sie dann die Selbstgestaltungskraft der Natur und kann sie die Menschen beherrschen? Gefährdet sie unsere Autonomie? Und wie stellt sich bei dieser Entwicklung die Beziehung der Technik zur Kunst dar? Kann Technik die produktive Rolle der Kunst übernehmen und umgekehrt Kunst eine pragmatische Funktion ausüben? Und was würde durch eine solche Umkehrung geschehen? Wie ist der Begriff Technik in diesem Bereich des Fraglichen überhaupt zu verstehen? Welches ist der Ursprung der Technik und insbesondere der modernen Technik? Worauf zielt die Entwicklung der Technik letztendlich ab und gibt es eine wesensmäßige Bestimmung der Technik? Diese Fragen stellen sich im Zeitalter, das wir als Moderne bezeichnen, auf besonders prägnante Weise. Diese Epoche wird zu einem Schauplatz, auf dem die Auseinandersetzung mit diesen Fragen möglich und intensiviert wird. Der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) ist derjenige Denker der Moderne, der diese Fragen in besonderer Schärfe und Dringlichkeit aufgeworfen hat. Darüber hinaus hat er auch versucht, sie zu beantworten. Heidegger hat sich mit der Technik nicht als einem isolierten Bereich der philosophi11

schen Reflexion beschäftigt, sondern er hat vielmehr gezeigt, wie die Bestimmung der Technik ein ursprüngliches Anliegen der Philosophie ist und wie die Technik die Philosophie aufs neue herausfordert. Anstatt die neuen Möglichkeiten der Technik zu betonen, hebt er aber die Gefahr der Technik für die Philosophie hervor. Dadurch verleiht er seiner Untersuchung der Technik eine besonders kritische Akzentuierung. Heidegger charakterisiert das Wesen der Technik und die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen in einer Begrifflichkeit, die die Philosophie und sein eigenes Denken nachhaltig geprägt haben. Für ihn ist die philosophische Auseinandersetzung mit der Technik von fundamentaler Bedeutung. Laut Heidegger ist dies nämlich entscheidend für das Fortbestehen von originärem Denken überhaupt. Um diese grundlegende Bedeutung einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Technik besser nachvollziehen zu können und zugleich Heideggers kritische Distanznahme zur Technik zu verstehen, möchten wir einleitend eine Parallele zu Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik ziehen.1 Für Heidegger stellt die Technik in der Moderne eine so ungeheure Bedrohung der Philosophie dar, wie sie für Platon in der Antike durch die Sophistik gegeben war.2 So wie die Trennung von Philosophie und Sophistik im antiken Griechenland für Platon zum Selbstverständnis der Philosophie gehört, so definiert sich Heidegger zufolge das Geschick der Philosophie in der Moderne durch die Konfrontation mit der Technik. Die jeweilige Auseinandersetzung mit dem jeweils ‚anderen‘ der Philosophie ist für Platon und 1

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Durch diese Parallele möchten wir zunächst die entscheidende Rolle der Auseinandersetzung mit der modernen Technik für die Philosophie hervorheben. Dabei wird weder behauptet, dass die Sophistik für Platon dasselbe gewesen sei wie für Heidegger die moderne Technik, noch, dass sie dasselbe Philosophieverständnis hätten, sondern nur, dass die jeweilige Auseinandersetzung mit der Sophistik respektiv der Technik für Platon und Heidegger einen entscheidenden Vorgang der Philosophiegeschichte bilde. Wie die moderne Technik und Sophistik sich innerhalb der beiden Auffassungen im Einzelnen zueinander verhalten, wäre ein interessantes Thema für eine historisch-systematische Arbeit. In einer solchen Arbeit müsste sowohl gezeigt werden, wie Sophistik und moderne Technik sich zur Philosophie verhalten, als auch, warum sie beide als Deformationen der WHYFQK von Platon beziehungsweise von Heidegger betrachtet werden. Die Sophistik ist bei Platon eine Kombination von Redekunst und Lehre von den Schlussfolgerungen. Platon wirft der Sophistik vor, eine Technik des Redens und Überredens zu sein, die sich isoliert von den Sachverhalten vollzieht. In diesem Sinne verselbständigt und verfeinert sich die Sophistik und wird zu einer reinen Technik des vermeintlich schlüssigen Argumentierens, die zu jedem Zwecke und zur scheinbaren Bemeisterung aller Sachverhalte eingesetzt werden kann. (Vgl. Platon: Gorgias, in: Werke, in 8 Bänden, Band 2, griechisch und deutsch, hrsg. von Günter Eigler, 3. Auflage, Darmstadt 1990, S. 269-503, 455bff und ders.: Sophistes, in: Werke, in 8 Bänden, Band 6, griechisch und deutsch, hrsg. von Günter Eigler, 3. Auflage, Darmstadt 1990, S. 219-401, 232bff).

Heidegger notwendig, damit die Philosophie sich erst wieder ihre Aufgaben erschließen kann. In beiden, in Technik und in Philosophie, geht es ferner um die Zukunft des Menschen, da in der jeweiligen Auseinandersetzung die Bestimmung der Wahrheit des Seins zur Entscheidung steht. So wie die Philosophie sich von der Sophistik absetzen musste, um Philosophie zu werden, so muss sie laut Heidegger versuchen, sich von der Technik zu unterscheiden. Dadurch gewinnt die Philosophie erst ihre grundlegende Bedeutung und ihren wahren Charakter. Allerdings spitzt sich die Situation in der Moderne weiter zu. Denn was nach Heidegger mit der technologischen Entwicklung auf dem Spiel steht, ist seiner Auffassung nach noch ursprünglicher, als was Platon mit der Abgrenzung der Philosophie von der Sophistik vor Augen stand. So behauptet Heidegger sogar, dass Platon in seiner Bestimmung der Philosophie die moderne Technik in die Wege geleitet hat. Damit folgt für Heidegger zugleich, dass es einer grundsätzlichen Kritik der Technik bedürfe, die auch Platons Bestimmung der Philosophie in Frage stellt. Erst dann könne die Philosophie ihre denkenden Möglichkeiten realisieren. Dazu kommt, dass die Sophistik insbesondere im Rahmen der Demokratie der antiken Polis laut Platon eine Herausforderung war, während Heidegger die moderne Technik als eine globale Gefahr sieht. Diese einleitende Parallele zwischen antiker Sophistik und moderner Technik hebt vor allem die Bedrohung durch die Technik hervor. Folgen wir unmittelbar Heideggers Auslegung der modernen Technik, dann ist es daher schwierig, die moderne Technik zu würdigen und einen Spielraum für verschiedene Interpretationen zu gewinnen. Seine Auslegung des Wesens der modernen Technik greift unseres Erachtens insgesamt betrachtet zu kurz. Anders als Heidegger es unterstellt, ist die Gefahr der Technik kein spezifisch modernes Phänomen, und es ist auch irreführend anzunehmen, dass der Mensch nicht fähig sei, mit Technik unterschiedlich umzugehen, ja, sie sogar sehr unterschiedlich zu erfahren. Die moderne Technik ist sowohl gefährlicher als auch harmloser, als es Heidegger zugibt. Gehen wir aber mit Heideggers Grundannahmen freier um, dann können wir neue Sichtweisen auf das Wesen der Technik gewinnen. Es ist die fruchtbare Kehrseite des Heideggerschen Denkens, dass es neue Interpretationsmöglichkeiten der Technik in die Wege zu leiten vermag. Diese Arbeit stellt drei Hauptthesen auf, deren Entfaltung der dreiteiligen Gliederung dieser Arbeit entspricht. Unsere erste These ist, dass moderne Technik Heideggers Wesensbestimmung zufolge in Analogie zur lebendigen Natur interpretiert werden kann. Mit seiner Neubestimmung der modernen Technik grenzt sich Heidegger radikal von der seit der Antike dominierenden Auffassung der Technik ab, wonach Technik maßgeblich und bewusst vom Menschen vollzogen wird. Unserer zweiten These zufolge ermöglicht es Heideggers Auffassung, die moderne Technik und die Kunst strukturell so 13

eng miteinander zu verbinden, dass die moderne Technik sich als Kunst zeigen kann. Die dritte These besagt schließlich, dass durch Heideggers Bestimmung der modernen Technik nicht nur eine einzige, sondern mehrere verschiedene Genealogien ihres Entstehens plausibel gemacht werden können, was den Begriff ihres Wesens relativiert und dessen besonderen Sinn zum Vorschein bringt. Die Richtung, die diese Arbeit verfolgt und die den Zusammenhang zwischen den drei genannten Thesen bildet, besteht darin, dass Heideggers Wesensbestimmung der Technik zwei Seiten hat: Die eine zeigt, dass das Wesen der Technik im Kunstwerk liegt. Die andere öffnet den Blick darauf, dass das Wesen der Technik die Gefahr birgt, den Menschen in seinem Verstehen derart festzulegen, dass er das Phänomen der Wahrheit missversteht und es mit dem nachträglichen Phänomen der Korrespondenz oder der ‚Richtigkeit‘ verwechselt. Dies ist Gefahr insofern, als es den Möglichkeitssinn des Menschen einschränkt und ihn zum Gefangenen einer bestimmten Weltdeutung zu machen droht. Diese Thesen mögen abwegig und sehr zugespitzt erscheinen, deshalb ist es von Anfang an wichtig festzuhalten, dass es dabei um InterpretationsMöglichkeiten der Heideggerschen Texte geht. Die Arbeit bemüht sich, Kehrseiten des Heideggerschen Denkens aufzudecken, bisher verborgene Zusammenhänge seiner Begriffe hervorzuheben und neue Spielräume seiner Interpretation der Technik zu zeigen. Durch kritische Fragen, ungewöhnliche Gedankenexperimente, ironische Anspielungen und systematische Schlussfolgerungen sollen Heideggers Gedanken zur Technik in neuen und auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Konstellationen dargelegt werden, die sowohl einige seiner Gedanken fragwürdig erscheinen lassen als auch zu weiteren Untersuchungen anregen sollen. Dabei werden traditionelle Technikbegriffe nicht nur kritisch diskutiert, sondern auch auf eine Art und Weise dynamisiert, dass sie bisweilen ihre herkömmliche Identität verlieren und eine neue gewinnen. Durch die kritische Diskussion von Heideggers Technikphilosophie soll also auch traditionelle Konzeptionen von Technik reflektiert werden. Insofern stellt sie eine Herausforderung an unsere Fragen, ob die manchmal ungewöhnlich anmutenden Ergebnisse als eine Kritik von Heideggers Verständnis der Technik, der traditionellen Interpretationen von Heidegger oder der tradierten Begriffe der Technik zu verstehen sind; sie stellt die herausfordernde Frage, ob diese Konsequenzen gar absichtlich von Heidegger angedeutet wurden. Die vorliegende Interpretation der Heideggerschen Texte, die diese Thesen einsichtig machen soll, setzt also voraus, dass ein Philosoph nicht zwingend so gelesen werden muss, wie es von ihm selbst vorgegeben ist. Dieser hermeneutischen Grundannahme zufolge sehen wir Heidegger nicht als die Auslegungsautorität der von ihm verfassten Texte, und unsere Interpreta14

tion steht manchmal quer zu dem, was Heidegger selbst zu seinen eigenen Auslegungen anführt.3 Solche Widersprüche sind aber kein hermeneutischer Selbstzweck, sondern ergeben sich aus dem Vorhaben, Heideggers Bestimmung der Technik kritisch zu durchdenken. Seine eigenen Prämissen, Grundbegriffe und phänomenologischen Beschreibungen der Technik ermöglichen nämlich, wie sich zeigen wird, andere Perspektiven als diejenige, welche von ihm gewählt und entwickelt werden. Heideggers Ansatz ist sehr fundamental, was zur Folge hat, dass sein Denken zwar oft sehr fruchtbar und offen, bisweilen aber auch gewaltsam und eklektisch erscheint. Heideggers Bestimmung des Wesens der modernen Technik ist davon geprägt, dass er scheinbar idiosynkratisch Grenzen zieht und aufhebt, was im Resultat nicht immer sinnvoll und sachgemäß erscheint. Wir möchten versuchen, die impliziten Argumentationslinien hinter diesen Grenzziehungen aufzudecken und – je nachdem – weiter oder wieder ins Fragwürdige zu führen. Dazu ist es erforderlich, sich nicht ausschließlich an Heideggers Selbstverständnis zu orientieren, sondern bisweilen auch den Zusammenhang seiner Ausführungen radikal in Frage zu stellen und ‚die Schranken des Selbstverständlichen‘ fallen zu lassen.4 Gleichzeitig ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass Heidegger selbst auf die Schwierigkeiten einer Bestimmung der Technik aufmerksam macht. Es wäre also irreführend zu glauben, dass sich, wenn wir nur wie Heidegger denken könnten, die Schwierigkeiten des Unterfangens einer Wesensbestimmung der Technik von alleine erledigen würden. Heidegger ist ein Denker, der immer wieder Fragen, Dissonanzen und Streitmomente im Bereich des Denkens betont und reflektiert hat. Während er sich in manchen Behauptungen und Passagen seiner Schriften von solchen Dissonanzen nicht beeindrucken lässt, hebt er sie in anderen ausdrücklich und wiederholt hervor: „Vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weni3

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Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke, Band 1, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 186 und Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002, S. 8ff. Siehe auch: „Wenn wir uns aufmachen, das in Hölderlins Dichtung Gedichtete zu denken, dann trachten wir bei solchem Versuch auch nicht danach, das vor die Augen zu bringen, was Hölderlin im ersten Sagen seiner Dichtung bei sich selbst vorgestellt hat. Das wird keine Forschung je erkunden und kein Denken je ersinnen können. Gesetzt sogar, dieses Unmögliche wäre möglich, angenommen also, wir könnten uns genau in den damaligen Umkreis der Hölderlinschen Vorstellungen zurückversetzen, dann wäre so in keiner Weise verbürgt, daß wir hiermit das denken, was Hölderlins Wort dichtet. Denn das Wort des wahrhaften Dichters dichtet jedes Mal über das eigene Meinen und Vorstellen des Dichters hinaus […] Das Wort des Dichters und das in ihm Gedichtete überdichten den Dichter und sein Sagen […] Das Wort des Dichters ist nie sein eigenes und sein Eigentum.” (GA 52, S. 6f). Vgl. Holzw, S. 24f.

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ges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres.“5 An einer anderen Stelle bemerkt Heidegger über seine eigenen Ausführungen, dass genug gewonnen wäre, wenn diejenigen Phänomene, die er zu entfalten versuchte „in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges“ bleiben würden.6 „Dadurch [durch immanente Kritik] muß deutlich werden, inwiefern die kritische Frage, welche die Sache des Denkens sei, notwendig und ständig zum Denken gehört.“7 Damit gewinnt sein Denken eine Offenheit, was uns auch skeptisch gegenüber seinem eigenen philosophischen Ansatz stimmen muss: „Alles Beweisen ist immer nur ein nachträgliches Unternehmen auf dem Grunde von Voraussetzungen. Je nachdem, [wie] diese angesetzt werden, läßt sich alles beweisen.“8 Nun ist die Philosophie nach Heidegger fähig, solche ‚Voraussetzungen‘ selbst zu stiften, genau das macht sie allerdings auch fragwürdig und sogar gefährlich. Diese Ambivalenz der Philosophie kommt unseres Erachtens auch in der bekannten Aussage Heideggers zum Ausdruck, dass „jede echte Philosophie unwiderlegbar“ sei.9 Und genau in dieser Radikalisierung der Philosophie sehen wir auch ihre grundlegende Bedeutung; diese ist kaum zu überschätzen und bedarf deswegen auch einer ständigen Auseinandersetzung. Diese Arbeit gibt sich nicht mit gängigen Periodisierungen von Heideggers Philosophie zufrieden. Von der Sache her gesehen – das heißt in diesem Fall: von der Technik her gesehen – geben Heideggers frühe Schriften manchmal Aufschlüsse, die für die Auseinandersetzung mit seinen mittleren und späten Schriften äußerst ergiebig sind. Heideggers Schriften per se in zum Beispiel drei ‚Epochen‘ einteilen zu wollen, ist philosophisch gesehen nicht sinnvoll; denn betrachten wir sein Gesamtwerk genauer, dann können diese ‚Epochen‘ oft sowohl beliebig weiter unterteilt als auch zusammengenommen werden. Jede noch so nuancierte systematisch motivierte chronologische Dreiteilung seines Werkes ist ein Vorgriff auf sein Denken und kann damit gerade auch sachliche Zusammenhänge verbergen. Eine weitergehende Einteilung von Heideggers Werk kann dazu führen, dass die einzelnen Gedanken isoliert dastehen und letztendlich sinnlos werden. Wer das Werk einteilt, bestimmt in gewissem Sinne über dessen grundlegende Bedeutung, und dieser Auslegung folgt freiwillig oder unfreiwillig, wer solche ‚Epochen‘ vor einer Auseinandersetzung akzeptiert. Es muss daher vielmehr von der Sache her und im Vollzug der Untersuchung erprobt und gezeigt werden, wie Heideggers verschiedene Einsichten und phänomenale Beschreibungen für das Vorhaben fruchtbar entfaltet 5 6 7 8 9

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Holzw, S. 39. VA, S. 155. SdD, S. 61. VA, S. 190 GA 90, S. 215.

werden können. Zunächst müssen also alle derartigen ‚Epocheneinteilungen‘ aufgehoben werden, um danach aufzuzeigen, wie bestimmte Gedanken sinngemäß zusammenhängen und abgegrenzt werden können.10 So ermöglichen sowohl frühe, mittlere als auch späte Schriften Heideggers die in der hier vorgelegten Arbeit intendierte Kritik und anschließende neue Bestimmung und Beschreibung der Erfahrung von Technik. Sachgemäße Querverbindungen über ‚Epochengrenzen‘ hinweg können auf diese Weise plötzlich schwierige, gar aporetische Gedanken erhellen, für gesichert gehaltene Einsichten fragwürdig erscheinen lassen und neue Interpretationsmöglichkeiten erschließen. Der Beitrag zur Forschung, den die vorliegende Arbeit zu leisten beabsichtigt, liegt sowohl in den Ausführungen zur Neubestimmung der Technik als auch in der prinzipiellen Auseinandersetzung mit Heideggers Denken. Sowohl Technikphilosophen, die sich mit der Bestimmung der modernen Technik beschäftigen, als auch am immanenten Kontext des Heideggerschen Denkens interessierte Forscher werden in dieser Abhandlung neue Gedankenanstöße, Kritik und Anregungen zum Weiterdenken finden. Insbesondere aber möchte die Arbeit einen Beitrag zu neuen Diskussionen über Heidegger und die Technik leisten. Die Arbeit entfaltet sich als eine Auseinandersetzung mit Heideggers Bestimmung der Technik und versteht sich nicht als eine vergleichende Interpretation antiker und moderner Technikkonzepte. Bezüge auf Denker und Begriffe der antiken griechischen Philosophie sind daher von Heideggers Bestimmungen derselben aus gedacht; und wenn Bezüge zu anderen Denkern hergestellt werden, dann geschieht das auf der Grundlage von Heideggers Schriften und mit der Absicht, seine Überlegungen zur Technik zu rekonstruieren.

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Vgl. GA 65, S. 151.

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Erster Teil

Das Wesen der modernen Technik

Erstes Kapitel

Martin Heideggers Frage nach der Technik Zur Interpretation der Technik hat kaum ein anderer Text des 20. Jahrhunderts eine so starke Wirkungsgeschichte gehabt wie Martin Heideggers Aufsatz „Die Frage nach der Technik“.1 Dieser Aufsatz entspringt einem Vortrag gleichen Namens, den Heidegger am 18. November 1953 an der Technischen Hochschule München gehalten hat. Dieser Vortrag steht in einem eigenen entstehungsgeschichtlichen Rahmen, den es sich vor der systematischen Auseinandersetzung mit dem Text zu vergegenwärtigen lohnt. Der Vortrag gehört in eine Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der schönen Künste mit dem Titel Die Künste im technischen Zeitalter. Zu ihrer Eröffnung gab der Präsident der Akademie, Emil Pretorius, zu verstehen: „Es ist heute nahezu unmöglich geworden, von irgendeinem Thema, sei‘s des Politischen, des Sozialen oder Wirtschaftlichen, sei‘s der Wissenschaft oder Kunst sinnvoll zu sprechen, ohne es in den Aspekt der großen, krisenhaften Wandlung zu stellen, in der die Welt allenthalben begriffen ist.“2 Auch Heideggers Text über die Technik ist ein Ausdruck dieser Zeit. Er zeichnet sich aber durch den Anspruch aus, zugleich eine Diagnose dieses Zeitalters

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Vgl. „Most philosophers of technology would probably agree that, for good or ill, Martin Heidegger’s interpretation of technology, its meaning in Western history, and its role in contemporary human affairs is probably the single most influential position in the field.” Scharff, Robert C. / Dusek, Val: „Introduction to Part IV: Heidegger on Technology” in: Philosophy of Technology: the technological Condition: an Anthology, hrsg. von Robert C. Scharff und Val Dusek, Malden/Oxford 2003, S. 247-251, hier S. 247. Die Künste im technischen Zeitalter, hrsg. von der Bayrischen Akademie der schönen Künste, Darmstadt 1956, S. 9. (kursiviert S.R.). Vgl. dies auch mit Heideggers Ausführung über die Vortragsreihe, in der er unter anderem sagt: „Ich rühre hier nur an einige Fragen. Es sind aber deren viele und vielartige, die uns heute aufgegeben sind. Darüber werden Sie in diesen Tagen Wesentliches hören, und zwar von sehr verschiedenen Aspekten aus: nicht im anmaßenden Sinne, daß hier gebrauchsfertige Lösungen der ringsher andrängenden Probleme geboten werden, sondern im bescheideneren, die Probleme aufzeigen und in eine tiefdringende Schicht zu rücken. Damit soll zugleich wachgerufen werden zu einer nachhaltigen Besinnung, und jedem, der hören kann und hören will, eindringlich gemacht werden, was die Stunde geschlagen hat, was eigentlich auf dem Spiel steht. Denn nur wenn wir dessen inne, dessen klar bewusst werden, nur dann können wir auch die Kraft gewinnen, dem sich Wandelnden mit der rechten, inneren Wandelfähigkeit zu begegnen.“ (Die Künste im technischen Zeitalter, hrsg. von der Bayrischen Akademie der schönen Künste, Darmstadt 1956, S. 10).

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stellen zu wollen und eine Perspektive aus der Krise zu weisen.3 Der Ausdruck des ‚Krisenhaften‘ mit all seinen kulturpessimistischen Implikationen offenbart bereits in diesem kurzen Zitat den Diskurs-Horizont, innerhalb dessen sich Heideggers Gedankengang bewegt. Nicht zuletzt aufgrund dieser ambivalenten Grundstimmung und seiner zeitlichen Platzierung in Heideggers Werk, bietet der Text „Die Frage nach der Technik“ einen hervorragenden systematischen Bezugspunkt und chronologischen Mittelpunkt in Heideggers Beschäftigung mit der Technik. Dass in diesem Text nicht nur entscheidende Formulierungen seiner früheren Gedanken zum Verständnis der Technik, sondern auch maßgebende Fragen und Entwürfe der weiteren Entwicklung seiner Denkwege zu finden sind, verleiht ihm auch in der philosophischen Technikforschung, nicht nur in Heideggers Werk selbst, eine Sonderstellung.4 Aus diesem Grund bildet dieser Aufsatz das Fundament der hier entfalteten Auseinandersetzung mit Heideggers Interpretation der Technik. Daher sollen zunächst in den folgenden Abschnitten die Argumentation und Struktur dieses Textes verdeutlicht werden.

A Eine Frage der freien Beziehung In „Die Frage nach der Technik“ geht es Heidegger darum, eine freie Beziehung zur Technik vorzubereiten und zu erfahren. Aus diesem Vorhaben heraus lässt sich ein roter Faden durch den ganzen Text erkennen und an diesem entlang der programmatische Charakter dieses Textes verstehen. Wird diese anfängliche Bestimmung des Aufsatzes übersehen, dann wird es auch unverständlich, warum Heidegger am Ende seiner Überlegungen die Untersuchung des Wesens der Technik mit einer Untersuchung der Kunst verbunden sieht. Im ersten Paragraphen des Textes heißt es: „Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet. Entsprechen wir diesem, dann vermögen wir es, das Tech-

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Diese ambivalente Beziehung zum eigenen Zeitalter prägte Heidegger lebenslänglich. Sie drückt sich prägnant in einem Brief aus dem Jahre 1966 an seinen Schüler Eugen Fink aus, in dem Heidegger schreibt: „Vermutlich wird die Philosophie bisherigen Stils und entsprechender Geltung aus dem Blickfeld des Menschen der technischen Weltzivilisation verschwinden. Aber das Ende der Philosophie ist nicht das Ende des Denkens. Deshalb wird die Frage bedrängend, ob das Denken die ihm bevorstehende Prüfung annimmt und wie es die Zeit der Prüfung übersteht. [Es ist mein Wunsch] Sie möchten mithelfen, erst einmal die Not sichtbar zu machen, in die das Denken durch die schrankenlose Macht der in sich schon technischen Wissenschaft genötigt wird.“ (GA 29/30, S. 535f; kursiviert S.R.). Überdies steht dieser Text allen anderen Texten in dem Band Vorträge und Aufsätze voran, den Heidegger selbst zum Druck vorbereitet hat.

nische in seiner Begrenzung zu erfahren.“5 Zur ‚Vorbereitung‘ dieser freien Beziehung zur Technik gehört laut Heidegger zunächst, dass die Frage nach dem Wesen der Technik verstanden wird.6 Es besteht nämlich für Heidegger ein grundlegender Unterschied zwischen der konkreten Technik und dem Wesen der Technik: „Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, daß jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen lässt.“7 Heidegger möchte also von Anfang an seine Zuhörer auf ein Denken einstimmen, das sich von den Einzeldingen nicht richten und blenden lässt, sondern dafür frei sein kann, über sie hinauszugehen, um so das Wesen der Dinge zu suchen. Selbst wenn man fähig ist, die mannigfachen technischen Dispositionen zu kritisieren, sie bewusst begrüßen zu können oder ihnen gleichgültig gegenüberzustehen, bewegt man sich laut Heidegger in einem Bereich des Verstehens, in dem die Technik herrscht.8 Um in eine freie Beziehung zur Technik zu gelangen, muss ein Verständnis der Technik aufgedeckt werden, das sich nicht an den technischen Apparaturen festhält. „So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches. Wir erfahren darum niemals unsere Beziehung zum Wesen der Technik, solange wir nur Technisches vorstellen und betreiben, uns damit abfinden oder ihm ausweichen. Überall bleiben wir unfrei an die Technik gekettet, ob wir sie leidenschaftlich bejahen oder verneinen. Am ärgsten sind wir jedoch der Technik ausgeliefert, wenn wir sie als etwas Neutrales betrachten; denn diese Vorstellung, der man heute besonders gerne huldigt, macht uns vollends blind gegen das Wesen der Technik.“9

Mit anderen Worten: In den drei genannten Beziehungen zur Technik wird die Aufmerksamkeit des Menschen entweder maßgeblich auf die Technik gerichtet, nämlich im Falle ihrer Bejahung und Verneinung, oder sie wird von der Technik abgelenkt, wenn sie für neutral gehalten wird. Unabhängig davon, ob die Aufmerksamkeit auf die Technik gerichtet wird oder nicht, kann sie die Menschen beeinflussen. Interessanterweise ist die Technik für Heidegger gerade in dem Fall besonders wirkungsmächtig, wo vergessen wird, sie zu hinterfragen. Schon am Anfang von „Die Frage nach der Technik“ ist es daher klar, dass Heideggers Auseinandersetzung mit der Technik 5 6 7

8 9

VA, S. 9. VA, S. 9. VA, S. 9. Wir übergehen die offensichtlich platonischen Konnotationen dieses Zitats sowie die problematischen Implikationen, die sich für Heidegger daraus ergeben, insofern er als ausgewiesener nachmetaphysischer Denker hier auf einen klassischen Topos der Metaphysik zurückgreift. Wie wir später sehen werden, versteht er den Begriff des Wesens nämlich anders als Platon. Vgl. VA, S. 9. VA, S. 9.

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sich von einer Reihe klassischer Einstellungen zur Technik unterscheidet, die die Technik beispielsweise als Motor der menschlichen Freiheit apostrophieren, Technik unabhängig von der Freiheit des Menschen denken oder Freiheit primär in der Abwesenheit von Technik für realisierbar halten.10 Damit ist jedoch möglichen Missverständnisse der Untersuchung der Technik noch nicht genug, denn laut Heidegger kann bereits der erste Schritt auf diesem Weg zum Wesen der Technik verfehlt werden. Das ‚Wesen‘ der Technik wird oft als das der Technik Zugrundeliegende begriffen.11 Daraus bilden sich zwei gängige Vorstellungen vom Wesen der Technik, die laut Heidegger zwar beide richtig, aber nicht hinreichend sind. Der ersten Vorstellung zufolge lässt sich die Technik und damit die verschiedenartigsten Artefakte zwar unterscheiden, aber ihrem Wesen nach bleibt die Technik als Mittel zum Zweck bestimmt. Gemäß der anderen Vorstellung ist die Technik nicht mit einzelnen Artefakten gleichzusetzen, sondern eigentlich als ein menschliches Tun zu verstehen. Die erste Bestimmung entspreche einem instrumentalen Verständnis der Technik, so Heidegger; die zweite drücke dagegen eine anthropologische Interpretation der Technik aus.12 Heidegger verbindet beide Ansichten vom Wesen der Technik und verschärft damit ihre zwei gängigen Deutungen: „Beide Bestimmungen der Technik [die instrumentale und die anthropologische] gehören zusammen. Denn Zwecke setzen, die Mittel dafür beschaffen und benützen, ist ein menschliches Tun. Zu dem, was die Technik ist, gehört das Verfertigen und Benützen von Zeug, Gerät und Maschinen, gehört dieses Verfertigte und Benützte selbst, gehören die Bedürfnisse und Zwecke, denen sie dienen. Das Ganze dieser Einrichtungen ist die Technik […] Die gängige Vorstellung der Technik, wonach sie ein Mittel ist und ein menschliches Tun, kann deshalb die instrumentale und anthropologische Bestimmung der Technik heißen.“13

Die instrumentale anthropologische Bestimmung der Technik ‚ist auf unheimliche Weise richtig‘ sagt Heidegger – sie „richtet sich offenkundig nach dem, was man vor Augen hat, wenn man von Technik spricht.“14 Aber warum ‚unheimlich‘? Für Heidegger liegt eben in der instrumentalen Bestimmung die Gefahr, die Technik unhinterfragt bereits mit Mitteln des technischen Verständnisses zu deuten. Denn dieser instrumentalen, anthropologischen Bestimmung der Technik gemäß ist der Mensch laut Heidegger 10

11 12 13 14

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Vgl. Dessauer, Friedrich: Philosophie der Technik : Das Problem der Realisierung, Bonn 1927. Mumford, Lewis: The Myth of the Machine, New York 1967. Ortega y Gasset, José: „Meditación de la técnica“, in : Ensimismamiento y alteracíon, in: Obras completas, Band 5, Madrid 1945-1947, S. 317-375. Vgl. S. 9f. Vgl. S. 10. VA, S. 10 (kursiviert S.R.). VA, S. 10.

in seinem Umgang mit der Technik darauf aus, die Technik beherrschen zu wollen – er plant, wie er sie am besten meistern kann – womit er sich ungewollt noch tiefer in technische Zusammenhänge verstrickt, ohne einer grundlegenden Klärung der Technik entscheidend näher zu kommen.15 Mit anderen Worten: Wenn die Technik als ein Mittel des handelnden Menschen dargestellt wird, dann entsteht daraus zwangsläufig die Forderung, die Technik bestmöglich in den Griff zu bekommen, damit die vorgegebene Zielsetzung umso leichter erreicht wird.16 Was wäre aber, fragt Heidegger, wenn die Technik kein bloßes Mittel zum Zweck sei, und die ‚richtige‘ Bestimmung der Technik ihr Wesen nicht wahrhaft enthülle? Um diese Frage erörtern zu können, macht Heidegger eine subtile und für den Vollzug seiner Ausführungen folgenschwere Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen dem ‚richtigen‘ und dem ‚wahren‘ Verständnis einer Sache. Der verschlungene Weg Heideggers, der eine freie Beziehung zur Technik vorbereiten soll, hat an diesem Punkt eine wichtige Zwischenstation. Betrachten wir genauer, was hier geschieht: Das ‚Richtige‘ zeichnet sich für Heidegger dadurch aus, dass es über das Wirkliche etwas aussagt, was ohne unmittelbaren Widerspruch nicht geleugnet werden kann; „das Richtige stellt an dem, was vorliegt, jedesmal irgend etwas Zutreffendes fest.“17 Jedoch gehört das Richtige in einen umfassenderen Zusammenhang, der allein durch das Richtige nicht angemessen zur Geltung kommt. Nennt man den Menschen beispielsweise zweibeinig, so ist das zwar richtig, beantwortet aber nicht die Frage nach dem Wesen des Menschen. Dieses wird nach Heidegger erst durch das ‚Wahre‘ erschlossen: „Das Richtige stellt an dem, was vorliegt, jedes Mal irgendetwas Zutreffendes fest. Die Feststellung braucht jedoch, um richtig zu sein, das Vorliegende keineswegs in seinem Wesen zu enthüllen. Nur dort, wo solches Enthüllen geschieht, ereignet sich das Wahre.“18 Der umfassende Zusammenhang, den Heidegger sucht, ist also das Wesen der Sache, und dieses kann uns laut Heidegger nur durch ein Verständnis des Wahren einsichtig gemacht werden.19 Zu Beginn seiner Ausführungen zur Technik kann sich Heidegger also am ‚Richtigen‘ orientieren, weil es doch, wenn auch unwissentlich, ein Moment des Wahren birgt. Das bedeutet, wie Heidegger sagt, dass wir„durch das Richtige hindurch das Wahre suchen [müssen].“20 Sein Ziel ist daher zunächst dies, zu untersuchen, in welchem umfassenden Zusammenhang Mittel und Zwecke stehen.

15 16 17 18 19 20

Vgl. VA, S. 11. Vgl. VA, S. 10. VA, S. 11. VA, S. 11. VA, S. 11. VA, S. 11.

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Mittel und Zweck gehören für Heidegger zum Bereich der Kausalität, und von hier aus muss die instrumentale anthropologische Bestimmung der Technik zunächst durchdacht werden: „Auch der Zweck, demgemäß die Art der Mittel sich bestimmt, gilt als Ursache. Wo Zwecke verfolgt, Mittel verwendet werden, wo das Instrumentale herrscht, da waltet Ursächlichkeit, Kausalität.“21 Mit dem Schritt in den problematischen Bereich der Kausalität hinein stellt Heidegger die vier klassischen Begriffe der Ursachenlehre in einen Zusammenhang mit seiner Erörterung zum Wesen der Technik. „Seit Jahrhunderten lehrt die Philosophie, es gäbe vier Ursachen: 1. die causa materialis, das Material, der Stoff, woraus z. B. eine silberne Schale verfertigt wird; 2. die causa formalis, die Form, die Gestalt, in die das Material eingeht; 3. die causa finalis, der Zweck, z.B. der Opferdienst, durch den die benötigte Schale nach Form und Stoff bestimmt wird; 4. die causa efficiens, die den Effekt, die fertige wirkliche Schale erwirkt, der Silberschmied. Was die Technik, als Mittel vorgestellt, ist, enthüllt sich, wenn wir das Instrumentale auf die vierfache Kausalität zurückführen.“22

Um ein Verständnis dafür zu gewinnen, was sich in der viergliedrigen Kausalität zeigt und um dadurch das Wesen der Technik genauer zu fassen, fragt Heidegger nach der Einheit der vier Ursachen: „Woher bestimmt sich der Ursachencharakter der vier Ursachen so einheitlich, daß sie zusammengehören?“23 Mit einem Rekurs auf die griechische Philosophie erklärt Heidegger, dass die vier Ursachen ihren gemeinsamen Grund in dem von Aristoteles geprägten Begriff DL?WLRQhaben. Dieser Begriff lässt sich laut Heidegger am besten mit dem Begriff des ‚Verschuldens‘ übersetzen, so dass die vier Ursachen nun durch diesen Rückgriff als ‚Weisen des Verschuldens‘ verstanden werden können.24 In dieser veränderten Begrifflichkeit erklärt Heidegger die Herstellung der Silberschale anders: „Das Silber ist das, woraus die Silberschale verfertigt ist. Es ist als dieser Stoff (X-YOK) mitschuld an der Schale. Diese schuldet, d.h. verdankt dem Silber das, woraus sie besteht. Aber das Opfergerät bleibt nicht nur an das Silber verschuldet. Als Schale erscheint das an das Silber Verschuldete im Aussehen von Schale und nicht in demjenigen von Spange oder Ring. Das Opfergerät ist so zugleich an das Aussehen (HL?GR von Schalenhaftem verschuldet […] Schuld an ihm bleibt jedoch vor allem ein Drittes. Es ist jenes, was zum voraus die Schale in den Bereich der Weihe und des Spendens eingrenzt. Dadurch wird sie als Opfergerät umgrenzt. Das Umgrenzende beendet das Ding. Mit diesem Ende hört das Ding nicht auf, sondern aus ihm her beginnt es als das, was es nach der Herstellung sein wird. Das Beendende, Vollen21 22 23 24

26

VA, S. 11. VA, S. 11f. VA, S. 12. Vgl. VA, S. 12.

dende in diesem Sinne heißt griechisch (WHYOR), was man allzu häufig durch ‚Ziel‘ und ‚Zweck‘ übersetzt und so missdeutet […]. Schließlich ist ein Viertes mitschuld am Vor- und Bereitliegen des fertigen Opfergerätes: der Silberschmied; aber keineswegs dadurch, dass er wirkend die fertige Opferschale als den Effekt eines Machens bewirkt, nicht als causa efficiens […]. Der Silberschmied ist mitschuld als das, von wo her das Vorbringen und das Aufsichberuhen der Opferschale ihren ersten Ausgang nehmen und behalten. Die drei zuvor genannten Weisen des Verschuldens verdanken der Überlegung des Silberschmieds, dass sie und wie sie für das Hervorbringen der Opferschale zum Vorschein und ins Spiel kommen.“25

Der Unterschied zwischen Heideggers Ausführungen zum lateinischen und dem griechischen Verständnisses der Herstellung der Silberschale liegt also vor allem darin, dass der lateinische Begriff der causa finalis und seine deutsche Übersetzung ‚Zweck‘ den Eindruck vom Ende und vom Resultat verleihen, während im griechischen Begriff des WHYOR sich für Heidegger ein anderes Verstehen der Herstellung bekundet, von dem aus der Anfang und die Vollendung der Herstellung als einander wesentlich mitbestimmend gedacht werden. Von diesem Unterschied ausgehend wird auch der Silberschmied jeweils verschieden verstanden. Während er laut Heidegger im lateinischen Verständnis als eine Art Kraftquelle gedacht wird, die den Anstoß der Hervorbringung leistet, ist der Silberschmied in der Aristotelisch geprägten griechischen Begrifflichkeit vielmehr als integriertes Moment der Hervorbringung der Silberschale gedacht.26 Es ist, so Heidegger, in der griechischen Welt der ‚Überlegung‘ des Silberschmieds zu verdanken, dass und in welcher Form die Schale überhaupt hervorgebracht wird. In dem Sinne ist es auch der Silberschmied, der „die drei genannten Weisen des Verschuldens [versammelt]“27. Schließlich ist noch ein dritter Unterschied zwischen der griechischen und lateinischen Begrifflichkeit für Heidegger entscheidend: Dieser betrifft die Differenz des Begriffs der Ursache vom griechisch verstandenen Begriff des Verschuldens. Während der Begriff der Ursache sich auf die Wirklichkeit bezieht und damit in den Bereich der wechselseitig aufeinander wirkenden Dingen hineingehört, ist der mit dem Begriff des Verschuldens erschlossene Bereich viel enger mit dem Vorgang des Hervorbringens verbunden.28 Gemäß Heidegger verdeckt aber die heutige moralische Bedeutung des Verschuldens den ursprünglichen griechischen Sinn des Wortes und versperrt damit die Einsicht in den Wesensbereich der Kausalität. Damit kann die Technik Heideggers Ansicht nach leicht missverstanden werden.

25 26 27 28

VA, S. 12f. Vgl. VA, S. 13. VA, S. 13. VA, S. 14f.

27

„Um uns vor den genannten Mißdeutungen des Verschuldens zu schützen, verdeutlichen wir seine vier Weisen aus dem her, was sie verschulden. Nach dem Beispiel verschulden sie das Vor- und Bereitliegen der Silberschale als Opfergerät. Vorliegen und Bereitliegen (X-SRNHL†VWDL kennzeichnen das Anwesen eines Anwesenden. Die vier Weisen des Verschuldens bringen etwas ins Erscheinen. Sie lassen es in das An-wesen vorkommen. Sie lassen es dahin los und lassen es so an, nämlich in seine vollendete Ankunft. Das Verschulden hat den Grundzug dieses An-lassens in die Ankunft […] Die geläufige und engere Bedeutung des Wortes ‚Veranlassung‘ besagt dagegen nur soviel wie Anstoß und Auslösung und meint eine Art von Nebenursache im Ganzen der Kausalität.“29

Heidegger verbindet also das Verschulden mit dem ‚Anlassen in die Ankunft‘, die wiederum als eine Art ‚Her-vor-bringen‘ zu verstehen ist. Um das Verschulden besser zu verstehen, und so dem Wesen der Technik einen Schritt näher zu kommen, müssen wir Heidegger zufolge das Hervorbringen genauer untersuchen.30 „Alles liegt daran, dass wir das Her-vor-bringen in seiner ganzen Weite und zugleich im Sinne der Griechen denken. Ein Her-vor-bringen, SRLYKVL, ist nicht nur das handwerkliche Verfertigen, nicht nur das künstlerisch-dichtende zum-Scheinen- und ins-Bild-Bringen. Auch die IXYVL, das von-sichher Aufgehen, ist ein Her-vor-bringen, ist SRLYKVL Die IXYVL ist sogar SRLYKVL im höchsten Sinne. Denn das IXYVHL Anwesende hat den Aufbruch des Her-vor-bringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (HMQH-DXWZ ). Dagegen hat das handwerklich und künstlerisch Her-vorbrachte, z.B. die Silberschale, den Aufbruch des Hervorbringens nicht in ihm selber, sondern in einem anderen (HMQD?OOZ), im Handwerker und Künstler.“31

Damit sind wir zu einem Punkt gekommen, der für Heideggers nachfolgenden Gedankengang maßgeblich ist. Das Hervorbringen bringt etwas zum Vorschein und deckt somit etwas aus der Verborgenheit auf. Diesen Vorgang nennt Heidegger das Entbergen, wofür es im Griechischen den Begriff DMOKYTHLD gab, der wiederum ins Lateinische durch ‚veritas‘ und ins Deutsche mit dem Begriff der Wahrheit übertragen worden ist.32 Das Hervorbringen und somit das anthropologische instrumentale Verständnis der Technik muss laut Heidegger also, wenn wir es wesentlich verstehen möchten, vom Begriff der Wahrheit verstanden werden. Der Frage nach dem Wesen der Technik folgend, haben wir mit Heidegger einen ungewöhnlichen Weg der Untersuchung der Technik eingeschlagen 29 30 31 32

28

VA, S. 14. Vgl. VA, S. 15. VA, S. 15. Vgl. VA, S. 15.

und sind nun beim Begriff der Wahrheit angekommen. Vom anthropologischen instrumentalen Verständnis der Technik ausgehend, hat Heidegger zunächst eine abstrakte Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem wahren Verständnis vorgenommen. Von dieser Unterscheidung aus hat Heidegger sich wiederum der anthropologischen instrumentalen Bestimmung der Technik zugewandt und zu zeigen versucht, dass und wie diese Bestimmung der Technik in den Bereich der Kausalität hineingehört. Kausalität wurde laut Heidegger im lateinischen Sprachgebrauch nicht einheitlich gedacht. Darum konnten wir dem Wesen der Technik nur durch Rückbezug des Begriffs der Kausalität auf seine Aristotelische Prägung als des ‚Verschuldens‘ näherkommen. Der Begriff des Verschuldens gab jedoch wiederum Anlass zu Missverständnissen, weshalb es auch hier nötig schien, ihn streng am ursprünglichen griechischen Verständnis orientiert auszulegen. Hier zeigte sich, dass das Verschulden und somit der einheitliche Grund der Kausalität aus dem Vorgang des Hervorbringens zu verstehen ist. ‚Her-vor-bringen‘ bringt laut Heidegger etwas aus der Verborgenheit in die ‚Unverborgenheit‘ vor und bezeichnet damit zugleich den Grundsinn des griechischen Begriffs für Wahrheit, DMOKYTHLD. Von ihrem Wesen her gedacht gehört Technik also in den Bereich der Wahrheit als Entbergen. Heidegger schließt seine einleitenden Überlegungen ab, indem er den zweiten Schritt seines Gedankengangs ankündigt: „Wohin haben wir uns verirrt? Wir fragen nach der Technik und sind bei der DMOKYTHLD beim Entbergen angelangt. Was hat das Wesen der Technik mit dem Entbergen zu tun? Antwort: Alles. Denn im Entbergen gründet jedes Her-vor-bringen.“33 Um diese Einsicht zu bestätigen, möchte Heidegger den festgestellten Zusammenhang zwischen der Technik und der Wahrheit nun von einem anderen Ausgangspunkt aus zeigen. Von diesem Punkt aus ist der Weg zwischen den zwei Begriffen viel kürzer und er bringt den Zuhörer sofort in Kontakt mit dem griechischen Denken. Heidegger geht bei diesem Nachweis also nicht vom alltäglichen instrumentalen anthropologischen Verständnis der Technik aus. Die Technik, so Heidegger in diesem zweiten Durchlauf der bisherigen Untersuchung, stammt aus dem griechischen Begriff der WHYFQK Die WHYFQK bezeichnet im antiken griechischen Sprachraum nicht nur die handwerkliche Arbeit, sondern auch das ‚Tun und Können‘ der schönen Künste.34 Griechisch gedacht gehört WHYFQK zum Her-vor-bringen, „zur SRLYKVL; sie ist etwas Poietisches.“35 Wie bereits gezeigt, gehört damit auch die WHYFQK zum Bereich der Wahrheit. Diese Beziehung wird verfestigt durch eine weitere 33 34 35

VA, S. 16. Vgl. VA, S. 16. VA, S. 16.

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Bedeutung der WHYFQK. 7HYFQK ist zugleich die Bezeichnung für eine besondere Art des Erkennens – sie gibt Aufschluss über etwas und ist in diesem Sinne auch ein Entbergen. Als Erkennen ist die WHYFQK auch eine Ausprägung der DMOKYTHLD, der Wahrheit. „Die WHYFQK ist eine Weise desDMOKTHXYHLQ. Sie entbirgt solches, was sich nicht selber her-vor-bringt und noch nicht vorliegt, was deshalb bald so, bald anders aussehen und ausfallen kann […] Das Entscheidende der WHYFQK liegt somit keineswegs im Machen und Hantieren, nicht im Verwenden von Mitteln, sondern in dem genannten Entbergen. Als dieses, nicht aber als Verfertigen, ist die WHYFQK ein Hervorbringen.“36

Von beiden Ausgangspunkten hinsichtlich der Frage nach der Technik hat Heidegger den Bereich des bloß Richtigen hinter sich gelassen und den Bereich der Wahrheit erschlossen. Damit hat er die Frage nach der Technik aus dem alltäglichen Verständnis herausgenommen, sie für die Entscheidung der Freiheit des Menschen und für das Verständnis der Wahrheit bedeutsam gemacht und somit ihr eine zentrale Stelle in der Philosophie zugewiesen. Gemäß dieser Bestimmung und Eingrenzung der Technik kann Heidegger nun weiterfragen und das Verständnis vom Wesen der Technik nuancieren. In Frage steht hier, ob seine bisherige Bestimmung der Technik auch aufschlussreich und präzise genug sei, weil er im Grunde nach der modernen Technik gefragt und mit dem antiken Denken geantwortet hat. „Und gerade sie [die moderne Technik], sie allein ist das Beunruhigende, das uns bewegt, nach ‚der‘ Technik zu fragen.“37 Damit ist nun von den einleitenden allgemeinen Überlegungen zum Wesen der Technik eine Fokussierung auf das Wesen der modernen Technik gewonnen.

B Das Wesen der modernen Technik als Gestell gedacht Das Wesen der modernen Technik und das Wesen der antiken WHYFQK gehören laut Heidegger beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in den Bereich des Entbergens.38 Von der Sonderstellung der modernen Technik, so Heidegger, erhalten wir einen ersten Eindruck, wenn die ‚handwerkliche Technik‘ mit der ‚Kraftmaschinentechnik‘ verglichen wird: In dieser sei im Unterschied zur handwerklichen Technik zugleich etwas anderes, höchst Gefährliches im Spiel. Denn im Unterschied zur antiken WHYFQK stelle das Entbergen der modernen Technik die ganze Natur in einen übergreifenden Nutzungszusammenhang der Verwend- und Verbrauchbarkeit: „Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, entfaltet sich nun aber 36 37 38

30

VA, S. 17. VA, S. 17. Vgl. S. 18.

nicht in ein Her-vor-bringen im Sinne der WHYFQK. Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.“39 Diese Eigenart der modernen Technik belegt Heidegger zunächst mit einer Reihe von Beispielen: „Ein Landstrich wird […] in die Förderung von Kohle und Erzen herausgefordert. Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlenrevier, der Boden als Erzlagerstätte.“40 Auch das Feld des Bauern kommt im Zeitalter der modernen Technik auf andere Weise zum Vorschein: „Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinnen der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie.“41 Das ‚Stellen‘, wie es zum Ausdruck kommt in ‚herstellen‘, ‚herausstellen‘ und ‚zur Verfügung stellen‘, charakterisiert die besondere Art, der gemäß die moderne Technik die Natur entbirgt. Dieses Stellen darf jedoch nicht statisch verstanden werden, es ist vielmehr von Heidegger als ein Bereitstellen gedacht – eine Bereitstellung, um weitere Gebiete der Natur auf Energie herauszufordern. Auch Heideggers inzwischen bekannt gewordene Beschreibung des Wasserkraftwerks am Rhein kann in diesem Zusammenhang in Bezug auf das aus den verschiedenen ineinandergreifenden Techniken folgende Bereitstellen, wo ein Ziel zum Mittel von darauf folgenden Zielen wird, ausgelegt werden. „Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen daraufhin stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschinen umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt, für den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung bestellt sind. Im Bereich dieser ineinandergreifenden Folgen der Bestellung elektrischer Energie erscheint auch der Rheinstrom als etwas bestelltes […] Er ist, was es jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks. Achten wir doch, um das Ungeheure, das hier waltet, auch nur entfernt zu ermessen, für einen Augenblick auf den Gegensatz, der sich in den beiden Titeln ausspricht; „Der Rhein“, verbaut in das Kraftwerk, und „Der Rhein“, gesagt aus dem Kunstwerk der gleichnamigen Hymne Hölderlins.“42

Die moderne Technik entbirgt den Rhein, indem sie ihn veranlasst, seine eigene Kraft in dem verflochtenen Netzwerk von technischen Vorrichtungen des Kraftwerkes zu erschöpfen und ihnen zu dienen. „Diese [Herausforderung] geschieht dadurch, daß die in der Natur verborgene Energie aufge39 40 41 42

VA, S. 18. VA, S. 18 (kursiviert S.R.). VA, S. 18. VA, S. 19.

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schlossen, das Erschlossenen umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird.“43 In diesem Kreislauf des Herstellens und Bestellens von Energien geht es dem herausfordernden Entbergen der modernen Technik zugleich darum, dass die Natur in diesem Kreis abgesichert wird. Die Natur zeigt sich in diesem Kreislauf also ständig als eine Art Vorrat, den Heidegger als ‚Bestand‘ kennzeichnet, auf den unter bestimmten Absichten als ein Bereitstehendes zugegriffen werden kann.44 Mit anderen Worten: Als Bestand hat die Natur ihren Stand im technischen Kreislauf erhalten. Entborgen als Bestand leistet die Natur nicht länger wirklich Widerstand; der Widerstand der Gegenstände und das Selbständige der Natur werden, so Heidegger, allmählich aus ihrem Halt gerissen, vom ‚Sog‘ der Technik in „das Gegenstandlose des Bestandes“45, in das nur in der Relation zum Nutzen stehende Funktionale des Gebrauchens aufgelöst und fügen sich schließlich dem Kreislauf von Bestellung und Brauchen. Doch die Stellung des Menschen im Wesensbereich der Technik ist immer eine doppelte: Denn einerseits vollzieht der Mensch das herausfordernde Stellen, indem er die technische Entbergung weitertreibt und er ist somit als Bestellender und Bereitstellender nicht bloßer Bestand – andererseits hat er gerade die Unverborgenheit und somit die Möglichkeit des Entbergens nicht ‚im Griff‘ seines Brauchens und kann daher selbst vom Wesen der Technik herausgefordert werden. „Wo immer der Mensch sein Auge und Ohr öffnet, sein Herz aufschließt, sich in das Sinnen und Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken freigibt, findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht. Dessen Unverborgenheit hat sich schon ereignet, so oft die den Menschen in die ihm zugemessenen Weisen des Entbergens hervorruft. Wenn der Mensch auf seine Weise innerhalb der Unverborgenheit das Anwesende entbirgt, dann entspricht er nur dem Zuspruch der Unverborgenheit, selbst dort, wo er ihm widerspricht. Wenn also der Mensch forschend, betrachend der Natur als einem Bezirk seines Vorstellens nachstellt, dann ist er bereits von einer Weise der Entbergung beansprucht, die ihn herausfordert, die Natur als einen Gegenstand der Forschung anzugehen, bis auch der Gegenstand in das Gegenstandlose des Bestandes verschwindet.“46

Der Mensch ist mit anderen Worten sowohl ein Entbergender, der den Entbergungsvorgang der Natur aktiv mitvollzieht, als auch selbst Teil der Entbergung, vom Entbergungsgeschehen grundsätzlich mitbestimmt und 43 44 45 46

32

VA, S. 20. Vgl. VA, S. 20. VA, S. 22. VA, S. 22.

herausgefordert. So zeigt sich die Wirklichkeit für ihn schon im Voraus als erschlossen; die Wirklichkeit geht den Menschen immer schon in einer besonderen Weise an. Das bestellende Entbergen ist deswegen nicht nur, und wie sich zeigen wird – nicht zunächst ein menschliches Werk: „Jenes Herausfordern [der modernen Technik] versammelt den Menschen in das Bestellen.“47 Im Zeitalter der modernen Technik steht der Mensch also laut Heideggers Interpretation an der Schwelle zwischen aktiv Bestellendem und passiv bestelltem Bestand, in dem er selbst zu einem Teil des Zweckdienlichen wird, das sich aus der Dynamik der Technik ergibt. Die besondere Art des Entbergens der modernen Technik, das dem Menschen geschieht und sein Handeln bedingt, untersucht und bestimmt Heidegger nun näher. In weiterführender Abgrenzung des Entbergungsgeschehens der modernen Technik greift er zunächst auf zwei andere Grundgedanken zurück. Anhand der zwei Begriffe ‚Gebirg‘ und ‚Gemüt‘ zeigt Heidegger nämlich, dass das Präfix „ge“ den Charakter des Versammelns hat: Was den Bergen ihren einheitlichen Charakter gibt, wird im Wort ‚Gebirge‘ erfasst; analog dazu steht ‚Gemüt‘ als der Sammelbegriff für die Art und Weise, wie es dem Menschen zumute ist.48 Die verschiedenen Weisen, wonach die moderne Technik dem Menschen die Welt entbirgt und wodurch sie ihn herausfordert, hat Heidegger bisher durch verschiedene Varianten des Stellens charakterisiert.49 In einem Wort erfasst, kann Heidegger mit Rekurs auf das Präfix „ge“ deswegen die besonderen Weisen des Entbergens durch die moderne Technik mit dem Begriff des Ge-stells zusammenfassen und damit diesen Begriff neu prägen: „Gestell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.“50 Mit dieser befremdlich anmutenden Verwendung des Begriffs des Gestells ist Heidegger zweierlei gelungen: Zum einen hat er damit das stellende Entbergen der modernen Technik in einem Wort erfasst, das zugleich den systematischen Charakter des Entbergungsvorgangs über die bloße Etymologie hinaus phänomenologisch ahnen lässt. Denn das Gestell in seiner alltäglichen Bedeutung, wie beispielsweise im Wort Büchergestell, benennt ja ein einheitliches, geordnetes System von Bestandteilen oder ein ‚versammelndes Stellen‘ von Einzelheiten, das das Zu- und Aufeinander der verschiedenen Teile bestimmt und somit ihre Bedeutung definiert. Andererseits ist das Gestell in Heideggers Neuprägung eben nicht selbst etwas Techni47 48 49 50

VA, S. 23. Vgl. VA, S. 23. Vgl. VA, S. 23f. VA, S. 24.

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sches, und dies verleiht diesem Begriff eine sonderbare Akzentuierung, die gerade dazu dient, über den technischen Vorgang des Entbergens wiederholt nachzudenken. Dieser Duktus, ein alltägliches Wort anders, aber doch in gewisser Analogie zum herkömmlichen Verständnis zu verwenden, rechtfertigt Heidegger als zum Verfahren des Denkens gehörend: So habe bereits Platon Worten ganz Ungewöhnliches zugemutet.51 Mit dieser grundlegenden und zusammenfassenden Auslegung des Wesens der Technik als Gestell kann Heidegger rückblickend die instrumentale anthropologische Bestimmung vom Wesen der Technik beseitigen und zugleich ein anderes, zähes Missverständnis korrigieren. „Die nur instrumentale, die nur anthropologische Bestimmung der Technik wird im Prinzip hinfällig; sie lässt sich nicht durch eine nur dahinter geschaltete metaphysische oder religiöse Erklärung ergänzen. Wahr bleibt allerdings, dass der Mensch des technischen Zeitalters auf eine besonders hervorstechende Weise in das Entbergen herausgefordert ist. Dieses betrifft zunächst die Natur als den Hauptspeicher des Energiebestandes. Dementsprechend zeigt sich das bestellende Verhalten des Menschen zuerst im Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften.“52

Heidegger sieht nämlich die neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften, die sich auf die Mathematik stützen, nicht als Vorläufer der Technik an. Die Technik ist in ihrem Wesen nicht verstanden, wenn sie als angewandte Wissenschaft ausgelegt wird, weil diese eigentlich umgekehrt durch das Wesen der Technik vorbereitet ist.53 Gegen diese kausale Umkehrung, wonach die moderne Technik der neuzeitlichen Naturwissenschaft vorausgeht, wendet Heidegger selber ein, dass sie nicht unmittelbar den Tatsachen entspricht, denn die moderne Technik ist erst zwei Jahrhunderte nach dem naturwissenschaftlichen Durchbruch der Neuzeit entstanden.54 Dennoch ist dieser Einwand genau genommen verfehlt, denn, so Heidegger, was sich erst später zeigt, kann durchaus vom Wesen her früher sein.55 Gerade so verhält es sich auch mit der Beziehung zwischen moderner Technik und moderner Naturwissenschaft. Die neuzeitliche exakte Naturwissenschaft, insbesondere die mathematische Physik, beschäftigt sich mit 51

52 53 54 55

34

Vgl. VA, S. 23. „Wir Spätgeborenen sind nicht mehr imstande zu ermessen, was es heißt, daß Platon es wagt, für das, was in allem und jedem west, das Wort HL?GR zu gebrauchen. Denn HL?GR bedeutet in der alltäglichen Sprache die Ansicht, die ein sichtbares Ding unserem sinnlichen Auge darbietet. Platon mutet jedoch diesem Wort das ganz Ungewöhnliche zu, Jenes zu benennen, was gerade nicht und niemals mit sinnlichen Augen vernehmbar wird.“ (VA, S. 23). VA, S. 25. Vgl. VA, 25f. Vgl. VA, S. 25. Vgl. VA, S. 26.

der Natur, insofern diese schon in einem rechnerischen Zusammenhang aufgestellt ist; und diese Darstellung der Natur ist eben eine Form des Stellens, das dem Herausfordern des Gestells entspricht. Mit anderen Worten: Heidegger entfaltet den Zusammenhang so, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft die Wirklichkeit bereits in der Theorie in einem festgelegten Zusammenhang darstellt, der so gesehen im Voraus vom Gestell aufgedeckt worden ist. Indem die mathematischen Wissenschaften die Natur vorstellen, befinden sie sich also schon im Bereich der vom Gestell erschlossenen Natur. Das Vor-stellen, so Heidegger, ist das Auf-stellen der Natur, das schon vor jedem einzelnen Urteil der Naturwissenschaft über die Natur implizit geschieht und daher auch von den Naturwissenschaften aus nicht verstanden werden kann. Das Vorstellen der mathematischen Wissenschaften richtet sich nämlich im Voraus nach einem Ideal, auf das hin es die Natur vorstellt bzw. dem es die Natur nachstellt – und dieses Ideal besteht gerade darin, dass die Natur rechnerisch fest-stellbar ist.56 In diesem Sinne entsteht das Wesen der Technik früher als die neuzeitlichen Naturwissenschaften und ist damit maßgebend für sie. Heidegger veranschaulicht diesen Zusammenhang anhand der unreflektierten und vorgetäuschten Offenheit des Befragens der Natur, die im naturwissenschaftlichen Experiment zum Vorschein kommt: „Ihre Art des Vorstellens [die der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften] stellt die Natur als einem berechenbaren Kräftezusammenhang nach. Die neuzeitliche Physik ist nicht deshalb Experimentalphysik, weil sie Apparaturen zur Befragung der Natur ansetzt, sondern umgekehrt: weil die Physik, und zwar schon als reine Theorie, die Natur daraufhin stellt, sich als einen vorausberechenbaren Zusammenhang von Kräften darzustellen, deshalb wird das Experiment bestellt, nämlich zur Befragung, ob sich die so gestellte Natur und wie sie sich meldet.“57

Demnach sind die neuzeitlichen Naturwissenschaften laut Heidegger also immer schon auf die erschlossene Wahrheit des Gestells angewiesen. Das Wesen der modernen Technik ist daher grundsätzlich weder nur als ein Instrument des Menschen zu denken, noch als angewandte Wissenschaft zu verstehen, sondern als eine Weise der Her- und Feststellung der Natur. Erst nach dieser Aufdeckung der Natur kann die neuzeitliche Naturwissenschaft sich entfalten.

56 57

Vgl. VA, 25f. VA, S. 25.

35

C Die Technik in ihrer Begrenzung Mit der begrifflichen Ausarbeitung des Gestells ist die Leitfrage nach dem Wesen der Technik im Sinne Heideggers jedoch noch nicht vollends beantwortet, denn zum Antworten gehört eben die ‚Entsprechung‘, „nämlich dem Wesen dessen, wonach gefragt wird.“58 Entsprechung versteht Heidegger als die artikulierte Antwort seiner Wesensfrage: Sie bedeutet nicht, sich einfach dem Wesen der Technik zu fügen, sondern überhaupt erst den Anspruch des Gestells wahrzunehmen und, wie es vom Präfix ‚ent-sprechen‘ zu verstehen ist, sich davon abzusetzen und ihn in seiner Begrenzung zu erfahren, indem das Gestell als spezifischer Anspruch verstanden wird. Das Entsprechen der Frage nach dem Wesen der Technik besteht also in der Beantwortung dieser Frage in dem Sinne, dass dem, was in Frage gestellt wird, zugleich entgegnet wird.59 Die so gedachte Entsprechung geschieht nicht von allein, ganz im Gegenteil. Das Gestell fordert grundsätzlich den Menschen heraus, die Wirklichkeit als Bestand zu entbergen, und damit droht es zugleich, überhaupt die Voraussetzung für eine solche Entsprechung zu verstellen und eine wesentliche Beziehung zu ihm zu versperren. Gemäß Heidegger scheint aber der einzige Ausweg aus der Herrschaft des Gestells, sich der Gefahr des Gestells auszusetzen, wodurch es erst eigens erfahrbar wird. Denn ob der moderne Mensch einverstanden ist oder nicht, er befindet sich bereits im Bereich des Gestells, er ist bereits vom Gestell angesprochen. Der Mensch muss sich daher zuerst seiner Lage bewusst werden. „Das Ge-stell ist das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, das Wirkliche in der Weise des Bestellens zu entbergen. Als der so Herausgeforderte steht der Mensch im Wesensbereich des Ge-stells. Er kann gar nicht erst nachträglich eine Beziehung zu ihm aufnehmen. Darum kommt die Frage, wie wir in eine Beziehung zum Wesen der Technik gelangen sollen, in dieser Form jederzeit zu spät. Aber nie zu spät kommt die Frage, ob wir uns eigens als diejenigen erfahren, deren Tun und Lassen überall, bald offenkundig, bald versteckt vom Ge-stell herausgefordert ist. Nie zu spät kommt vor allem die Frage, ob und wie uns eigens auf das einlassen, worin das Ge-stell selber west.“60

Anders betrachtet bedeutet dies, dass das Gestell den Menschen auf einen besonderen Weg führt, auf dem die Wirklichkeit als Bestand entborgen wird. Noch pointierter: „Auf einen Weg bringen – dies heißt in unserer

58 59

60

36

VA, S. 27. Vgl. VA, S. 9 und ‚Entsprechen‘, in: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Leipzig 1862, S. 628. VA, S. 27f. (kursiviert S.R.).

Sprache: schicken.“61 Gemäß den sprachlichen Überlegungen, wodurch Heidegger das Wort Gestell geprägt hat, kann er jetzt auch das versammelnde Entbergen dieses Schickens des Gestells als das ‚Ge-schick‘ charakterisieren. Das Geschick bildet in diesem Sinne laut Heidegger das Wesen der Geschichte: Ohne das Geschick keine Geschichte.62 Dieses Schicken des Menschen kann auf unterschiedliche Weise geschehen, wovon Heidegger das Geschick des Gestells hervorhebt; aber in welcher Weise auch immer das Schicken entsteht – es ist als eine Art des Hervorbringens zu verstehen, denn es bringt laut Heidegger einen besonderen Weg des Menschen hervor.63 Anders gesehen folgt dem Entbergen ein besonderes Geschick, weil das Entbergen die Wirklichkeit in einer besonderen Konstellation enthüllt, die eben dadurch eine spezifische Ausrichtung des Menschen fordert und ihm vorschreibt, „von da her alle Maße zu nehmen“64. Diese Fügung des Menschen ist für Heidegger als eine Art Schicksal zu verstehen, wobei sie sich aber nicht mit Notwendigkeit vollzieht: „Immer durchwaltet den Menschen das Geschick der Entbergung. Aber es ist nie das Verhängnis eines Zwanges. Denn der Mensch wird gerade erst frei, insofern er in den Bereich des Geschicks gehört und so ein Hörender wird, nicht aber ein Höriger.“65 ‚Hören‘ ist bei Heidegger eben als die Fähigkeit gemeint, durch die der Mensch die Voraussetzung gewinnt, dem Anspruch des Gestells zu entsprechen und so in eine freie Beziehung zur modernen Technik zu gelangen. Aus diesen Ausführungen der menschlichen Beziehung zum Geschick heraus kann Heidegger demnach sein Verständnis der freien Beziehung zur Technik weiter explizieren. Heideggers Interpretation der Freiheit weicht, wie er schon am Anfang seines Vortrages angedeutet hat, von der geläufigen Bedeutung ab, wonach Freiheit ein Ausdruck des menschlichen Willens ist.66 Denn so gesehen wäre die Freiheit bloße Willkür für Heidegger. Freiheit in Heideggers Sinne hängt dagegen mit der Entbergung zusammen, und daher ist sie mit der Wahrheit verwandt; denn es muss vorgängig einen Freiraum geben, innerhalb dessen überhaupt etwas zum Vorschein kommen kann. Insofern sie in dem Sinne der Rahmen des Entbergungsvorgangs ist, ist die Freiheit laut Heidegger gerade die Voraussetzung der Entbergung des Seienden. „Die Freiheit verwaltet das Freie im Sinne des Gelichteten, d.h. des Entborgenen […] Alles Entbergen kommt aus dem Freien, geht ins Freie und bringt ins Freie. Die Freiheit des Freien besteht weder in der Ungebun61 62 63 64 65 66

VA, S. 28. Vgl. VA, S. 28. Vgl. VA, S. 28. VA, S. 29. VA, S. 28 (kursiviert S.R.). VA, S. 29.

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denheit der Willkür, noch in der Bindung durch bloße Gesetze. Die Freiheit ist der Bereich des Geschicks, das jeweils eine Entbergung auf ihren Weg bringt […] Die Sätze sagen anderes als die öfter verlautende Rede, die Technik sei Schicksal unseres Zeitalters, wobei Schicksal meint: das Unausweichliche eines unabänderlichen Verlaufs.“67

Statt ihn sich blind vom Geschick führen zu lassen und die Wirklichkeit im Sinne des Bestands zu entbergen, stellt die Freiheit den Menschen vor die Möglichkeit – die Möglichkeit sich auf die Unverborgenheit einzulassen, um in diesem Bereich das eigene Wesen zu sehen und zu erfahren.68 In diesem Bereich kann der Mensch sich aus den Sachzwängen des Gestells lösen, denn gerade hier gibt es einen ‚Weg‘ ins Offene, wo er auf sich als Mitvollzieher des Entbergens auf das Freie einlassen und sich erfahren kann. Der Mensch kann in dem Sinne eine freie Beziehung zur Technik stiften, wenn er sich im Bezug auf die besondere Offenheit erfährt, die jegliches Entbergen und so auch dem des Gestells vorausgeht, die sich aber erst durch das Entbergen zeigt. Der Mensch ist also Heidegger zufolge frei, wenn er sich als zugehörig zu diesem offenen freien Bereich versteht und erfährt – das heißt paradoxerweise zugleich, wenn er sich als eingebunden in das Geschehen des Seienden erfährt. Auf diesem Weg kann es dem Menschen gelingen, dem Wesen der Technik in seiner Begrenzung zu entsprechen – nämlich als bloß einem Weg der Entbergung unter anderen möglichen Wegen. Ausgesetzt zwischen den zwei Möglichkeiten, wie er sich auf die Entbergung des Geschicks einlässt, ist der Mensch in Gefahr: Entweder kann er die Entbergung eigens erfahren oder nur passiv auf die Auswirkungen dieses Geschehens reagieren. Durch die erste Erfahrung kann der Mensch die freie Beziehung zur Technik erfahren, durch die andere Möglichkeit des Verhaltens wird er vom Gestell unwissentlich geführt. Generell ist für Heidegger der Begriff der Gefahr vom Geschick her und in Bezug auf die Freiheit in dem bisherigen Sinne zu verstehen. Das Geschick ist es, das die Spielräume des Menschen entscheidet: „In welcher Weise auch immer das Geschick der Entbergung walten mag, die Unverborgenheit, in der alles, was ist, sich jeweils zeigt, birgt die Gefahr, daß der Mensch sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet.“69 Und unmittelbar danach heißt es bei Heidegger: „Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr.“70 Das Geschick der Entbergung ist gerade der Inbegriff dessen, was den Menschen gefährdet. Das Geschick fordert den Menschen heraus, sich von ihm gedankenlos treiben zu lassen und mithin den Frei67 68 69 70

38

VA, S. 29. Vgl. VA, S. 29f. VA, S. 30. VA, S. 30.

raum misszuverstehen und die Wahrheit zu verstellen und abgeleitet als ‚Richtigkeit‘ zu erleben. Diese Gefahr ist laut Heidegger umso höher, wenn das Geschick in der Weise des Gestells herrscht – „dann ist es die höchste Gefahr.“71 Bahnt das Gestell den Weg für die Menschen, dann erhält es nämlich den Anschein, als ob die Freiheit, die Wahrheit und somit auch die Wirklichkeit menschliche Gewalten seien. Dementsprechend gehorcht der Mensch Heideggers Interpretation zufolge bereits dem Wesen der modernen Technik und negiert seine eigene Zugehörigkeit zum Freien. „Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist, – geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll. Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei. Dieser Anschein zeitigt einen letzten trügerischen Schein. Nach ihm sieht es so aus, als begegne der Mensch überall nur noch sich selbst […] Indessen begegnet der Mensch heute in Wahrheit gerade nirgends mehr sich selber, d.h. seinem Wesen.“72

Als Geschick droht das Gestell jeden menschlichen Bezug zur Welt als Absicherung und Steuerung vom Bestand zu deuten. Jene andere Art des Entbergens, das Heidegger im Sinne der SRLYKVL entfaltet hat, wird dadurch verdeckt. Aber diese äußerste Gefahr des Gestells ist dennoch nicht gleich einer faktischen Notlage zu verstehen. Denn mit diesem Punkt der Entwicklung seines Gedankens wendet sich Heidegger nämlich an den Dichter, der selber die dürftige Neuzeit erfahren hat und gleichzeitig fähig war, die Natur und das Seiende anders als vom Geschick des Gestells zu erfahren. Heidegger bezieht sich an dieser entscheidenden Stelle von „Die Frage nach der Technik“ auf Friedrich Hölderlin. Entlang seiner Rheinhymne, so Heidegger, gelinge es Hölderlin, den Fluss ganz anders zum Vorschein zu bringen, ihn anders zu entbergen, als es durch das Wasserkraftwerk geschieht. Hölderlin schreibe und denke aber auch, dass jede Gefahr zugleich einen Weg ins Rettende eröffnen könne. Heidegger zitiert die späte Hymne Hölderlins, betitelt „Patmos“ (1804), worin Hölderlin schreibt: „Wo aber Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch.“73 Als das Geschick des Gestells gerade ausweglos schien, deckt Heidegger also mit Hölderlin mitten in der Gefahr eine Möglichkeit der Rettung auf. Wie ist aber dieser Ausweg bei Heidegger zu verstehen?

71 72 73

VA, S. 30. VA, S. 30f. VA, S. 32.

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Wenn die Gefahr, die vom Geschick des Gestells ausgeht, darin besteht, dass der Mensch sich selbst missversteht und das Wesen der Freiheit grundsätzlich verkennt, dann besteht ‚das Rettende‘ in der umgekehrten Orientierung, wodurch der Mensch sich auf das Wesen bezieht, „um so das [eigene] Wesen erst zu seinem eigentlichen Scheinen zu bringen.“74 Demgemäß kann das Gestell sich also nicht in der Verstellung der Wahrheit erschöpfen, vielmehr muss gerade da, wo die höchste Gefahr ist, zugleich das Rettende erfahrbar sein. Mit dieser durch Hölderlin erworbenen Einsicht wendet sich Heidegger wiederholt der Frage nach dem Wesen der Technik zu. An dieser Stelle, um den Bezug zwischen der Gefahr des Gestells und ihrem rettenden Gedeihen genauer zu zeigen. Um zu verstehen, wie die Einholung ins Wesentliche zu verstehen ist, gewinnt der Begriff des Wesens also wieder einen besonderen Stellenwert in der Untersuchung. Bisher wurde der Begriff des Wesens von der Logik der Gattung her gedacht – und nun hat Heidegger das Wesen der Technik vor dem Hintergrund des anthropologischen instrumentellen Verständnisses entfaltet. In diesem Sinne wurde der Begriff des Wesens anfänglich mit der „Was-heit“ einer Sache von Heidegger mitgesetzt.75 „Ist nun das Wesen der Technik, das Ge-stell, die gemeinsame Gattung für alles Technische? Träfe dies zu, dann wäre z.B. die Dampfturbine, wäre der Rundfunksender, wäre das Zyklotron ein Ge-stell. Aber das Wort ‚Gestell‘ meint jetzt kein Gerät oder irgendeine Art von Apparaturen.“76 Das Gestell ist nicht ein Bestandstück, sondern das herausfordernde Entbergen, das erst die Wirklichkeit als Bestand aufdeckt. „So ist denn das Ge-stell als ein Geschick der Entbergung zwar das Wesen der Technik, aber niemals Wesen im Sinne der Gattung und der essentia. Beachten wir dies, dann trifft uns etwas Erstaunliches: die Technik ist es, die von uns verlangt, das, was man gewöhnlich unter ‚Wesen‘ versteht, in einem anderen Sinne zu denken.“77 Dieses andere Verständnis des Begriffs des Wesens sieht Heidegger auch in den Begriffen ‚Hauswesen‘ und ‚Staatswesen‘ bestätigt.78 In diesen Wortbildungen ist Wesen viel dynamischer gedacht und bezieht sich auf einen besonderen zeitlichen Vorgang, oder wie Heidegger sagt, in diesem Zusammenhang meint Wesen „wie Haus und Staat walten, sich verwalten und verfallen.“79 Wesen ist demgemäß als Verbum, als Zeitwort zu verstehen. Um diese verbal verstandene Auslegung zusätzlich zu rechtfertigen, weist Heidegger darauf hin, dass der Dichter Johann Peter Hebel den Begriff der

74 75 76 77 78 79

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VA, S. 32. Vgl. VA, S. 33. VA, S. 33. VA, S. 34. Vgl. VA, S. 34. VA, S. 34.

‚Weserei‘ verwendet hat, worin das Wesen auch als Tätigkeit gedacht wird.80 Heidegger schreibt: „‚Wesen‘, verbal verstanden, ist das Selbe wie ‚währen‘; nicht nur bedeutungsmäßig sondern auch in der lautlichen Wortbildung.“81 Für Heidegger währt alles Wesende, und das Wesende der Technik ist demnach das Währende des Gestells. Von der Wortverwendung eines dritten Dichters aus, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, kommt Heidegger auf das Wort ‚fortgewähren‘, worin er mit Goethe den Einklang von währen und gewähren hört. Heidegger betont sogar: „Nur das Gewährte währt. Das anfänglich aus der Frühe Währende ist das Gewährende.“82 Es scheint jedoch zunächst verwunderlich, dass das Wesen der Technik gerade diesen Charakter haben sollte, insofern das Gestell gerade herausfordernd zu sein scheint und demnach nichts unmittelbar gewähren kann. Weil das herausfordernde Entbergen des Gestells aber den Menschen auf einen bestimmten Weg schickt, welchen es ohne diese Herausforderung nicht gäbe, räumt die Herausforderung jedoch auch etwas ein: Das Gestell gibt und währt mit anderen Worten diesen Weg. Heidegger kann so sagen: „Als dieses Geschick läßt das Wesende der Technik den Menschen in Solches ein, was er von sich aus weder erfinden, noch gar machen kann.“83 Umgekehrt gesehen braucht das Geschehnis der Entbergung auch den Menschen: Das Geschick ist auf den Menschen angewiesen, weil die Entbergung auch seinen Mitvollzug braucht, um den gewährten Weg vollends zu erschließen. Und es ist eben in diesem Sinne, dass der Mensch laut Heidegger Anteil am Geschehnis der Entbergung hat: „Jedes Geschick eines Entbergens ereignet sich aus dem Gewähren und als ein solches. Denn dieses trägt dem Menschen erst jenen Anteil am Entbergen zu, den das Ereignis der Entbergung braucht. Als der so gebrauchte ist der Mensch dem Ereignis der Wahrheit vereignet.“84 Diese gegenseitige Angewiesenheit und Abhängigkeit, die im Gewähren des Geschicks zum Ausdruck kommt, ist es gerade, die die gefährliche mit der rettenden Seite des Gestells verbindet. Der Mitvollzug am Gewährenden kann den Menschen mit der Wahrheit und der Freiheit verbinden und somit ihn in die ‚höchste Würde seines Wesens’ einholen. „Das Gewährende, das so oder so in die Entbergung schickt, ist als solches das Rettende. Denn dieses lässt den Menschen in die höchste Würde seines Wesens schauen und einkehren. Sie beruht darin, die Unverborgenheit und mit ihr je zuvor die Verborgenheit alles Wesens auf dieser Erde zu hüten. Gerade im Ge-stell, das den Menschen in das Bestellen als die vermeintlich einzige Weise der Entbergung fortzureißen droht und so den in die Gefahr 80 81 82 83 84

Vgl. VA, S. 34. VA, S. 34. VA, S. 35. VA, S. 35f. VA, S. 36.

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der Preisgabe seines freien Wesens stößt, gerade in dieser äußersten Gefahr kommt die innigste, unzerstörbare Zugehörigkeit des Menschen in das Gewährende zum Vorschein, gesetzt, daß wir an unserem Teil beginnen, auf das Wesen der Technik zu achten. So birgt denn, was wir am wenigsten vermuten, das Wesende der Technik den möglichen Aufgang des Rettenden in sich.“85

Als entscheidendes Zwischenergebnis dieser Überlegungen Heideggers kann das Wesen der Technik nun in seiner prinzipiellen Zweideutigkeit verstanden werden: Das Gestell fordert zum einen den Menschen heraus, die Wirklichkeit als Bestand aufzudecken und droht ihm damit, den Einblick in den Vorgang des Entbergens zu versperren. Zum anderen ist das Gestell nur als ein mögliches Geschick der Entbergung des Wirklichen zu verstehen. Gelingt es dem Menschen, seine Teilnahme am Vorgang des Entbergens einzusehen, dann erhält er genau eine Einsicht in das, was ihn mit der Freiheit und der Wahrheit verbindet. Daher kann Heidegger sagen, dass das Gestell auch das Rettende in sich (ver)birgt. Der Gefahr, die sich in der Zweideutigkeit des Gestells andeutet, kann aber nie unmittelbar, d.h. auch nie direkt in einer technischen, die Folgen der Technik abschätzenden, Perspektive begegnet werden, sagt Heidegger.86 „Doch menschliche Besinnung kann bedenken, daß alles Rettende höheren, aber zugleich verwandten Wesens sein muß wie das Gefährdete.“87 Eine solche ausführliche Besinnung bildet Heideggers Frage nach der Technik – dieser Aufsatz ist mit anderen Worten eine solche Besinnung der Begegnung mit der Technik im Vollzug. Heidegger beendet seine Untersuchung der Technik damit, wiederholt auf die Epoche aufmerksam zu machen, als die Technik den Namen der WHYFQK trug und mit den schönen Künsten zusammenfiel. Die WHYFQK wurde damals betrachtet als das Entbergen, „das die Wahrheit in den Glanz des Scheinenden hervorbringt.“88 So ist das Vorhaben der Heideggerschen Überlegungen, dass die Wahrheit wieder durch die Technik hindurch zum Vorschein kommen kann: „Doch wir können erstaunen. Wovor? Vor der anderen Möglichkeit, daß überall das Rasende der Technik sich einrichtet, bis eines Tages durch alles Technische hindurch das Wesen der Technik west im Ereignis der Wahrheit.“89 Damit die Wahrheit durch das Technische hindurch sichtbar wird, muss es eine Auseinandersetzung mit der Technik geben, die das Wesen der Technik positiv bestimmt und negativ von einem anderen abgrenzt. Laut Heidegger muss eine solche Auseinandersetzung von einem Wesensbereich aus stattfinden, der mit ihr verwandt ist, ihr aber zugleich widersteht. „Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, 85 86 87 88 89

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VA, S. 36. Vgl. VA, S. 38. VA, S. 38. VA, S. 38. VA, S. 39 (kursiviert S.R.).

wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen.“90 In diesem Wesensbereich, in dem Kunst und moderne Technik aufeinanderstoßen, und in den uns Heideggers Leitfrage geführt hat, wird Technik nicht durch bloß andere Arten der Technik verdeckt; und zugleich wird die Kunst von äußerlichen, ästhetischen Gesichtspunkten befreit. Von hier aus zeigt sich das Wesen der Technik sowohl als verborgen und zur Rettung geschickt, weil es auf das Spiel von Unverborgenheit und Verborgenheit verweist – als auch fähig, den Menschen in den Untergang zu schicken. „Je fragender wir jedoch das Wesen der Technik bedenken, um so geheimnisvoller wird die Kunst. Je mehr wir uns der Gefahr nähern, um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir. Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“91 Wie ‚fromm‘ Heideggers Frage nach dem Wesen der Technik eigentlich ist, wenn sie den Gedanken auf dem Weg über die Kunst zu einer befreienden Beziehung zur modernen Technik schickt, möchten wir nun genauer untersuchen. Wir werden also diesen exponierten Ort zum Ausgangspunkt machen, wo Heideggers Aufsatz offen und kryptisch endet, um uns mit Heideggers Verständnis des Wesens der Technik gründlicher zu beschäftigen.

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VA, S. 39. VA, S. 40.

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Zweites Kapitel

Die Geburt der modernen Technik aus dem Walten des Gestells: Die Reproduktion der modernen Technik A Unter der Herrschaft des Gestells Der einleitende Gang durch „Die Frage nach der Technik“ hat uns die Gesamtstruktur des Textes und damit Heideggers Grundgedanken zur Technik systematisch vor Augen geführt. Die neuartige Begrifflichkeit, die Heideggers Erörterung der Technik eröffnet, lässt es jedoch nötig erscheinen, nicht bei dieser Nahaufnahme des Textes stehen zu bleiben. Mit anderen Worten: Der bahnbrechende Charakter des Textes und die darin entwickelten Grundbegriffe können in ihrer ganzen Tragweite so noch nicht unmittelbar in ihrem ganzen herausfordernden Potential verstanden werden; dafür ist mehr Distanz und eine vertiefende Betrachtung nötig. Im Sog der Heideggerschen Leitfrage scheinen seine Einsichten schlüssig aufeinander zu folgen: Heidegger geht vom alltäglichen Verständnis der Technik aus, entwickelt von da aus seine Grundbegriffe und führt den Leser währenddessen ganz bewusst auf einen eigenen Weg. Durch ein Verfahren, das mit Heidegger als das „vorgehende Nachgehen“92 bezeichnet werden kann, steuert er den Leser durch die verschiedenen Stationen des Textes hindurch. Nicht ohne Grund, wie wir jetzt sehen werden, verbindet Heidegger am Ende seines Aufsatzes das Fragen mit der ‚Frömmigkeit des Denkens‘: „Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“93 Das Wort ‚fromm‘ taucht in Heideggers Werk nur an wenigen Stellen auf, wird von ihm jedoch durchgängig im Sinne von ‚fügsam‘ verstanden – fügsam nämlich, wie er selbst sagt, dem gegenüber, „was das Denken zu denken hat.“94 Im Kontext der Frage nach der Technik ist das, was ‚das Denken zu denken hat‘, offensichtlich das Wesen der Technik. Das Denken in „Die Frage nach der Technik“ ist Heidegger zufolge also einer ihm selbst übergeordneten Autorität unterstellt, die das Fragen ihrerseits bestimmt und sowohl den Gang der Erörterung als auch jede mögliche Antwort von vornherein bestimmt. Heidegger stellt aber nicht eigens die Frage, wie eine bestimmte Fragerichtung unterschiedliche Antworten ermöglicht.95 Wie kommt es 92 93 94 95

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WM, S. 271. Vgl. S. 40. Holzw, S. 175. Siehe auch WhD, S. 158. Vgl. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002.

denn überhaupt dazu, dass sich eine bestimmte Frage stellt? Wenn sie sich nicht von alleine stellt, muss dann die Sache, die in Frage steht, nicht erst als ‚frag-würdig‘ verstanden werden? Was bedeutet es überhaupt, eine Frage zu ‚stellen‘? Ist das Fragen selbst nicht ein Vorgriff auf das Gefragte? Und wie kann eine Frage das Denken lenken? Mit seiner Bestimmung des Fragens als die Frömmigkeit des Denkens verharmlost Heidegger nicht nur Motive einer bestimmten Fragestellung, sondern auch das Problem, wie eine Frage selbst bereits eine Antwort zurechtlegen kann. In „Die Frage nach der Technik“ fängt Heidegger erst nach seiner Fragestellung an, kritisch zu reflektieren. Aber entscheidend ist, wie er zu dieser besonderen Fragestellung kommt und wie die jeweiligen Fragen für besondere Antworten Gehör verschaffen. Denn jede Frage, auch Heideggers Frage nach der Technik, ist motiviert und hat eine bestimmte Fragerichtung und erlaubt nur ganz bestimmte Antworten. Fragen ist als eine Art Lenken des Denkens zu verstehen, dessen Logik vor der ausführlicheren Interpretation von „Die Frage nach der Technik“ verdeutlicht werden muss. Das Fragen ist nicht so neutral und fügsam, wie Heidegger mit dem Begriff der ‚Frömmigkeit‘ den Anschein geben mag. Denn zum Bereich des Fragens gehört, wie Heidegger selbst an einer anderen Stelle ausführt, auch das wissenschaftliche Experiment. Forschen besagt nämlich ursprünglich dasselbe wie Fragen – das Forschen ist ein Fragen.96 Aber gerade das wissenschaftliche Experiment ist laut Heidegger nicht ‚fromm‘; vielmehr entspring es besonderen Motiven und ist zugleich ein Vorgriff auf die Natur. Im Bereich der Wissenschaften wird es deutlich, wie ‚herausfordernd‘ das Fragen sein kann.97 Diese Dimension des Fragens wird mit Heideggers Begriff der Frömmigkeit geradezu verdeckt. „Die neuzeitliche Physik ist nicht deshalb Experimentalphysik, weil sie Apparaturen zur Befragung der Natur ansetzt, sondern umgekehrt: weil die Physik, und zwar schon als reine Theorie, die Natur daraufhin stellt, sich als einen vorausberechenbaren Zusammenhang von Kräften darzustellen, deshalb wird das Experiment bestellt, nämlich zur Befragung, ob sich die so gestellte Natur und wie sie sich meldet.“98 96

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‚Forschen‘ in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 280. Aber nicht nur in diesem Bereich zeigt sich das Fragen als herausfordernd: „Das Erdenken meint nicht das Aus-denken und willkürliche Erfinden, sondern jenes Denken, das fragend sich dem Seyn stellt und es herausfordert, das Fragen zu durchstimmen.“ (GA 65, S. 86;). Siehe auch GA 65, S. 145ff. VA, S. 25 (kursiviert S.R.). Siehe auch: „Das Wesen dessen, was man heute Wissenschaft nennt, ist die Forschung. Worin besteht das Wesen der Forschung? Darin, daß das Erkennen sich selbst als Vorgehen in einem Bereich des Seienden, der Natur oder der Geschichte, einrichtet. Vorgehen meint hier nicht bloß die Methode, das Verfahren; denn jedes Vorgehen bedarf bereits eines offenen Bezirkes, in dem es sich

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Daraus wird deutlich, dass das Fragen Heideggers Ansicht nach auch nicht immer ‚fromm‘ ist – nämlich dann nicht, wenn es in einen bereits erschlossenen Bereich hineinfragt. Ziehen wir einen anderen Text von Heidegger heran, dann entdecken wir folgende kritische Anmerkung zum Verstehen des Fragens: „Jede sachgerechte Frage ist bereits die Brücke zur Antwort. Wesentliche Antworten sind stets nur der letzte Schritt der Fragen.“99 Wenn Heidegger also nach der Technik fragt und nicht bereit ist, zugleich sein Verständnis des Seienden im Ganzen in Frage zu stellen, dann ist diese Frage nicht unbedingt ‚fromm‘, sondern kann als Vorgriff dienen, der Technik in einem schon etablierten Interpretationszusammenhang einen Sinn zu geben. Damit wäre die Antwort auf die Fragestellung bereits vorgezeichnet beziehungsweise ‚nur der letzte Schritt des Fragens‘.100 Das Fragen ist daher nicht primär die „Frömmigkeit des Denkens“101 als gleichsam passives Sich-fügen des In-Frage-Gestellten, sondern ist als ein herausfordendes Denken zu verstehen, das nur dem Anschein nach ‚fromm‘ ist: Das Fragen schafft durch seine Zäsur vielmehr aktiv einen Platz für eine Auseinandersetzung und damit zugleich die Möglichkeit eines bestimmten Neuanfangs.102 Durch seine Fähigkeit und Kraft, etwas in Frage zu stellen, zeigt sich die eigentliche Gewalt des Fragens – oder die aktive ‚nicht-fromme‘ Seite des Denkens. Wenn Heidegger nach der Technik fragt, dann demonstriert er mit dieser Frage einen Neuanfang – und nicht eine Fügsamkeit – der ihm ermöglicht, sich vom herkömmlichen Verständnis der Technik abzusetzen und die Technik in einer neuartigen Konstellation zu entfalten.103 Etwas ‚in Frage zu stellen‘ bedeutet auch, die herkömmliche Bedeutung davon zu bezweifeln und umdeuten zu wollen. Die Frage nach der Technik ist Heideggers eigenes Motiv, eine freie Beziehung zur Technik vorzubereiten,

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bewegt. Aber gerade das Öffnen eines solchen Bezirkes ist der Grundvorgang der Forschung. Es vollzieht sich dadurch, daß in einem Bereich des Seienden, z.B. in der Natur, ein bestimmter Grundriß der Naturvorgänge entworfen wird. Der Entwurf zeichnet vor, in welcher Weise das erkennende Vorgehen sich an den eröffneten Bezirk zu binden hat. Diese Bindung ist die Strenge der Forschung.“ (Holzw, S. 77; kursiviert S.R.). WM, S. 304. Vgl. WM, S. 304. So ist laut Heidegger auch der gesamte Humanismusbrief als Antwort auf eine vorgreifend gestellten Frage zu verstehen; beziehungsweise Heideggers Anliegen darin ist es, zu zeigen, wie einer Frage bereits ein bestimmter Verstehenshorizont zugrunde liegt. Und diese Frage ist : „Comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘?“ (WM, S. 315). Siehe auch Platte, Till: Die Konstellation des Übergangs: Technik und Würde bei Heidegger, Berlin 2004. VA, S. 40. Ein anderes Beispiel dafür, dass die Fragen von Heidegger nicht immer so ‚fromm‘ sind, kommt unter anderem in der folgenden Frage zum Ausdruck: „Denn hat nicht der heutige städtische Mensch und Affe der Zivilisation das Heimweh längst abgeschafft?“ (GA 29/30, S. 7). Siehe auch: Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1987, S. 10.

und entsprechend dieser Fragestellung strukturiert sich der Text.104 Heidegger deutet dies allegorisch an: „Das Fragen baut an einem Weg […] Ein Weg führt durch einen Bereich, öffnet sich selbst und eröffnet diesen.“105 Diese Aussage gilt genauso für einen konkreten Weg durch die Landschaft, wie für den Gedankenweg, dem Heidegger durch seine Frage nachgeht und wodurch der Bereich der Technik einzigartig durchschritten und erschlossen wird. Vorausgesetzt in Heideggers einleitender Fragestellung ist nicht nur, dass er in seiner Beziehung zur Technik gefährdet ist, sondern auch, dass der Mensch zu einer freien Beziehung zur Technik fähig ist. So sehen wir immer deutlicher, dass Heideggers anfängliche Frage nicht ‚fromm‘ gedacht ist; vielmehr ist sie in „Die Frage nach der Technik“ als eine Art letzte Nothilfe des Menschen gestellt worden. Ist der Leser darum bemüht, Heidegger zu verstehen und wird eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Gedanken zur Technik gesucht, dann ist es erforderlich, sich ein Stück weit von seiner Gedankenführung zu distanzieren. In Heideggers sogenanntem Natorp-Bericht, einer frühen Schrift über das Verstehen, formuliert er noch radikaler, was wir hier meinen: „Verstehende Vorbildnahme, der es um sich selbst geht, wird von Grund aus die Vorbilder in die schärfste Kritik stellen und zu einer möglichen fruchtbaren Gegnerschaft ausbilden.“106 Ein so gesinnter Interpret muss versuchen, Heideggers Gedankengang zu unterbrechen und sich an einem fragwürdigen Ort des Textes aufzuhalten. An diesem Ort darf man es weder Heidegger noch sich selbst zu leicht machen, wenn es geht darum, die Spannungen des strittigen Gedankens auszuhalten, fruchtbar machen zu können und nicht in ihnen aufzugehen.107 104

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So gesehen steht das Fragen am Anfang des Auslegens, worüber Heidegger schreibt: „Jede Auslegung hat je nach Sachfeld und Erkenntnisanspruch 1. ihren mehr oder minder ausdrücklich zugeeigneten und verfestigten Blickstand, 2. eine hieraus motivierte Blickrichtung, in der sich bestimmt das ‚als was‘, in dem der Interpretationsgegenstand vorgrifflich genommen und das ‚woraufhin‘, auf das er auslegt werden soll, 3. eine mit Blickstand und Blickrichtung ausgegrenzte Sichtweite, innerhalb deren der jeweilige Objektivitätsanspruch der Interpretation sich bewegt.“ (Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 7). WM, S. 291. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 11. Im Bereich der Philosophie sieht Heidegger überhaupt alles ‚Leichtmachen‘ skeptisch. In einer seiner frühen Schriften schreibt er: „Alles Leichtmachen aber, alles verführerische Sichanbiedern an Bedürfnisse, alle metaphysischen Beruhigungen in den meist nur angelesenen Nöten, das leistet in seiner Grundabsicht schon Verzicht darauf, den Gegenstand der Philosophie je in Blick und Griff zu bekommen und gar zu behalten.“ (Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 10f).

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In diesem Text warnt Heidegger geradezu davor, sich an bestimmten Stationen seines Gedankengangs aufzuhalten, anstatt den Weg weiter zu gehen. Am Anfang von „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Im folgenden fragen wir nach der Technik. Das Fragen baut an einem Weg. Darum ist es ratsam, vor allem auf den Weg zu achten und nicht an einzelnen Sätzen und Titeln hängenzubleiben.“108 Hier scheint Heidegger mehr Wert auf das Ganze seines Vorhabens zu legen, als auf die einzelnen Aspekte seiner Entfaltung. Aber der Leser muss sowohl den ‚Weg‘ als auch die einzelnen formulierten Gedanken entlang diesem Weg aufs Genaueste beachten. Denn der Weg, der sich mit Heideggers Frage vorzeichnet, wird erst über diese einzelnen sprachlichen Ausformungen begreifbar und begehbar. Anders gewendet: Ein Text artikuliert sich in nichts anderem als der Gesamtheit seiner einzelnen Sätze, an denen sich jede Auslegung orientieren muss. Der Weg, von dem Heidegger spricht, muss und kann sich folglich durch die einzelnen Sätze hindurch erschließen, nur so wird der durchschrittene Sinn nachvollziehbar. Dazu kommt, dass Heidegger selbst in seiner eigenen Interpretation anderer Autoren sich akribisch an einzelne Worte und Sätze hält.109 In diesem Sinne fordert Heidegger selbst dazu auf, die Sprache ‚genau zu nehmen‘ und kritisiert eine Sprache, „die es bei allen wesentlichen Dingen nicht genau nimmt, weil sie befürchtet, genau nehmen heiße am Ende: denken.“110 Deswegen wollen wir auch einen anderen Gedanken bei Heidegger heranziehen, an dem er betont, dass es bei der Aneignung ‚vergangener philosophischen Forschung‘ um ein ‚radikales Verstehen‘ geht, durch welche ihre ‚Fraglichkeit‘ gesteigert werden soll.111 Dazu gehört gerade auch der Versuch, das Selbstverständnis des Textes in Frage zu stellen, auszuklammern oder neu zu gestalten. Die Gedankenführung Heideggers ist daher nicht als neutral zu verstehen. Glaubt man das, so wird man, wie Heideggers vorgeblich ‚neutraler‘ Benutzer der Technik, ‚am ärgsten ausgeliefert‘ werden.112 Denn dadurch werden die Merkmale Heideggerschen Denkens entweder zu Stilfiguren heruntergespielt oder für notwendig gehalten.113 Eine der großen Gefahren jeder 108 109 110 111

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VA, S. 9. Vgl. USpr und SvGr. Holzw, S. 67. Vgl. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 11. In dieser Analogie und in Beziehung auf unsere Interpretation des Fragens können wir auch eine der Sprache immanente Gefahr erkennen. Heidegger sagt: „Der Mensch gebärdet sich, als sei er Bildner und Meister der Sprache, während doch sie die Herrin des Menschen bleibt.“ (VA, S.184) Siehe auch meine ausführliche Kritik von Heideggers Begriff des Denkens: Riis, Søren: „The Question Concerning Thinking“ in: New Waves in the Philosophy of Technology, Riis, Søren / Berg Olsen, Jan / Selinger, Evan (Hrsg.), London, 2008, S. 123-145.

Heideggerinterpretation ist es, dass der Interpret sich zu eng an den Text hält und zum systemblinden Epigonen wird. Im besten Fall kopiert der Interpret Heidegger lediglich, im schlimmsten Fall verstellt er seinen Text unwissentlich.114 In beiden Fällen gibt es aber keine Auseinandersetzung mit den im Text entwickelten Gedanken und keine ‚fruchtbare Gegnerschaft‘. Die Auseinandersetzung mit Heideggers Technikverständnis in der vorliegenden Arbeit nimmt ihren Ausgang nicht, wie Heidegger empfiehlt, vom Bereich der Kunst, sondern erörtert zunächst genauer, wie Heidegger den Begriff des Gestells entwickelt. Diese Untersuchung wird anschließend den Begriff des Gestells im Zusammenhang mit einem anderen Bereich entfalten – einem Bereich, von dem Heidegger behauptet, in ihm wurzele das Paradigma des Hervorbringens von sowohl der Kunst als auch der modernen Technik. Es handelt sich um den Bereich der IXYVL. Von hier aus bekommen wir das Wesen der Technik ganz anders als vom Bereich der Kunst aus zu sehen. Wir suchen also die Auseinandersetzung mit Heideggers Interpretation der Technik nicht in der vom ihm vorgegebenen Bahn. In „Die Frage nach der Technik“ bilden Heideggers Ausführungen zum Begriff des Gestells den Mittelpunkt des Aufsatzes. Der Begriff des Gestells ist für Heidegger entscheidend, denn damit versucht er, die moderne Technik von der antiken WHYFQK abzugrenzen. Auf diesen Begriff werden alle Schlüsselbegriffe seines Aufsatzes bezogen; das Gestell macht das Wesen der Technik aus und kann laut Heidegger den Menschen retten oder ihn in ewige Knechtschaft führen. Darin ist es der fragwürdigste Begriff des Textes. An den Gedanken des Gestells, aus dem ‚die äußerste Gefahr‘ entsteht, stellt sich deswegen auch eine ernstliche Nachfrage. Zwar kann in dem Sinne Heidegger zugestimmt werden, dass „[j]e mehr wir uns der Gefahr nähern, […] um so fragender [wir] werden.“115 Doch soll, um den Gedanken des Gestells in größtmöglicher Klarheit zu entfalten, zunächst gefragt werden: Wie sieht es laut Heidegger unter der Herrschaft des Gestells aus? Wie ‚waltet‘ das ‚Geschick des Gestells‘? Was machen die Menschen in dieser Knechtschaft und wie ist es unter der Herrschaft des Gestells überhaupt mit der Natur bestellt? Unter der Herrschaft des Gestells verwirklicht sich bei Heidegger eine besondere Möglichkeit: „Nur das im Bestellen Entborgene zu verfolgen und zu betreiben und von da her alle Maße zu nehmen.“116 „Wo dieses [das Ge-

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115 116

Siehe dazu auch die Kritik Günter Figals an den paraphrasierenden Erläuterungen von Heideggers Sein und Zeit. (Vgl. Figal, Günter: Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 11f). VA, S. 40. VA, S. 29 (kursiviert S.R.).

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stell] herrscht, vertreibt es jede andere Möglichkeit der Entbergung.“117 „Das Wort ‚Bestand‘ rückt jetzt in den Rang eines Titels. Er kennzeichnet nichts Geringeres als die Weise, wie alles anwest, was vom herausfordernden Entbergen betroffen wird.“118 Das Gegenständliche der Dinge, das heißt in diesem Zusammenhang ihre Widerstandkraft gegen die Herausforderung des Gestells, wird also durch die Herrschaft des Gestells eliminiert. Die Entbergungsweise des Gestells bedeutet exemplarisch: „Ein Landstrich wird […] in die Förderung von Kohle und Erzen herausgefordert. Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlenrevier, der Boden als Erzlagerstätte.“119 Unter der Herrschaft des Gestells wird Ackerbau zu Ernährungsindustrie, die Luft wird dieser Herrschaft nach zum Stickstofflieferant, der Rhein zur Energiequelle und selbst der Schwarzwald-Förster kann laut Heidegger nur noch als von der Holzverwertungsindustrie, also vom Gestell bestellt, verstanden werden.120 Dabei ist es entscheidend zu bemerken, dass die Entbergungsweise des Gestells „auch nicht nur im Menschen und nicht maßgebend durch ihn [geschieht].“121 „Nur insofern der Mensch seinerseits schon herausgefordert ist, die Naturenergien herauszufordern, kann dieses bestellende Entbergen geschehen. Wenn der Mensch dazu herausgefordert, bestellt ist, gehört dann nicht auch der Mensch, ursprünglicher noch als die Natur, in den Bestand? Die umlaufende Rede vom Menschenmaterial, vom Krankenmaterial einer Klinik spricht dafür.“122 Unter der Herrschaft des Gestells instrumentalisiert das Gestell die Menschen um der Bestellbarkeit der Natur willen. Damit erweitert das Gestell seine Herrschaft bis es letztendlich jeden Vorgang des Entbergens umschließt und bestimmt. Das Gestell entzieht damit dem Menschen die Freiheit und der Natur die Selbstständigkeit. Der Silberschmied des technischen Zeitalters ist für Heidegger also nicht länger als derjenige zu verstehen, der überlegend die drei Weisen des Verschuldens versammelt.123 Vielmehr muss der Silberschmied im technischen Zeitalter als die causa efficiens in dem Sinne beschrieben werden, als er derjenige ist, der mehr oder weniger unwissentlich die Bestellung der Schmuck- und Dekorationsindustrie, das heißt des Gestells, ausführt. Genau in dieser Differenz der zwei verschiedenen Interpretationen des Silberschmieds ist laut Heidegger der Unterschied zwischen dem Hervorbringen der antiken WHYFQK und dem der modernen Technik zu sehen: Unter der Herrschaft des Gestells gehört auch der Silberschmied zum Gestell und seine Opferschale bestätigt für Heidegger nicht 117 118 119 120 121 122 123

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VA, S. 31 (kursiviert S.R.). VA, S. 20 (kursiviert S.R.). VA, S. 18 (kursiviert S.R.). Vgl. VA, S. 18ff. VA, S. 27. VA, S. 21 (kursiviert S.R.). Vgl. VA, S. 13.

länger die Beziehung zu den Göttern, sondern bezeugt ihre Abwesenheit. In der neuzeitlichen Technik keimt laut Heidegger nicht nur ein neues Technikverständnis auf, sondern auch ein neues Verständnis der Welt im Ganzen. Am Anfang von „Die Frage nach der Technik“, wenn Heidegger das Hervorbringen der WHYFQK entfaltet, geschieht dies im Bezug auf das Hervorbringen der Natur, der IXYVL, und zwar gerade in Gegenüberstellung zu dieser. Auch die IXYVL, das von-sich-her Aufgehen, ist ein Her-vor-bringen, ist SRLYKVL. Die IXYVL ist sogar SRLYKVL im höchsten Sinne. Denn das IXYVHL Anwesende hat den Aufbruch des Her-vor-bringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (HMQH-DXWZ ). Dagegen hat das handwerklich und künstlerisch Her-vor-gebrachte, z.B. die Silberschale, den Aufbruch des Hervorbringens nicht in ihm selber, sondern in einem anderen (HMQD?OOZ), im Handwerker und Künstler.“124

Nun bleibt zu fragen, wie es mit dem Unterschied zwischen der modernen Technik und der IXYVL steht? Wie ist die Differenz zwischen Technik und IXYVL zu verstehen, wenn das hervorbringende Entbergen nicht länger von der antiken WHYFQK aus zu verstehen ist, sondern vom Gestell geführt und von ihm her definiert wird? Wie können wir diesen Unterschied begreifen, wenn ‚der Aufbruch des Hervorbringens‘ nicht nur im Handwerker oder im Künstler und nicht maßgebend durch sie, sondern wie Heidegger sagt im Gestell, das den aktiv Hervorbringenden selbst noch umgreift, geschieht? Unter der Herrschaft des Gestells gehört auch der Mensch zum Wesen der Technik beziehungsweise zum Gestell; der Mensch kann also nicht als außerhalb des Hervorgebrachten verstanden werden, denn er ist selbst vom Gestell angesprochen und entborgen. Gerade deswegen erweist sich das Gestell laut Heidegger auch als die höchste Gefahr für den Menschen. Schließlich kann noch hinsichtlich der Natur gefragt werden, ob der Aufbruch des Hervorbringens der Natur unter der Herrschaft des Gestells zunächst aus der Natur selbst zu verstehen sei, wenn dieser Aufbruch vom Gestell gelenkt und gesteuert wird. Doch in welchem Sinne können wir dann die IXYVL und damit den Naturbegriff unter der Herrschaft des Gestells erfassen? Mit diesen Fragen sind die entscheidenden Themen des ersten Teils der vorliegenden Arbeit angezeigt. Unsere These lautet, dass Heidegger durch seine Verschärfung des Unterschieds zwischen antiker WHYFQKund moderner Technik das Wesen der letzteren erst zu ihrer entscheidenden Virulenz bringt. Diese Konsequenz seiner Frage nach der Technik und die damit entstandene radikale Neuauffassung der modernen Technik sind in der Heidegger-Forschung bislang noch nicht explizit aufgedeckt worden. Mit 124

VA, S. 15.

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anderen Worten: Das Gestell wird in Heideggers Aufsatz als autonom ausgelegt, es erhält eine Eigendynamik, die ganz analog zu einem naturgemäßem Wachstum zu verstehen ist, wodurch die Technik wiederum auf eine eigentümliche Art und Weise selbst als eigendynamisch verstanden wird, also ‚lebendig‘ wird. Gerade deswegen ist die moderne Technik auch im Vergleich mit der antiken WHYFQK laut Heidegger gefährlich und daher kann er auch mit Recht eine Metapher aus dem Bereich der Natur verwenden, wenn er schildert, dass das Gestell das ‚Wachstum‘ des Rettenden in sich birgt.125 Die Herrschaft des Gestells ist in diesem Sinne wortwörtlich die eigentliche Geburtsstunde der modernen Technik.126 Sie ist der Ausdruck der Reproduktion der Technik. Die seit der Antike bestehende Differenz zwischen dem Eigenleben der Natur und der künstlichen Herstellung der Artefakte wird in Heideggers Text „Die Frage nach der Technik“ unterlaufen. Anschaulicher und von einer anderen Perspektive aus gesagt: Das Gestell kann sich in zunehmendem Maße als natürlich zeigen, indem es die Natur und den Menschen lenkt. Damit zeigt sich erst spät, was beim Ursprung des Wesens der modernen Technik schon angebrochen ist. Wie Heidegger am Anfang von „Die Frage nach der Technik“ betont, ist es gerade die freie Beziehung des Menschen zur Technik, die hier bedroht ist.127 Ob nun diese Beziehung unter der Herrschaft des Gestells aufhört frei zu sein und somit anfängt, vom Wesen der modernen Technik gelenkt zu werden, oder ob dies nur unter der vollendeten Herrschaft des Gestells geschieht, ist für den hier entwickelten Gedankengang nicht entscheidend. Vielmehr ist entscheidend, dass es das Gestell laut Heidegger vermag, die Freiheit des Menschen aufzulösen und sein Leben in seine Bahn zu bringen. Ob der Mensch dadurch zum technischen Leben oder zur lebendigen Technik wird, kann nicht eindeutig entschieden werden. Um Heideggers Analyse mit dem faktischen menschlichen Leben in der Moderne in Verbindung zu bringen und dadurch die Radikalität seiner Analyse zu relativieren, können wir den Text so interpretieren, dass das Gestell am historischen Beginn der Moderne bloß einzelne Bereiche des menschlichen Lebens beherrscht, aber dass die Zielsetzung der Herrschaft des Gestells, nämlich der Extremzustand der vollendeten Herrschaft des Gestells, dann im Verlauf der Zeit deutlich zu erkennen ist und zwar als die völlige Hingabe des Menschen an das Wesen der modernen Technik.128 Gemäß der vorliegenden Interpretation hinsichtlich dieser Lebendigkeit des Gestells lassen sich auch in Heideggers Ausführungen deutliche Hinweise darauf finden, dass das Gestell seinen eigenen Rhythmus und alles in 125 126 127 128

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Vgl. VA, S. 32. Siehe auch Teil III dieser Arbeit (S. 144ff). Vgl. VA, S. 9ff. Siehe auch den nächsten Abschnitt und Teil III der Arbeit.

seinen Bann ziehenden Kreislauf hat. Diese Art ‚Metabolismus‘ ist entscheidend für das Verständnis des Gestells. Schon früh in „Die Frage nach der Technik“ erklärt Heidegger, dass das Entbergen des Gestells eine besondere zirkuläre Struktur hat: „Dieses [das heraufordernde Entbergen des Gestells] geschieht dadurch, daß die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird.“129 Im Vortrag „Das Ge-Stell“, in dem Heidegger bereits 1949 den Grundgedanken seiner späteren Frage nach der Technik entfaltet, heißt es: „Wieder fragen wir: Worauf läuft die Kette solchen Bestellens zuletzt hinaus? Sie läuft auf nichts hinaus; denn das Bestellen stellt nichts her, was außerhalb des Stellens ein Anwesen für sich haben könnte und dürfte. Das Be-stellte ist immer schon und immer nur daraufhin gestellt, ein Anderes als seine Folge in den Erfolg zu stellen. Die Kette des Bestellens läuft auf nichts hinaus; sie geht vielmehr nur in ihrer Kreisgang hinein. Nur in ihm hat das Bestellbare seinen Bestand […] Der Kreisgang des Bestellens ereignet sich im Ge-stell und als das Ge-stell […] Das in sich gesammelte Stellen des Ge-Stells ist die Versammlung des in sich kreisenden Treibens.“130

Für die Interpretation des Gestells als ein lebendiges, als ein sich autonom vollziehendes Prinzip können wir nun auch eine andere auffallende Passage aus „Die Frage nach der Technik“ besser verstehen. Hier schreibt Heidegger, dass die Maschine nicht als ‚selbständiges‘ Werkzeug zu verstehen ist, denn „so ist die Maschine gerade nicht aus dem Wesen der Technik gedacht, in die sie gehört. Vom Bestand her gesehen, ist die Maschine schlechthin unselbständig; denn sie hat ihren Stand einzig aus dem Bestellen von Bestellbarem.“131 Um sich nicht in der Herrschaft des Gestells zu täuschen und damit das Gestell zu missdeuten, muss der Mensch unter dem Gesichtspunkt des Gestells in gewisser Weise analog zu Heideggers Interpretation der Maschine, das heißt als unselbständig verstanden werden.132 In Übereinstimmung mit Heideggers Erörterungen kommt die Stellung des Menschen 129 130

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VA, S. 20 (kursiviert S.R.). GA 79, S. 28ff (kursiviert S.R.). Siehe auch eine andere Passage dieses Vortrags, wo derselbe Gedanke veranschaulicht wird. Hier heißt es: „Wohin wird nun aber z.B. die im Kohlenrevier gestellte Kohle gestellt? Sie wird nicht hingestellt, wie der Krug auf den Tisch. Die Kohle wird, gleichwie der Erdboden auf Kohle, ihrerseits gestellt, Dampf zu stellen, dessen Druck das Getriebe treibt, das eine Fabrik in Betrieb hält, die daraufhin gestellt ist, Maschinen zu stellen, die Werkzeuge herstellen, durch die wiederum Maschinen in Stand gestellt und gehalten werden.“ (GA 79, S. 28; kursiviert S.R.). Und diese Werkzeuge und Maschinen, können erneut das Kohlenrevier auf Kohleproduktion stellen. VA, S. 21 (kursiviert S.R.). Wie wir später genauer sehen werden, ist die Möglichkeit des Menschen, in eine freie Beziehung zur Technik zu gelangen, unter der Herrschaft des Gestells gerade nicht verwirklicht.

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unter der Herrschaft des Gestells in den alltäglichen Redewendungen von der menschlichen Bedienung der Maschinen anschaulich zum Ausdruck. In Anspielung auf Heideggers eigene Terminologie des Gestells lässt sich hinzufügen, dass der Mensch, vom Gestell bestellt, auf die Anweisungen der Maschinen eingestellt und aus dem Grund überhaupt als ein ‚Angestellter‘ gesehen werden kann. Seine Freiheit hat er im Zeitalter der modernen Technik laut Heidegger an die Maschine, das heißt in Wirklichkeit an das Gestell, eingebüßt.133 Die Aktivität des Menschen erschöpft sich unter der Herrschaft des Gestells im ‚Bestellen von Bestellbarem‘, das wiederum seine Stelle im Wesen der Technik hat.134 Im Vortrag „Das Ge-Stell“ schreibt Heidegger: „[Der Mensch] steht an, solches Bestellen zu übernehmen und zu vollziehen. Der Mensch ist darum der Angestellte des Bestellens. Deshalb werden die Menschen einzeln und massenweise dahin abgestellt. Der Mensch ist jetzt der im Bestellen aus diesem für dieses Bestellte.“135 Vor diesem Hintergrund können wir nun fragen: Inwiefern kommt etwas entscheiden Neues darin zum Vorschein, dass das Gestell als autonom und lebendig interpretiert wird? Zwar geschieht dies (bei Heidegger) zwar nicht explizit, doch diese Reformulierung ermöglicht es, dem Begriff des Gestells zu einer höheren Transparenz zu verhelfen. Dadurch wird es zugleich möglich, das Phänomen und den Begriff des Gestells genauer zu durchdenken und weitere Konsequenzen aus seiner Herrschaft zu ziehen. Darüber hinaus zeigt sich in dieser Explikation noch deutlicher Heideggers Bruch mit dem 133

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Siehe auch: „Die Mächte, die den Menschen überall und stündlich in irgendeiner Gestalt von technischen Anlagen und Einrichtungen beanspruchen, fesseln, fortziehen und bedrängen – diese Mächte sind längst über den Willen und die Entscheidungsfähigkeit des Menschen hinausgewachsen, weil sie nicht vom Menschen gemacht sind.” (Gel, S. 19; kursiviert S.R.). „Kein einzelner Mensch, keine Menschengruppe, keine Kommission noch so bedeutender Staatsmänner, Forscher und Techniker, keine Konferenz von führenden Leuten der Wirtschaft und Industrie vermag den geschichtlichen Verlauf des Atomzeitalters zu bremsen oder zu lenken. Keine nur menschliche Organisation ist imstande, sich der Herrschaft über das Zeitalter zu bemächtigen. So wäre denn der Mensch des Atomzeitalters der unaufhaltsamen Übermacht der Technik wehrlos und ratlos ausgeliefert.“ (Gel, S. 20f; kursiviert S.R.). Vgl. eine dritte Stelle, an der Heidegger über die Selbstbestätigung des technisch Machbaren in der Vollendung der Neuzeit schreibt: „Jedes Machbare bestätigt jedes Gemächte, alles Gemächte schreit nach Machbarkeit, alles Handeln und Denken hat sich darin verlegt, Machbares auszumachen.“ (N I, S. 27). „In Wahrheit aber ist jetzt das Wesen des Menschen dahin bestellt, dem Wesen der Technik an die Hand zu gehen.“ (Heidegger, Martin, Die Kehre, Pfullingen 1962, S. 37). Vgl. VA, S. 20. GA 79, S. 30 (kursiviert S.R.). Danach heißt es auch im selben Text: „Der Mensch ist auswechselbar innerhalb des Bestellens von Bestand. Daß er Bestand-Stück ist, bleibt die Voraussetzung dafür, daß er Funktionär eines Bestellens werden kann.“ (GA 79, S. 37; kursiviert S.R.).

traditionellen Verständnis von Technik. Wie bereits gesagt, liegt der Ansatz dieser Auslegung des Wesens der modernen Technik als eines Lebendigen schon bei Heidegger, aber er hat diesen Gedanken nicht explizit verfolgt oder artikuliert. Vielmehr wäre diese Entfaltung des Gedankens für Heideggers Argumentation sogar bedrohlich und würde sich nicht seine Interpretation der Technik in ihrer Zielsetzung einpassen, denn mit diesem Gedanken könnte die von der Technik abgegrenzte und von Heidegger gelobte Natur selbst auch für den Menschen und seine Freiheit als gefährlich angesehen werden.136 Die vollkommene Herrschaft des Gestells hat dabei dieselben ambivalenten Züge wie die Natur, worüber er an einer Stelle in seiner Vorlesung über Hölderlin sagt: „Die ‚Allgegenwärtige‘ [die Natur] heißt ja ‚die mächtige‘. Woher aber nimmt sie die Macht, wenn sie das in allem zuvor Gegenwärtige ist? Die Natur hat nicht irgendwoher noch eine Macht zu Lehen. Sie ist das Machtende selbst. […] Die Allgegenwart [der Natur] hält die äußersten Gegensätze des höchsten Himmels und des tiefsten Abgrundes einander entgegen. Dergestalt bleibt das Zueinander-sich-Haltende in seine Widerspenstigkeit auseinandergespannt.“137

Um in Einzelheiten zu verdeutlichen, wie das Lebendigwerden des Gestells zu verstehen ist, werden wir aber zunächst einen anderen Text hinzuziehen und damit Heideggers grundsätzliche Aneignung des IXYVLBegriffs verdeutlichen.

B Die Selbstbewegung der IXYVL In einem anderen für unser Vorhaben zentralen Text setzt sich Heidegger mit den zwei unterschiedlichen Arten der Hervorbringung auseinander, die mit den griechischen Begriffen IXYVL und WHYFQK bezeichnet werden. Dieser Text „Vom Wesen und Begriff der )XYVL; Aristoteles, Physik B, 1“ ist als längster Aufsatz in dem Werk Wegmarken erschienen. Darin eignet sich Heidegger den Aristotelischen Begriff der IXYVL an, entwickelt ihn in Zusammenhang mit und in Gegenüberstellung zur WHYFQKund erläutert damit einige Grundbegriffe, die in „Die Frage nach der Technik“ entwickelt werden und für diese Frage eine entscheidende Rolle spielen. Mit anderen Worten: Heidegger entfaltet den Aristotelischen Grundbegriff der IXYVL, indem er ihn sich aneignet, um ihn in späteren Texten wie „Die Frage nach der

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Siehe auch: „Die Natur fügt alles Wirkliche in die Züge seines Wesens.” (Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1996, S. 61). Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1996, S. 53; kursiviert S.R.

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Technik“ für die Weiterentwicklung seiner eigenen Gedanken zu verwenden.138 Zunächst ist unsere Absicht darzustellen, wie Heidegger sich die Begrifflichkeit des Wesens der IXYVL bei Aristoteles aneignet und in der Gegenüberstellung zur WHYFQK fruchtbar macht.139 Es ist die immanente Auseinandersetzung mit Heidegger, die in vorliegender Arbeit zum Tragen kommen soll – nicht die mit Aristoteles. Über diese Kontrastfolie wollen wir dann herausfinden, wie sich Heideggers Beschreibung der modernen Technik deutlicher von ihren antiken Vorläufern unterscheiden lässt und wie die Beziehung zwischen dem Begriff des Gestells und dem der IXYVL genauer analysiert und kritisch eingeschätzt werden kann. Die These ist, dass die Grundbegriffe der IXYVL auf das Gestell zutreffend sind, und wir mittels ihrer auch die Ambivalenz des Gestells besser verstehen können. Folgen wir Heideggers Interpretation, so ist Aristoteles’ Physik kein beliebiger Text der Philosophiegeschichte, sondern „die aristotelische ‚Physik‘ ist das verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch der abendländischen Philosophie.“140 In allen traditionellen Versuchen, die Kunst, die Geschichte, das Göttliche und den Geist zu verstehen, geschieht dies immer in Entgegensetzung zur Natur, meint Heidegger;141 und gerade aus diesem Grund spielt der Naturbegriff eine Sonderrolle in der Geschichte der abendländischen Philosophie, denn „in all diesen Unterscheidungen ist die Natur nicht nur eine Gegenseite, sondern wesentlich in der Vorhand, sofern immer und zuerst gegen sie unterschieden und so das Unterschiedene von ihr her bestimmt wird.“142 Das Verständnis der Natur ist somit zugleich eine Interpretation des Seienden im Ganzen – es ist für Heidegger Metaphysik.143 Heidegger erkundet also auch deswegen Aristoteles’ Physik, um die ‚Wahrheit des Seienden im Ganzen‘ zu fassen. Dies sei nötig, weil das Seiende im Zeitalter der modernen Technik „durch und durch fragwürdig geworden“144 sei. Heideggers Rekurs auf Aristoteles ist eine systematische und nicht nur begriffsgeschichtliche Wiederaufnahme, die als Vorbereitung für Entscheidungen der modernen Zeitalter dienen soll.145 Heidegger schreibt: „Denn der Erdkreis geht aus den Fugen, gesetzt daß er je in solchen war; und die

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Siehe auch GA 65, S 190f. Siehe auch GA 65, S. 190f. WM, S. 242. Vgl. WM, S. 239. WM, S. 240 . Vgl. WM, S. 241. WM, S. 241. Vgl. WM, S. 242.

Frage erhebt sich, ob die Planung des neuzeitlichen Menschen – und sei sie planetarisch – je ein Weltgefüge zu schaffen vermag.“146 Um mit Heidegger die IXYVL bei Aristoteles zu verstehen, muss zuerst ihre wesentliche Bewegtheit, ihre NLYQKVL, verstanden werden.147 Dies ist deswegen so zentral, da aus der Interpretation der Bewegtheit die Grundbegriffe der Natur bei Aristoteles und Heidegger folgen; und von ihnen aus wird es schließlich deutlich, inwiefern die Eigendynamik des Wesens der modernen Technik zur Natur gehört beziehungsweise inwiefern die Natur zum Gestell gehören kann. Ob nun dieser traditionelle Begriff der Natur, der von Aristoteles prägnant geprägt wurde und über Jahrtausende so einflussreich war – ja nicht zuletzt auch von Heidegger übernommen wurde – auch ein Vorgriff auf die Natur ist, soll hier nicht untersucht werden. Es gilt zunächst, die Analogie zwischen diesem traditionellen und wirkungsreichen Begriff der Natur, den Heidegger auch in „Die Frage nach der Technik“ verwendet, und dem Gestell zu begreifen. „Zwar haben die Griechen vor Aristoteles schon erfahren, daß Himmel und Meer, Pflanzen und Tiere in Bewegung sind; zwar haben schon die Denker vor Aristoteles zu sagen versucht, was Bewegung sei; und dennoch hat er erstmals jene Stufe des Fragens erreicht, ja damit erst geschafften, auf der (Bewegung nicht nur als etwas gilt, was es unter anderem auch gibt, auf der vielmehr) das Bewegtsein als Grundweise des Seins eigens erfragt und begriffen wird.“148

Für die Bewegung, die der IXYVL eigen ist, gewinnt man laut Heidegger erst wieder einen Blick, wenn der griechische Begriff von Anfang und Herrschaft, oder des verfügenden Anfangs, der DMUFKY, erfasst wird: „Die IXYVL ist DMUFKY, und zwar Ausgang für und Verfügung über Bewegtheit und Ruhe und zwar eines Bewegten, das diese DMUFKY in ihm selbst hat.“149 Heidegger betont, was auch für die These vorliegender Arbeit entscheidend ist, dass hier nicht ‚in sich selbst‘, sondern ‚in ihm selbst‘ gemeint ist, weil das dementsprechende Seiende, die IXYVL, nicht wissentlich den herrschenden Anfang in ihm selbst hat.150 Mit anderen Worten: Nicht eine Art bewusste Selbstreflexion ist notwendige Voraussetzung, um die Selbstbewegung der IXYVL zu

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WM, S. 242 (kursiviert S.R.). Vgl. WM, S. 243. WM, S. 243f. WM, S. 247. Berücksichtigt ist dabei nicht Aristoteles’ Verständnis der Bewegung des Meeres und des Himmels. Denn es ist von anderer Art als die Bewegung von Pflanzen und Tieren. Jene Bewegung lässt sich im Gegensatz zu dieser nicht unmittelbar als Selbstbewegung auffassen – dass heißt die DMUFKY der Bewegung von Meer und Himmel ist nicht ‚in ihr selbst‘. Vgl. WM, S. 247.

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verstehen – auch die Pflanzen gehören zur IXYVL, selbst wenn ihnen keine Form von Bewusstsein zugeschrieben wird. Umfassend wird IXYVL von Aristoteles als DMUFKYY NLYQKVHZ bestimmt. Dadurch wird die Natur als ein besonderer Bewegungszusammenhang ausgelegt, der über sich selbst verfügt. Diese Selbstbewegung der Natur kann dann nachträglich differenziert werden als „Mehrung und Minderung, Änderung und Forthebung (Transport).“151 So ist in diesem Kontext Bewegung nicht prinzipiell als Fortbewegung zu verstehen, wozu „[wir Heutigen] unter der Vorherrschaft des mechanischen Denkens der neuzeitlichen Naturwissenschaften geneigt [sind].“152 Vielmehr ist Bewegung grundsätzlich als ein Umschlag zu verstehen: ein Umschlag, den Aristoteles mit dem Begriff der PHWDEROKY gekennzeichnet hat. Charakteristisch für die PHWDEROKY ist, dass dadurch „etwas bisher Verborgenes und Abwesendes zum Vorschein [kommt].“153 Hiermit sehen wir, dass Heidegger den Begriff der Bewegung auch im Spiel von Verborgenheit und Unverborgenheit entfaltet. Wesentlich gedacht, so Heidegger, wird Bewegung erst – dies haben wir bereits an den Begriffen der Kausalität und der Herstellung in „Die Frage nach der Technik“ gesehen – vor dem Hintergrund der Wahrheit, der DMOKYTHLD verständlich. Die Bewegung der IXYVL ist die Weise, in der das Seiende der IXYVL sich zeigt. Um diese Art der Bewegung genauer zu verstehen, wonach die IXYVL etwas in die Anwesenheit bringt, kontrastiert Heidegger mit Aristoteles den Umschlag der Gewächse mit dem der ‚Gemächte‘. Die IXYVHLR?QWD, die Naturdinge, haben, wie schon betont worden ist, den bestimmenden Anfang ihres Umschlags in sich selbst, während bei den ‚Gemächten‘, das heißt bei den WHYFQR?QWK, der entscheidende Anfang von außerhalb zustößt.154 Bei den ‚Gemächten‘ ist nämlich die DMUFKY nämlich der Baumeister, der DMUFLWHYNWZQ.155 Mit Heideggers Worten: „Bei allem Gemachten aber ist der Ausgang des Machens ‚außerhalb‘ des Gemachten; von diesem her gesehen stellt sich die DMUFKY immer erst nebenbei mit ein.“156 Um diesen Unterschied zu veranschaulichen und Missverständnisse vorzubeugen, weist Heidegger mit Aristoteles auf das Beispiel eines sich selbst behandelnden Arztes hin. An diesem Beispiel sieht man, dass die Bewegung des genesenden Körpers von der Bewegung der technischen Kunstgriffe des Arztes unterschieden werden muss, selbst wenn sie sich in ein und demselben Körper vollzieht.157 Voraussetzung für die Heilung, die genesende Bewe151 152 153 154 155 156 157

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WM, S. 248. WM, S. 248. WM, S. 249. Vgl. WM, S. 252. Vgl. WM, S. 252. WM, S. 255. Vgl. WM, S. 256.

gung, ist nämlich nicht, dass der Arzt ein Arzt ist, sondern dass er ‚Leib‘ ist, denn ein Nicht-Arzt kann auch genesen. Dagegen „hat der Arzt die DMUFKY der Verarztung in sich; das Arztsein ist der Ausgang und die Verfügung der Behandlung […] Ärzte und Verarztung wachsen nicht wie Bäume.“158 Diese abschließende und evidente Feststellung Heideggers, dass Ärzte und Verarztung nicht wie Bäume wachsen, kann den aufmerksamen Leser jedoch kritisch stimmen, denn sie vermittelt den Eindruck, dass man sich diese fast als Binsenweisheit erscheinende Aussage erst zu eigen machen muss, um die von Heidegger und Aristoteles vollzogene Trennung von IXYVL und WHYFQK in Frage zu stellen. Wäre die Trennung zwischen ‚innerhalb‘ und ‚außerhalb‘ der zwei DMUFDLY der Gewächse beziehungsweise der Gemächte so evident, könnte man auch behaupten, dass es keinen Grund gäbe, weshalb Heidegger durch ein zusätzliches Beispiel diese Trennung bestätigen müsste. Heidegger fährt aber fort und führt ein Gedankenexperiment als zweites Beispiel an, wonach zwei kranke Ärzte, die 500 Jahre voneinander entfernt sind, versuchen, sich selber zu heilen. Wenn es aber nur dem neuzeitlichen Arzt gelänge, gesund zu werden, dann müsste man folgendes annehmen: „Aber gesetzt auch, der fortgeschrittene Arzt entgehe nicht nur vorläufig dem Tode, sondern er werde gesund, dann hat auch hier die ärztliche Kunst nur besser die IXYVL unterstützt und gelenkt. Die WHYFQK kann der IXYVL 158

WM, S. 256 (kursiviert S.R.). Jedoch ist es hier wesentlich, dass in der Kombination von Bio- und Nanotechnologie nichts dagegen spricht, dass zukünftig Artefakte wachsen und gezüchtet werden können. Heidegger sagt auch: „Da der Mensch der wichtigste Rohstoff ist, darf damit gerechnet werden, dass auf Grund der heutigen chemischen Forschung eines Tages Fabrikken zur künstlichen Zeugung von Menschenmaterial errichtet werden.“ (VA, S. 91). Siehe auch: „Many of the things that were discussed as science fiction five years ago have already happend. This is not just a change of tecnique, it is a new way of seeing. It is now possible to think of making organisms to a specification to carry out particular industrial tasks. The limitations of species can be transcended by splitting organisms, combining funtions, dovetailing abilities and linking together chains of properties. The living world can now be viewed as a vast Lego kit inviting combination, hybridisation and continual rebuilding. Life is manipulability.“ (Yoxen, Edward: The Gene Business: Who should control Biotechnology, London 1983, S. 15. Kursiviert S.R.). Siehe auch den Philosophen Mark Bedau: “During our lifetimes we expect to see technology that is robust, autonomous, selfrepairing, self-reproducing, evolving, adapting, and learning—a powerful combination of life’s core properties that no current technology yet embodies [...] During our lifetimes we can expect purely artificial technology to acquire life’s core properties and thus vastly outperform all current technology. This transition will be a truly singular event in human history“. (Mark A. Bedau et al: “Living Technology: Exploiting Life’s Principles in Technology”, in Artificial Life 16: 89-97, 2010, S. 89-97, hier S 90, 95). Vgl. auch: „Gerade die Zeugung stellt Aristoteles’ Bewegungsmodel vor eine Herausforderung, wenn er es für die Lebewesen aus dem Herstellungsparadigma lösen will.“ (Hilt, Annette: Ousia – Psyche – Nous: Aristoteles Philosophie der Lebendigkeit, Freiburg/München 2005, S. 177).

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nur entgegenkommen, kann die Gesundung mehr oder weniger fördern; sie kann jedoch als WHYFQK niemals die IXYVL ersetzen und selbst an ihre Stelle zur DMUFKY der Gesundheit a.s. werden.“159

Heidegger sieht daran bestätigt, dass es nur eine äußerliche Beziehung zwischen der DMUFKY und der WHYFQK einerseits und der DMUFKY und der IXYVL andererseits gibt – und das heißt, dass die zwei je für sich selbst verstanden werden müssen. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass diese Beziehung viel komplizierter und enger ist, als Heidegger vorgibt. Wenn die WHYFQK die IXYVL der Genesung ‚lenkt‘, so wie es Heidegger sagt, ist dann diese nicht unter der Herrschaft von jener? Kann die IXYVL dann immer noch als der ‚herrschende Anfang‘ über sich selbst bestimmt werden? Wenn dazu noch kommt, dass die WHYFQK nicht nur ‚die Gesundung mehr oder weniger fördern kann‘, sondern die Gesundung allererst initiiert und sie überhaupt erst entscheidet, dann zeigt sich, dass die Beziehung zwischen der WHYFQK der Verarztung und der IXYVL der Genesung anders und viel verschlungener zu begreifen ist als von Heidegger dargestellt. Die dadurch relativierte Auffassung der Beziehung zwischen WHYFQK und IXYVL bedeutet nicht, dass man, wie Heidegger uns glauben macht, automatisch in das andere Extrem verfallen muss, demgemäß die WHYFQKdie IXYVL ‚ersetzen‘ kann; vielmehr zeigt sich, dass die DMUFKYY der IXYVL nicht absolut zu denken ist, das heißt, dass sie in ihrer Selbständigkeit relativiert werden muss. Wenn es in einem Fall keine Genesung ohne die WHYFQK gibt, sei sie als besonders intelligenter Kunstgriff des Arztes oder als Medizin gedacht, dann ist die DMUFKY der IXYVL nicht von der WHYFQK vollkommen getrennt, auch nicht dem ‚Wesen‘ nach. Die DMUFKY der IXYVL ist mit der WHYFQK zumindest soweit verbunden, dass die Gesundheit sich ohne sie bisweilen nicht ereignen kann. Dass die Genesung überhaupt anfängt, ‚verschuldet‘ sie dann der WHYFQK. Anschaulicher formuliert: Die Medizin kann zum integralen Moment der Bewegung der Genesung werden, so dass sie nicht nur diese Bewegung veranlasst, sondern auch den Umschlag dieser Bewegung, von der Krankheit zur Gesundheit, bestimmt. Die Medizin kann also über Leben und Tod mitentscheiden. Eine letzte Frage bleibt damit dennoch unbeantwortet, denn Heidegger spricht von ‚Gesundheit a.s.‘: Gilt unsere Ausführung also auch für die ‚Gesundheit a.s.‘? Durch die Abkürzung ‚a.s.‘, das heißt ‚als solche‘, meint Heidegger eine Verschärfung des Sachverhalts hinzufügen zu können. Dabei könnte man aber auch behaupten, dass Heidegger unseren vorausgegangenen Überlegungen zustimmen würde, nämlich dass die WHYFQK mit der Gesundheit verbunden ist, aber nur nicht mit der ‚Gesundheit a.s.‘. Was könnte dieser Unterschied bedeuten? Die Antwort folgt aus dem bisher Entwickelten. Es kann nämlich in Heideggers Beispiel keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Gesundheit und ‚Gesundheit a.s.‘ geben. Wenn es 159

60

VM, S. 257 (gesperrt S.R.).

keine Gesundheit ohne die WHYFQK gibt, sondern den Tod, dann gibt es auch keine ‚Gesundheit a.s.‘ ohne die WHYFQK, wodurch die WHYFQK auch von der DMUFKY der ‚Gesundheit a.s.‘ als unabtrennbar zu betrachten ist. Zum Verständnis der DMUFKY betont Heidegger, dass „die Einheit dieses Zweifachen [Ausgang und Verfügung] wesentlich [ist].“160 Wenn der Anfang der Genesung nur in einem einzigen Fall nicht ohne die WHYFQK zustande kommen kann und die Genesung außerdem von ihr gelenkt wird, dann kann die DMUFKY der Genesung von der WHYFQK auch nicht prinzipiell getrennt werden. Es kann alleine behauptet werden, dass die IXYVL den Möglichkeitsraum definiert, innerhalb dessen der Körper genesen kann. Aber dies ist eine grundsätzlich andere und viel bescheidenere Aussage, als zu behaupten, dass die WHYFQK „in Bezug auf die Genesung je nur solches [ist], was sich beiher einstellen kann.“161 Die WHYFQK kann sozusagen unter die Haut der IXYVHL R?QWD dringen und die IXYVL lenken.162 Das Beispiel der Heilung soll an dieser Stelle aufs neue durchdacht werden, um besser verstehen zu können, dass der von Aristoteles und Heidegger hinsichtlich der DMUFKY vollzogene Unterschied zwischen IXYVL und WHYFQK nicht überall aufrechtzuhalten und prinzipiell verifizierbar ist. Wir können jetzt der Sache nach sagen, dass die IXYVL und die WHYFQK in einer viel engeren Beziehung stehen, als Heidegger in seiner Interpretation von Aristoteles glauben macht. Es ist aber gerade die Verwicklung dieser Beziehung zwischen WHYFQK und IXYVL, die sich mit Heideggers Ausführung der modernen Technik radikalisiert und virulent wird, das heißt: In dem Moment, in dem die Technik durch das Gestell gedacht und bestimmt wird, verändert sich auch die Beziehung zu IXYVL Da es in diesem Teil der Arbeit primär um die Bestimmung der modernen Technik im Bezug auf die IXYVL geht, wird auch eine andere Zwischenbetrachtung Heideggers für unser Vorhaben von Bedeutung. Heidegger extrapoliert nämlich sein bisheriges Gedankenexperiment über die Heilkunst in die Zukunft, indem er die Bedingungen darstellt, unter denen trotz seiner vorausgegangenen Ausführungen weiter sinnvoll behauptet werden könnte, dass die WHYFQK zur DMUFKY der Gesundheit werde: „Das träfe nur dann zu, wenn das Leben a.s. zu einem ‚technisch‘ herstellbaren Gemächte würde; in demselben Augenblick aber gäbe es auch keine Gesundheit mehr, so wenig wie Geburt und Tod. Bisweilen sieht es so aus, als rase das neuzeitliche Menschentum auf dieses Ziel los: daß der Mensch sich selbst technisch herstelle.“163 Dieses Gedankenexperiment Heideggers ist auf de n 160 161 162

163

WM, S. 247. WM, S. 256. Siehe auch Jean-Luc Nancys Reflexionen über die Transplantation seines neuen Herzens (Nancy, Jean-Luc: L’intrus, Paris 2000, S. 7ff). VM, S. 257.

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ersten Blick nicht erhellend für die Beziehung zwischen der modernen Technik und der IXYVL, denn es nimmt seinen Ausgang von einer Extremsituation, die schon als solche besprochen worden ist. In vorliegender Arbeit wird nicht behauptet, dass die WHYFQK mit der Genesung der IXYVL identisch sei, sondern dass die DMUFKY der IXYVL in ihrer absoluten Selbständigkeit vor dem Hintergrund der (modernen) medizinischen Technik relativiert werden könne. Was also in Heideggers Gedankenexperiment aus seinen eigenen Prämissen folgt, kann daher nicht direkt als Einwand gegen den hier entwickelten Gedanken gelten. Dennoch stellt Heideggers Versuch, die technische Entwicklung in eine von ihm vorgestellte Zukunft zu vergegenwärtigen, zugleich einen wichtigen Anlass dafür dar, seine Gedanken noch stärker zu relativieren und die moderne Technik grundsätzlicher zu durchdenken. Heidegger schreibt in der bereits zitierten Passage, dass es ihm bisweilen so scheine, „als rase das neuzeitliche Menschentum auf dieses Ziel [die technische Herstellbarkeit des Lebens] los.“164 Mit dieser Betrachtung entwirft Heidegger eine Extremsituation, die aber zugleich auch eine folgenschwere und fragwürdige Zwischen-Position darstellt, von der aus kritisch gegen Heidegger argumentiert werden kann. Wenn nämlich der Mensch auf dem Weg zur ‚technischen Herstellbarkeit des Lebens noch nicht an diesem Ziel angekommen ist – wenn die Technik viel effektiver und komplizierter geworden ist, wie dies in der Moderne der Fall ist: wie sieht es dann mit der Selbständigkeit der IXYVL aus? Wenn die Technik die Organe besser lenken oder sogar ersetzen kann und die Reproduktionsanlagung des Menschen zu verändern vermag, dann können wir immer noch von Gesundheit sprechen, aber nicht mehr von der uneingeschränkten Trennung von Technik und IXYVL. Mit anderen Worten und prinzipieller gefasst: Nicht erst bei der Vollendung der Verschmelzung der WHYFQK mit der IXYVL, wie von Heidegger zugestanden, sind WHYFQK und IXYVL nicht voneinander zu trennen, vielmehr relativieren und bedingen sie sich gegenseitig entlang des Weges zu diesem angeblichen ‚Ziel des Menschentums‘. Mehr oder weniger schnell vereinigt sich auf diesem Weg die Technik mit der IXYVL, und ihre DMUFDLY werden unzertrennlich. Dabei verändert sich der Sinn der Gesundheit; und am Ende wird er vielleicht sogar aufgehoben. Darüber hinaus ist es wichtig zu bemerken, dass Aristoteles und Heidegger die IXYVL durch ihre Bewegtheit auslegen: das heißt selbst dann, wenn der Begriff von Gesundheit aufgehoben wäre, würde es immer noch eine besondere körperliche Bewegtheit geben, die sich genauso wie die IXYVL entfalten und zeigen würde. Denn dieses Geschöpf hätte genauso den herrschenden Anfang der Bewegung in ihm selbst. Daher hängt die Frage nach der Selbstbewegung der IXYVL nicht davon ab, ob es die Gesundtheit der 164

62

VM, S. 257.

Menschen geben würde oder nicht. Wenn den Menschen das Prinzip der Gesundheit abgesprochen wird, dann folgt nicht notwendig daraus, dass es in den aus diesem Prinzip entstandenen Kreaturen keine Selbstbewegung gibt. Heidegger folgt jedoch Aristoteles noch einen Schritt und versucht, den Begriff der IXYVL deutlicher zu artikulieren, indem er auf weitere Unterscheidungen zu den ‚Gemächten‘ aufmerksam macht. Auch in diesem Zusammenhang denkt Heidegger die IXYVL von Aristoteles’ Bestimmung der Selbstbewegtheit her. Vorgreifend kann gesagt werden, dass es Heidegger dabei gelingt, prinzipielle Unterschiede zwischen der IXYVL und der WHYFQK zu zeigen. Für die These dieser Arbeit kommt es jedoch darauf an, ob diese nuancierte Bestimmung der IXYVL sich nicht nur von Heideggers Bestimmung der WHYFQK, sondern auch von seinem Verständnis des Wesens der modernen Technik prinzipiell unterscheidet. Auch hier ist es wieder wichtig hervorzuheben, dass Heidegger zwischen der antiken WHYFQK und der modernen Technik einen radikalen Unterschied sieht. Bevor Heidegger seine Untersuchung vom Wesen der IXYVL weiterführt, gibt er dem Leser zu verstehen, dass er sich in ein zugleich einfaches und schwieriges Gebiet hinein bewegt. Im Ausgang von Aristoteles sei nämlich kein ‚Beweis‘ für die Selbstbewegung der IXYVL anzuführen. Dies zu fordern sei sogar sinnlos, denn die IXYVL zeige sich als Selbstbewegung durch sich selbst, und daher ist ein „Beweis stets überflüssig.“165 Die IXYVL ist in diesem Sinne das, was wir als ein ‚Urphänomen‘ benennen könnten – ein Proto-Typ dessen, was sich selbst zeigt und nur von sich aus verstanden werden kann.166 Man kann dieses Phänomen des Sichzeigens nicht nochmals zeigen, denn wer dies nötig hätte, würde überhaupt nicht das Zeigen verstehen, und dadurch hätte sich ein Beweisgang, der auch eine besondere Art des Zeigens ist, von vornherein als sinnlos erwiesen. Eine Person, die einen solchen zirkulären Beweis forderte, sei gemäß Heidegger und Aristoteles mit einem Blindgeborenen zu vergleichen, der über bloße Wortbedeutungen versuche, zur Kenntnis der Farben zu gelangen.167 So gesehen sind beide, Farbe und IXYVL, für Aristoteles und Heidegger Urphänomene. Anhand dieser Ausführung der ‚Blindgeborenen‘ thematisiert Heidegger eine analoge, aber sehende Art der Blindheit, die im Ausgang von Heidegger 165 166

167

WM, S. 263. Das Verstehen eines Urphänomens ist damit von Aristoteles schon vorgezeichnet. In der Neuzeit ist dieser Begriff jedoch von Johann Wolfgang Goethe maßgeblich geprägt worden: durch seine Beschreibung der Farben als Urphänomen. (Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre, in: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 13, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller, München 1994, S. 314-523, hier S. 367f.). WM, S. 262.

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als Wesensblindheit, ‚Seinsblindheit‘ oder eben als IXYVL-Blindheit bezeichnet werden kann. Derjenige, der nicht zu sehen vermag, was er schon vor den Augen hat, der kein Auge „für das [hat], was man beim Sehen des Gesehenen schon im Blick hat“168 – dieser Mensch ist in einem bestimmten Sinne auch blind und ihm kann nur schwer, wenn überhaupt, geholfen werden. Weil diese Art von Blindheit für Heidegger sehr verbreitet ist, wird das Wesen der Dinge und damit auch die IXYVL oft übersehen oder missverstanden.169 „Was sich im vorhinein zeigt, wie die IXYVL in den IXYVHLR?QWD, wie die Geschichte in allen geschichtlichen Vorgängen, wie die Kunst in allen Kunstwerken, wie das ‚Leben‘ in allem Lebendigen, dieses schon im Blick Stehende wird am schwersten gesehen und am seltensten begriffen und fast immer zu einem bloß Nachträglichen umgefälscht und deshalb eben übersehen.“170 Weil es die Bewegtheit ist, die das Sichzeigen der IXYVHLR?QWDausmacht, ist es auch sie, die wir bei den Gewächsen direkt vor Augen haben, aber zumeist nicht verstehen.171 Die Bewegtheit haben wir einerseits in der Natur immer vor Augen, andererseits ist sie in ihrer Einfachheit „das Schwierigste, was in der Geschichte der abendländischen Metaphysik überhaupt gedacht werden mußte.“172 Die IXYVL in ihrer besonderen Einfachheit zu denken muss also vorsichtig angegangen werden. Um die auffällige Bewegung der IXYVL zu verdeutlichen, geht Heidegger wieder auf der IXYVL eigene PHWDEROKYein, wonach die Gewächse überhaupt als solche erst zum Vorschein kommen und somit in die Anwesenheit ‚gestellt‘ werden. Für diesen Übergang in die Anwesenheit hatten die Griechen einen eigenen Begriff, nämlich die PRUIKY: „Die PRUIKYist die Gestellung in das Aussehen, d.h. eben die NLYQKVL [die Bewegtheit] selbst, das Umschlagen des Geeigneten als Ausschlagen der Eignung.“173 Die PRUIKYwird also von dem ‚Geeigneten zu‘ oder auf Griechisch der X-OY K, unterschieden, die hinsichtlich der Anwesung von niedrigerem Rang ist.174 Beide Begriffe sind der Herstellung entnommen, nach der die X-YOK das Material, wortwörtlich das Holz, des Herstellers bezeichnet, während der PRUIKYvon der zustandegebrachten Arbeit zu denken ist, die auf Griechisch HMQWHYOH[HLD heißt und von Heidegger mit ‚Sich-imEnde-Haben‘ übersetzt und gedacht wird.175 Aus diesem Grund treffen diese beiden Grundbegriff auch auf die WHYFQK zu. 168 169 170 171 172 173 174

175

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WM, S. 263. Vgl. WM, S. 264. WM, S. 263. Vgl. S. 263 f. WM, S. 283. WM, S. 287 (kursiviert S.R.). Siehe auch mit Heideggers Verständnis des Kunstwerkes im zweiten Teil dieser Arbeit. Vgl. WM, S. 284f.

Die PRUIKY oder, mit Heidegger gedacht, ‚die Gestellung in die Anwesenheit‘, ist mit dem später geprägten Begriff des Gestells aufs Engste verwandt und zeigt deutlich die Verwandtschaft mit dem Begriff der Gestalt.176 Durch den Begriff der PRUIKY wird auch leichter verständlich, warum das Gestell in „Die Frage nach der Technik“ nicht nur als ‚Gefahr‘ entwickelt wird, sondern auch als das ‚Rettende‘ verstanden werden kann. Denn sie ist als ‚die Gestellung in das Aussehen‘ gerade eine ausgezeichnete Form des Erschließens und gehört damit zur DMOKYTHLD, zur Wahrheit. Aber in diesem früheren Aufsatz führt Heidegger noch nicht an, inwiefern die ‚Gestellung‘ zugleich eine Verstellung sein kann; er thematisiert noch nicht explizit, was ihm später als sehr bedrohlich erscheinen wird, dass mit dem Begriff der PRUIKY oder der Gestellung das Seiende dazu neigen kann, sich bloß als Rohstoff oder Baumaterial zu zeigen. In einer Passage schreibt Heidegger jedoch:  „Die Ansprechung aber zeigt als Erstes das Aussehen und die Gestelltheit in dieses, von wo aus sich dann das X-OY K-Genannte als das Verfügliche bestimmt. Damit ist aber zugleich schon ein Weiteres entschieden, was den nächsten Schritt der Nachweisung der IXYVL als PRUIKY erzwingt. Obzwar X-YOK und PRUIKYbeide das Wesen der IXYVL ausmachen, so halten sie sich doch nicht gleichgewichtig die Wage, sondern die PRUIKY hat den Vorrang.“177

Aus diesem phänomenologischen Vorrang der PRUIKY, und damit ihrer Nähe zum Begriff der DMOKYTHLD, wird ‚das X-YOK-Genannte‘ als ‚das Verfügliche‘ bestimmt. Darin können wir ein erstes Anzeichen der Herausforderung der Natur als Bestand sehen, die für Heidegger besonders problematisch wird.178 Umso mehr ist es aber wichtig zu bemerken, dass Heidegger zu dieser Zeit nicht wirklich die Gefahr der ‚Gestellung in die Anwesenheit‘ erkennt, und gleichzeitig die ‚Gestellung‘ zum Inbegriff des antiken Verständnisses der IXYVL auslegt. Wie vom Handwerker wird hier auch etwas von der IXYVLin die Anwesenheit ‚gestellt‘, nur geschieht dieses aus einem immanenten Grund, während sich die Herstellung der WHYFQK einer Ursache außerhalb des Hergestellten verdankt. )XYVL und WHYFQK sind also beide Formen der Gestellung, nur muss jene von sich aus und diese vom Handwerker aus begriffen werden. Dass die IXYVL so gesehen dieselbe Gefahr wie das Gestell birgt und es daher möglich ist, „Die Frage nach der Technik“ trotz aller positiven Referenzen zu Aristoteles als eine radikale Aristoteleskritik zu lesen, ist für unser Vorhaben zunächst nicht entscheidend.179 Wir möchten vielmehr auf die 176 177 178

179

Siehe auch GA 90, S. 131ff. WM, S. 282 (kursiviert S.R.). Um den Vorgriff auf die Begriffe Form und Stoff in einen größeren Kontext einzuordnen, siehe auch den zweiten Teil dieser Arbeit. Für die Ambivalenz von Heideggers Aristotelesinterpretation, siehe auch Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002.

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Selbstbewegung der IXYVL zu sprechen kommen. Denn unsere These besagt, dass Heideggers Entfaltung des Gestells das Wesen der modernen Technik so darstellt, dass es analog zum Wesen der IXYVL verstanden werden kann und damit auch, wie Heidegger selbst betont, dass die beiden in Abgrenzung zur Aristotelischen Auslegung der WHYFQK ausgelegt werden müssen. Mit anderen Worten lautet also unsere These, dass Heidegger gezeigt hat, wie das Wesen der modernen Technik als ‚lebendig‘, d.h. selbstbewegend, zu denken ist. Um die Lebendigkeit genauer zu verstehen, möchten wir uns wieder der Selbstbewegung der IXYVL zuwenden. Denn die IXYVL gilt seit jeher und auch für Heidegger als paradigmatisch für Lebendigkeit. Um die Selbstbewegung der IXYVL besser zu verstehen führt Aristoteles den Begriff der JHYYQHVL ein, der Entstehung, die Heidegger folgendermaßen auslegt: „In der JHYQHVL als Gestellung ist das Herstellen durch und durch Anwesung des Aussehens selbst ohne dazukommendes Beibringen und Beispringen, was eben alles ‚Machen‘ kennzeichnet. Das Sich-selbst-Herstellende im Sinne der Gestellung bedarf nicht erst einer Mache; bedürfe es dieser, dann hieße das, ein Tier vermöchte nicht sich fortzupflanzen, ohne seine eigene Zoologie zu beherrschen. Damit kündigt sich an, daß die PRUIKY nicht nur mehr IXYVL als die X-YOK ist, sondern sogar allein und durchaus […] Sobald aber die IXYVL dergestalt als JHYQHVL in den Blick kommt, verlangt ihre Bewegtheit eine Bestimmung, die ihrer Einzigartigkeit in keiner Hinsicht mehr ausweicht.“180

Die Bewegung, wonach die Gestellung der JHYQHVL der IXYVL sich zeigt, ist ‚einzigartig‘ in dem Sinne, dass auch ihr Ende auf sie selbst bezogen ist.181 Dagegen hat die WHYFQK ihr Ende außerhalb ihrer selbst, wie es an der Heilkunst anschaulich wird. Die Heilung erfolgt nicht um der Heilkunst, sondern um der Gesundheit willen. „Selbst wenn ein Arzt die Verarztung betreibt, um einen Höchststand der WHYFQK zu erreichen, so geschieht das nur wieder, um das WHYOR, die Gesundung erst recht zu erreichen.“182 Zu diesem wesentlichen Unterschied kommt außerdem noch hinzu, dass die Bewegung der IXYVL gemäß Heidegger und Aristoteles in gewisser Weise endlos oder a-teleologisch ist. Diesen Gedanken entfaltet Heidegger so, dass die Technik nicht bloß ihr Ziel außer sich hat, sondern auch im Prinzip vermag, es zu erreichen. Wenn die WHYFQK ihr Ziel erreicht, dann hört jedoch 180 181

182

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WM, S. 290 (kursiviert S.R.). Und wie es sich zeigen wird, ist die IXYVL eben deswegen auch ‚gefährlich‘, weil sie alles auf ihre eigene Entfaltung bezieht. WM, S. 292. In gewissem Sinne stimmen die Bewegung der IXYVL und der WHYFQK überein, denn auch jene vollzieht sich gewissermaßen um der Gesundheit willen, zumal weil Gesundheit eben Selbsterhaltung bedeutet. Die Heilkunst und die IXYVL gehören unter einem bestimmten Gesichtspunkt darin zusammen, dass sie die Selbsterhaltung fördern.

die Bewegung auf. Anders verhält es sich mit der IXYVL. Denn ihre Bewegung ist nicht einfach kreisförmig und wiederholend, sondern ihre Bewegung ‚vernichtet‘ das, woraus sie entspringt.183 Das Sich-Zeigen der IXYVL wird gerade erst durch eine Abwesung anschaulich – die IXYVL verbindet in dem Sinne Werden mit Vergehen. Heidegger fasst diese Eigenart der IXYVL zusammen, indem er sagt: „Die IXYVL dagegen ist [im Vergleich zur WHYFQK] die aus sich selbst her und auf sich selbst zu unterwegige Anwesung der Abwesung ihrer selbst. Als solche Abwesung bleibt sie ein In-sich-zurück-Gehen, welches Gehen jedoch nur der Gang ist eines Aufgehens.“184 Durch diese sonderbare Bewegung wird deutlich, dass die IXYVL sich von der WHYFQK unterscheidet, aber gerade durch dieses Merkmal wird auch in unserer Interpretation die Affinität zum Gestell bestätigt und deutlich. Und wieder müssen wir darauf hinweisen, dass es auch in Heideggers Interpretation radikal anders um die moderne Technik als um die antike WHYFQK bestellt ist. Die besondere Bewegung der IXYVL, wonach Anwesung und Abwesung ineinander übergehen, so dass dieses Wechselspiel als eine ständige Entwicklung verstanden werden kann, finden wir auch in Heideggers Verständnis des Gestells. Vorläufig erkennen wir dies daran, dass auch das Gestell immer wieder über sich selbst hinausgeht, seine bisherigen Ressourcen erschöpft oder vernichtet, wodurch es in sich zurück geht und seine Gesamtentwicklung bestätigt und weitertreibt. Mit anderen Worten geht vom Gestell eine Bewegung aus, die Heidegger als ‚Geschick‘ bezeichnet hat, die in immer wandelnden Formen ihre eigene Herrschaft absichert und verstärkt. Die Verbindung des hier entwickelten Phänomens der IXYVL mit dem Gestell soll im folgenden entlang mehrerer Phänomene genauer entwickelt werden. Dabei ist es uns bei dieser Interpretation des Wesens der modernen Technik genauso wichtig, wie Heidegger es auch in einer seiner Interpretationen hervorhebt, „daß zuvor die Schranken des Selbstverständlichen fallen und die geläufigen Scheinbegriffe auf die Seite gestellt werden.“185

C Phänomenologie des Gestells Im folgenden stellt sich die Aufgabe, die Einsichten aus den zwei vorausgegangenen Abschnitten systematisch zu verbinden, damit begreiflich wird, dass das Wesen der modernen Technik im Heideggerschen Sinne als lebendiges gedacht werden kann. D.h. dass die Grundbegriffe, mit denen Aristoteles und Heidegger die IXYVL entfalten, auch auf das Gestell zutreffend sind. 183 184 185

Vgl. WM, S. 265ff. WM, S. 299. Holzw, S. 24f (kursiviert S.R.).

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Durch den gegenseitigen Bezug der Begriffe IXYVL und WHYFQK im vorausgegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, dass sich das Wesen der modernen Technik nicht analog zu der Gegenüberstellung von IXYVL und WHYFQK erschöpft. Das Gestell ist nicht als Gegenstück, sondern vielmehr in Analogie zu Heideggers Begriff der IXYVL zu denken. Insofern Heidegger einen radikalen Bruch zwischen WHYFQK und moderner Technik sieht, wird in „Die Frage nach der Technik“ auch nicht versucht, das Gestell mittels derselben Gegenüberstellung zur IXYVL zu erhellen. Das Gestell ist weder nur etwas Technisches (und somit nicht wie ein Hammer oder ein Messer zu verstehen), noch primär als eine besondere Form des Wissens zu begreifen – es ist vielmehr in dynamischen Kategorien zu denken.186 Das Gestell kann als eine spezifische Forderung verstanden werden, die sich als ein besonderer Imperativ für den Menschen unter der Herrschaft der Technik durchsetzt. Es definiert die DMUFKY der Menschen, die in seiner Gewalt leben. Der durch das Gestell gesetzte Anspruch fordert den Menschen heraus, das Wachstum der technischen Organisationen und des Bestellbaren anzuregen und zu vermehren. So schreibt Heidegger in „Die Frage nach der Technik“, dass das Gestell „die Bestellbarkeit der Natur als Bestand verlangt.“187 Versuchen wir dieses ‚Verlangen‘ zu verstehen, so werden die Analogien zwischen dem Gestell und der IXYVL deutlicher zum Vorschein kommen. Das ‚Verlangen‘ des Gestells drückt ein Streben aus, das sich in der Konstellation mit dem herausfordernden Entbergen abspielt. Heidegger hebt also mit dem Begriff des Verlangens den dynamischen Aspekt des Gestells hervor, wonach das Gestell immer bestrebt ist, seine Herrschaft zu vergrößern und abzusichern. Das Gestell ist so entscheidend auf seine eigene Entfaltung ausgerichtet, dass der Begriff des ‚Verlangens‘ – aus dem Kontext des selbstbewussten Wollens entlehnt – für Heidegger im Bereich des Wesens der modernen Technik angemessen scheint. Anders gesagt, fasst Heidegger mit dem Begriff des Verlangens die Selbstentfaltung des Gestells zusammen, die weit über den Kontext antiker WHYFQK hinausgeht; das Verlangen des Gestells ist nämlich, wie später noch ausführlicher gezeigt wird, unmöglich zu denken, ohne dem Gestell einen Willen, einen Drang, eine Selbstbewegung zuzuschreiben. Gleichzeitig ist es aber entscheidend, dass diese Selbstentfaltung des Gestells sich gerade in dem Aus-sich-herausgehen des Seienden zeigt. Herausforderung bedeutet ein Hinausggehen, das sich im Spiel von Aufgang und 186

187

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Bisher wurde der Begriff des Wesens von der Gattung aus gedacht. In diesem Sinne wird der Begriff des Wesens anfänglich gleich dem ‚was‘ gesetzt. „Ist nun das Wesen der Technik, das Ge-stell, die gemeinsame Gattung für alles Technische? Träfe dies zu, dann wäre z.B. die Dampfturbine, wäre der Rundfunksender, wäre das Zyklotron ein Ge-stell. Aber das Wort ‚Gestell‘ meint jetzt kein Gerät oder irgendeine Art von Apparaturen.“ (VA, S. 33) VA, S. 26.

Untergang, von Werden und Vergehen (Unverborgenheit und Verborgenheit) zeigt. Die Herausforderung des Gestells und damit auch seine Herrschaft kommen in der Verwirklichung bestimmter Möglichkeiten des Seienden zum Vorschein. Diese verlangte Verwirklichung von Möglichkeiten ist das Heraus-fordern, worauf das Gestell laut Heidegger beharrlich drängt: einen Landstrich in ein Kohlenrevier zu verwandeln, aus einem Fluss eine Energiequelle zu machen und überhaupt die Natur in seine Bahn zu lenken.188 Anders formuliert: Das Gestell lenkt ein bestimmtes Entbergungsgeschehen – ja es ist diese Bewegung selber; und um diese grundlegende und autonome Selbstentfaltung des Gestells einsichtig zu machen, ist es entscheidend, das Gestell in Analogie zur IXYVL zu verstehen. Betrachten wir nun das Phänomen des Herausforderns genauer im Hinblick darauf, was geschieht, wenn das Verlangen des Gestells den Menschen herausfordert, dann kann gezeigt werden, dass das Gestell in gewissem Sinne lebt; und als Zwischenergebnis dieser Betrachtung kann die ‚Existenz‘ des modernen Menschen in ein anderes Licht gebracht werden. Das Gestell fordert nämlich den Menschen aus sich heraus, indem es das menschliche Dasein in seine Bahn bringt.189 Wenn dies gelingt, dann lebt der Mensch laut Heideggers Verständnis unter der Herrschaft des Gestells. Diese Verschmelzung des Gestells mit dem menschlichen Dasein ist so eines der deutlichsten Zeichen dafür, dass das Gestell als lebendig und in Analogie zur IXYVL zu denken ist. Mehr noch: Es liegt in dieser Gemeinschaft von Technik und Menschen, dass das Gestell zum Gestell wird. Aus diesem Gedanken lässt sich auch der Begriff Existenz verstehen. Es kommt aus dem Zeitwort ‚existieren‘, das ‚zum Vorschein kommen‘ und ,Hin-austreten‘ bedeutet.190 Dazu gehört noch der selbstreflexive Bezug, wonach dieses ‚Hin-austreten‘ bewusst geschieht, um die besondere Lebensart des Menschen zu bezeichnen, die für seine Existenz bezeichnend ist. Nun stellt sich die Frage, wie sich das Herausfordern des Gestells genauer gesehen zur menschlichen Existenz verhält. Unter der Herrschaft des Gestells ist es gerade das Herausfordern, das der Existenz des Menschen ihren Ursprung gibt und ihr Geschick definiert. Das im Gestell herausgeforderte Leben des Menschen ist aber nicht primär als Zwang gegen den menschlichen Willen zu verstehen. Nicht weil die Herrschaft des Gestells den Menschen freisetzt, ganz im Gegenteil. Unter der Herrschaft des Gestells ist der 188 189

190

Vgl. VA, S. 18ff. Siehe auch in diesem Zusammenhang einen Gedanken Ernst Cassirers: „Selbst die stärkesten Gegenkräfte der Technik – selbst diejenigen geistigen Potenzen, die ihr, nach Gehalt und Sinn, am fernsten stehen – scheinen ihre Leistung nur noch dadurch vollbringen zu können, dass sie sich mit ihr verbinden, und daß sie in eben diesem Bündnis sich ihr unmerklich unterwerfen.“ Cassirer, Ernst: „Form und Technik“, in: Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985, S. 39-91, hier S. 39. ‚Existenz‘ in: Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 168.

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Mensch nämlich schon von vornherein, im Sinne eines ‚anfänglichen Verfügens‘ über sein Dasein, auf die besondere Entfaltung des Gestells hin ausgerichtet. Wie dieses anfängliche Verfügen des Gestells über das menschliche Leben, das nicht als Zwang verspürt wird, verstanden werden kann, illustriert der Freund und Zeitgenosse Heideggers, Ernst Jünger, zutreffend in seiner Erläuterung des ‚Weltgeistes‘ der totalen Mobilmachung. Jünger schreibt: „Es ist ein großartiges und furchtbares Schauspiel, die Bewegungen der immer gleichförmiger gebildeten Massen zu sehen, denen der Weltgeist seine Fangnetze stellt. Jede dieser Bewegungen trägt zu einer schärferen und unbarmherzigeren Erfassung bei, und es wirken hier Arten des Zwanges, die stärker als die Folter sind: so stark, daß der Mensch sie mit Jubel begrüßt.“191 Das anfängliche Verfügen des Gestells über den Menschen erschließt eine eigene Perspektive und richtet den Menschen unter anderem darauf aus, was sachgemäß als Effektivität und Perfektion beschrieben werden kann. Das heißt, dass das Gestell sich im Willen des Menschen, sich zu optimieren und sich zu bemeistern, durchsetzt – und zwar, um Perfektion zu erreichen. Darin besteht die moderne Existenz unter der Herrschaft des Gestells. Als Wille des Menschen wird die Perfektion gerade als ursprüngliche Setzung des Gestells durch das Gestell übersehen. Anders gewendet: Mit der Leitidee der Perfektion für die eigene Existenz, als die vollkommene Meisterschaft verstanden, bestätigt und belebt der Mensch gerade die Herrschaft des Gestells. Als Konsequenz daraus muss Heidegger auch das Streben nach Perfektion als gefährlich einschätzen, denn die Perfektion ist nicht dem Wahrheitsgeschehen zugewandt, sondern sie treibt gerade das Geschick des Gestells in dem Maße mit voran, als sie seine eigendynamische Entwicklung optimal vollzieht.192 So sind Optimierung, Verbesserung und Meisterschaft Begriffe der Selbstbeherrschung oder der Weltkontrolle und als solche Ausdrücke zugleich ‚Fugen‘ des Geschicks des Gestells. Stattdessen soll aber das Anfängliche, worauf diese Meisterschaft weiterbaut, ihr Fundament, Heidegger zufolge bedacht werden. Denn durch solche Zuwendung würde die Perfektion als Meisterschaft unterbrochen und 191

192

70

Jünger, Ernst: Die Totale Mobilmachung, in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Essays, Band 7: Essays I: Betrachtungen über die Zeit, Stuttgart 1980, S. 119-142, hier S. 141 (kursiviert S.R.). Zu Heideggers Beschäftigung mit Ernst Jünger siehe auch Peter Trawny: „Ein wesentliches Phänomen, das Jünger in seinen Schriften betrachtet, ist die moderne ‚Technik‘. Indem Heidegger sich immer wieder diesen Betrachtungen zuwendet, entwickelt sich eine Sicht, die seine Auslegung des metaphysischen Denkens als der ‚Machenschaft‘ sowie die spätere Deutung der Technik als ‚Gestell‘ bestimmend bewegt.“ (Trawny, Peter: „Nachwort des Herausgebers“, in: Zu Ernst Jünger, Gesamtausgabe, Band 90, hrsg. von Trawny, Peter Trawny, Peter, Frankfurt am Main 2004.) Vgl. auch den Briefwechsel zwischen Heidegger und Ernst Jünger: Figal, Günter (Hrsg.): Ernst Jünger – Martin Heidegger: Briefe 1949-1975, Stuttgart und Frankfurt am Main, 2008. Vgl.: Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 1953.

zugleich aufgelöst werden. Die Perfektion kümmert sich nicht um den Anfang als solchen, sondern um die Vollendung des schon vorgegebenen Anfangs.193 In diesem Sinne kann Heidegger als ein Befürworter des Laientums oder des Nichthandelns gelesen werden: als ein Feind der Meister, Experten und Perfektionisten; oder könnte man vielleicht sogar meisterhaft einen Anfänger sein?194 Es gelingt Ernst Jünger dieses gleichzeitige Streben nach Perfektion und Selbstüberwindung, das hier mit der Herausforderung des Gestells gemeint ist, in so unmittelbar verschiedenen Sphären, wie dem modernen Militärkampf, dem Sport und der Arbeit zu versinnbildlichen. So schreibt er: „Mit wachsendem Automatismus gewinnen die Heere eine insektenhafte Perfektion. Sie kämpfen dann in Lagen weiter, die aufrechtzuerhalten die Kriegskunst alten Stiles als Verbrechen betrachtete.“195 Hier herrschen Kräfte, die über den einzelnen Menschen hinausgehen. Jünger schreibt weiter: „Wichtig in diesem Zusammenhang ist endlich jener spezielle Arbeitscharakter, der als Sport bezeichnet wird. In ihm wird nicht nur das Bestreben sichtbar, einen hohen Grad der physischen Gesundheit normal zu machen, sondern auch in den Rekorden bis an die Grenze der möglichen Leistung, ja über sie hinaus zu gehen. Im Alpinismus, beim Fliegen, beim Schanzenspringen gibt es Anforderungen, die das Menschliche überbieten und deren Bewältigung einen Automatismus fordert, dem Abtötung vorausgegangen ist. Solche Rekorde heben wiederum die Norm. Der Vorgang wird auch auf die Werkstätte übertragen; er bringt jene Arbeitsheroen hervor, die das zwanzigfache Pensum eines Ausgebeuteten von 1913 bewältigen.196

und

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195 196

Siehe auch: „Wir wissen heute, ohne es schon recht zu verstehen, daß die moderne Technik unaufhaltsam dahin drängt, ihre Einrichtungen und Erzeugnisse in die allumfassende, größtmögliche Perfektion zu treiben. Diese Perfektion besteht in der Vollständigkeit der berechenbaren Sicherstellung der Gegenstände, des Rechnens mit ihnen und der Sicherung der Berechenbarkeit der Rechnungsmöglichkeiten. Die Perfektion der Technik ist nur das Echo des Anspruches auf die perfectio, d.h. die Vollständigkeit der Begründung.“ (SvG, S. 197f). „Die Wissenschaft betreibt so die Sicherstellung des Zustandes einer völligen Bedürfnislosigkeit im Wissen und bleibt deshalb im Zeitalter der völligen Fraglosigkeit stets das ‚Modernste. Alle Zwecke und Nutzen stehen fest, alle Mittel sind zur Hand, jede Nutznießung ist ausführbar, es gilt nur noch, Gradunterschiede der Verfeinerung zu überwinden.” (GA 65, S. 157; kursiviert S.R.). Vgl. Heideggers Brief an Matthäus Lang, wo er 1928 schreibt: „Vielleicht zeigt die Philosophie am eindringlichsten und nachhaltigsten, wie anfängerhaft der Mensch ist. Philosophieren heißt am Ende nichts anderes als Anfänger sein.“ Zitiert aus: Ott, Hugo: Martin Heidegger: Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt 1988, S. 55f. Jünger, Ernst: Über die Linie, Frankfurt am Main 1950, S. 15 (kursiviert S.R.). Jünger, Ernst: Über die Linie, Frankfurt am Main 1950, S. 50.

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„Zu streifen ist auch noch der Rekord als die ziffernmäßige Wertung menschlicher oder technischer Leistungen. Er ist das Symbol eines Willens zur ununterbrochenen Bestandaufnahme der potentiellen Energie. Ebenso wie räumlich der Wunsch besteht, den Einzelnen jederzeit an jedem Punkte erreichen zu können, so dynamisch das Bestreben, fortwährend über die äußersten Grenzen der Leistungsfähigkeit unterrichtet zu sein.“197

Hier, aus dieser Selbstüberwindung des herausgeforderten Menschen, die Ernst Jünger besonders anschaulich macht, können zwei wesentliche Momente zum Verständnis des Wachstums des Gestells abgelesen werden. Einerseits gehört zur Existenz des Menschen im Zeitalter der modernen Technik, das heißt zum Wachstum des Gestells, gerade dieselbe sonderbare ‚aufgehende Abwesung‘, das Werden im Vergehen, das für die IXYVL charakteristisch ist. Jünger bezeichnet es als die Selbstbewältigung des Menschen, die einer Art ‚Abtötung‘ vorausgegangen ist und in der Fähigkeit mündet, über sich selbst und die eigenen Grenzen hinauszugehen. Die vom Gestell veranlasste Bewegung ist dem Menschen immanent und treibt ihn gleichzeitig aus sich heraus: Das Gestell kommt in der Selbst-Bewegung oder dem Bestreben des einzelnen Menschen zum Vorschein. Das Leben der Menschen unter der Herrschaft des Gestells ist nicht mehr von der ‚Lebendigkeit‘ des Gestells selbst zu unterscheiden. Die Existenz des Menschen im Zeitalter der modernen Technik ist eine Weise, in der das Gestell sich zeigt. Das Gestell formt das menschliche Leben nicht nur von außen, wie der Silberschmied das Silber, sondern wird Teil der menschlichen Existenz. Das Gestell setzt sich dann als DMUFKY in der Entfaltung des Menschenlebens durch und ist Ausdruck seines besonderen Lebensvollzugs. Weil das Gestell sich in der menschlichen Existenz und im Lebensvollzug durchsetzen kann, muss es als lebendig und in Analogie zum Wesen der IXYVL verstanden werden. Aber dabei bleibt die Frage: Lebt das Gestell nur wegen des Menschen und durch ihn? Damit sollen die Überlegungen zur Analogie des Gestells und der IXYVL einen Schritt weitergeführt und durch ihn vollendet werden.  Um unsere These und den vorausgegangenen Gedankengang ausführlicher zu differenzieren und zugleich weiter zu entwickeln, soll nun eine weitere Frage gestellt werden: Nur weil das Gestell sich im Sinne der IXYVL entfaltet, bedeutet es noch lange nicht, dass die Maschinen und das Zeug so wie die Pflanzen leben. Mit Blick auf die Beispiele von Aristoteles und Heidegger, kann man zustimmen, dass bis heute aus keinem Holzstück oder Baum ein Bettgestell, geschweige denn Ärzte gewachsen sind.198 Dementsprechend 197 198

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Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 146. Es muss jedoch vergegenwärtigt werden, dass die Kombination von Bio- und Nanotechnologie im Prinzip fähig ist, Artefakte zum Wachsen zu bringen. Siehe auch den dritten Teil der Arbeit.

grenzt Heidegger, wie wir gesehen haben, mit Aristoteles die Artefakte von den Naturdingen, den IXYVHLR?QWD, ab. Daher kann auch nicht aus einem Hammer ein zweiter Hammer entstehen, genau so wie ein Hammer auch nicht wächst und blüht. Der Hammer kann sich nicht selbst bewegen und damit auch sich selbst nicht so zeigen wie die Naturdinge; vielmehr deutet der Hammer laut Heidegger auf einen ihn umfassenden Verweisungszusammenhang hin, worin er eingebettet ist.199 Anders gewendet: Ausgehend von den Betrachtungen in Heideggers früherer phänomenologischen Analyse des Zeugs in seinem Werk Sein und Zeit, gehört das Zeug zu einer Seinsart, nämlich der Zuhandenheit, die sich selbst als solche nur indirekt zeigt. Mit Hilfe von Heideggers Einsichten aus Sein und Zeit soll nun versucht werden, unsere Fragestellung zu beantworten. Heidegger schreibt: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört ja immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ‚etwas, um zu…‘. Die verschiedenen Weisen des ‚Umzu‘ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur ‚Um-zu‘ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas.“200 Weil das Zeug immer aus einem Zeugganzen zu verstehen ist, wird es laut Heidegger als Einzelzeug auch erst durch Beschädigung, das heißt durch Unterbrechung seiner Verweisung auf die Zeugganzheit, ausdrücklich.201 Das Zeug gehört gerade zur Seinsart der Zuhandenheit, weil es nicht durch das Beobachten, sondern erst durch das Hantieren erschlossen wird: „Das schärfste Nur-noch-hinsehen auf das so und so beschaffene ‚Aussehen‘ von Dingen vermag Zuhandenes nicht aufzudecken.“202 Das Hantieren begreift also laut Heidegger das Zeug anders als das Beobachten: „Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z.B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche.“203 Aus diesen frühen Ansätzen zum Verständnis des Zeugs wird es auch möglich, das Verhalten des Menschen vom Zeug her zu denken und zu bestimmen, so dass dieses jenes Verhalten definiert; es wird möglich zu verstehen, wie Heidegger die Beziehung zwischen Menschen und Zeug umkehrt

199 200 201

202 203

Vgl. SuZ, S. 66ff. SuZ, S. 68. SuZ, S. 73f. Hier wäre es auch interessant zu untersuchen, ob das Zeug überhaupt zur völligen Transparenz gelangen kann, wenn der Mensch nach Perfektion strebt. Wird durch dieses Streben die Begrenzung des Werkzeugs nicht gerade so deutlich und störend, dass neues und handhabbares Zeug entwickelt wird? SuZ, S. 69. SuZ, S. 69.

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und versucht, den Menschen vom Zeug her zu denken;204 denn Heidegger schreibt und denkt das Verhalten des Menschen mit dem Zeug als auf das Zeug hin ‚zugeschnitten‘. Erreicht das Zeug also eine besondere kritische Konzentration, die laut Heidegger für die Modernität charakteristisch ist, dann fordert das Zeug vom Menschen ein bestimmtes Verhalten. Der Mensch muss sich nun sozusagen im Möglichkeitsraum und Koordinatensystem des Zeugs bewegen. Selbst wenn Ernst Jünger ein solches Koordinatensystem nur als deskriptiv und weder als normativ noch als Notwendigkeit denkt, veranschaulichen seine folgenden Beobachtungen auch hier, wie Heideggers abstrakter Gedanke konkret verstanden werden kann – also wie das Zeug den Menschen organisiert und lenken kann: „Der Kraft-, Verkehrs- und Nachrichtendienst erscheint als ein Feld, in dessen Koordinatensystem der Einzelne als bestimmter Punkt zu ermitteln ist – man ‚schneidet ihn an‘, etwa indem man die Ziffernscheibe eines automatischen Fernsprechers stellt.“205 Stellt man den Menschen in das Koordinatensystem dieses Zeugs, dann kann man nicht nur seine jetzige Lage präzisieren, so wie Jünger es beschreibt, sondern auch klare Hinweise erhalten, um sein Handeln hervorzusagen, denn er ist eben auf das Zeug ‚zugeschnitten‘. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der diese Interpretation bestätigt: In Heideggers Ausführung begegnet das ‚Unzuhandene‘ nämlich dem Menschen, „als [dem] Sein dessen, das immer noch vorliegt und nach Erledigung ruft.“206 Wenn Rufen und Erledigung aus diesem Heideggerschen Zusammenhang verstanden werden, dann gewinnt das, was unter dem herausfordernden Entbergen des Gestells gemeint ist, seine Konkretisierung. Mit ‚Rufen‘ ist bei Heidegger hier die Vereinigung von Auffälligkeit und Aufdringlichkeit angezeigt, womit die unzuhandenen Dinge die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich lenken. Damit hängt die ‚Erledigung‘ engsten zusammen, denn dieser Ruf drängt sich gerade so lange auf, bis die unzuhandenen Dinge sich in die Zeugganzheit eingefügt haben und unauffällig werden – damit sind sie im Heideggerschen Sinne erledigt.207 Das Unzuhandene ist nur vor dem Hintergrund des Zuhandenen auffällig; der Ruf des Unzuhandenen ist also nur im Zusammenhang mit dem Hören des Menschen erkennbar, das eine Art Passivität zu erkennen gibt. Ob der Ruf der unzuhandenen Dinge in Wirklichkeit entweder bloß der Widerhall eines Befehls der Zuhandenheit nach Einordnung ist, oder ursprünglich aus den unzuhandenen Dingen stammt, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Dem Zitat gemäß denkt Heidegger aber den Ruf als von den unzuhandenen Dingen stammend; und dadurch zeigt sich der einzelne Mensch als fremdbe204

205 206 207

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Vgl. auch mit unserer Interpretation von Heideggers Überlegungen zum Kunstwerk im zweiten Teil der Arbeit. Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 145f. SuZ, S. 74 (kursiviert S.R.). Vgl. SuZ, S. 84.

stimmt. Von hier aus gesehen, scheint der Mensch, der in Sein und Zeit in die Formel des In-der-Welt-seins gestellt ist, in seiner Umwelt aufzugehen. Der Schritt von der Zeugganzheit zur Herrschaft des Gestells ist, von hier aus betrachtet, nur ein kleiner, jedoch stammt die mit dem Gestell verbundene Herausforderung nicht aus den unzuhandenen Dingen, sondern diese scheint bei Heidegger aus der Zuhandenheit zu kommen, insofern sich diese auch in der modernen Technik manifestiert. Heideggers Analyse des Zeugs wurde unmittelbar nach der Niederschrift von Sein und Zeit prominent und gilt heute noch als einer der wichtigsten Beiträge zum Verständnis der Technik.208 Heideggers frühes Verständnis des Zeugs soll an dieser Stelle angeführt werden, um zu zeigen, wie das Zeug in gewisser Analogie zu den Naturdingen verstanden werden kann, um dadurch schließlich zu zeigen, in welchem Sinne das Gestell sich bewegt und als lebendig gedacht werden kann. Zugespitzt formuliert hat Heidegger im Sinne der hier vorgelegten Interpretation das Zeug Sein und Zeit übersehen. Heidegger bemerkt, dass das Zeug wesenhaft ‚etwas, um zu…‘ sei.209 Dementsprechend braucht er auch selber das Zeug, um etwas anderes zu zeigen als das Zeug selbst und zwar die Verweisungszusammenhänge, die gemäß Sein und Zeit die Bedeutung des Seienden in der Welt ausmachen.210 So möchte Heidegger anhand des Zeugs die Bedeutungsstruktur der Welt zeigen, so dass es ihm dabei gerade nicht um das Zeug selbst geht. Von allem Zeug interessiert sich Heidegger deswegen auch primär für das ‚Zeigezeug‘.211 Heidegger kann daher auch als Erläuterung seiner so genannten ‚Zeuganalyse‘ schreiben: „Dies phänomenologische Auslegen [das im Besorgen begegnende Seiende] ist demnach kein Erkennen seiender Beschaffenheiten des Seienden, sondern ein Bestimmen der Struktur seines Seins.“212 Das, was Heidegger interessiert, ist die Struktur, in welcher das Zeug nur ein Moment ist. Diese Zeugganzheit legt er danach als Paradigma für das innerweltlich begegnende Seiende aus, das zunächst und zuerst als zuhanden erfasst wird. Bei Heidegger definiert die Zeugganzheit den Begriff der Welt.213 Konsequent weitergedacht ist alles Seiende als eine Art ‚Zeigezeug‘ zu verstehen, weil es in einen Verweisungszusammenhang eingeht.214 Wird diese Konsequenz damit verbunden, dass menschliches Handeln auf das 208

209 210 211 212 213 214

Vgl. Dreyfus, Hubert L. (Hrsg.): Heidegger Reexamined, Band 3: „Art Poetry, and Technology“, New York 2002. Vgl. SuZ, S. 68. Vgl. SuZ, S 66ff. Vgl. SuZ, S. 76ff. SuZ, S. 67. Vgl. SuZ, S. 65ff. Vgl. SuZ, S. 76ff.

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Zeug zugeschnitten ist, dann wird auch deutlich, inwiefern das Zeug die Blickrichtung des Menschen, seine Ausrichtung und (Selbst-) Bewegung bestimmt. Damit keimt aus diesen früheren Betrachtungen in Sein und Zeit erneut die Gestalt des Gestells. Nachdem der Begriff der Zeugganzheit eingeführt ist, wird es nun auch möglich, einen Neuansatz des Zeugverständnisses zu entwickeln, demgemäß das Zeug in gewissem Sinne anderes Zeug ‚erzeugen‘ kann. Vor dem Hintergrund der Zeugganzheit soll so im Unterschied zu Heideggers Untersuchung das einzelne Zeug betrachtet und der phänomenologische und etymologische Zusammenhang zwischen ‚Zeug‘ und ‚Erzeugen‘ hervorgehoben werden.215 Dieser Zusammenhang ist bei Heidegger latent vorhanden, aber er ist nicht weiterentwickelt worden. Wir können also diesen Zusammenhang entfalten, ohne dabei Heideggers Verständnis des Zeugs zu widersprechen – jedoch werden sich dabei zugleich auch Probleme der Heideggerschen Konzeption herauskristallisieren. Heidegger schreibt, dass das, was das Zeug zum Zeug macht, die ‚Zeughaftigkeit‘ sei. Diese versteht er folgendermaßen: „Zeug ist seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer.“216 Diese Beschreibung ist für einen entscheidenden Aspekt des Zeugs zutreffend: nämlich für die Struktur, worin es eingelagert ist; doch diese Struktur behält zugleich eine große Distanz zum Zeug selbst. Heideggers Analyse entwickelt sich nicht anhand des konkreten Gebrauchs des Zeugs. Zum Verständnis des ‚Schreibzeugs‘ sind Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe etc. entscheidend, aber dabei wird nichts über den Zusammenhang von Schreibzeug und der erzeugten Schrift oder dem gezeichneten Bild gesagt, welche mit dem Schreibzeug untrennbar verbunden sind und durch dieses entstehen. Konkret: ‚Schrift‘ gehört anders zum Schreibzeug als eine Lampe und ein Fenster und diese Differenzierung kommt in Heideggers Konzeption des Zeugs nicht zum tragen. Darüberhinaus kann man sich fragen, ob die Zeugganzheit, die Heidgger mit dem Schreibzeug verbindet, durch die Erfindung der Tinte und der Lampe nicht deutlich verändert wurde? Das Verständnis der Zeugganzheit kommt in einer anderen Argumentationslinie Heideggers dem Zeug so nah, dass es distanzlos wird und droht, das einzelne Zeug nicht erklären zu können. Wenn Heidegger das ‚um-zu‘ des Hammers erklärt, sagt er nämlich, dass der Hammer zum Hämmern 215 216

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‚Zeug‘, in: Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 830. SuZ, S. 68. Heidegger schreibt später: „Die Zeugverfassung des Zuhandenen wurde als Verweisung angezeigt.“ (SuZ, S. 83) Hier wird erneut deutlich, dass es Heidegger in der Zeuganalyse in erster Linie um das Phänomen der Verweisung geht.

dient, und denkt hier auch nicht daran, was durch das Hämmern geschieht und erzeugt wird. „Das Wozu einer Dienlichkeit und das Wofür einer Verwendbarkeit zeichnen je die mögliche Konkretion der Verweisung vor. Das ‚Zeigen‘ des Zeichens, das ‚Hämmern‘ des Hammers sind aber nicht die Eigenschaften des Seienden. Sie sind überhaupt keine Eigenschaften, wenn dieser Titel die ontologische Struktur einer möglichen Bestimmtheit von Dingen bezeichnen soll […] Die Dienlichkeit (Verweisung) aber als Zeugverfassung ist auch keine Geeignetheit eines Seienden, sondern die seinsmäßige Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es durch Geeignetheiten bestimmt sein kann.“217

Die Dienlichkeit wird hier als Verweisung vorausgesetzt, aber insbesondre muss unsere Aufmerksamkeit sich daran festhalten, dass Heidegger die Geeignetheit des Hammers im Hämmern sieht; das ‚wozu‘ und ‚wofür‘ des Hammers wird als das Hämmern bestimmt. Dies ist natürlich aufklärend von dem Gesichtspunkt aus, dass man mit vielem verschiedenen Zeug hämmern kann – und genau der Hammer zeichnet sich unter anderem Zeug als besonders gut dafür aus. Indessen werden der Hammer und das Hämmern aber nicht entfaltet, denn sie verweisen bloß tautologisch aufeinander. An einer anderen Stelle spricht Heidegger von der Bewandtnis des Zeugs und interpretiert diese in engem Zusammenhang mit dem, worin diese Arbeit die Merkmale des Zeugs erkennt. Aber auch in diesem Kontext ist Heideggers Akzentsetzung von der hier entfalteten prinzipiell verschieden. „In Bewandtnis liegt: bewenden lassen mit etwas bei etwas. Der Bezug des ‚mit…bei…‘ soll durch den Terminus Verweisung angezeigt werden. […] Zum Beispiel mit diesem Zuhandenen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter; dieser ‚ist‘ um-willen des Unterkommens des Daseins, das heißt, um einer Möglichkeit seines Seins willen. […] Das ‚Um-willen‘ betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht. Der angezeigte Zusammenhang, der von der Struktur der Bewandtnis zum Sein des Daseins selbst führt als dem eigentlichen und einzigen Worum-willen, soll fürs erste noch nicht eingehender verfolgt werden.“218

Hier stellt Heidegger fest, dass auch die Bewandtnis des Zeugs zum Verweisungszusammenhang gehört. Selbst wenn Heidegger in dieser Passage auch auf das Hämmern eingeht, ist es gerade charakteristisch für sein Verständnis des Zeugs, dass das Hämmern und der Hammer nur als diskrete Momente des Bewandtnis- und Verweisungszusammenhangs entfaltet werden: Der Hammer ist zum Hämmern, und das Hämmern ist wiederum um etwas anderen willen. Wird das Hämmern für sich genommen als ein losgelöstes 217 218

Vgl. SuZ, S. 83 (kursiviert S.R.). SuZ, S. 84.

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Abstraktum, dann ist es aber sinnlos. Weil es Heidegger in der Entfaltung des Zeugs nicht um das Zeug selbst geht, sondern um seinen Begriff der Welt als einen Verweisungszusammenhang und um das In-der-Welt-Sein des Daseins, kann seine Analyse auch nur mit vielen Missverständnissen zur Folge als ‚Zeuganalyse‘ bezeichnet werden. Heidegger übersieht in seinem Verständnis des Zeugs einerseits gerade das Erzeugen des Zeugs und kommt andererseits dem Gebrauch des Zeugs zu nah.219 Wenn Heidegger den Verweisungszusammenhang des Zeugs entfaltet, spricht er von verschiedenem Zeug: „Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug“220. All dieses Zeug erzeugt aber etwas: Wenn dieses verschiedene Zeug gebraucht wird und überhaupt zu Zeug wird, verändert sich die Welt und Seiendes kommt zum Vorschein. Mit dem Schreibzeug entstehen Schrift und Bilder, mit dem Nähzeug Stoffe und Kleider, mit dem Werkzeug Häuser und Maschinen, mit dem Fahrzeug Beförderung und Wettrennen, mit dem Meßzeug Einrichtungen und Skizzen. Den Gebrauch des Zeugs als eine Erzeugung auszulegen, kann paradigmatisch anhand des ‚Werkzeugs‘ entfaltet werden, dies gilt auch für die Vernichtungsmöglichkeit durch das Zeug, die bloß als negative Erzeugung zu verstehen ist.221 Das bedeutet, dass in gewissem Sinne alles Zeug eine Art von ‚Werkzeug‘ ist, weil es einerseits am Werk sein muss, um Zeug zu sein, und andererseits auf diese Werkerzeugung, als End- oder Zwischenergebnis betrachtet, ausgerichtet ist.222 Wenn Zeug von der Erzeugung her verstanden wird, wird auch ein weiterer Unterschied zwischen dem hier entfalteten Zeugverständnis und dem von Heidegger betonten deutlich. Wie dargestellt worden ist, spricht Heidegger von der ‚Verweisungsganzheit‘ und ‚Bewandtnisganzheit‘, aber wenn der entscheidende Wesenszug des Zeugs darin besteht, die Wirklichkeit zu verändern und eine unrealisierte oder eine bisher verborgene Möglichkeit zu verwirklichen, dann kann nicht unmittelbar von einer ‚Ganzheit‘ gesprochen werden. Aus dieser Betrachtung sehen wir auch, dass Heideggers beide Begriffe ‚Verweisungsganzheit‘ und ‚Bewandtnisganzheit‘ 219

220 221

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Und auch selbst dann, wenn man einwenden würde, dass Heidegger selbst daran gedacht hätte, würde man damit auch auf die These der vorliegenden Arbeit verwiesen. SuZ, S. 68. Demgegenüber fokussiert Heidegger in seiner Analyse auf das ‚Zeigezeug‘ (Vgl. SuZ, S. 78). Selbst die altertümliche Verwendung von Zeug in der Bedeutung von Kleidung stimmt mit dieser Auslegung von Zeug überein, denn Kleidung erzeugt einen Schutz gegen die Kälte, wenn sie gebraucht wird. Heidegger spricht nicht von Kleidung als Zeug, weil dieses Zeug sich nicht unmittelbar in seinen Verweisungszusammenhang einfügt. Von der Mode geschnitten hat dieses Zeug gerade den Charakter des SichZeigens und kann Schönheit erzeugen. In diesem Sinne ist diese Art von Zeug also nicht unmittelbar mit Heideggers Analyse des Verweisungzusammenhangs verständlich zu machen.

prinzipiell aufgehoben werden müssen.223 Durch die Brechung der Ganzheit, die aufgrund des Erzeugens des Zeugs geschieht, werden die Verweisungen des Zeugs, wovon Heidegger spricht, nämlich ungewiss: Sie können ins Offene führen, so wie es laut Heidegger im Bereich der Kunst der Fall ist.224 Die Welt wird aber anhand des hier vorgelegten Verständnisses des Zeugs vielmehr als ein Möglichkeitsraum als eine geschlossene und bestimmte Ganzheit erschlossen. Vor dem Werkzeug gab es keine Häuser, keine Bote und Flugzeuge und auch keine Maschinen und Rechner, die wiederum auch selbst als Werkzeug verstanden werden können. Vor dieser Entwicklung sah die Welt also anders aus und die Verweisungszusammenhänge waren dementsprechend auch andere. Dies lässt sich auch dadurch erkennen, dass der Verweisungszusammenhang zwischen zum Beispiel ‚Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer‘ kontingent ist. Durch die Verweisungszusammenhänge in Heideggers Verständnis des Zeugs wird der Möglichkeitsraum schwierig zu erkennen.225 Dennoch kann dieser Möglichkeitsraum immer noch vom Gestell bestimmt sein.226 Mit Heideggers Einsichten im Bereich des Zeugs als Ausgangspunkt, ist es, wie bereits angedeutet, möglich, ein Verständnis des Zeugs zu entwickeln, das sich dem Paradigma der Lebendigkeit der IXYVL annähert. Wenn nämlich hier das Zeug und die technischen Einrichtungen von der Kategorie der Erzeugung aus entfaltet werden, dann dient ein Begriff aus dem Bereich der Natur entscheidend zum Verständnis des Zeugs. In dieser Optik sieht es aus, als ob das einzelne Zeug in mehrfacher Hinsicht Verwandtschaft mit den Naturdingen aufweist, aber es bleibt dennoch prinzipiell von ihnen verschieden. Das Zeug braucht nämlich immer noch den DMUFLWHYNWZQ, um der Erzeugung und Veränderung der Welt willen. Es kann sich also anhand der bisherigen Interpretation immer noch nicht selbst bewegen und wachsen, wie es für die IXYVL charakteristisch ist. Um diesen Unterschied zu relativieren und die Analogie zwischen den Naturdingen und insbesondere dem modernen Zeug zu radikalisieren, möchten wir in einem letzten Schritt das hier entwickelte Zeugverständnis weiterdenken und phänomenologisch klären.

223 224

225 226

Vgl. SuZ, S. 83ff. Siehe dazu den zweiten Teil der Arbeit. In Heideggers Verständnis des Zeugs kann diese Offenheit sich nur negativ – nämlich im Falle des unzuhandenen (zerstörten) Zeugs – zeigen. (Vgl. SuZ, S. 73f). Siehe auch den dritten Teil der Arbeit. An dieser Stelle wäre auch zu bedenken, dass das Gestell als dasjenige interpretiert werden kann, das überhaupt erst den Menschen dazu veranlasst, Werkzeug zu machen und es für weitere Erzeugung zu verwenden.

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Schauen wir uns ein modernes Ensemble von Zeug an, wie es sich zum Beispiel in einer Fabrik befindet: Bedenkt man zugleich die darin zutage tretende Konzentration und verbindet sie mit Heideggers Verständnis des Zeugs, wonach der Umgang des Menschen auf das Zeug ‚zugeschnitten‘ ist, und berücksichtigen wir gleichzeitig die Tragweite von dem ‚Ruf‘ der vorhandenen Dinge, dann wird es allmählich möglich, eine solche Fabrik aus Maschinen und Mitarbeiten als eine besondere Einheit zu betrachten.227 Diese Einheit nimmt eine Art Eigenleben an, wonach sie, prinzipiell gesehen, in der durch Heideggers IXYVL-Verständnis entwickelten Begrifflichkeit verständlicher gemacht werden kann. Entscheidend ist, dass die Bewegungen einer Fabrik einheitlich und durch die DMUFKY des Zeugkomplexes verstanden werden können, und sich in gewissem Sinne selbst im Gang halten und entfalten. Die Menschen der Fabrik sind vor diesem Hintergrund nur Angestellte, deren Arbeit sich in der Bestellung und Wartung der Maschinen erschöpft, und die Maschinen sind auch nicht als einzelne Geräte zu verstehen, sondern sie sind ‚unselbständig‘ und so aufeinander eingestellt, dass sie einander optimal in Bewegung halten. So bietet eine solche Arbeitshalle einen organischen Anblick: Die Arbeitsgänge der menschlichen und maschinellen Funktionen gehen harmonisch ineinander über und formen eine eigenartige Lebensform, deren ‚Früchte‘ ihre hergestellten Produkte sind.228 Um in Analogie zur Pflanzenwelt zu bleiben, können die Angestellten einer solchen Fabrik mit fleißigen Bienen verglichen werden, die sich um die Reproduktion kümmern; sie bedienen die Maschinen um des Wachstums der Fabrik willen. Produziert diese Fabrik nun auch selbst Produktionsmaschinen, dann könnten die Ma227

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Siehe auch eine andere Passage, wo Heidegger einen ähnlichen Gedanken veranschaulicht: „Wohin wird nun aber z.B. die im Kohlenrevier gestellte Kohle gestellt? Sie wird nicht hingestellt wie der Krug auf den Tisch. Die Kohle wird, gleichwie der Erdboden auf Kohle, ihrerseits gestellt, Dampf zu stellen, dessen Druck das Getriebe treibt, das eine Fabrik in Betrieb hält, die daraufhin gestellt ist, Maschinen zu stellen, die Werkzeuge herstellen, durch die wiederum Maschinen in Stand gestellt und gehalten werden.“ (GA 79, S. 28; kursiviert S.R.). Und diese Werkzeuge und Maschinen können erneut das Kohlenrevier auf Kohleproduktion stellen. Vgl. Karl Marxs Beschreibungen des Fabriksystems: „Ein System der Maschinerie, beruhe es nun auf bloßer Kooperation gleiartiger Arbeitsmaschinen, wie in der Weberei, oder auf einer Kombination verschiedenartiger, wie in der Spinnerei, bildet an und für sich einen großen Automaten, sobald es von einem sich selbst bewegenden ersten Motor getrieben wird“. Marx, Karl: „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“, in: Marx und Engels Werke, Berlin 1972, hier Band 23-25, Band. 23, S. 401f. Und „Als gegliedertes System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung nur vermittels der Transmissionsmaschinerie von einem zentralen Automaten empfangen, besitzt der Machinenbetrieb seine entwickelste Gestalt. An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierliche gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht“ Ibid. S. 402.

schinen sich auch selbst reproduzieren und wachsen.229 Geht man einen letzten Schritt weiter und lässt in einem Gedankenexperiment Maschinen entstehen, deren Funktion genau so definiert ist, wie die der Menschen in dieser Fabrik, dann hat man eine Einheit, worin das verschiedene Zeug sich durch den Kreislauf, in dem es sich bewegt, sich auch in gewissem Sinne belebt beziehungsweise sich in ständiger Bewegung hält.230 Unmittelbar könnte man gegen diese Auslegung einwenden, dass das einzelne Zeug in dieser Fabrik nicht lebendig ist, denn es wird auch hier von anderem Zeug gelenkt und bewegt. Das Zeug bringt nicht Zeug aus sich selbst hervor. Das jeweilige Zeug kann sich also immer noch nicht selbst bewegen. Dies scheint einerseits ein legitimer Einwand zu sein, andererseits gibt dieser Einwand gerade Anlass zu der Klärung, was sich durch verschiedene phänomenologische Beschreibungsebenen erschließen lässt. So wie ein Teil einer Pflanze, zum Beispiel ein Blatt, auch nur als Teil einer bestimmten Pflanze lebt, lebt auch ein Teil einer Fabrik, zum Beispiel ein Zeug, auch nur als Teil dieser Fabrik und wird erst dadurch, was es ist. Dieser Einwand gegen die Selbstbewegung des einzelnen Zeugs kann also nicht als Kriterium gelten, um das ‚Fabrikleben des Zeugkomplexes‘ auszuschließen. Das einzelne Zeug lebt nicht für sich allein gemäß der IXYVL – aber das Phänomen der Selbstbewegung und des Wachstums und die daraus folgenden Grundbegriffe können wir auch anhand des Fabriksystems als Ensemble von Maschinen und Geräten erkennen. Ins Anschaulichere gewendet: Die ganze Einrichtung der Fabrik mit Maschinen und Menschen kann in ihrer Einheit als ein in sich gegliedertes Zeug – als eine Riesenmaschine oder als Biotechnologie beschrieben werden, wodurch deutlich wird, dass der erwähnte Einspruch letztlich nicht entscheidend ist, denn Zeugsysteme können unter Umständen sich selbst bewegen und dadurch die Eigenschaften besitzen, die Aristoteles und Heidegger allein der IXYVL vorbehalten haben.231

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Vgl. „Die große Industrie musste sich also ihres charakteristischen Produktionsmittels, der Maschine selbst, bemächtigen und Maschinen durch Maschinen produzieren.“ Ibid, S. 405. Vgl. auch: „Wenn wir den technischen Arbeitsvorgang betrachten, dann fällt eines vor allem an ihm auf, der wachsende Automatismus, dem er unterworfen wird. Technischer Fortschritt ist gleichbedeutend mit einer Vermehrung der Automaten aller Art. Die Fabrik selbst wird zum Automaten, wenn der gesamte Arbeitsvorgang, an dessen Ende das technische Produkt steht, durch einen selbsttätigen Mechanismus verrichtet und mit mechanischer Gleichförmigkeit wiederholt wird. Der Arbeiter greift mit der Hand nicht mehr in die Arbeit des Automaten ein, er kontrolliert als Mechaniker seine automatische Funktion.“ Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 1953, S. 38. Siehe auch: „Der Verlauf dieses Vorganges [die Bildung von einer Werkstättenlandschaft] erfordert bei wachsender Perfektion der Mittel eine immer engere Verschmelzung der organischen und mechanischen Kräfte – eine Verschmelzung, die wir als

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Weiter kann jedoch kritisch nachgefragt werden, woher die Energie für diese Einrichtung kommt. Mit dieser Nachfrage ist das ganze Leben dieser technischen Selbstbewegung in paralleler Weise zum Einwand gegen das Eigenleben des einzelnen Zeugs gefährdet. Denn erhält die ganze Einrichtung die Energie von außen, dann ist die Energie gleich dem außenstehenden DMUFLWHYNWZQ zu verstehen, der das Zeug bewegt. Als solche wäre auch die Einheit der Fabrik nicht in Übereinstimmung mit dem Begriff der IXYVL als eine selbstbewegte Einheit zu begreifen. Dieser Einwand kann im Prinzip nicht umgangen werden, und die Bewegung der technischen Einrichtung der Fabrik droht nun, sich von der Selbstbewegung der IXYVL grundsätzlich abzuspalten. Selbst wenn die Maschinen der Fabrik auch Energie produzieren würden und sich dadurch selbst unmittelbar reproduzieren würden, kommt diese Energie letzten Endes auch von außerhalb der Fabrik wie zum Beispiel durch die Umformung von Kohle. An diesen Einwand lässt sich jedoch die Rückfrage stellen, woher die Pflanze ihre Energie erhält. Kann die Pflanze ihre eigene Energie produzieren und in diesem Sinne selbstbewegend sein? Ganz im Gegenteil: Die Pflanze ist so wie das beschriebene System der Technik auch auf die Energie der Sonne und die Nahrung der Erde angewiesen. Oder anders gesagt: Aus Samen allein entsteht gar nichts. Es ist der Samen-in-der-Erde-und-unterder-Sonne, der ‚sich‘ bewegt. Die Selbstbewegung einer Pflanze, von der Heidegger mit Aristoteles spricht, ist ermöglicht durch die Fähigkeit, Energie aus der Umwelt zu entnehmen beziehungsweise dafür rezeptiv zu sein und diese Energie in ihre eigene Bahn zu lenken und für eigene Zwecke zu nutzen. Die Pflanze ‚fordert‘ in Analogie zu den technischen Einrichtungen ihre Umgebung auf Energie ‚heraus‘. Mit anderen Worten weicht die IXYVHLR?QWD hinsichtlich dieser Energiezufuhr von der hier entfalteten komplexen Maschine der Fabrik prinzipiell nicht ab, sondern beide werden dadurch ihrem Wesen nach noch näher zusammengeführt.232 Die IXYVHLR?QWD und damit die Pflanzen sind also in diesem Sinne von den Umgebungen abhängig, aber sind auch in ihrer jeweiligen Entfaltung nicht selbst-bestimmend, wie Heidegger in seiner Analyse des aristotelischen Textes hervorhebt. Die DMUFKY der Naturdinge ist also nicht als absolut immanent zu verstehen. Heidegger schreibt: „Die IXYVL ist nicht nur überhaupt die ausgängliche Verfügung [DMUFKY] über die Bewegtheit eines Bewegten, sondern sie gehört zu diesem Bewegten selbst, so daß dieses an ihm selbst von ihm aus und auf es zu über seine Be-

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organische Konstruktion bezeichneten.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 219; kursiviert S.R.). Dadurch sehen wir auch, dass die Natur im selben Sinne wie das Gestell gefährlich ist.

wegtheit verfügt. Die DMUFKY ist also nicht dgl. wie der Ausgangspunkt eines Stoßes, der dann das Gestoßene wegstößt und ihm selbst überläßt, sondern was dergestalt durch die IXYVL bestimmt ist, bleibt in seiner Bewegtheit nicht nur bei ihm selbst, sondern es geht, indem es gemäß der Bewegtheit (des Umschlagens) sich entbreitet, gerade in es selbst zurück. Den hier gemeinten Wesensbestand können wir uns verdeutlichen an den ‚Gewächsen‘ im engeren Sinne (den ‚Pflanzen‘): indem die Pflanze sprießt, aufgeht und sich ins Offene entbreitet, geht sie zugleich in ihre Wurzel zurück, indem sie diese im Verschlossenen festmacht und so ihren Stand nimmt. Das sich entfaltende Aufgehen ist an sich ein In-sich-zurückgehen; diese Art der Wesung ist IXYVL.“233

Hier sagt Heidegger, dass die Pflanze ihr eigenes Wachstum beginnt und selbst darüber herrscht, aber diese Aussage verstellt das Wesen der Pflanze, wodurch Heidegger sie von den technischen Einrichtungen abzugrenzen versucht. Jede Pflanze wächst nämlich gemäß des Bauplans, der dem Vorgriff der Gattung auf die jeweilige Pflanze eigen ist. Die einzelne Pflanze ist so bereits vor ihrem jeweiligen Wachstum, in ihrer Entfaltung bestimmt und auf ein besonderes Wachstum aufgestellt. Die jeweilige Pflanze hat genauso wenig, beziehungsweise im selben Sinne, ‚den herrschenden Anfang‘ ihrer Bewegung, oder der DMUFKY in sich, wie die Technik der Fabrik es hat: Die Pflanze ist auf Wachstum gestellt, das heißt, sie muss wachsen oder vergehen.234 Das Gestell beziehungsweise die Natur sind dabei die jeweils verschiedenen herrschenden Anfänge dieser Einheiten. Heideggers Analyse der Naturdinge kann nur zu diesen Ergebnissen kommen, weil er keine systematische Unterscheidung zwischen der IXYVHLR?QWD und der IXYVL macht. Heidegger verdeutlicht also nicht, was das besonders Seiende an den IXYVHLR?QWD ist, sondern erklärt nur die IXYVL. Die IXYVL verhält sich nämlich zu der IXYVHLR?QWD so wie das Gestell sich zu Konstellationen von technischem Zeug und Menschen im Zeitalter seiner Herrschaft verhält. Das Gestell ist gerade das, was laut Heidegger im Zeitalter seiner Herrschaft in den technischen Komplexen und den Menschen in ihnen waltet, ihre Zusammenarbeit bestimmt und Ausrichtung definiert. Das Gestell enthält den Bauplan von den menschlichen und technischen Einrichtungen im Zeitalter seiner Gewalt, so wie die Natur auch die Naturdinge im voraus definiert. Dass Heidegger die IXYVL von der IXYVHLR?QWD nicht klar unterscheidet, wird auch dadurch deutlich, dass er die IXYVL als die anfängliche Verfügung 233 234

WM, S. 254. Wenn man behaupten würde, dass ein Fabrik eine besondere WHYOR hat, während dies nicht für die Naturdinge gilt. Dann müsste gleichzeitig bestimmt werden, in welchem Sinne sich Plantagen, Felder und das Wachstum von Obstbäumen der Instrumentalisierung entziehen. Und andererseits müsste nachgewiesen werden, inwiefern eine automatisierte Fabrik nicht die völlige Automatisierung erstrebt, als vielmehr das mehr oder weniger zufällige Produkt, das sie produziert.

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über die Bewegtheit eines Bewegten, das heißt der IXYVHLR?QWD, bestimmt, wodurch er eigentlich die Herrschaft der Natur über die Naturdinge betont. Im selben Satz sagt er jedoch auch, dass die IXYVL zu den IXYVHLR?QWDselbst gehört, „so daß dieses [das Bewegte] an ihm selbst von ihm aus und auf es zu über seine Bewegtheit verfügt.“235 Das heißt, dass die IXYVL als DMUFKY der IXYVHLR?QWD in dem Sinne zu verstehen ist, dass die IXYVHLR?QWD ihre eigene DMUFKY sind. Diese Konfusion der Begrifflichkeit wird dadurch bestätigt, dass Heidegger gerade versucht, den ‚Wesensbestand‘, das heißt das Wesen der IXYVL, anhand einer Pflanze zu verdeutlichen. Mit anderen Worten: Heidegger versucht die IXYVL der IXYVHLR?QWD isoliert zu betrachten und das Ergebnis unmittelbar als eine Bestimmung der IXYVHLR?QWDzu positionieren. So ist Heideggers Analyse der Technik und der Pflanzen in dem Sinne asymmetrisch, als er zumeist die Pflanzen ihrem Wesen gleichsetzt, und also hier keine Differenz zwischen diesem Seienden und seinem Wesen sieht, während er die Technik von ihrem Wesen abgrenzt und sie starr und bewegungslos macht.236 Dabei könnten wir die Bewegung der Pflanze genauso gut auch anders interpretieren: Die Pflanze ist in ihrer Bewegung als IXYVHLR?QWD zu verstehen, weil sie sich nicht von alleine bewegt, sondern im Zusammenhang mit ihrer Umwelt, das heißt durch die IXYVL auf Bewegung gestellt ist, und sie als sich bewegendes Seiende damit auch nur aus dem sie übergreifenden Zusammenhang der IXYVL, der Bewegung, zu verstehen ist. Man muss nur die Gleichförmigkeit der Bewegung von Pflanzen sehen, um zu begreifen, dass sie nicht je für sich Herr ihrer eigenen Bewegung sind, sondern auf subtile Art durch die IXYVL gelenkt werden. Zusammenfassend können wir jetzt sagen, dass, wenn die Technik eine besondere Konzentration erreicht hat, wenn das verschiedene Zeug so aufeinander eingestellt ist, dass es sich gegenzeitig reproduzieren und steigern kann und damit kreislaufmäßig einander zu erzeugen vermag, wir dann auch technische Systeme analog zu den Naturdingen verstehen können. Dadurch bilden sich unterschiedlich ausgedehnte und relativ selbständige Einheiten, die ihrem Wesen nach als lebendig erfasst werden können, wenn ‚lebendig‘ von der ‚Selbstbewegung‘ her verstanden wird.237 Um diese leben235

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WM, S. 254. Das ‚Bewegte‘ verfügt aber nicht darüber, denn, wie bereits gesagt, ist es auf Wachstum hin angelegt. Dabei beginnt Heidegger „Die Frage nach der Technik“ mit einer symmetrischen Vorstellung der Technik und der IXYVHLR?QWD: „Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, dass jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen lässt.“ (VA, S. 9). Siehe auch: ”Late twentieth-century machines have made thoroughly ambigous the difference between natural and artificial, mind and body, self-developing and exter-

digen Einheiten zu sehen, sind aber gewisse Distanzen und Wechsel von Perspektiven nötig. Solche Einheiten können beispielsweise eine Fabrik ausmachen, aber auch einen größeren und anschaulicheren Zusammenhang – nämlich die Einheit von Fabriken, Infrastruktur und ‚Wohnzeug‘ einer modernen Metropole. Die ganze Metaphorik, die gebraucht wird, um solche Städte zu beschreiben, spiegelt auch ihre Lebendigkeit wieder. Wenn eine Metropole blüht, dann wächst sie und die Menschen darin gedeihen.238 Jedes ‚Atom‘ in dieser Einrichtung ist mobilisiert und bewegt sich, um den Stoffwechsel der Stadt im Gang zu halten. Durch diese Selbstbewegung entsteht auch das eigentümliche Werden im Vergehen, das Heidegger mit Aristoteles als VWHYUKVL beschrieben hat.239 Solche Städte leben in Analogie zu den Pflanzen und können dementsprechend auch verwesen und sterben; wenn sie nämlich schrumpfen, dann vergehen ihre Synenergien – Quartiere verkommen, Menschen verlassen die Stadt. Der Lebenslauf einer solchen Stadt ist jedoch anders als der einer Pflanze – er folgt einem anderen Geschick und hat einen anderen Kreislauf – und wird somit erst durch übergreifende geschichtliche Einstellungen sichtbar.240 Das Leben und Wachstum einer solchen Stadt, die ‚Urbanisierung‘, können auch von einer anderen Perspektive aus beschrieben werden, nämlich von einer solchen, aus der die Entfaltung oder die Schematisierung des Gestells widergespiegelt wird. Von dieser Perspektive aus kann die Wirklichkeit des Gestells vorausgesetzt werden, und danach kann untersucht werden, wie die Urbanisierung sich dem Gestell entsprechend entwickelt, während wir vorher von einer Analyse des Zeugs ausgegangen und von da auf die Leben-

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239 240

nally designed, and many other distinctions that used to apply to organisms and machines.” Haraway, Donna J: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York, 1991, S. 163 . Siehe auch E. Jüngers Beschreibung einer Großstadt: „Das Verkehrswesen, die Versorgung mit den elementarsten Bedürfnissen, wie Feuer, Wasser und Licht, ein entwickeltes Kreditsystem und viele andere Dinge, von denen noch gesprochen werden wird, gleichen dünnen Strängen, freiliegenden Adern, mit denen der amorphe Körper der Masse auf Tod und Leben verbunden ist.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 116f). WM, S. 294f. Siehe auch: „Stellen wir uns nun diese Stadt aus einer Entfernung vor, die größer ist, als wir sie bis jetzt mit unseren Mitteln zu erreichen vermögen – etwa so, als ob sie von der Oberfläche des Mondes aus teleskopisch zu betrachten sei. Auf eine so große Entfernung schmilzt die Verschiedenheit der Ziele und Zwecke ineinander ein. Die Anteilnahme des Betrachtenden wird irgendwie kälter und brennender zugleich, auf jeden Fall aber anders als die Beziehung, die der Einzelne dort unten als Teil zum Ganzen besitzt. Was vielleicht gesehen wird, ist das Bild einer besonderen Struktur, von der aus mannigfaltigen Anzeichen zu erraten ist, daß sie sich aus den Säften eines großen Lebens ernährt. Der Gedanke an ihre Differenzierung liegt hier ebenso fern, wie es dem Einzelnen gemeinhin fern liegt, sich mikroskopisch, das heißt: als eine Summe von Zellen zu sehen.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 65).

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digkeit größerer Einheiten gekommen sind. Der Gedanke von der Herrschaft des Gestells bedeutet, dass der Mensch nicht Herr seiner selbst ist, sondern von der Herrschaft des Gestells geleitet wird. Das Gestell als das Wesen der Technik waltet auch durch alles Technische, das in seiner Gewalt ist, definiert seine Bewandtnis, die Verweisungszusammenhänge; und in diesem Sinne kann das Gestell laut Heidegger auch mit den Menschen verfahren. Unter der Herrschaft des Gestells ist der Mensch selbst zu einem komplizierten Automaten geworden, wie kompliziert auch immer, dessen Zentrum und herrschender Anfang, DMUFKY, zu einer höheren Einheit gehören: Das Geschick des Gestells. Von dieser Perspektive aus kann auch eine Stadt als lebendig gedacht werden, weil ihre Glieder, und dies bedeutet unter anderem auch ihre Einwohner, integriert und unablösbar von der Einheit der Stadt leben und nur im Rahmen dieser Einheit verständlich werden. Funktion, Tagesabläufe und das Leben der Metropole haben den Sinn, die Einrichtungen dieser Einheit zu erwickeln, miteinander zu verbinden und von daher möglichst viele Ressourcen zugänglich zu machen. Dies ist ein Wesenszug der Urbanisierung unter der Herrschaft des Gestells. Von dem Gedanken des Gestells aus lässt sich also auch auf Einheiten schließen, die in Analogie zu den Pflanzen lebendig sind.241 Schließlich können wir also sagen, dass es nicht das einzelne einfache Zeug ist, das sich selbst bewegt; vielmehr sind es Einheiten technischer Systeme, die als selbstbewegend und daher als lebendig interpretiert werden können. Durch diese Interpretation kann die autonome Dynamik des Gestells besser nachvollzogen und seine Herrschaft anschaulicher illustriert werden. Das einfache Zeug unterscheidet sich also von den IXYVHLR?QWD, aber im Verlauf der Untersuchung haben sich ständig neue Gemeinsamkeiten zwischen dem Begriff des Gestells und dem Begriff der IXYVL offenbart. Im nächsten Abschnitt werden wir den Hintergrund von Heideggers Begriff des Gestells genauer untersuchen, damit wir besser verstehen können, warum es diese Übereinstimmung von Merkmalen zwischen dem Begriff der IXYVL und dem Gestell gibt.

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Hier ist bemerkenswert, dass das Walten des Gestells also nicht bloß mit der Moderne zu verbinden ist; dies werden wir ausführlicher im nächsten Kapitel und im letzten Teil der Arbeit entwickeln.

Drittes Kapitel

Zum Verständnis des Wesens A Heideggers Begriff des Wesens Heidegger entfaltet das Wesen der modernen Technik anhand des Begriffs des Gestells. In den vorausgegangenen Kapiteln wurde gezeigt, inwiefern Heideggers Auslegung des Gestells in Analogie zur Heideggers Aneignung des griechischen Begriffs der IXYVL verstanden werden kann. Als lebendig zeigt sich die wesentlich autonome Selbstentfaltung des Gestells deutlicher und wir erhalten so eine Reihe andrer Begriffe, um das Gestell zu verstehen. Als lebendig wird auch das herausfordernde Streben des Gestells einsichtig. Zudem wird in dieser Analogie zur IXYVL der Kreislauf von Bestellen und Bestellbarem und das ständige Wachstum der technischen Einrichtungen verständlich. In den drei nachfolgenden Abschnitten wird der umfassendere Zusammenhang entwickelt, in dem Heideggers Untersuchung des Gestells eine entscheidende Rolle spielt. In diesen Abschnitten soll drei Fragen in unterschiedlicher Weise nachgegangen werden: Was heißt es, dass die moderne Technik laut Heidegger überhaupt ein Wesen hat? Wie ist dieses Wesen als Wesen zu verstehen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Verständnis von Heideggers Ontologie? Die Erörterung dieser Fragen soll die These von der Lebendigkeit des Gestells ergänzen und den Horizont der Heideggerschen Interpretation der modernen Technik in einen umfassenderen Zusammenhang einordnen. Dieser teilweise verborgene und teilweise durch Analogie vorgebrachte Hintergrund der Heideggerschen Konzeption der modernen Technik soll nun in den Blick gefasst werden. In „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Alles Wesende, nicht nur das der modernen Technik, hält sich überall am längsten verborgen. Gleichwohl bleibt es im Hinblick auf sein Walten solches, was allem voraufgeht: das Früheste. Davon wußten schon die griechischen Denker, wenn sie sagten: Jenes, was hinsichtlich des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfängliche Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergessenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“242

242

VA, S. 26 (kursiviert S.R.).

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Das Wesen einer Sache wird zumeist nachträglich verstanden, weil es sich gerade in das ‚waltende Aufgehen‘ der jeweiligen Sache zurückzieht, so wie eine Pflanze und technische Einrichtungen wahrgenommen werden, bevor die IXYVL und das Gestell verstanden werden.243 Wenn aber das Wesen des Seienden schwierig zu begreifen ist, weil es sich gleichzeitig zeigt und zurückzieht, dann muss es noch schwieriger sein, das Wesentliche am Wesen oder das Wesen des Wesens zu begreifen. Um das Wesen in seinem Wesen zu sehen, können uns keine Erscheinung und kein Seiendes direkt helfen, sondern dieses Wesen zeigt sich gerade durch das mehr oder weniger mitthematisierte Vorverständnis von Heideggers Suche nach dem Wesen. Er versteht das Wesen im Zusammenhang mit dem ‚waltenden Aufgehen‘ – einem Phänomen, worin das IXYVL-Verständnis Heideggers schon erkennbar mitspielt. Um Heideggers Begriff des Wesens zu verstehen, ist das Verständnis davon wichtig, dass es nicht dem Begriff der Gattung entspringt. Dem Begriff der Gattung liegt nämlich ein substantieller Kern zugrunde, der unveränderlich ist und für alle Erscheinungen gemeinsam gilt.244 Das von der Gattung aus verstandene Wesen ist nicht dynamisch erfasst, sondern entspricht dem, „was etwas ist“;245 es kann auf die Bedeutung des lateinischen Begriffs der essentia zurückgeführt werden. Heidegger schreibt über das so verstandene Wesen: „Das Wesen gibt sich im Gattungs- und Allgemeinbegriff, der das Eine vorstellt, das für Vieles gleich gilt. Dieses gleich-giltige Wesen (die Wesenheit im Sinne der essentia) ist aber nur das unwesentliche Wesen.“246 Das aus dem Geschehnis des ‚waltenden Aufgehens‘ gedachte Wesen scheint für Heidegger geradezu als Gegensatz zum ‚Was-sein‘ einer Gattung bestimmt. Anstatt sich am Begriff der Gattung zu orientieren, wendet sich Heidegger in seiner Auslegung des Wesens an das verbal verstandene ‚Wesen‘. Als Ausgangs- und Anhaltspunkt dieser Auslegung hebt er in „Die Frage nach der Technik“ die zwei Begriffe ‚Hauswesen‘ und ‚Staatswesen‘ hervor: „Schon wenn wir ‚Hauswesen‘ oder ‚Staatswesen‘ sagen, meinen wir nicht das Allgemeine einer Gattung, sondern die Weise, wie Haus und Staat walten, sich verwalten, entfalten und verfallen.“247 In diesen zwei Begriffen deutet sich der Sinn seines Wesensverständnisses an, und aus den Begriffen ‚entfalten und verfallen‘ zeigt sich wiederum 243 244 245

246 247

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Siehe auch WM, S. 263. Vgl. VA, 33. VA, S. 9. Siehe auch: „In der Schulsprache der Philosophie heißt ‚Wesen‘ jenes, was etwas ist, lateinisch: quid. Die quidditas, die Washeit gibt Antwort auf die Frage nach dem Wesen. Was z.B. allen Arten von Bäumen, der Eiche, Buche, Birke, Tanne, zukommt, ist das Baumhafte. Unter dieses als die allgemeine Gattung, das ‚Universale‘, fallen die wirklichen und möglichen Bäume.“ (VA, S. 33). Holzw, S. 37. VA, S. 34.

die Analogie zur IXYVL. Mit dem Hauswesen und Staatswesen ist die Gattung weder des Hauses noch des Staates gemeint; dass ‚Hauswesen‘ jedoch bedeuten soll, wie ein Haus ‚waltet, sich verwaltet, entfaltet und verfällt‘, entspricht nicht unmittelbar der tradierten Wortbedeutung. Im Grimmschen Wörterbuch, das Heidegger für seine Arbeit oft verwendet hat, ist eine andere Bedeutung zu lesen: Unter ‚Hauswesen‘ steht unter anderem, dass es in ‚ordentlicher Hauszucht‘ und ‚res domestica‘ besteht.248 In der heutigen Bedeutung des Wortes spiegelt sich diese Bedeutung noch wider. Hauswesen bedeutet: „Gesamtheit dessen, was mit der Führung u. Organisation eines Haushalts, der Hauswirtschaft zusammenhängt.“249 Die reflexive Auslegung des Hauswesens, wonach das Hauswesen laut Heidegger sich in der Selbstverwaltung und im Verfall seines selbst zeigt, ist also von dem hier angesprochenen ‚Hauswesen‘ zunächst zu unterscheiden. Der Begriff des Hauswesens hat nämlich in dieser Bedeutung, wie gerade erläutert, mit der menschlichen Führung und Organisation eines Haushalts zu tun. Selbst wenn Heideggers Interpretation des ‚Hauswesens‘ nicht unmittelbar der alltäglichen Bedeutung entspringt, dann geht doch der dynamische Aspekt des Wesens, den Heidegger hervorhebt, auch aus den Begriffen der ‚Führung‘ und ‚Organisation‘ deutlich hervor. ‚Führung‘ und ‚Organisation‘ bezeichnen in den angeführten Definitionen aber nicht, wie das Haus ‚sich verwaltet‘, sondern gewissermaßen wie sich die Menschen in dem Haus verhalten. An dieser Stelle möchten wir das ‚Hauswesen‘ aber genauer untersuchen, denn indirekt kann aus Heideggers Interpretation eine Bestätigung nicht nur für die Gewalt des Gestells, sondern auch für die Analogie zwischen den IXYVHLR?QWD und den technischen Einrichtungen gesehen werden. Anhand des Begriffs des Hauswesens lässt sich nämlich nicht nur der Heideggersche Begriff des Wesens besser verstehen, sondern auch Heideggers Auslegung der Technik. Schon in Sein und Zeit legt Heidegger das Haus im Gebiet der Technik aus, indem er es in seine Analyse des Zeugs miteinbezieht und hier vom Begriff des ‚Wohnzeugs‘ spricht.250 Aus dem Zusammenhang ergibt sich also, dass auch für Heidegger ein Zeug, nämlich dasjenige eines Hauses, ‚sich verwalten, entfalten und verfallen‘ kann. Es besteht also in diesem Sinne ein Zusammenhang zwischen dem Begriff des Wesens und der Technik auf der einen Seite und dem Phänomen des ‚Sich-Entfaltens‘, das wir traditionell mit der IXYVL verbinden, auf der anderen Seite. Gehen wir einen Schritt weiter und versuchen, beiden Bedeutungen des Hauswesens gerecht zu werden – derjenigen des Hauswesens als Organisation eines Haushaltes und der Heideggerschen, wonach Hauswesen ‚sich 248 249

250

Vgl. ‚Hauswesen‘, in: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Leipzig 1877, S. 697. Vgl. ‚Hauswesen‘, in: Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1999, Bd. 4, S. 1702. SuZ, S. 68.

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verwalten, entfalten und verfallen‘ kann –, dann erschließt sich ein konkretes alltägliches Phänomen, das analog zu der Herrschaft des Gestells verstanden werden kann. Denn laut Heidegger kann ‚die Organisation des Hauses‘ als genitivus subjectivus ausgelegt werden. Dementsprechend ‚west‘ dieses Wohnzeug, indem es die Bewohner in einer bestimmten Weise prägt und herausfordert. Das Wohnzeug fordert die Bewohner heraus, ihr Leben auf eine besondere Art und Weise einzurichten und Ressourcen sicherzustellen. Gleichzeitig prägt das Hauswesen auch das Selbstverständnis seiner Bewohner. Während sie glauben, dass sie den Haushalt führen und das Haus als ‚neutral‘ einschätzen, werden sie vielmehr umgekehrt vom Wohnzeug gelenkt. Anders formuliert, der Mensch kann zwar Zeug herstellen, aber das Zeug ist nicht als neutral zu verstehen, sondern es bestimmt auch umgekehrt das Leben des Menschen, indem das Zeug ihn lenken und führen kann.251 Das Haus gehört für Heidegger zum Bereich der Technik und kann ‚sich selbst entfalten‘. Heidegger gesteht mit seinem Verständnis des ‚Hauswesens‘ also der Technik indirekt eine Art Lebendigkeit zu. Darüber hinaus ist das Haus ein Beispiel von einer technischen Einrichtung, die auch das Leben der Menschen in einer besonderen Weise entfaltet und bestimmt, und die der Herrschaft des Gestells ähnelt, so dass wir sagen können, dass der Mensch im Wohnzeug ein besonderes Leben führt. Nur muss in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden, dass das Haus nicht ein modernes Geschöpf ist, sondern bereits auch in der Antike ‚gewest‘ hat. Dies soll aber hier nur am Rande angemerkt werden, denn auf die Genealogie der modernen Technik wird im dritten Teil der Arbeit ausführlicher eingegangen werden. In seiner weiteren Entfaltung des Begriffs des Wesens verweist Heidegger auf die Verwendung des außergewöhnlichen Wortes ‚die Weserei‘ bei dem deutschen Dichter J.P. Hebel.252 Durch diesen Verweis wird der Bezug zum Haus als Erklärungsmodell des Wesens bestätigt, aber zugleich kommt auch eine andere Seite der Heideggerschen Interpretation des Wesens deutlich zum Vorschein. Heidegger schreibt über ‚die Weserei‘: „Es bedeutet das Rathaus, insofern sich dort das Gemeindeleben versammelt und das dörfliche Dasein im Spiel bleibt, d.h. west.“253 Mit diesem Rekurs auf Hebel bringt Heidegger ausdrücklich die Begriffe von Leben und Wesen zusammen – denn Wesen gehört hier mit der ‚Sammlung‘ des ‚Lebens‘ zusammen. Vor diesem Hintergrund und mit Hinweis darauf, dass Heidegger das Wesen vom Verbum ‚wesen‘ versteht, das er anhand des Haus- und Staatswesens auf die Weise auslegt, wonach etwas ‚sich verwaltet, entfaltet und verfällt‘, 251 252 253

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Analog ließe sich auch der Begriff des ‚Staatswesens‘ entfalten. Vgl. VA, S. 34. VA, S. 34.

soll hier unsere Interpretation vorläufig zusammenfasst werden: Wie etwas in Heideggers Terminologie ‚west‘, heißt in unserer Interpretation sein Lebensmodus und umgekehrt. Mit diesem Verständnis des Wesens kann auch rückblickend gesehen werden, dass das Gestell von Anfang an, nämlich wegen Heideggers Interpretation des Wesens, als lebendig ausgelegt werden müsste. Denn auch, aber nicht nur, im Gestell west das Wesen. Mit anderen Worten: Heideggers Analyse der modernen Technik entblößt ihr Wesen und zeigt schließlich, wie das Gestell lebt.254 Die von Heidegger behauptete Gefahr und Rettung sind in unserer Interpretation, wie wir genauer sehen werden, zunächst nicht von der Technik aus zu verstehen, sondern von Heideggers Begriff des ‚Wesens‘ überhaupt. Wie passt nun diese Zuspitzung der Heideggerschen Auslegung des Begriffs des Wesen zu seiner Betonung vom Wesen als ‚Währen‘?255 Wenn das Wesen als das Veränderliche, das sich Bewegende, ausgelegt wird, wie kann es dann währen? Heideggers Antwort auf diese Frage lässt sich aus dem folgenden Satz heraus interpretieren: „Vom Zeitwort ‚wesen‘ stammt erst das Hauptwort ab. ‚Wesen‘, verbal verstanden, ist dasselbe wie ‚währen‘; nicht nur bedeutungsmäßig, sondern auch in der lautlichen Wortbildung.“256 Das könnte zunächst heißen, dass das Wesen das Unveränderliche ist, was durch die Veränderung hindurch dasselbe bleibt. Damit wäre das Wesen nicht lebendig, sondern starr und würde wiederum eine Verwandtschaft mit dem lateinischen Begriff der essentia aufweisen. Dies kann also nicht gemeint sein, und zudem betont Heidegger, dass das Wesen damit ein ‚mythisches Abstraktum‘ wäre, das als solches über den Erscheinungen schweben würde.257 Wird dagegen eingesehen, dass das Wesen mit Bezug auf ‚wesen‘ und ‚währen‘ im Horizont der Zeit ausgelegt wird, dann erhalten wir das umgekehrte Ergebnis: Das Wesen ist von der Zeit bedingt, indem es nur durch die Zeit zum Vorschein kommen kann. Aus dieser Interpretation gewinnt das Wesen seinen Geschehenscharakter zurück. Das Wesen würde sich somit zu den Erscheinungen verhalten wie die IXYVL zur Pflanze: Durch jede Metamorphose der Pflanze hindurch zeigt sich etwas, das nicht unmittelbar mit der Pflanze identisch ist, sich aber auch nicht losgelöst von ihren Veränderungen zeigen könnte und als solche nicht ohne diese Veränderungen wirklich wäre. Anders ausgedrückt macht es die IXYVL möglich, von derselben Pflanze zu sprechen, selbst wenn sie vollkommen anders erscheint 254

255 256 257

Für das anfängliche Denken, das die Wahrheit des Wesens versteht, heißt der Grundsatz für Heidegger: „Alles Wesen ist Wesung.“ (GA 65, S. 66). Vgl. VA, 34f. VA, S. 34. Vgl. VA, S. 35. Inwiefern Heideggers Begriff des ‚Seins‘ auch als ein ‚mythisches Abstraktum‘ verstanden werden muss, wenn die ontologische Differenz verabsolutiert wird, werden wir später genauer untersuchen.

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– die IXYVL kann die Knospe mit der Blüte und die Blüte mit der Frucht verbinden. So gesehen bedeutet das Wesen eine Möglichkeitsfülle statt eines unveränderlichen Kerns. In einer Passage aus seinen Nietzsche-Vorlesungen fasst Heidegger den so verstandenen Begriff des Wesens zusammen, indem er ihn wieder mit dem Wesen als Allgemeines kontrastiert: „Aber was sich in der Verwandlung durchhält, ist das Unwandelbare des Wesens, das west in der Wandlung. Damit ist die Wesentlichkeit des Wesens, seine Unerschöpflichkeit bejaht und damit seine echte Selbstheit und Selbigkeit, im scharfen Gegensatz zu der leeren Selbigkeit des Einerlei, als welche allein die Einheit des Wesens gedacht werden kann, solange dieses nur immer als das Allgemeine genommen wird.“258 Das Währen des Wesens schließt also Veränderung nicht aus. Zur Präzision des Begriffs des Wesens verweist Heidegger auf den Begriff des Geschicks des Entbergens: „Wie die Technik west, läßt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin sich das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet.“259 Mit Betonung des Geschicks der Entbergung kann Heidegger das Währen mit dem Gewähren verbinden. Erst durch das Entbergungsgeschehen wird das Seiende zugänglich – durch das Entbergen zeigt es sich als das, was es ist, und wird in ein bestimmtes Geschick eingebunden; also ‚gewährt‘ das Entbergungsgeschehen eine besondere Ausrichtung des Seienden. Das scheint, so Heidegger, für die Entbergung des Gestells zunächst kontraintuitiv: „Herausfordern ist alles andere, nur kein Gewähren. So sieht es aus, solange wir nicht darauf achten, daß auch das Herausfordern in das Bestellen des Wirklichen als Bestand immer noch ein Schicken bleibt, das den Menschen auf einen Weg des Entbergens bringt. Als dieses Geschick lässt das Wesende der Technik den Menschen in Solches ein, was er selbst von sich aus weder erfinden, noch gar machen kann.“260

Um das Phänomen des Einklangs von Währen und Gewähren aufzuhellen, eignet sich nach Heidegger das Goethesche Wort ‚fortgewähren‘ besonders gut.261 Losgelöst vom Entbergungsgeschehen leuchtet der Sinn des Wortes ‚fortgewähren‘ auch ein, insofern das Währen zu jeder Zeit erneut das Gewährte gibt und anwesen lässt. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund der Zeit entsteht aus Währen und Gewähren eine Einheit, die Heidegger folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Nur das Gewährte währt. Das anfänglich aus der Frühe Währende ist das Gewährende.“262

258 259 260 261 262

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N I, S. 174. VA, S. 35. VA, S. 35f. (kursiviert S.R.). Vgl. VA, S. 35. VA, S. 35.

Abschließend zusammengefasst legt Heidegger den Begriff des Wesens als ein Geschehen aus, das von selbst geschieht und eben dadurch zu verstehen ist – diese Selbstentfaltung des Wesens kommt im Phänomen des Geschicks zum Ausdruck. Das Währen des Wesens ist ein Bewahren durch die Veränderungen hindurch, das ein Werden im Vergehen oder eine Abwesung in der Anwesung zu erkennen überhaupt erst ermöglicht. Das Wesen verhält sich zu dem, wovon es das Wesen ist, wie die IXYVL, das Sich-Bewegen, zur Pflanze. Und eben dies ist das entscheidende Ergebnis des hier entwickelten Gedankengangs, denn es ist die These dieser Arbeit, dass Heidegger das Wesen anhand des Paradigmas der IXYVL entwickelt. Heideggers Begriff des Wesens des Seienden ist als die IXYVL der Dinge zu verstehen, und durch diese grundlegende Interpretation des Wesens werden alle Dinge in einem jeweils für sich spezifischen Modus lebendig. Auf diese Weise waltet in allen die lebendige, sich zeigende und entfaltende IXYVL. Dies zu sehen und verständlich zu machen ist die eigentliche Aufgabe der Phänomenologie. Der Zusammenhang zwischen dem Seienden und dem Wesen ist ‚das anfänglich aus der Frühe Währende‘, das es laut Heidegger zu bedenken gilt.263 Wesen und IXYVL bedeuten dasselbe: Die IXYVL ist der Begriff für das sich entwickelnde Wesen und das Wesen kann nur in Analogie zum Begriff der IXYVL Aufschluss über das Sein der Dinge geben. Von hier aus gesehen ist es eine abgeleitete und nebensächliche Frage, die von der jeweiligen Perspektive abhängig ist, ob es unter der Herrschaft des Gestells nun die moderne Technik ist, die ihrem Wesen nach lebendig ist, oder ob die IXYVL sich im Gestell zeigt und einrichtet oder ob die Natur als eine Art Umwelt zu Gunsten der Technik verschwindet.264 Als Ergänzung dieser Auslegung des Wesens soll hier wieder auf Heideggers Interpretation des Aristotelischen Begriffs der IXYVL hingewiesen werden. Am Ende seiner Ausführungen zu Aristoteles’ Begriff der IXYVL, wie er in den unter dem Titel Physik versammelten Schriften entwickelt wird, zieht Heidegger eine Stelle aus Buch *der Aristotelischen Metaphysik heran.265 Laut Heidegger zeigt sich hier ein gewichtiger Unterschied zu dem in der Physik entwickelten Verständnis der IXYVL. Während Aristoteles in der Physik die IXYVL als einen ‚Stamm‘ des Seienden neben anderen und im Gegen263

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265

Siehe auch: „Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“ (VA, S. 26). Siehe auch: Riis, Søren: „The Symmetry between Bruno Latour and Martin Heidegger”, in: Social Studies of Science: SSS, an international Review of Research in the social Dimensions of Science and Technology, hrsg. von Michael Lynch, Volume 38, London 2008. Vgl. WM, S. 299.

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satz zur WHYFQK beschreibt, sagt er am Anfang der Metaphysik, dass „die RXMVLD (das Sein des Seienden als solchen im Ganzen) IXYVLWL[sei] – so etwas wie IXYVL.“266 Diese Aristotelesinterpretation modifiziert Heidegger anschließend, indem er in seiner Auslegung der IXYVL, Aristoteles gleichsam zur Seite legt, um letztendlich auf die Bedeutung der IXYVL im ‚großen Anfang der griechischen Philosophie‘ aufmerksam zu machen.267 „Aber Aristoteles ist weit entfernt, damit sagen zu wollen, das Wesen des Seins überhaupt sei eigentlich von der Art jener IXYVL, die er alsbald ausdrücklich als nur einen Stamm des Seins neben anderen kennzeichnet. Vielmehr ist jener kaum recht ausgesprochene Satz die RXMVLD sei IXYVLWL, ein Nachklang des großen Anfangs der griechischen und des ersten Anfangs der abendländischen Philosophie.“268

Damit führt Heidegger den Leser zurück zum ‚ersten Anfang‘ der Philosophie, der auch sein Denken bestimmt und seinen Begriff des Wesens mit dem der IXYVL vereint. Das aus dem Anfang der Philosophie verstandene Wesen ist für Heideggers Denken ‚das anfänglich aus der Frühe Währende‘, das zuletzt verständlich wird.269 Auf diese Auslegung der IXYVL bezieht sich Heidegger affirmativ und führt sie folgendermaßen weiter aus: „Und ein ganz schwacher und unkenntlicher Nachklang jener anfänglich als Sein des Seienden entworfenen IXYVL ist selbst uns noch geblieben, wenn wir von der ‚Natur‘ der Dinge, der Natur des ‚Staates‘ und der ‚Natur‘ des Menschen sprechen und dabei nicht etwa die naturhaften (physikalisch, chemisch und biologisch gedachten) ‚Grundlagen‘ meinen, sondern das Sein und Wesen des Seienden schlechthin.“270

Mit anderen Worten: Es ist der Nachklang des so gedachten Anfangs, der auch Heideggers Begriff des Wesens durchzieht. Zwar legt Heidegger in diesen Passagen die IXYVL als ‚Sein und Wesen des Seienden‘ aus, womit Sein und Wesen als getrennt und das Wesen als Unterbegriff der IXYVL verstanden werden können. ‚Sein und Wesen‘ könnten aber im Zitat auch als Synonyme begriffen werden. Unabhängig davon lässt sich im darauf folgenden Paragraphen der Zusammenhang zwischen IXYVL und Wesen 266 267 268

269 270

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WM, S. 299. Vgl. WM, S. 300. WM, S. 300. Im Zusammenhang mit dieser Aristotelesinterpretation muss auch das Vorwort beachtet werden, mit dem Heidegger den Band Vorträge und Aufsätze einleitet und zugleich auch den hier veröffentlichten Aufsatz „Die Frage nach der Technik“. Hier schreibt er: „Im vorliegenden Falle gilt es, sich wie vordem zu mühen, daß dem von altersher Zu-Denkenden, aber noch Ungedachten durch unablässige Versuche ein Bereich bereitet werde, aus dessen Spielraum her das Ungedachte ein Denken beansprucht.“ (VA, S. 7). VA, S. 35. WM, S. 300. Hier sehen wir auch eine Verbindungslinie zwischen Heideggers Interpretation des ‚Staatswesens‘ und dem, was er hier als ‚Natur des Staates‘ bezeichnet.

deutlicher erkennen. Hier bezieht sich Heidegger auf Heraklit, der sagt: „IXYVLNUXYSWHVWDLILOHL . Das Sein liebt es, sich zu verbergen.“271 Heidegger räumt zuerst ein Missverständnis dieses Fragments aus dem Weg, wonach dieser Satz meinen würde: „Das Sein sei schwer zugänglich und es bedürfe großer Anstrengungen, um es aus seinem Versteck herauszuholen und ihm das Sichverbergen gleichsam auszutreiben.“272 Indem Heidegger erklärt, dass dies nicht zutreffend ist, entfaltet er sein eigenes Verständnis des Wesens des Seins. „Aber das Gegenteil ist Not: Das Sichverbergen gehört zur Vor-liebe des Seins, d.h. zu dem, worin es sein Wesen festgemacht hat. U nd d as W es e n d e s Se i n s i st , si c h zu e n t b e r g e n, au f zu ge he n , h e r v o r zu k om m e n i n s U nv e r b o r g e n e – IXYVL. Nur was sich seinem Wesen nach entbirgt und entbergen muß, kann lieben, sich zu verbergen. Nur was Entbergung ist, kann Verbergung sein. Und daher gilt es nicht, das NUXYSWHVWDL der IXYVL zu überwinden und ihr zu entreißen, sondern das weit Schwerere ist aufgegeben, das NUXYSWHVWDL, als der IXYVL gehörend, ihr in aller Wesensreinheit zu lassen.“273

Hier folgert Heidegger entlang seiner Heraklit-Interpretation, dass das ‚Wesen des Seins‘ IXYVL sei, und damit scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass Heidegger die drei Begriffe Wesen, Sein und IXYVL vermischt; denn er behauptet zugleich, dass IXYVL als Sein und Wesen des Seienden zu verstehen sei. Aber das wäre eine Verkennung von Heideggers Gedanken. Der Gedanke Heideggers ist so zu verstehen, dass der vorsokratische Begriff der IXYVL gerade gleich dem Sein des Seienden ist, womit die Vorsokratiker das Geschick des Seienden bezeichnet haben, das Heidegger wiederum mit dem (zeitlich verstandenen) Wesen bezeichnet. Dieser Zusammenhang wird danach wiederholt betont und mit dem Begriff der DMOKYTHLD verbunden, wenn Heidegger ergänzt: „Sein ist das sich verbergende Entbergen – IXYVL im anfänglichen Sinne. Das Sichentbergen ist Hervorkommen in die Unverborgenheit, und d.h. die Unverborgenheit als eine solche erst ins Wesen bergen: Unverborgenheit heißt DMOKYTHLD […] Wahrheit gehört als Sichentbergen zum Sein selbst: )XYVL ist DMOKYTHLD, Entbergung und deshalb NUXYSWHVWDLILOHL.“274 Das ‚Hervorkommen in die Unverborgenheit‘ ist, wie die IXYVL west. Wesentlich verstanden ist IXYVL also DMOKYTHLD.275 Zu Heideggers Einwand gegen die erste Interpretation des 271 272 273 274 275

WM, S. 300. WM, S. 300. WM, S. 300f. (kursiviert S.R.). WM, S. 301. Vgl. auch Perter Sloterdijk: „In vorplatonischer Zeit habe es demnach, wie eben gehört, eine Urkonjuktur gegeben, in der das Wesen der Wahrheit als Aufgehen in den phänomenalen Tag und als Zurücksinken in die trächtige Verborgenheit am reinsten gedacht worden sei: ein Sachverhalt, der der richtig verstandene frühe grie-

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Heraklit-Fragments kann deswegen hinzugefügt werden, dass es nicht zunächst auf die ‚Anstrengung‘ der Interpretation des Seins ankommt – das Sein als IXYVL verstanden, kann prinzipiell gesehen sich nicht vollständig und auf einmal vollständig zeigen, denn es gehört in die Zeit. Das Wesen ist anders als das, worin es sich vorübergehend ‚festgemacht‘ hat und durchzieht: Das ist eine wesentliche, aber keine absolute Differenz. Die Wahrheit des Seins ist in diesem Sinne keine ‚inhaltliche‘ Bestimmung, sondern bloßes Geschehen.276 Um die IXYVL als Geschehen zu verstehen – als das ‚Durchwalten‘ zu begreifen – muss das ‚Sichzeigen‘ auf das Wesen bezogen werden, aber dieses kann sich nicht in jener unmittelbar erschöpfen. Das Sein versöhnt sich mit dem Seienden nur in der Zeit und durch das Wesen. Wenn aber das Wesen des Seienden im Ganzen als IXYVL verstanden wird und dies als „die aus sich selbst her und auf sich selbst zu unterwegige Anwesung der Abwesung ihrer selbst [ist]“277, dann wird auch das Heideggersche Begriff vom Wesen aufs Neue fragwürdig. Das ständige Unterwegssein der IXYVL setzt alles Seiende in Bewegung, aber zu welchem Zweck?

B Die totale Mobilmachung des Seienden Das Verständnis des Heideggerschen Begriffs des Wesens, das nicht nur für das Wesen der modernen Technik, sondern für das Wesen alles Seienden maßgeblich ist, lässt sich in Analogie zur IXYVL verstehen. Wesentlich gesehen setzt Heidegger damit alles Seiende in Bewegung, und zwar in eine solche Bewegung, die dadurch charakterisiert ist, a-teleologisch zu sein.278 Diese Interpretation des Seienden kann mit Recht als die totale Mobilmachung des Seienden bezeichnet werden und soll hier in ihrem nihilistischen Grundzug aufgedeckt werden. Daran soll ein nihilistischer Grundzug des Heideggerschen Denkens im Ganzen deutlich werden. Der hier entfaltetete Gedankengang läuft also dem entgegen, was Heidegger unmittelbar mit seinem eigenen Denken beabsichtigt.279 Die Ironie, die nicht zu übersehen ist, liegt darin, dass Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ selbst betont, dass es eben die Technik ist, „die von uns verlangt, das, was man gewöhnlich unter ‚Wesen‘ versteht, in einem

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chische physis-Begriff entspräche, der vom pflanzlichen Keimen her interpretiert werden müsse“. (Sloterdijk, Peter: Nicht gerettet: Versuche nach Heidegger, Frankfurt am Main 2001, S. 287). Zu denken, dass die Wahrheit des Seins ‚inhaltlich‘ bestimmt werden kann, ist ein Grundirrtum, den Heidegger der ersten Interpretation des Heraklitfragments vorwirft. Dass die Wahrheit des Seins in Heideggers Interpretation keinen ‚Gehalt‘ hat, wird wiederum weitreichende Konsequenzen für Heideggers Argumentation haben. WM, S. 299. Vgl. WM, S. 286. Vgl. GA 65, S. 143ff.

anderen Sinne zu denken.“280 Nämlich in dem Sinne, wovon es gemäß der IXYVL waltet und worüber Heidegger schreibt: „So birgt denn, was wir am wenigsten vermuten, das Wesende der Technik den möglichen Aufgang des Rettenden in sich.“281 Dieses Verständnis des Wesenden der Technik ist es aber, welches konsequent durchdacht als ein Mobilmachungsprozess verstanden werden muss. Zwar zeigt sich durch das Mobilmachungsgeschehen die Wahrheit im Sinne eines Umschlags der Verborgenheit in die Unverborgenheit, aber dieses Geschehen hat keinen Halt – im Prinzip kann sich alles ‚Mögliche‘ im Wahrheitsgeschehen ereignen –, und die Wahrheit besteht allein darin, die unerschöpflichen Möglichkeiten nach und nach durchzuspielen. Deswegen kann Heidegger auch fragen, ob die Frage nach dem Wesen der Wahrheit „nicht zugleich und zuerst die Frage nach der Wahrheit des Wesens [ist].“282 Das Wesen der Wahrheit hat keinen Gehalt – es zeigt nichts außer dem Zeigen selbst – oder mit anderen Worten, in Heideggers Konzeption der Wahrheit gibt es keine Wahrheit ‚hinter‘ den Phänomenen. Die Wahrheit ist das ‚Sichzeigen‘, das reine Geschehen, die Phänomenalität an sich. Wenn das Wesen, als IXYVL verstanden, das Seiende bestimmt, dann ist, wie bereits entwickelt, das Seiende von seiner Bewegung her zu begreifen. Der Ausgangspunkt für das Verständnis des Seienden ist damit die DMUFKY der IXYVL. Sofern etwas seiend ist, ist es also von seinem Wesen her im Sog einer Bewegung, die mit Heidegger auch als sein ‚Geschick‘ bezeichnet werden kann. Heidegger ist in diesem Sinne bestrebt, zu einer Konzeption des Seienden zu kommen, die sich vor der ‚fixierten Gegenständlichkeit‘ des Seienden zeigt; dabei löst er aber grundsätzlich das Seiende in reines Geschehen auf. Aber wie ist nun diese Einsicht in Bezug auf die alltäglichen Dinge zu verstehen? So wie die Pflanze, die für ihre Bewegung die Energie ihrer Umgebung, der Sonne und der Erde, auf sich bezieht und in ihrem Wachstum ausschöpft, muss im Prinzip auch das Wesen der Dinge erfasst werden können. Ob es aber die Pflanze ist, die die Sonne auf sich bezieht, um zu wachsen, oder aber ob es die Sonne ist, die die Pflanze zum Wachsen bringt, lässt sich aber prinzipiell nicht entscheiden. Das Wachstum kann in beiderlei Sinne konsistent beschrieben werden. Dass es möglich ist, das Wachstum auf beide Weisen zu erklären und damit die Beziehung von ‚Aktivität‘ und ‚Passivität‘ umzukehren, kann in diesem Zusammenhang mit dem von Maurice Merleau-Ponty geprägten Begriff des Chiasmus beschrieben werden. Hier bezeichnet Chiasmus strukturell gesehen die Verflechtung und Reversibilität 280 281 282

VA, S. 34. VA, S. 36. WM, S. 200.

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von Aktivität und Passivität.283 Mit dem Begriff des Chiasmus wird es auch möglich, das Aristotelische Dogma der Selbstbewegung einer Pflanze zu relativieren und umgekehrt zugleich eine Möglichkeit zu erahnen, wie der Begriff der IXYVL in allem Seienden west.284 Vor diesem Hintergrund lässt sich unter anderem sagen, dass die IXYVL der Dinge sich grundsätzlich in Entstehungs-, Kristallisation- und Materialisierungsprozessen dieser Dinge zeigt und den Dingen immanent ist. Gäbe es von dieser Perspektive aus einen solchen Materialisierungsprozess nicht, dann würden die Dinge weder 283

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Vgl.: „L’idée du chiasme, c’est-à-dire: tout rapport à l’être est simultanément prendre et être pris, la prise est prise, elle est inscrite et inscrite au même être qu’elle prend.“ Merleau-Ponty, Maurice : Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 319. Siehe auch S. 172 : „S’il est vrai que la philosophie, dès qu’elle se déclare réflexion ou coïncidence, préjuge de ce qu’elle trouvera, il lui faut encore une fois tout reprendre, rejeter les instruments que la réflexion et l’intuition se sont donnés, s’installer en un lieu où elles ne se distinguent pas encore, dans des expériences qui n’aient pas encore été ‚travaillées’, qui nous offrent tout à la fois, pêle-mêle, et le ‚sujet’ et l’‚objet’, et l’existence et l’essence, et lui donnent donc les moyens de les redéfinir.“ Siehe auch S. 202: „Comme il y a une réversibilité du voyant et du visible, et comme, au point où se croisent les deux métamorphoses, naît ce qu’on appelle perception, de même, il y a une réversibilité de la parole et de ce qu’elle signifie. […] Il nous faudra suivre de plus près ce passage du monde muet au monde parlant.“ Und „The totality formed by the body’s incorporation of things into its own circuit of reflection, i.e., the whole formed by this intertwining of body and things, Merleau-Ponty refers to as ‘visibility itself,’ characterized by the fundamental chiasm of body and world, is wild being; it is flesh in its most fundamental sense: ‘the seer and the visible reciprocate one another and we no longer know which sees and which is seen.’” (Sallis, John: Phenomenology and the Return to Beginnings, Pittsburgh 1973, S. 91f). Diese Einheitlickeit, aber nur in Bezug auf die Menschen zwischen den Dingen, hat Heidegger auch gesehen und mit den Begriffen ‚Ereignis‘ und ‚Gegenschwung‘ zu erfassen versucht. Siehe: „Mensch und Sein sind einander übereignet. Sie gehören einander […] Dieses vorwaltende Zusammengehören von Mensch und Sein verkennen wir hartnäckig, solange wir alles nur in Ordnungen und Vermittlungen, sei es mit oder ohne Dialektik, vorstellen. Wir finden dann immer Verknüpfungen, die entweder vom Sein oder vom Menschen her geknüpft sind und das Zusammengehören von Mensch und Sein als Verflechtung.“ (Heidegger, Martin, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, S. 19). „Das Zusammengehören von Mensch und Sein in der Weise der wechselseitigen Herausforderung bringt uns bestürzend näher, daß und wie der Mensch dem Sein vereignet, das Sein aber dem Menschenwesen zugeeignet ist. Im Ge-Stell waltet ein seltsames Vereignen und Zueignen. Es gilt, dieses Eignen, worin Mensch und Sein einander ge-eignet sind, schlicht zu erfahren. Das Wort Ereignis ist das gewachsenen Sprache entnommen. Er-eignen heißt ursprünglich: eräugen, d.h. erblicken, im Blicken zu sich rufen, an-eignen. Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst des Denkens sprechen.“ (Heidegger, Martin, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, S. 24f). Und: „Wesung soll nicht etwas nennen, was noch über das Seyn wieder hinaus liegt, sondern was sein Innerstes zum Wort bringt, das Er-eignis, jenen ‚Gegenschwung‘ von Seyn und Dasein, in dem beide nicht vorhandene Pole sind, sondern die ‚reine Erschwingung‘ selbst.“ (GA 65, S. 286f).

entstehen noch vergehen können.285 Aus diesem Grund lässt sich auch von der ‚Natur der Dinge‘ sprechen; und auf diese Redewendung bezieht sich Heidegger wie gezeigt grundsätzlich affirmativ.286 Anders gewendet: ‚Was sich bewegt‘ und ‚was bewegt wird‘ lässt sich nicht per se unterscheiden, sondern erst, nachdem ein Bezugspunkt oder ein Ursprung festgelegt worden ist – und dieser Punkt kann immer wieder neu bestimmt werden: Es gibt keinen ‚natürlichen Ausgangspunkt‘.287 So wie Heidegger die IXYVL von der reinen Bewegung her fasst, so versteht er auch die totale Mobilmachung – nur kann seine Beschreibung des Letzteren zuweilen so gedacht werden, dass sie nicht von sich aus geschieht; aber sein Verständnis der Herrschaft des Gestells behebt dieses Missverständnis. Heidegger beschreibt die totale Mobilmachung als „[d]as reine In-Bewegungsetzen und die Aushöhlung aller bisherigen Gehalte der noch bestehenden Bildung.“288 Damit hebt das Gestell also das Geschehen des Seienden gegenüber seinem starren ‚Gehalt‘ hervor. Dass das Seiende im Ganzen und für sich gemäß der IXYVL ‚west‘, hat aber entscheidende Konsequenzen. Untersucht man die Bewegung des Wesens und analysiert die für Heideggers IXYVL- und Wesensverständnis entscheidende „unterwegige Anwesung der Abwesung“289 auf das Seiende hin, dann wird deutlich, inwiefern das Seiende in Heideggers Interpretation mobilisiert wird, und wie dieser Mobilmachungsprozess genauer zu verstehen ist. Das ‚Unterwegige‘ hat nämlich in diesem Zusammenhang eine zweifache Bedeutung. Zum einen muss das Seiende, weil die Bewegung des Wesens primär ist, von der IXYVL her verstanden werden. So wird selbst noch die Ruhe des Seienden von der Bewegung her verstanden, nämlich als ihre vorläufige Vollendung: Es gibt keine absolute Ruhe in dieser Konzeption des Seienden. Jedes Seiende ist in Bewegung und alle Teile des Seienden sind damit mobilisiert worden. Heideggers Verständnis des Wesens des Seienden kann damit als die ontologische Ergänzung der totalen Mobilmachung gesehen werden, die sich Ernst Jünger zufolge in ständig mehreren Bereichen des Seienden offenbart. In der folgenden Betrachtung aus „Die Totale Mobilmachung“ bringt Jünger diese Mobilmachung anschaulich zum Ausdruck und man 285

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Siehe auch: „Wir nennen die Zeit, wenn wir sagen: Jedes Ding hat seine Zeit. Dies meint: Jegliches, was jeweilen ist, jedes Seiende kommt und geht zur rechten Zeit und bleibt eine Zeit lang während der ihm zugemessene Zeit, jedes Ding hat seine Zeit.“ (SdD, S 2). Vgl. WM, S. 300. Wir können Heideggers Kritik des Wesens der modernen Technik auch so verstehen, dass sie letztendlich gewissermaßen anthropozentrisch ist, weil sie sieht, dass dieser Bezugspunkt in der Moderne nicht der Mensch ist; dadurch wird seine Freiheit bedroht – und dies will Heidegger wieder umkehren. GA 65 S. 143. WM, S. 299.

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ahnt, dass es eigentlich das Seiende im Ganzen ist, das sich bewegt; jedoch ist bei Jünger dieser Gedanke nicht begrifflich philosophisch entwickelt. „Viel wäre so noch zu nennen – allein es genügt, dieses unser Leben selbst in seiner vollen Entfesselung und in seiner u nb armh er zi ge n Disziplin, mit seinen rauchenden und glühenden Revieren, mit der Physik und M et ap hy s ik s ei ne s Ve rk eh r s , seinen Motoren, Flugzeugen und Mi l li o ne ns tä d t e n zu betrachten, um mit einem mit Lust gemischten Gefühl des Entsetzens zu ahnen, d a ß e s hie r k ein At om g ibt, das nicht in Arbeit ist, und daß wir selbst dem rasenden Prozeß im Tiefsten verschrieben sind. D ie To t al e M ob i lm ac hu n g wi r d wei t w e ni ge r vo l l z og e n, a ls s i e s i c h s e l b st v o l l zi e h t , sie ist in Krieg und Frieden der Ausdruck des geheimnisvollen und zwingenden Anspruchs, dem dieses Leben im Zeitalter der Massen und Maschinen uns unterwirft.“290

Jünger und Heidegger denken diese Mobilmachung explizit als dem Zeitalter der modernen Technik zugehörig und gehen nicht darauf ein, dass auch sie als Konsequenz der Formel von der ‚Natur der Dinge‘ angesehen werden kann. Dazu ist schließlich noch zu bemerken, dass die Mobilmachung in der ‚traditionell‘ verstandenen Natur phänomenologisch nachweisbar ist. In der Natur gibt es auch ‚kein Atom, das nicht in Arbeit ist‘ – ständig entstehen neue Pflanzen und Lebewesen und andere vergehen. Dies geschieht nicht in romantischer Harmonie, sondern in der Natur hängt das Wachstum eines Gewächs oder eines Tiers oft ganz ‚unbarmherzig‘ von dem Untergang eines anderen ab. Mit anderen Worten kommt die totale Mobilmachung gerade vorbildlich in der Natur zum Ausdruck. Zum anderen muss ‚das Unterwegige‘ des Wesens des Seienden hervorgehoben werden, um den a-teleologischen Aspekt dieser gemäß der IXYVL sich entfaltenden Bewegung zu betonen. Wegen des Wesens des Seienden müssen alle Dinge von der Bewegung her verstanden werden. Charakteristisch für diese Bewegung ist jedoch, dass sie vor keinem Ziel Halt macht – diese Bewegung ist ziellos, oder besser gesagt: Sie ist ihr eigener Zweck. Die Pflanze geht auf, blüht, trägt Früchte, deren Samen sich fortpflanzen und die Pflanze stirbt letztendlich – und neue Pflanzen entstehen, die aber in denselben unendlichen Kreislauf eingebunden sind. Weder von der Blüte der Pflanze noch von ihren Früchten oder sonst einem Stadium ihres Lebens kann behauptet werden, es sei ihr Endziel – die Pflanze wächst, beziehungsweise die IXYVL bewegt sich einfach weiter. Weil es gerade der Samen der Pflanze ist, der weiter wächst, gibt es in dieser Bewegung, in diesem Wachstum, im Prinzip keinen Halt und keine Grenze. Je nach Einstellung und Distanz des Beobachters kann die einzelne Pflanze isoliert werden, 290

Jünger, Ernst: Die Totale Mobilmachung, in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Essays, Band 7: Essays I: Betrachtungen über die Zeit, Stuttgart 1980, S. 119-142, hier S. 128 (gesperrt S.R.).

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womit unterstellt wird, dass sie endgültig stirbt. Aber lebt sie zum Beispiel nicht weiter in den Sprossen und Schösslingen? Von der Einstellung hängt es auch ab, ob ein Stein aus der Ruhe beziehungsweise der Bewegung erfasst wird.291 Auch die Steine können entstehen, das heißt aufkeimen und wachsen, und wieder vergehen, und diese Bewegung kann aus der immanenten Struktur der Steine beschrieben werden. Die Steine können ihre Umwelt auf sich beziehen oder als Produkte erfasst werden.292 Ihre Bewegungen sind nur viel langsamer und bedürfen einer Jahrtausend-Optik, um aufgespürt zu werden. Die Bewegung, die im Wesen des Seienden waltet, geht in sich selber auf als sich selbst bestätigende ‚Anwesung der Abwesung‘. Das Wesen des Seienden ist auf nichts ausgerichtet, sondern vollzieht sich sozusagen blind, und dem Seiende ist es in aller Ewigkeit aufgegeben, sich selbst zu zeigen und zu wiederholen. Es gibt in dieser Konzeption weder ewige Ideen, die dem Geschehen einen Halt geben, noch einen außerhalb der Natur stehenden Gott, der das Geschehen lenkt.293 Vorgreifend gesagt und in Analogie zum Prozess der totalen Mobilmachung gedacht, erlaubt diese Interpretation folgende dreidimensionale Konzeption vom Wesen des Seienden. Das Wesen des Seienden ist in gewissem Sinne nihilistisch, weil die Bewegung, von der aus das Wesen des Seienden zu fassen ist, sich nie endgültig vollendet und deshalb kein endliches Ziel hat. Sie ist gleichzeitig Ausdruck des vollkommensten Willens, der nur sich selbst bejaht, den Friedrich Nietzsche wie bekannt als der Wille zur Macht oder der Wille zum Willen beschrieben hat.294 Schließlich kann diese Selbstbestätigung um keines externen WHYOR willen als eine in sich kreisende Bewegung aufgefasst werden, für die auch Nietzsche einen zutreffenden Begriff gefunden hat. Mit anderen Worten ist in der Dreidimensionalität von Nihilismus, Willen zur Macht und dem Ge-

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Siehe auch: „Wir nennen die Zeit, wenn wir sagen: Jedes Ding hat seine Zeit. Dies meint: Jegliches, was jeweilen ist, jedes Seiende kommt und geht zur rechten Zeit und bleibt eine Zeit lang während der ihm zugemessenen Zeit, jedes Ding hat seine Zeit.“ (SdD, S. 2) Die Sterne scheinen zum Beispiel auch ewig und unbewegt zu sein, sie werden aber auch ‚geboren‘ und ‚sterben‘; und auf die Nähe geholt sind sie nicht unbewegt, sondern vielmehr ein chaotisches Flammenmeer. Nimmt man einen Stein unter eine moderne elektronische Lupe, dann kann er sich auch unmittelbar in Bewegung zeigen. (Siehe auch: Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 65). Heidegger versucht aber in einem späten Aufsatz, die Redewendung ‚Es gibt‘ zu analysieren und dem ‚Es‘ eine besondere Bedeutung zuzuschreiben, die einer Hypostasierung ähnelt: „Dementsprechend versuchen wir, auf das Es vorzublicken, das Sein und Zeit – gibt. Also vorblickend werden wir noch in einem anderen Sinne vorsichtig. Wir versuchen, das Es und sein Geben in die Sicht zu bringen und schreiben das ‚Es‘ groß.“ (SdD, S. 5). Vgl. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht, Leipzig 1959.

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danken der ewigen Wiederkehr des Gleichen das Wesen des Seienden als ein Prozess der totalen Mobilmachung zu erkennen. Das Wesen in der hier entfalteten Interpretation entspricht aber in entscheidenden Hinsichten den Gedanken Nietzsches zum Wesen des Nihilismus, die Heidegger als Nietzsches Grundgedanken kritisiert.295 Muss deswegen ausgeschlossen werden, dass die bisherigen Ausführungen zu Heideggers Begriff des Wesens angemessen sind? Wir werden nun auf das Prinzipielle der Heideggerschen Einwände gegen Nietzsche eingehen, um Heideggers Kritik genauer zu erfassen. Heidegger wirft Nietzsche vor, Metaphysiker zu sein, in dem Sinne, dass Nietzsche nur auf das Seiende aufmerksam macht und dabei nicht fähig ist, einen Sinn für das Sein zu entwickeln. Laut Heidegger bestimmt Nietzsche das Seiende im Ganzen als die Einheit von Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen.296 Damit meint Heidegger, dass Nietzsche das Seiende in seinem ‚Was- und Dass-sein‘ verbindet und somit versucht, dem Seienden im Ganzen seinen vollendeten Ausdruck zu geben.297 „Die Bestimmung ‚Wille zur Macht‘ gibt Antwort auf die Frage nach dem Seienden in Hinsicht auf seine Verfassung; die Bestimmung ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ gibt Antwort auf die Frage nach dem Seienden in Hinsicht auf seine Weise zu sein. Verfassung und Weise zu sein gehören aber zusammen als Bestimmungen der Seiendheit des Seienden.“298

So bemerkt Heidegger, dass Nietzsche das Seiende aus sich selbst versteht und deswegen verstellt, weil er das Seiende mit dem Werdenden gleichsetzt. Das heißt: Er gestaltet „das Werden so zum Seienden […], daß es als Werdendes erhalten bleibt und Bestand hat, d.h. ist.“299 Mit anderen Worten: Die Verewigung des Werdens, die die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ impliziert, wird von Nietzsche so verstanden, „daß diese Verewigung aus dem Seienden selbst kommt und für dieses ersteht und in ihm steht.“300 „Weil das Sein als ewige Wiederkehr des Gleichen die Beständigung der Anwesenheit

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Vgl. N I, S. 35f. N II, S. 14ff. N II, S. 14. N I, S. 464. N I, S. 466. Siehe aber auch: „Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen – sie ist bei weiterem augenscheinlicher – nämlich das Augenmark darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden.“ (Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Gesamtausgabe, 5. Abteilung, Band 2, hrsg. von Giogio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1973, S. 11-335, hier S. 303). N I, S. 466.

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ausmacht, deshalb ist es das Beständigste: das Unbedingte Daß.“301 Aufgrund dieser Auslegung des Seienden als Werden sagt Heidegger, dass das Seiende in sich selbst und aus sich selbst erklärt wird, wodurch die Frage nach dem Sein verdrängt wird. Deswegen drückt sich in Nietzsches Erklärung des Seienden die absolute Seinsverlassenheit des Seienden aus, die Heidegger als Grundzug der Metaphysik sieht und als solche anklagt.302 Blicken wir aber zunächst allein auf Heideggers Ausführungen zum Begriff der IXYVL zurück, dann sind diese in entscheidender Hinsicht nicht von Heideggers Nietzsche-Interpretation des Seienden zu unterscheiden und dennoch sieht Heidegger in seinem Verständnis der IXYVL die entscheidende Wesensverwandschaft mit der DMOKYTHLD. Die Naturdinge sind Seiende, die laut Heidegger durch Bewegung gekennzeichnet sind, und zwar so, dass sie ‚unterwegs‘ sind, ohne jemals ein endgültiges Ziel zu erreichen. Mit anderen Worten sind die Naturdinge als Seiende durch ein permanentes Werden charakterisiert. Dient nun die IXYVL als Paradigma für das Seiende überhaupt, dann gehört das absolute Werden zum Wesen des Seienden, aber in diesem Gedankengang hebt Heidegger keine Seinverlassenheit hervor – ganz im Gegenteil: Mit dem Werden der IXYVL schlägt Heidegger eine andere Richtung ein und legt dieses Werden als Spiel zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit aus. Dadurch zeigt Heidegger gerade den Zusammenhang der IXYVL mit der DMOKYTHLD und sagt schließlich, dass das Sichentbergen der DMOKYTHLD zum Sein gehört: „Und das Wesen des Seins ist, sich zu entbergen, aufzugehen, hervorzukommen ins Unverborgene – IXYVL.“303 Dass der gemäß der IXYVL verstandene Wesensbegriff zur Wahrheit gehört, als Verbergungs- und Entbergungsgeschehen, wird auch aus dem Text Heideggers „Vom Wesen der Wahrheit“ bestätigt. Am Ende dieses Textes heißt es: „Der hier vorgetragene Versuch führt die Frage nach dem Wesen der Wahrheit über das Gehege der gewohnten Umgrenzung im üblichen Wesensbegriff hinaus und verhilft zum Nachdenken darüber, ob die Frage nach dem Wesen der Wahrheit nicht zugleich und zuerst die Frage nach der Wahrheit des Wesens sein muß.“304 Denn das Wesen im Sinne der IXYVL verstanden ist geradezu das Sinnbild der Wahrheit als DMOKYTHLD und als Entbergung verstanden. Dies kommt auch in „Die Frage nach der Technik“ zum Ausdruck, worin die IXYVL als SRLYKVL im höchsten Sinne ausgelegt wird, da Heidegger hervorhebt, dass sich die SRLYKVL der IXYVL von selbst vollzieht: „Auch die IXYVL, das von-sich-her Aufgehen, ist ein Her-vor-bringen, ist SRLYKVL. Die IXYVL ist sogar SRLYKVL im höchsten Sinne. Denn das IXYVHL Anwesende hat den 301 302 303 304

N II, S. 16. N II, S. 28ff. WM, S. 300f. WM, S. 200.

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Aufbruch des Her-vor-bringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (HQYH-DXWZ ) .“305 Nun ist laut Heidegger auch die SRLYKVL ein Entbergungsgeschehen und damit gehört sie ebenso zur Wahrheit. Anders gewendet: die IXYVHLR?QWD‚sind‘ ein Entbergungsgeschehen beziehungsweise ein Wahrheitsgeschehen. Damit wird einsichtig, dass das Werden, das Heidegger auch als den ‚Umschlag‘ der Naturdinge bezeichnet, gleich einem Einbruch zu verstehen ist, der das Seiende wesenhaft erleuchtet und es herausfordert, über seine momentane Anwesung hinauszugehen. Nur weil das Wesen des Seienden sich nicht in der Anwesenheit erschöpft, kann das Werden überhaupt verständlich werden. Die von Heidegger so genannte ‚ontologische Differenz‘ kann so missverstanden werden, dass das Seiende nur als Anwesenheit und das Sein nur als Abwesenheit interpretiert werden, aber dadurch wird es unmöglich, das Werden und das Wesen zu verstehen.306 Das Seiende ist immer mehr als seine Anwesenheit, denn es wird vom Wesen der Wahrheit durchwaltet, wodurch An- und Abwesenheit verbunden werden. In diesem Sinne wird mit den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen das Seiende nicht als bloße Anwesenheit verstanden, sondern in dieser Konzeption Nietzsches kann ein prinzipieller Schritt über das Anwesende hinaus gesehen werden – der mit dem Begriff vom Wesen des Seienden oder des Seins im Heideggerschen Sinne beschrieben werden kann. Und mit diesem Schritt zeigt sich das Wesen des Seienden im Ganzen analog zum Wesen der Naturdinge – zur IXYVL. Ob also Nietzsche als ein Denker ausgelegt wird, der das Seiende verabsolutiert, oder es durch das Werden der IXYVL relativiert, ist von vornherein nicht eindeutig. Heidegger hätte Nietzsche auch anders lesen können, wonach Nietzsche das Seiende von Wesen der IXYVL verstanden hätte. Gegen die hier entfaltete Heideggerkritik ließe sich noch einwenden, dass Heidegger in seiner Auslegung der IXYVL ausdrücklich betont, dass das Werden der IXYVL nicht eine Kreisform schließt, womit auch ausgeschlossen zu sein scheint, dass das Wesen des Seienden als ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ verstanden werden kann. „Als IXYVHZR-GRVHLMIXYVLQ ist die IXYVL eben ein ständiges Kreisen in sich selbst. Allein gerade dies trifft nicht zu; als unterwegs zur IXYVL ist die IXYVL eben nicht ein Rückfall auf das Jeweilige, wovon sie herkommt. Das Entstehende stellt sich niemals zurück in das, dem es entgeht und dies gerade deshalb, weil das Wesen der Entstehung die Gestellung in das Aussehen ist. 305 306

VA, S. 15. Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe, Band 24, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, 2. Auflage, S. 322ff.

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Insofern die Gestellung das sich stellende Aussehen anwesen lässt, das Aussehen jedoch jeweilen in einem geeinzelten Diesen als einem so aussehenden anwest, muß das, wohin die Entstehung das Aussehen stellt, gerade eine anderes Jeweiliges sein als das Woher.“307

Mit dieser Interpretation widerspricht Heidegger aber durchaus nicht dem, dass die Bewegung der IXYVL kreisförmig ist, sondern er betont damit nur, dass ‚Entstehung‘ nicht einfach dasselbe wie ein Oszillieren zwischen zwei Möglichkeiten des Sichzeigens ist. Dass eine Pflanze sich selbst reproduziert, dafür gibt es eben den Begriff vom ‚Kreislauf der Natur‘. Darüber hinaus geht die Bewegung der Pflanze in dem Sinne in sich selbst zurück, dass sie eben als Wachstum derselben Pflanze verstanden wird. Ließe sich der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht mit dem Wachstum verbinden, und damit das Wachstum als eine Art Kreis verstehen, wogegen Heidegger im Zitat polemisiert, dann ließe sich auch nicht die Verbindung der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit dem Willen zu Macht erkennen, die Heidegger aber selbst hervorhebt.308 Denn dieser Wille zeigt sich als Selbstbestätigung und Steigerung seines selbst. Diese Verbindung zwischen dem Begriff der Wiederkehr und dem Kreis zu durchtrennen, würde also bedeuten, dass Heideggers eigene Kritik gegen Nietzsche nicht haltbar wäre. Es scheint daher, als ob es Heidegger hier nicht um die Sache selbst geht, sondern zunächst darum, einen bestimmten Begriff, nämlich den des Kreises, zu vermeiden und sich von Nietzsche zu distanzieren, dessen Verständnis des Seins Heideggers eigenem zum Verwechseln ähnlich scheint. Denn Heideggers Verständnis der Bewegung der IXYVL kann auch mit Hilfe des Begriffs des Kreises umformuliert werden. Hätte Heidegger versucht, den Begriff des Kreises in diesem Zusammenhang stark zu machen, dann wäre es ihm auch der Sache nach gelungen – nur würde damit auch Nietzsches Wiederkunftslehre zusätzliche Bestätigung erfahren: Diese Lehre schließt die Selbstbewegung und das Wahrheitsgeschehen der IXYVL nicht aus. Deshalb ist Heideggers Kritik an Nietzsche schwierig, wenn überhaupt, aufrecht zu erhalten. Aber ohne diese Kritik stünde auch Heideggers Denken nicht mehr in dieser seiner Einmaligkeit da. Nachdem Heidegger meint, den Begriff des Kreises im Bezug auf die Bewegung der IXYVL aus dem Weg geräumt zu haben, sagt er: „Gewiss ist IXYVHZR-GRHLMIXYVLQ eine Weise des Hervorkommens in die Anwesung, in der das Woher und wohin und Wie der Anwesung dasselbe bleibt. Die IXYVL ist Gang als Aufgang zum Aufgehen und so allerdings ein In-sich-zurück-Gehen, zu sich, das ein Aufgehen bleibt. Das nur räumliche Bild des Kreisens reicht wesenhaft nicht zu, weil dieser in sich zurückge-

307 308

WM, S. 292f. Vgl. N II, S. 14 .

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hende Aufgang gerade Aufgehen lässt Solches, von dem, zu dem der Aufgang je unterwegs ist.“309

In dieser Auslegung kommt allerdings auch nicht die Reproduktion der Naturdinge zum Ausdruck, wodurch zum Beispiel die Pflanzen sich fortpflanzen. Diese Auslegung spiegelt eine spezifische, aber letztendlich kontingente Distanz zum ‚Pflanzlichen‘ wider. Dass der Samen ein wesentlicher Teil der Pflanze ist, wird also in dieser Auslegung Heideggers übersehen. Die Bewegung der Pflanze wird in dieser Interpretation in einer ganz bestimmten Weise von Heidegger reduziert und stilisiert. Heidegger macht jedoch gleichzeitig darauf aufmerksam, dass das ‚Woher und Wohin und Wie der Anwesung‘ dasselbe bleibt, weswegen die Anwesung in einen größeren sie umfassenden Zusammenhang eingebettet wird, der in dem oben beschriebenen Sinne nicht eine ewige Wiederkehr des Gleichen aus-, sondern vielmehr einschließt. Denn das Aufgehen, wovon Heidegger hier spricht, kann „z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen“310 sein, das immer wieder geschieht und damit auch einen Kreislauf durchläuft. Mit anderen Worten ist das ‚räumliche Bild des Kreises‘ zwar nicht ‚zureichend‘, um das Wachstum der einzelnen Pflanze zu beschreiben, aber auch nicht ausgeschlossen – denn für die Beschreibung, wie Pflanzen sich ständig weiterverpflanzen, ist dieses Bild ‚wesenhaft‘ zutreffend. So scheint der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen in diesem wesentlichen Aspekt mit Heideggers Interpretation der IXYVL vereinbar zu sein. Betrachten wir jedoch Heideggers Kritik an Nietzsches Synthese des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Willens zur Macht näher, dann stellt sich eine Erkenntnis heraus, die Heidegger nicht problemlos zuzuordnen ist. Denn selbst wenn Heidegger in Nietzsches Gedanken die vollendete Seinsverlassenheit und die totale Mobilmachung sieht, muss seine Kritik dieser Synthese bei genauerer Betrachtung modifiziert werden. Das IXYVL-Verständnis des Wesens des Seienden, das Heidegger beim Vorsokratiker Heraklit ansatzweise entfaltet findet – was im Einklang mit seiner positiven Lehre von der Wahrheit ist – sieht er nämlich auch bei Nietzsche bestätigt.311 Wie es anhand der folgenden Zitate deutlich wird, schließt sich Heidegger im Prinzip der Nietzscheschen Synthese des Seienden mit dem Werden an und bestätigt damit auch die These dieser Arbeit, dass er das Wesen des Seienden gemäß der IXYVL versteht. „Denn die Auslegung des Seienden und seiner Seiendheit als Werden ist die Beständigung des Werdens zur unbedingten Anwesenheit. Das Werden selbst bringt sich, um seine Vormacht zu retten, in die Botmäßigkeit der Beständigung des Anwesens. In dieser Beständigung waltet die anfängliche, 309 310 311

WM, S. 293. VA, S. 15. Vgl. WM, S. 300.

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obzwar unerkannt-ungegründete Wahrheit des Seins, nur ausgebogen in ihr sich selbst vergessendes Unwesen. Solche Ermächtigung des Werdens zum Sein nimmt jenem die letzte Möglichkeit des Vorranges und gibt diesem sein anfängliches (das IXYVL-hafte) Wesen, allerdings in das Unwesen vollendet, zurück.“312

Das ‚Unwesen‘ bedeutet nämlich, dass das Wesen des Seienden von Nietzsche erkannt ist, aber nur in der ihm zugehörenden Anwesenheit, nicht aber in der ebenso mit ihr verbundenen Abwesenheit. Anders gesagt wirft Heidegger Nietzsche vor, das anfängliche IXYVL-hafte Wesen absolut einseitig erfasst zu haben. Heidegger bestreitet jedoch gar nicht, dass das Wesen IXYVL-haft zu denken ist, sondern er bestätigt dieses Verständnis.313 Aus einer anderen Passage seiner Nietzsche-Vorlesungen gibt Heidegger auch zu verstehen, dass die prinzipielle Verschmelzung von ‚Was und Wiesein‘, von Sein und Werden, wogegen er polemisiert hat, doch auch sein eigenes Verständnis des Wesens bestimmt: „Wesung aber ist nicht nur die Verkoppelung von Was und Wiesein und so eine reichere Vorstellung, sondern die ursprünglichere Einheit jener beiden.“314 Was Heidegger von der Vollendung der Metaphysik (der vollkommenen Seinsverlassenheit) fordert, wofür er Nietzsches Gleichsetzung von Sein und Werden als Ausdruck nimmt, ist nicht eine Aufhebung derselben, sondern eine Kehre der Metaphysik. Diese Kehre ist als Umschlag zu verstehen, aber als ein Umschlag von solcher Art, die anhand der IXYVL beschrieben werden kann, das heißt als ein In-sich-kehren, wodurch etwas Verborgenes zum Vorschein kommt, wie Heidegger sagt.315 Das anfängliche Sein soll dabei letztendlich wiederholt als IXYVL gedacht werden. So gesehen ist diese Kehre oder der Umschlag auch nicht als ein Bruch zu verstehen, sondern genau als die Bestätigung der Wesung des anfänglichen Seins als IXYVL zu begreifen. Mit diesem Exkurs zu Heideggers Nietzsche-Lektüre sollte dem Missverständnis vorgebeugt werden, dass Heideggers Verständnis des Seins der 312 313

314 315

N II, S. 19 (kursiviert S.R.). Siehe auch: „Heidegger hat in diesem Begriff der IXYVL nurmehr einen ‚Nachklang‘ des ursprünglichen Verständnisses gesehen und die aristotelische Einschränkung des Begriffs auf das Lebendige als ‚eines eigenen (in sich abgegrenzten) Bereiches von Seiendem‘ für eine Schwächung gehalten. )XYYVL ist für Heidegger Sein im ursprünglichen Sinne; es ist das – im Sinne eines Verbs verstanden – ‚Wesen‘ dieses Seins, ‚sich zu entbergen, aufzugehen, hervorzukommen ins Unverborgene‘ [...] Die Frage, was es heißen kann, die Welt im Ganzen als lebendig zu verstehen, soll hier nicht weiter verfolgt werden.“ (Figal, Günter, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 377f). Diese letzte Frage ist für den in dieser Abhandlung entwickelten Gedankengang entscheidend. Und unsere Antwort darauf findet sich im Phänomen der totalen Mobilmachung des Seienden. GA 65, S. 289 (gesperrt S.R.). Vgl. WM, S. 249ff.

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totalen Mobilmachung des Seienden widerstehen könnte. Heidegger versucht, Sein und Werden in ihrer ursprünglichen Einheit zu denken und das Sein als IXYVL auszulegen. Dabei ist er bestrebt zu zeigen, dass diese Synthese zugleich die unauflösliche Verbindung von Verborgenheit und Unverborgenheit impliziert. Ob nun Nietzsches spezifische Verbindung von Sein und Werden zur Identität von Sein und Seienden führt und damit in die Verabsolutierung von Seiendem mündet, ist für den hier entwickelten Gedankengang nur von sekundärem Interesse. Wichtig ist es dagegen, dass diese prinzipielle Synthese von Nietzsche, nicht der Wesung des Seins im Sinne Heideggers widerspricht. Die ursprüngliche Einheit des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit dem Wesen des Seienden als IXYVL verstanden tritt noch deutlicher hervor, wenn wir bedenken, dass Heideggers Verständnis zufolge das Wesen oder die Wesung eine besondere Bestimmung hat, die wiederum nur aus dem Wesen selbst zu verstehen ist. Eine zielgerichtete Bewegung, die nur aus dieser Bewegung selbst zu verstehen ist und damit in sich zurückgeht, fällt in eins mit dem Phänomen des Willens zum Willen.316 Die Rückkehr in den ursprünglichen Anfang des Seins als IXYVL setzt auch das Seiende grundlegend in Bewegung und zwar um seiner selbst willen. In diesem Sinne ist in Heideggers wie auch in Nietzsches Denken eine totale Mobilmachung des Seienden offenkundig. Heidegger erkennt gerade den Willen zur Macht als die totale Mobilmachung, wenn er sagt: „Als ob die totale Mobilmachung etwas an sich wäre und nicht die Organisation der unbedingten Sinnlosigkeit aus dem Willen zur Macht und für diesen.“317 Ist mit dieser totalen Mobilmachung des Seienden nun auch der totale Nihilismus unausweichlich geworden – beziehungsweise gibt es selbst hier das Rettende noch? Dies ist nicht eindeutig zu beantworten. Zum einen wirft Heidegger Nietzsche diese unausweichliche Schlussfolgerung vor, aus den Gründen, die bis jetzt schon genannt wurden. Zum anderen wird gerade in dieser selbst316

317

Siehe auch: „Die Frage, ob es noch Ziele gibt, beantwortet sich für Heidegger eindeutig negativ, und warum sie sich so beantworten muß, kann man leicht sehen: Wenn wirklich von einem ‚Vorrang der Mobilisierung‘ gesprochen werden kann, dann hat jedes vorgegebene Ziel nur den Sinn, die Mobilisierung voranzutreiben, und wird sinnlos, sobald es diesen Zweck nicht mehr erfüllt. Ebenso ist ausgeschlossen, die Mobilisierung als in sich zielerfüllt zu denken; dann wäre sie eine Bewegtheit, die in jedem Moment in ihre eigene Vollendung zurückschwingt.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 154f). Wir versuchen hier letzteres plausibel zu machen, indem wir die totale Mobilmachung als eine Selbst-Bewegung in Analogie zur IXYVL beschreiben. Ist sie als Selbst-Bewegung zu verstehen, dann ist sie in jedem Moment zielerfüllt – ist sie nicht als Selbst-Bewegung zu verstehen, dann müssen wir klären, von woher sie vorangetrieben und ihre Ziele vorgegeben wird. Auch eine Pflanze hat kein externes Ziel und bewegt sich einfach immer weiter; dennoch können wir diese Bewegung als in sich vollendet betrachten. N II, S. 21 (kursiviert S.R.).

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begründenden in-sich-zurückkehrenden Bewegung des Seienden, worin die Einheit von Sein und Werden zum Ausdruck kommt, ihr gemeinsamer Ursprung verschwiegen, aber nicht verleugnet. Deswegen geht Heidegger an einer Stelle in der Entwicklung des Nietzscheschen Gedankens vom Seienden im Ganzen einen Schritt über das Seiende hinaus und beschreibt Nietzsche in Zusammenhang mit der ‚Wächterschaft des Seins‘. „Der Denker [an dieser Stelle ist Nietzsche mit eingeschlossen] fragt nach dem Seienden im Ganzen als solchem, nach der Welt als solcher. Auf die Weise denkt er immer mit dem ersten Schritt schon über die Welt hinaus und so zugleich auf sie zurück. Er denkt hinaus auf Jenes, worum herum eine Welt zur Welt wird. Dort, wo dieses Worum-herum nicht ständig und laut genannt, sondern im innersten Fragen verschwiegen wird, ist es am tiefsten und reinsten gedacht. Denn das Verschwiegene ist das eigentlich Bewahrte und als das Bewahrteste das Nächste und Wirklichste. Was für den gemeinen Verstand wie ‚Atheismus‘ aussieht und so aussehen muß, ist im Grunde das Gegenteil. Und ebenso: dort, wo vom Nichts gehandelt wird und vom Tod, ist das Sein, und nur dieses, am tiefsten gedacht, während jene, die angeblich allein sich mit dem ‚Wirklichen‘ befassen, sich im Nichtigen herumtreiben.“318

Die Verschwiegenheit über den gemeinsamen Ursprung von Sein und Werden muss daher nicht per se als Mangel betrachtet werden. Mit anderen Worten, es gibt genau genommen keinen äußeren Unterschied zwischen der Sinnlosigkeit des Seins, die sich einerseits im Atheismus zeigt, und dem Geheimnis des Seins andererseits. In dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Wesen des Seins als IXYVL ist das Sein und damit auch das Seiende im Prinzip als grundlos gedacht. Eine Folgerung daraus wäre, dass es immer möglich bleibt, dass die totale Mobilmachung den Nihilismus vollendet oder eine neue Zuwendung zum Verständnis der (gehaltlosen) Wahrheit im Heideggerschen Sinne voranbringt. Ein Umschlag vom einen ins andere steht im Prinzip ständig offen. Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, dass die totale Mobilmachung des Seienden, insofern sie im Gedanken der Wesung des Seins oder in der ewigen Wiederkehr des Gleichen zum Ausdruck kommt, in eins mit Heideggers Konzeption des Gestells fällt. Ursprünglich gedacht ist das Wesen des Seienden gleich dem Gestell zu verstehen. Aber so wie das Gestell auch bei Heidegger die Rettung einschließt und die Überwindung des Nihilismus ermöglicht, so kann sich die totale Mobilmachung auch als das Wesen der Wahrheit offenbaren.

318

N I, S. 471 (kursiviert S.R.).

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C Eine Frage der Zeit „Wir nennen die Zeit, wenn wir sagen: Jedes Ding hat seine Zeit. Dies meint: Jegliches, was jeweilen ist, jedes Seiende kommt und geht zur rechten Zeit und bleibt eine Zeit lang während der ihm zugemessenen Zeit, jedes Ding hat seine Zeit.“319 „‚Sein‘ ist in ‚Sein und Zeit‘ nicht etwas anderes als ‚Zeit‘, insofern die ‚Zeit‘ als Vorname für die Wahrheit des Seins genannt wird, welche Wahrheit das Wesende des Seins und so das Sein selbst ist.“320

Es wäre vermessen, alles über den Begriff der Zeit bei Heidegger in einem einzigen Abschnitt entfalten zu wollen; dies ist hier auch nicht beabsichtigt. Vor dem Hintergrund der bisherigen Interpretation haben wir einen Gesichtspunkt gewonnen, von wo aus wir zeigen können, inwiefern Zeit und totale Mobilmachung in Heideggers Denken zusammengehören. Dabei nehmen wir keine Rücksicht auf Heideggers unterschiedliche Ansätze, diesen Begriff zu erläutern, sondern versuchen schlicht, eine mögliche Interpretation seines Verständnisses der Zeit zu geben. Unsere These besagt, dass Heidegger in einem Dilemma gefangen ist, das mit seinem Verständnis der Zeit zusammengehört. Verabsolutiert er die ‚ontologische Differenz‘ zwischen Sein und Seiendem, dann trägt dies zur Seinsverlassenheit bei, denn dann hat das Sein alles Seiende verlassen und kann sich nirgends zeigen. Lässt er andererseits Sein und Seiendes zusammenkommen, dann gibt es auch Seinsverlassenheit, weil es so gesehen kein selbständiges Sein gibt. 321 Entweder zeigt sich das Sein nicht oder es gibt es nicht. Um diesem ontologischen Dilemma zu entkommen, entwickelt Heidegger den Begriff des Wesens, der Sein mit Seiendem verbindet und somit Sein auf die Zeit bezieht. Nur liegt das Aporetische dieses Auswegs darin, dass der Begriff des Wesens bloß das bisherige Dilemma in einen und denselben Begriff verlegt und es dementsprechend noch weiter verschärft. Folgen wird nämlich dem Interpretationsstrategie des Wesens, den Heidegger seiner Untersuchung des Wesens der Technik zugrunde gelegt hat, dann wird klar, dass das Sein sich im Laufe der Zeit als das Wesen des Seienden zeigt. Es gibt in dieser Konzeption kein Sein, das hinter oder über dem Seienden ist, umgekehrt ist alles Seiende in Bewegung und ist als ein Geschehen zu fassen. Alle Dinge und Gegenstände 319 320

321

SdD, S 2. Heidegger, Martin: „Einleitung zu ‚Was ist Metaphysik‘“, in WM, Frankfurt am Main 1996, S. 376. Zum genaueren Verständnis des Begriffs der ‚ontologischen Differenz‘, siehe: Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe, Band 24, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, 2. Auflage, S. 322ff.

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sind vorübergehend anwesend und entstehen und vergehen wie auch die Pflanzen der Natur. Mit anderen Worten verbindet Heidegger mehr oder weniger explizit ‚Sein‘ und ‚Zeit‘ im Begriff des Wesens des Seienden, wodurch das Seiende nicht länger als starr anzusehen ist, und der totalen Mobilmachung des Seienden nicht zu entgehen scheint. Daraus ergibt sich eine weitere These der vorliegenden Arbeit, dass Heideggers ontologische Differenz glauben macht, dass es etwas wie Seiende an sich und reines Sein gibt: Das bloß Seiende aber ist eine Illusion; das Seienden gehört mit dem Wesen zusammen. Oder anders formuliert muss das Wesen dem Seienden explizit zurückgegeben werden, um nicht die Seinsverlassenheit zu verstärken. Und dies ist möglich, indem wir hinter die fixierten Gegenständen und Dingen in das Geschehen der Wahrheit des Seienden zurückgehen, wodurch die Dinge erst entstehen und vergehen. Gerade dies kann als die Aufgabe der Phänomenologie beschrieben werden: Die Wahrheit, das heißt das Sein und die Zeit, auf das Seiende zu beziehen. Dies bedeutet Seiendes als Geschehen, als IXYVL auszulegen.322 Dinge ‚haben‘ nicht Zeit im Sinne einer Eigenschaft – sie sind selbst zeitlich. Laut Heidegger ‚bewegen sich‘ beziehungsweise ‚vernichten sich‘ die Pflanzen, wodurch ihnen selbst auch ein negatives Prinzip angehört – wie auch den Dingen überhaupt. ‚Sein‘ und ‚Werden‘ sollen, wie Heidegger auch sagt, in ihrer „ursprünglichen Einheit“ gedacht werden und zwar in den Dingen selbst.323 322

323

Erhart Kästner wirft in seinem Buch Aufstand der Dinge der Moderne gerade vor, die Lebendigkeit der Dinge zu vernichten und dadurch die Dinge zu verachten (Vgl. Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1976, S. 155ff). „Wird es sich nicht als schrecklicher Irrtum erweisen, [...] wenn man die Dinge dieser Welt für stumpf, für tot hält? […] Kann man glauben, die Dinge dächten niemals an Aufstand, seien zur Volkserhebung nicht fähig? […] Wenn die Dinge sich wegziehen -: weggezogen, das andere Wort für abstrakt. Wegzug der Dinge, und das Abstrakte rückt nach. […] Also die Dinge sind tot. Nicht Gott ist tot, aber die Dinge; es war ein Nachrichten-Versehen, ein Übermittlungs-Fehler, eine Falschmeldung. Die Dinge sind tot, und wir (das war richtig) wir waren es, die sie erforschten, erwürgten und umbrachten. Wir waren es, die uns der Sünde schuldig machten: der Weltsünde einer Ehren-Kränkung der Dinge. […] Eines Tags aber werden es Alle einsehen und sich gestehen müssen, daß die Dinge tot sind. Dann wird in den Zeitungen stehen: Wie jetzt erst bekannt wird, sind die Dinge verstorben. […] Aber zur Zeit dieser Meldung werden nicht mehr Viele verstehen, was gemeint ist. Nur sehr alte Leute werden sich erinnern, in ihren jungen Tagen davon gehört oder gelesen zu haben: irgendwann einmal, vor Zeiten, lustige Vorstellungen, sollten die Dinge, der Mond und der Bach und die Tanne, die Stadt und die Bucht und das Kornfeld gelebt haben.“ (Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1976, S. 157ff). Siehe auch: „Die Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz wird in der vorliegenden Veröffentlichung als das zu Denkende gezeigt. Inwiefern die Differenz der Identität entstammt, soll der Leser selbst finden, indem er auf den Einklang hört, der zwischen Ereignis und Austrag waltet. Beweisen läßt sich in diesem Bereich

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Und damit soll den Dingen zurückgegeben werden, was ihnen durch die ontologische Differenz entnommen wurde. Dies können wir auch anders beschreiben, nämlich dadurch, dass die ontologische Differenz als ein pädagogischer (und darin als gefährlicher) Hilfsbegriff verstanden werden muss, den wir letztendlich hinter uns lassen müssen, um die Dinge nicht nur als reines Seiende zu verstehen, sondern in ihrer wahren prozessualen Fülle.324 Das Wahrheitsgeschehen geschieht ‚vor‘ den jeweiligen Gegenständen. Jedoch sind dabei auch die Dinge derart in Bewegung gedacht, dass sie zur totalen Mobilmachung führen.325 Heideggers totale Mobilmachung des Seienden lässt sich ergänzen, indem wir sie mit einem seiner Grundgedanken verbinden, den er seit seiner frühen Philosophie verfolgt hat. Auf der ersten Seite von Sein und Zeit schreibt Heidegger: „Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von ‚Sein‘ ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist ihr vorläufiges Ziel.“326 Mit dieser Formulierung, wonach die Leit- und

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nichts, aber weisen manches.“ (Heidegger, Martin, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, S. 8). Damit berühren wir auch ein Thema, das wir im dritten Teil der Arbeit ausführlicher betrachten werden und das Heidegger folgendermaßen anzeigt: „Das wissenschaftliche Vorstellen kann seinerseits niemals entscheiden, ob die Natur durch ihre Gegenständigkeit sich nicht eher entzieht, als daß sie ihre verborgene Wesensfülle zum Erscheinen bringt. Die Wissenschaft vermag dise Frage nicht einmal zu fragen; denn als Theorie hat sie sich bereits auf das von der Gegenständigkeit eingegrenzte Gebiet festgelegt.“ (VA, S. 58). Hier könnte eingewendet werden, dass der Gedanke der ontologischen Differenz durchaus ungriechisch ist, weil er eine Spaltung der Welt evoziert, die in der griechischen Welt nicht zulässig ist und die die Griechen mit Absicht vermieden haben. Siehe auch Jüngers Polemik gegen einen solchen Zwiespalt: „Diesem obersten Zwiespalt entspringen all jene vergifteten Gegensätze von Macht und Recht, Blut und Geiste, Idee und Materie, Liebe und Geschlecht, Mensch und Natur, Körper und Seele, weltlichem und geistlichem Schwert – Gegensätze, die einer Sprache angehören, die als Fremdsprache erkannt werden muß. Aus solchen Gegensätzen speist sich heute, nachdem sie ihre erste fressende Kraft verloren haben, das endlose dialektische Gespräch, das im Nihilismus endet, indem alles zur Ausflucht wird.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S.238). Siehe auch Ernst Jüngers Beitrag zur Festschrift anlässlich Heideggers 60. Geburtstag, den er damit beendet: „Der Vorwurf des Nihilismus zählt heute zu den verbreitetsten, und jeder wendet ihn gern auf seine Gegner an. Es ist wahrscheinlich, daß alle recht haben.“ (Jünger, Ernst: Über die Linie, Frankfurt am Main 1950, S. 43; kursiviert S.R.). SuZ, S. 1. Hier heißt es auch: „Demgegenüber [dem vulgären Zeitverständnis] ist auf dem Boden der ausgearbeiteten Frage nach dem Sinn von Sein zu zeigen, daß und wie im rechtgesehenen und rechtexplizierten Phänomen der Zeit die zentrale Problematik aller Ontologie verwurzelt ist.“ (SuZ, S. 18). Und: „Die fundamentale ontologische Aufgabe der Interpretation von Sein als solchem begreift daher in sich die Herausarbeitung der Temporalität des Seins.“ (SuZ, S. 19).

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Grundfrage dieser Abhandlung sich im Horizont der Zeit bewegt, hat Heidegger letztlich sein Ringen um das Sein durch die Zeit relativiert. Denn so wie Heidegger am Anfang seiner Untersuchung vom Begriff und Wesen der IXYVL bei Aristoteles betont, dass dasjenige, von woher etwas bestimmt wird, das Primat behält, so muss auch Heideggers Ansatz zur Auslegung des Seins im Rahmen der Zeit verstanden werden.327 Der bereits früh durch den Begriff der Zeit definierte Verstehenshorizont Heideggers kehrt auch in seinen späteren Gedanken wieder, aber hier nun mit Nietzsche verbunden – in scheinbarer Abstandnahme. Hier heißt es: „Das Sein, den Willen zur Macht, als ewige Wiederkunft denken, den schwersten Gedanken der Philosophie zu denken, heißt, das Sein als Zeit zu denken.“328 In Beiträge zur Philosophie wird es deutlich, warum Heidegger die so gedachte Zeit kritisiert. Heidegger wirft nämlich der als ewige Wiederkehr des Gleichen erfassten Zeit vor, das Werden in ewiger Anwesenheit aufgehoben zu haben. Die Gleichsetzung von Anwesenheit und Zeit hat sich mit dem ersten Anfang der Philosophie durchgesetzt: „Daß im ersten Anfang die ‚Zeit‘ als Anwesung sowohl als Beständigkeit (in einem gedoppelten und verschlungenen Sinne von ‚Gegenwart‘) das Offene bildet, aus dem her das Seiende als Seiendes (das Sein) die Wahrheit hat. Der Größe des Anfangs entspricht es, daß ‚die Zeit‘ selbst und sie als die Wahrheit des Seins gar nicht des Fragens und Erfahrens gewürdigt werden. Und ebenso wenig wird gefragt, warum die Zeit als Gegenwart und nicht auch als Vergangenheit und Zukunft für die Wahrheit des Seins ins Spiel kommt. Dieses Ungefragte verbirgt sich selbst als solches und lässt für das anfängliche Denken einzig das Un-geheure des Aufgehens, der ständigen Anwesung in der Offenheit (DMOKYTHLD) des Seienden selbst die Wesung ausmachen. We sung , ohne als so lc he b e g ri ffe n zu w e rden, i s t A n w esung.“329

Es ist dieser Anfang der Philosophie, der wie bereits erwähnt auch Heideggers eigene philosophische Anfänge und sein weiteres Denken durchzieht. Denn wie aus dem Anfang von Sein und Zeit hervorgeht, versucht Heidegger, das Sein im Horizont der Zeit zu denken. Dabei geht es Heidegger zugleich darum, das ‚vulgäre‘ Zeitverständnis zu überwinden und stattdessen, die Zeit in ihrer ‚ekstatischen‘ Grundstruktur zu denken, das heißt die Gegenwart in Bezug auf die Gewesenheit und die Zukunft zu verstehen.330 Heidegger zeigt, dass die Zeit, die aus der bloßen Gegenwart (Anwesung) gedacht ist und damit aus der Aufeinanderfolge von Jetzt-Punkten besteht, das heißt laut Heidegger, den vulgären Uhrzeigersinn des ‚Jetzt-nicht-mehr‘ 327

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In der IXYVL-Untersuchung begründet Heidegger auch den Vorrang der IXYVL damit, dass sie im Hinblick auf ihre Gegenbegriffe immer die Priorität behält, sofern „das Unterschiedene von ihr her bestimmt wird.“ (WM, S. 240). N I, S. 28. GA 65, S. 188f (gesperrt S.R.). SuZ, S. 328ff.

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und des ‚Jetzt-noch-nicht‘ verabsolutierend, nicht dem Wesen der Zeit gleichzusetzen ist.331 Vielmehr muss die Zeit auf die Offenheit bezogen werden, die sich in der ekstatischen Grundstruktur der Zeit offenbart, aber in der ‚Jetzt-Zeit‘ verborgen bleibt.332 Heidegger führt in Sein und Zeit diese Bestimmung nicht explizit auf Aristoteles Bestimmung der IXYVL zurück. Die Grundstruktur der dementsprechend verstandenen Zeit ist aber dieselbe wie in Heideggers Interpretation der Aristotelischen Bestimmung der SelbstBewegung der IXYVL.333 Heideggers ekstatisch verstandener Begriff der Zeit ermöglicht ihm nach Sein und Zeit zwar Unverborgenheit und Verborgenheit des Seienden miteinander zu verbinden und das Wesen der Zeit als ein Wahrheitsgeschehen zu sehen, aber nicht das Seiende der Herrschaft der Bewegung zu entziehen – ganz im Gegenteil. In Heideggers Verständnis der Zeit wird deutlich, inwiefern Seiendes sich in der Zeit ereignet und ‚Welt‘ entstehen kann. Aus der ekstatisch verstandenen Zeit entsteht eine Offenheit, indem Vergangenheit und Zukunft auseinander gehalten und aufeinander bezogen werden, aber diese Offenheit, scheint bloß die Offenheit zu sein, die es ermöglicht, das Seiende zu sehen – nicht es zu verändern, denn es steht bereits im Geschick, das heißt in der Selbst-Bewegung seines Wesens. Jedes Seiende ist unter der Herrschaft der Zeit, die sich ständig reproduziert und ständig droht, es in ihrer Bewegung vollends aufzulösen. Nichts herrscht in dieser Konzeption über die Zeit, die als totale Mobilmachung des Seienden zu verstehen ist, und die Zeit ist bloß darauf ausgerichtet, sich selbst zu bewegen, das heißt: Wieder umzuschlagen und Unverborgenes zum Vorschein und wieder zum Verschwinden zu bringen.334 Die Zeit bietet

331 332 333

334

SuZ, S. 420ff. SuZ, S. 426f. Siehe auch: „Die drei Formen der Zeit – Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart – gehören also zusammen: Man hält sich in keiner von ihnen, ohne auch auf die anderen verwiesen zu werden. Dabei schließen die drei Formen der Zeit einander strikt aus, jede von ihnen ist von den anderen radikal unterschieden, und keine von ihnen geht in die anderen über. Diese unvermittelte Zusammengehören der Zeitformen will Heidegger fassen, indem er sie als ‚Ekstasen‘ bezeichnet. Das ist ein Begriff, den Heidegger wohl im Anschluss an eine Bemerkung des Aristoteles in der Physik gebildet hat. Jede unmittelbare Veränderung (metabolé), so heißt es bei Aristoteles, hat den Charakter eines ‚ekstatikón‘ (Physik 222b); ‚ekstatikós‘ heißt, sich von etwas trennen können, über sich hinausgehen können, und das läßt sich von den Formen der Zeit in der Tat sagen – jede von ihnen ist nur derart, daß sie zugleich auch über sich hinaus ist, daß sie in die anderen Formen der Zeit ‚umschlägt‘; keine ist ohne die anderen.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 82f.) Hier erkennen wir wieder die Affinität zu Heideggers Interpretation der IXYVL. Siehe auch Günter Figals Beschreibung der spezifischen Unverlässlichkeit der IXYVHL R?QWD: „Es gehört nicht zu ihrem Wesen, festzustehen oder festzuliegen, sondern sie haben, wie Aristoteles sagt, den eingewachsenen Drang zur Veränderung, genauer:

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dem Seienden keinen Halt, ganz im Gegenteil, sie entzieht ihm in dieser Konzeption jeglichen Anhaltspunkt, und bestimmt es zu ständiger Veränderung.335 Aus der zeitlichen Gleichursprünglichkeit des Geschehens der Wahrheit und der Offenbarung von Welt gewinnt also die Zeit bei Heidegger ihre grundlegende Bedeutung. In diesem Zusammenhang versteht Heidegger den Bezug des Seins auf die Zeit. Dadurch wird verständlich, wenn er sagt: „Welt ist nie, sondern weltet.“336 Diesen Zusammenhang von Sein, ‚Wahrheit‘ und Zeit verdeutlicht Heidegger mit dem Begriff des ‚Waltens‘ oder der ‚Wesung‘. Den Vorrang des dynamischen Aspekts dieser Triade hebt Heidegger hervor, indem er schreibt: „Geschehnis der Wahrheit des Seyns, das ist Wesung; nicht und nie somit eine noch dem Seyn wieder zukommende oder gar über ihm an sich bestehende Seins-weise.“337 Die Wesung, das heißt das Wesen des Seienden, bezeichnet das Sein genau in dem Sinne, dass es die Wahrheit des Seins zeigt. Das Sein ist daher auch nicht als ‚mythisches Abstraktum‘ zu verstehen.338 Wenn das Seiende derart auf Bewegung gestellt ist, dann stellt sich die Frage, worin Heidegger die Rettung vor der totalen Mobilmachung des Seienden sieht. Wie kann der Mensch, wenn überhaupt, sich von der Bewegung des Seienden losreißen? Es scheint zunächst, als ob seine einzige Möglichkeit darin bestünde, die totale Mobilmachung des Seienden als solche zu verstehen, das heißt, dies als ein Geschehen der IXYVL beziehungsweise als

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zum Umschlag, also dazu, jetzt so und mit einem Mal anders zu sein.“ (Figal, Günter: Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 370). Siehe auch: „Für Heidegger ist das, was bei Platon ‚die Idee des Guten‘ genannt wird, die Zeit: Ohne den Blick auf die Zeit ist kein Seinsentwurf möglich, denn die Zeit ist das Ermöglichende überhaupt; nichts ist ohne die Zeit und außer der Zeit, und nichts wird anders als zeitlich.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 82f.). ‚Nicht ist außer der Zeit‘ – alles gehört unter ihrer Herrschaft. Wichtig ist es in dieser Analogie zwischen ‚Zeit‘ und Platons Idee des Guten sich außerdem zweierlei bewusst zu werden. Einerseits ist die Zeit als ‚das Ermöglichende überhaupt‘ – und in Heideggers Konzeption auch die Möglichkeitsbedingung des Bösen –, andererseits, aber damit verbunden, hat die Bewegung der Zeit bei Heidegger kein Ziel, wie es die Idee des Guten bei Platon noch vorgeben könnte. Die Zeit ermöglicht bloß die Wahrheit im Sinne der ständig sich-zeigenden Veränderung des Seienden. Umgekehrt kann man sich fragen, ob ein Grund Platons, die Ideenlehre überhaupt zu entwickeln, nicht derjenige gewesen sei, der totalen Mobilmachung des Seienden zu entkommen, die zu entstehen scheint, wenn die Zeit selbst zum obersten Prinzip gehoben wird. Die Ideen Platons sind gerade, wie Heidegger selbst es sagt, als das gedacht, was sich in der Veränderung des Seienden nicht auflöst. (Vgl. VA, 34). Stattdessen setzt Heidegger die Zeit als ‚das Ermöglichende überhaupt‘ voraus – also das, was jede Idee (auch die von Platon) und jedes Seiende auflösen kann. WM, S. 164. GA 65, S. 288. Vgl. VA, S. 35.

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ein Ereignis der Wahrheit zu sehen und damit vor den fixiert gedachten Dingen zurückzugehen. Wenn es so wäre, dann wäre die totale Mobilmachung als solche nicht gefährlich – sondern es wäre gefährlich, ihre Herrschaft nicht zu verstehen. Ein Bereich aber, in dem das Geschehen des Seienden besonders transparent werden kann, ist laut Heidegger der Bereich der Kunst.

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Zweiter Teil

Die Technik im Rahmen der Kunst

Erstes Kapitel

‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ Es scheint nun, als ob das Gestell omnipotent und der Mobilmachung unmöglich zu entkommen sei – denn das Gestell ist auf Universalität ausgerichtet. Damit wird das ‚Rettende‘ in weite Ferne gerückt, wenn es überhaupt noch eine Rettung vor dem Wesen der modernen Technik geben kann. Heidegger macht jedoch auf einen Bereich aufmerksam, der dem Geschick des Gestells standhalten kann, und von wo aus er eine Auseinandersetzung mit der modernen Technik zu erarbeiten versucht, nämlich den der Kunst. Von hier aus erhofft er, den Menschen von der Herrschaft des Gestells retten oder zumindest dessen Herrschaft eingrenzen zu können. In „Die Frage nach der Technik“ verweist Heidegger explizit auf die Kunst als einen derartigen Bereich, denn die Kunst ist ursprünglich mit dem Wesen der Technik verwandt aber dennoch etwas grundsätzlich anderes. Von der Kunst aus kann die Technik für Heidegger in ihrer Begrenzung erfahren werden.1 „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen.“2

Heidegger erweitert im Anschluss daran die Beziehung zwischen Kunst und Technik, indem er sagt: „Je fragender wir das Wesen der Technik bedenken, um so geheimnisvoller wird der Kunst.“3 Nachdem wir bisher versucht hatten, dem Wesen der Technik fragend nachzugehen, muss die Kunst nun angesichts dieser Feststellung Heideggers also ‚um so geheimnisvoller‘ werden. Vor dem Hintergrund des ersten Teils der Arbeit scheint der zweite Teil, worin wir uns mit der Beziehung zwischen Kunst und Technik beschäftigen werden, also schwieriger geworden zu sein. Aber weil Heidegger die Kunst als ein Bollwerk gegen die moderne Technik konzipiert und 1

2 3

Vgl. „Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet. Entsprechen wir diesem, dann vermögen wir es, das Technische in seiner Begrenzung zu erfahren.“ (VA, S. 9). VA, S. 39. VA, S. 40.

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glaubt, dass die Kunst den Menschen vor der Instrumentalisierung retten kann, muss hier den Versuch unternommen werden, in ihr ‚Geheimnis‘ ein Stück weit vorzudringen. Zunächst möchten wir deswegen Heideggers Gedanken anhand seiner ausführlichsten Schrift über die Kunst entfalten, um schließlich die folgenden Fragen besser beantworten zu können: Wie kann die Kunst den Menschen vor der modernen Technik retten? Ist es möglich, dass die moderne Technik sich als Kunst zeigt? Und kann Kunst gefährlich sein? „Der Ursprung des Kunstwerkes“ enstand als Ausarbeitung dreier Vorträge, die Heidegger1936 in Frankfurt gehalten hat.4 Wichtig ist hierbei, dass dieser Text vor „Die Frage nach der Technik“ geschrieben worden ist und damit nicht davor schon als Diskussion der ‚Rettung‘ vor dem Wesen der modernen Technik angelegt ist. Wir haben es also mit einem Text zu tun, in dem das Wesen der Kunst entfaltet wird, aber anhand dessen der Interpret selber die rettende Funktion der Kunst erst ausarbeiten muss. Es ist äußerst schwierig, dem Gedankengang des Textes in Gänze und in seiner Einheit zu folgen. Daher möchten wir zunächst versuchen, seine Hauptschritte in den nächsten drei Abschnitten nachzuzeichnen. Dabei wird sich zeigen, dass Heideggers Gedankengang nicht zuletzt deswegen schwer zu folgen ist, weil dieser Gang Schritte suggeriert, die sich bei genauerer Lektüre als sprunghaft und fragwürdig erweisen.

A ‚Aus der dunklen Öffnung‘5 Heidegger leitet seine Meditationen über das Kunstwerk mit einem Exkurs über den Begriff des Ursprungs ein. Der erster Satz seiner KunstwerkUntersuchung verbindet den Begriff des Ursprungs mit dem Begriff des Wesens: „Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist. Das, was etwas ist, wie es ist, nennen wir sein Wesen. Der Ursprung von etwas ist die Herkunft seines Wesens.“6 Nun könnte man glauben, dass der Ursprung des Kunstwerkes der Künstler sei, aber Heidegger weist diese naheliegende Annahme durch eine suggestive Frage zurück: „Wodurch aber und woher ist der Künstler das, was er ist? Durch 4

5 6

Es gibt jedoch ein Manuskript, das sich gewissermaßen als eine ‚erste Vortragsfassung‘ vom Kunstwerkaufsatz bezeichnen ließe und das Heidegger als Vorlage für einen Vortrag in Freiburg 1935 mit dem Titel „Vom Ursprung des Kunstwerkes“ gedient hat (Vgl. Heidegger Studien, „Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger 1889-1989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22). Wir orientieren uns im Folgenden primär an der zweiten Fassung, weil sie die Fassung ist, die in der Forschung zur Wirkung gekommen ist. Vgl. Holzw, S. 19. Holzw, S. 1 (kursiviert S.R.).

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das Werk.“7 Heideggers ersten Erörterungen zufolge kann man also mit gleichem Recht behaupten, dass das Kunstwerk der Ursprung des Künstlers, wie auch der Künstler der Ursprung des Kunstwerks ist. Kunstwerk und Künstler sind also gegenseitig von einander abhängig und dieser Wechselbezug zeigt gerade ihren gemeinsamen Ursprung in der Kunst: „Künstler und Werk sind je in sich in ihrem Wechselbezug durch ein Drittes, welches das erste ist, durch jenes nämlich, von woher Künstler und Kunstwerk ihren Namen haben, durch die Kunst.“8 Um die Kunst und ihre Gegebenheitsweise zu verstehen, muss man wiederum auf das Werk und die Künstler rekurrieren. Es scheint, als ob Heidegger sich durch seine eigenes ‚anfängliches Denken‘ in einem Zirkel des Denkens verstrickt hat. Heidegger führt jedoch selbst aus, wie sein Unterfangen, den Ursprung des Kunstwerkes zu bestimmen, von vornherein als eine unmögliche Aufgabe zumindest erscheint.9 Doch Heidegger lässt sich davon nicht beirren und betrachtet es gerade als eine Selbsttäuschung, diesen Zirkel vermeiden zu wollen. Die Charakteristika der Kunst lassen sich nicht einfach bestimmen, ohne damit im Voraus die Kunst als solche bereits festgelegt zu haben. Genauso unmöglich erweist sich der Weg, die Kunst syllogistisch abzuleiten: „Aber so wenig wie durch eine Aufsammlung von Merkmalen an vorhandenen Kunstwerken läßt sich das Wesen der Kunst durch die Ableitung aus höheren Begriffen gewinnen; denn auch diese Ableitung hat im voraus schon jene Bestimmungen im Blick, die zureichen müssen, um uns das, was wir im voraus für ein Kunstwerk halten, als ein solches darzubieten“10. Als Konsequenz führt Heidegger weiter aus: „So müssen wir den Kreisgang vollziehen. Das ist kein Notbehelf und kein Mangel. Diesen Weg zu betreten, ist die Stärke, und auf diesem Weg zu bleiben, ist das Fest des Denkens, gesetzt, daß das Denken ein Handwerk ist. Nicht nur der Hauptschritt vom Werk zur Kunst ist als der Schritt von der Kunst zum Werk ein Zirkel, sondern jeder einzelne der Schritte, die wir versuchen, kreist in diesem Kreis.“11

Aus diesem Lob des Zirkels unseres Verstehens der Kunst verwandelt Heidegger die ambivalente Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks in eine Frage nach dem ‚Wesen der Kunst‘.12 Denn gleichültig in welcher der zwei Weisen nach dem Ursprung des Kunstwerkes gefragt und gesucht wird, führen sie in einen Kreis, aber gerade dadurch kommt etwas Wesentliches 7 8 9 10 11 12

Holzw, S. 1. Holzw, S. 1. Vgl. Holzw, S. 2. Holzw, S. 2 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 3. Vgl. Holzw, S. 2. Der Zirkel des Verstehens, wodurch das Sein nur im Rekurs auf das Seiende und umgekehrt verständlich wird, scheint aber Heidegger nicht zu gefallen und zum Vorwurf der Metaphysik zu führen. (Vgl. N II, S. 14ff.)

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der Kunst zum Ausdruck: „Um das Wesen der Kunst zu finden, die wirklich im Werk waltet, suchen wir das wirkliche Werk auf und fragen das Werk, was und wie es sei.“13 Betrachtet man mit Heidegger den alltäglichen Kunstbetrieb, wo Kunstwerke von Museum fortlaufend an neue Museen verschickt werden, wie Kunstwerke im öffentlichen Raum zugänglich gemacht werden, dann erscheinen diese Werke auf eben dieselbe Weise wie jedes andere Ding, das den Menschen im ‚technischen Zeitalter‘ zu Verfügung steht.14 In einer ersten Annäherung aus gegenwärtiger Sicht, sieht das Kunstwerk also wie jedes andere Ding aus. Gerade deswegen setzt Heidegger mit seiner Untersuchung bei dem Dingbegriff an, und von hier versucht er, eine erste Differenz zwischen Werk und Ding kenntlich zu machen. „Die Werke sind so natürlich vorhanden wie Dinge sonst auch. Das Bild hängt an der Wand wie eine Jagdgewehr oder ein Hut. Ein Gemälde, z.B. jenes von van Gogh, das ein Paar Bauernschuhe darstellt, wandert von einer Ausstellung in die andere. Die Werke werden verschickt wie die Kohlen aus dem Ruhrgebiet und die Baumstämme aus dem Schwarzwald.“15 Heidegger, der ansonsten keinen Ironiker ist, gelingt es mit dieser ersten Verstellung des Kunstwerkes, den modernen Umgang mit den Kunstwerken bloßzustellen. Damit erhält der Leser bereits am Anfang seines Textes einen Einblick in das, was für Heidegger auf dem Spiel steht: Nämlich wie es überhaupt möglich ist, ein Kunstwerk im Zeitalter der Kunstindustrie prinzipiell von den Dingen abzugrenzen, die man wie ein Vorrat an Kohle aus dem Ruhrgebiet behandelt und einfach verschickt, verteilt, verbraucht. Durch diesen Anstoß, den die Tatsache des ‚technischen‘ Umgangs mit Kunstwerken uns gibt, fordert Heidegger den Leser indirekt zum Nachdenken über die Kunst auf. Um dem beiläufigen Leser die richtige Spur zu weisen, kommentiert Heidegger selbst diese Zusammenstellung von Kunstwerk und Ding, und sagt: „Aber vielleicht stoßen wir uns an dieser reichlich groben und äußerlichen Ansicht vom Werk.“16 Trotzallem kommen wir damit nicht daran vorbei, dass das Dinghafte zum Kunstwerk gehört, denn „das Bauwerk ist im Stein. Das Schnitzwerk ist 13

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Holzw, S. 3. Diese scheinbar schlüssige Folgerung werden wir im nächsten Kapitel ausführlicher untersuchen. Sie erlaubt nämlich einen Vorgriff auf die Bestimmung der Kunst, denn je nach dem, was für ein Kunstwerk analysiert wird, ergibt sich die Bestimmung der Kunst. Allein die Vorentscheidung, ob ein Kunstwerk von Wassily Kandinsky, Marcel Duchamp, von Vincent van Gogh, Andy Warhol oder Johann Sebastian Bach zum Ausgangpunkt einer Kunst-Untersuchung genommen wird, impliziert eine Entscheidung über das Wesen der Kunst. Vgl. Holzw, S. 3ff. Holzw, S. 3. Holzw, S. 3.

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im Holz“17. Dass das Kunstwerk gleichzeitig über das Dinghafte hinausgeht, scheint aber auch für Heidegger selbstverständlich zu sein.18 Dieses Andere, was sich im Kunstwerk offenbart, heißt in der Tradition ‚Allegorie,‘ und die gestiftete Verbindung zwischen den zwei Ebenen, dem Dinghaften und dem, was darüber hinausgeht, heißt nach derselben Tradition ‚Symbol‘,19 Denn Symbol bedeutet seiner ursprünglichen Bedeutung nach ‚Zusammenbringen‘.20 ‚Allegorie‘ und ‚Symbol‘ sind zwei Hauptbegriffe, mit denen das bisherige Kunstverständnis operiert hat, oder wie Heidegger sagt: „Allegorie und Symbol geben die Rahmenvorstellung her, in deren Blickbahn sich seit langem die Kennzeichnung des Kunstwerkes bewegt.“21 Ob das Dinghafte der ‚Unterbau‘ sei, über den die eigentliche Kunst aufgebaut wird, oder ob „das Werk im Grunde etwas Anderes und nie ein Ding ist“22: Dies möchte Heidegger zunächst untersuchen. In diesem Sinne beginnt seine Analyse des Kunstwerkes mit einer systematischen Interpretation von Ding- und Werkbegriff. Die Fragestellung des Heideggerschen Gedankengangs können wir folgendermaßen formulieren: Inwiefern lässt sich ein Kunstwerk von der Kohle aus dem Ruhrgebiet prinzipiell unterscheiden? Was ist aber überhaupt ein Ding? Heidegger antwortet auf diese Frage zunächst, dass in der Alltagssprache alles zunächst ein Ding sei, „was nicht schlechthin nichts ist.“23 So wird sowohl ein ‚Stein‘, als auch die ‚letzten Dinge‘ wie der ‚Tod‘ und ‚das Gericht‘ als auch die Dinge, die sich gar nicht zeigen, nämlich die ‚Dinge an sich‘, als Dinge bezeichnet.24 Um die Seinsart der Dinge von Werken abzugrenzen, führt die Alltagssprache Heidegger offenbar nicht weiter. Betrachtet man die alltägliche Verwendung des Begriffs ‚Ding‘, dann werden Menschen normalerweise nicht als Dinge bezeichnet, aber auch Tiere nicht – geschweige denn Gott.25 Wendet man sich dem zu, was in der Sprache als die ‚bloßen Dinge‘ bezeichnet werden, dann bietet jedoch die philosophische Tradition laut Heidegger drei verschiedene Antworten auf die Frage nach ihrer ‚Dingheit‘ an.26 Erstens wird das Ding als der Träger von Merkmalen interpretiert; zweitens als Einheit einer Emp-

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Holzw, S. 4. Vgl. Holzw, S. 3f. Vgl. Holzw, S. 4. Vgl. Holzw, S. 4. Holzw, S. 4. Holzw, S. 5. Holzw, S. 5. Vgl. Holzw, S. 5. Vgl. Holzw, S. 6. Vgl. Holzw, S. 6 f.

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findungsmannigfaltigkeit und drittens wird es als geformter Stoff ausgelegt.27 Gemäß der ersten Auslegung des Dinges kann man vom Kern eines Dinges sprechen.28 Nimmt man als Beispiel einen Granitblock, wie es Heidegger in seiner Untersuchung tut, dann kann man sagen, dass der Granitblick „hart, schwer, ausgedehnt, massig, unförmig, rau, farbig, teils matt, teils glänzend [ist].“29 So gesehen hat das Ding in Heideggers Auslegung eine Reihe von Eigenschaften, die man aufzählen kann, und das Ding versammelt diese Eigenschaften um sich herum. Für diese Interpretation des Dinges benutzten die Griechen das Wort WRX-SRNHLYPHQRQ und seine Merkmale wurde mit dem Wort WDVXPEHEKNRYWD beschrieben.30 Demnach wird das Ding in seiner bloßen Anwesenheit erfasst. Das lateinische Denken hat diese zwei Begriffe übernommen und sie mit den Begriffen ‚substantia und accedentia‘ übersetzt. Dieser Übersetzung wirft Heidegger jedoch vor, die ursprüngliche griechische einheitliche Erfahrung des Dinges nicht zu berücksichtigen und damit die Begrifflichkeit von ihrem ursprünglichen Erfahrungsbereich zu trennen. Dadurch ist ein Sprachgebrauch möglich geworden, der sich nach Heideggers Auffassung für das abendländische Denken als äußerst folgenschwer erwiesen hat, denn mit ihm hat die zugrundeliegende Definition der Dinge keinen Rückhalt in der Erfahrung mehr.31 Nach dieser Auslegung ist das „Ansprechen der Dinge und das Sprechen über sie“32 nämlich in dem Sinne fiktiv geworden, dass man nun von abstrakten Substanzen und Subjekten reden kann, die in Sätzen und Aussagen beliebige Prädikaten einfach zugesprochen werden können.33 Heidegger stellt diese Auslegung des Begriffs vom Ding folgendermaßen in Frage: „Wer möchte sich unterfangen, an diesem einfachen Grundverhältnissen zwischen Ding und Satz, zwischen Satzbau und Dingbau zu rütteln? Dennoch müssen wir fragen: ist der Bau des einfachen Aussagesatzes (die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat) das Spiegelbild zum Bau des Dinges (zur Vereinigung der Substanz mit den Akzidenzien)? Oder ist gar der so vorgestellte Bau des Dinges entworfen nach dem Gerüst des Satzes?“34 Diese Fragen lassen sich anhand dieser Auslegung nicht unmittelbar beantworten, weil beide einen gemeinsamen Ursprung haben.35 Ob der Dualismus zwischen Träger und Merkmalen der Dinge aus der Sprache entstanden ist, oder ob sich diese 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. Holzw, S. 15. Vgl. Holzw, S. 7. Holzw, S. 7. Holzw, S. 7. Vgl. Holzw, S. 8. Holzw, S. 8. Vgl. Holzw, S. 8. Holzw, S. 8 (kursiviert S.R.). Vgl. S. 9.

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Konzeption der Vorstellung des Baus eines Dinges verdankt, ist für Heidegger nicht entscheidend. Dem einheitlichen Grund der beiden Fragen kommen wir jedoch mit dem zweiten traditionellen Verständnisses des Dinges einen Schritt näher. Hier wird nämlich eine ursprüngliche phänomenologische Einheit des Dinges vorgestellt. Wie Heidegger sagt: „Im Grunde gibt weder der Satzbau das Maß für den Entwurf des Dingbaues, noch wird dieser in jenem einfach abgespiegelt. Beide, Satz- und Ding-bau, entstammen in ihrer Artung und in ihrem möglichen Wechselbezug einer gemeinsamen ursprünglicheren Quelle.“36 Gegen diese erste Interpretation des Dinges wendet Heidegger also ein, dass sie „jenes Eigenwüchsige und Insichruhende [des Dinges] nicht trifft.“37 Die erste Interpretation sei als ein Überfall auf die Dinge zu verstehen, dem vom einheitlichen phänomenologischen Begegnenlassen der Dinge widersprochen wird.38 Beseitige man nämlich den rationalen analytischen Filter, der sich zwischen die unmittelbaren Dinge und den Menschen als Folge der ersten Interpretation des Dinges eingeschoben hat, dann sehe man die Dinge anders und einheitlicher.39 Um diesen Zugang zu verdeutlichen, muss man aus Heideggers Sicht nicht erst begrifflich das Ding konstruieren, sondern muss sich im Gegenteil bloß darauf besinnen, was grundsätzlich bereits mit der Erfahrung gegeben ist.40 Durch die Empfindungen hat der Mensch nämlich einen privilegierten Zugang zu den Dingen, die einer dualistischen Vorstellung des Dinges vorausgeht: „In dem, was der Gesicht-, Gehör- und Tastsinn beibringen, in den Empfindungen des Farbigen, Tönenden, Rauhen, Harten rücken uns die Dinge, ganz wörtlich genommen, auf den Leib.“41 In diesem Zugang zeigt sich ein Ding als das DLMVTKWRYQ, das als Einheit des durch die Sinne Erschlossenen beschrieben werden kann.42 Auch dieser zweite Dingbegriff hat eine Wirkungsgeschichte: „Demzufolge wird dann später jener Begriff vom Ding üblich, wonach es nichts anderes ist als die Einheit einer Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen. Ob diese Einheit als Summe oder als Ganzheit oder als Gestalt gefaßt wird, ändert am maßgebenden Zug dieses Dingbegriffes nichts.“43 Aber auch dieser zweite Dingbegriff ist für Heidegger nicht überzeugend, und so nimmt er ihn auch nicht zum Ausgangspunkt, um Dinge von Kunstwerken zu unterscheiden. Denn, wie Heidegger sagt, vernimmt man meis36 37 38 39 40 41 42 43

Holzw, S. 9. Holzw, S. 9. Vgl. Holzw, S. 10. Vgl. Holzw, S. 10. Vgl. Holzw, S. 9f. Holzw, S. 10. Vgl. Holzw, S. 10. Holzw, S. 10.

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tens nicht erst Empfindungen und verbindet sie nachträglich zu einem Ding, sondern die Dinge sind unmittelbarer als die Empfindungen. Diese phänomenologische Tatsache muss ein angemessener Dingbegriff zur Geltung bringen können. „Niemals vernehmen wir, wie er [der zweite Dingbegriff] vorgibt, im Erscheinen der Dinge zunächst und eigentlich einen Andrang von Empfindungen, z.B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Sturm im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug, wir hören den Mercedes im unmittelbaren Unterschied zum Adler-Wagen. Viel näher als alle Empfindungen sind uns die Dinge selbst. Wir hören im Haus die Tür schlagen und hören niemals akustische Empfindungen oder auch nur bloße Geräusche. Um ein reines Geräusch zu hören, müssen wir von den Dingen weghören, unser Ohr davon abziehen, d.h. abstrakt hören.“44

Bildlich gesprochen wird dem Ding nach dem zweiten Dingbegriff zu eng auf den Leib gerückt, während der erst Dingbegriff die Dinge zu weit wegstellt und zu abstrakt konzipiert: „In beiden Auslegungen verschwindet das Ding.“45 Die dritte traditionelle Auslegung des Dinges, wonach das Ding geformter Stoff sei, trifft für Heidegger den Mittelweg zwischen den beiden bisherigen Dingbegriffen und scheint ihm also zunächst den Ausgangspunkt für seine Untersuchung zu sichern. Dem dritten Dingbegriff gemäß gehört das Kernhafte des ersten Dingbegriffs mit der Sinnlichkeit des zweiten Dingbegriffs zusammen – beide sind nämlich im Stofflichen des Dinges gegründet.46 „In dieser Bestimmung des Dinges als Stoff (X-YOK) ist die Form (PRUIKY) mitgesetzt. Das Ständige eines Dinges, die Konsistenz, besteht darin, daß ein Stoff mit einer Form zusammensteht. Das Ding ist ein geformter Stoff.“47 Mit diesem Dingbegriff scheint zweierlei möglich zu sein: sowohl die bloßen Dinge als auch die Gebrauchsdinge zu beschreiben; und von diesem Dingbegriff aus eine Kontrastfolie zwischen den Dingen und den Werken ent-

44 45 46 47

Holzw, S. 10f (kursiviert S.R.). Holzw, S. 11. Vgl. Holzw, S. 11. Holzw, S. 11. Ob die dritte Bestimmung des Dinges sich nun auch wesentlich von der ersten, aber auch der zweiten unterscheidet, soll zunächst dahingestellt sein. Ob die Merkmale und Subjekte einerseits und die Mannigfaltigkeit und die Gestalt andererseits sich einander nicht gegenseitig bedingen und analog zum dritten Dingbebriff zu verstehen sind, ist eine Hypothese, die im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterverfolgt werden soll. Jedoch findet man für diese Hypothese bei Heidegger selbst den Ansatz einer Bestätigung; denn nach seiner Dreiteilung des Dingbegriffs modifiziert er sie und gesteht: „Im Verlauf der Geschichte der Wahrheit über das Seiende haben sich die genannten Auslegungen untereinander noch verkoppelt, was jetzt übergangen sei.“ (Holzw, S. 16). Ob diese Dingbegriffe jemals völlig von einander getrennt waren, könnte eine Fragestellung für eine weitere Untersuchung sein.

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wickeln zu können.48 Demnach wäre es zunächst verständlich, dass das Ding zum Werk gehört, aber das Wesen des Werkes nicht erschöpft. Das Dinghafte des Werkes müsste dementsprechend als der Stoff interpretiert werden, dem der Künstler eine besondere Form gibt, wodurch ein Kunstwerk erst entsteht. Das Ding würde in dieser dritten Auslegung dann notwendig zum Werk gehören, aber dies würde sein Wesen nicht erschöpfen. Auch gegenüber diesem dritten Dingbegriff bleibt Heidegger letzten Endes skeptisch, weil Stoff und Form beziehungsweise Inhalt und Form zu ‚Allerweltsbegriffen‘ geworden seien, „unter die sich alles und jedes bringen läßt.“49 Mit ihnen lasse sich die Eigenart der ‚bloßen Dinge‘ nicht unmittelbar gegenüber vom Rest des Seienden abgrenzen. Aus den Aporien, die sich aus den drei Dingbegriffen für die Untersuchung ergeben, gibt es aber laut Heidegger einen Ausweg. Denn der dritte Dingbegriff, wonach ein Ding aus Stoff und Form besteht, entspringt einem besonderen Bereich des Seienden. Ist es möglich, diese ursprüngliche Erfahrung des Dinges wieder vor Auge zu bringen, die bestand, bevor die Dingdefinition auf anderes Seiende ‚ausgeweitert‘ und ‚entleert‘ wurde? Wenn wir sie mit Blick auf einen begrenzten Bereich des Seienden verstünden, dann könnte dieser Dingbegriff womöglich seine Aussagekraft zurückgewinnen und Heidegger als Ausgangspunkt für die Untersuchung dienen.50 Heideggers weiterleitende Frage beginnt deswegen damit, wo „das StoffForm-Gefüge seinen Ursprung [habe], im Dinghaften des Dinges oder im Werkhaften des Kunstwerkes?“51 Heidegger findet die Antwort auf diese Frage weder in dem einen noch in dem anderen Bereich; zugleich ist seine Antwort auch nicht Ergebnis eines systematischen Verfahrens. Durch Einzelanalysen kommt Heidegger zum Ergebnis, dass das Stoff-Form-Begriffsschema zum Bereich der Dienlichkeit gehört: das heißt Heidegger erklärt nicht, warum dieser Bereich und nur dieser Bereich der Ursprung des dritten Dingbegriffs sein kann. Vielmehr zeigt er bloß positiv, dass in der Dienlichkeit „sowohl die Formgebung als auch die mit ihr vorgegebene Stoffwahl und somit die Herrschaft des Gefüges von Stoff und Form [gründen].“52 Aus der Erfahrung der gegenseitigen Bedingung von Form und Stoff in der Herstellung von unterschiedlichem Zeug erhält der dritte 48 49 50

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Vgl. S. 41. Holzw, S. 12. Vgl. S. 11. Hier könnte man Heidegger kritisch fragen, ob eine solche Begriffsdestruktion der zwei ersten Dingbegriffe auch möglich wäre, so dass sie ihre eigentliche Aussagekraft in einem besonderen Bereich des Seienden hätten. Diese Fragestellung möchten wir hier nicht erweitern, aber als kritischen Ansatz für weitere Forschung angeben. Holzw, S. 12f. Vgl. Holzw, S. 13.

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Dingbegriff so in einem Teilbereich des Seienden seine besondere Aussagekraft – und zwar die Gebrauchsdinge betreffend.53 Verwendet auf das Seiende im Allgemeinen gibt dieser Dingbegriff also zu verstehen, dass das Seiende überhaupt hergestellt ist – eine Annahme, der auch die biblische Schöpfungsgeschichte Heideggers Ansicht nach Nahrung gibt.54 Der Bereich der Herstellung von Zeug, aus dem der dritte Dingbegriff entsprungen ist, ist nun als ein Zwischenbereich zwischen den bloßen Dingen und den Kunstwerken zu verstehen.55 „Das Zeug, z.B. das Schuhzeug, ruht als fertiges auch in sich wie das bloße Ding, aber es hat nicht wie der Granitblock jenes Eigenwüchsige. Andererseits zeigt das Zeug eine Verwandtschaft mit dem Kunstwerk, sofern es ein von Menschenhand Hervorgebrachtes ist […] So ist das Zeug halb Ding, weil durch die Dinglichkeit bestimmt, und doch mehr; zugleich halb Kunstwerk und doch weniger, weil ohne die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerkes.“56

Aus diesem Zwischenstatus des zeugmäßigen Dingbegriffs wird einerseits klar, dass es sich bei dem dritten Dingbegriff auch nicht nur um sogenannte ‚bloße Dinge‘ handelt, denn um als bloßes Ding gelten zu können, müsste das Ding eben auch seiner Dienlichkeit entblößt werden. Auch dieser Dingbegriff bleibt ein Vorgriff auf das bloße Ding und kann den Weg zum ‚unscheinbaren Ding‘ versperren, wie das ‚bloße Ding‘ auch von Heidegger genannt wird.57 Aber eben aufgrund dieser Zwischenstellung des dritten Dingbegriffs zwischen dem bloßem Ding und dem Kunstwerk ist es möglich, ihn als heuristisches Hilfsmittel zu nutzen, um einen Zugang zum Wesen der Dinge und der Werke zu finden. Denn verstehen wir den dritten Begriff vom Ding, das heißt vom Zeug her, das sich mit Heidegger zwischen bloßen 53 54 55

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Vgl. Holzw, S. 14. Vgl. S. 14. Diese Zurückführung auf den so gestellten Ursprung des dritten Dingbegriffs scheint eine sorgfältig vorbereitete eklektische Voranannahme für die Untersuchung der Kunst zu sein. Denn wird der dritte Dingbegriff auf seinen Ursprung in der Herstellung bezogen, dann müssen wir jedoch zugleich sehen, dass es eben keinen Unterschied zwischen Kunst und Technik – zwischen Zeug und Kunstwerk beim griechischen Ursprung dieses Begriffschemas – gibt, woran sich Heidegger orientiert; alles hieß hier WHYFQK (Vgl. VA, S. 38). Warum können wir also nicht mit gleichem Recht behaupten, dass der Ursprung des Stoff-Form-Begriffsschemas in der Kunst sei? Diese Frage beantwortet Heidegger nicht. Die genauere Auseinandersetzung mit Heideggers Unterscheidung zwischen Kunst und Technik werden wir im nächsten Kapitel entwickeln. Holzw, S. 13f. Vgl. Holzw, S. 16f. Es gibt immer einen Vorgriff – dies ist nötig um das Seienden zum Vorschein zu bringen. Heideggers Begriff des ‚unscheinbaren Ding‘ hört sich ähnlich wie Kants ‚Ding an sich‘ an, den Heidegger folgendermaßen beschreiben hat: „Ein solches Ding, das nicht selbst erscheint, ein ‚Ding an Sich‘ nämlich.“ (Holzw, S. 5; kursiviert S.R.).

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Dingen und Werken befindet, dann können wir sie voneinander unterscheiden. Um nicht in die Gefahr zu geraten, uns bei der genaueren Bestimmung des Zeugs nicht von ähnlichen philosophischen Vorgriffen leiten zu lassen, wie uns dies zuvor bei den drei Dingbegriffen widerfahren ist, sind wir Heideggers Ansicht nach am besten gesichert, wenn das Zeug ohne philosophische Theorie beschrieben wird: „Doch welcher Weg führt zum Zeughaften des Zeuges? Wie sollen wir erfahren, was das Zeug in Wahrheit ist? Das jetzt nötige Vorgehen muß sich offenbar von jenen Versuchen fernhalten, die sogleich wieder die Übergriffe der gewohnten Auslegungen mit sich führen. Davor sind wir am ehesten gesichert, wenn wir ein Zeug ohne eine philosophische Theorie beschreiben.“58 Um diese angebliche theoriefreie Beschreibung eines Zeugs vorzunehmen, wählt Heidegger ein Paar Bauernschuhe, so wie sie in einem Gemälde von Vincent van Gogh zum Vorschein kommen. Diese Beschreibung Heideggers ist sowohl für seine Differenzierung zwischen Zeug und Kunst als auch für unsere nachfolgende Auseinandersetzung mit Heideggers Interpretation entscheidend. Im Hinblick auf dieses Paar Bauernschuhe sagt Heidegger: „Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. Und dennoch. Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Gangs durch die weithin gesteckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt die Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldwegs durch den sinkenden Abend. In dem 58

Holzw, S. 18. Heidegger gibt also nicht nur zu verstehen, dass es eine theoriefreie Beschreibung (und ein theoriefreies Verständnis) von Zeug geben kann, sondern auch, dass er sie im folgenden geben wird. Heideggers suggestive Empfehlung kann uns vielleicht auch gegen die ‚Übergriffe der gewohnten Auslegungen‘ schützen, doch sind wir dann umso mehr Heideggers philosophischer Theorie ausgeliefert. Es kann keine Beschreibung geben, die nicht zugleich implizit Ausdruck einer philosophischen Theorie ist; dies allein deswegen, weil eine ‚theoriefreie Beschreibung‘ zugleich ex negativo eine philosophische Bestimmung ist. Wichtiger noch ist, dass der Begriff von ‚Zeug‘ bereits eine philosophische theoretische Bestimmung eines Seienden ist. Etwas überhaupt als ein Zeug zu bestimmen, ist also ein theoretischer Vorgriff auf das gegebene Seiende – vielleicht ist das beschriebene Zeug eben auch ein Kunstwerk. Diese Vorentscheidung triff Heidegger für den Leser, lässt ihn jedoch darüber im Dunkeln, was eine Beschreibung ohne ‚philosophische Theorie‘ genau heißen soll. Äußerste Vorsicht ist also geboten. An einer anderen Stelle versucht Heidegger auch, das Interpretieren zu verharmlosen – als ob eine Interpretation in nichts weiter bestehe, als das schon Bekannte zu verdeutlichen – aber in dieser Passage kommt auch die Gefahr des Interpretierens indirekt zum Ausdruck: „Das Ziel der echten Auslegung besteht allein darin, sich selbst überflüssig zu machen. Je vollendeter der Aufbau einer Auslegung ist, desto entschiedener hat sie sich an ihrem Ende selbst abgebaut und vernichtet.“ (GA 52, S. 38f).

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Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet."59

‚Aus dieser dunklen Öffnung’ des Schuhzeugs gewinnt Heidegger Einsicht in die Eigenart des Zeugs und entdeckt, dass die Dienlichkeit des Zeugs in der Verlässlichkeit ruht, womit die ‚Bäuerin’ in der Welt Halt gewinnt.60 Die bloße Dienlichkeit, durch die das Zeug alltäglich ausgelegt wird und die als eine Zusammensetzung von Stoff und Form interpretiert wird, muss also aus dem weiteren Horizont der Verlässlichkeit verstanden werden: „An ihr [der Verlässlichkeit] ersehen wir erst, was das Zeug in Wahrheit ist.“61 Anhand dieser Beschreibung scheint es zunächst, als ob Heidegger weder das Dinghafte des Dinges noch das, was er eigentlich sucht, nämlich eine Bestimmung des Kunstwerks, näher gekommen sei. Aber dieser Schein trügt, denn wie Heidegger uns zu verstehen gibt, hat er eben im Kunstwerk das Zeugsein des Zeuges, seine Verlässlichkeit, gesehen und verstanden; aber es ist gerade diese indirekte, über das Kunstwerk erfolgte Bestimmung des Zeugseins des Zeuges, die für Heidegger etwas Entscheidendes über das Kunstwerk zum Ausdruck bringt. „Das Zeugsein des Zeuges wurde gefunden. Aber wie? Nicht durch eine Beschreibung und Erklärung eines wirklich vorliegenden Schuhzeugs; nicht durch einen Bericht über den Vorgang der Anfertigung von Schuhen; auch nicht durch das Beobachten einer hier und dort vorkommenden wirklichen Verwendung von Schuhzeug, sondern dadurch, daß wir uns vor das Gemälde van Goghs brachten. Dieses hat gesprochen. In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen.“62

Mit anderen Worten hat das Kunstwerk Heidegger gezeigt, „was das Schuhzeug in Wahrheit ist.“63 Und eben dieses Ergebnis zu verstehen, ist der Schlüssel zu Heideggers Verständnis des Kunstwerkes. Das Kunstwerk hat den Ursprung des Stoff-Form-Begriffsschemas des Dinges in der Verlässlichkeit überhaupt erst erschlossen und damit auch den dritten Dingbegriff auf sich hin bestimmt. Damit ist es Heidegger gelungen, über eine Reflexion der drei Dingbegriffe zu einer ersten positiven Bestimmung des Kunstwerks zu gelangen. Die zwei ersten Begriffe von einem Ding erwiesen sich in 59 60 61 62 63

Holzw, S. 19. Vgl. S. 19. Holzw, S. 20. Holzw, S. 20f. Holzw, S. 21.

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Heideggers Untersuchung als unzulänglich, und der dritte Begriff des Dinges, der für einen Sonderbereich des Seienden laut Heidegger sogar wirklich zutreffend ist, geht dem Kunstwerk nicht voraus, sondern wird erst im Kunstwerk gegründet. Der Weg über den dritten Dingbegriff, wonach Heidegger das Zeug als mehr denn als bloßes Ding und als weniger denn als Kunstwerk ausgelegt hat, war also ein Umweg. Aber dieser Umweg war für Heideggers Ausführung insofern nötig, als er ihm einerseits dazu diente, mit der entscheidenden ‚theoriefreien Beschreibung‘ des van Gogh-Gemäldes seine Interpretationsrichtung zu verdeutlichen, andererseits die ‚Schranken des Selbstverständlichen‘ und die damit verbundenen ‚Scheinbegriffe‘ vor der eigentlichen Untersuchung des Kunstwerkes zu beseitigen.64 Damit hat Heidegger den Weg für seine eigentliche Untersuchung frei geräumt, die nun erneut mit einer Frage anfängt: „Was ist im Werk am Werk?“65 Die Bauerschuhe kommen erst im Kunstwerk zum Vorschein und geraten erst hier aus der alltäglichen Verborgenheit: das zeigt uns Heideggers Beschreibung des Gemäldes. Für dieses Entbergungsgeschehen des Kunstwerkes, durch das etwas zum Vorschein kommt, steht nun im Griechischen den Begriff der DMOKYTHLD, den Heidegger mit Wahrheit übersetzt. In diesem Sinne ist das Kunstwerk laut Heidegger letzten Endes als ein Wahrheitsgeschehen zu verstehen. Dieser Begriff der Wahrheit wurde schon im ersten Teil der Arbeit im Bezug auf die rettende Funktion des Gestells eingeführt, und nun wird er auch in diesem zweiten Teil eine entscheidende Rolle spielen.66 Denn die Wahrheit als Geschehen betrachtet ist, wie wir genauer sehen werden, eben Heideggers Bestimmung des Wesens des Kunstwerks: „Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. ‚Setzen‘ sagt hier: zum Stehen bringen. Ein Seiendes, ein paar Bauernschuhe, kommt im Werk in das Lichte seines Seins zu Stehen. Das Sein des Seienden kommt in das Ständige seines Scheinens.“67 Die Wahrheit des Kunstwerks ist also nicht aus der Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Darstellung zu begreifen: nicht so, als ob van Goghs Gemälde nur als Abbild von einem Paar Schuhe zu verstehen wäre, deren Richtigkeit und dessen Wert man zum Beispiel eines Photos bestimmen könnte.68 Aus Heideggers Meditationen über van Goghs Gemälde er-

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67 68

Vgl. Holzw, S. 24 f. Holzw, S. 21. Siehe auch: Zimmerman, Michael E.: Heidegger’s Confrontation with Modernity: Technology, Politics and Art, Bloomington/Indianapolis 1990, S. 113ff. Holzw, S. 21. Vgl. Holzw, S. 22. Dieser Vergleich mit einer fotografischen Darstellung scheint auch bloß der Anfang eines unendlichen Regresses zu sein, denn man müsste hier mehr oder weniger, immer wieder versuchen, ein Bild vom Bild und dem Gemälde zu

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gibt sich vielmehr ein anderer Begriff von Wahrheit. Die Wahrheit wird nun als Geschehen des Kunstwerkes verstanden: „So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.“69 In diesem Sinne kann Heidegger vom Kunstwerk aus zeigen, was ‚Zeug‘ in Wahrheit sei.70 Der restliche Teil des„Kunstwerkaufsatzes ist als eine genauere Explikation dieser Interpretation des Kunstwerks, und der damit verbundenen Differenzierung von Ding, Zeug und Kunstwerk zu verstehen.

B Die Wahrheit am Werk Heidegger versucht die Entfaltung des Kunstwerkes weiter zu führen, indem er das ‚reine Insichstehen des Werkes‘ erarbeitet.71 Aber zwei Hindernisse scheinen ihm dabei den Weg zu versperren; nämlich zum einen der Künstler und zum anderen der Kunstbetrieb. Um das reine Insichstehen des Kunstwerks entfalten zu können, muss das Werk nämlich unabhängig vom Künstler untersucht werden, auf den hingegen die gängigen Auslegungen von Kunst laut Heidegger immer Bezug nehmen.72 In der ‚großen Kunst‘, von der alleine Heidegger sprechen möchte, ist der Künstler gleichgültig – je größer das Kunstwerk, umso verborgener der Künstler.73 Abgesehen vom Künstler hängen die Kunstwerke zumeist in Museen, wo sie auch nicht in sich ruhen, sondern zu Gegenständen des Kunstbetriebes und der Kunstwissenschaft geworden sind. Im Museum ist das Kunstwerk für Heidegger nicht mehr es selbst. Im Museum ist das Werk aufbewahrt und durch eine bestimmte Überlieferung geprägt.74 Wo ist aber dann der Ort des Kunstwerkes? Heideggers Antwort auf diese Frage ist entscheidend für seine nachfolgenden Überlegungen; sie lautet: „Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird. Denn das Werksein des Werkes west und west nur in solcher Eröffnung.“75 Diese Eröffnung untersucht Heidegger anschließend am Beispiel eines griechischen Tempels. Dadurch gelingt es ihm, ein Werk außerhalb des Kunstbetriebs zu finden, das einerseits nicht bloß etwas abbildet und dessen Hersteller andererseits für sein Verständnis nicht berücksichtig werden muss. Ein solcher Tempel „umschließt die Gestalt Gottes.“76 Das heißt, das

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nehmen, um sie näher zu bringen, und so ad infinitum verfahren. Siehe auch: Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11ff. Holzw, S. 21 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 25. Holzw, S. 25f. Vgl. Holzw, S. 26. Vgl. Holzw, S. 26. Vgl. Holzw, S. 26f. Holzw, S. 27. Vgl. Holzw, S. 27.

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Tempelwerk öffnet einen Ort, worin der Gott anwesend sein kann, und darin lässt sich somit der Bereich des Heiligen abgrenzen.77 Durch den vom Tempel eröffneten Bereich gewinnt die Welt der Griechen nach Heidegger erst ihre Bedeutung. „Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen. Die waltende Weite dieser offnen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. Aus ihr und in ihr kommt es erst auf sich selbst zum Vollbringen seiner Bestimmung zurück.“78

Es scheint, als ob Heidegger hier das Kunstwerk durch seine Bezüge zur Umwelt auslegt, und es daher nicht rein als insichstehend erfasst, aber dies wäre ein Missverständnis. Der entscheidende Punkt für ihn ist, dass die Bezüge des Tempels erst durch den Tempel gestiftet und verbunden werden. Es gibt nicht zuerst einen Sinn des Unheils und des Todes und danach den Tempel. Vielmehr stiften der Tempel und mit ihm der Bereich des Gottes erst jene Bezüge. Vor diesem Hintergrund geht Heidegger einen Schritt weiter und entfaltet, wie aus dem Bereich des Kunstwerkes nicht nur das Heilige zustande kommt, sondern auch, wie der Tempel überhaupt als der Bezugspunkt der antiken Welt zu verstehen ist: „Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt. Niemals aber sind die Menschen und die Tiere, die Pflanzen und die Dinge als unveränderliche Gegenstände vorhanden und bekannt, um dann beiläufig für den Tempel, der eines Tages auch noch zu dem Anwesenden hinzukommt, die passende Umgebung darzustellen. Wir kommen dem, was ist, eher nahe, wenn wir alles umgekehrt denken.“79

Dieses Aufgehen einer Welt im Werk versteht Heidegger in Analogie zum griechischen Begriff der IXYVL, die im ersten Teil der Arbeit als Paradigma des Heideggerschen Verständnisses der Wahrheit ausgelegt wurde. Heidegger setzt seine Interpretation des Kunstwerkes in einer aus dem Bereich der 77

78 79

An dieser Stelle ließen sich folgende Einwände formulieren: Wenn van Goghs Gemälde Heidegger gezeigt hat, was die Bauernschuhe in Wahrheit sind, was zeigt dann der Tempel? Zeigt der Tempel, was das ‚Heilige‘ in Wahrheit ist? Wäre dies nicht blasphemisch? Und zeigt van Goghs Gemälde überhaupt die Wahrheit des Zeugs – und ist das die Bestimmung von van Goghs Werk? Hätte Heideggers Untersuchung des Kunstwerkes also auch mit dem Tempel anstelle von van Goghs Gemälde beginnen können? Auf diese unthematisierte Vorentscheidungen der Bestimmung des Kunstwerks kommen wir im nächsten Kapitel zurück. Wir möchten diese Fragen jedoch bereits im voraus erwähnen, um den Leser auf die nachfolgende Auseinandersetzung vorzubereiten. Holzw, S. 27f. Holzw, S. 28f.

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IXYVL stammenden Begrifflichkeit fort: Indem die selbstidentische Welt des Kunstwerks aufgehe, ziehe sich nämlich dasjenige zurück, worin die Welt ruht. Die Welt des Kunstwerks wird insofern immer im Zusammenhang mit einem anderen Prinzip gedacht, das Heidegger als die ‚Erde‘ bezeichnet. Die Erde ist auch in Analogie zu der fruchtbaren Erde gedacht, ohne welche die Gewächse weder aufgehen noch Stand halten können – wobei sie selbst unauffällig bleibt. Die Erde ist das „wohin das Aufgehen alles Aufgehenden und zwar als ein solches zurückbirgt.“80 Diesen bergenden Charakter der Erde macht Heidegger mit der Beziehung zwischen dem Wohnort des Menschen und der physischen Erde anschaulich. Der Wohnort wird auf der Erde aufgestellt, von ihr gehalten, wodurch sie indirekt als „der heimatlich Grund herauskommt.“81 Die Erde tritt also hervor, indem sie sich in den Hintergrund stellt. In dem Sinne bringt die Welt die Erde indirekt zum Vorschein, weil die ‚aufgestellte Welt‘ die Erde als diese bestimmte Erde zeigt – zum Beispiel als der heimatliche Boden; wir können daher auch die Erde als den selbstverständlichen und zugleich übersehenen Zug der Welt bezeichnen. Anders gewendet: „Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein.“82 Am Beispiel des Tempelwerkes ist die Erde der undurchdringliche Felsen, der das Fundament des Tempels ausmacht. Heidegger beschreibt den Felsen des Tempels folgendermaßen: „Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus.“83 In der Bedeutungsfülle von Welt, wozu also auch Erde gehört, fasst Heidegger das Werksein folgendermaßen zusammen: „Werksein heißt: eine Welt aufstellen[…] Indem eine Welt sich öffnet, bekommen die Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.“84 Somit gewinnt sich über den Ausgangspunkt von zwei Werken, nämlich dem Gemälde von van Gogh und dem griechischen Tempel, eine Revolution des Verstehens, wodurch die Dinge und die Welt nicht die Kunstwerke definieren, sondern gerade umgekehrt: Jene werden erst durch diese erschlossen und bestimmt. Um besser zu verstehen, was unter dem Aufstellen einer Welt zu verstehen ist, führt Heidegger den Begriff des ‚Errichtens‘ ein: „Er-richten sagt: Öffnen das Rechte im Sinne des entlang weisenden Maßes als welches das Wesenhafte die Weisungen gibt.“85 Der Begriff der ‚Welt‘ kann daher nicht dem 80 81 82 83 84 85

Holzw, S. 28. Holzw, S. 28. Holzw, S. 32. Holzw, S. 28. Holzw, 30 f. (kursiviert S.R.). Holzw, S. 30.

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Begriff der Form gleichgesetzt und die ‚Erde‘ kann nicht als der dazugehörige Stoff bezeichnet werden. Im Kunstwerk gibt es keinen Verbrauch von Stoff, sondern Heideggers Umkehrung nach kommt die Erde erst mit der Welt zum Vorschein, und zwar als das ‚Sichverschließende‘.86 Ein Werk ist also nicht als eine Bearbeitung von Stoff zu verstehen, sondern als ein Geschehen, wodurch erst so etwas wie ‚Welt und Erde‘ zum Vorschein kommen können als das, was sie sind. Für Heidegger hängt daher das Aufstellen einer Welt unlösbar mit dem Herstellen einer Erde zusammen. Zunächst scheint es schwierig, Heideggers Interpretation des Kunstwerkes zu verstehen, weil er das Werk als ein Geschehen betrachtet, bei dem sich jedoch unmittelbar nichts bewege. Aber so wie im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung die Bewegung der IXYVL vor dem Hintergrund der Ruhe entfaltet wurde, sieht Heidegger auch im Werk die Bewegung mit Blick auf die Ruhe. Das Werk ist Ruhe im Sinne der Vollendung der Bewegung; die Ruhe zeigt die Bewegung, indem sie die Bewegung sammelt. „Was ist Ruhe, wenn nicht der Gegensatz zur Bewegung? Sie ist allerdings kein Gegensatz, der die Bewegung von sich aus-, sondern einschließt. Nur das Bewegte kann ruhen. Je nach der Art der Bewegung ist die Weise der Ruhe. In der Bewegung als bloßer Ortsveränderung eines Körpers ist die Ruhe freilich nur der Grenzfall der Bewegung. Wenn Ruhe die Bewegung einschließt, so kann es eine Ruhe geben, die eine innige Sammlung der Bewegung, als höchste Bewegtheit ist, gesetzt, daß die Art der Bewegung eine solche Ruhe fordert. Von dieser Art jedoch ist die Ruhe des in sich beruhenden Werkes. “87

Von welcher Art Bewegung ist hier die Rede? Wie hängt Bewegung und Ruhe zusammen? Die Bewegung des Werkes bezeichnet das, was Heidegger als den ‚Streit‘ zwischen Welt und Erde interpretiert. Im Werk streiten sich ‚Welt‘ und ‚Erde‘ um die Vorherrschaft, um was sich zeigen kann und verborgen bleiben muss. Dieser Streit ist das Wahrheitsgeschehen selbst: er macht das Werk aus und bestimmt den Schein der aufgestellten Welt und die Abgründe der hergestellten Erde. Mit Heideggers Worten: „Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnen kein Verschlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten.“88 Welt und Erde sind so sehr aufeinander verwiesen, dass sie eben erst durch einander zum Vorschein kommen können, und damit ist der Streit zwischen den beiden nicht vernichtend, sondern gegenseitig erhellend: „Die Erde kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im be86 87 88

Vgl. Holzw, S. 34 f. Holzw, S. 34 f. Holzw, S. 35.

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freiten Andrang ihres Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles Wesentlichen Geschicks sich auf ein Entschiedenes gründen.“89 Weil Welt und Erde erst im Streit des Werkes zu dem werden, was sie jeweils sind, weil sie sich im Streit einander gegenseitig zeigen, wird der Streit ständig intensiver. Diese Intensivierung zeigt sich als wechselseitiges Hervorheben: Je mehr die Welt des Werkes herausragt, umso mehr bedarf sie laut Heidegger eines Halts; je einleuchtender das Werk, umso strahlender die ‚einfachen Farben‘. Das Werk setzt diesen Streit in Gang, weil die zwei Prinzipien Welt und Erde im Bereich des Kunstwerks aufeinander bezogen werden. „Indem das Werk eine Welt aufstellt und die Erde herstellt, ist es eine Anstiftung dieses Streites“90 Die Ruhe des Werkes steht nicht in Gegensatz zu seiner Bewegung. Vielmehr ist gerade weil das Werk Erde und Welt aufeinander bezieht und damit den Streit stiftet, das Werk auch als die Einheit der beiden zu verstehen. In dieser Einheit oder Vollendung ist Ruhe die bestimmte Gestalt des Streites. Dass die Welt des Kunstwerks in einer besonderen Gestalt zum Stehen gekommen ist, bedeutet, dass der Streit zwischen Welt und Erde sich vorläufig vollendet hat. Diese zunächst strukturelle Entfaltung von ‚Streit‘ und ‚Ruhe‘ des Werkes lässt sich auch anders und mit Rücksicht auf einen Betrachter auslegen. Heidegger führt diese ergänzende Analyse nicht explizit aus, aber sie folgern aus dem, was er später sagt: „Vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weniges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres. Niemals ist das Seiende, wie es allzu leicht scheinen möchte, unser Gemächte oder gar nur unsere Vorstellung.“91 Das Seiende wird Heideggers Umkehrung zufolge erst durch das Werk zu dem, was es ist, und in dem Sinne reflektiert jede Zweideutigkeit des Seienden den ursprünglichen Streit des Kunstwerkes. Die Konstellation der Welt und Erde im Werk und damit die Vollendung des Streites in der Ruhe drohten immer wieder zu zerbrechen und aufs Neue in Streit umzuschlagen. So können Nuancen des Werkes plötzlich hervortreten und andere Aspekte in den Hintergrund geraten, wodurch das Werk sich plötzlich völlig anders zeigen kann. Auf Grund des Streites zwischen Welt und Erde scheint das ‚Unbekannte‘ immer durch das ‚Bekannte‘ hindurch und die Ruhe des Streites ist immer nur eine vorübergehende Vollendung. So kann Heidegger schließlich auch sagen, dass der Ort, wo Welt und Erde sich streiten „niemals eine starre Bühne“ 92 sei. Vor diesem Hintergrund gelingt es Heidegger die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und der Wahrheit einsichtiger zu machen. Weil das Werk 89 90 91 92

Holzw, S. 35f. Holzw, S. 36. Holzw, S. 39. Vgl. Holzw, S. 41.

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erst die Dinge zum Vorschein bringt, ist der gewöhnliche Begriff der Wahrheit, wonach die Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen Satz und Ding gründe, vom ursprünglichen Geschehen der Wahrheit im Werk abgeleitet.93 Die Dinge müssen sich nämlich erst einmal gezeigt haben und der Bereich, den Heidegger als Welt bezeichnet, muss erst erschlossen sein, bevor es überhaupt möglich ist, von Übereinstimmung zu sprechen. Die Wahrheit als Übereinstimmung besagt daher etwas ‚Richtiges‘ – sie richtet sich nämlich nach dem Maß der erschlossenen Dinge. Das Richtige ist in diesem Sinne vom ursprünglichen Wahrheitsgeschehen abgeleitet, das Heidegger als Geschehnis des Werkes denkt und mit dem Begriff der DMOKYTHLD fasst. Richtet man sich nach dem ‚Richtigen‘ beziehungsweise nach dem ersten Anschein der Dinge, dann wird für Heidegger das Seiende überhaupt unfassbar, werden die Umschläge und Differenzen des Verstehens nicht wirklich einsichtig.94 „Das Geheure ist im Grunde nicht geheuer“95 – „es ist un-geheuer.“96 Die Dinge gehören in einen übergreifenden Zusammenhang, der ursprünglich vom Werk bestimmt wird. Diese Einsicht in den Horizont des Seienden drückt Heidegger auch dadurch aus, dass er betont: „Das Seiende steht im Sein“97 – das heißt, das Seiende ist von der Wahrheit be-dingt. Phänomenologisch erfasst sei der Ort, wo der Streit zwischen Welt und Erde geschieht und das Seiende sein bestimmtes Sein erstreitet, gleich einer ‚Lichtung‘ zu verstehen. Die Lichtung bezeichnet für Heidegger den Ort, worin das Seiende hinein- und herausragt, und wodurch es hervortritt und sich verbirgt.98 Der Streit des Werkes ist damit der ausgezeichnete Schauplatz des Streites um die Lichtung.99 Denn zum Geschehen der Wahrheit des Werkes gehört laut Heidegger, wie bereits ausgeführt, auch die Verborgenheit – so wie Welt und Erde zusammengehören. Von daher spitzt Heidegger seine Interpretation der Wahrheit weiter zu, indem er zeigt, dass zur Wahrheit auch die Unwahrheit gehört.100  Der Begriff der Wahrheit, wie ihn Heidegger in seinen Überlegungen zum Kunstwerk erschließt und einsichtig macht, dieser Begriff, der die Unwahrheit als ein untilgbares Moment enthält, kann die menschlichen Erfahrungen des Seienden besser und ursprünglicher als der Begriff der Richtigkeit erfassen. Es wird nun möglich, Heideggers phänomenologischen Beschreibungen vom menschlichen Umgang mit dem Seienden zu folgen und die Kehrseite der Phänomene zu beleuchten. Diese zugleich negative und 93 94 95 96 97 98 99 100

Vgl. Holzw, S. 38f. Vgl. Holzw, S. 38. Vgl. Holzw, S. 41. Vgl. Holzw, S. 41. Holzw, S. 39. Vgl. Holzw, S. 40ff. Vgl. Holzw, S. 41f. Vgl. Holzw, S. 41.

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positive Erfahrung des Menschen mit dem Seienden beschreibt Heidegger über eine Reihe von Entzugsphänomenen, die sich einem Verstehen über den Begriff der Richtigkeit sperren. „Seiendes versagt sich uns bis auf jenes Eine und dem Anschein nach Geringste, das wir am ehesten treffen, wenn wir vom Seienden nur noch sagen können, daß es sei. Die Verbergung als Versagen ist nicht erst und nur die jedesmalige Grenze der Erkenntnis, sondern der Anfang der Lichtung des Gelichteten. Seiendes schiebt sich vor Seiendes, das eine verschleiert das andere, jene verdunkelt dieses, weniges verbaut vieles, vereinzeltes verleugnet alles. Hier ist das verbergen nicht jenes einfache Versagen, sondern das Seiende erscheint zwar, aber gibt sich anders, als es ist. Dieses Verbergen ist das Verstellen. Würde Seiendes nicht Seiendes verstellen, dann könnten wir uns am Seienden nicht versehen und vertun, wir könnten uns nicht verlaufen und vollends nie vermessen. Daß das Seiende als Schein trügen kann, ist die Bedingung dafür, daß wir uns täuschen können, nicht umgekehrt.“101

Zweifel im Blick auf Seiendes ist Heidegger zufolge immer möglich ‚bis auf jenes Eine‘, und zwar, ‚dass es sei’. Dieser Grundeinsicht setzt Heideggers phänomenologischem Zweifel eine Grenze und kann laut Heidegger zugleich den Menschen einen Anstoß versetzen.102 Heideggers Verständnis der Wahrheit des Kunstwerkes und damit auch seinen phänomenologische Gedankengang lässt es verständlich werden, warum die Menschen sich ständig ‚versehen und vertun‘ – warum das Seiende ‚täuschen‘ kann. Wird das Seiende nicht im Zusammenhang mit dem Wahrheitsgeschehen verstanden, sondern losgelöst als das jeweilige und vereinzelte Ding, dann wird Heideggers Ansicht nach ‚alles verleugnet‘.103 Das heißt, ohne Rücksicht auf das Wahrheitsgeschehen wird der Grundzug des Seienden im Ganzen, wonach das jeweilige Seiende immer in einem größeren Entbergungszusammenhang steht, nicht verstanden.104 Oder anders ausgedrückt: Je isolierter die Anwesenheit des Seienden verstanden wird, umso eher und mehr wird sein wahres Wesen verleugnet. Wenn Heidegger versucht, seine Auslegung der Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde zusammenzufassen, dann be-

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103 104

Holzw, S. 40. Dieser phänomenologische Zweifel Heideggers erinnert an René Descartes’ methodologischen Zweifel. Ein wichtiger Unterschied ist aber darin zu erkennen, dass dem Zweifel bei Descartes in einem Prinzip des Geistes einen Halt gesetzt wird, während es bei Heidegger durch das Seiende selbst (das factum est) geschieht. (Vgl. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, Oeuvres de Descartes, Band VII, hrsg. von Charles Adam und Paul Tannery, Paris 1996, S. 21). Vgl. Holzw, S. 40. Vgl. Holzw, S. 40.

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tont er eben die ‚Verweigerung‘ des Seienden und setzt dadurch den Begriff der Wahrheit von seinem gewöhnlichen Verständnis ab.105 „Mit dem verbergenden Verweigern soll im Wesen der Wahrheit jenes Gegenwendige genannt sein, das im Wesen der Wahrheit zwischen Lichtung und Verbergung steht. Es ist das Gegeneinander des ursprünglichen Streites. Das Wesen der Wahrheit ist in sich selbst der Urstreit, in dem jene offene Mitte erstritten wird, in die das Seiende hineinsteht und aus der es sich in sich selbst zurückstellt.“106

Damit ist aus Heideggers Auslegung des Werkes das Wesen der Wahrheit aufs neue als Problem gekennzeichnet. Heideggers Grundeinsicht, dass die Dinge nicht dem Wesen des Werkes vorausgehen, sondern dadurch erst erschlossen werden, ist nun leichter nachzuvollziehen. Die Dinge entstehen als die Dinge, die sie in Wahrheit sind, im Streit des Werkes, das wiederum im Sinne des ‚Gegenwendigen‘ von Welt und Erde zu denken ist. Aus diesem Geschehnen des Werkes entfaltet Heidegger die Wesenszüge der Wahrheit. Er verbindet damit eine Topographie des Kunstwerkes mit einem geschichtlichen oder prozessualen Verständnis der Wahrheit, das im ersten Teil der vorliegenden Arbeit Abhandlung entlang des Begriffs der IXYVL erläutert wurde. Die Frage, die zur Vollendung von Heideggers Untersuchung des Werkes leiten soll, lautet: Inwiefern hat die Wahrheit einen ‚Zug zum Werk‘ und nicht zum hergestellten Zeug?

C Die Wahrheit im Werk In der letzten Etappe des Gedankengangs in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ macht Heidegger wieder auf Schwierigkeiten und Kreisbewegungen unsers Verstehens von Kunst aufmerksam. Bisher hat er gezeigt, wie das entbergend-verbergende Geschehnis der Wahrheit im Kunstwerk am Werk ist. Damit hat er die Priorität des Kunstwerkes zugunsten der Dinge artikuliert. Dagegen wendet Heidegger nun selber ein, dass das, was am Werk ist, doch letztendlich im Werk ist107. So scheint Heideggers Interpretation des Kunstwerkes gerade den Dingcharakter stärker zu betonen: „Demnach wird hier schon das wirkliche Werk als der Träger jenes Geschehens vorausgesetzt.“108 So leitet Heidegger nun eine Untersuchung des ‚Dinghaften des vorhandenen Werkes‘ ein.109 Das Dinghafte des Werkes versucht Heidegger als seine ‚Wirklichkeit‘ begreiflich zu machen, die er wiederum nicht an das bloße ‚in sich stehende‘ 105 106 107 108 109

Vgl. Holzw S. 38. Holzw, S. 42. Vgl. Holzw, S. 45. Holzw, S. 45 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 45.

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Werk einsichtig machen kann. Die Wirklichkeit des Werkes hängt für Heidegger damit zusammen, dass das Werk ‚gewirkt‘, dass heißt geschaffen ist. „Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen.“110 Das Werk als ein Gewirktes zu betrachten bedeutet für Heidegger, wiederum auf die Tätigkeit des Künstlers einzugehen, die er zuerst beiseite gelassen hatte. „Der Versuch, das Werksein des Werkes rein aus diesem selbst zu bestimmen, erweist sich als undurchführbar.“111 Damit geht Heidegger also zurück zum Ausgangspunkt des Kunstwerks im Künstler, wodurch die Kreisbewegung seiner Interpretation auf einer höheren Ebene transparent wird. Heidegger steht also wieder am Anfang seiner Betrachtungen – im eigenen Streit zwischen zwei unzulänglichen Wegen der Interpretation der Kunst: Zum einem vom Kunstwerk und zum anderen vom Künstler her; doch jetzt kommt diese Zerrissenheit deutlicher zum Vorschein. Die Zirkularität des Verstehens im Bereich der Kunst ist jedoch laut Heidegger kein pathologisches Zeichen der Interpretation; vielmehr zeigt es die innige Verbundenheit der Phänomene der Kunst wie auch die Grenze der herkömmlichen Begriffe der Ästhetik. Um den Leser durch diesen Kreisbewegungen hindurch nicht schwindlig zu machen, möchten wir vorab bemerken, dass es Heidegger letzten Endes darauf ankommt zu zeigen, dass und wie eben diese Kreisbewegung in der Interpretation von Kunst zwischen Künstler, Kunstwerk und Kunst zum Wesen der Kunst gehört. Am Ende von Heideggers Interpretation wird sich also zeigen, dass er den Ursprung des Kunstwerkes als die Einheit von Kunstwerk, Künstler, Kunst und dem Verstehen dieser drei Momente, das er als ‚Bewahrung‘ bezeichnet, fasst. Seine Untersuchung ist darin ein Aufweisen dieses zusammenhängenden Komplexes im Vollzug: sie ist dieses Verstehen selbst. An dieser Station der Untersuchung wird das Werk also wieder als ein Gewirktes verstanden und es gehört laut Heidegger damit im Horizont des Schaffens. Aber wird das Kunstwerk von dieser Perspektive aus interpretiert, dann stellt sich eine andere wichtige Frage: Wie unterscheidet sich dieses Schaffen von der Anfertigung von Zeug? Zunächst stellt Heidegger fest: „Das Handwerk, merkwürdiges Spiel der Sprache, schafft freilich keine Werke, auch dann nicht, wenn wir das handwerkliche Erzeugnis, wie es nötig ist, gegen die Fabrikware abheben. Wodurch unterscheidet sich aber das Her110

111

Holzw, S. 45 (kursiviert S.R.). Der Zusammenhang zwischen dem ‚Dinghaften‘, der ‚Wirklichkeit‘ und dem ‚Gewirksein‘ des Werkes ist höchst fragwürdig, dennoch entwickelt Heidegger ihn an dieser Stelle nicht ausführlicher. Unseres Erachtens müssen wir die ‚Wirklichkeit‘ des Werkes nicht unbedingt ,verfehlen‘, wenn wir es nicht als ein ‚Gewirktes‘ verstehen: Wirklich ist auch das, was nicht ‚gewirkt‘ ist. Holzw, S. 45.

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vorbringen als Schaffen vom Hervorbringen in der Weise der Anfertigung? So leicht wir dem Wortlaut nach das Schaffen von Werken und das Anfertigen von Zeug auseinanderhalten, so schwer ist es, beide Weisen des Hervorbringens je in ihren eigenen Wesenszügen zu verfolgen.“112

Betrachtet man somit Heidegger die Tätigkeit des Künstlers, leuchtet es ein, dass auch der Künstler das handwerkliche Können beherrscht und respektiert.113 So gab es in der Antike auch nur einen Begriff für Kunst und Handwerk – nämlich WHYFQK. Die Tätigkeit des Künstlers und des Handwerkers stimmen in einer Reihe von Hinsichten mit einander überein, die in der griechischen Begrifflichkeit erschlossen sind. Aber wie Heidegger sich bemüht zu zeigen, sind die zwei Tätigkeiten des Herstellens dennoch von einander verschieden. Um den Zusammenhang und die Unterschiede dieser Tätigkeiten zu verstehen, muss zunächst ein Hintergrund hervorgehoben werden, dass die WHYFQK bei den Griechen keine praktische Leistung bezeichnet, sondern „vielmehr eine Weise des Wissens [sei].“114 Dieses Wissen der WHYFQK zeigt sich im Hervorbringen und besteht im praktischen Wissen davon, wie das Seiende zur Anwesenheit gebracht werden kann: „Der Künstler ist nicht deshalb ein WHFQLYWK, weil er auch ein Handwerker ist, sondern deshalb, weil sowohl das Her-stellen von Werken als auch das Her-stellen von Zeug in jenem Her-vor-bringen geschieht, das im vorhinein das Seiende von seinem Aussehen her in sein Anwesen vor-kommen lässt.“115 Die Auszeichnung des künstlerischen Schaffens ist also nicht vom Herstellen her zu denken. Von dieser Perspektive aus kann das Handwerk nämlich von der Kunst nicht unterschieden werden. Um das Schaffen des Künstlers von der Arbeit des Handwerkers zu differenzieren, kehrt Heidegger noch einmal die Perspektive um. Nun denkt er nicht das Werk von der Tätigkeit des Künstlers, denn sie sieht zunächst wie die des Handwerkers aus, sondern er studiert umgekehrt die besondere Tätigkeit des Künstlers im „Hinblick auf das Zuschaffende, auf das Werk.“116 Das Werk muss dementsprechend erneut ins Auge genommen werden, und Heidegger verweilt wiederholt beim Werk um von hier aus das künstleri112 113 114 115

116

Holzw, 46. Holzw, S. 46. Holzw, S. 46. Holzw, S. 47. Wenn Heidegger hier auch die Kunst als ein Herstellen versteht, das von vorneherein das Seiende von seinem Aussehen her versteht, dann scheint es, als ob die Kunst nach Heidegger auf der ‚Vorstellung‘ des Seienden beruht. Damit wäre das Kunstwerk im Vergleich zu der Vorstellung, der es nachgestellt wird, nachträglich und würde damit kein originäres Wahrheitsgeschehen sein. Im dritten Teil dieser Arbeit werden wir uns genauer mit diesem Zusammenhang beschäftigen. Holzw, S. 47. Wenn der Unterschied zwischen den zwei Arten der Herstellung von dort her bestimmt werden soll, von wo Heidegger im voraus einfach eine Unterscheidung aufgestellt hat, dann ist diese Unterscheidung tautologisch. Damit werden wir uns später eingehend auseinandersetzen.

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schen Schaffens auszuarbeiten und genauer zu artikulieren. In diesem ständigen Oszillieren zwischen verschiedenen Herangehensweisen wird jedes Mal etwas in Heideggers Verfahren herauskristallisiert; so entsteht langsam eine Art Destillat, das als Heideggers Interpretation der Kunst bezeichnet werden kann. Heidegger wendet sich also wieder dem Werk zu, von dem aus das künstlerische Schaffen im Unterschied zur handwerklichen Arbeit erhellt werden kann. In Heideggers Interpretation des Kunstwerkes hat die Wahrheit grundsätzlich einen „Zug zum Werk.“117 Im Werk kann die Wahrheit sich zeigen, das heißt sich als Streit manifestieren und zugleich den ihr gemäßen Halt als einen besonderen Ausdruck der Wahrheit gewinnen. Wie Heidegger sagt: „Die Offenheit dieses Offenen, d.h. die Wahrheit, kann nur sein, was sie ist, nämlich diese Offenheit, wenn sie sich und solange sie sich selbst in ihr Offenes einrichtet. Darum muß in diesem Offenen je ein Seiendes sein, worin die Offenheit ihren Stand und ihre Ständigkeit nimmt.“118 Wahrheit geschieht nur als das Sicheinrichten des Streites in das Seiende, das sich mit der Wahrheit erst ereignet. Die Wahrheit ist also nicht an sich vorhanden, bevor sie sich im Werk ereignet und in diesem Sinne muss ihr ‚Zug zum Werk‘ verstanden werden.119 Mit diesem Gedanken hat Heidegger aber immer noch nicht die Herstellung von Zeug vom Schaffen des Werkes unterschieden.120 Betrachtet man das Werk, dann hat sich Heideggers Interpretation nach die Zwietracht von Erde und Welt in ihr eingerichtet. Diese Einrichtung von sich-streitenden Elementen hebt sich im Werk gegenseitig hervor. Aus dem Grund entsteht im Werk einen charakteristischer ‚Riss‘, der im Zeug nicht vorkommt, und im Werk eben das in sich gegenwendige Wesen des Werkes bezeugt und sammelt. „[Dieser Riß] ist Grundriß. Er ist Auf-riß, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung des Seienden zeichnet. Dieser Riß läßt die Gegenwendigen nicht auseinanderbersten, er bringt das Gegenwen117 118 119

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Holzw, S. 50. Holzw, S. 48. Aus dieser Perspektive versucht Heidegger als wichtiges Zwischenergebnis die Arbeit der Wissenschaftler vom Schaffen der Künstler zu unterscheiden. Die Arbeit der Wissenschaftler beruht auf einem Geschehnis der Wahrheit, und seine Arbeit steht also im Horizont eines schon gelichteten Bereichs, den der Wissenschaftler dann nachträglich, gemäß dem durch die Wahrheit gesetzten Maß zu erweitern versucht. Mit anderen Worten kann die Wissenschaft nur konstruktiv sein, weil sie den Gründungsakt der Wissenschaft nicht in Frage stellt. (Holzw, S. 49ff). Siehe auch Watanabe, Jiro: Die Frage nach dem Wesen der Kunst bei Heidegger und Nietzsche, in: Kunst und Technik, hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 155-174, hier S. 159ff. Mit diesem Gedanken könnte die Wahrheit genau so gut einen ‚Zug zum Handwerk‘ haben. Denn auch das Zeug gründet in einem Entbergungsgeschehen. (Siehe auch den ersten Teil der Arbeit).

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dige von Maß und Grenze in den einigen Umriß.“121 Der Riss des Kunstwerkes ist mit anderen Worten das augenblickhafte Ereignis des aufgehenden Untergangs, das im Nacheinander in der Untersuchung der IXYVL interpretiert wurde. Dennoch betont Heidegger, dass auch der Riss und das Gegenwendige der Wahrheit in der Natur „erst durch das Werk offenbar wird.“122 Dieser Riss des Werkes – als ‚Grundriss‘ verstanden – stellt sich in die Erde zurück und zeichnet die Gestalt des Werkes: „Der in den Riß gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt. Sie ist das Gefüge des Scheinens der Wahrheit. Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt.“123 Der Riss tritt hervor in die Gestalt, das ein Seiendes zeigt, das es nie zuvor gab. Dadurch gibt das Werk den Betrachter einen ‚Anstoß‘, der ins ‚Ungewöhnliche‘ versetzt.124 Im Gegensatz zum Zeug, das verfügbar ist und in seine Dienlichkeit verschwindet, weil es in einem schon erschlossenen Bereich von Bezügen gehört und verstanden wird, tritt das Werk durch diesen Anstoß besonders deutlich hervor.125 Mit diesem Begriff des Anstoßes hat Heidegger ein zusätzliches Wesensmerkmal des Kunstwerkes gewonnen; dies hilft ihm, es vom Zeug abzugrenzen, und damit versucht er nun, die Differenz zwischen beiden Arten des Hervorbringens aufzuweisen. Denn im Herstellen von Zeug und Werk stellt sich gerade die Tätigkeit in das Geschaffene auf unterschiedliche Weise zurück: Im Werk geht das Geschaffensein gerade dadurch hervor, indem es ins Werk aufgeht, wodurch der Anstoß geschieht, während des Geschaffensein des Zeugs nicht zu erkennen ist. „Zwar gehört auch zu 121

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Holzw, S. 51. Sobald ein Seiendes sich zeigt, gibt es Unverborgenheit und Verborgenheit zugleich. Der Riss, den Heidegger hier bespricht, gilt für das Seiende überhaupt. Darauf werden wir später weiter eingehen. Holzw, S. 58. In „Vom Wesen und Begriff der )XYVL. Aristoteles Physik B1“ folgt Heidegger (mit der einen Ausnahme, dass er hier vom ‚Werk der Natur‘ spricht, was seinem eigenen Werkbegriff nicht entspricht) Aristoteles darin, dass die Natur ein originäres Wahrheitsgeschehen sei, und deswegen nicht von woanders, dass heißt auch nicht vom Kunstwerk, aufgewiesen werden kann. In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ scheint er dem zu widersprechen. (Vgl. WM, S. 262). Siehe auch: „Die Natur ist zeitiger denn ‚die Zeiten‘, weil sie als die wunderbar Allgegenwärtige zuvor schon allem Wirklichen die Lichtung verschenkt, in deren Offenes hinein erst alles zu erscheinen vermag, was ein Wirkliches ist.“ (Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1996, S.59.). Holzw, S. 51. Vgl. Holzw, S. 52f. Vgl. Holzw, S. 52f. In Sein und Zeit schreibt Heidegger: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer eine Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ‚etwas, um zu..‘. Die verschiedenen Weisen des ‚Um-zu‘ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.“ (SuZ, S. 68).

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jedem verfügbaren und im Gebrauch befindlichen Zeug, ‚daß‘ es angefertigt ist. Aber dieses ‚Daß‘ tritt am Zeug nicht heraus, es verschwindet in die Dienlichkeit.“126 Dabei unterscheidet Heidegger aber nicht die Tätigkeit des Herstellens von Werk und Zeug von der Tätigkeit aus, sondern von ihrem Ergebnis, das bereits von der Tätigkeit abgesetzt ist. Der Versuch der beiden Tätigkeiten von einander abzugrenzen und das letztendlich Unvermögen diese Differenz als eine Differenz in der bloßen Tätigkeiten des Herstellens entfalten zu können, zeigt sich in Heideggers Erklärung: „Das Fertigsein des Zeuges und das Geschaffensein des Werkes kommen miteinander darin überein, daß sie ein Hervorgebrachtsein ausmachen. Aber das Geschaffensein des Werkes hat gegenüber jeder anderen Hervorbringung darin sein Besonderes, daß es in das Geschaffene mit hineingeschaffen ist. Aber gilt solches nicht von jedem Hervorgebrachten und irgendwie Entstandenen? Jedem Hervorgebrachten ist, wenn je etwas, doch das Hervorgebrachtsein mitgegeben. Gewiß, aber im Werk ist das Geschaffensein hineingeschaffen, so daß es aus ihm, dem so Hervorgebrachten, eigens hervorgeht. Wenn es so steht, dann müssen wir auch das Geschaffensein eigens am Werk erfahren können. Das Hervorkommen des Geschaffenseins aus dem Werk meint nicht, am Werk soll merklich werden, daß es von einem großen Künstler gemacht sei. Das Geschaffene soll nicht als Leistung eines Könners bezeugt und dadurch der Leistende in das öffentliche Ansehen gehoben werden. Nicht das N.N. fecit soll bekanntgegeben, sondern das einfache ‚factum est‘ soll im Werk ins Offene gehalten werden: dieses, daß Unverborgenheit des Seienden hier geschehen ist und als dieses Geschehen erst geschieht; dieses, daß solches Werk ist und nicht vielmehr nicht ist.“127

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Holzw, S. 53. Holzw, S. 52f. Heidegger spricht hier vom ‚Fertigsein‘ des Zeuges im Unterschied zum ‚Geschaffensein‘ des Werkes. Dies bezeichnet aber keine Differenz der handwerklichen und der künstlerischen Tätigkeiten. Heidegger hat bereits das Zeug als sekundäres Phänomen zum Kunstwerk entfaltet. Wenn er daher seinen Ausgangspunkt im Ergebnis der handwerklichen und künstlerischen Tätigkeiten nimmt, im Fertigsein des Zeuges und Geschaffensein des Werkes, dann hat er bereits vorausgesetzt, was er zeigen wollte. Im Begriff des ‚Geschaffenseins‘ des Werkes liegt nicht eine Abgrenzung zur Hervorbringung des Zeuges. Heidegger hat also keinen Unterschied der beiden Arten von ‚Schaffen‘ aufgedeckt. Zuvor macht Heidegger jedoch auf einen anderen Unterschied zwischen Schaffen von Zeug und Kunstwerk aufmerksam: „Im Werkschaffen muß der Streit als Riß in die Erde zurückgestellt, die Erde selbst muß als das Sichverschließende hervorgestellt und gebraucht werden. Dieses Brauchen aber verbraucht und mißbraucht die Erde nicht als einen Stoff, sondern es befreit sie erst zu ihr selbst. Dieses Brauchen der Erde ist ein Werken mit ihr, das zwar so aussieht wie das handwerkliche Verwenden von Stoff. Daher stammt der Anschein, das Werkschaffen sei auch ‚handwerkliche Tätigkeit‘. Dies ist es niemals.“ (Holzw, S. 52). Aber auch hier wird letztendlich klar, dass das ‚Werkschaffen‘ wie die handwerkliche

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Aus Heideggers Analyse des Geschaffenseins des Werkes ist es möglich geworden, den reinen Anstoß des Werkes besser zu vernehmen, und mit dieser Ausführung vollendet sich ein wesentlicher Schritt der Heideggerschen Untersuchung des Werkes: Das Werk soll im Prinzip allein aus dem wesentlichen Zusammenhang zwischen Werk und Geschaffensein verstanden werden.128 Deswegen fängt Heidegger an diesem Punkt seiner Untersuchung nun damit an, das ‚Bewahren‘ der Wahrheit des Kunstwerkes im bisherigen Sinne von ‚Wahrheit‘ zu entfalten. ‚Bewahren‘ ist gewissermaßen das komplementäre Gegenstück zum Schaffen – oder die Tätigkeit, wodurch das Geschaffensein des Werkes erst einsichtig und gewürdigt wird. Das Werk muss von seiner eigenen Wahrheit aus erschlossen werden und es verlangt deswegen, dass der Betrachter bei ihm verweilt. Solches Verweilen nennt Heidegger die ‚Bewahrung‘ des Werkes, die eben fordert, dass das Kunstwerk in dem bisherigen Sinne verstanden wird.129 „Dieses: das Werk ein Werk sein lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes. Für die Bewahrung erst gibt sich das Werk in seinem Geschaffensein als das wirkliche, d.h. jetzt: werkhaft anwesende.“130 Verweilt der Mensch laut Heidegger beim Werk und lässt sich auf seine Wahrheit ein, dann ‚existiert‘ er.131 Denn existieren heißt bei Heidegger, aus den gewöhnlichen Bezügen zum Seienden wissentlich ausbrechen zu wollen, und das bedeutet: erschlossen zu sein. Oder anders formuliert: Zur Existenz gehört „die Eröffnung des Daseins aus der Befangenheit im Seienden zur Offenheit des Seins.“132 Die Existenz des Menschen ist in diesem Sinne auch vom Kunstwerk aus zu verstehen und bezeichnet eine Art des Wissens. Die Existenz des Menschen hängt so gese-

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Tätigkeit erscheint, bis das Werk vollendet ist. Daher geschieht auch diese Unterscheidung nicht von den Tätigkeiten selbst aus. Wir können aber einerseits sagen, dass die Kreisbewegung der Untersuchung damit erneut bestätigt ist, so dass wir das künstlerische Schaffen nicht ohne die Kunstwerke, aber auch die Kunstwerke nicht ohne sie als geschaffen zu betrachten, verstehen können. Andererseits können wir Heideggers Schwierigkeit vorläufig auch anders aufheben, nämlich indem wir sagen, dass eine Tätigkeit eine Bewegung ist und jede Bewegung eine Richtung hat. So gesehen wäre es also legitim, den Unterschied der beiden Tätigkeiten von ihrer Vollendung aus zu betrachten. Hätte Heidegger dies so gedacht, dann hätte er sich hier seine Ausführungen sparen können und keine Scheinfrage stellen müssen, deren Antwort bereits feststand – denn er fragt: „Wodurch unterscheidet sich aber das Hervorbringen als Schaffen vom Hervorbringen in der Weise der Anfertigung? So leicht wir dem Wortlaut nach das Schaffen von Werken und das Anfertigen von Zeug auseinanderhalten, so schwer ist es, beide Weisen des Hervorbringens je in ihren eigenen Wesenszüge zu verfolgen.“ (Holzw, S. 46). Vgl. Holzw, S. 54f. Vgl. Holzw, 54. Holzw, S. 54 (kursiviert S.R). Vgl. Holzw, S. 55. Holzw, S. 55.

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hen mit dem ‚Bewahren‘ zusammen, und sie entsteht aus der Erfahrung der Wahrheit des Werkes. Dieses Wissen vom Kunstwerk ist wiederum nicht von einem ‚Wollen‘ zu trennen, das Heidegger als ein „Übersichhinausgehen, das sich der Offenheit des Seienden als der ins Werk gesetzten aussetzt [denkt].“133 Im Heideggerschen Sinne ermöglicht die Bewahrung des Werkes die Offenheit des Seienden und damit auch, dass die ‚Welt‘ des Werkes zum Vorschein kommt. Die so verstandene ‚Bewahrung‘ des Werkes ist gemeinsam mit dem ‚Schaffen‘ die Voraussetzung dafür, dass ein Werk als Kunstwerk hervortreten kann. Dementsprechend setzt auch die ‚Bewahrung‘ die Wahrheit ins Werk, und sie ist also für Heidegger genauso schöpferisch wie das vorausgegangene Schaffen des Werkes.134 Mit einer etwas anderen Begrifflichkeit können wir also nun auch Heideggers Einsicht ‚übersetzt‘ formulieren, indem wir sagen, dass er ein symmetrisches Verhältnis zwischen dem Werk und seiner Auslegung zum Vorschein bringt, weil sie beide gleichermaßen als Bedingungen der Wahrheit des Kunstwerkes gelten.135 „Kunst ist das Feststellen der sich einrichtenden Wahrheit in die Gestalt. Das geschieht im S ch a ffe n als dem Hervor-bringen der Unverborgenheit des Seienden. Ins-Werk-Setzen heißt aber zugleich: in Gang- und GeschehenBringen des Werkseins. Das geschieht als B e wa hr ung . Al s o i st d i e Ku nst: die sc haffende Be wahru ng der Wahrhei t i m Werk . Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit.“136

Die Einheit dieser Doppeldeutigkeit der Bestimmung der Kunst, wonach Schaffen und Bewahren gleichermaßen berücksichtigt werden, kommt in Heideggers Begriff der Kunst explizit zum Tragen. Oder besser gesagt: Eben weil die Schaffenden und die Bewahrenden im Werk der Kunst zusammengehören und im Prinzip gleichursprünglich sind, bestimmt Heidegger die Kunst als einen wahrhaften Ursprung. Der Ursprung des Kunstwerks ist das doppeldeutige Ins-Werk-Setzen der Wahrheit, von wo aus die Schaffenden und die Bewahrenden erst ihren Sinn erhalten. „Wenn die Kunst der Ursprung des Werkes ist, dann heißt das, sie lässt das wesenhafte Zusammenge-

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Holzw, S. 55 (kursiviert S.R.). Man kann sich hier die Frage stellen, ob Heidegger nicht auch das menschliche Leben als Ins-Werk-Setzen der Wahrheit versteht und damit wie ein Kunstwerk interpretiert. Vgl. Holzw, S. 62. Siehe auch: „Die Kunst ist als das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit Dichtung. Nicht nur das Schaffen des Werkes ist dichterisch, sondern ebenso dichterisch, nur in seiner eigenen Weise, ist auch das Bewahren des Werkes.“ (Holzw, S. 62; kursiviert vom Autor). Heidegger sagt auch, die Kunst ist „die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk.“ (Holzw, S. 59;. kursiviert S.R.). Holzw, S. 59 (gesperrt S.R.).

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hörige am Werk und Schaffende und Bewahrende, in seinem Wesen entspringen.“137 Die drei Momente von Werk, Schaffendem und Bewahrendem gehören alle zum Wesen der Kunst; durch die Kunst verweisen sie gegenseitig aufeinander. Keines der drei Momente kann ohne den Verweis auf die Kunst angemessen verstanden werden – sie sind gleichursprünglich. Um das Ende mit dem Anfang zu verbinden, fragt Heidegger wieder nach dem Ding im Werk, und macht dabei auf den Vorgriff dieser Fragestellung aufmerksam: „Wie steht es mit dem Dinghaften am Werk, das seine unmittelbare Wirklichkeit verbürgen soll? Es steht so, daß wir jetzt die Frage nach dem Dinghaften am Werk nicht mehr fragen; denn solange wir danach fragen, nehmen wir das Werk sogleich und im vorhinein endgültig als einen vorhandenen Gegenstand.“138 Und gerade in diesem Sinne bringt Heidegger seine Interpretation vom ‚Ursprung‘ des Kunstwerkes zu einem vorläufigen Ende. Danach übersetzt er seine Einsichten in eine andere Terminologie, wodurch er neue Akzente setzt und entscheidende Gedanken vertieft. Heideggers ungewöhnliche Entfaltung der Kunst wird durch eine Umformulierung seiner bisherigen Gedanken abgerundet. Dies geschieht, indem er die Sonderstellung des Sprachwerks im Bereich der Kunst hervorhebt. Das, was Heidegger bisher im Bezug auf alle Kunstwerke beschrieben hat, zeigt er nun von einem Ausgangspunkt im Werk der Sprache her. Dabei relativiert Heidegger aber auch teilweise seiner bisherigen Ausführungen zum Kunstwerk. Denn, wie es sich noch zeigen wird, ist das Sprachwerk für Heidegger die Möglichkeitsbedingung der übrigen Kunstwerke. So gesehen wären die anderen Kunstwerke auch nur bedingte Kunstwerke. Unseres Erachtens ist dieser abschließende Teil seiner Besinnung auf die Kunst zugleich als eine Reflexion über den eigenen Text und über die eigene Sprache zu verstehen. Durch Heideggers Sprachwerk ist das Wesen der Kunst zum Vorschein gekommen, durch sein Sprachwerk zeigt sich nun die Kunst anders als zuvor. Dieser ‚Anstoß‘ von Heideggers eigenem Entwurf kommt am Ende seines Textes zur Geltung.

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Holzw, S. 58f (kursiviert S.R.). Holzw, S. 56 (kursiviert S.R.). Umgekehrt werden wir uns im nächsten Kapitel fragen, ob nicht Heidegger von vornherein bereits entscheidet, was als Kunstwerk gelten kann. Er gesteht ein, dass kein Kunstwerk als solches sozusagen von ‚außen‘ hergeleitet werden kann, und stellt somit nach wie vor das von der Tradition überlieferte Kunstwerk ins Zentrum beziehungsweise an den Anfang seiner Untersuchung. Heidegger zeigt, warum ein Kunstwerk als Kunstwerk zu verstehen ist, aber er zeichnet nicht die Grenzen des Kunstwerkes von innen her auf. Diese Grenzen erfahren wir nur von außen: Wenn etwas bereits als ein Ding oder ein Zeug festgestellt ist, dann ist es laut Heidegger kein Kunstwerk.

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Als Übergang zum nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit, in dem Heideggers Interpretation des Kunstwerkes im Bezug auf die Technik kritisch reflektiert wird, ist dieser abschließende Teil seiner Untersuchung besonders wichtig. Heidegger schreibt am Anfang des letzten Teils seiner Meditationen über das Kunstwerk: „Gleichwohl hat das Sprachwerk, die Dichtung im engeren Sinne, eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste […] Um das zu sehen, bedarf es nur des rechten Begriffs von Sprache.“139 Für Heidegger ist es nämlich die Sprache, die das Seiende als ein Seiendes allererst hervorkommen lässt.140 Im Prinzip schafft das Sprachwerk also dasselbe wie jedes andere Kunstwerk; es lässt das Seiende zum Vorschein kommen, nur ereignet sich laut Heidegger diese Eröffnung zuvorderst in der Sprache. Um den Sonderstatus der Sprache zu bestätigen, sagt Heidegger suggestiv: „Wo keine Sprache west, wie im Sein von Stein, Pflanze und Tier, da ist auch keine Offenheit des Seienden und demzufolge auch keine solche des Nichtseienden und des Leeren.“141 Aber auch Steine, Pflanzen und Tiere schöpfen und schaffen keine Kunstwerke und aus diesem Grund lässt sich nicht unmittelbar einsehen, warum sich das Sprachwerk im Vergleich mit anderen Kunstwerken auszeichnet. Diese Behauptung verstehe man nun jedoch mit Heidegger besser, wenn man sich auf den folgenden Zusammenhang besinne: „Indem die Sprache erstmal das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen. Dieses Nennen ernennt das Seiende zu seinem Sein aus diesem.“142 Damit werden unseres Erachtens im Prinzip alle nichtsprachlichen Künste zu Epiphänomenen degradiert – denn das Seiende erscheint erst in und durch die Sprache und wird somit ursprünglich im ‚Nennen‘ bestimmt. „Bauen und Bilden dagegen geschehen immer schon und immer nur im Offenen der Sage und des Nennens. Von diesem werden sie durchwaltet und geleitet. Deshalb bleiben sie eigene Wege und Weisen, wie die Wahrheit sich ins Werk richtet. Sie sind ein je eigenes Dichten innerhalb der Lichtung des Seienden, die schon und unbeachtet in der Sprache geschehen ist.“143

Bauen und Bilden geschehen nur in einem Raum, der schon von der Sprache erschlossen ist. Dies bedeutet, dass Bauen und Bilden nach dem Maß der Sprache ‚geleitet‘ werden: Die ursprüngliche und grundsätzliche ‚Ferne und Nähe, Weite und Enge, Weile und Eile‘ wird zuerst von der Sprache definiert. Bauen und Bilden bleiben zwar eigene ‚Wege‘, wie die Wahrheit sich ins Werk richtet, aber um die Priorität des Sprachwerkes zu verstehen, müs139 140 141 142 143

Holzw, S. 61 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 61. Holzw, S. 61. Holzw, S. 61 (gesperrt S.R). Holzw, S. 62 (kursiviert S.R.).

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sen sie als ‚Wege‘ im Spielraum der Sprache verstanden werden.144 In dem Sinne sind Bauten und Gemälde nicht ‚Schöpfungen aus dem Nichts‘, sie geben damit nicht einen eigentlichen ‚Anstoß‘, der für die Kunst charakteristisch ist, sondern vielmehr richten sie nur das Seiende ins Werk, das bereits von der Sprache erschlossen worden ist. Die Sprache entscheidet über die anderen Künste, oder besser gesagt, die Sprache relativiert sie auf sich selbst und hebt damit die Ursprünglichkeit der anderen Kunstwerke auf. Damit versagt das Sprachwerk den übrigen Kunstwerken ihren ‚umstoßenden‘ Charakter und ihre Bestimmung als Kunst im bisherigen Sinne. Die Sprache ist so gesehen ‚das entwerfende Sagen‘, das den Streit der anderen Werke zwischen Welt und Erde beherrscht.145 „Das entwerfende Sagen ist Dichtung: die Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter.“146 Die Sprache ist im Heideggerschen Sinne nicht nur die Lichtung des Seienden, das heißt die Möglichkeitsbedingung des Hervortretens, sondern sie ist auch das Hervortreten selbst – denn Heidegger bestimmt sie eben als „die Sage der Welt und der Erde.“147 Vor allem lässt die Sprache erst Welt und Erde in ihrer Spannung entstehen und zum Vorschein kommen, und mit dieser Spannung ist auch über den Streit und ‚Spielraum‘ des jeweiligen Werkes entschieden. Aus diesem Grund spricht Heidegger auch von einem Anfang, der durch die Sprache gestiftet wird, und wodurch Welt und Erde grundsätzlich aufeinander bezogen werden.148 Dieser Anfang stiftet erst Geschichte, indem er über den 144

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Das ‚Bewahren‘ des Kunstwerks als die Interpretation seiner Wahrheit wird erst in der Sprache gestiftet. Das ‚Bewahren‘ von Kunstwerken ist auf die Sprache angewiesen. Siehe auch nächstes Kapitel. Vgl. Holzw, S. 61. Holzw, S. 61 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 61. Holzw S. 64f. Im Versuch, die Relativierung der übrigen Werke auf die Sprache zu vermeiden, stellt Heidegger jedoch folgende Betrachtung an: „Die Dichtung ist hier in einem so weiten Sinne und zugleich in so inniger Wesenseinheit mit der Sprache und dem Wort gedacht, daß es offen bleiben muß, ob die Kunst und zwar in allen ihren Weisen, von der Baukunst bis zur Poesie, das Wesen der Dichtung erschöpft.“ (Holzw, S. 62) Bei dieser ‚Offenheit‘ wird das ‚Wort‘ und die ‚Sprache‘ jedoch für sich hervorgehoben und es wird eben in Frage gestellt, ob die anderen Kunstwerke überhaupt das Wesen der Dichtung, das heißt das Wesen der Kunst, so wie jene erschöpfen. Darüber hinaus führt Heidegger noch weitere Gründe an, um das Sprachwerk als das ursprüngliche Kunstwerk zu denken. „Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne. Weil nun aber die Sprache jenes Geschehnis ist, in dem für den Menschen jeweils erst Seiendes als Seiendes sich erschließt, deshalb ist die Poesie, die Dichtung im engeren Sinne, die ursprünglichste Dichtung im wesentlichen Sinne.“ (Holzw, S. 62; kursiviert S.R.). Ist das Sprachwerk erst als die ‚ursprünglichste Kunst‘ gedacht, dann würden die anderen Künste im Voraus in seinem Welt aufgedeckt werden. Als Bestätigung dafür könnten wir auch anführen, dass Heidegger nicht zu-

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nachfolgenden Streit des Seienden grundlegend entscheidet. Den korrespondierenden Anfang dazu sieht Heidegger im ‚entwerfenden Sagen‘ der griechischen Antike.149 Die Werke der nachfolgenden Epochen, beziehungsweise der ‚Geschichte des Abendlandes‘ stehen im Rahmen dieser Zeit und sind damit von diesem Anfang durchherrscht.150 Die Werke der nachfolgenden Epochen stoßen also nicht zu etwas Neuem vor, denn laut Heidegger wurde im antiken Griechenland eine besondere, erste und einmalige Tradition gestiftet, in der die späteren Werke geschaffen und bewahrt worden sind. Fassen wir den bisherigen Gedanken zusammen, dann stiftet für Heidegger die Dichtung im Sinne des entwerfenden Sagens also das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen, wonach das Seiende sich anfänglich richtet. Die Wahrheit zu stiften hat für Heidegger wiederum drei wichtige Dimensionen zu berücksichtigen: „Das Wesen der Kunst ist Dichtung. Das Wesen der Dichtung ist die Stiftung der Wahrheit. Das Stiften verstehen wir hier in einem dreifachen Sinne: Stiften als Schenken, Stiften als Gründen und Stiften als Anfangen.“151 Und um die Symmetrie zwischen Stiften und Bewahren wieder zu verdeutlichen, ergänzt Heidegger: „Stiftung ist aber nur in der Bewahrung wirklich. So entspricht jeder Weise des Stiftens eine Solche des Bewahrens.“152 Geht man den drei Begriffen des ‚Schenkens, Gründens und Anfangens‘ nach, dann erhält man eine detaillierte Wiederholung von Heideggers Verständnis des Kunst. Gleichzeitig wird auch Heideggers Selbstreflexion deutlich: Nach seiner Bestimmung des Wesens der Kunst als Dichtung wird nämlich klar, dass sein eigener Text eminent zur Kunst gehört. Gehen wir also Heideggers dreifacher Bestimmung der Stiftung der Wahrheit nach und beachten dabei auch die immanente Selbstreflexion von „Der Ursprung des Kunstwerkes“. Für Heidegger bedeutet ‚Stiften als Schenken‘ das Vermögen der Kunst, Seiendes aus dem Nicht-Seienden zu schöpfen.153 Das Schenken geschieht nicht in einem kausalen Zusammenhang, sondern es ist ein spontaner großzügiger Akt: „Das Bisherige wird in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt. Was die Kunst stiftet, kann deshalb durch das Vorhandene und Verfügbare nie aufgewogen und

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fälligerweise das Wesen der Kunst mit dem Begriff der ‚Dichtung‘ bezeichnet und es von hier aus verständlich machen möchte. Dieser Begriff hat seinen Ausgangspunkt in der Sache, wie sie von Heidegger interpretiert wird. Vgl. S. 64. Mit diesen Gedanken werden wir uns auch im dritten Teil der Abhandlung beschäftigen. Holzw, S. 63. Holzw, S. 63 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 63.

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wettgemacht werden. Die Stiftung ist ein Überfluß, eine Schenkung.“154 So hat auch Heidegger im Vollzug seines Gedankengangs zum Kunstwerk Wahrheit gestiftet und das bisherige Verständnis der Kunst anhand des ‚Stoff-Form-Schemas‘ ‚umgestoßen‘. Das Kunstwerk ist nach Heideggers Interpretation anders als bisher zu sehen und zu verstehen. Das ‚Stiften als Gründen‘ bedeutet für Heidegger, den verborgenen Grund des Kunstwerkes herzustellen, was zum geschenkten Seienden des Kunstwerks dazugehört. So ergänzen sich ‚Schenken und Gründen‘ wie ‚Welt und Erde‘. ‚Gründen‘ stellt mit anderen Worten die Rahmenerzählung der aufgehenden Welt her, indem es den Zusammenhang bezeichnet, worin die ‚Welt‘ steht. Heidegger äußert sich über das ‚Gründen‘ der Kunst wie folgt: „Der wahrhaft dichtende Entwurf ist jedoch niemals ein willkürlich Zugemutetes. Der wahrhaft dichtende Entwurf ist die Eröffnung von Jenem, worein das Dasein als geschichtliches Volk seine Erde, der sich verschließende Grund, dem es aufruht mit all dem, was es, sich selbst noch verborgen, schon ist. Es ist aber seine Welt, die aus dem Bezug des Daseins zur Unverborgenheit des Seins waltet. Deshalb muß alles dem Menschen Mitgegebene in Entwurf aus dem verschlossenen Grund heraufgeholt und eigens auf diesen gesetzt werden. So wird er als der tragende Grund erst gegründet.“155

Auf Heideggers eigene Interpretation des Kunstwerkes bezogen können wir auch das Gründen als die ‚Unwahrheit‘ seiner Auslegung verstehen, die die Kunst verstellt. Indem wir das Gründen so auslegen, wäre jede dunkle, rätselhafte Stelle seiner Interpretation zugleich eine Bestätigung der Interpretation selbst. Damit würde sich auch sein Sprachwerk in einer Kreisbewegung befangen zeigen, deren Selbstbestätigung und zusammengehören. Schließlich ergänzt Heidegger das ‚Schenken‘ und das ‚Gründen‘, das zum Wesen der Kunst gehört, durch den Begriff des ‚Anfangs‘. Das Stiften der Kunst ist als ein Anfangen zu verstehen, weil es unvermittelt ist. Das Anfangen der Kunst ist ironischerweise die Voll-Endung der dreifachen Beschreibung der Kunst, vermöge dieser Vollendung Heidegger das ‚Schenken und Gründen‘ zusammenfasst.156 In dem Sinne bezeichnet der ‚Anfang‘ eben zugleich den ‚Ursprung‘ des Kunstwerkes. ‚Anfangen‘ hat dabei einen besonderen Sinn für Heidegger, weil er einerseits den Anfang als einen Sprung versteht, und damit ist der Anfang fähig, einen Zäsur zu setzen, andererseits ist der Anfang als ein Ereignis gedacht, das sich ‚am längsten und unauffällig‘ vorbereitet hat.157 Endlich bedeutet Anfangen für Heidegger auch ‚Vorsprung‘, denn der Anfang definiert zugleich sein eigenes Ende.158 Das 154 155 156 157 158

Holzw, S. 63. Holzw, S. 63. Vgl. Holzw, S. 64. Vgl. S. 64. Vgl. Holzw, S. 64.

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Unverborgene des Angefangenen kann als die geschenkte Welt verstanden werden. Dementsprechend kann der ‚Grund‘ als das verborgene Ende der zugehörigen Welt interpretiert werden. Denn für Heidegger gehört das Ende bereits in den verborgenen Grund des Anfangs – wie Heidegger sagt: „Der Anfang enthält schon verborgen das Ende.“159 Mit diesem Begriff des Anfangs wird zugleich die Fragwürdigkeit der Wahrheit und des Maßes des Kunstwerkes nachdrücklich verschärft. Denn wie verhält sich die Welt des jeweiligen Kunstwerks zur Welt, in der es geschaffen ist? Heidegger Interpretation zufolge scheint es, als habe sich durch die Sprache der Griechen eine besondere Bedeutungsfülle maßgeblich ausgeprägt, die in der nachfolgenden Geschichte ins Werk gesetzt wurde. Ist die Erde als verborgenes Ende des Anfangs das Prinzip, wodurch sich die besondere Zeitlichkeit der erschlossenen Welt und ihr Maß durchsetzt? Und was bedeutet es, wenn Heidegger sagt, dass die Wahrheit des Kunstwerkes vor dem Kunstwerk nicht gegeben war? Eine erste Antwort auf diese Fragen scheint darin zu liegen, dass das jeweilige Kunstwerk das bisherige Seiende ‚in seiner ausschließlichen Wirklichkeit‘ widerlegt; durch die Wahrheit des Kunstwerks zeigt sich also einerseits eine bisher unerschlossene Wirklichkeit, die aber aus der verborgenen Fülle eines ursprünglichen Anfangs geschaffen ist. Aber aus welchem Anfang muss das Kunstwerk verstanden werden – aus seinem eigenem oder einem noch früheren Anfang? Gibt es überhaupt den Anfang und sind nicht alle Kunstwerke durch die Spannung verschiedener Anfänge, Vorsprünge und Enden relativiert? Wenn ja, dann hat das entscheidende Konsequenzen für die Wahrheit und damit auch für die Bewahrung der Kunst.160 In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ sagt Heidegger: „Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres.“161 In Übereinstimmung mit dieser Behauptung äußert er sich zu Beginn des Nachwortes des zunächst nur vorgetragenen Textes, das schriftlich zum Teil Jahre später verfasst worden ist, folgendermaßen: „Die vorstehenden Überlegungen gehen das Rätsel der Kunst an, das Rätsel, das die Kunst selbst ist. Der Anspruch liegt fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.“162 Mit diesem Gestus des Denkens, der für Heidegger charakteristisch ist, fordert er den Leser auf, wiederholt den Bereich der von ihm erschlossenen Welt des

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Holzw, S. 64. Im dritten Teil der Abhandlung werden wir diese Fragestellungen genauer erörtern. Im nächsten Kapitel möchten wir zuerst die Fragestellungen aufnehmen, die den angeblichen Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk betreffen. Holzw, S. 39. Holzw, S. 66.

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Kunstwerks zu studieren und bei ihr zu verweilen.163 Aber wo soll man dieses Unterfangen beginnen? Heidegger hat mit dieser Aussage über das eigene Werk eben auch seine eigenen Feststellungen der Kunst relativiert. Bedenkt man dabei, was Heidegger am Ende seines Gedankengangs über das Kunstwerk schreibt, wird die Rätselhaftigkeit seines eigenen Werkes noch deutlicher. Hier heißt es über sein eigenes Besinnen auf das Kunstwerk: „Solches Besinnen vermag die Kunst und ihr Werden nicht zu erzwingen. Aber dieses besinnliche Wissen ist die vorläufige und deshalb unumgängliche Vorbereitung für das Werden der Kunst. Nur solches Wissen bereitet dem Werk den Raum, den Schaffenden den Weg, den Bewahrenden den Standort.“164 Das ‚besinnliche Wissen’ erschließt erst den Raum der Kunst und geht also der Kunst voraus. Die Sage des besinnlichen Denkens erschließt daher eine Welt, die dem Kunstwerk vorausgeht, und sie könnte damit auch als Meta-Kunst bezeichnet werden.165 So gesehen könnten wir behaupten, dass der Ursprung des Kunstwerks – wo das Kunstwerk sich als ein Ursprung des Wahrheit zeigt – eben in dem ‚dichtenden Entwurf‘ von „Der Ursprung des Kunstwerkes“ liege.166 Nie zuvor nämlich wurde die Kunst in der Weise verstanden wie es in diesem Werk der Fall ist.167 Damit wäre der dichtende Sprachentwurf von Hei-

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Vgl. VA, S. 66, 155 und USpr, S. 148. Holzw, S. 66 (kursiviert S.R.). Siehe auch: ”Denn das Wort scheidet, indem es das Wesenhafte nennt, das Wesen vom Unwesen. Und indem das Wort sie scheidet, entscheidet es ihren Streit. Das Wort ist Waffe.” (Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1996, S. 58.) Vgl. Holzw, S. 61. Heidegger betont zwar als Motto der Gesamtausgabe, dass seine Bücher, Aufsätze und Vorlesungen nicht ‚Werke‘, sondern ‚Wege‘ seien (Vgl. GA 1). Was in dieser Gegenüberstellung mit ‚Werk‘ gemeint ist, bleibt jedoch fragwürdig, denn ‚Wege‘ und ‚Werke‘ müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Wird das Wahrheitsgeschehen im Werk betont, dann ist es wichtig zu analysieren, was auch in Heideggers eigenen Texten geschieht und gleichzeitig zu bemerken, dass er betont: „Das Land wird ja erst durch den Weg.“ (GA 65, S. 86). Dabei kommt dem ‚Weg‘ dieselbe erschließende Funktion zu, die wir als Heideggers ‚Umkehrung‘ beschrieben haben, und die besonders deutlich an seiner Beschreibung des Tempelwerks zu sehen ist (Vgl. Holzw, S. 28f). Wir können aber zwischen ‚Wege‘ und ‚Werke‘ im Sinne Heideggers einen Unterschied darin erkennen, dass von der Perspektive des Schaffenden selbst her, in diesem Falle der von Heidegger, das Geschaffene fast immer unvollständig scheint – während das Werk von der Perspektive des Betrachters oft in sich geschlossen und damit als vollendetes Werk gesehen wird. Wenn wir nicht alle andere Werke als ‚Studien‘ oder ‚Wege‘ betrachten möchten, dürfen wir auch Heideggers Schriften als Werke verstehen – und zwar als die besonderen Werke Heideggers. Wir können auch fragen: Wie sind Skizzen, Studien, Übungen von der Hand eines Meisters wie Michelangelo und Leonardo da Vinci zu verstehen? Sicherlich als größere Kunstwerke als manches vollendete Werk. Schließlich wäre auch die Möglich-

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deggers Text über das Kunstwerk selbst erst der Ursprung des Kunstwerks – er öffnet einen ganz neuen Bereich für die Auseinandersetzung mit der Kunst.168 Dementsprechend weist die ‚Besinnung‘ Heideggers der Kunst einen besonderen Ort zu und macht die Beziehung zwischen Dichtung und Besinnung, zwischen Schaffen und Bewahren, zwischen Heideggers eigener Interpretation der Kunst und anderen möglichen Auslegungen äußerst fragwürdig. Aufgabe des folgenden zweiten Kapitels ist es, die Rätselhaftigkeit der Kunst weiter darzulegen und zu verdeutlichen beziehungsweise Heideggers Ansätze zur Beziehung zwischen Kunst und Technik zu ergänzen und zu kritisieren. Das zweite Kapitel ist als eine Besinnung auf die Technik unter die Leitthese gestellt, dass Zeug und moderne Technik ebenso wie das Kunstwerk zum Wesen der Kunst gehören.

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keit zu bedenken, die wir hier nicht weiter verfolgen werden, nämlich das moderne Kunstwerk als unvollendet zu deuten, und es damit als ‚Weg‘ zu bezeichnen. Vgl. auch mit ”Die Frage nach der Technik”, wo Heidegger schreibt: ”Die Technik ist also nicht bloß Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik.” VA, S. 16 (Kursivierung S.R.).

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Zweites Kapitel

Die Wahrheit der Technik A Zum Rätsel des Kunstwerkes In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ ist Heidegger nicht bestrebt, das Rätsel der Kunst zu lösen, sondern zu zeigen.169 Dabei scheint er jedoch immer einen Ausweg aus den darin entwickelten Schwierigkeiten und Rätseln zu kennen und macht nur auf wenige Grenzen seiner eigenen Interpretation explizit aufmerksam. In diesem Kapitel soll der rätselhafte Charakter von Heideggers Interpretation des Kunstwerkes deutlicher zum Vorschein gebracht und dadurch der Versuch unternommen werden, Heideggers Interpretation des Kunstwerks kritisch zu ergänzen. Betrachten wir den Kunstwerkaufsatz aus einer gewissen Distanz, dann scheint der Text nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil Heidegger ihn als einzigen Text nachträglich für die Veröffentlichung mit zwei verschiedenen Ergänzungen versehen hat.170 Diese Einrahmung seiner Betrachtungen kann die Fragwürdigkeit von Heideggers Meditationen über das Kunstwerk sowohl verringern als auch steigern: Die Gestalt der Kunst wird dadurch einerseits gesichert – andererseits sind die zwei Ergänzungen Zeichen der Begrenztheit der Heideggerschen Interpretation. Die bloße Tatsache dieser doppelten Einrahmung gibt einen Anlass, sich wiederholt mit Heideggers Interpretation zu beschäftigen und sie dabei ‚genau zu nehmen‘, um ihre Fragwürdigkeit besser aufzudecken. Was ist es, das Heidegger in den zwei Nachworten zu klären versucht? Wir möchten hier versuchen, Heidegger entgegenzukommen, und aufs Neue über das Kunstwerk und seine Rätselhaftigkeit nachzudenken. Im Nachwort zu „Der Ursprung des Kunstwerkes“, bemängelt Heidegger nämlich die mangelnde Kunst-Reflexion der Gegenwart: „Zwar spricht man von den unsterblichen Werken der Kunst und von der Kunst als einem Ewigkeitswert. Man spricht so in jener Sprache, die es bei allen wesentlichen Dingen nicht genau nimmt, weil sie befürchtet, genau nehmen heiße am Ende: denken. Welche Angst ist heute größer als diejenige vor dem Denken?“171

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Vgl. S. 67. Jahre danach schreibt Heidegger ein „Nachwort“ zu „Der Ursprung des Kunstwerkes“ – ca. 20 Jahre nach dem Vortrag einen „Zusatz“ dazu. (Vgl. Holzw, S. 375). Holzw, S. 67 (kursiviert S.R.).

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Geht man Heideggers Interpretation der Kunst nach, gibt sie viele ‚Anstöße‘ zum Denken. Einige davon gehen umso deutlicher hervor, wenn nun wiederum „Die Frage nach der Technik“ als Kontrastfolie herangezogen wird. Erinnern wir uns zudem daran, was Heidegger am Anfang von „Der Ursprung des Kunstwerkes“ sagt, dann stellt sich ein besonderer Ausgangspunkt für unser Vorhaben heraus. An diesem Anfang des Kunstwerkaufsatzes sagt Heidegger: „Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist. Das, was etwas ist, wie es ist, nennen wir sein Wesen. Der Ursprung von etwas ist die Herkunft seines Wesens. Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes fragt nach seiner Wesensherkunft.“172 Nach dieser Einleitung seiner Interpretation der Kunst, führt Heidegger, wie wir bereits gesehen haben, weiter aus, dass man mit gleichem Recht sagen kann, dass der Künstler der Ursprung des Werkes ist, wie das Werk der Ursprung des Künstler ist.173 Der Ursprung des Kunstwerks sei daher zunächst anderswo zu suchen.174 Der Künstler und das Werk sind ursprünglich nicht durch einander bestimmt, sondern von dem her, wovon beide ihren Namen haben: der Kunst selbst. Dabei verstrickt sich Heidegger wieder in den charakteristischen Zirkel des Verstehens, denn „was die Kunst sei, soll sich aus dem Werk entnehmen lassen.“175 Nichtsdestotrotz fährt Heidegger einfach fort und untersucht beispielhaft zwei Werke, ein Gemälde von van Gogh und ein griechisches ‚Tempelwerk‘. Aus diesen komplizierten Untersuchungen heraus zeigt sich am Ende seine Interpretation des Ursprungs des Kunstwerkes folgendes: „Wenn die Kunst der Ursprung des Werkes ist, dann heißt das, sie lässt das wesenhaft Zusammengehörige am Werk, Schaffende und Bewahrende, in seinem Wesen entspringen.“176 Ergänzend beschreibt Heidegger, dass es sich so verhält, „weil Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine ausgezeichnete Weise, wie Wahrheit seiend, d.h. geschichtlich wird.“177 Wie bereits am Anfang seiner Überlegungen zur Kunst angedeutet war, stellt Heidegger am Ende seiner Betrachtungen fest, dass Ursprung und Wesen im Falle der Kunst einerlei sind: Die Kunst west ursprünglich – oder sie west als Ursprung. Dabei scheint die Einsicht am Anfang seines Gedankengangs nicht explizit berücksichtigt zu werden: Ist das Wesen einer Sache und ihr Ursprung nicht immer das Selbe? ‚West‘ nicht alles Seiende ursprünglich beziehungsweise als Ursprung? Blicken wir auf Heideggers eigene Untersuchung des Kunstwerkes zurück, müsste diese Frage mit ja beantwortet werden, denn ‚was und wie‘ eine 172 173 174 175 176 177

Holzw, S. 1 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 2. Vgl. Holzw S. 1ff. Holzw, S. 2. Holzw, S. 58f. Holzw, S. 66 (kursiviert S.R.).

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Sache ist, verdankt sie dem Ursprung: Er bestimmt ihr Wesen: Alles – Dinge, Sachen, Zeug und Werke – wesen ursprünglich.178 Der entscheidende Punkt ist bloß, dass ‚was und wie‘ eine Sache sei, laut Heideggers Interpretation erst im Kunstwerk gestiftet wird. Weil alle Sachen sich in ihrem Sein und Geschick einer Stiftung der Wahrheit verdanken, definiert diese Stiftung sowohl den Ursprung als auch das Wesen und das fortwährende Geschick des Seienden. Demgemäß sagt Heidegger auch: „Das wahre Wesen einer Sache bestimmt sich aus ihrem wahren Sein, aus der Wahrheit des jeweiligen Seienden.“179 Der Ursprung einer Sache ist mit anderen Worten die originäre Stiftung ihrer Wahrheit. Durch die Stiftung der Wahrheit im Kunstwerk kommt die Zusammengehörigkeit von Wesen und Ursprung zum Vorschein: Sie werden in dieser Stiftung einander gleichgesetzt.180 In „Die Frage nach der Technik“ geht es Heidegger darum, dem Wesen auf die Spur zu kommen, in diesem Falle insbesondere dem Wesen der Technik. Die Untersuchung des Wesens der Technik leitet Heidegger jedoch anders als die Untersuchung des Kunstwerks ein. Am Anfang des Technik-Aufsatzes schreibt Heidegger: „Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, dass jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen lässt. So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches.“181 Wenn es also um die Frage nach der Technik geht, klammert Heidegger von Anfang an die Technik selbst ein, um ihr Wesen zu finden. Oder anders gesehen: In Kunstwerkaufsatz sucht Heidegger das Wesen der Kunst und findet es anhand eines Gemäldes von van Gogh; im Technikaufsatz ist das Wesen derselben dadurch gekennzeichnet, dass es „ganz und gar nichts Technisches“182 ist und sich daher auch nicht an den einzelnen technischen Dingen und Geräten offenbart. In dem einen Fall fängt Heidegger mit einer Beschreibung eines konkreten Werkes an, in dem anderen Fall lehnt er diesen Ansatz von vornherein ab. Mit anderen Worten: Heideggers Verfahrenweisen in seinen Fragen nach dem Wesen der Technik und der Kunst sind einander entgegensetzt. 178

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Hier ist der Zusammenhang zur Interpretation des Wesens im ersten Teil der Abhandlung deutlich, den wir im dritten Teil der vorliegenden Arbeit genauer ausarbeiten werden. Holzw, S. 37 (kursiviert S.R.). Anhand dieser Erläuterung stellt sich die wichtige Frage, ob das Wesen der Kunst durch die Kunst gestiftet wird, ob sie ihr eigenes Wesen stiftet. Darauf werden wir im dritten Teil der Arbeit zurückkommen. Vorläufig an dieser Stelle betrachtet und im Sinne der hier entfaltenden Interpretation, scheint dies tatsächlich so zu sein. VA, S. 9 (kursiviert S.R.). VA, S. 9.

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Die Doppelbestimmung des Begriffs des Ursprungs bei Heidegger, nach der er sowohl den Anfang als auch das Wesen einer Sache definiert, erlaubt Heidegger, seine Untersuchung im Kunstwerkaufsatz ganz anders zu gestalten und sich mit konkreten Werken zu beschäftigen.183 Ausgehend von einer Unsicherheit macht Heidegger einen folgenschweren ‚Kurz-Schluss‘: „Da es jedoch offen bleiben muß, ob und wie die Kunst überhaupt ist, werden wir das Wesen der Kunst dort zu finden versuchen, wo Kunst ungezweifelt wirklich waltet. Die Kunst west im Kunst-Werk.“184 Hätte Heidegger dagegen nicht mit dem Begriff des ‚Ursprungs‘, sondern mit dem Begriff des Wesens seine Interpretation eingeleitet, so hätte er sich von Anfang an, so wie im Technikaufsatz von den konkreten Werken abwenden müssen. In Anlehnung an „Die Frage nach der Technik“ ließe sich dann nämlich sagen: ‚Das Kunstwerk ist nicht dasselbe wie das Wesen der Kunst. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, dass jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selbst ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen lässt. So ist denn auch das Wesen der Kunst ganz und gar nichts Künstlerisches.’185 So verfährt Heidegger in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ jedoch gerade nicht, sondern er weist durch den Begriff des Ursprungs auf den Zirkel des Verstehens hin, wonach Künstler, Kunstwerk und Kunst wechselseitig aufeinander verweisen: daraus ergeben sich die drei verbundenen Momente, die losgelöst von einander nicht verstanden werden können. In jeweils unterschiedlichen Hinsichten sind alle drei Momente nämlich der Ursprung des jeweils anderen. Dieser Zirkel des Verstehens des Kunstwerkes wird nie aufgelöst, sondern er wird von Heidegger mit dem Begriff des Sprunges, und zwar mit einem ganz originären Sprung, nämlich einem ‚Ur-Sprung‘, unvermittelt durchbrochen.186 Die Kunst soll am Anfang stehen – von daher erhalten laut Heidegger das

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Daher stellt Heidegger eigentlich auch seinen bisher wichtig erscheinenden Begriff der ‚ontologischen Differenz‘ in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ in Frage. Im „Zusatz“ zu diesem Text heißt es: „Bedenken wir, inwiefern Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden nichts anderes besagt als Anwesen des Seienden als solchen, d.h. Sein, dann rührt die Rede vom Sicheinrichten der Wahrheit, d.h. des Seins, im Seienden an das Fragwürdige der ontologischen Differenz.“ (Holzw, S. 73). Wenn das ‚Sein‘ sich als Wahrheit in das Seiende einrichten kann, dann gibt es keinen Unterschied zwischen Kunst und Kunstwerk einerseits und Sein und Seiendem andererseits. Oder anders ausgedrückt: Das Kunstwerk ist das Ins-Seiende-Setzen des Seins, wodurch Heidegger dem Seienden des Kunstwerks zurückgibt, was ihm die ontologische Differenz zu entnehmen drohte. Holzw, S. 2 (kursiviert S.R.). Aber es herrscht eben kein vollständiger Konsens darüber, welche Werke zu den Kunstwerken gehören. Vgl. VA, S. 9 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 64.

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Kunstwerk und der Künstler erst ihren Namen.187 Es scheint aber unter Rücksicht auf Heideggers vorausgegangene Überlegungen beliebig, ob die Kunst der Ursprung des Werkes und des Künstlers sei, so wie Heidegger es behauptet, oder umgekehrt: denn der Ursprung des Kunstwerkes bezeichnet gerade die systematische Gleichzeitigkeit von Kunst und Künstler. Entweder hat die ‚Kunst‘ keinen Vorrang und die drei Momente wären somit nebengeordnet. Daraus ließe sich folgern, dass alles, was ein Künstler hervorbringt, Kunst ist. Wir könnten sein Werk nicht von einer noch ursprünglichen Bestimmung aus abwerten und ihm seinen Rang als Kunstwerk absprechen. Oder aber es besteht die Möglichkeit, wenn das Kunstwerk an erster Stelle steht, dass wir erst ein Kunstwerk als solches per Definition festgelegt haben müssen, um dann einen Begriff von Kunst und Künstler nachträglich zu entwickeln. Wie sähe es aber mit der Technik aus, wenn sie ebenfalls nach Heideggers Verfahren in seinem Kunstwerkaufsatz ausgelegt würde? Zunächst muss bemerkt werden, dass in Heideggers Vergleich zwischen Technik und ihrem Wesen einerseits und dem Baum und seinem Wesen andererseits die Technik als etwas Technisches und also als ein Artefakt verstanden wird. Die Technik ist jedoch ebenso wenig nur etwas Technisches, wie die Kunst sich in einem konkreten Werk erschöpft: Der Künstler gehört zur Kunst, wie das Verfahren der Herstellung zur Technik.188 Den Begriff der Technik nimmt Heidegger in diesem Vergleich mit dem ‚Baum‘ als etwas konkret Seiendes, während seine Differenz zwischen Kunst und Kunstwerk zeigt, dass die Kunst sich nicht im Werk erschöpft. Damit hat Heidegger einen Unter187

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Vgl. S. 1. Siehe auch die ‚erste Vortragsfassung‘ von „Der Ursprung des Kunstwerkes“: „Die Fragen nach dem Ursprung des Werkes muß zu allererst darauf halten, daß sie wirklich beim Kunstwerk als solchen ansetzt. Hierzu ist offenbar nötig, das Kunstwerk dort aufzusuchen, wo es eben schon losgelöst von der Hervorbringung an sich vorhanden ist.“ („Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger 1889-1989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22, S. 6). „Zum Mitvollzug der Kreisbewegung unseres Fragens kommen wir aber nur durch einen Sprung. U n d am Ende ist dieser Sprung die einzige Weise des rechten Mitwiss e n s u m d e n U r s p r u n g , d e m w i r n a c h f r a g e n . So hängt alles daran, daß wir für diesen Sprung den rechten Absprung nehmen. Dieser besteht nach der Anlage dieser Überlegungen i n d e r G e w i n n u n g d e s z u r e i c h e n d e n V o r b e g r i f f e s v o m K u n s t w e r k in seinem Werksein.“ (Heidegger, Martin: „Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger 1889-1989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22S. 8; gesperrt S.R.). Und: „Über Kunst kann nur die Kunst entscheiden (nicht außerkünstlerisch Relexion und Plannung).“ Heidegger, Martin: „Technik und Kunst – Ge-stell“, in: Kunst und Technik, hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. XIII-XIV S. XIII. Vgl. Holzw, S. 46f und VA, S. 16f.

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schied zwischen dem Bereich der Technik und der Kunst gesetzt, der aber der Sache nach von Heidegger nicht gerechtfertigt wird. Wird Technik aber analog zur Kunst abstrakt verstanden, dann kann dementsprechend auch gezeigt werden, dass die Technik der Bereich ist, in dem die Techniker und die technischen Dingen zusammengehören, und von dem auch sie ihren Namen erhalten. Diesen Bereich gibt es aber nicht an sich, das heißt ohne Technologien und Techniker, so wie es auch nicht die Kunst ohne Kunstwerke und Künstler gibt. So gesehen ist der ‚Ursprung‘ der Technik, und somit auch ihr Wesen, genauso wie der Ursprung der Kunst, rätselhaft und die Auslegung davon gerät in denselben Zirkel, wie wir ihn anhand der Entfaltung der Kunst im Kunstwerkaufsatz gesehen haben. In einem zweiten Schritt kann dann leicht nachgewiesen werden, dass die Technik so wie die Kunst der Ursprung von technischem Wissen, Technikern und Technologien (Zeug) ist, nämlich in dem Sinne, dass sie überhaupt den Bereich erschließt, von wo aus ihre ‚wesentliche‘ Zusammengehörigkeit einsichtig wird. Aus dieser Perspektive kann die Technik als eine und eigene Weise verstanden werden, Wahrheit zu stiften. Die Technik, nun als dieser Bereich verstanden, kann deswegen auch als das Gestell interpretiert werden, das laut Heidegger als ein Wahrheitsgeschehen zu verstehen ist.189 Aber durch Heideggers Abgrenzung der Technik vom Wesen der technischen Dinge versucht er, die Stiftung der Wahrheit des Gestells vom Bereich der technischen Dinge zu trennen.190 Mit anderen Worten kann man diese Stiftung in „Die Frage nach der Technik“ nicht den einzelnen Technologien ‚entnehmen‘, so wie Heidegger das Wesen der Kunst vom ‚eigenständigen‘ Kunstwerk aus bestimmt hat. Umgekehrt gilt: Wird das Wesen der Kunst von vornherein vom Kunstwerk getrennt, würde das Kunstwerk starr und ‚unwesentlich‘ werden, und Heidegger würde also gegen eine solche Trennung Einspruch erheben. In seinem Kunstwerkaufsatz untersucht Heidegger das Kunstwerk, weil die Kunst, wie er schon zu Beginn betont, im Kunstwerk wirklich ist – weil die Kunst sich im Kunstwerk offenbart.191 Das Kunstwerk ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit, und sie verwirklicht das Wesen der Kunst als der Ursprung der Wahrheit. Die Kunst wird hier als die gemeinsame Gattung der Kunstwerke verstanden – das, was alle Kunstwerke gemeinsam haben, wenn sie wirkliche Werke sind. Und so versteht Heidegger das Gestell in „Die Frage nach der Technik“ eben nicht: 189 190

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Vgl. VA, S. 16ff. Heideggers Interpretation ist an diesem Punkt zweideutig, denn später in „Die Frage nach der Technik“ setzt er die Technik mit dem Wesen der Technik gleich. Hier sagt er: „Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahr-heit.“ (VA, S. 16). Vgl. Holzw, S. 2ff.

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„Ist nun das Wesen der Technik, das Ge-stell, die gemeinsame Gattung für alles Technische? Träfe dies zu, dann wäre z.B. die Dampfturbine, wäre der Rundfunksender, wäre das Zyklotron ein Ge-stell. Aber das Wort ‚Gestell‘ meint jetzt kein Gerät oder irgendeine Art von Apparaturen. Es meint noch weniger den allgemeinen Begriff solcher Bestände. Die Maschinen und Apparate sind ebenso wenig Fälle und Arten des Ge-stells wie der Mann an der Schalttafel und der Ingenieur im Konstruktionsbureau.“192

Das Gemälde von van Gogh ist jedoch u. E. ein ‚Fall‘ vom Wesen der Kunst – im konkreten Kunstwerk offenbart die Kunst ihr Wesen – im Kunstwerk ist die Kunst am Werk. Als Konsequenz der Spaltung zwischen dem Gestell und den technischen Dingen kann Heidegger auch die technischen Dinge gegenüber dem Gestell verharmlosen: „Das Gefährliche ist nicht die Technik. Es gibt keine Dämonie der Technik, wohl dagegen das Geheimnis ihres Wesens.“193 Es sind also nicht die technischen Dinge und auch nicht die technischen Verfahren, die laut Heidegger gefährlich sind. Wir möchten hier jedoch gegen Heidegger halten, dass es nicht einzusehen ist, wie das Gestell unabhängig von den Apparaturen und technischen Installationen und Verfahrensweisen sich zeigen und wirklich werden kann.194 Denn gerade durch sie hat das Gestell seine Wirklichkeit, kann die Menschen in ihrer Ordnung bestellen und zum Geschick des Menschen werden. Diese Ambivalenz gegenüber technischen Apparaturen kommt aber auch in „Die Frage nach der Technik“ zum Ausdruck. In einer Passage dieses Aufsatzes zeigt sich, dass Heidegger bisweilen analog zu seinen Ausführungen im Kunstwerkaufsatz, die Dinge mit ihrem Wesen enger zu verbinden versucht. Unmittelbar nachdem er hier entwickelt hat, dass das Wesen von den Dingen getrennt verstanden werden müsse, fällt Heidegger eine für diesen Zusammenhang entscheidende Aussage: „Am ärgsten sind wir jedoch der Technik ausgeliefert, wenn wir sie als 192

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VA, S. 33. Heideggers Strategie in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ besteht darin, den Begriff des ‚Werks‘ als ein ‚am Werk sein‘ zu interpretieren, wodurch das Kunstwerk gegenüber den technischen Dingen vom Geschehen her zu verstehen ist. Wie wir sehen werden, können die technischen Dinge bzw. Artefakte ebenso in diesem Sinne als Werke aufgefasst werden, insofern sie eine Welt aufstellen und eine Erde herstellen. VA, S. 32. Heidegger sagt in einer anderen Schrift: „Für uns alle sind die Einrichtungen, Apparate und Maschinen der technischen Welt heute unentbehrlich […]. Es wäre töricht, blindlings gegen die technische Welt anzurennen […] Wir können die technischen Gegenstände im Gebrauch so nehmen, wie sie genommen werden müssen. Aber wir können diese Gegenstände zugleich auf sich beruhen lassen als etwas, was uns nicht im Innersten und Eigentlichen angeht.” (Gel, S. 22; kursiviert S.R.). Eben dies wäre eine subjektivistische Auslegung des Gestells, wenn die technischen Dinge den Menschen in seinem Tun und Denken nicht beeinflussen bzw. das ‚Bestellen‘ und das ‚Herausfordern‘ des Seienden nur vom Menschen und durch ihn geschieht.

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etwas neutrales betrachten; denn diese Vorstellung, der man heute besonders gern huldigt, macht uns vollends blind gegen das Wesen der Technik.“195 Die enge Verbindung zwischen den Dingen und ihrem Wesen muss also auch im Falle der Technik bestehen, damit der Ausdruck ‚an die Technik ausgeliefert zu sein‘ überhaupt einen Sinn ergibt, da das Übersehen der Eigenart der Technik, das in der Interpretation ihrer Neutralität besteht, auch ein Übersehen des Wesen der Technik bedeuten würde.196 Es gibt also das Paradox: Einerseits ist ‚die Technik nicht gefährlich‘ – wenn man aber andererseits denkt, dass die Technik neutral und also nicht gefährlich sei, dann verharmlost man sie, so dass sie – ganz im Sinne Heideggers – gerade umso gefährlicher würde. Kehren wir schließlich zu Heideggers Interpretation des Kunstwerkes zurück und vergleichen sie mit den Erörterungen der Technik in „Die Frage nach der Technik“, dann kommt eine bisher verborgene Ähnlichkeit zum Vorschein. Dass diese Ähnlichkeit sich nicht unmittelbar zeigt, hängt wieder mit den unterschiedlichen Verfahren der beiden Interpretationen zusammen. So schreibt Heidegger: „Das Wesen der Technik beruht im Ge-stell. Sein Walten gehört in das Geschick. Weil dieses den Menschen jeweils auf einen Weg des Entbergens bringt, geht der Mensch, also unterwegs, immerfort am Rande der Möglichkeit, nur das im Bestellen Entborgene zu verfolgen und zu treiben und von da her alle Maße zu nehmen.“197 Das Gefährliche, worin die Bedrohung der Menschen besteht, ist der Totalitätszwang einer bestimmten Art des Entbergens zu gehorchen und ‚von da her alle Maße zu nehmen‘: Und auf diese Totalität ist das Entbergen durch das Gestell ausgerichtet. Um diesen gefährlichen Totalitätsanspruch und den mit ihm verbundenen universellen Maßstab zu verstehen, möchten wir nun vergleichen, wie Heidegger das Kunstwerk beschreibt: „Der Tempel und sein Bezirk verschweben aber nicht in das Unbestimmte. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen.“198 Heidegger führt weiter aus: „Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.“199 So wird also das Geschick der griechischen Welt vom Tempel definiert, so wie das Gestell das Geschick der modernen Welt bestimmt. Bezüglich des Totalitätsanspruchs des Entbergens gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Gestell und Heideggers Auslegung dieses Kunstwerkes. Die 195 196 197 198 199

VA, S. 9. Vgl. VA, S. 9. VA, S. 29 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 27f. Holzw, S. 31 (kursiviert S.R.).

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einzige Unterscheidung bei Heidegger, die jedoch unseren bisherigen Überlegungen zum Unterschied beziehungsweise zur Einheit von Wesen und Sache bestätigt, beruht darin, dass es das konkrete Kunstwerk selbst ist, das das Geschick der griechischen Welt bestimmt – während es das Wesen der Technik, das Gestell, ist, das das Geschick des modernen Menschen prägt. Um das Errichten der Welt des Kunstwerkes genauer zu verstehen, muss an das Maß erinnert werden, das gleichzeitig mit dem Kunstwerk entsteht. Bringen wir uns wieder Heideggers Auslegung des Kunstwerkes vor Augen, dann finden wir folgende Erläuterung: „Er-richten sagt: Öffnen das Rechte im Sinne des entlang weisenden Maßes als welche das Wesenhafte die Weisungen gibt.“200 Das Wesenhafte des Kunstwerks zeigt sich also immer, indem es ein Maß aufstellt, das über die ‚Ferne und Nähe‘ beziehungsweise die ‚Weite und Enge‘ der Dinge entscheidet. Mit anderen Worten: Der Tempel gibt der antiken Welt ihr Maß; der Tempel ist damit der Maßstab, nach dem die antike Welt ‚aufgestellt und eingerichtet‘ ist. Am Maß des Tempels kann also gemessen werden, „was heilig ist und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht.“201 Der Tempel ist das Maß, das der antiken Welt ihre Ordnung gibt. Aber gerade dieses Messen aller menschlichen Bezüge nach einem bestimmten Maßstab ist im Prinzip dasselbe wie das rechnerische Denken, das Heidegger als gefährlich einstuft und dem Gestell zuschreibt, denn dieses Messen entscheidet von vornherein über die Dinge und gibt den Menschen ihre ‚Weisungen‘. Oder andersherum formuliert: Dem rechnerischen Denken liegt notwendigerweise ein Maßstab zugrunde und das Rechnen besteht in dem Versuch, mit diesem Maßstab die Welt zu sammeln und zu ordnen und einheitlich zu machen. Um diesen Zusammenhang zwischen Messen und Rechen zu bestätigen, muss man sich die Etymologie von ‚Rechnen‘ vergegenwärtigen, nach der ‚Rechnen‘ mit dem Substantiv des Rechts verbunden ist und also ursprünglich „in Ordnung bringen“202 heißt; und das Errichten des Kunstwerkes heißt bei Heidegger wie gesehen: ‚Öffnen das Rechte‘.203 ‚Das Rechte‘ oder ‚das Richtige‘ ist, wie es aus diesem Zusammenhang und aus dem Technikaufsatz hervorgeht, nachträglich zu der ‚Eröffnung‘ beziehungsweise zum Ereignis der Wahrheit.204 Indem der Tempel das Rechte stiftet, lenkt er von der Wahrheit ab. Das rechnerische Denken ist das Denken, das gemäß eines schon gegebenen Maße Ordnung bringt – und dieses Denken wird vom Tempel in die Wege geleitet – es wird Geschick. So ist es auch bemerkenswert, dass ausgerechnet die Glocken des christlichen ‚Tempels‘, deren Läu200 201 202 203 204

Holzw, S. 30 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 29 (kursiviert S.R.). ‚Rechnen ‘ in: Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 577. Vgl. Holzw, S. 30. Vgl. VA, S. 10f.

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ten Hölderlin so schön beschreibt und die Heidegger aus seinem Elternhaus bestens kennt, den Anfang unserer heutigen Zeitmessung stiften und nach denen der ‚vulgäre Urzeigersinn‘ der Zeit gebildet wurde.205 Das Aufstellen, Sammeln und Ordnen der Welt des Kunstwerks scheint also nicht wesentlich verschieden von dem versammelnden Entbergen des Gestells. Heidegger kann deswegen auch sagen: „Der in den Riß gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt.“206 Und er ergänzt: „Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt.“207 Für Heidegger west das Werk also als Ge-stell, weil es den Streit zwischen Welt und Erde ‚auf-, her- und feststellt‘. Die Wesensbereiche der Technik und des Kunstwerkes scheinen sich damit sehr nahe zu kommen. Mehr als zwanzig Jahre nach der Niederschrift des Kunstwerkaufsatzes, kurze Zeit nach dem Vortrag über die Technik (1956), hielt Heidegger es für nötig, einen ‚Zusatz‘ zu ersterem zu schreiben, in dem er besonders auf seine Verwendung der Begriffe des Ge-stells und des Feststellens in Bezug auf das Kunstwerk eingeht.208 Hier soll auf einen entscheidenden Zusammenhang geblickt werden, den Heidegger kurz darstellt: „Behalten wir jedoch für den Kunstwerk-Aufsatz [„Der Ursprung des Kunstwerkes“] den griechischen Sinn von THYVL im Blick: Vorliegenlassen in seinem Scheinen und Anwesen, dann kann das ‚Fest-‘ im Feststellen niemals den Sinn von starr, unbeweglich und sicher haben.“209 Diese Erläuterung wird anschließend in Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffs des Gestells im Bezug auf das Kunstwerk gebracht: „Gemäß dem bisher Erläuterten bestimmt sich die Bedeutung des auf S. 51 gebrauchten Wortes ‚Ge-stell‘: die Versammlung des Her-vor-bringens, des Her-vor-ankommen-lassens in den Riß als Umriß (SDUD) […] Nun ist in der Tat das später als ausdrückliches Leitwort für das Wesen der modernen Technik gebrauchten Wort ‚Ge-stell‘ von jenem her gedacht (nicht vom Büchergestell und der Montage her). Jener Zusammenhang ist ein wesentlicher, weil seinsgeschicklicher. Das Ge-stell als Wesen der modernen Technik kommt vom griechisch erfahrenen Vorliegenlassen, ORYJR, her, von der greichischen SRLYKVL und THYVL. Im Stellen des Ge-stells, d.h. jetzt: im Herausfordern in die S i c he r s t e ll u n g vor allem.“210 205

206 207 208 209 210

Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt am Main 1997, S. 21. Holzw, S. 51 (gesperrt S.R.). Holzw, S. 51 (gesperrt S.R.). Holzw, S. 375. Holzw, S. 71 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 72 (gesperrt S.R.).

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Anhand der zwei Zitate sehen wir, dass beide Verwendungen des Begriffs des Gestells von der griechisch gedachten THYVL zu denken sind. Das bedeutet aber gemäß Heidegger, dass das Aufstellen des Gestells „niemals den Sinn von starr, unbeweglich und sicher [haben kann].“211 Der Übergang zu Heideggers Feststellung in „Die Frage nach der Technik“: „Im Stellen des Ge-stells, d.h. jetzt: im Herausfordern in die Sicherstellung vor allem“212, ist also nicht durch die vorausgegangene Überlegung gerechtfertigt, ganz im Gegenteil, denn die Feststellung des Wesens der modernen Technik kann ‚niemals sicher‘ sein, wenn es wie Heideggers sagt von ‚griechischen THYVL‘ zu verstehen sei.213 Anhand der Überlegungen im „Zusatz“ zu „Der Ursprung des Kunstwerkes“ lassen sich die beiden Verwendungen des Begriffs des Gestells auch noch auf eine weitere Weise verbinden. Beachten wir nämlich, dass das Wesen der modernen Technik niemals starr ist und das, was festgestellt scheint, nur vorübergehend so aussieht, wie die Gestalt eines Kunstwerks: Es ist vielmehr vom Gestell herausgefordert und mobilisiert worden. Die Feststellung des Wesens der Technik ist nicht starr und unbeweglich, sondern bewegt sich im Rahmen eines bestimmten Maßes und ist in diesem Spielraum, wie das Seiende nach dem Maß des Kunstwerkes, abgesichert. Aber dieser Raum ist in beiden Fällen ein Spielraum von Möglichkeiten. Wäre dieser Spielraum nicht auch ermöglicht, könnte es auch nie einen ‚Umschlag‘ geben: Denn ansonsten könnte es, wenn ein Seiendes, so wie der Rhein, bloß einmal nur zum ‚Vorrat‘ gehört habe, sich nie anders denn als Vorrat zeigen. Dann wäre die Besinnung auf das Wesen der Technik nicht fruchtbar und könnte nicht zu einer Reflexion über die Kunst führen, was Heidegger für entscheidend hält. Dann nämlich wäre das Geschick als Schicksal zu verstehen, und dazu sagt Heidegger in „Die Frage nach der Technik“: „Das Wesen der modernen Technik beruht im Ge-stell. Dieses gehört in das Geschick der Entbergung. Die Sätze sagen anderes als die öfter verlautende Rede, die Technik sei das Schicksal unseres Zeitalter, wobei Schicksal meint: das Unausweichliche eines unabänderlichen Verlaufs.“214 Zugleich ist es auch wichtig zu bemerken, dass Heidegger mit seiner Analyse des Gemäldes von van Gogh verdeutlichen will, dass das Kunstwerk das Seiende erst zu dem macht, was es ist: durch die Kunst bekommt das Seiende, in diesem Fall die Schuhe, eine bestimmte Identität. Ausgehend von Heidegger kann man deswegen sagen, dass Schuhe nach van Goghs Werk – oder vielmehr nach Heideggers Werk 211 212 213

214

Holzw, S. 71 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 72. Deswegen gibt es auch die Möglichkeit, die Heidegger am Ende des Technikaufsatzes erwähnt: „Doch wir können erstaunen. Wovor? Vor der anderen Möglichkeit, daß überall das Rasende der Technik sich einrichtet, bis eines Tages durch alles Technische hindurch das Wesen der Technik west im Ereignis der Wahrheit.“ (VA, S. 39). VA, S. 29.

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über das Kunstwerk von van Gogh – nie wieder dasselbe Paar Schuhe sein werden. Die Schuhe werden mit Heidegger erst durch das Kunstwerk, was sie sind. Damit werde ein bestimmter Spielraum zum Verständnis von den Schuhen ‚festgestellt‘, der als ihr Geschick bezeichnet werden kann. Zum Beispiel wird der Träger dieser Schuhe durch Heideggers Interpretation als Bäuerin und nicht als Gärtnerin oder Wanderer ‚gestiftet’.215 Entscheidend für Heideggers zwei Schriften, „Die Frage nach der Technik“ und „Der Ursprung des Kunstwerkes“, sind der jeweils unterschiedliche Ansatz und das Verfahren. Gemäß den verschiedenen Anfängen, Blick- und Fragerichtungen der beiden Aufsätze kann das Kunstwerk vom Zeug beziehungsweise das Wesen des Kunstwerkes vom Wesen der modernen Technik anscheinend differenziert werden. So können wir vorläufig feststellen, dass die Kunst, einen folgenschweren Anfang zu setzen, eine äußerst wirkungsvolle Interpretationstechnik von Heidegger ist. Die bisherige Skepsis gegenüber Heideggers Einsichten soll uns helfen, sowohl in diesem Teil der Arbeit als auch in dem abschließenden Teil die wesentliche Zusammengehörigkeit der Gestelle von Kunst und Technik besser entfalten zu können. Dabei werden wir ihre Zusammengehörigkeit in unterschiedlichen Kontexten erörtern, um ihre Wesen und die damit verbundenen Implikationen besser zu verstehen. Zuerst möchten wir jedoch versuchen, Gemeinsamkeiten der durch die Technik und die Kunst hergestellten Artefakte einsichtig zu machen.

B Die Kunst im Werk der Technik Ausgehend von Heideggers Gedanken in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ soll in diesem Abschnitt in zwei Schritten nachgewiesen werden, dass die Beziehung zwischen Kunst und Technik doch nicht ganz so rätselhaft ist, wie Heidegger es behauptet. In einem ersten Schritt werden wir zeigen, dass es Heidegger nicht konsequent gelingt, das Kunstwerk vom Handwerk zu unterschieden. In einem zweiten Schritt soll aufgezeigt werden, dass auch die Erzeugnisse der modernen Technik als Kunstwerke verstanden werden können, und dass es sogar nur deswegen einen Umschlag von der ‚Gefahr‘ in das ‚Rettende‘ geben kann. Denken wir zunächst an eine Behauptung Heideggers im Kunstwerkaufsatz, derzufolge Kunstwerke, handwerkliche Erzeugnisse, und Fabrikwaren von einander zu trennen sind und dementsprechend auch Kunst, WHYFQK und moderne Technik differenziert werden müssen:

215

Vgl. Holzw, S. 19.

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„Das Handwerk, merkwürdiges Spiel der Sprache, schafft freilich keine Werke, auch dann nicht, wenn wir das handwerkliche Erzeugnis, wie es nötig ist, gegen die Fabrikware abheben. Wodurch unterscheidet sich aber das Hervorbringen als Schaffen vom Hervorbringen in der Weise der Anfertigung? So leicht wir dem Wortlaut nach das Schaffen von Werken und das Anfertigen von Zeug auseinanderhalten, so schwer ist es, beide Weisen des Hervorbringens je in ihren eigenen Wesenszügen zu verfolgen.“216

Die Unterscheidung zwischen ‚Hervorbringen als Schaffen und als Anfertigen‘ ist nicht nur schwer vorzunehmen, wie Heidegger zugibt, sondern sie erweist sich letztendlich auch, wie wir bereits im letzten Abschnitt vorläufig festgehalten haben, als prinzipiell unmöglich für Heidegger. Dies möchten wir veranschaulichen, indem wir die These verfolgen, dass kein wesentlicher Unterschied bestehe zwischen dem Hervorbringen eines Tempels, also eines Kunstwerkes, und dem Hervorbringen der silbernen Opferschale‚ des ‚Opfergeräts‘ wie Heidegger sie auch bezeichnet, also eines Zeugs.217 Und zwar in der doppelten Hinsicht, dass an diesem Beispiel weder das Schaffen an sich noch das Schaffen aus der Perspektive des ‚Zuschaffenden‘, einen Anhalt für die Differenzierung zwischen Kunst und Handwerk bietet. An dieser Stelle muss betont werden, dass Heideggers Unterscheidung nicht gültig ist, wenn sie auch nur an einem einzigen Beispiel von Hervorbringung von Kunst und Handwerk scheitert. Wenn es uns zudem gelingt, diese Unterscheidung anhand Heideggers eigener Beschreibung der Weise des Herstellens aufzuheben, wird deutlich, dass diese Differenzierung irreführend ist. Folgen wir Heideggers Interpretation, scheint es einleuchtend, dass das Bauwerk zur Kunst gehört, während das Opfergerät bloß ein Zeug ist. So „steht [der griechischer Tempel] einfach da“,218 während Heidegger die silberne Opferschale im Bezug auf den Silberschmied von Gesichtspunkt der Anfertigung aus entfaltet.219 Heidegger gibt jedoch selbst den Hinweis, den Unterschied seiner Herangehensweisen genauer zu bedenken. In einem Beispiel betrachtet Heidegger das Hervorgebrachte als vollendet und für sich stehend – im anderen mit Blick auf den Handwerker, den Schmied, im Prozess des Anfertigens. Losgelöst von der menschlichen Erzeugung wirkt das Hervorgebrachte nämlich anders und kann anders entfaltet werden: „Je einsamer das Werk, festgestellt in die Gestalt in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen.“220 Würde man also auch 216 217 218 219 220

Holzw, 46 (kursiviert S.R.). Vgl. VA, S. 13. Holzw, S. 27. VA., S. 13f. Holzw, S. 54 (kursiviert S.R.). Vgl. auch eine Betrachtung Nietzsches: „Das Vollkommne soll nicht geworden sein. – Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die

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auf die Überlegungen und das Verfahren der am Tempelbau beteiligten Handwerker eingehen, um den Tempel von hier aus zu verstehen, dann würde das Tempelwerk nicht so ‚ungeheuer‘ erscheinen, sondern menschlich, vielleicht allzu menschlich, um einen Bereich des Göttlichen zu erschließen.221 Vom Handwerker aus gesehen würde Heideggers Ausführung

221

Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es ist uns beinah noch so zumute (z u m B e i s p i e l i n e i n e m g r i e c h i s c h e n T e m p e l w i e d e r v o n P ä s t u m ), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. D e r Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entsteh u n g e r r e g t ; und so hilft er wohl diese Illusion nach und führt jene Elemente der begeisternden Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, daß sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.“ (Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches, in: Kritische Gesamtausgabe, 4. Abteilung, Band 2, hrsg. von Giogio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1967, S. 1-380, hier S. 143; gesperrt S.R.). In der ‚ersten Vortragsfassung‘ von „Der Ursprung des Kunstwerkes“ ist es auch genau dieser griechische Tempel von Pästum, den Heidegger mit seiner Tempelanalyse verbindet. (Vgl. Heidegger, Martin: „Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger 18891989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22, S. 7). Kennzeichnend für Heideggers Verständnis des Kunstwerks ist, dass es nicht aus der Perspektive des Künstlers, sondern der des Beobachters erklärt wird. Das, was Heidegger als Kunstwerk versteht, kann vom Künstler als eine ‚vorläufige Studie‘, als ein ‚Weg‘, verstanden werden und hat nicht den vollendeten Charakter, den Heidegger dem Werk zuspricht. In diesem Sinne können wir auch Pablo Picasso verstehen, wenn er sagt: „Und wenn das Werk endlich da ist, hat der Maler es schon hinter sich gelassen.“ (Picasso, Pablo: Über Kunst. Aus Gesprächen zwischen Picasso und seinen Freunden, Zürich 1988, S. 78). Komplementär zu diesem Gedanken Picassos möchten wir einen Gedanken von Yves Klein über eine seiner Ausstellungen der monochromen Malerei anführen, der die Vorläufigkeit der Kunstwerke von Seiten des Künstlers aus deutlich macht – oder vielmehr die Ironie der Vollendung des Kunstwerks. Klein sagt: „Die leidenschaftlichen Kontroversen, die diese Ausstellung bewirkt hat, haben mir die Bedeutung dieses Phänomens und die wirkliche tiefe Verwirrung jener arglosen Menschen gezeigt, die sich so wenig bewußt sind, daß sie sich passiv verhärteten, erlernten Vorstellungen und etablierten Gesetzten unterworfen haben. Ich bin glücklich, daß ich trotz meiner Fehler und meiner Naivität und trotz der Utopien in denen ich lebe, mit der Erforschung eines aktuellen Problems beschäftigt bin. Das Atomzeitalter, in dem alles Materielle plötzlich verschwinden und Platz für die abstraktesten Dinge schaffen wird, die man sich vorstellen kann, legt es nahe, die fol-

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nicht unmittelbar einleuchten: „Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und lässt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel west der Gott im Tempel an.“222 Der Tempel würde vom Gesichtspunkt des Handwerkes wie anderes Zeug auch erklärt werden können und die „drei Weisen des Verschuldens“223, die Heidegger in „Die Frage nach der Technik hervorhebt, nämlich die des Stoffs, des Aussehens und der Gestalt, würden sich auch den Überlegungen des Handwerkers ‚verdanken‘.224 Dabei würde das Tempelwerk so wie die Opferschale auch im Bereich der Kausalität entfaltet werden können.225 Aber darin wird weder die Erfahrung des fertigen Tempels noch der vollendeten Opferschale erschöpft. Mit Rücksicht auf das schrittweise Herstellen des Tempelwerks wird der entscheidende Anstoß des dastehenden Tempels überdeckt. Diese Einsicht können wir noch folgendermaßen verdeutlichen: Das Zeug kann wie das Kunstwerk losgelöst von der Intention des Herstellers betrachtet werden, und wenn dies geschiet, ist es gewissenmaßen freigestellt und kann auch als Kunstwerk betrachtet und gedacht werden. Umgekehrt wäre

222 223 224

225

gende Geschichte aus dem alten Persien zu erzählen. Ein Flötenspieler begann eines Tages, nur einen einzigen, langanhaltenden Ton zu spielen. Als er dies nun an die 20 Jahre getan hatte, gab ihm seine Frau zu bedenken, daß alle anderen Flötenspieler mehrere, harmonische Töne und Melodien spielten und daß dies doch vielleicht interessanter und abwechslungsreicher sei. Darauf entgegnete der ‚monotone‘ Flötenspieler, es sei nicht sein Fehler, daß er den Ton bereits gefunden habe, den alle anderen noch immer ‚suchten‘.“ (Stich, Sidra: Yves Klein, Stuttgart 1994, S. 81). Holzw, S. 27. VA, S. 13. Vgl: VA, S. 13. So hat Heidegger auch in seinem Kunstwerkaufsatz gezeigt, dass das Stoff-Form-Begriffsschema vom Herstellungsprozess aus zu verstehen sei, wenn etwas um etwas besonderen willen hergestellt wird: „Die Form bestimmt umgekehrt die Anordnung des Stoffes. Nicht nur dies, sie zeichnet sogar die jeweilige Artung und Auswahl des Stoffes vor: Undurchlässig für den Krug, hinreichend Hartes für die Axt, Festes und zugleich Biegsames für die Schuhe. Die hier waltende Verflechtung von Form und Stoff ist überdies im voraus von dem her geregelt, wozu Krug, Axt, Schuhe dienen.“ (Holzw, S. 13; kursiviert S.R.). Das heißt aber nicht, dass das fertige Zeug sich im Stoff-Form-Begriffsschema erschöpft, bzw. dass der fertige Krug nicht anders als eine Kombination von Stoff und Form erfahren werden kann; es heißt auch nicht, dass der Künstler nicht analog zum Prozess des Herstellens denkt, so z.B. wenn ein Bildhauer das ‚Material‘ für einen Skulptur aussucht. Ganz im Gegenteil sagt das Stoff-Form-Begriffsschema nichts darüber aus, wie das Erzeugnis des Herstellens erfahren werden muss. Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass Heidegger in einem anderen Aufsatz, einen fertigen Krug mit Begriffen interpretiert, die, wie wir später sehen werden, nicht dem Stoff-Form-Begriffsschema entstammen, sondern Ähnlichkeiten mit seiner Interpretation des Kunstwerkes aufweisen (Vgl. VA, 157ff). Dazu kommt, dass der Architekt, wenn er nicht selbst den Tempel baut, die Handwerker instrumentalisiert, und dass diese deswegen nicht notwendig wissentlich die drei Weisen des ‚Verschuldens‘ in sich vereinen.

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es ein naiver Positivismus zu denken, dass das Zeug nur als Zeug verstanden werden kann und die Absicht des Herstellers eindeutig einverleibt.226 Dies gilt umso mehr, wenn wir berücksichtigen, was Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ selbst betont, nämlich dass Technik nicht primär als ein Ding zu verstehen ist, sondern als eine Art Wissen.227 So gesehen wird es noch problematischer, von einem Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk schlechthin zu sprechen. Gemäß jener Unterscheidung können wir nämlich nicht von den Ergebnissen her, den Gegenständen, unterscheiden, ob sie zur Technik oder Kunst gehören, sondern diese Unterscheidung betrifft das Herstellungswissen. Über die hergestellten Gegenstände können wir also nicht von vornherein eindeutig sagen, dass sie Kunst oder Zeug sind. Versuchen wir aber nun die Interpretation des Tempelwerks als Handwerk noch weiter zu denken. Es ist maßgeblich für Heideggers Verständnis des Tempels, dass der Tempel nicht die Gottheit selber ist, sondern vielmehr „[west] durch den Tempel der Gott im Tempel an.“228 Der Tempel kann wie der Opferschale, als eine Art Gerät, womit der Gott zur Anwesung kommt, beschrieben werden: als ein Zeug Gottes. Die Felsen des Tempels sind dementsprechend um Gottes willen instrumentalisiert worden. Der Tempel kann andererseits jedoch auch vom Grundzug der Dienlichkeit bestimmt werden.229 Ist es also die verborgene Annahme in Heideggers Verständnis des Kunstwerkes, dass das Kunstwerk nicht dienlich sein kann, dass es nicht für etwas gebraucht werden darf? Oder dass es, wenn man es dementsprechend verwendet, plötzlich aufhört, Kunstwerk zu sein? Aber dann hat der Unterschied zwischen Werk und Zeug auch nicht mit dem Werk und Zeug selbst zu tun, sondern bloß mit unseren Umgang damit – und die Grenze zwischen den beiden kann immer verschoben und umgedreht werden. Betrachten wir also das Tempelwerk als ein Gerät, womit Gottes Anwesung organisierte und institutionalisiert wird, dann können wir sagen, dass nicht primär der Tempel eine ‚Welt‘ hervorbringt, in der „Geburt und Tod, Un226

227 228 229

Vgl. auch, wie Heidegger die Intention des Herstellers von dem Sinn des Hergestellten mit Bezug auf Hölderlins Dichtung unterscheidet, GA 52, S. 6f. Vgl.: VA, S. 16f. Holzw, S. 27 (kursiviert S.R.). Vgl. auch: „Wenn über ein Bauwerk wie über den Dom der Hagia Sophia gesprochen wird, möchte man Feierliches erfahren. Doch kann es nicht angehen, das schrecklich Ineinander der Hippodromos-Tage und des Kirchen-Baus einfach so wegzuschieben, wie es in allen Beschreibungen und Untersuchungen, die ich kenne, der Fall ist. Großmord und Bau der Hagia Sophia, das ist leider untrennbar.” (Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1976, S. 43f). „Denn daß der Wille, der so ein Bauwerk erzeugt hat, bloß ein Kunst-Wille gewesen sei, das ist eine sehr neuzeitliche Vorstellung.“ (Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1976, S. 331; kursiviert S.R.).

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heil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen“230, sondern der Gott.231 Dass es sich so verhalten muss, ist auch darin zu erkennen, dass ein Tempel der Heiden, so wie die antiken Griechen aus der Perspektive eines Christen bezeichnet werden müssen, für einen Christen keine Götter zur Anwesung bringt und für ihn auch nicht das Heilige stiftet. Für den Christen wesen also keine Götter im Parthenon-Tempel von Athen an – dies zu behaupten wäre sogar blasphemisch. Der Tempel stiftet nicht das Heilige, sondern er hilft nur, es nachträglich zu instrumentalisieren und zu organisieren. Der Tempel kann genau wie die Opferschale als ein Gerät beschreiben werden, und das Hervorbringen der beiden unterscheidet sich wie wir gesehen haben nicht prinzipiell.232 Umgekehrt lässt sich aber auch eine silberne Opferschale in Analogie mit Heideggers Tempelwerk wie ein Kunstwerk auslegen. Die silberne Opferschale, die im Trankopfer das Heilige ins Werk setzt, bringt auch eine Welt hervor. Die Opferschale kann dem Gläubigen einen ungeheuren, weil göttlichen Anstoß versetzen, der laut Heidegger zum Wesen des Kunstwerks gehört. Das Opfer soll die Beziehung zum Gott stiften, deswegen wird der Altar auch oft als Mittelpunkt eines Tempels eingerichtet. Ohne Opfer könnte es keine Anwesung Gottes geben und der Tempel wäre nicht Bezirk oder ‚Wohnzeug Gottes‘. In dem Sinne, dass die Opferschale über Ab- und Anwesung Gottes entscheidet, setzt sie die Wahrheit als DMOKYTHLD ins Werk. So gesehen kann die Opferschale als das höchste Kunstwerk beschrieben werden, deren Kraft die Gemeinde der Gläubigen bildet und wodurch ‚Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall‘ ihren Sinn erhalten. Die Opferschale kann den Gott in seiner Wirklichkeit hervorbringen, und dies ist ihre Wahrheit. Der Tempel lässt sich im Vergleich sogar als steinerner Rahmen des ‚Opfergeschehens im Opferwerk‘ abwerten, der zwar von der Gemeinde benutzt wird, selbst aber weder das Heilige stiftet noch notwendig dazu gehört. Die Opferschale im Sinne des heiligen Grals wäre zum Beispiel im Sinne Heideggers ein Kunstwerk par excellence.233  230 231

232

233

Holzw, S. 28. In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung angebracht, dass Kunst auch ein politisches Instrument sein kann und damit zur Verwirklichung politischer Ideen eingesetzt wird – wie zum Beispiel im Falle der Kunst von Albert Speer und Leni Riefenstahl. (Vgl. Schönberger, Angela: Die neue Reichskanzlei von Albert Speer: zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur, Berlin 1981. Ebenso: Hoffmann, Hilmar: Mythos Olympia. Autonomie und Unterwerfung von Sport und Kultur, Berlin 1993). Es empfiehlt sich für eine spätere Untersuchung der Vergleich dessen, was Heidegger unter ‚Bewahren‘ und der christlichen Praxis der Einweihung versteht. Vgl. Peter-Paul Verbeek, der eine ähnliche Kritik an Heidegger übt: „Yet a more fundamental critique can be lodged against Heidegger’s nostalgia. For Heidegger

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Die Opferschale scheint sogar nicht nur die Wahrheit in der Weise des Kunstwerks zum Vorschein zu bringen, sondern auch auf zwei anderen Weisen, die Heidegger erwähnt. „Eine wesentliche Weise, wie die Wahrheit sich in dem durch sie eröffneten Seienden einrichtet, ist das Sich-ins-WerkSetzen der Wahrheit. Eine andere Weise, wie die Wahrheit west, ist die staatgründende Tat. Wieder eine andere Weise, wie die Wahrheit zum Leuchten kommt, ist die Nähe dessen, was schlechthin nicht eine Seiendes ist, sondern das Seiendste des Seienden.“234 Interpretiert man hier „die staatgründende Tat“ als die Stiftung einer Gemeinde, die letztendlich auf das Reich Gottes auf Erden zusteuert, dann gehört die Opferschale auch zur staatsgründenden Tat und zur damit verbundenen Weise des Geschehnisses der Wahrheit. Genauso kann die Opferschale eine besondere Beziehung stiften, wodurch ‚die Nähe des schlechthin Anderen‘, das kein Seiendes ist, wahrgenommen wird, wenn ‚die Gottheit‘ eben seiend ist, aber nicht als ein Seiendes verstanden wird. Die ‚Nähe‘ des Seiendsten des Seienden, das kein Seiendes ist, können wir als Ausdruck der religiösen Grunderfahrung auslegen und damit zugleich verstehen, wieso die Wahrheit im Sinne Heideggers auch im ‚Trankopfer‘ zum Vorschein kommt. Demgegenüber kann eingewendet werden, dass die Opferschale nur eine ‚Schale‘ oder eine Umhüllung des Heiligen sei. Aber so gesehen verliert auch der Tempel seinen heiligen Schein und wird bloß zum irdischen Felsen. Die hier vertretene These besteht jedoch gerade darin, dass sich die Opferschale in Analogie zum Tempel als Kunstwerk verstehen lässt. Fassen wir also unseren Gedankengang zusammen und folgen Heideggers Erklärung des Tempels als ein Kunstwerk, dann kann auch die silberne Opferschale als Kunstwerk gelten. Der Unterschied zwischen dem Tempel und der Opferschale hinsichtlich der Kunst scheint also nicht im jeweiligen Werk zu liegen, sondern in Heideggers Erklärung der beiden. Selbst wenn es für unser Vorhaben zureichend ist, ein Beispiel anzuführen, anhand dessen der Unterschied zwischen Kunst und Zeug sich nicht aufrecht erhalten lässt, möchten wir in diesem Zusammenhang auch noch ein-

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supports his nostalgic preference for traditional technologies not only through selective descriptions but also through selectively employing two different approches in his analyses. When analyzing traditional artefacts he uses an ahistorical perspective, while he approaches modern technologies using a historical perspective […] One the one hand […] Heidegger conceives the revealing connected with technology as a contingent stage in the history of being: the hydroelectric plant reveals reality as standing-reserve because the ruling way of unconcealedness is that of the Gestell. On the other hand, he conceives the revealing connected with technology as an intrinsic characteristic of objects: as a thing, the bridge reveals the world in terms of fourfold, and it does so in every epoch, however much this may be ‘obstructed or even pushed wholly aside’.“ Verbeek, Peter-Paul: What Things Do, Pennsylvania 2005, S. 72. Holzw, S. 49 (gesperrt S.R.).

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mal Heideggers Studie des van-Gogh-Gemäldes betrachten, damit Heideggers Differenzierung noch fragwürdiger wird. An diesem Gemälde können wir auf andere Weise, aber ebenso klar, den Unterschied zwischen Kunst und Zeug problematisieren. Dieses Beispiel Heideggers ist besonders suggestiv, weil das Gemälde ein Schuhzeug zum Vorschein bringt. Dabei scheint es zunächst klar, dass es einen Unterschied zwischen Kunstwerk und Zeug gibt – denn hier leuchtet es unmittelbar ein, dass das Kunstwerk eines Zeugs nicht dasselbe wie das Zeug ist.235 Wir fragen aber zunächst umgekehrt: Was hat van Gogh an dem Schuhzeug selbst fasziniert? Und wie kommt das Gemälde in Heideggers Text eigentlich zum Vorschein? Unsere These ist, dass van Gogh im wirklichen dastehenden Zeug bereits ein Kunstwerk gesehen hat. Er sah das Zeug als ein Werk, dass ihm eine Welt zum Vorschein brachte und war deswegen so sehr davon eingenommen.236 Oder anders gesagt: Ist man fähig, ein tatsächliches Schuhzeug so wie van Gogh zu sehen, dann gehört Kunst auch in die Wahrnehmung der Welt und dann gibt es keinen absoluten Unterschied zwischen Kunstwerk, Zeug und Seiendem im Allgemeinen. Man könnte nun einwenden, dass wir jedoch nicht wissen, was van Gogh gedacht und gesehen hat, und so würde unseren Gedankengang sich als leere Spekulation erweisen. Doch selbst wenn van Gogh das Schuhzeug ganz anders gesehen hat, wissen wir zumindest, wie Heidegger sie gesehen hat, und daran erkennen wir auch, dass die Wahrnehmung selbst dichterisch sein kann. „In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet."237

Wir möchten nämlich gegen den oben formulierten Einwand folgendes anführen: Wo im Gemälde sieht Heidegger ‚das stille Verschenken des reifenden Korns durch die Erde‘ – und wie kommt ‚das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes‘ und ‚die Wortlose Freude‘ im Werk zum Vorschein? 235

236 237

Hierbei ist wichtig, dass weder van Gogh noch Heidegger das Schuhzeug ‚im Gebrauch‘, das heißt: als Zeug, betrachten. Sie studieren ein Paar vorhandene Schuhe, und die damit verbundene Distanz zu anderem Schuhzeug erlaubt ihnen einen anderen Umgang mit gerade diesem Zeug. Würde ein Gemälde vom ‚Schuhzeug im Dienst‘ besser als der faktische Gebrauch des Schuhzeugs sein Wesen zum Vorschein bringen? Kann van Goghs Gemälde nur deswegen Heidegger das Wesen des Schuhzeugs zeigen, weil das Schuhzeug in seinem Gemälde außerhalb seines normalen Gebrauchszusammenhangs zum Vorschein kommt? Holzw, S. 18ff. Holzw, S. 19.

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Was derlei durch das Schuhzeug im van Goghs Gemälde ‚schwingt‘ und ‚zieht‘, zeigt sich nirgendwo im Gemälde. Heideggers denkerische Betrachtung des Gemäldes ist also keine bloße Beschreibung des Werkes, es ist selbst ein Sprachwerk, und dieses Sprachwerk ist durch Heideggers eigenen extensive Erfahrungen des Bauernlebens und seine Philosophie ermöglicht worden.238 Wenn man dieser Interpretation zustimmt, könnte man zwar immer noch einwenden, dass es einen Unterschied zwischen Zeug und Werk gibt, der darin besteht, dass wir den Unterschied zwischen Gemälde und Zeug nur in einen Unterschied zwischen Sprachwerk und Zeug verwandelt haben, wodurch die Differenz zwischen Kunstwerk und Zeug nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt worden ist. Das Entscheidende und Interessante für uns ist jedoch, dass wir gar nicht wissen, ob Heidegger tatsächlich das Gemälde von van Gogh oder ein paar Schuhe bei ihm zu Hause beschreibt, und dass dieses Wissen am Ende auch nicht entscheidend ist. Alles, was wir in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ vor uns haben, ist Heideggers Interpretation eines Schuhzeugs. Wir möchten daher fragen: Wenn das, was Heidegger denkt, tatsächlich nicht im Gemälde ist; wenn wir verstehen können, was Heidegger meint, ohne das Gemälde zu sehen, ist es dann nicht prinzipiell möglich, dass an einem Paar dastehenden Bauernschuhen dasselbe zum Vorschein kommt wie an den Schuhen im Gemälde? Ist es unmöglich, auf diese Weise – ‚denkend wahrnehmend‘ – ein Paar Schuhe zu sehen, so dass in ihnen die ‚Welt‘ des bäuerlichen Lebens zum Vorschein kommt? Die letzte Frage muss negativ beantwortet werden, denn der Mensch ist dazu fähig, das ‚bloße Zeug‘ so wie Heidegger sehend zu interpretieren. Den Menschen können wir gerade dadurch kennzeichnen, dass er die Dinge nicht in Isolation, sondern sie im Zusammenhang einer Welt versteht, in der sie ihrer Bedeutung haben. Besinnt man sich auf das jeweilige Seiende, dann 238

Bemerkenswert ist auch, dass das Gemälde von van Gogh, das Heidegger vor Augen hat „Ein Paar Schuhe“ und nicht ‚Ein Paar Bauerschuhe‘ heißt (Vgl. Biemel, Walter und v. Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg): Kunst und Technik, Frankfurt am Main 1989, S. 459 Ebenso Schapiro, Meyer: „The Still Life as a Personal Object: A Note on Heidegger and van Gogh”, in: The reach of Mind: Essays in Memory of Kurt Goldstein, hrsg. von Marianne L. Simmel, New York 1968, S. 203-209). Heidegger sagt zwar: „Es wäre die schlimmste Selbsttäuschung, wollten wir meinen, unser Beschreiben habe als ein subjektives Tun alles so ausgemalt und dann hineingelegt.“ (Holzw, S. 21). Doch wir möchten hier darüber nicht urteilen, und für unser Vorhaben ist es nicht wichtig, ob es als ein ‚subjektives Tun‘ beschrieben werden kann oder ob es sich um einen zwei-stufigen Prozess handelt, wonach etwas erst ‚ausgemalt‘ wird, und dann ‚hineingelegt‘. Für uns ist vielmehr nur wichtig, dass Heideggers Auslegung des Gemäldes beispielsweise ‚wortlose Freude‘ zum Vorschein bringt, die im Gemälde nicht evident ist. Ob Heidegger dies als ‚Bewahrung‘ des Kunstwerks erklären würde, ist jedoch nicht klar. Wenn er es so sähe, dann wäre die ‚Bewahrung‘ in der Tat nicht vom ‚Schaffen‘ zu unterscheiden.

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ist es möglich, die ‚Welt‘, die es ‚durchzieht‘ und also in dem jeweiligen Seienden ‚schwingt‘, zu sehen. In dem Sinne können die menschlichen Sinne bereits ‚dichterisch‘ sein. Und sind die Sinne erst ‚dichterisch‘, dann gibt es keinen absoluten Unterschied mehr zwischen dem Zeug und dem Kunstwerk, den Heidegger stark zu machen versucht.239 Halten wir an dieser Stelle inne, dann können wir den Zirkel des Verstehens von Kunst, Kunstwerk und Künstler besonders deutlich, aber anders als Heidegger aufzeigen. Heidegger erklärt, dass wir das Gemälde nicht „rein aus diesem selbst“240 bestimmen können. Deswegen müssen wir es ihm zufolge als ein Gewirktes betrachten, und es vom Herstellen des Werkes aus angehen.241 Im Herstellen des Werkes ist aber unmittelbar kein Unterschied zum Herstellen von Zeug zu erkennen. Daraus schlussfolgert Heidegger, dass das Schaffen vom ‚Zuschaffenden‘ aus verstanden werden muss – also vom Kunstwerk bzw. vom Zeug.242 Der Zirkel des Verstehens von Kunst bei Heidegger ist also letzten Endes darin zu sehen, dass das, was als Kunstwerk gilt, von vornherein feststehen muss. Wenn Heidegger nämlich die Differenz zwischen Kunstwerk und Zeug von ihrer Herstellung aus begreift und diese Herstellung wiederum von einer bereits entschiedenen Bestimmung des Kunstwerks verstanden wird, dann ist der Zirkel des Verstehens von Kunstwerken in dem Sinne nichtssagend, dass mit ihm keine systematische Grenze zwischen Kunstwerk und Zeug gezogen werden kann. Das ganze 239

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Unsere These wird desweiteren dadurch unterstützt, dass Heidegger den Tempel zugleich als ein Kunstwerk versteht, weil der Tempel einen Bereich Gottes öffnet, und dennoch verbindet er nicht den Tempel mit dem Schöpfungsgedanken und dem Stoff-Form-Begriffsschema. Heidegger schreibt: „Die Neigung, das Stoff-Form-Gefüge für die Verfassung eines jeden Seienden zu halten, empfängt jedoch dadurch noch einen besonderen Antrieb, daß im voraus auf Grund eines Glaubens, nämlich des biblischen, das Ganze des Seienden als Geschaffenes, und d.h. hier Angefertigtes, vorgestellt wird. […] Der im Glauben gegründete Schöpfungsgedanke kann nun zwar seine leitende Kraft für das Wissen vom Seienden im Ganzen verlieren. Allein, die einmal angesetzte, einer fremdartigen Philosophie entlehnte theologische Auslegung alles Seienden, die Anschauung der Welt nach Stoff und Form kann gleichwohl bleiben.“ (Holzw, S. 14f). Aber damit sagt Heidegger auch, dass der Gläubige das Seiende als geschaffen versteht und sieht. Gott kann in den Augen der Gläubigen als der größte Künstler verstanden werden. Sein Werk, also das Seiende, ist damit als das höchste Kunstwerk zu verstehen, das selbst das Göttliche zum Vorschein bringt. Bereits in der Wahrnehmung des gläubigen Menschen kann es also Kunst geben. Deswegen waren auch die romantischen Künstler so fasziniert von der Natur und mit ihr beschäftigt, denn für sie war sie Ausdruck der göttlichen Kunst. Uns erscheint es auch unsinnig, dass Heidegger gedacht haben sollte, dass Hölderlin das Wesen des Rheins erst in seiner eigenen Dichtung entborgen sah, und nicht bereits davor. Holzw, S. 45. Vgl. Holzw, S. 45. Vgl. Holzw, S. 47.

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Verständnis des Kunstwerkes hängt daran, was von Anfang an definitorisch als Kunstwerk gestiftet wird: in diesem Falle das Tempelwerk und das Gemälde von van Gogh. Würde man gegen Heidegger einwenden, dass ein bestimmtes Zeug, wie die Opferschale, auch eine Welt aufschließt, dann könnte Heidegger dem nichts entgegensetzen.243 Der Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk in Heideggers Verständnis ist kontingent und kann immer verschoben werden. Bevor wir uns der modernen Technik zuwenden und untersuchen, wie es um die Differenz zwischen ihr und dem Kunstwerk bestellt ist, soll noch einmal Heideggers Verwendung des Begriffs des Werkes von unseren bis hierhin gewonnenen Ergebnissen näher erläutert werden. Dadurch werden wir noch einmal von einer anderen Perspektive Einblick in Heideggers Interpretationstechnik bekommen und auch sehen, wie Heideggers Gedanken sich in Kreisen drehen und tautologisch werden. Wie wir schon bemerkt haben, behauptet Heidegger, dass aus dem Handwerk keine Werke entstehen, und er bezeichnet aus dem Grund den Begriff des Handwerks als ein „merkwürdiges Spiel der Sprache.“244 Der Werkbegriff ist ganz entscheidend für Heideggers Interpretation der Kunst und er bildet den Mittelpunkt seiner formelhaften Interpretation, wonach das Kunstwerk als das Sich-InsWerk-Setzen der Wahrheit ausgelegt wird.245 In Heideggers Interpretation der Kunst hat der Begriff des Werkes eine Doppelfunktion, die den Gang und das Ergebnis seiner Untersuchung im Voraus anordnet. Einerseits nimmt Heidegger den Begriff des Werkes im Sinne eines hergestellten Seienden überhaupt; andererseits versteht er den Begriff des Werkes prozessual im Sinne von ‚werken‘. Jene Bedeutung grenzt das hergestellte Seiende von den Dingen im Allgemeinen ab, während diese Bedeutung ihm erlaubt zu fragen: „Was ist im Werk am Werk?“246. Dadurch

243

244 245 246

Heidegger macht auch keinen schlüssigen Gedankensprung, wenn er behauptet, dass die Wirklichkeit der Wahrheit des Kunstwerkes nicht am Werk, sondern im Werk sei, und dass wir aus dem Grund das Kunstwerk als ein ‚Gewirktes‘ verstehen müssten: „Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen.“ (Holzw S. 25). Die Wirklichkeit eines Seienden zu verstehen, besteht aber gerade nicht notwendig darin, es als ‚Gewirktes‘ zu betrachten. Dies würde vielmehr dazu führen, dass die Wirklichkeit des Seienden mit dem religiösen Schöpfungsgedanken verbunden würde, wovon Heidegger ausdrücklich Abstand nimmt. (Vgl. Holzw, S. 14). Wir sehen auch, wie Heidegger die ‚Wirklichkeit‘ des Werkes später anders interpretiert, und genau auf den Begriff der ‚Bewahrung‘ bezieht. (Vgl. Holw, S. 54ff). Holzw, S. 46. Holzw, S. 44. Holzw, S. 21 (kursiviert S.R.).

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unterscheidet er das Kunstwerk vom Zeug.247 Im Spielraum dieser zwei Bedeutungen kann Heidegger den Zusammenhang zwischen dem Wesen der Kunst und dem Phänomen des ‚Sich-Ins-Werk-Setzens‘ einleuchtend machen. Sobald man zugibt, dass im Werk etwas am Werk ist, dann kann das Kunstwerk als ‚Streit‘, als ‚Geschehnis‘, als ‚Wahrheitsgeschehen‘ verständlich gemacht werden. Gerade dann jedoch fällt der Unterschied zwischen dem ‚Wesen‘ und dem dastehenden Kunstwerk in sich zusammen. In diesem Sinne zeigt sich Heideggers Interpretation des Kunstwerkes als parasitär an den doppeldeutigen Begriff des Werkes. Heidegger erklärt aber im Kunstwekaufsatz nicht, warum im Handwerk, das heißt hier im Zeug, nichts am Werk sei. „Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk? Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus. Die Unverborgenheit nannten die Griechen DMOKYTHLD. Wir sagen Wahrheit und denken wenig genug bei diesem Wort. Im Werk ist, wenn hier eine Eröffnung des Seienden geschieht in das, was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk […]. So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.“248

Mit dieser Formel vom Wesen der Kunst entsteht nun noch eine weitere Schwierigkeit. Das ‚Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden‘ kann, wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, auch eine Bestimmung der IXYVL ausgelegt werden – und zwar insbesondere dann, wenn Heidegger das reflexive Moment formelhaft betont. Auch die IXYVL ist eine Selbstentfaltung, wodurch etwas zum Vorschein kommt. In diesem Sinne kann die IXYVL auch als ein Wahrheitsgeschehen verstanden werden. Aber wegen des Doppelsinns des Begriffs des Werkes meint Heidegger eigentlich mit seiner Formel das ‚Sich-ins-Kunstwerk-Setzen der Wahrheit des Seienden‘. Dadurch wird das Wesen der Kunst implizit durch das Kunstwerk erklärt, das heißt die Kunst wird durch die Kunst ausgelegt. Denn das Werk, worum es in der Formel ‚Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit‘ geht, liegt für Heidegger weder in einem Handwerk, das heißt einem Zeug, noch in einem Werk der Natur. Das Kunstwerkverständnis ist schon im voraus von Heidegger als solches festgelegt worden. Das Kunstwerk wird also wieder vom spezifischen Kunstwerk her verstanden, und das Wesen der Kunst kehrt damit in einen rätselhaften Kreis zurück. Dies entspricht aber auch Heideggers explizitem Vorhaben, das er im Nachwort von „Der Ursprung des Kunstwerkes“ veröffentlicht hat. Darin sagt er: „Die vorstehenden Überlegungen gehen das Rätsel der Kunst an, das Rätsel, das die Kunst selbst ist. Der Anspruch liegt

247 248

Vgl. Holzw, S. 47. Holzw, S. 21.

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fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.“249 Ihm ist dieses Vorhaben zum Teil gelungen; den Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk hat er nicht aufgehellt, sondern verdunkelt, weil das ‚Rätsel‘ der Kunst keine genaue Abgrenzung vom Zeug zulässt. Aus der Perspektive der Technik rückt nun auch noch ein anderes scheinbares Rätsel von Heideggers Kunstwerkinterpretation in den Blick, das bereits im letzten Abschnitt ein Stück weit erörtert wurde: Inwiefern die moderne Technik auch als Kunstwerk betrachtet werden kann, denn auch in der modernen Technik west die Wahrheit.250 Wie schon ausgeführt, bemerkt Heidegger zu Beginn des Technikaufsatzes, dass weder die Technik noch der Baum mit ihrem jeweiligen Wesen zu verwechseln seien: „Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, dass jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen lässt. So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches.“251 Mit dieser Feststellung Heideggers müssten wir also auch festhalten können, dass das Wesen der Kunst ganz und gar nichts Künstlerisches ist. Erneut zeigt sich hier, dass das Wesen der Kunst von den Kunstwerken ganz und gar zu unterscheiden ist. Aber bei dem Wesen der Kunst bringt Heidegger den Wesensbereich so in Einklang mit dem Seienden, dass das Wesen der Kunst sich im jeweiligen Kunstwerk offenbart.252 Es ist das Kunstwerk selbst, das die Wahrheit zum Vorschein bringt – es ist das jeweilige Kunstwerk das das ‚Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden‘ ausmacht: Das Kunstwerk ist also dasselbe wie das Wesen der Kunst. Ganz anders verhält es sich wie bereits hervorgehoben mit dem Wesen der Technik. Heidegger verdeutlicht: „Ist nun das Wesen der Technik, das Ge-stell, die gemeinsame Gattung für alles Technische? Träfe dies zu, dann wäre z.B. die Dampfturbine, wäre der Rundfunksender, wäre das Zyklotron ein Ge-stell. Aber das Wort ‚Gestell‘ meint jetzt kein Gerät oder irgendeine Art von Apparaturen. Es meint noch weniger den allgemeinen Begriff solcher Bestände. Die Maschine und die 249 250 251 252

Holzw, S. 67. Vgl.: VA, S. 16f. VA, S. 9. Dabei ist auch die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem in Frage gestellt, denn aus dem Möglichkeitsraum des Seins verwirklicht sich im Wahrheitsgeschehen das Seiende. Aber ist das Wahrheitsgeschehen nicht nur am Werk, sondern im Werk, dann verschmelzen Sein und Seiends im Kunstwerk. Ziehen wir dazu auch Heideggers entscheidende Bemerkung im „Zusatz“ zum Kunstwerkaufsatz hinzu: „Bedenken wir, inwiefern Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden nichts anderes besagt als Anwesen des Seienden als solchen, d.h. Sein, dann rührt die Rede vom Sicheinrichten der Wahrheit, d.h. des Seins, im Seienden an das Fragwürdige der ontologischen Differenz.“ (Vgl. Holzw, S. 73).

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Apparate sind ebenso wenig Fälle und Arten des Ge-stells wie der Mann an der Schalttafel und der Ingenieur im Konstruktionsbureau.“253

Wenn die Kunstwerke analog zu dieser Ausführung nicht ‚Fälle‘ des ‚Sichins-Werk-Setzens der Wahrheit des Seienden‘ wären, dann scheitert Heideggers ganze Interpretation des Kunstwerks. Die Grundeinsicht, an der Heidegger hier unbedingt festhält, wodurch Wesen und Werk zusammengehören, verwirft er dem ersten Anschein nach in seinen Gedanken über die Technik und das Gestell. Durch die unterschiedlichen Titel der zwei Aufsätze, „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und „Die Frage nach der Technik“, in denen der Begriff des Wesens nicht vorkommt, wird der Leser nicht unmittelbar darauf aufmerksam gemacht, dass es in beiden Texten um dasselbe geht, nämlich um eine Wesensbestimmung. Aus diesem Grund wurde bislang versäumt, die zwei Verfahrensweisen zu vergleichen. Der so unterschiedliche Umgang mit dem Begriff des ‚Wesens‘ in den beiden Texten gibt uns aber Anlass, Heideggers Verständnis der Differenzierung zwischen Kunst und Technik erneut in Frage zu stellen: Wenn der Begriff des Wesens im Hinblick auf die moderne Technik und das Kunstwerk gleich verstanden wird, wie würde es dann um ihren Unterschied stehen? Lässt sich zum Beispiel auch das moderne Wasserkraftwerk mit Heideggers Interpretationsmodell im Kunstwerkaufsatz als ein Kunstwerk betrachten? Was für eine Wahrheit, könnte im Wasserkraftwerk ins Werk gesetzt sein? Warum meint Heidegger, dass „je fragender wir jedoch das Wesen der Technik bedenken, um so geheimnisvoller wird der Kunst.“?254 Achten wir wieder auf

253 254

VA, S. 33. VA, S. 40. In „Die Frage nach der Technik“ versteht Heidegger ‚Technik‘ sowohl im Sinne von Zeug als auch als eine Art von Wissen. ‚Kunst‘ wird jedoch weder hier noch im Kunstwerkaufsatz als eine Art Wissen erfasst. Ebensowenig gelingt es Heidegger, ‚Kunst‘ als eine besondere Art der Herstellung zu entfalten. Je mehr wir nach dem Wesen der Technik fragen, umso ‚geheimnisvoller‘ wird laut Heidegger die Kunst. Nicht zuletzt deswegen, weil die zwei Bedeutungen von Technik in „Die Frage nach der Technik“ nicht systematisch voneinander getrennt werden. Denn bezieht man die Technik als ein Herstellungswissen, was Heidegger besonders hervorhebt, auf die Kunst im Sinne der Wahrheit von Werken, dann bewegt man sich auf zwei verschiedenen Ebenen. Das, was uns interessiert, ist vielmehr, ob es Heidegger gelingt, Zeug von Kunstwerken zu unterscheiden beziehungsweise die Herstellungsweisen der beiden zu unterscheiden. Unseres Erachtens gelingt es Heidegger nicht. Legt man die Technik als reines Verfahrenswissen fest und klammert die Herstellung der Kunstwerke aus der Kunst aus, dann kann man Technik sehr einfach von Kunst trennen, denn dann ist der Unterschied definitorisch. Aber in dem Sinne war Technik und Kunst nie einerlei – auch nicht in der Antike, wie Heidegger meint. (Vgl. VA S. 38). Vergleicht man was im Kunstwerk am Werk sich mit der kontrollierten Herstellung davon verselbständigt hat, dann kann sich jenes als ein Ursprüngsgeschehen und dieses als eine herausforderndes Verfahren verstanden werden.

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Heideggers Beschreibung des Wasserkraftwerks und klammern ungerechtfertigte Vorentscheidungen aus: „Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen daraufhin stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschine umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt, für den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung bestellt sind. Im Bereich dieser ineinandergreifenden Folgen der Bestellung elektrischer Energie erscheint auch der Rheinstrom als etwas bestelltes […] Er ist, was es jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks. Achten wir doch, um das Ung e heu re , das h i e r w al t e t , auch nur entfernt zu ermessen, für einen Augenblick auf den Gegensatz, der sich in den beiden Titeln ausspricht; „Der Rhein“, verbaut in das Kraftwerk, und „Der Rhein“, gesagt aus dem Kunstwerk der gleichnamigen Hymne Hölderlins.“255

Durch das überwältigende Wasserkraftwerk wird der Rhein anders als zuvor zum Vorschein gebracht. Der Rhein im Wasserkraftwerk ist nicht das ‚Haus der Götter‘, sondern ein ‚Wasserdrucklieferant‘ – eine Stromquelle. Das Wasserkraftwerk ‚und sein Bezirk verschweben aber nicht in das Unbestimmte‘, es ‚fügt erst und sammelt zugleich die Einheit‘ einer bestimmten Entfaltung der Welt. Aus der Einheit des Krafwerkbezirkes scheint die Natur für Heidegger verfügbar und für die Menschen bestellt – aus dieser Einheit gewinnen die Natur und die Menschen ihr modernes ‚Geschick‘, die Arbeit der Menschen wird festgelegt und ihr wird ein besonderer Sinn gegeben. In dieser Hinsicht wird die moderne Welt durch das Wasserkraftwerk sichtbar – es zeigt nicht nur den Rhein anders als je zuvor, sondern auch der ganze Bezirk um den Rhein herum wird von dieser Stromquelle mittels des Stromnetzes auf besondere Art beleuchtet. Die Wetterlage, die Topographie und die Felder entlang des Rheins werden vom Kraftwerk aus anders entborgen und neu definiert: Der Sinn des Wetters ist nun den Strom des Rheins zu befördern. Die Topographie um das Kraftwerk wird in die Bahn des Kraftwerkes gebracht als ein integriertes Teil der Stabilität seiner Funktion, und die Felder werden je nach ihrer Dienlichkeit für das Stromnetz definiert. Jedes Seiende um das Kraftwerk wird nun anders verstanden – nämlich je nachdem, ob es ein Risiko oder ein Potential für das Werk ausmacht. Durch das Wasserkraftwerk entscheidet sich „was groß und was klein“256 und „was Herr und was Knecht“257 in der ‚modernen’ Welt ist. Versteht der ‚Bewahrer‘ des Kraftwerkes es als ein Wahrheitsgeschehen, dann ‚existiert‘ er auch im Sinne Heideggers, denn in diesem Sinne bedeutet

255 256 257

VA., S. 19 (gesperrt S.R.). Holzw, S. 29. Holzw, S. 29.

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Existenz im „wesenhaften Auseinander der Lichtung des Seienden“258 zu stehen. Vor diesem Hintergrund kann das Wasserkraftwerk auch mit dem Tempelwerk in Heideggers Interpretation des Tempelwerks substituiert werden, ohne dass sein eigenes Verständnis der Technik und des Kunstwerkes dadurch kompromittiert würde: „[Das Wasserkraftwerk] eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde […]. Niemals aber sind die Menschen und die Tiere, die Pflanzen und die Dinge als unveränderliche Gegenstände vorhanden und bekannt, um dann beiläufig für [das Wasserkraftwerk, das] eines Tages auch noch zu dem Anwesenden hinzukommt, die passende Umgebung darzustellen. Wir kommen dem, was ist, eher nahe, wenn wir alles umgekehrt denken, gesetzt freilich, daß wir im voraus den Blick dafür haben, wie alles sich anders uns zukehrt. […] [Das Wasserkraftwerk] gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.“259

‚Das Ungeheure‘, das im Kraftwerk waltet, wird erkennbar als die ‚Revolution‘ des Verstehens, wonach das Wasserkraftwerk plötzlich Mittelpunkt der modernen Welt wird.260 Dies bedeutet für Heidegger, dass „das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen [wird].“261 Und Heidegger ergänzt später: „Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit stößt das Un-geheure auf und stößt zugleich das Geheure und das, was man dafür hält, um.“262 Wenn man nun nicht das Wahrheitsgeschehen des Wasserkraftwerks sehen kann, dann deswegen, weil man sich an das Kraftwerk gewöhnt hat und in diesem Sinne blind gegenüber diesem Wahrheitsgeschehen geworden ist.263 Der Anstoß, den das Wasserkraftwerk verübt, wird im Alltag übersehen, weil man bereits sich in ihrer Welt zu Hause fühlt und eingerichtet hat. Dies ist die Gefahr. Es geschieht mit dem Wasserkraftwerk wie mit den Kunstwerken im Allgemeinen: „Sobald jener Stoß ins Ungeheure im Geläufigen und Kennerischen abgefangen wird, hat um die Werke schon der Kunstbetrieb begonnen.“264 Es gehört zur entscheidenden Ambivalenz von „Die Frage nach der Technik“, dass dieser Text zwar nicht explizit aber in der Tat implizit ermöglicht, die moderne Technik als ein Kunstwerk zu studieren. „Die Frage nach der Technik“ ist auch als ‚ein Verweilen‘ bei der Wahrheit der modernen Technik 258 259 260 261 262 263 264

Holzw, S. 55. Vgl. Holzw, S. 29. Vgl. Holzw, S. 19. Holzw, S. 54. Holzw, S. 63. Siehe auch Heideggers Beschreibung der ‚Seinsblinden‘. (Vgl. WM, S. 264). Holzw, S. 56.

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zu verstehen. Nur aus dem Grund und durch solches Verweilen und Besinnen kann es laut Heidegger ein verändertes Verständnis der modernen Technik geben. Nur dadurch kann es zu der von Heidegger beschriebenen ‚Rettung‘ vor der Gefahr des Gestells kommen. Wenn Technik bloß technisch verstanden und kopflos weitergetrieben wird, dann entsteht aus ihr, so wie aus den Kunstwerken auch, ein Betrieb. Wird diese Art des Verstehens von Technik definitorisch so festgelegt, dass das Wesen der Technik nur diese Interpretation ermöglicht, dann ergibt sich eine Tautologie des Verstehens von moderner Technik, worin die von Heidegger bisweilen betonte Ambivalenz des Wesens der Technik nicht mehr zur Geltung kommen kann. Wenn behauptet wird, die moderne Technik verdecke definitorisch das Wahrheitsgeschehen und sei vom Wesen getrennt, dann hat ein Verständnis der modernen Technik die Herrschaft ergriffen, wo es keinen Zusammenhang zwischen der ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ gibt. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit des Verstehens der modernen Technik. Und dies ist es gerade, worauf es uns hier ankommt: Sowohl das Kunstwerk als auch die Technik können als Geschehnisse der Wahrheit, als Aufdeckungen von Welt verstanden werden – und „Werksein heißt: eine Welt aufstellen.“265. Ob sie nun im Heideggerschen Sinne technisch oder künstlerisch ist, so tritt in beiden Fällen etwas Bestimmtes hervor, das bisher nicht da war. Dieses ‚factum est‘ verübt einen Anstoß und bringt einen Streit von ‚Welt‘ und ‚Erde‘ zu momentaner Ruhe – eine Ruhe, die immer wieder bedroht ist, sich durch Interpretation wieder in Streit zu verwandeln.266 In dem Sinne gibt es Hoffnung, dass die Technik wie das Kunstwerk verstanden werden kann, und sich so die von Heidegger hervorgehobene Möglichkeit zeigt, dass „durch alles Technische hindurch das Wesen der Technik im Ereignis der Wahrheit [west].“267 Die Rettung vor der Technik besteht mit anderen Worten darin, in der Technik das Werk der Kunst zu sehen. Würde man einwenden, dass ein durch die moderne Technik hergestelltes ‚Standardzeug‘, von dem es abertausende Exemplare gibt, keine Welt aufstellt, dem Betrachter keinen ‚Anstoß‘ verübt und deswegen nicht als Kunstwerk verstanden werden kann, dann wäre der Spielraum nicht durch265 266

267

Holzw, S. 30. In der sogenannten ‚ersten Vortragsfassung‘ des Kunstwerkaufsatzes, die bereits „Vom Ursprung des Kunstwerks“ betitelt ist, wird dieser Streit des Wahrheitsgeschehens phänomenologisch verdeutlicht: „Und indem diese Innigkeit des offenen Widerstreits des Sichverbergenden und Sichentbergenden geschieht, wird das, was bislang als das Wirkliche galt, als Unseiendes offenbar. Es kommt an den Tag, d.h. ins Offene, daß bisher Verdeckung und Verstellung und Verdrehung des Seienden herrschte. Was so in der Bestreitung geschieht: die Eröffnung der Offenheit des Widerstreits von Unverborgenem und Verborgenem, das Herauskommen von Verdeckung und Verstellung, – dieses in sich gefügte Geschehen ist das Geschehen dessen, was wir Wahrheit nennen.“ (Holzw, S. 16). VA, S. 39.

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dacht, innerhalb dessen es Heidegger in der visionären Aussage schließlich für möglich hält‚ dass ‚durch alles Technische hindurch das Wesen der Technik im Ereignis der Wahrheit‘ wesen kann. Die Entscheidung der Interpretation eines Seienden als Kunstwerk oder Zeug hängt nicht von diesem selbst ab, denn ontologisch gesehen ändert sich nichts an der Technik, wenn ihre Wahrheit durch sie erkennbar wird; vielmehr hängt dieser Unterschied von unserer Distanz und Einstellung gegenüber der Technik ab. ‚Standardzeug‘ kann als Menge oder im einzelnen als Kunstwerk betrachtet werden.268 So hat unter anderem der französische Künstler Marcel Duchamp Standardzeug als Kunstwerk zum Vorschein gebracht.269 Eines seiner bekanntesten Kunstwerke ist ein ‚Pissoir‘, das als Kunstwerk einen Streit um die Kunst hervorgerufen hat, wodurch der Bereich des Kunstwerks noch einmal erweitert wurde.270 Ob die ‚Welt und Erde‘ des ‚Pissoirs‘ ursprünglich im Museum als einem ausgezeichneten Ort der Wahrheit sichtbar wurde – oder ob erst im Museum so lange bei diesem Standardzeug verweilt wurde, dass seine Welt erfasst, gesehen und für ‚anstößig‘ befunden wurde, darüber lässt sich vielleicht streiten. Nachdem das Pissoir aber erst einmal als Kunstwerk gesehen worden ist, kann es auch außerhalb des Museums, das heißt sogar im Gebrauch, als solches verstanden werden.271 Es ist also entschei268

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271

Siehe auch Walter Benjamins Betrachtungen in ”Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden.“ (Benjamin, Walter: ”Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Walter Benjamin Abhandlungen, Gesammelte Schriften, Band I 2, Frankfurt am Main 1991, S. 436). Ebenso: „Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition.“ (Ibid, S. 441). Vgl. Marcel Duchamps, hrsg. von Museum Jean Tinguely, Basel 2002, S. 91. Derjenige, der sich über Duchamps Werke als Ort der Wahrheit verwundert, scheint den Besuchern Heraklits zu ähneln, über die Aristoteles berichtet, dass sie überrascht sind, dass Heraklit den Ofen, also das Küchenzeug, als einen Ort verstehe, wo die Götter anwesend sind. Die Götter mit dem Zeug zu verbinden, war zu Zeiten Heraklits vielleicht außergewöhnlich, wie Heidegger selbst berichtet, genauso wie die Beziehung zwischen modernem Zeug und Kunst, die Duchamp stiftet, aber deswegen nicht weniger ‚wahr‘ (Vgl. WM, S. 357f und Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch zu einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998, S. 89f). Das 20. Jahrhundert, d.h. die Spätmoderne, ist überhaupt reich an künstlerischen Revolutionen. So hätte die ‚nicht-figurative‘ oder abstrakte Kunst wahrscheinlich weder in den vorausgehenden Jahrhunderten und noch gar in der Antike als Kunst gegolten. Man könnte auch einwenden, dass diese Art von Kunstwerk an den bisherigen Kunstwerken parasitär sei, weil sie nur in ihrer Tradition als Kunstwerk verstanden werden kann. Dieser Einwand scheint zunächst dem Einwand zu entsprechen, dass diese Art von Kunst sich nur im Museum entfalten könne – er ist aber nicht derselbe. Denn nun steht zur Entscheidung, ob jemals ein Kunstwerk außerhalb der Tradition

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dend, dass es dem Menschen, der außerhalb der Herrschaft des Gestells steht, verschiedene Möglichkeiten des Verstehens und der Erfahrung der Technik gibt. Gleichzeitig ist es zu betweifeln ob jemanden, der unter der volkommnen Herrschaft des Gestells lebt, jemals fähig ist, ein Kunstwerk im Sinne Heideggers zu verstehen. Heideggers unterschiedlicher Umgang mit Kunstwerken und technischen Dingen zeigt uns die entscheidende Rolle des Interpretierens im Vollzug. In dem Sinne gewinnt in unserer Auslegung dasjenige, was bei Heidegger zum Bezirk und zum Vollzug des ‚Bewahrens‘ gehört, eine relativ große Bedeutung. In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ ist das Bewahren des Betrachters zugunsten des Hervorbringens des Künstlers jedoch in den Hintergrund geraten. Stattdessen sollte es vielmehr im Vordergrund stehen. Im Ausdruck ‚das Bewahren des Kunstwerkes‘ scheint eine passivische Konnotation anzuklingen, als eine Art Seinlassen des Kunstwerkes: „Das Werk ein Werk sein lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes.“272 Aber lesen wir genauer, wie Heidegger das ‚Bewahren‘ erläutert, dann sehen wir, dass der Akt des

272

der Kunstwerke als Kunstwerk gelten kann – historisch gesehen gab es aber Kunstwerke vor und außerhalb der Museen. Wenn behauptet wird, dass diese Art von Kunstwerk gegenüber der Tradition von Kunstwerken besonders parasitär sei, dann müsste aber auch erklärt werden, inwiefern das nicht für die abstrakte Kunst gilt. Pablo Picasso, der eine besonders gute Einsicht in Kunst und Kunstgeschichte hatte, sagt: „Man muß sich immer wieder daran erinnern, daß man zur Zeit der Impressionisten oder Cézannes die moderne Kunst nicht erkannte. Wenn aber jemand sie wahrnahm, gab es Skandale. [...] Wenn Raffael heute mit genau denselben Bildern wiederkäme, würde niemand ihm nur ein einziges abkaufen. Und niemand sogar würde auch nur einen Blick darauf werfen.“ (Picasso über Kunst, Zürich 1988, S 14; kursiviert S.R.). Hätte die anfängliche Kunst genau so gut abstrakte Kunst sein können? Und inwiefern verdankt die Kunst sich dem Handwerk und ist parasitär zu ihrer Tradition der Meisterschaft? Und nicht zuletzt kann berechtigt nachgefragt werden, ob Kunst im Sinne Heideggers sich nicht parasitär zum Wahrheitsgeschehen der IXYVL verhält? Versteht Heidegger nicht letzten Endes das Werk der Kunst in Analogie zu dem, was in der Natur am Werk ist, dem paradigmatischen Wahrheitsgeschehen? Vgl. auch: „Es gibt aber keine Regeln der Kunst in diesem Sinn. Ein neues Zeitalter entscheidet, was als Kunst, was als Maßstab zu gelten hat.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 83). Holzw, S. 54. Hier ist entscheidend, dass Heidegger Zeug im Bezug auf seine Dienlichkeit und Verlässlichkeit versteht. Über den Bezug des Kunstwerks zum Bewahren sagt er aber: „Sowenig ein Werk sein kann, ohne geschaffen zu sein, so wesentlich es die Schaffenden braucht, sowenig kann das Geschaffene selbst ohne die Bewahrenden seiend werden.“ (Holzw, S. 54). In diesem Sinne braucht das Kunstwerk also das Bewahren, um Kunstwerk zu werden. In Heideggers Bestimmung des Zeugs scheint die Möglichkeit des Bewahrens von vornherein ausgeschlossen zu sein – ein Zeug soll nicht einfach ‚bewahrt‘ werden, sondern ‚dienen‘. Dabei versucht Heidegger bereits durch den Begriff des ‚Bewahrens‘, das heißt durch eine Bestimmung von außen, das Zeug vom Bereich des Kunstwerks auszuschließen.

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Bewahrens in Wirklichkeit auch eine Stiftung der Wahrheit ist – erst durch das Bewahren wird das Kunstwerk im Sinne Heideggers wirklich. Wir möchten uns Heideggers Entfaltung des Bewahrens zuwenden, um den Unterschied von Kunstwerk und moderner Technik nunmehr in der besonderen Herangehensweise zu suchen und ihn in seiner Abhängigkeit von der Art des Bewahrens beziehungsweise Interpretierens zu zeigen. Damit dies gelingen kann, soll die ‚nach langer Zeit der Gewöhnung‘ selbstverständliche Grenze zwischen Kunst und Technik erst einmal ausgeklammert werden – der wie Heidegger sagt, um seine eigene Interpretation des Kunstwerkes zu stützen: „Dazu ist nötig, daß zuvor die Schranken des Selbstverständlichen fallen und die geläufigen Scheinbegriffe auf die Seite gestellt werden.“273 Entscheidend für unseren Gedankengang ist es, dagegen zu argumentieren, dass der Hersteller eines Werkes nicht darüber entscheidet, ob es als Werk der Kunst oder der Technik angesehen und verstanden wird.274 Denn es wurde auch in der Antike handwerkliches Zeug hergestellt, Keramikfässer, Ringe und Schwerter, das heute als Kunstwerk betrachtet und ‚bewahrt‘ wird.275 Der Hersteller ist nicht Herr des Werkes – man braucht ein Werk nicht so wie der Autor selbst zu verstehen, oder man verlöre sich in Dogma273 274

275

Holzw, S. 24f (kursiviert S.R.). Die Frage ist hier, ob man sich laut Heidegger einen Künstler vorstellen kann, der nicht weiß oder nicht glaubt, dass er Künstler ist? Wann im Laufe einer Kunstausbildung wird ein Schüler zum Künstler? Die Antworten auf diese Fragen, könnten als Scheinfragen verstanden werden, wenn man sich an der Bewahrung des Werkes selbst orientiert. Kann ein Werk als Kunstwerk in der ‚Bewahrung‘ wirklich werden, dann wäre es ein Kunstwerk. Es ergibt sich daraus eine Reihe von Fragen, die wir in dieser Arbeit nicht verfolgen werden, aber zugleich anführen möchten um zu zeigen, was im Verlauf dieser Arbeit später wichtig zu untersuchen wäre. Wie kann Zeug, das nicht länger als Zeug gebraucht wird, zur Gegenstand der Kunst werden? Ist die Unbrauchbarkeit ein Kriterium der Kunst – oder worin hat das Kunstwerk sein Gebrauch? Wenn veraltetes Zeug im Sinne Heideggers womöglich nicht ‚große Kunst‘ ist, was wäre dann ‚kleine Kunst‘ oder ‚schlechte Kunst‘ – und wie offenbart sich die Kunst dennoch in dieser? Und wie können wir den Begriff der ‚Gebrauchskunst‘ verstehen? (Vgl. Holzw, S. 26). Alle diese Fragen weisen auch auf eine wichtige Relativierung des Unterschieds zwischen Kunst und Technik hin, die für Heideggers Verständnis der Technik fruchtbar sein kann – aber zugleich sein Verständnis der Kunst bedrohlich scheint. Siehe auch Duchamp: „What I have in mind is that art may be bad, good, or indifferent, but, whatever adjective is used, we must call it art, and bad art is still art in the same way as a bad emotion is still an emotion.“ (Marcel Duchamp, hrsg. vom Museum Jean Tinguely, mit einem Vorwort von Guido Magnaguagno, Stuttgart 2002, S. 43). Mit Blick auf das Tempelwerk könnte Heideggers Verständnis der Kunst zudem geschichtlich umgedeutet werden, so dass der Ursprung der Kunst im Heideggerschen Sinne retrospektiv geschehen müsste, indem nicht länger brauchbares und verfügbares Zeug seine Beziehung zur gegenwärtigen Welt verloren hat. An Stelle dessen scheint ein solches Zeug isoliert und eigenständig und vor allem fähig, eine andere ‚Welt‘ beziehungsweise einen anderen ‚Zeitalter‘ zu offenbaren.

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tismus und Psychologie.276 Daher muss bei der Betrachtung eines Werkes zunächst ausgeklammert werden, ob es sich um ein Kunstwerk oder ein Zeug handelt. Das Werk muss von sich aus betrachtet werden, um herauszufinden, ob im Werk eine ‚Welt‘ am Werk ist. So sieht es auch Heidegger – selbst wenn er das Wesen der Kunst anhand von Kunstwerken expliziert, die bereits durch die Tradition als Kunstwerke etabliert worden sind.277 Gegen die gewaltige und einfache Vorentscheidung, ob etwas zur Kunst oder Technik gehört, möchten wir eine Aussage von Heidegger selbst festhalten: „Wohin gehört das Werk? Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird. Denn das Werksein des Werkes west und west nur in solcher Eröffnung.“278 Ob das Werk die ‚Eröffnung eines Bereichs‘ ermöglicht, lässt sich nicht immer direkt erkennen – es braucht das Verweilen und setzt den ‚Bewahrer‘ voraus. Deswegen ist das Interpretieren wie bereits erläutert entscheidend, denn dadurch wird es erst deutlich, ob ein Werk sich als Kunstwerk unterscheiden kann. Wir möchten hier vier Stellen hervorheben, an denen das Bewahren von Kunstwerken im Kunstwerkaufsatz thematisiert wird: „Stiftung ist aber nur in der Bewahrung wirklich. So entspricht jeder Weise des Stiftens eine solche des Bewahrens.“279 „Sowenig ein Werk sein kann, ohne geschaffen zu sein, so wesentlich es die Schaffenden braucht, sowenig kann das Geschaffene selbst ohne die Bewahrenden seiend werden.“280 „Bewahrung des Werkes ist als Wissen die nüchterne Inständigkeit im Ungeheuren der im Werk ge276

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Wäre es möglich, dass der Hersteller darüber einfach entscheiden könnte, ob etwas als Zeug oder Kunstwerk gelten dürfte, dann könnte der Techniker sich natürlich auch einfach eines Tages entschließen, ein Kunstwerk herzustellen. Damit wäre die Unterscheidung zwischen Kunst und Technik eine individuelle Konvention und müsste nach psychologischen Kriterien bestimmt werden. ‚An das Werk selbst‘ heißt hier am und im Werk. Holzw, S. 27. Dabei gerät Heidegger wieder in den paradoxen Zirkel, dass er nicht weiß, von welchem Seienden aus er die Kunst verstehen soll. Denn diese gewaltige Vorentscheidung würde festlegen, was als Kunst gelten dürfte, und somit dem Vorhaben seiner Untersuchung im Voraus massgeblich bestimmen: „Man meint was Kunst sei, lasse sich durch eine vergleichende Betrachtung der vorhandenen Kunstwerke an diesen abnehmen. Aber wie sollen wir dessen gewiß sein, daß wir für eine solche Betrachtung in der Tat Kunstwerke zugrunde legen, wenn wir nicht zuvor wissen, was Kunst sei.“ (Holzw, S. 2). Auf Grund dieses Zirkels versucht Heidegger gar nicht erst zu rechtfertigen, wieso er Kunst gerade anhand eines ‚zufälligen‘ Gemäldes von van Gogh expliziert. Hätte er seinen Ausgangpunkt in einem abstrakten Kunstwerk genommen, das sich als Ausgangpunkt für Heideggers zirkuläre Gedankenführung einfach nicht rechtfertigen lässt, wäre seine Bestimmung des Kunstwerkes ganz anders erfolgt. Das Seiende wird nicht erst zu dem, was es ist, in abstrakter oder nonfigurativer Kunst, so wie die Schuhe in van Goghs Gemälde, ganz im Gegenteil: Jene Kunst kann eben die Gegenständlichkeit des Seienden (wieder) aufheben. Holzw, S. 63 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 54.

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schehenden Wahrheit.“281 Und: „Nicht nur das Schaffen des Werkes ist dichterisch, sondern ebenso dichterisch, nur in seiner eigenen Weise, ist auch das Bewahren des Werkes; denn ein Werk ist nur als ein Werk wirklich, wenn wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrücken und in das vom Werk Eröffnete einrücken, um so unser Wesen selbst in der Wahrheit des Seienden zum Stehen zu bringen.“282 Damit die ‚Schranken des Selbstverständlichen‘ fallen, müssen wir uns auf das ‚Ungeheure der im Werk geschehenden Wahrheit‘ einlassen. Wenn der Betrachter es nicht vermag, die jeweilig entborgene Welt zu sehen, dann kann er niemals endgültig behaupten, dass er kein Kunstwerk vor sich hat – vielleicht muss er nur länger vor ihm verweilen. Bis dahin ist es für ihn kein Kunstwerk. Heidegger argumentiert nämlich folgendermaßen: „[Das Werk] bleibt immer, wenn anders es ein Werk ist, auf die Bewahrenden bezogen, auch dann und gerade dann, wenn es auf die Bewahrenden erst nur wartet und deren Einkehr in seine Wahrheit erwirbt und erharrt.“283 Im Prinzip kann dieses Warten und Verweilen beim Werk für einen einzelnen Menschen unendlich dauern, ohne dass die besondere Wahrheit des Kunstwerks aufgedeckt wird – das Werk hat Zeit. Wir können anhand des Kunstwerkaufsatzes sagen, dass die moderne Technik auf ihre Bewahrer wartet. Die Gleichsetzung zwischen antiker Technik und Kunst, die Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ verherrlicht, können wir nun umkehren. „Am Beginn des abendländischen Geschicks stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschicks zum Leuchten. Und die Kunst hieß nur WHYFQK.“284 Im antiken Griechenland waren Kunst und Technik dasselbe, und das können sie wieder werden, und damit beide im Sinne Heideggers ‚rettend‘ werden. Die moderne Technik bringt andere Wahrheiten und ‚neue Götter‘ zum Vorschein, und so kann auch die moderne Technik als Kunst verstanden werden. Mit einem Verweis auf den Kunstwerkaufsatz können wir sagen, dass „Die Frage nach der Technik“ eine moderne ‚Tragödie‘ wäre, wenn Tragöde im Sinne Heideggers verstanden würde: „In der Tragödie wird nichts auf- und vorgeführt, sondern der Kampf der neuen Götter gegen die alten wird gekämpft.“285 Ob die ‚neuen Götter‘ der modernen Technik einen Untergang oder einen Übergang markieren, kann in „Die Frage nach der Technik“ nicht eindeutig beantwortet werden.

281 282 283 284 285

Holzw, S. 55. Holzw, S.62 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 54. VA, S. 38 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 29.

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Aber einige Künstler in Heideggers Gegenwart kämpften an der Seite der ‚neuen Götter‘. Diese Avantgarde können wir als die schöpfenden Bewahrer der modernen Technik bezeichnen, auf die die modernen ‚ungeheuren‘ Werke ‚gewartet‘ haben.286 Sie bringen eine künstlerische Revolution der Technik herbei. Ihr Kunst kommt unter anderem in Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Manifest programmatisch zum Ausdruck, in dem er schreibt: „Wir erklären, daß der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: um die Schönheit der Schnelligkeit. Ein Rennautomobil, dessen Wagenkasten mit großen Rohren bepackt ist, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein heulendes Automobil, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die ‚Nike von Samothrake‘.“287 Wir können infolgedessen auch eine Passage aus dem Kunstwerkaufsatz in dem Sinne auslegen, dass die Bewahrer im Prinzip imstande sind, die Wahrheit aller Dinge aufzudecken und sie als Kunstwerke zu verstehen288: „Überhaupt können wir, an jenem Vorhandenen bemerken, daß es ist; aber dies wird auch nur vermerkt, um alsbald nach der Art des Gewöhnlichen vergessen zu bleiben. Was aber ist gewöhnlicher als dieses, daß das Seiende ist?“ Daraufhin spekuliert Heidegger weiter: „Was uns als natürlich vorkommt, ist vermutlich nur das Gewöhnliche einer langen Gewohnheit, die das Ungewohnte, dem sie entsprungen, vergessen hat. Jenes Ungewohnte hat jedoch einst als ein Befremdendes den Menschen angefallen und hat das 286

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Sich dort zu positionieren, von wo aus ein Untergang wie ein Übergang aussieht, ist eine Sichtweise, die Ernst Jünger in seinem Werk Der Arbeiter besonders prägnant beschrieben hat: „Es kommt darauf an, einen Punkt der Betrachtung zu gewinnen, von dem aus die Orte des Verlustes als die Gesteinsmasse gesehen werden können, die während der Bildung einer Statue vom Block verloren geht.“ (Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981, S. 121). Marinetti, Filippo Tommaso: „Die Futuristische Literatur. Technisches Manifest“, in: Der Sturm, 3. Jg., Nr. 133, Oktober 1912, S. 194f. In einem Gedanken Pablo Picassos zeigt sich auch diese Möglichkeit: „Ein Mensch mit hochentwickeltem Sehvermögen kann eine Landschaft bei Aix wie Cézanne, eine Landschaft bei Arles wie van Gogh sehen. Doch im Allgemeinen sehen die Leute die Natur ganz konventionell und wollen nicht, daß jemand etwas daran ändert.“ (Picasso über Kunst, Zürich 1988, S. 44). Über diesen Gedanken können wir auch besser verstehen, was gemeint sein könnte, wenn Merleau-Ponty schreibt: „Das Sehen des Malers ist nicht mehr ein Blick auf ein Äußeres, eine bloß ‚physisch-optische‘ Beziehung zur Welt. Die Welt liegt nicht mehr durch eine Repräsentation vor ihm. Vielmehr ist es der Maler, der in den Dingen geboren wird wie durch eine Konzentration und ein Zu-sich-Kommen des Sichtbaren“ (Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 305). Das Gemälde sprengt laut Merleau-Ponty die ‚Schale der Dinge‘ auf, „um zu zeigen, wie die Dinge zu Dingen und die Welt zu Welt werden.“ (Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 305; kursiviert vom Autor). Vgl. auch Pöggeler, Otto: „Wächst das Rettende auch?“, in: Kunst und Technik, hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 3-24, hier S. 20.

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Denken zum Erstaunen gebracht.“289 Heidegger möchte alle Dinge bzw. das Seiende im Ganzen aus der Gewöhnlichkeit herausheben und sie in ihrer ungeheuren Wahrheit verstehen. Und dies ist nur möglich durch das ‚Besinnen‘, das ‚Erstaunen‘ oder das, war Heidegger auch unter ‚Verweilen‘ vor den Dingen versteht.290 Wir interpretieren diesen Gedankengang so, dass wir durch ihnen lernen, das Seiende nicht für selbstverständlich zu halten. Das Seiende überhaupt kann als das größte Rätsel, als stärkster Anstoß und in diesem Sinne als Kunstwerk schlechthin verstanden werden – so wie jedes einzelne Seiende auch als Kunstwerk verstanden werden kann, das von diesem ursprünglichen Wahrheitsgeschehen durchwaltet ist. Verbinden wir nun diese Einsicht mit dem, was wir im ersten Teil der Arbeit entfaltet haben, dann können wir eine ‚erstaunliche‘ Schlussfolgerung ziehen. Es ist möglich, das Seiende im Ganzen als Kunstwerk zu ‚bewahren‘, wenn wir ein Auge für sein Wesen entwickeln. Das Wesen des Seienden ist seine IXYVL, sein Geschick, und dies zu erkennen ist die höchste Betrachtung des Seienden.291 Das besagt, alle Dinge als Kunstwerke zu sehen. Und dieser Erkenntnis möchten wir uns im dritten und letzten Teil der Abhandlung zuwenden. 289 290

291

Holzw, S. 9 (kursiviert S.R.). So können wir auch in Heideggers Aufsatz „Das Ding” einen Anhaltspunkt finden, die Dinge als Kunstwerke zu verstehen. Entlang drei Gedanken entwickelt Heidegger, wie ein Ding eine ‚Welt‘ zum Vorschein und die ‚Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschicks zum Leuchten‘ bringen kann (Vgl. VA, S. 38). „Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen versammelt. Es sammelt, das Geviert ereignend, dessen Weile in ein je Weiliges: in dieses, in jenes Ding.“ (VA, S. 166). „Dingend verweilt das Ding die einigen Vier, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen, in der Einfalt ihres aus sich her einigen Gevierts.“ (VA, S. 170). Schließlich verbindet Heidegger diesen Gedanken mit dem Phänomen der ‚Welt‘: „Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt […] Das Ding dingt Welt. Jedes Ding verweilt das Geviert in ein je Weiliges von Einfalt der Welt. Wenn wir das Ding in seinem Dingen aus der weltenden Welt wesen lassen, denken wir an das Ding als Ding. Dergestalt andenkend lassen wir uns vom weltenden Wesen des Dinges angehen.“ (VA, S. 172f). Es ist bemerkenswert, dass Heidegger seine Überlegungen zum Ding zunächst mit Blick auf einen Krug ausführt, der wie eine Schale in seiner Interpretation verstanden wird, womit der Bogen sich zur ‚Opferschale‘ aus „Die Frage nach der Technik“ schließt. Diese Opferschale hat Heidegger als Zeug und wir bereits als Kunstwerk ausgelegt (S. 164), das den Bereich des Göttlichen zum Vorschein bringt. (Vgl. VA, S. 158ff und 11ff). Schließlich möchten wir auf die Schwierigkeit aufmerksam machen, die dadurch entsteht, dass Heidegger im Kunstwerkaufsatz drei unterschiedliche Dingbegriffe und die ‚bloßen Dinge‘ bespricht. Auch operiert er hier noch mit einem fünften Dingbegriff, der anscheinend quer durch die anderen Begriffe vom Ding läuft. Diese Problematik möchten wir im Rahmen dieser Abhandlung nur erwähnen, und für eine zukünftige genauere Untersuchung offen lassen. In Paul Celans poetologischem Entwurf, Der Meridian, kommt eine Auffassung der Kunst zum Ausdruck, die das Geschehnis in der Kunst auf eine Weise hervorhebt, die unsere Interpretation des Wesens der modernen Technik im Technikaufsatz stützt

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C Gefährliche Kunst Heidegger zitiert Hölderlins Vers: „Wo aber Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch.“292 So kann auch für Heidegger das Wesen der Technik rettend sein. Heidegger sagt: „Wenn das Wesen der Technik, das Ge-stell, die äußerste Gefahr ist und wenn zugleich Hölderlins Wort Wahres sagt, dann kann sich die Herrschaft des Gestells nicht darin erschöpfen, alles Leuchten jedes Entbergens, alles Scheinen der Wahrheit nur zu verstellen. Dann muss vielmehr gerade das Wesen der Technik das Wachstum des Rettenden in sich bergen.“293 Bei Heidegger geht es nicht nur um eine Gleichzeitigkeit von der Gefahr und dem Rettenden, es geht ihm um einen Zusammenhang zwischen beiden, denn er ergänzt: „Je mehr wir uns der Gefahr nähern, um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir“294. Auch das Entbergen des Gestells ist für Heidegger ein Wahrheitsgeschehen, und dies sehen und erfahren zu können, ist der Ausweg aus der Herrschaft der modernen Technik.295 Hölderlins Bestätigung kann er daher für seine Frage übernehmen: „Könnte dann aber nicht ein zureichender Blick in das, was das Gestell als ein Geschick des Entbergens ist, das Rettende in seinem Aufgehen zum Scheinen bringen?“296 Ein ‚zureichender‘ Blick kann das ‚Zu-Erreichende‘, das heißt das Rettende, vor Augen bringen, aber Heidegger gelingt es überdies zu zeigen, wie ein zureichender Blick auch wirklich möglich sei. Dies haben wir im letzten Abschnitt entwickelt. Besitzt der Betrachter oder der ‚Bewahrer‘ jedoch nicht diesen Blick, dann stellt sich die Frage, die wir in diesem Teil auch beantworten wollen: Kann das Kunstwerk auch die höchste Gefahr bergen? Heidegger sieht im Sinne des Hölderlinzitats eine Wechselbeziehung zwischen dem Rettenden und der Gefahr. Die zwei Phänomene gehören zusammen – aber auf welche Weise? Und welche Konsequenzen hat es für das Kunstwerk? Im Kunstwerkaufsatz schreibt Heidegger, dass das Kunst-

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(Vgl. Celan, Paul: „Der Meridian“, in: Paul Celan: Der Meridian. Endfassung, Vorstufen, Materialien, hrsg. von Heino Schmull und Bernhard Böschenstein, Frankfurt am Main 1999, S. 4). Celan orientiert sich dabei unter anderem an einer Passage aus Georg Büchners Lenz. Dort ist zu lesen: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.“ (Büchner, Georg: Lenz, in: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, hrsg. von, Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, HansJoachim Simm und Edda Ziegler, München 1988, S. 135-158, hier S. 144). VA, S. 32. VA, S. 32 (kursiviert S.R.). VA, S. 40 (kursiviert S.R.). VA, S. 32ff. VA, 32.

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werk je aufs Neue entscheidet, „was Herr und was Knecht [sei].“297 Aus dem Kunstwerk geht eine Welt hervor, auf die als Maß hin alles einen bestimmten Platz erhält; so wie der Tempel dem Menschen den Platz als Untertan Gottes zuweisen kann. Die Menschen sind für Heidegger von der ‚Welt‘ der Werke bestimmt – die Welt „ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten.“298 Heidegger ergänzt diese Form der Entstehung von ‚Welt‘ in Kunstwerken folgendermaßen: „Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, Ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge. In der Welt ist jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahrende Huld der Götter verschenkt oder versagt.“299 Mit anderen Worten stiften ‚Welt‘ und ‚Erde‘ des Kunstwerks die ‚Bahnen und Bezüge‘, die „dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen.“300 Und dieses Geschick mag also auch die ‚Knechtschaft‘ sein. Das Kunstwerk ist danach fähig, den Menschen in die Knechtschaft zu führen. Was Heidegger zuerst über die Gefahr der Technik sagt, können wir deswegen auch hinsichtlich der Kunst verstehen: ‚Am ärgsten sind wir jedoch [der Kunst] ausgeliefert, wenn wir sie als etwas Neutrales betrachten.‘301 Sowohl die Welt, die ein Kunstwerk aufstellt, als auch die durch das Gestell aufgedeckte Welt können gefährlich sein. Heidegger sagt über das Geschick der Entbergung als solches: „Das Geschick der Entbergung ist als solches in jeder seiner Weisen und darum notwendig Gefahr. In welcher Weise auch immer das Geschick der Entbergung walten mag, die Unverborgenheit [also die Welt], in der alles, was ist, sich jeweils zeigt, birgt die Gefahr, daß der Mensch sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet.“302 Von hier ist nun auch zu verstehen, dass ‚die Gestalt des Geschicks‘, das der Mensch zum Beispiel in der Welt des Tempels erhält, ‚notwendig Gefahr‘ ist. Heidegger spitzt sogar dieses Verständnis von Gefahr zu: „Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr.“303 Sowohl ein Kunstwerk als auch das Gestell bergen ‚die Gefahr‘ par excellence, weil beide eine Welt aufstellen, in der alles nach einem Maßstab sein besonderer Platz zugewiesen wird. Diese Welten gehören also unter die Herrschaft eines Maßes – oder besser gesagt: Zur Welt gehört schon immer einen Richt-maß, das richtend und rettend zugleich ist. Wird dieses Maß verabsolutiert, hält der Mensch sich nur an das, was Heidegger als die 297 298 299 300 301 302 303

Holzw, S. 29. Holzw, S. 30f (kursiviert S.R.). Holzw, S. 31. Holzw, S. 28 (kursiviert S.R.). Holzw, S. 9. VA, S. 30 (gesperrt S.R.). VA, S. 30.

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‚Richtigkeit‘ dieser einen Welt beschreibt, also an die unmittelbaren Erscheinungen, dann verliert der Mensch sich in dieser Welt und büßt an Freiheit und Verständnis der Wahrheit ein. Die Gefahr besteht also darin, vom Unverborgenen des Seienden ‚alle Maße zu nehmen‘ und somit sich nicht in Bezug auf das Geschehen der Wahrheit zu erfahren.304 „Hierdurch verschließt sich die andere Möglichkeit, daß der Mensch eher und mehr und stets anfänglicher auf das Wesen des Unverborgenen und seine Unverborgenheit sich einlässt, um so die gebrauchte Zugehörigkeit zum Entbergen als sein Wesen zu erfahren.“305 Es gilt für die Menschen also, sowohl im Hinblick auf das Kunstwerk, als auch auf das Gestell, einen ‚zureichenden Blick‘ zu entwickeln, damit sie sich nicht von der Unverborgenheit blenden lassen. Dieser Blick ist ein denkender Blick, der die unmittelbare Gegebenheiten nicht einfach abspiegelt und darstellt, sondern auf Distanz zu ihnen einen Sinn für das Geschehen ihrer Entbergung gewinnt – er ist ein genealogischer Blick. Diesen zureichenden Blick möchten wir zusammenfassend als einen Wesensblick bezeichnen. Durch den Wesensblick kann sich den Menschen sowohl das Tempelwerk als auch das Kraftwerk als ein Kunstwerk zeigen. Dieser Blick bedarf der Übung und der denkerischen Kraft, um sich entwickeln zu können – nicht jeder kann in van Goghs Gemälde das Wesen des Schuhzeugs, das „klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes“306, oder irgendein anderes Geschehen sehen, das laut Heidegger das Schuhzeug ‚durchzieht‘. Das, was Heidegger in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ zum Vorschein bringt, ist ein Verständnis für das Geschehen des Entbergens, das über das Entborgene und sein Maß hinausgeht: „Alles Entbergen kommt aus dem Freien, geht ist Freie und bringt ins Freie.“307 Das heißt für Heidegger, dass das Seiende im Entbergen auf die ‚Offenheit‘ bezogen wird; und hat der Mensch einen Sinn dafür, dann stiftet er zugleich einen Bezug zwischen ihm und dem Nicht-Festgelegten, dem Freien. Damit befindet sich der Mensch im Bezirk des Möglichen. Von hier wird nun ersichtlich, dass die Interpretation der Technik als Kunst möglich werden kann. Für den Menschen, der das Geschehen der Wahrheit nicht sehen kann, und damit auch nicht sieht, wie das Seiende 304

305 306 307

Hier könnte man mit Heidegger einwenden, dass das Kunstwerk auch die Erde, also die Verborgenheit, zum Vorschein bringt und insofern alle Maße relativiert. Aber dadurch relativiert er nicht selbst das Maß des Tempelwerks. Schließlich ist die Verborgenheit selbst unbestimmt und daher kann man weder streng genommen von ‚der Erde‘ sprechen noch sie ihr bestimmt zuordnen: Die Verborgenheit des Kunstwerks kann dementsprechend auch an der Verborgenheit einer anderen ‚Welt‘ haben. VA, S. 29f. Holzw, S. 19. VA, 29.

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entborgen und eine Welt gestaltet wird, sind Technik und Kunst prinzipiell gleich gefährlich. Nicht das jeweilige Seiende, ob Kunst oder Technik, ist entscheidend dafür, ob es gefährlich oder nicht sei, sondern unser Verständnis davon. Heideggers Unterscheidung zwischen dem Wesen des Kunstwerkes und dem Wesen der Technik wirkt zunächst so, als entstünde der Unterschied aus dem jeweiligen Seienden. Es scheint, als ob Heidegger einfach festlege, dass das Wesen der Technik den Blick in ihr Wesen versperrt, während das Kunstwerk diesen Blick fordere. Aber entlang Heideggers eigenen Beispielen und Untersuchungen kann der Unterschied zwischen den zwei Bereichen niemals so pauschalisiert werden. Heidegger jedoch ist grundsätzlich davon überzeugt, dass seine eigene Unterscheidung nicht absolut ist. Denn am Ende von „Die Frage nach der Technik“ wird auch das Wesen der Technik als Wahrheitsgeschehen aufgezeigt. Heidegger kann deswegen auch positiv von der Technik sagen: „Die Technik ist es, die von uns verlangt, das, was man gewöhnlich unter ‚Wesen‘ versteht, in einem anderen Sinne zu denken.“308 Und zwar in dem Sinne, dass das Wesen mit dem Geschehen der Wahrheit gleichbedeutend ist, wodurch die Technik also dem Menschen helfen kann, sich im Bezug auf die Freiheit zu erfahren – genauso wie ein Kunstwerk. Fassen wir die vorausgegangenen Betrachtungen zusammen, können wir nun sehen, wie Heideggers Studien der Kunst und der Technik einander ergänzen. Die Technik ist Kunst vom Gesichtspunkt ihrer Gefahr aus verstanden, während Kunst zugleich Technik vom Gesichtspunkt des Rettenden aus betrachtet ist. Das, was über den Umschlag der Gefahr in das Rettende entscheidet, ist, ob der Betrachter einen Sinn für das Wesen der Technik und der Kunst hat – also ob er einen ‚zureichenden Blick‘ hat. Deswegen hebt Heidegger in den beiden Untersuchungen hervor, dass sowohl die Technik als auch die Kunst ihrem Wesen nach rettend beziehungsweise befreiend sein können. Heidegger entwickelt jedoch nicht explizit, inwiefern die Kunst auch gefährlich sein kann. Dass dieses seitens Heidegger nicht als Mangel erscheint, hängt womöglich damit zusammen, dass für ihn Kunst in seiner Gegenwart vor allem mit Ausstellungen in Museen assoziiert wird, in denen ihre Welt eigentlich entzogen ist, worauf Heidegger auch explizit aufmerksam macht.309 Während wir die Technik in ihrer Welt und Wirklichkeit erfahren und sie für selbstverständlich nehmen, sind die Kunstwerke in Museen zumeist auffällig ungefährlich; ihre ‚Welt‘ wird als eine unter vielen anderen ‚Welten‘ erfasst, die neben einander aufgehängt und aufgestellt sind. Die Bezüge, die vom ‚Altar‘ und der ‚Opferschale‘ gestiftet werden, sind im Museum gebrochen oder reduziert worden, und diese Werke zeigen 308 309

VA, S. 34 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 26.

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beziehungsweise verwirklichen nicht länger die Gefahr, in der zum Beispiel Menschen zugunsten der aufgedeckten Welt geopfert wurden.310 Die Welt, in der die gestifteten Bezüge den Menschen fesseln und lenken oder zu ewiger Knechtschaft verdammen konnten, ist nun in Verborgen- und Vergessenheit geraten. Im alltäglichen musealen Umgang mit den Kunstwerken können sie deswegen ungefährlich und ‚einfach schön‘ hervortreten. In Heideggers Ausarbeitung der ‚ungeheuren‘ Welt des Kunstwerks ahnen wir dagegen auch die Gefahr, die über ‚Herr- und Knechtschaft‘ einer Welt entscheidet: Sowohl die Technik als auch die Kunst können gefährlich sein. Das umfassendste Entbergungsgeschehen, das größte Wahrheitsgeschehen, das weitgreifendste Geschick und damit die ungeheuerste Gefahr und die höchste Rettung ist als die Geschichte des Seienden im Ganzen zu entbergen. Die Geschichte der einen allumfassenden Welt ist das größte Kunstwerk und verbirgt zugleich eine ungeheuer große Gefahr. Wie ist es aber überhaupt möglich, eine solche Geschichte des Seienden zu entwerfen? Was heißt es, geschichtlich zu denken, wenn wir nicht von einem bestimmten Geschick als Maß geführt werden möchten? Zunächst werden wir hier die Geschichte der modernen Technik im philosophischen geschichtlichen Sprachwerk von Heidegger studieren. Wir möchten herausfinden, wie seine Genealogie der modernen Technik zu verstehen ist. Unsere Leitthese ist es, dass seine Entfaltung der Geschichte der modernen Technik wie ein Kunstwerk der Zeit zu verstehen sei. Damit ist Heideggers Begriff des Wesens letzten Endes als das künstlerische ‚Stiften‘ der Wahrheit von Sein und Zeit zu verstehen.

310

Siehe auch Giorgio Agambens Ausführungen zur Ambivalenz des Heiligen. „Die Untersuchung des – dem Tabu angeglichenen – Banns ist von Anfang an maßgebend für die Genese der Lehre von der Doppeldeutigkeit des Heiligen: Die Doppeldeutigkeit des ersteren, das ausschließt, indem es einschließt, impliziert die Doppeldeutigkeit des letzteren.“ Agamben, Giorgio: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main, 2002, S. 86f.

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Dritter Teil

Geschichte zwischen Natur und Kunst

Erstes Kapitel

Zur Genealogie der modernen Technik A 7HYFQK vs. moderne Technik Dieser abschließende Teil der Arbeit beginnt damit, die unterschiedlichen Verständnisdimensionen der Entstehung der modernen Technik darzulegen, die Heidegger in „Die Fragen nach der Technik“ entwickelt.1 Damit soll die Grundlage einer letzten Auseinandersetzung mit dem Begriff des Gestells ausgearbeitet und schließlich der Ansatz einer Neubestimmung des Wesens der modernen Technik zum Ausdruck kommen. Zuerst möchten wir jedoch den vermeintlichen Gegensatz zwischen WHYFQK und moderner Technik wieder vor Augen bringen, den Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ zunächst zum Tragen bringt und mit dem wir uns bereits im ersten Teil der Arbeit beschäftigt haben. Damit soll der Umriss der ersten von insgesamt vier Genealogien der modernen Technik zum Vorschein kommen, die ausgehend von Heideggers Text plausibel gemacht werden können. Die antike WHYFQK wird in Heideggers Wesensanalyse als eine Weise des Hervorbringens verstanden und damit im Bereich der SRLYKVL ausgelegt. Die WHYFQK grenzt sich jedoch von der SRLYKVL der IXYVL ab, weil die SRLYKVL der WHYFQK nicht von alleine geschieht.2 Als Hervorbringung verstanden ist die WHYFQK hier zugleich eine Art Entbergung, weil sie Verborgenes in die Unverborgenheit bringt.3 Entbergung ist wiederum in Heideggers Interpretation als DMOKYTHLDzu verstehen, und in dem Sinne bezeichnet Heidegger die WHYFQK als eine Weise, in der Wahrheit geschieht. Heidegger versteht also die antike WHYFQK nicht primär im Sinne vom ‚Zeug‘ der antiken Welt, wie Opferschalen, Häuser und Schiffe, sondern als eine Weise des Entbergens.4 Daher kann Heidegger auch betonen, dass der Begriff WHYFQK mit dem Begriff der HMSLVWKYPK für die Griechen zusammengehört, denn das, was Aufschluss gibt, ist sowohl eine Art des Erkennens als auch eine Weise des Entbergens.5 Das Besondere am Entbergen der antiken WHYFQK im Vergleich mit dem der modernen Technik versucht Heidegger, anhand des Hervorbringens

1

2 3 4 5

Siehe auch Riis, Søren: „Towards the Origin of Modern Technology: Reconfiguring Martin Heidegger’s Thinking“, in Continental Philosophical Review, Illinois, (erscheint in Kürze). Vgl. VA, S. 15. Vgl. VA, S. 16 . Vgl. VA, S. 17. Vgl. VA, S. 16f.

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einer antiken Opferschale zu verdeutlichen.6 Griechisch gedacht, so Heidegger‚ ‚verschuldet‘ oder ‚verdankt‘ die Opferschale ihr Dasein vier Momenten. Zum einen ist die Opferschale dem Silber, aus dem sie hergestellt ist (derX`OK) "verschuldet". Zum anderen ist die Opferschale dem Aussehen einer Schale (dem HL?GR) verschuldet, in deren Bereich sie gehört. Drittens verdankt die Opferschale ihr Dasein dem Zweck, für den sie hergestellt ist (dem WHYOR). Der Zweck bestimmt nämlich die Schale als Opferschale, insofern sie in diesem Fall zum Opferdienst verwendet wird. Endlich ist der Silberschmied nicht bloß als derjenige gedacht, der nur aus reiner Notwendigkeit die Vorschriften oder Bestimmungen der drei bisherigen Momente ausführt. Diese drei Momente lassen nämlich einen Spielraum dafür offen, wie sie tatsächlich miteinander verbunden werden, und für diesen Spielraum ist der Silberschmied verantwortlich. Durch die Überlegungen des Silberschmieds (OHYJHLQ) als dem vierten Moment, das an der Entstehung der Opferschale beteiligt ist, werden die drei anderen Weisen des ‚Schuldens‘ gesammelt. Die antike WHYFQK ist also laut Heidegger Ausdruck eines vierfältigen Entbergens, wodurch das „noch nicht Anwesende ins Anwesen ankommt.“7 Auch die moderne Technik ist eine Weise des Entbergens, aber sie grenzt sich für Heidegger von der antiken WHYFQK ab, insofern sie das, was von ihr entborgen wird, zugleich ‚herausfordert‘.8 So bestimmt laut Heidegger das Phänomen des herausfordernden Entbergens den Ursprung der modernen Technik. Das Entbergen der modernen Technik stellt die Herausforderung an das Seiende, dass es sich als ‚Energie‘ oder ‚Vorrat‘ zeigt. So bedeutet ‚Herausfordern‘ für ihn, dass die moderne Technik das Seiende zu reiner Zweckmäßigkeit von Ressourcen bestimmt.9 Dementsprechend beschreibt Heidegger wie ein ‚Landstrich‘ von der modernen Technik für die Lieferung von Kohle herausgefordert wird und somit als Kohlenrevier entborgen wird. Auch der Rhein wird in der Mechanik des modernen Wasserkraftwerkes als bloße Energiequelle entborgen: „Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen daraufhin stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschinen umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt, für den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung bestellt sind.“10 Die verschiedenen Weisen des Entbergens der modernen Technik, die unter anderem an dieser Beschreibung des Wasserkraftwerks zum Vorschein gekommen sind – also ‚erschließen, umformen, speichern, verteilen, 6 7 8 9 10

Vgl. VA, S. 12f. VA, S. 14. Vgl. VA, S. 18. Vgl. VA, S. 19. VA, S. 19.

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umschalten‘ – können alle als Arten des ‚Stellens‘ zusammengefasst werden.11 Das ‚Erschließen‘ der modernen Technik, von dem bei Heidegger die Rede ist, ist daher auch als ein ‚Bereitstellen‘ zu fassen; die ‚Umformung‘, die in der moderne Technik geschieht, ist zugleich eine Art ‚Umstellen‘; und so ist das ‚Speichern‘ ein ‚Aufstellen‘ und das ‚Verteilen‘ ein ‚Zustellen‘, während das ‚Umschalten‘ auch als eine Art des ‚Umstellens‘ erfasst werden kann. In Heideggers Interpretation ist das, was die moderne Technik beherrscht, also nicht der einzelne Mensch, denn auch der Mensch wird von der modernen Technik herausgefordert: Seine Tätigkeit wird als ‚Arbeitskraft‘ begriffen, das heißt auch sie wird als Ressource oder Energie erschlossen. Die moderne Technik ist für Heidegger somit nicht zunächst als ein bloß menschliches Tun zu verstehen, sondern vielmehr durch die Dominanz eines besonderen Prinzips des Entbergens zu erkennen. Dieses herrschende Prinzip legt Heidegger, wie wir bereits im ersten Teil der Arbeit im Einzelnen untersucht haben, als das besondere ‚Wesen‘ der moderne Technik aus. Heidegger bezeichnet dieses Prinzip als das Ge-stell, denn damit ist die besondere Entbergungsweise der modernen Technik phänomenologisch gesehen und begrifflich gefasst. Die Vorsilbe ‚Ge‘ charakterisiert, so wie Heidegger ausführt, eine Sammlung oder einen einheitlichen Zug. Im Wort ‚Gebirge‘ wird dieser Zusammenhang auffällig: „Was die Berge ursprünglich zu Bergzügen entfaltet und sie in ihrem gefalteten Beisamen durchzieht, ist das Versammelnde, das wir Gebirg nennen.“12 Dementsprechend will Heidegger den Begriff ‚Gestell‘ nicht zunächst in seinem alltäglichen Sinn verwenden, wonach es ein Gerät bezeichnet und in Worte wie ‚Büchergestell‘ und ‚Bettgestell‘ eingeht, sondern ‚Ge-stell‘ soll als die Einheit all der verschiedenen Weisen des Stellens verstanden werden, die für die Entbergungsweise der modernen Technik kennzeichnend ist. Das ‚Wesen‘ der modernen Technik bedeutet bei Heidegger also nicht den unveränderlichen Kern, die ‚Essentia‘, der Technik selbst. Vielmehr ist der Begriff ‚Wesen‘ vom Verb ‚wesen‘ geprägt und daher von Heidegger dynamisch gedacht, nämlich als die besondere herausfordernde Entbergungsweise, die die moderne Technik durchzieht.13 Selbst wenn die moderne Technik historisch gesehen um zwei Jahrhunderte später als die modernen Naturwissenschaften, die die Natur in einem berechenbaren mathematischen Zusammenhang aufstellen, auftaucht, so ist dieses ‚Aufstellen‘ der modernen Naturwissenschaften für Heidegger ebenfalls ein Kennzeichen der Herrschaft des Gestells. Aus diesem Grund sagt 11 12 13

Vgl. VA, S. 20. VA, S. 23. Vgl. VA, S. 28.

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Heidegger: „Die neuzeitliche Physik ist der in seiner Herkunft noch unbekannte Vorbote des Ge-stells.“ Und Heidegger führt weiter aus: „Für die historische Zeitrechnung liegt der Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. Dagegen entwickelt sich die Kraftmaschinentechnik erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Allein, das für die historische Feststellung Spätere, die moderne Technik, ist hinsichtlich des in ihm waltenden Wesens das geschichtlich Frühere.“14

Heidegger behauptet dementsprechend schließlich: „Jenes, was hinsichtlich des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt.“15 Gerade diese Betrachtung Heideggers, die für die Herrschaft des Gestells über die neuzeitlichen Naturwissenschaften entscheidend ist, bringt jedoch seine geschichtliche Reflexion der modernen Technik ins Wanken. Wir werden nun versuchen aufzudecken, was sich in dieser Betrachtung Heideggers für interpretatorische Möglichkeiten ergeben.

B Zur Geschichte der Metaphysik Heidegger erzählt gleichzeitig auch eine andere Geschichte, die sowohl Antike als auch Moderne umfasst. Statt diese zwei Epochen voneinander zu trennen und die Moderne für sich zu betrachten, ordnet Heidegger in dieser Geschichte den beiden Zeiträumen dieselbe übergeordnete ‚Epoche‘ zu. Für diese Heideggersche Interpretation der Geschichte ist es wichtig, ihren wesentlichen Zusammenhang mit seinem philosophischen Ansatz zu verstehen. So möchten wir zunächst einen ersten Einblick geben: „Eine Besinnung auf das Heutige trägt immer zu kurz. Wesentlich ist die auf den Anfang, der sein Ende vorzeichnend auch und das ‚Heutige‘ als Auslauf des Endes noch einbezieht, und dies so, daß vom Anfang her erst das Heutige seinsgeschichtlich offenbar wird.“16 Die umfassende Epoche, die sowohl die Antike als auch die Moderne einschließt und somit laut Heidegger zugleich eine Besinnung auf den Anfang und das Ende artikuliert, bezeichnet er als die ‚Geschichte der Metaphysik‘ oder die ‚Geschichte des ersten Anfangs‘. Er charakterisiert diese Epoche durch die ‚machenschaftliche Auslegung des Seienden‘ und gibt damit einen einheitlichen Zug des ‚abendländischen Denkens‘ zu erkennen, der uns später ausführlicher beschäftigen wird.17 „Das 14 15 16 17

VA, S. 26. VA, S. 26. GA 65, S. 44. Vgl. GA 65, S. 132ff und PA S. 40ff. Heideggers Verständnis des Zeit-Raums der Metaphysik, der sowohl die Antike als auch die Moderne umfasst, interpretiert Günter Figal in dessen Einheitlichkeit am Begriff einer ‚gigantischen Zwischenzeit‘. Damit ist gemeint, dass sowohl die Antike als auch die Moderne eines Ursprungs sind und

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Heraufkommen des machenschaftlichen Wesens des Seienden ist geschichtlich sehr schwer zu fassen, weil es im Grunde seit dem Anfang des abendländischen Denkens (genauer seit dem Einsturz der DMOKYTHLD) sich in die Auswirkung setzt.“18 In dieser Geschichte Heideggers gibt es also keinen Bruch zwischen Antike und Moderne, sie sind beide Momente derselben einheitlichen Geschichte, die laut Heidegger ‚Anaximander mit Nietzsche‘ verbindet.19 Wichtig dabei ist zu verstehen, dass Heidegger die Moderne als die Vollendung der Geschichte der Metaphysik auslegt, deren Anfang er in der Antike lokalisiert.20 Nur dadurch können wir das Wesen dieser Epoche begreifen und somit die besondere Weise verstehen, wie das Seiende in diesem Zeitraum zum Vorschein gebracht worden ist. Während Heideggers Erörterung von WHYFQK und Technik in „Die Frage nach der Technik“ unmittelbar eine geschichtliche und systematische Zäsur plausibel zu machen sucht, spielt sich also Heideggers Geschichte der Metaphysik im selben

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nicht aus sich heraus einen anderen Anfang setzen und die Metaphysik überwinden können. (Vgl. Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 146ff). So schreibt Figal über Heideggers Gegenwartskritik: „Die Gegenwart ist keine ‚neue‘ Zeit, in der ein Bruch mit dem Alten vollzogen wird, sondern durch die Dichtung kann die Gegenwart anders gesehen werden; sie gehört in den Zusammenhang unverfügbarer Gewesenheit und Zukunft.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 147). Zum Verständnis der Einheitlichkeit dieser Epoche vgl. auch: Angehrn, Emil: „Kritik der Metaphysik und Technik: Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition“, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, S. 268-279, hier S. 268ff. GA 65, S. 132. An dieser Stelle ergänzt Heidegger: „Beide Namen [Machenschaft und Erlebnis] nennen die Geschichte der Wahrheit und der Seiendheit als die Geschichte des ersten Anfangs. Was meint Machenschaft? Das in die eigenen Fesselung Losgelassene. Welche Fesseln? Das Schema der durchgängigen berechenbaren Erklärbarkeit, wodurch jegliches mit jedem gleichmäßig zusammenrückt und sich vollends fremd, ja ganz anders als noch fremd wird. Der Bezug der Unbezüglichkeit.“ (GA 65, S. 132). Vgl. WM, S. 369. Uns interessiert nicht, ob Heidegger in dieser Annahme recht hat, sondern wie er diese Einheit versteht. Dass Heideggers allgemeine Charakterisierung der Metaphysik als Vor- und Feststellung des Seienden zutreffend ist, findet auch in der Metaphysikforschung Bestätigung, wie zum Beispiel in der Passage: „Die Einsicht, daß die universale Wandelbarkeit jede sichere Erkenntnis verunmöglicht, tangiert, noch vor der Möglichkeit allgemeiner Gesetzesaussagen, die Möglichkeit der eindeutigen Bezugnahme überhaupt. Der Gegenstandsbezug als solcher wird fließend, gleichsam haltlos, wenn nicht im intentionalen Relat ein fester, beharrlicher Kern unterstellt ist. Zum tragen kommt die Grundüberzeugung, die auch die weitere Ausarbeitung des metaphysischen Gedankens leitet: daß sicheres Wissen nur von einem in sich bestimmten, mit sich identischen, beharrlichen möglich sei. Die Hypothese des HL?GR dient dieser Identifizierung und ist darin Grundlage allen rationalen Denkens und Argumentierens.“ (Angehrn, Emil: Der Weg zur Metaphysik, Göttingen 2000, S. 207f). Vgl. auch: Zenklusen, Stefan: Seinsgeschichte und Technik bei Martin Heidegger: Begriffsklärung und Problematisierung, Marburg 2002, S. 45ff.

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Zeitraum ab, aber darin wird die abendländische Geschichte von einem einzigen Ausgangspunkt aus erzählt. Unsere Leitthese ist daher, dass ‚die Geschichte der Metaphysik‘ und Heideggers Begriffe der ‚Machenschaft‘ das systematische Bindeglied bilden, das es ermöglicht, den Zusammenhang des Wesens der WHYFQK und mit dem Wesen der modernen Technik zu erkennen. Entlang der Geschichte der Metaphysik soll daher gezeigt werden, dass das Wesen der modernen Technik und damit auch die moderne Technik selbst die Entfaltung des Wesens der antiken WHYFQK sei. Diese Überlegungen zur Metaphysik möchten wir aber vorerst nur erwähnen, damit der übergeordnete Zusammenhang der einzelnen nachfolgenden Interpretationen deutlicher wird. Zuerst werden wir uns wieder an „Die Frage nach der Technik“ wenden, um von hier aus den Anschluss an diese Überlegungen zu entfalten.21 Analysieren wir einige Passagen aus dem Technikaufsatz, finden wir deutliche Hinweise dafür, die unmittelbare Trennung von antiker WHYFQK und moderner Technik in Frage zu stellen. Unseres Erachtens gibt es im Technikaufsatz Ansätze zu einer zweiten Genealogie der modernen Technik. Für die Entwicklung dieser Genealogie, ist es zunächst entscheidend, dass 21

Um die Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Technik bei Heidegger zu verstehen, vgl. auch: „Aufzuhellen ist, wieweit es sich bei der Kritik der Metaphysik und der Technik überhaupt um eine einheitliche, zusammenhängende Problemstellung handelt. Zu fragen ist nach den Kriterien der Kritik ebenso wie nach der Möglichkeit, eine Alternative zum Kritisierten zu konzipieren, hinter die kritisierte Gestalt des Denkens und Handelns zurück-, über sie hinauszudenken. Auf den ersten Blick scheint die Einheitlichkeit der Frage weder in systematischer noch in historischer Sicht gegeben. Nach gängigem Verständnis nennen Metaphysik und Technik Kristallisationspunkte unseres theoretischen und praktischen Weltbezugs: einerseits die Suche nach letzten Gründen der Dinge und Prinzipien des Verstehens, andererseits eine vorherrschende Haltung unseres praktischen Umgangs mit der Welt. Metaphysik hat mit dem Immergleichen, technisches Handeln mit dem Veränderlichen zu tun. Ebenso scheinen sich die durch beide Leitbegriff angezeigten Zeiträume allenfalls partiell zu decken: Gilt Metaphysik als eine Denkfigur antiker und klassischer Philosophie, welche in der Moderne in Krise gerät, so bezeichnet Technik vornehmlich eine neuzeitliche Gestalt der Praxis. Im Gegenzug zu dieser Einschätzung gehört es zur Pointe der Heideggerschen Erörterung, beide Divergenzen in gewisser Weise zu unterlaufen und die Zusammengehörigkeit der Fragen nach beiden Hinsichten aufzuweisen.“ (Angehrn, Emil: „Kritik der Metaphysik und Technik: Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition“, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, S. 268-279, hier S. 268; kursiviert vom Autor). In dieser Passage und den darauf folgenden Seiten seines Aufsatzes entfaltet Angehrn sehr schlüssig, inwiefern Heideggers Kritik der Metaphysik mit seiner Kritik der Technik zusammengehört. Berücksichtigt in dieser Analyse Angehrns ist jedoch nicht die Entwicklung des Begriffs der WHYFQK und dessen Bezug zur modernen Technik. In Angehrns grundsätzlicher Interpretation, die nicht zuzletzt doch auch auf die Technik zu sprechen kommt, sehen wir jedoch eine Bestätigung der hier entwickelten Interpreta tion.

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Heidegger die moderne Technik von ihrem Wesen her zu bestimmen bestrebt ist. Das Wesen der modernen Technik geht in Heideggers Interpretation nämlich der modernen Technik selbst voraus und bleibt den Menschen bis heute verborgen. In „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Für die historische Zeitrechnung liegt der Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. Dagegen entwickelt sich die Kraftmaschinentechnik erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Allein, das für die historische Feststellung Spätere, die moderne Technik, ist hinsichtlich des in ihm waltenden Wesens das geschichtlich Frühere.“22 Und er ergänzt: „Das Wesen der modernen Technik verbirgt sich auf lange Zeit auch dort noch, wo bereits Kraftmaschinen erfunden, die Elektrotechnik auf die Bahn und die Atomtechnik in Gang gesetzt sind.“23 Können wir also zeigen, dass das Wesen der modernen Technik schon in der antiken WHYFQK anfing zu ‚walten‘, dann müssten wir auch die unmittelbare Unterscheidung von WHYFQK und moderner Technik als vordergründig auslegen, und sie dementsprechend auf eine einheitliche Geschichte hin relativieren. Die These unserer Interpretation lautet, dass das Gestell in der Tat schon in der antiken WHYFQK im Heideggerschen Sinne ‚gewaltet‘ hat. Zu unserer Interpretation gehört es schließlich auch zu zeigen, dass das ‚Wesen der modernen Technik‘ aus dem ‚Wesen der Metaphysik‘ einsichtig gemacht werden kann. Damit soll der einheitliche Charakter der Epoche des Seins in einer doppelten Perspektive beleuchtet werden, und somit die Einheit der antiken und modernen Technik hervorgehoben werden. Aus den angeführten Zitaten und den bisherigen Untersuchungen geht hervor, dass es in Heideggers ‚Frage‘ nach der Technik nicht direkt um die moderne Technik geht, sondern vielmehr um ihr Wesen. Sowohl die ‚Kraftmaschinentechnik‘ als auch das ‚Wasserkraftwerk‘ sind mit Heideggers Interpretation als bloße Folgeerscheinungen zu verstehen. In ihnen ‚waltet‘ zwar das Wesen der modernen Technik, aber das Gestell ist nicht erst mit der Kraftmaschinentechnik entstanden und also auch nicht erst seit der Konstruktion des modernen Wasserkraftwerks am Werk, sondern diese Technik wird erst durch das Wesen der modernen Technik überhaupt ermöglicht. Wenn wir also den Ursprung der modernen Technik verstehen möchten, dürfen wir uns nach Heidegger nicht von der modernen Technik selbst blenden lassen. Deswegen ist es wichtig an einer Einsicht aus „Der Ursprung des Kunstwerkes“ festzuhalten, wo Heidegger sagt: „Der Ursprung von etwas ist die Herkunft seines Wesens.“24 Und aus dieser Gleichsetzung möchten wir nun diese Herkunft und Entwicklung des Gestells verstehen, um 22 23 24

VA, S. 26, (gesperrt S.R.). VA, S. 26f. Holzw, S. 1.

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festhalten zu können: Die Herkunft des Gestells ist der Ursprung der modernen Technik. Das heißt umgekehrt: Solange es das Gestell gegeben hat, gab es im Wesentlichen die ‚moderne‘ Technik. Geschichtlich betrachtet, und das heißt vom Ursprung her, gibt es also keinen Unterschied zwischen dem Anfang der modernen Technik und dem des Gestells. Aus diesem Verständnis heraus, möchten wir diese Geschichte entwickeln, die wir als die Genealogie der modernen Technik bezeichnen können. Die Herkunft des Gestells geht laut Heidegger dem Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert und damit auch der Arbeit von Galilei und Descartes voraus.25 Derjenige, der sich nur an modernen Erscheinungen der Technik orientiert, sieht nicht, dass die Herrschaft des Gestells auch der neuzeitlichen Naturwissenschaft vorausgeht und sie umfasst. Diese Behauptung Heideggers gibt einen ‚Anstoß‘, die Genealogie der modernen Technik auf einen vor-modernen Ursprung hin zu relativieren, doch dieser Ursprung bleibt zunächst verborgen. Um jedoch das Wesen der modernen Technik nicht nur vorläufig zu begreifen, soll versucht werden, den Ursprung der modernen Technik aufzudecken. Diese Untersuchung vollzieht sich also letztendlich im Sinne Heideggers, denn er selbst fordert zu dieser Analyse auf, wenn er sagt: „Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“26 Dementsprechend möchten wir also fragen: Wie ist die ‚anfängliche Frühe‘ des Wesens der modernen Technik zu verstehen? Um das Wesen der modernen Technik anfänglich zu denken, müssen wir die Weise der Entbergung des Seins untersuchen, die auch der neuzeitlichen Naturwissenschaften zugrunde liegt, die also gemäß Heidegger bereits vor 1600 ‚gewaltet‘ haben muss.27 Das Wesen der modernen Technik hat in Heideggers Interpretation daher auch schon, wenn auch nicht deutlich erkennbar, in der Renaissance und zu Martin Luthers Zeiten ‚gewaltet‘.28 Alleine 25 26

27 28

Vgl. S. 26. VA, S. 26. Vgl. auch: „Der echte Anfang ist als Sprung immer ein Vorsprung, in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein Verhülltes.“ (Holzw, S. 64). Vgl. VA, S. 26. Oswald Spengler macht bereits vor Heidegger auf Gedanken und Phänomene aufmerksam, die das Wesen der modernen Technik im Sinne Heideggers erkennen lassen, wie auch auf die Tatsache ihrer Vorgängigkeit zur Moderne: „Eine Arbeitshypothese braucht nicht, ‚richtig‘, sie muß nur praktisch brauchbar sein. Sie will die Geheimnisse der Welt rings um uns her nicht enthüllen, sondern bestimmte Zwecken dienstbar machen. Deshalb die Forderung der mathematischen Methode, die von den Engländern Grosseteste (geb. 1175) und Roger Bacon (geb. um 1210), den

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durch dieses vorläufige Verständnis des Gestells, müssen wir also sein ‚Walten‘ phänomenologisch auch ganz anders als nur im Bezug auf solche technische Geräte wie Wasserkraftwerke, Dampfturbinen und Zyklotronen, verständlich machen können – das heißt auch anders als Heidegger es in „Die Frage nach der Technik“ selbst versucht.29 Welche einschneidenden technischen Errungenschaften gab es also vor 1600, worin das ‚Walten‘ des Gestells zu erkennen wäre? Als erstes Ergebnis können wir bereits festhalten: Wenn Heidegger einen Bruch zum Übergang des ‚Waltens des Wesens der modernen Technik‘ rechtfertigt, dann hat dies also mit Vorgängen zu tun, die der Moderne vorausgehen oder zumindest wie ausgeführt, ihren Anfang unabhängig von den konkreten modernen technischen Geräten bestimmt. Mit anderen Worten: In Heideggers Wesensanalyse der modernen Technik wird eingeräumt, dass die Moderne unter einem Gesichtspunkt betrachtet wird, wie sie hinsichtlich der ‚Entbergung des Seins‘ einem vorausgehenden Zeitraum zugehört. Hier soll deswegen ausdrücklich in einem weiteren Kontext gefragt werden: Wie ist dann das Gestell zu verstehen, und zwar sowohl unabhängig vom gängigen Verständnis der modernen Technik als auch vor ihr – also vor dem ‚Erschließen, Umformen, Speichern, Verteilen, Umschalten‘ des modernen Wasserkraftwerk-Stromsystems? Worin ist das einfache, anfängliche ‚Walten des Gestells‘ phänomenologisch zu sehen? Und was ist das Wesen der WHYFQK? Zunächst erstaunt es nämlich, dass Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ versucht, das Wesen der modernen Technik zu bestimmen, ohne jedoch ein einziges Mal über das ‚Wesen der antiken WHYFQK‘ zu sprechen. Heidegger schreibt zwar über die antike WHYFQK, aber er versucht in diesem Text nicht ihr Wesen zu bestimmen. Damit hätte er zwar seine Differenzierung der antiken und modernen Technik verständlicher machen können, trotzdem verzichtet er darauf – aber aus welchem Grund? Um einen wieteren Schritt unserer Untersuchung zu nehmen und damit zu beginnen, eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der WHYFQK zu geben, ist es hilfreich, sich wieder vor Augen zu bringen, was ‚Wesen‘ für Heidegger bedeutet. Das Wesen der modernen Technik entfaltet Heidegger nämlich anhand der Art und Weise, wie das Seiende entborgen wird: „Das Entbergen, das die

29

Deutschen Albertus Magnus (geb. 1193) und Witelo (geb. 1220) erhoben wurde. Deshalb das Experiment, Bacons scientia experimentalis, die Befragung der Natur mit Folter, mit Hebeln und Schrauben“ (Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S.67). Vgl. auch den Technikhistoriker Lynn White: „By A.D. 1000 at the latest – and perhaps, feebly, as much as 200 years earlier – the West began to apply water power to industrial processes other than milling grain. This was followed in the late 12th century by the harnessing of wind power.“ White, Lynn: “The Historical Roots of Our Ecological Crisis”, in Science 155, 1967, S. 1203-1207. Vgl. VA, S 19ff.

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moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne der Herausforderung.“30 Um den einheitlichen Zug des Stellens dieser Entbergungsweise zu bezeichnen, verwendet Heidegger den Begriff des Gestells.31 In diesem Sinne ist das Gestell laut Heidegger als das Wesen der modernen Technik zu verstehen. Um von dieser Bestimmung des Wesens aus zu einer Bestimmung des Wesens der antiken WHYFQK zu kommen, ziehen wir noch eine weitere Passage hinzu: „Die DMUFKY der Gemächte ist die WHYFQK; das besagt nicht ‚Technik‘ im Sinne der Herstellung und Herstellungsweise, besagt auch nicht ‚Kunst‘ im weiteren Sinne des Herstellen-Könnens; sondern WHYFQK ist ein Erkenntnisbegriff und besagt das Sichauskennen in dem, worauf jede Anfertigung und Herstellung gründet; das Sichauskennen in dem, wobei eine Herstellung, z.B. die des Bettgestells, ankommen und sich beenden und vollendenden muss. Dieses Ende heißt griechisch WHYOR.“32

Dabei sollten wir uns auch noch daran erinnern, was Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ sagt: „Das Wort WHYFQK geht von früh an bis in die Zeit Platons mit dem Wort HMSLVWKYPK zusammen. Beide Worte sind Namen für das Erkennen im weitesten Sinne. Sie meinen das Sichauskennen in etwas, das Sichverstehen auf etwas. Das Erkennen gibt Aufschluß. Als aufschließendes ist es ein Entbergen.“33 Die genauere Leitfrage, anhand der wir das Wesen der WHYFQK bestimmen können ist also: Wie gibt die Erkenntnis der antiken WHYFQK Aufschluss – wie entbirgt sie das Seiende? Am Beispiel der Herstellung eines Tisches und eines Bettgestells beantwortet Heidegger diese Frage implizit in „Vom Wesen und Begriff der IXYVL“ und gibt zugleich explizit ein vorläufiges Verständnis vom Wesen der WHYFQK. „Das, wobei eine Herstellung ‚aufhört‘, ist der Tisch als fertiger, aber der fertige eben als Tisch, als das, was ein Tisch ist, wie er aussieht. Der HL?GR muss im voraus im Blick stehen, und dieses vorweg erblickte Aussehen – HL?GRSURDLUHWRYQ ist das Ende WHYOR, worin die WHYFQK sich auskennt; deshalb erst wird sie zugleich zur Bestimmung der Art und Weise des Vorgehens der von uns so genannten ‚Technik‘. Aber wiederum: nicht die Bewegung der Handgriffe als Tätigkeit, sondern d as S ic hau sk enne n im Ve r fah ren ist das Wesen der WHYFQK; und WHYOR ist nicht Ziel und nicht Zweck, sondern Ende im Sinne der wesensbestimmenden Vollendetheit; erst deshalb kann es als Ziel genommen und zum Zweck gesetzt werden. Das WHYOR aber, das vorauserblickte Aussehen des Bettgestells ist das vom Sichauskennenden Erkannte und steht bei diesem; u n d nur a l s e i n so lc h e s i s t e s d e r Au s -

30 31 32 33

VA, S. 20. Vgl. VA, S. 23. WM, S. 251. VA, S. 16f.

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g a n g für d as V or s t e l le n u nd die Ver f ü gu n g ü b e r d as Ve r fe r t i g e n .“34

Zusammengefasst bedeutet dies, dass das Wesen der antiken WHYFQK in der Kenntnis eines ‚Verfahrens‘, das im Vorstellen des HL?GR das Seiende um dessen Willen verfertigt. Die WHYFQK ist die Verfügung über die Herstellung des Seienden in Gestalt des HL?GR. Die WHYFQK besteht also im methodischen Verfügbarmachen dessen, was von sich aus dem HL?GR sich nicht fügt. Die WHYFQK vermag somit das Seiende gehorsam zu machen und als solche ist sie ein herrschaftliches Wissen. Heidegger sagt: „$MUFKY“ [der herrschende Anfang] ist nicht das HL?GR an sich, sondern das HL?GRSURDLUHWRYQ, d.h. die SURDLUHWRYQ, d.h. die WHYFQK ist DMUFKY.“35 Mit anderen Worten ist die WHYFQK die absichtliche Verfügung über das Seiende gemäß des HL?GR ist. „Sie [die WHYFQK] entbirgt solches, was sich nicht selber her-vor-bringt und noch nicht vorliegt.“36 Weil es zum Wesen der antiken WHYFQK gehört, solches zu entbergen, was von selber nicht geschieht, ist auch das Wesen der WHYFQK als ein herausforderndes Entbergen zu verstehen. Denn etwas herauszufordern, bedeutet ja gerade, etwas herauszustellen oder in einer Art und Weise zum Vorschein bringen, wie es von sich aus nicht geschehen würde. In unserer Interpretation der antiken WHYFQK ist es also entscheidend zu bemerken, dass sie unter anderem das ‚Ansinnen‘ an die ‚Natur‘ stellt, Tische und Bettgestelle zu liefern. Diese Herausforderung zeigt zugleich Verwandtschaft aber scheinbar auch unmittelbare Divergenzen zum herausfordernden Entbergen der Natur durch das Gestell: „Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern.“37 Sowohl das Wesen der antiken WHYFQK als auch das der modernen Technik fordern das Seiende heraus. Aus dieser Wesensgemeinsamkeit heraus ist zu fragen, ob ein wesentlicher Unterschied darin zu sehen ist, dass die moderne Technik von der Natur Energie fordert, während die der Antike unter anderem bloß Tische und Bettgestelle fordert. Diese Frage kann mit Nein beantwortet werden, denn mit ‚Energie‘ ist nicht zunächst Elektrizität gemeint, sondern ‚Vorrat‘. Dass die modernen Technik nicht nur das Ansinnen an die Natur stellt, ‚Energie‘ im engen Sinne zu liefern, ist auch daran zu erkennen, dass die moderne Technik natürlich auch Tische und Bettgestelle liefern kann. Der entscheidende Punkt, der das Wesen der antiken und der modernen Technik verbindet, ist die Konzeption des Seienden, die in den zwei Entbergungsweisen zum Vorschein kommt. Außerdem ist das herausfordernde Entbergen des Gestells laut Heidegger bereits vor 1600 ins Werk gesetzt und somit vor der Verwendung der Ener34 35 36 37

WM, S 251 (gesperrt S.R.). WM, S. 252 (gesperrt S.R.). VA, S. 17 . VA, S. 18 (kursiviert S.R.).

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gie als Elektrizität im 19. Jahrhundert.38 Die Herausforderung des Wesens der modernen Technik an die Natur, Energie zu liefern, ist im Sinne Heideggers vielmehr als eine Herausforderung zu verstehen, in der das Seiende als Bestand zum Vorschein kommt. Und hinsichtlich dieses Wesenszuges gehören antike WHYFQK und moderne Technik zusammen. So gab es auch in der Antike eine WHYFQK des Forstens, die darauf abzielte, bestmögliches Bauholz für Häuser und Schiffe und Brennholz zum Heizen zu liefern – und was das Brennholz betrifft, so wurden im Sommer und Herbst Bäume geforstet, damit das Holz für den Winter gespeichert und als Bestand gesichert war und letztendlich für das Wohl der Menschen in Flammen aufgehen konnte.39 Später werden wir schließlich noch sehen, wie das Silber für die Silberschale in Heideggers eigenem Beispiel hergestellt wurde. Schon früh hat Heidegger auch darauf aufmerksam gemacht, dass das Seiende in der Philosophie Aristoteles‘ als hergestelltes und somit verfügbares Seiendes interpretiert wurde. Diese Interpretation Heideggers ist in einer lange Zeit verschollenen frühen Schrift zu finden.40 Die darin entwickelte Interpretation war also Jahre lang für Heideggerforscher nicht zugänglich und wurde deswegen auch nicht im Zusammenhang mit „Die Frage nach der Technik“ gelesen. Diese Schrift enthält eine Kritik der Aristotelischen und antiken Philosophie überhaupt, die von Heidegger später nicht widerrufen, sondern in verschiedener Weise verstärkt wird. Die Entbergungsweise der WHYFQK, das heißt ihr Wesen, die in diesem Text in Bezug auf Aristoteles entwickelt wird, zeigt erstaunliche Merkmale mit der herausfordernden Entbergungsweise des Seienden durch das Gestell. Ohne Heideggers frühe Aristotelesinterpretation vollständig nachzugehen, können wir in den zwei folgenden Zitaten Wesenszüge der antiken Entbergung des Seienden erkennen, aus denen das einheitliche Wesen der WHYFQK und der modernen Technik von Heidegger aus deutlicher wird. Sowohl das Wesen der antiken als auch der modernen Technik zielt darauf ab, das Seiende verfügbar zu machen. Im Bezug auf Aristoteles’ Philosophie schreibt Heidegger: „Das Gegenstandsfeld, das den ursprünglichen Seinssinn hergibt, ist das der hergestellten, umgänglich in Gebrauch genommenen Gegenstände. Nicht also das Seinsfeld der Dinge als einer theoretisch sachhaft erfassten Gegenstandsart, sondern die begegnende Welt im herstellenden, verrichtenden und gebrauchten Umgang ist das Worauf, auf das die ursprüngliche Seinserfahrung abzielt. Das in der Umgangsbewegtheit des Herstellens (SRLYKVL

38

39 40

Vgl. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft, in 2 Bänden, Köln 2004. Siehe auch WM, S. 274. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: „Heideggers ‚theologische‘ Jugenschrift“, in: Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 76-86, hier S. 88f.

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Fertiggewordene, zu seinem für die Gebrauchstendenz verfügbaren Vorhandensein Gekommenen, ist das, was ist.“41

Das vom Wesen der antiken WHYFQK entborgenen Seiende ist laut Heidegger dasjenige, was für den Gebrauch zu Verfügung steht, und dies ist auch der Sinn vom ‚Bestand‘, woraufhin das Gestell das Seiende aufdeckt. Dementsprechend kann Heidegger weiter über das antike und vom Wesen der WHYFQK gedachte Sein ausführen: „2XVLYD hat aber die ursprüngliche, bei Aristoteles selbst noch und auch späterhin wirksame Bedeutung des Hausstandes, Besitzstandes, des umweltlich zu Gebrauch Verfügbaren.“42 In diesem Sinne deckt der antike Mensch nach dieser Aristotelesinterpretation auch das Seiende als Bestand, beziehungsweise ‚verfügbaren Besitzstand‘ auf. Weil das Seiende in der Antike als ‚verfügbarer Besitzstand‘ aufgedeckt wurde, droht es auch dem antiken Menschen, ‚das Seiende, sich selbst und die Wahrheit‘ misszuverstehen.43 Denn als ‚verfügbarer Besitzstand‘ beziehungsweise ‚Bestand‘ droht es dem Menschen, was Heidegger als die Gefahr des Wesens der modernen Technik bestimmt hat: die Möglichkeit zu verschließen „dass der Mensch eher und mehr und stets anfänglicher auf das Wesen des Unverborgenen und seine Unverborgenheit sich einlässt, um die gebrauchte Zugehörigkeit zum Entbergen als sein Wesen zu erfahren.“44 Wenn sich das Seiende als ‚verfügbarer Besitzstand‘ zeigt, also nicht einmal als ‚Gegen-stand‘, wie Heidegger sagt, dann steht der antike sowie der moderne Mensch im Sinne Heideggers nahe am Abgrund.45 Besonders dann, wenn der Mensch denkt, dass das Seiende in seinem ‚Besitz‘ wäre.46 In „Die Frage nach der Technik“ beschreibt Heidegger die Gefahr des Gestells in einer Art und Weise, so dass wir erkennen können, dass es schon in der Antike den Menschen gedroht hat. Die Gefahr des Gestells besteht laut Heidegger nämlich darin, dass „das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht.“47 Auch der antike Mensch, der das Seiende als ‚verfügbarer Besitzstand‘ versteht, glaubt Herr und Besitzer des Seienden zu sein und ist daher derselben Gefahr wie der moderne Mensch ausgesetzt: Sich selbst und das Seiende in Wahrheit nicht zu verstehen. Bereits in der Antike ist das Seiende, dies in Heideggers Interpretation, dem jeweiligen Menschen im Voraus anhand des Paradigmas 41

42

43 44 45 46 47

Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 41f (kursiviert S.R.). Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main 2002, S. 41f (kursiviert S.R.). Siehe VA, 29 f. VA, S. 29f. Vgl. VA, S. 30. Vgl. VA, S. 30f. VA, S. 30 Mit Heideggers Interpretation vom Begriff ‚Gegenstand‘ werden wir uns später ausführlicher beschäftigen.

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der Herstellung entborgen. Der in diese Unverborgenheit des Seienden gestellte antike Mensch ist also vormals vom Wesen der antiken WHYFQK in einer bestimmten Weise angegangen und so herausgefordert, dass er auch das Seiende nach dem Wesen der WHYFQK weiterhin entbergen und in diesem Sinne den ‚Besitzstand‘ vermehren wird. Das Entbergen der WHYFQK ist auch nicht bloß als ein ‚menschliches Tun‘ zu verstehen. Das Wesen der antiken und modernen Technik fordert gleichermaßen und in gleicher Weise den Menschen heraus, das Seiende als ‚Besitzstand‘ zu verstehen. Aus diesen Überlegungen ergeben sich wieder keine Differenz zwischen dem Wesen der antiken und der modernen Technik, sondern vielmehr ein weiterer Zusammenhang. Wenn wir erneut im Technikaufsatz lesen, können wir deswegen auch die Herausforderung des Menschen vom Wesen der antiken WHYFQK heraus hören: „Wer vollzieht das herausfordernde Stellen, wodurch das, was man das Wirkliche nennt, als Bestand entborgen wird? […] Nur insofern der Mensch seinerseits schon herausgefordert ist, die Naturenergien herauszufördern, kann dieses bestellende Entbergen geschehen. […] So ist denn die moderne Technik als das bestellende Entbergen kein bloß menschliches Tun. Darum müssen wir auch jenes Herausfordern, das den Menschen stellt, das Wirkliche als Bestand zu bestellen, so nehmen, wie es sich zeigt.“48

Sowohl für den antiken Menschen, dem das Seiende als ‚verfügbarer Besitzstand‘ entborgen ist, als auch für den modernen Menschen, der das Seiende als ‚Bestand‘ behandelt, bleibt das Wesen der Wahrheit verborgen. Das Seiende zeigt sich bereits herausgefordert, sich zur Verfügung zu stellen, und in diesem Sinne gehört laut unserer Interpretation das, was Heidegger als die Entbergungsweise des Wesens der modernen Technik beschreibt, auch zum Wesen der antiken WHYFQK. Vor diesem Hintergrund kann eine andere entscheidende Gemeinsamkeit der antiken und der modernen Technik offen gelegt werden, und dadurch die einheitliche Gefahr ihres Wesens verdeutlichen. Um den nachstehenden Gedankengang besser verstehen zu können, ist es wichtig zu bemerken, dass die dadurch gezeigte Gemeinsamkeit zugleich grundlegende Schwierigkeiten der Heideggerschen Interpretation der Wahrheit bereitet. Die daraus folgenden Schwierigkeiten weisen unseres Erachtens nicht Mängel der hier entfalteten These auf, sondern zeigen eine Begrenzung der Heideggerschen Interpretation der WHYFQK. Heidegger versteht die WHYFQK als eine Weise des DMOKTHXYHLQ.49 Für ihn ist die WHYFQK eine Weise, in der Wahrheit geschieht, weil sie das Seiende entbirgt. Diese Feststellung dient Heidegger sowohl als Grundlage seiner gan48 49

VA, S. 21ff. Vgl. VA, S. 17.

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zen Interpretation der WHYFQK und des Wesens der modernen Technik als auch für sein Verständnis des ‚Rettenden‘ in „Die Frage nach der Technik“. Unsere kritische Frage an Heideggers Interpretation lautet: Ist die WHYFQK wirklich eine Weise, in der Wahrheit geschieht – in der das Verborgene ins Unverborgene kommt? Die antike WHYFQK versteht Heidegger als ein Verfahren, wodurch das Seiende in Gestalt des ‚HL?GR‘ zum Vorschein gebracht wird. Die antike WHYFQK ist laut Heidegger die absichtliche Her-Stellung des ‚HL?GR‘. Aber um derart Herstellung zu ermöglichen, muss das HL?GR dem Handwerker im Voraus ‚unverborgen‘ sein, ansonsten würden seine geschickten Handgriffe gar nicht erst zum Einsatz kommen können. Wäre das HL?GR dem Handwerker verborgen, dann wäre er impotent, und er könnte nichts herstellen. Oder anders gewendet: Zu einem Handwerker wäre es sinnlos zu sagen, ‚stell etwas her!‘, denn dies gehört nicht zu seiner WHYFQK. „Das HL?GR muss [dem Handwerker] im voraus im Blick stehen.“50 Worin besteht also das Wahrheitsgeschehen der WHYFQK? Damit der Handwerker einen Tisch herstellen kann, orientiert er sich am HL?GR des Tisches, und dementsprechend muss man auch sein Werk beurteilen. Hat der Handwerker zum Beispiel einen Tisch mit nur einem Bein hergestellt, der nicht aufrecht stehen kann, dann ist es kein ‚richtiger‘ Tisch, und er ist also ein schlechter Handwerker. Malt jedoch ein Künstler zum Beispiel einen Tisch mit nur einem Bein, dann kann er durchaus immer noch ein guter Künstler und sein Werk ein gelungenes Kunstwerk sein.51 Dieser Unter50

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WM, S. 251. Mit anderen Worten ist es ein Paradox oder eine Tautologie, wenn ‚Wahrheit‘ als Entbergung gedacht mit der faktischen Herstellung gleichgesetzt wird. Entbergung ergibt nur einen Sinn, wenn es ein vorausgegebenes verborgenes Potential gibt, das als Potential schon hätte aufgedeckt werden müssen. Damit entsteht ein infiniter Regress. Mit anderen Worten, Heidegger schreibt: „Die vier Weisen des Verschuldens bringen etwas ins Erscheinen. Sie lasses es in das An-wesen vorkommen. Sie lassen es dahin los und lassen es so an, nämlich in seine vollendete Ankunft.“ (VA, S. 14, kursiviert S.R.). Aber was ist dieses „es“ bevor es in der vollendeten Ankunft losgelassen wird? Von Ankunft zu sprechen ergibt nur einen Sinn, wenn es im Voraus ein Ziel gibt – also muss es vor der Herbringung zum Beispiel so etwas wie Intentionalität geben. Heidegger muss deswegen sein Begriff der DMOKYTHLD entweder relativieren oder ganz aufgeben. Anders gewendet: wenn die antike WHYFQK eine Beispiel vom DMOKYTHLD ist, und damit auch die Herstellung von einem Tisch, dann würde es bedeuten, dass diese Art von ‚Herstellung‘ ohne Absicht verläuft, was wiederum einem antiken Handwerker absurd erschienen wäre. Diesen Unterschied zwischen Handwerk und Kunst scheint Hans-Georg Gadamer in seinem Verständnis der bildenden Kunst ebenfalls nicht berücksichtigt zu haben, wenn er ein Gemälde in Bezug auf ein ‚Urbild‘ erörtert und versteht. Damit wird das Gemälde nämlich grundsätzlich als eine Art Reproduktion verstanden. (Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke, Band 1, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 142ff) Vgl. auch: „[Heideggers Kunstwerkaufsatz] wendet sich unmißverständlich gegen die Auffassung, Kunst verdopple die Realität (nach dem Modell von Abbild,

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schied zwischen einem Handwerker und einem Künstler scheint der griechischen Begrifflichkeit der WHYFQK nicht zugrunde zu liegen, bzw. er kann durch diese Begrifflichkeit nicht einsichtig gemacht werden.52 Das Verfahren der WHYFQK kann im Falle eines Handwerkers und eines Künstlers identisch aussehen, jedoch ist dabei etwas höchst Unterschiedliches am Werk, das mit dem Begriff der WHYFQK nicht präzisiert werden kann.53 Denn in dem einen Fall handelt es sich phänomenologisch gesehen und laut Heideggers Interpretation in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ nicht um ein Geschehen der Wahrheit und im anderen Falle schon. Die WHYFQK des Tischlers ist kein Wahrheitsgeschehen im Heideggerschen Sinne, sondern vielmehr ein Geschehen von ‚zutreffender Herstellung‘ oder in Heideggers Begrifflichkeit: von ‚Vorstellendem Nachstellen‘. Die antike WHYFQK ist nicht zunächst eine Weise in

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Spiegelung odgl.).“ (Boehm, Gottfried: „Im Horizont der Zeit“, in: Kunst und Technik, hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 255-280, hier S. 257). In Holzwege führt Heidegger an: „Dagegen ist die Anfertigung des Zeuges nie unmittelbar die Einwirkung des Geschehens der Wahrheit.“ (Holzw, S. 52). Und dies liegt unseres Erachtens eben daran, dass diese Anfertigung sich an ein prä-etabliertes Wahrheitsgeschehen richtet und als solches nur ‚mittelbar‘ ein Geschehen der Wahrheit ist. Für diesen Unterschied scheinen die antiken Griechen kein Gespür gehabt zu haben. Deswegen vermengt der Begriff der WHYFQK die für Heidegger höchst verschiedenen phänomenologischen Bereiche des herstellenden Nachstellens und des Wahrheitsgeschehens. Aus diesem Grund meint auch Platon, dass die Arbeit des Tischlers eine Nachahmung des HL?GR sei, während die Arbeit des Dichters als eine Nachahmung der Nachahmung aufzufassen sei: „Und wie [sollen wir] den Tischler [nennen]? Nicht den Werkbildner des Bettgestells./Ja./Nennen wir auch wohl den Maler Werkbildner und Verfertiger desselben?/Keineswegs./Aber was denn, sagst du, daß er von dem Bettgestell sei?/Ich denke, entgegnet er, am schicklichsten nennen wir ihn Nachbildner desselben, wenn jene die Werkbildner sind./Sei es! Sprach ich. Des dritten Erzeugnisses Vorsteher von dem Wesen ab nennst du also Nachbildner./Allerdings, sagte er./Dieses also wird auch der Tragödiendichter sein, wenn er doch Nachbildner ist, ein dritter vom Könige und dessen wahrem Wesen, und so auch alle anderen Nachbildner.“ (Platon: Der Staat, Werke, in 8 Bänden, Band 4, griechisch und deutsch, hrsg. von Günter Eigler, 3. Auflage, Darmstadt 1990, 597d). Diese Auffassung der Dicht- und Malerkunst scheint gerade nichts von ihrem Wesen im Heideggerschen Sinne verstanden zu haben und steht geradezu in Opposition zu Heideggers Beschreibung von van Goghs Gemälde in „Der Ursprung des Kunstwerkes“, wo Heidegger sagt: „Das Zeugsein des Zeuges wurde gefunden. Aber wie? Nicht durch eine Beschreibung und Erklärung eines wirklich vorliegenden Schuhzeuges; nicht durch einen Bericht über den Vorgang der Anfertigung von Schuhen; auch nicht durch das Beobachten einer hier und dort vorkommenden wirklichen Verwendung von Schuhzug, sondern nur dadurch, daß wir uns vor das Gemälde van Goghs brachten. Dieses hat gesprochen […] Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist […] Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. ‚Setzen‘ sagt hier: zum Stehen bringen. Ein Seiendes, ein Paar Bauernschuhe, kommt im Werk in das Lichte seines Seins zu stehen.“ (Holzw, S. 20f; kursiviert S.R.).

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der Wahrheit geschieht, wie es Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ behauptet, sondern sie ist aus dem Bereich der ‚Richtigkeit‘ zu verstehen. Dazu eine Ergänzung von Heidegger: „Das Richtige stellt an dem, was vorliegt, jedesmal irgend etwas Zutreffendes fest.“54 Demgegenüber wird uns im Geschehen der Wahrheit erst etwas zum unverborgenen ‚Vorliegen‘ gebracht, was es bisher nicht gegeben hat, woran wir uns nachträglich orientieren können – zum Beispiel das Schaffen des HL?GR des Tisches oder einfach des ersten Tisches selbst.55 Das nachstellende Herstellen der WHYFQK ist nachträglich zum Wahrheitsgeschehen und muss aus dem Bereich der Richtigkeit verstanden und beurteilt werden. Die antike WHYFQK kümmert sich also nicht darum, das HL?GR von einem Tisches ersteinmal zu schaffen, sondern sie orientiert sich daran als an einer Art vorgegebenen Schablone.56 Dazu kommt, dass auf Griechisch HL?GR auch Skizze bedeutet.57 Das ,vorstellende Nachstellen‘ der WHYFQK kann also als ein Verfahren interpretiert werden, in dem verschiedenartiges Zeug nach Vorgabe einer Art Schablone oder Skizze,

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VA, S. 11. Siehe auch: Seubold, Günter: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg im Breisgau/München 1986, S.143ff. Demzufolge könnte die These aufgestellt werden, dass das Schaffen des HL?GR die Wahre Kunst sei, und dass wir in diesem Sinne auch Platons ‚Ideen‘ von Heideggers Begriff des Kunstwerks verständlich machen können. Diese Überlegung möchten wir hier jedoch nur anmerken und für eine andere Untersuchung offenhalten. Dagegen kann argumentiert werden: „Die Technik ist eine bestimmte und von der Kunst unterschiedene Weise, Seiendes zur Präsenz zu bringen, und allein wenn man die Formulierung ‚zur Präsenz bringen‘ genau genug hört, wird deutlich, daß sie die Erfahrung der Absenz in sich trägt. Was zur Präsenz ‚gebracht‘ werden muß, kann vordem nicht präsent sein, ein Gedanke, der bereits früh bei Heidegger mit dem Begriff des ‚Endeckens‘ vorgeprägt ist.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 167). Wir möchten jedoch das Augenmerk auf den Sinn legen, in dem das ‚HL?GR‘ präsent sein muss, um das nachstellende Herstellen der WHYFQK zu leiten. Das, was durch die WHYFQK zur Präsenz gebracht wird, muss im wesentlichen Sinn als HL?GR für den Handwerker schon präsent sein. Dieser Prozess ist nicht ein Geschehen der Wahrheit, wenn damit eine Entstehung aus dem Nichts gemeint sei, wie Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz betont. (Vgl. Holzw, S. 59). Vgl. Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul und Handwörterbuch, München 1997, 242. Im Technikaufsatz beschreibt Heidegger auch selbst wie ungewöhnlich Platons Interpretation des Begriffs HL?GR, der die Geschichte der Philosophie nachhaltig geprägt hat, für die Griechen hätte sein müssen. „Wir Spätgeborenen sind nicht mehr imstande zu ermessen, was es heißt, daß Platon es wagt, für das was in allem und jedem west, das Wort HL?GR zu gebrauchen. Denn HL?GR bedeutet in der alltäglichen Sprache die Ansicht, die ein sichtbares Ding unserem sinnlichen Auge darbietet.“ (VA, S. 23). Dennoch kann die Praxis, die auf die sinnliche Reproduktion des HL?GR in beiden Bedeutungen ausgerichtet ist, nicht als ein Wahrheitsgeschehen im Sinne Heideggers verstanden werden.

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die abstrakt oder konkret sein können, hergestellt wird.58 Das Wesen der antiken WHYFQK besteht in der Fähigkeit, das Seiende gemäß der Gestalt vorgegebener und damit unverborgener Vorstellungen zum Vorschein zu bringen. Ihr Wesen ist aus der Reproduktion zu verstehen – ob diese Reproduktion sich an einer konkreten Skizze oder einer abstrakten Vorstellung orientiert, ist für ihr Wesen nicht entscheidend.59 Von hier können wir auch das Herstellen oder das ‚vierfache Verschulden‘ der Silberschale verständlich machen, das Heidegger vom Wesen der modernen Technik abzugrenzen sucht. Wir möchten aber umgekehrt zeigen, dass Heidegger durch seine Beschreibung der Herstellung einer antiken Opferschale das reproduktive Wesen der WHYFQK bestätigt und damit die Affinität zur modernen Technik bezeugt. Heidegger sagt: „Schuld an ihm [dem Opfergerät] bleibt jedoch vor allem ein Drittes. Es ist jenes, was zum voraus die Schale in den Bereich der Weihe und des Spendens eingrenzt [das WHYOR].“60 Dadurch sehen wir, wie die Opferschale laut Heiddegger also im Voraus bestimmt wird – vor dem Handwerker zum Werk kommt. Dementsprechend wird das Silber als verfügbar vorgestellt und trägt damit ‚Mitschuld‘ an der Schale. Aber wie ist es zu sehen, dass die Opferschale in den Bereich der ‚Weihe und Spenden‘ gehört und also eine Opferschale sei? Auch anhand des ‚HL?GR‘. Oder anders gesagt, das WHYOR der Opferschale ist von einer besonderen Gestalt vorgeprägt, an der sich der Silberschmied bei der Herstellung orientiert. Der Handwerker, der die Opferschale herstellt und damit als viertes Moment an ihr „mitschuldig“ ist, bringt die anderen Weisen des Schuldens zusammen. Aber weil der Handwerker weder das HL?GR der Opferschale geschaffen hat, noch ‚den Bereich der Weihe und des Spendens‘, ist seine Tätigkeit davon bestimmt; oder besser gesagt, auch in Heideggers Auslegung entscheidet das HL?GR der Opferschale über die ‚Richtigkeit‘ des Ergebnisses.61 Die Bestimmung der WHYFQK durch Vorgaben und damit ihre Nachträglichkeit können auch dadurch einsichtig gemacht werden, dass die WHYFQK von 58

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Vgl. auch: „Science is made possible by the trace of ancient WHYFQK that remains in representational thinking.” Glazebrook, Trish: Heidegger’s Philosophy of Science, New York 2000, S. 241. GA 65, S. 63. Günter Figal bringt diese Nachträglichkeit oder Reproduktion, die zur WHYFQK gehört, prägnant zum Ausdruck, indem er betont: „Auch die Wiederherstellung von etwas, z.B. der Gesundheit durch den Arzt oder die Darbietung und Vorführung etwa von Musik können nach dem Modell der WHYFQK begriffen werden.“ (Figal, Günter: Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 79). VA, S. 13 (kursiviert S.R.). Wir könnten auch sagen, dass laut Heidegger die ‚Welt‘ der ‚Weihe und des Spendens‘ das HL?GR der Opferschale ursprünglich definiert hat. Dies macht für den Handwerker aber keinen Unterschied. Im dritten Kapitel werden wir genauer auf diese Interpretation eingehen.

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Meister zu Schüler vermittelt werden kann, indem der Meister dem Schüler Richtlinien vorschreibt und der Schüler den Meister ‚nachahmt‘ und also sich sein Wissen anzueignen versucht. Die WHYFQK ist eine Art Wissen, wie Heidegger sagt, und zwar ein reproduzierbares Wissen, das sich demonstrieren und vermitteln lässt. Die WHYFQK gehört also offenbar zum Wesen des ‚Lehrbaren‘, das heißt des ‚Mathematischen‘.62 Oder besser gesagt, ist für die Griechen die Mathematik auch eine WHYFQK gewesen.63 Aber die Mathematik ist nicht irgendeine WHYFQK, sie kann auch als Inbegriff der WHYFQK erfasst werden. Dies wird deutlich, wenn wir versuchen, die folgenden Fragen zu beantworten: Wieso lässt sich das Verfahren der WHYFQK berechnen (und deswegen auch von einer modernen Maschine übernehmen)? Warum kann der, der Rechnen kann, auch leichter eine andere WHYFQK lernen? Wie lässt sich das Wissen der WHYFQK durch Rechnen vermehren? Anhand von Heideggers Verständnis der Mathematik können wir beginnen, die Antworten auf diese Fragen zu entwickeln. Heidegger sagt: „Auch die Mathematik ist kein Rechnen im Sinnen des Operierens mit Zahlen zur Feststellung quantitativer Ergebnisse, wohl dagegen ist sie das Rechnen, das überall den Ausgleich von Ordnungsbeziehungen durch Gleichungen in ihre Erwartung gestellt hat und deshalb im Voraus mit einer Grundgleichung für alle nur mögliche Ordnung ‚rechnet‘.“64 Fundamental für die Mathematik ist es, Gleichungen aufzustellen, und die ‚Gleichung‘ gehört, wie wir gesehen haben, zum Wesen der WHYFQK. Die WHYFQK ist als vorstellendes Nachstellen das Verfahren, das alle mögliche HL?GKzu ‚gleichen‘ bestrebt ist. Das HL?GR gilt mit anderen Worten als der bekannte Faktor in der WHYFQK, anhand dessen sie versucht, die Wirklichkeit in ‚richtige’ Übereinstimmung zu bringen. Übertragen auf den Handwerker bedeutet dies, dass er durch sein Detailwissen über all sein Werkzeug eine Verfahrensweise berechnen kann, mit der er neue Skizzen verwirklichen kann.65 Oder ganz alltagspraktisch formuliert, besteht die WHYFQK des Tischlers in der richtigen Kombination der praktischen Kenntnisse einer Säge, eines Hobels und eines Hammers um der Herstellung des ‚HL?GR‘ eines Tisches willens. Und in der Kenntnis der richtigen Kombination des Zeugs, das Verfahrens, besteht das besondere Wissen einer WHYFQK, und dieses Verfahren kann als eine praktische Rechenaufgabe oder als eine Art Algorithmus bezeichnet werden. Wenn der Handwerker erst einmal einen Tisch richtig hergestellt hat, kann er im Prinzip beliebig viele Tische herstellen. Kann der Handwerker zudem besonders gut ‚rechnen‘, dann kann er auch ohne Weiteres andere Algorithmen beziehungsweise Verfah62

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Vgl. ‚Mathematik‘ in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 545. Vgl. ‚Mathematik‘ in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 545. VA, S. 54f. Vgl. WM, S. 251.

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rensweisen aufstellen, nach denen er das HL?GR eines Bettgestells und eines Stuhls herstellen kann. Je einfacher es ihm gelingt, umso leichter kann er also auch lernen, anderes Zeug herzustellen. Die WHYFQK stellt in diesem Sinne das Seiende in die wirkliche Berechenbarkeit vor und ihr Verfahren ist von Grund aus mathematisch. Dieser Wesenszug der WHYFQK wird uns später als ein Moment der Metaphysik im Sinne Heideggers genauer beschäftigen. Für einen Betrachtenden könnte es so aussehen, als ob das Herstellen eines Tisches aus irgendeinem Stück Holz ein Wahrheitsgeschehen im Sinne Heideggers wäre (dennoch weiß auch der Beobachter, wie ein Tisch aussehen muss). Für den Tischler selber ist seine WHYFQK aber als die konkrete Reproduktion des ‚HL?GR‘ zu verstehen. Die mathematisch-technische Einsicht in das HL?GR schreibt dem Tischler genaue Richtlinien des Verfahrens vor. Wenn wir daher die antike WHYFQK aus ihrem Wesen her denken und sie von der Reproduktion des ‚HL?GR‘ bestimmen, dann kann die Herrschaft und Selbstverständlichkeit des ‚HL?GR‘ für die WHYFQK als eine Art Herrschaft ausgelegt werden, die den einzelnen Handwerker umfasst, dabei jedoch als herrschende Gestalt des Seienden zugleich weit über ihn hinausgreift. Die WHYFQK ist undenkbar ohne die Herrschaft des ‚HL?GR‘ über das Seiende und die WHYFQK besteht darin, diese Herrschaft ins Werk zu setzen, zu sichern und zu erweitern. Deswegen gehört für unsere Interpretation die WHYFQK in den Bereich des Gestells. Wir möchten hier eine suggestive Frage Heideggers anführen, die diesen Zusammenhang andeutet und die wir daher positiv beantworten möchten: „Dürfen wir die LMGHYD Platons als HL?GR noch ursprünglicher auf ihre Wesensherkunft bedenken? […] Entspringt, um es formelhaft zu sagen, das Wesen der Gestalt im Herkunftsbereich dessen, was ich das Ge-stell nenne? Gehört demnach auch die Wesensherkunft der LMGHYD in denselben Bereich, aus dem das mit ihr verwandte Wesen der Gestalt stammt?“66 Behauptete man, dass der Tischler, indem er einen Tisch aus Holz herstellt, das ‚Vorliegende‘, nämlich das Holz, in sein Wesen enthülle, nämlich als Tisch, dann gelänge es dabei nicht, der ‚Herrschaft des Gestells‘ zu entkommen, ganz im Gegenteil. Denn damit wäre gegeben, dass das Wesen des Seienden zum ‚Bestand‘ oder zur ‚Gemächte‘ des Menschen gehöre, und die Herrschaft des Gestells wäre vielmehr bestätigt worden. So gesehen würde ein Tisch nämlich zum Wesen des Holzes selbst gehören. Diese Gefahr der antiken Technik ist Heidegger auch in anderen Schriften bewusst, aber in „Die Frage nach der Technik“ kommt sie bloß indirekt zum Vorschein. An anderem Ort lässt Heidegger die WHYFQK explizit im Rahmen einer Verfallsgeschichte stehen: „Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als WHYFQK, als 66

Heidegger, Martin: „Über ‚Die Linie‘“, in: Freundliche Begegnungen: Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main, S. 23.

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Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft.“67 Der Tischler hat in unserer Interpretation der WHYFQK also keinen privilegierten Zugang zu dem, was Heidegger als das Wahrheitsgeschehen bezeichnet. Dasselbe gilt für den Fabrikarbeiter von heute, der laut Heidegger unter der Herrschaft des Gestells steht. Die Gefahr für beide besteht darin, dass sie sich von der ‚Richtigkeit‘ ihrer vorgegebenen Richtlinien blenden lassen und ihnen fraglos folgen; dabei zeigen sie keinen Sinn für die ‚Wahrheit‘. Phänomenologisch interpretiert und von der Technik absehend ist es unseres Erachtens eben das, was Heidegger als die ‚höchste Gefahr‘ deutet: Die ‚Richtigkeit‘ mit der ‚Wahrheit‘ zu verwechseln.68 Diese so verstandene Gefahr wird aber sowohl von der antiken als auch von der modernen Technik katalysiert. In unserer Interpretation ist dieser Gefahr aber schwieriger zu entkommen. Denn weil antike und moderne Technik ein ‚vorstellendes Nachstellen‘ nach vorgegebenen Maßen und Standards sind, sind sie kein Wahrheitsgeschehen und können somit eigentlich auch nicht ‚rettend‘ sein. Die antike und moderne Technik operieren im Bereich der ‚Richtigkeit‘, und würde man Heideggers Begriff der Gefahr folgen, dann müssten sie deswegen im Prinzip noch größere ‚Gefahren‘ für den Menschen nach sich ziehen, als sie Heidegger vorstellt. Der Ursprung des Wesens oder der Anfang des ‚Waltens‘ der WHYFQK und der modernen Technik sind im Heideggerschen Sinne als ein Geschehen der Wahrheit zu verstehen. Aber das ‚Wesen‘ der beiden kann nur als Wahrheitsgeschehen im Bezug auf ihr anfängliches ‚Walten‘ verstanden werden oder aber aus der Sicht eines anderen Geschehnisses der Wahrheit. Mit anderen Worten, die Herstellung von ‚Bestand‘ ist nicht als ein Wahrheitsgeschehen zu verstehen, denn sie bezeichnet nicht den Ursprung des Wesens der WHYFQK; sie zeigt nicht das Ereignis, wonach Seiendes am Anfang nach etwas wie einem HL?GR reproduziert wurde, bzw. schafft die Technik im Sinne Heideggers kein neues HL?GR. Zu sehen, inwiefern das Herstellen ein Geschehnis der Wahrheit ist, kann nach der Stiftung des herrschenden ‚HL?GR‘ nicht mehr immanent geschehen, sondern setzt voraus, dass der Mensch zu diesem Vorgang bereits eine Distanz besitzt. Es gibt gemäß unserer Interpretation daher auch keinen Zusammenhang zwischen der ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘, wie Heidegger behauptet. Er zitiert Hölderlin, wie bereits oben erläutert, und sagt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“69 Dieser Zusammenhang besteht aber nur, wenn etwas bereits als ‚Gefahr‘ erkannt worden ist. Dann gibt es aber schon Widerstand 67 68

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WM, S. 317 (kursiviert S.R.). Heidegger gibt auch selbst dazu ausreichend Anlass, wenn er über die Gefahr schreibt, „daß sich in allem Richtigen das Wahre entzieht. “ (VA, S. 30). VA, S. 32.

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und Distanz dazu, weshalb der Mensch nicht in der ‚Gefahr‘ völlig aufgegangen ist. Der Tischler sieht seine eigene WHYFQK aber nicht als eine ‚Gefahr‘ – dies tun der Bildungsminister oder der Fabrikarbeiter von heute auch nicht, zumindest nicht in ihrer jeweiligen Funktion.70 So wird das Gestell von Heidegger als dasjenige gedacht, das Sicherheit, Ordnung und Orientierung bringt. Immanent betrachtet, scheint das Gestell die Gefahr für den Menschen zu beseitigen: Das Gestell sorgt dafür, dass alles nach Plan abläuft, so dass der Arbeiter einen erkennbaren Alltag für seine Orientierung gewinnt; dies kann am Ende sogar zu einer Abhängigkeit führen, so dass der Arbeiter seine Arbeit nicht mehr entbehren kann. Und wenn keine Gefahr sichtbar ist, dann ‚wächst‘ das ‚Rettende‘ auch nicht.71 Heideggers Gedankengang, der die ‚Gefahr‘ und das ‚Rettende‘ verbindet, setzt eine ‚Außenperspektive‘ oder die ‚Wesensperspektive‘ schon voraus, um überhaupt die Gefahr als solche zu verstehen.72 Wenn es diese Einsicht in das Wesen gibt, dann hat die ‚Rettung‘ aber schon angefangen, denn diese Einsicht ist im Heideggerschen Sinne das ‚Rettende‘ selbst.73 Der Zusammenhang von ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ ist in dem Sinne, wie ihn Heidegger entfaltet, tautologisch – es gibt keinen problematischen Übergang aus der ‚Gefahr‘ in das ‚Rettende‘, 70

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Um die entsprechende Bildungspolitik prägnanter zu charakterisieren, vgl.: Weppen, Wolfgang von der: „Der Verlust der Autonomie von Bildung: Eine Erfahrungsbericht“, in: Bildung im technischen Zeitalter, hrsg. von Annette Hilt und Cathrin Nielen, Freiburg/München, 2005, S. 57-97. Vgl. auch eine ironische Anspielung von Ernst Jünger auf Heideggers Interpretation von Hölderlin: „Wenn das Wort von Hölderlin wahr ist, dann muß das Rettende gewaltig anwachsen.“ (Jünger, Ernst, Über die Linie, Frankfurt am Main 1950, Über die Linie, S. 22). Die Gefahr als Gefahr betrachtet und nicht nur die Gefahr des Gestells insbesondere evoziert das fragende Verhalten, das laut Heidegger ins Offene, d.h. ins Freie, weist. Darin ist die Logik des Zusammenhangs von Gefahr und Rettung zu erkennen. Wir können dementsprechend auch den Schluss von „Die Frage nach der Technik“ als eine Interpretation des Zusammenhangs der Gefahr und der Rettung überhaupt verstehen. Hier schreibt Heidegger: „Je mehr wir uns der Gefahr nähern [je mehr die Gefahr gefährlich wird], um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir“ (VA, S. 40). Würden wir nicht bereits die Gefahr als gefährlich einstufen, dann würde die umgekehrte Logik zur Geltung kommen: Denn je mehr wir unter die Herrschaft von demjenigen gelangen, das uns droht, die Offenheit des Seienden zu versperren, umso weniger werden wir es auch bemerken und in Frage stellen. Vgl. auch mit einem verwandten Phänomen, das Heidegger in seiner Erläuterung von Hölderlins Dichtung beschreibt: „Ein Anlaß nur [an dem das Leuchten der aufgehenden Helle sich entzündet] sind die ‚weltlichen‘ ‚Sensationen‘, ‚Wirksamkeiten‘ und ‚Erfolge‘; denn zu keiner Zeit kann ein Welthaftes von sich aus bewirken, daß das Heilige kommt [die Offenheit des Offenen]. Auch vermögen nur die, die das Kommende schon kommen sehen, etwas in der Welt als Zeichen des Kommenden zu deuten und als Tat für das Kommende abzuschätzen.“ (Heidegger, Martin: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1996, S. 64; kursiviert S.R.).

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insofern das ‚Rettende‘ primär darin besteht, die ‚Gefahr‘ als eine Gefahr zu verstehen.74 Heidegger hätte unserer Erachtens vielmehr zu erklären, wie ein Mensch, der von der Herrschaft des Gestells geführt wird, das Gestell erstmals als eine Gefahr zu sehen bekommt. Erst dann kann es eine ‚Rettung‘ geben. Heidegger müsste somit eher zeigen, wie ein Sinn für das Wesen und die Wahrheit überhaupt erst entwickelt werden kann. In den Passagen von „Die Frage nach der Technik“, wo Heidegger die Begriffe von der ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ einführt, entwickelt er ihren Zusammenhang nicht immanent, sondern übernimmt ihn unmittelbar und sprunghaft von Hölderlin.75 Er zeigt nicht, wie das Phänomen selbst, das gerade die Gefahr ausmacht, das ‚Rettende‘ zum ‚Wachsen‘ bringt. Nach seinem Rekurs auf Hölderlins Dichtung erläutert er, dass, wenn es diesen Zusammenhang gibt, er dann in die Problematik der Technik übersetzt werden kann. Das heißt, der Zusammenhang zwischen der ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ wird in Heideggers Interpretation zunächst von Hölderlins Dichtung gestiftet. Daraufhin folgt seine Hypothese, wie sich dieser Zusammenhang mit seinem Gedankengang verbinden läßt: „Wenn das Wesen der Technik, das Ge-stell, die äußerste Gefahr ist und wenn zugleich Hölderlins Wort Wahres sagt, dann kann sich die Herrschaft des Ge-stells nicht darin erschöpfen, alles Leuchten jedes Entbergens, alles Scheinen der Wahrheit nur zu verstellen. Dann muss vielmehr gerade das Wesen der Technik das Wachstum des Rettenden in sich bergen.“76 Heideggers Frage lautet also: Wenn Hölderlin recht hat, wie können wir dann das Rettende in Bezug auf das Gestell verstehen? Seine Antwort darauf ist, dass auch die Entbergung des Gestells ein Wahrheitsgeschehen ist. Dann können wir aber auch mit Heidegger in die entgegengesetzte Richtung gehen und folgern: Da wo ein Wahrheits74

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Wir finden Unterstützung für diese Interpretation in einer anderen Schrift Heideggers. Hier sagt er: „Das Gestell west als die Gefahr. Aber bekundet sich damit schon die Gefahr als Gefahr? Nein. Fährnisse und Nöte bedrängen zwar allerorten die Menschen übermäßig zu jeder Stunde. Aber die Gefahr, nämlich das in der Wahrheit seines Wesens sich gefährdende Sein selbst, bleibt verhüllt und verstellt. D i e s e V e r s t e l l u n g i s t d a s G e f ä h r l i c h s t e d e r G e f a h r . Gemäß dieser Verstellung der Gefahr durch das Bestellen des Gestells sieht es immer noch und immer wieder so aus, als sei die Technik ein Mittel in der Hand des Menschen. In Wahrheit aber ist jetzt das Wesen des Menschen dahin bestellt, dem Wesen der Technik an die Hand zu gehen.“ (TK, S. 37). Und Heidegger führt weiter aus: „Die Gefahr selber ist. Wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende.“ (TK, S. 41). Heideggers Text selbst „Die Frage nach der Technik“ kann als ein einheitlicher Gedankengang verstanden werden, der einen Sinn für das Wesen schrittweise zu entwickeln versucht. Jedoch ist der erste Schritt des Textes, nämlich die Frage nach dem Wesen der Technik, schon ein Schritt über die Herrschaft der Technik hinaus. In diesem Sinne setzt Heideggers Text schon zu spät an und entwickelt nicht den Begriff der Gefahr und ihre Überwindung von einer immanenten Perspektive. VA, S. 32 (kursiviert S.R.).

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geschehen ist, das aber nicht als solches verstanden wird, da wächst die Gefahr. Und so müssten wir Hölderlin und Heidegger ergänzen: Wo aber das Rettende ist, wächst die Gefahr auch. Denn sie sind ein und dasselbe, aber ein Mal vom Bereich der ‚Wahrheit‘, das andere Mal vom Bereich der ‚Richtigkeit‘ aus gesehen. Das für die Rettung Entscheidende scheint also die Einstellung gegenüber dem Wahrheitsgeschehen des Gestells zu sein, die das Gestell von sich aus nicht anweist. Den wesentlichen Zusammenhang zwischen ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ ist in „Die Frage nach der Technik“ nicht in der Sache selbst, sondern verläuft begrifflich tautologisch. Der Zusammenhang zwischen der ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ bedarf einer Distanz, um verstanden zu werden, und das bedeutet, dieselbe Distanz, die das Gestell in Heideggers Interpretation vorgibt, zum Gelingen zu bringen. Anders gesagt: Wenn Heidegger sagt, dass ‚das Wesen der Technik das Wachstum des Rettenden in sich birgt‘, dann müsste er erläutern können, warum das ‚Rettende‘ nicht einfach verborgen bleibt, und zeigen wie es gleichsam aus der ‚Gefahr‘ herauswächst. Seine Verlegenheit dieser Ableitung wird dadurch hervorgehoben, dass Heidegger die Auseinandersetzung mit dem Gestell aus dem Bereich der Kunst erhofft, das heißt von einem Bereich, den er zwar als verwandt aber grundsätzlich verschieden von der Technik versteht. „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen.“77

Die ‚Grundverschiedenheit‘, die Heidegger hier beschreibt, zeigt aber gerade eine anfängliche Distanz zur Gefahr der Technik – bzw. hebt diese Grundverschiedenheit hervor, dass in Heideggers Interpretation, die ‚Gefahr‘ und das ‚Rettende‘ der Technik nur aus Distanz gesehen werden können. Die Bruch der unmittelbaren Zusammengehörigkeit von ‚Gefahr‘ und dem ‚Rettenden‘ verschärft sich sogar dadurch, dass nicht einmal die Kunst alleine das Rettende der Technik zum Vorschein bringen kann, sondern dies setzt eine ‚künstlerische Besinnung‘ voraus, die sich in Heideggers Formulierung zudem nicht die Wahrheit ‚verschließen‘ darf. Das heißt also, wo Gefahr ist, wächst das Rettende nur unter einem besonderen Vorbehalt, und zwar dem, dass man sich schon der Herrschaft des Gestells entzogen hat – bereits Einsicht in die Wahrheit gewonnen hat und damit in Heideggers Termi77

VA, S. 39.

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nologie prinzipiell gesehen längst gerettet ist. Dass die Kunst von sich alleine her keinen Halt gegen die Herrschaft des Gestells bietet, wird auch aus folgendem ersichtlich: „Ob der Kunst die höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist, vermag niemanden zu wissen.“78 Das Rettende kann Heideggers Auslegung nach wachsen und wachsen, aber nicht erfahren werden und damit auch nicht rettend sein: Darüber entscheidet nämlich nicht die Kunst, sondern ob man fähig ist, die Kunst und das Gestell als ein Wahrheitsgeschehen zu verstehen. Die Problematik des ‚Rettenden‘ kann auch noch in anderer und weiterer Hinsicht gezeigt werden, nämlich indem wir fragen: Wieso empfiehlt Heidegger am Ende seines Technikaufsatzes nicht eine Auseinandersetzung mit der modernen Technik aus dem Bereich des Handwerks? Dies war eigentlich seine eigene Strategie in „Die Frage nach der Technik“ gewesen. Gemäß Heideggers Interpretation der WHYFQK gehört das Wissen des Tischlers, d. h. des Handwerkers, zum Bereich der Wahrheit; somit steht sie im selben Spannungsverhältnis zur modernen Technik wie die Kunst. Dass Heidegger am Ende von „Die Frage nach der Technik“ auf einmal über die Kunst spricht, beruht darauf, dass zur antiken WHYFQK auch die SRLYKVL der schönen Künste gehörte. Für Heidegger gehören Kunst und WHYFQK zusammen, weil sie beide im Wesen der Wahrheit gründen.79 Oder umgekehrt gesagt kann Heidegger die grundlegende Doppeldeutigkeit der WHYFQK instrumentalisieren, um zu suggerieren, dass das antike Handwerk sich von der modernen Technik wesentlich unterscheidet. Ob die WHYFQK jedoch generell aus dem Wesen der Wahrheit zu verstehen sei, bleibt aber, wie wir oben ausgeführt haben, äußerst fragwürdig. In seinem Kunstwerkaufsatz hat Heidegger bereits mit Skepsis von der Gleichsetzung von Kunst und Handwerk gesprochen.80 Wir müssen also genauer untersuchen, wie Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ ihre Verwandtschaft versteht: „Einstmals hieß WHYFQK auch jenes Entbergen, das die Wahrheit in den Glanz des Scheinenden hervorbringt. Einstmals hieß WHYFQK auch das Hervorbringen des Wahren in das Schöne. WHYFQK hieß auch die SRLYKVL der schönen Künste.“81 Hier macht Heidegger im Prinzip bloß auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs WHYFQK aufmerksam. Daher kommt auch eine wesentliche Unterscheidung zwischen der Herstellung des Zeuges und der Kunst, durch die die Unterscheidung zwischen Kunst und bloßem Handwerk ausdrücklich wird. „Dagegen ist die Anfertigung des Zeuges nie unmittelbar die Einwirkung des Geschehens der Wahrheit. Fertigsein des Zeuges ist Geformtsein eines Stoffes und zwar als Bereitstellung für den 78

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VA, S. 39. Das Gestell kann auch die Erfahrung der Kunst bestimmen, so wie dies laut Heidegger im ‚Kunstbetrieb‘ der Fall ist (Vgl. Holzw, S. 3ff). Vgl. S. 16f. Vgl. Holzw, S 46. VA, S. 38 (kursiviert S.R.).

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Gebrauch. Fertigsein des Zeuges hießt, daß dieses über sich selbst hinweg dahin entlassen ist, in der Dienlichkeit aufzugehen.“82 Heidegger versucht hier, das Wesen der WHYFQK in seinem entscheidenden Unterschied zum Geschehen der Wahrheit zu fassen und macht damit wieder auf die grundlegende Doppeldeutigkeit des Begriffs der WHYFQK aufmerksam. Heidegger gesteht also ein, dass die WHYFQK im Schaffen schöner Kunstwerke wesentlich anderess als die WHYFQK bei der Herstellung eines Zeugs ist. Das Wesen des Wissens, das sich in der WHYFQK als Handwerk zeigt, wird von Heidegger explizit als eine ‚Bereit-stellung‘ von Seiendem erfasst. Diese Bereitstellung der WHYFQK zielt darauf ab, das Seiende in der ‚Dienlichkeit‘ vollends aufgehen zu lassen. So gesehen wird es wieder deutlich, dass das Wesen der WHYFQK und das Wesen der modernen Technik zusammengehören, denn sie haben beide ihr ‚Wesen‘ in der Bereitstellung des Seienden als einer Art Bestand. Nach dieser Interpretation von Heidegger gibt es ausreichend Anlass zur Annahme, dass im antiken Griechenland zwei wesensunterschiedliche Phänomene mit demselben Begriff erfasst wurden. WHYFQK hieß damit sowohl die SRLYKVL der schönen Künste als auch die ‚Bereitstellung‘ des Seienden in die Dienlichkeit. Dass in der Antike zwei so unterschiedliche Phänomene mit demselben Begriff erfasst wurden, heißt nicht, dass das Wesen des antiken Handwerkes vom Wesen der modernen Technik verschieden ist. Beide fordern nämlich das Seiende heraus, sich fügsam und dienlich zu zeigen. Vielmehr ist folgendes der Fall, dass es in der Moderne zwei Begriffe für WHYFQK gibt, nämlich Technik und Kunst, und dies ermöglicht es erst, den wesentlichen Unterschied zwischen in-Dienst-Stellung nach einem vorgegebenen Maß und ein maßgebliches Wahrheitsgeschehen zu artikulieren.83 Dieser Unterschied besteht in der Differenz zwischen der ‚Richtigkeit‘ und dem ‚Wesen der Wahrheit‘, und dieser Unterschied scheint erwähntermaßen keine entscheidende Rolle für das griechische Verständnis der WHYFQK gespielt zu haben. Ob sie den Unterschied zwischen Richtigkeit und Geschehen der Wahrheit überhaupt verstanden haben, wenn sie sowohl die Reproduktion des HL?GR als auch das Schaffen schöner Kunstwerke durch denselben Begriff bezeichnet haben, bleibt höchst fragwürdig.

82 83

Holzw S. 52 (kursiviert S.R.). In der Moderne gibt es gerade die ‚schöne Kunst‘, wofür es noch keinen Begriff in der Antike gab. Diese Tatsache und diesen Unterschied zugunsten der Moderne auszulegen, scheinen viele Interpreten, die den Totalitätsanspruch der modernen Technik, den Heidegger beschreibt, nicht zu beachten. So schreibt Günter Seubold: „Erst in der Neuzeit gelangt das Berechnen zur totalen, mathematisch-technisch bestimmten Rationalisierung, nur hier kann es in seiner Ausschließlichkeit das Verhältnis des Menschen zum Sein konstituieren.“ (Seubold, Günter: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg im Breisgau/München 1986, S.177).

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Heidegger sagt selbst im Kunstwerkaufsatz: „Das Wesen der Wahrheit als DMOKYTHLD bleibt im Denken der Griechen und erst recht in der nachkommenden Philosophie ungedacht.“84 Diese Kritik der Antike ist auch darin zu hören, wenn Heidegger ausführt: „Das Heraufkommen des machenschaftlichen Wesens des Seienden ist geschichtlich sehr schwer zu fassen, weil es im Grunde seit dem Anfang des abendländischen Denkens (genauer seit dem Einsturz der DMOKYTHLD) sich in die Auswirkung setzt.“85 Da die vorliegende Arbeit nicht beabsichtigt, sich direkt mit der antiken Philosophie zu befassen, sondern allein mit Heideggers Interpretation davon, können und möchten wir nicht tiefer in die antike Philosophie selbst eindringen, um darzustellen, wie sie ‚richtig‘ oder ‚an sich‘ zu verstehen sei. In diesem Abschnitt möchten wir bloß die einheitlichen Züge zwischen WHYFQK und moderner Technik zum Vorschein bringen, die Heidegger an entscheidenden Stationen seines Gedankengangs doch hervorhebt. Ob diese Stationen nun auf Widersprüche in seinem Denken weisen, ist für unser Vorhaben nicht so wichtig. Vielmehr sollen nach unserer Leitthese zunächst seine Ansätze für eine einheitliche Geschichte aufgedeckt werden, worin Antike und Moderne beide Momente sind. Um diese einheitliche Geschichte besser zu sehen und auch damit die Zusammengehörigkeit von antiker und moderner Technik, wenden wir uns nun explizit Heideggers ‚Geschichte der Metaphysik‘ zu. Als solche nämlich behandelt Heidegger den einheitlichen Charakter der Geschichte vom ‚Einsturz der DMOKYTHLD‘, von Anaximander über Nietzsche bis zur Gegenwart. An dieser Darstellung der Geschichte wird auch deutlich, dass Heidegger die Geschichte der Philosophie als Teil der Geschichte der Metaphysik versteht86: „Philosophie ist Metaphysik.“87 Daher gewinnt die Geschichte der Metaphysik und damit auch das Wesen der WHYFQK und der modernen Technik also an philosophischer Bedeutung.  Nachdem wir jetzt auf das gemeinsame Wesen der WHYFQK und der modernen Technik aufmerksam geworden sind, können wir Heideggers Darstellung der Epoche der Metaphysik besser folgen und zugleich verstehen, warum er in dieser Geschichte keine wesentliche Zäsur zwischen der Antike und der Moderne sieht. Sie gehören vielmehr vom Wesen der Metaphysik aus gesehen zu derselben übergreifenden Epoche. Um diese Geschichte nachvollziehen zu können geht es prinzipiell um ein Verständnis 84 85

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Holzw, S. 37. GA 65, S. 132. An dieser Stelle ergänzt Heidegger: „Beide Namen [Machenschaft und Erlebnis] nennen die Geschichte der Wahrheit und der Seiendheit als die Geschichte des ersten Anfangs. Was meint Machenschaft? Das in die eigenen Fesselung Losgelassene. Welche Fesseln? Das Schema der durchgängigen berechenbaren Erklärbarkeit, wodurch jegliches mit jedem gleichmäßig zusammenrückt und sich vollends fremd, ja ganz anders als noch fremd wird. Der Bezug der Unbezüglichkeit.“ (GA 65, S. 132). SdD, S. 61ff. SdD, S. 61.

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dessen, inwiefern ‚Anaximander und Nietzsche‘ hinsichtlich ihres Seinsverständnisses für Heidegger zusammengehören und inwiefern das Wesen der antiken und modernen Technik als Momente dieser Seinsgeschichte zu sehen sind. Die Einzelheiten, hinsichtlich derer Heidegger die jeweiligen Denker von ‚Anaximander bis zu Nietzsche‘ als Metaphysiker bezeichnet, schließlich die Frage, ob er nun mit dieser Annahme richtig liegt, ist für dieses Vorhaben nicht entscheidend. Die Überlegungen zur Geschichte der Metaphysik sollen allein die bisherige Untersuchung zusammenfassen, verschärfen und dadurch eine zweite Genealogie der modernen Technik erkennbar machen. Die Geschichte der Metaphysik nimmt bei Heidegger mit der Vorstellung vom Seienden im Ganzen ihren Anfang. Heidegger charakterisiert die Metaphysik als den Versuch, das Seiende vom Seienden her zu denken.88 In seinen Beiträgen zur Philosophie beschreibt Heidegger die systematische Geburtsstunde der Metaphysik als die Erfahrung, die das Wissen vom Seienden mit sich selbst macht.89 Die Metaphysik wird somit laut Heidegger als das sich-selbst-in-Frage-stellendes Wissen vom Seienden ausgelegt. Dadurch findet eine Gegenüberstellung von Wissen und Seiendem statt, und je fragender das Wissen des Seienden sich selbst reflektiert, umso stärker wird diese Opposition. In Heideggers Verständnis der Metaphysik bemerken wir zunächst eine Kritik des Fragens, worauf Heidegger sich ansonsten immer affirmativ bezieht. Denn ist das Fragen von Anfang an auf das Wissen von Seiendem ausgerichtet, dann kann das Fragen laut Heidegger nicht befreiend oder ‚rettend‘ wirken; ganz im Gegenteil verstärkt es dabei bloß die Herrschaft der Metaphysik. Mit dem Anfang der Metaphysik wird so für Heidegger das Wissen vom Seienden ursprünglich als „der sich auskennende Vorblick auf das HL?GR und das Vor-stellen und Vorsichbringen des Aussehens“90 verstanden. Dieser Genese des metaphysischen Wissens zufolge vergisst die Metaphysik den Unterschied zwischen Sein und Seiendem. Heidegger sagt: „Die Metaphysik denkt, insofern sie stets nur das Seiende als das Seiende vorstellt, nicht an das Sein.“91 Die Metaphysik sucht ein Verständnis vom Seienden, indem sie das Seiende selbst befragt und untersucht; sie stiftet keinen Bezug zwischen dem Seienden und dem Sein und versteht deswegen auch nicht, wie das Seiende als ein Geschehen der Wahrheit sich ereignen kann.92 Das Wahrheitsgeschehen wird der Metaphysik nicht einmal zum Rätsel, weil sie sich laut Heideg-

88 89 90 91 92

WM, S. 365. GA 65, S. 190. GA 65, S. 191. WM, S. 367 (kursiviert S.R.). Vgl. WM, S. 366.

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ger der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem nicht bewusst ist. „Allein, die Metaphysik antwortet nirgends auf die Frage nach der Wahrheit des Seins, weil sie diese Frage nie fragt. Sie fragt nicht, weil sie das Sein nur denkt, indem sie das Seiende als das Seiende vorstellt. Sie meint das Seiende im Ganzen und spricht vom Sein. Sie nennt das Sein und meint das Seiende als das Seiende. Das Aussagen der Metaphysik bewegt sich von ihrem Beginn bis in ihre Vollendung auf eine seltsame Weise in einer durchgängigen Verwechslung von Seiendem und Sein […] Dieser durchgängigen Verwechslung zufolge gelangt das Vorstellen auf den Gipfel der Verwirrung, wenn man behauptet, die Metaphysik stelle die Seinsfrage.“93

Die Metaphysik bleibt der Vorstellung des jeweiligen Seienden verhaftet, und dadurch versperrt sie sich die Einsicht in das Sein. Denn als ‚Vorstellung‘ oder als ‚Vorbild‘ oder einfach als ‚Bild‘, wie Heidegger sagt, wird das Seiende fest- und somit als ein Gegenstand aufgestellt.94 So aufgestellt kann das Seiende nun in kausale berechenbare Zusammenhänge gefasst und aufgelöst werden.95 Die Metaphysik kann in diesem Sinne auch analog zum theoretischen Vorgriff auf das Seiende verstanden werden; dies im Sinne des Theoriebegriffes, den Heidegger in „Wissenschaft und Besinnung“ hervorhebt und auf die moderne Naturwissenschaft bezieht: „Demnach wäre Theorie als Betrachtung das nachstellende und sicherstellende Bearbeiten des 93

94

95

WM, S. 370. Ein Denken, das der ontologischen Differenz gerecht wird, hat es in der Geschichte des Abendlandes laut Heidegger nie gegeben, und so gesehen gehört auch das Denken der Vorsokratiker zur Geschichte der Metaphysik. „Nirgends begegnet uns ein Denken, das die Wahrheit des Seins selbst und damit die Wahrheit selbst als das Sein denkt. Sogar dort ist dieses nicht gedacht, wo das vorplatonische Denken als der Anfang des abendländischen Denkens die Entfaltung der Metaphysik durch Platon und Aristoteles vorbereitet. Das HMYVWLQ HMRYQ JDUHL?QDLnennt zwar das Sein selbst. Aber es denkt das Anwesen gerade nicht als das Anwesen aus der Wahrheit. Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit des Seins.“ (Holzw, S. 263). Holzw, S. 75ff. Siehe auch: Beier, Brigitte: Die Frage nach der Technik bei Arnold Gehlen und Martin Heidegger, Aachen 1978, S. 163. Vgl.: „Science is made possible by the trace of ancient WHYFQK that remains in representational thinking.” Glazebrook, Trish: Heidegger’s Philosophy of Science, New York 2000, S. 241. In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ schreibt Heidegger: „Im Stellen des Ge-stells, d.h. jetzt: Im Herausfordern in die Sicherstellung von allem, spricht den Anspruch der ratio redenda, d.h. des ORYJRQGLGRYYDL.“ (Holzw. S 72). In dem Sinne gesteht Heidegger auch, dass das ‚Gestell‘ in einem antiken Phänomen ‚gewaltet‘ hat und nicht nur mit der Modernität zu verbinden ist – selbst wenn er denkt, dass das Gestell in der Moderne seine Herrschaft erweitert, beziehungsweise verabsolutiert hat. Das ORYJRQGLGRYYDL, das Heidegger hier als ratio redenda auslegt, beschreibt er eingehend in Der Satz vom Grund und legt es als die Angabe des ‚zureichenden Grundes des Wirklichen‘ aus (Vgl. SvGr, S 191ff). Darin erkennt Heidegger den Anfang des ‚Rechnen mit dem Seienden‘ und die Vergessenheit der Wahrheit des Seins. (Vgl. SvG, S 204ff).

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Wirklichen.“96 In diesem Aufsatz, der gleichzeitig mit „Die Frage nach der Technik“ entstanden ist, führt Heidegger den Eingriff der metaphysischen Vorstellung weiter aus: „Das nachstellende Vorstellen, das alles Wirkliche in seiner verfolgbaren Gegenständigkeit sicherstellt, ist der Grundzug des Vorstellens, wodurch die neuzeitliche Wissenschaft dem Wirklichen entspricht. Die alles entscheidende Arbeit, die solches Vorstellen in jeder Wissenschaft leistet, ist nun aber diejenige Bearbeitung des Wirklichen, die überhaupt das Wirkliche erst und eigens in eine Gegenständigkeit herausarbeitet, wodurch alles Wirkliche im vorhinein zu einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen für das nachstellende Sicherstellen umgearbeitet wird.“97

Die Mathematik kommt der Metaphysik zu Hilfe als die Lehre von dem, was wir schon a priori wissen können, indem wir etwas als ein Gegenstand vorstellen: Beispielsweise dass ein Gegenstand sich in zwei Hälfte teilen lasse.98 In der Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Mathematik ist der Ursprung der modernen Wissenschaften zu sehen. Wenn die ‚Vorstellung‘ ihre anfängliche Arbeit geleistet hat, und das Seiende in seiner Gegenständlichkeit herausgefordert ist, kann das rechnerische Denken auf das Seiende vollends losgelassen werden.99 So gilt die Vorstellbarkeit des Seienden bei Heidegger als der Anfangsgrund dafür, dass das Seiende sowohl als herstellbar als auch als Gegenstand der Wissenschaften erscheinen kann. Wenn das Seiende sich in dem Vorgestellten erschöpft – so die metaphysische Einstellung -, dann wird es in einen Gegenstand verwandelt, der auseinandergelegt, berechnet und erneut zusammengestellt werden kann. Damit wird das Seiende prinzipiell auch menschlich machbar und reproduzierbar.100 An dieser Stelle ist desweiteren anzuführen, dass der Unterschied 96

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VA, S. 51f. Vgl. auch Angehrn, Emil: „Kritik der Metaphysik und Technik: Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition“, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, S. 268-279, hier S. 269f. VA, S. 52 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 78 und VW, S. 308. Vgl. VA, S. 52. Dabei kommt ein weiterer wesentlicher Grundzug der Metaphysik zum Ausdruck, der laut Heidegger zwar erst in der Moderne deutlich geworden ist, aber seinen Ursprung ebenfalls in der Antike hat. Dieser Grundzug ist der ‚Nihilismus‘. Für viele Heidegger-Interpreten gehört der Nihilismus zu der modernen Technik; daher ist er für die Interpretation ihres Wesens entscheidend. Wir erwähnen das Phänomen des Nihilismus nur am Rande, denn für uns gehört der Nihilismus eben zur Metaphysik; wird dies eingestanden, dann markiert der Nihilismus auch keinen wesentlichen Bruch zwischen Antike und Moderne mehr: es ist dieser Zusammenhang worauf es uns hier ankommt. Laut Heidegger waltet das Wesen des Nihilismus bereits in der Philosophie Platons. Dies wird besonders deutlich in Günter Figals Heideggerinterpretation. Er macht auf eine Passage aus den Beiträgen zur Philosophie aufmerksam, wo Heidegger sagt: „Man will sich die Ziel-losigkeit [des Nihilismus] nicht einge-

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zwischen ‚Gegenstand‘ und ‚Bestand‘, den Heidegger macht und der gegen unsere Interpretation eingewandt werden könnte, die gerade keinen Unterschied zwischen hergestelltem Bestand und einem Gegenstand feststellt, im wesentlichen nicht überzeugend ist. Denn diese gehören vielmehr von ihrem Wesen her zusammen und zwar aus demselben Grund, aus dem Heidegger selbst erklärt, dass die moderne Naturwissenschaft, die auch mit ‚Gegenständen‘ operiert, aus dem Wesen des Gestells zu verstehen sei.101 Auch der ‚Gegenstand‘ ist nämlich bereits (theoretisch) hergestellt – und zwar hergestellt ausgehend von der Vorstellung der Meisterung. Liegt etwas als ‚Gegenstand‘ vor, dann ist es in Heideggers Interpretation berechenbar, dekomponierbar und verfügbar wie der ‚Bestand‘. Über das Fragen, dass das Seiende als ‚Gegenstand‘ zeigt, sagt Heidegger, dass es sich „vor dieses [das Seiende] als solches sich stellend, es her-stellend.“102 So kann der Vorgriff der Vorstellung, die zur Metaphysik gehört und Gegenstände produziert, als eine Herstellung des Seienden in seiner Verfügbarkeit beschrieben werden. Die Metaphysik stellt das Seiende in ihrer allgemeinen Verfügbarkeit auf, die es der WHYFQK ermöglicht, das Seiende gemäß eines bestimmten ‚HL?GR‘ hervorzubringen. So gesehen ist Vorstellen „vorgehende, meisternde Ver-gegenStändlichung.“103 In diesem Sinne bezeichnet die Metaphysik den ursprünglichen Vorgriff auf das Seinsverständnis, in deren Rahmen sich alle späteren Seinsverständnisse bewegen und bloße quantitative Verschiebungen sind. In dieser sich auf Heidegger beziehenden Auslegung der Gegenständlichkeit ist also nicht

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stehen. Und deshalb ‚hat‘ man plötzlich wieder ‚Ziele‘ und sei es nur, daß, was allenfalls ein Mittel für die Zielaufrichtung und Verfolgung sein kann, selbst zum Ziel hinaufgesteigert wird: das Volk z.B.“ (GA 65, S. 139, in: Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 155) Figal entwickelt seine Heideggerinterpretation weiter, indem er diese Passage mit Heideggers Vorstellung der Idee des Guten bei Platon in Zusammenhang bringt. „Platons Idee des Guten ist wie Heidegger in den Beiträgen ausführt, der Grund von allem als etwas genommen, worauf und wonach man sich ‚richten‘ kann. Der Grund von allem ist so ansatzweise bereits >zum ‚Wert‘, zum ‚Sinn‘, zum ‚Ideal‘< gewandelt. Das durch andere ‚Ideale‘ zu ersetzen ist. Sofern die christliche Tradition auf der griechischen Philosophie aufbaut, ist Gott in ihr als dasjenige verstanden, wonach man sich richten kann. Die christliche Tradition unterscheidet sich also von den nihilistischen Versuchen der Zielsetzung letztlich nicht; vielmehr sind diese, auch da, wo sie vom Tode Gottes leben, im Grunde nur umgekehrte, verkehrte und unselbständige Fortentwicklungen dieser Tradition. F ü r b e i d e s g e b r a u c h t H e i d e g g e r d e n T i t e l d e r ‚ M e t a p h y s i k ‘ .“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 158; gesperrt S.R.). Vgl. VA, S. 25f. GA 65, S.190. Holzw, S. 108

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die Unverfügbarkeit des Seienden zu hören, sondern das Werk, durch welches das Seiende in der Vor-stellung zur Verfügung gebracht worden ist.104 So gesehen gehören Metaphysik und Technik zusammen als Weisen der Herstellung des Seienden in seiner Verfügbarkeit. Es verhält sich daher nicht so, dass das Seinverständnis in der Antike in sich eine Fülle trägt, wovon in der moderne Technik nur eine folgenschwere und verhängnisvolle Konsequenz realisiert wurde; vielmehr hängt das ‚Kapitalverbrechen‘ in der Geschichte des abendländischen Denkens laut Heidegger mit dem Anfang der Metaphysik selbst zusammen: Dies ist, das Seiende in seiner Verfügbarkeit vorzustellen.105 Um diese Verbindung zwischen Technik und Metaphysik zu sehen, hat Heidegger den Begriff der ‚Machenschaft‘ aus- und umgeprägt. Durch seinen Begriff der Machenschaft hebt Heidegger hervor, dass die Herstellbarkeit des Seienden auf einer metaphysischen Ein- und Herstellung beruht. Für Heidegger gehört die ‚Machenschaft‘ jedoch zum Geschick des 104

105

An zwei weiteren Stellen ist ein interessanter Zusammenhang in Heideggers Gedanken zu sehen, wonach wissenschaftliche Theorie Wesensverwandschaften mit dem Phänomen der Sorge zeigt. Beide können nämlich als Weisen der ‚Sicherstellung‘ gedacht werden: „Wenn wir daher ‚Theorie‘ durch ‚Betrachtung‘ übersetzen, dann geben wir dem Wort ‚Betrachtung‘ eine andere Bedeutung, keine willkürliche erfundene, sondern die ursprüngliche ihm angestammte. Machen wir ernst mit dem, was das deutsche Wort ‚Betrachtung‘ nennt, dann erkennen wir das Neue im Wesen der modernen Wissenschaft als Theorie des Wirklichen. Was heißt Betrachtung? Trachten ist das lateinische tractare, behandeln, bearbeiten. Nach etwas trachten heißt: sich auf etwas zu-arbeiten, es verfolgen, ihm nachstellen, um es sicher zu stellen. Demnach wäre die Theorie als Betrachtung das nachstellende und sicherstellende Bearbeiten des Wirklichen. [...] Das Wirkliche wird in seiner Gegenständigkeit sichergestellt. Hieraus ergeben sich Gebiete von Gegenständen, denen das wissenschaftliche Betrachten auf seine Weise nachstellen kann. Das nachstellende Vorstellen, das alles Wirkliche in seiner verfolgbaren Gegenständigkeit sicherstellt, ist der Grundzug des Vorstellens, wodurch die neuzeitliche Wissenschaft dem Wirklichen entspricht.“ (VA, S. 52; kursiviert S.R.). Eine Beschreibung Heideggers zum Begriff des Sorgens lautet folgendermaßen: „Sorgen ist sich umsehen, als umsichtiges zugleich besorgt um die Umsichtausbildung, um Sicherung und Steigerung der Vertrautheit mit dem Umgangsgegenstand“ (Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002, S. 15; kursiviert S.R.). Wenn es Heidegger um nichts weniger als die Geschichte des Abendlandes geht, dann muss seine Interpretation viele Veränderungen und Verschiebungen in dieser Geschichte herunterspielen, die die Einheitlichkeit dieser Geschichte zu zerstören drohen. Analog dazu gibt es auch bisweilen Passagen bei Heidegger, die explizit darauf angelegt sind, die Technik in ihrer antiken und ihrer modernen Ausprägung in einem einheitlicheb Zusammenhang zu erfassen: „Der Name ‚Technik‘ ist hier so wesentlich verstanden, daß er sich in seiner Bedeutung deckt mit dem Titel: die vollendete Metaphysik. Er enthält die Erinnerung an die WHYFQK, die eine Grundbedingung der Wesensentfaltung der Metaphysik überhaupt ist. Der Name ermöglicht zugleich, daß das Planetarische der Metaphysikvollendung und ihrer Herrschaft ohne Bezugname auf historische nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten gedacht werden kann.“ (VA, S. 76f).

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Seins und ist nicht bloß ein ‚menschliches Tun‘, sondern, wie Heidegger sagt, „eine Art der Wesung des Seins“106. So gesehen fordert das Wesen des Seienden, als Machenschaft verstanden, den Menschen in gleicher Weise wie das Gestell heraus. Zwar verweist der Name der Machenschaft in Heideggers Auslegung auf das ‚Machen‘, daher auch auf die SRLYKVL, die WHYFQK und in diesem Sinne schließlich auf ein menschliches Verhalten, wonach Seiendes hergestellt wird; aber das, was Heidegger vor allem interessiert, ist der theoretische Vorgriff, der die Herstellung ermöglicht. „Allein, dieses [SRLYKVL und WHYFQK] ist eben selbst nur möglich auf Grund einer Auslegung des Seienden, in der die Machbarkeit des Seienden zum Vorschein kommt, so zwar, daß die Seiendheit gerade sich bestimmt in der Beständigkeit und Anwesenheit.“107 Die absichtliche Herstellung des Seienden, die sich in der Machbarkeit und so auch in der antiken SRLYKVL manifestiert, beruht also auf einer bestimmten Auslegung des Seienden. Es ist diese Interpretation, die Heidegger mit dem Begriff ‚Metaphysik‘ und dem Titel ‚Machenschaft‘ bezeichnet und deren einheitlichen Zug er durch die abendländische Geschichte zu entwickeln versucht. In Heideggers Interpretation der Metaphysik ist das machenschaftliche Verständnis durch die Vorstellbarkeit des Seienden ermöglicht worden, welche aber auch für die WHYFQK unverzichtbar ist. In diesem Sinne entlarvt Heidegger einen einheitlichen Zug von Antike und Moderne in der Gleichsetzung von Seiendem und vorgestelltem Sein. „Denn dieser Wille, der alles macht, hat sich im voraus der Machenschaft verschrieben, jener Auslegung des Seienden als des Vor-stellbaren und Vorgestellten. Vor-stellbar heißt einmal: zugänglich im Meinen und Rechnen; und heißt dann: vorbringbar in der Her-stellung und Durchführung. Dies alles aber aus dem Grunde gedacht: das Seiende als solches ist das Vor-gestellte, und nur das Vorgestellte ist seiend.“108

Ergänzend schreibt Heidegger: „Was meint Machenschaft? […] Das Schema der durchgängigen berechenbaren Erklärbarkeit.“109 In Heideggers Interpretation ist die Metaphysik also die Lehre vom Seienden, wonach das Sein sich als das vorgestellte Seiende erschöpft und wodurch deswegen an der berechenbaren Her- und Darstellbarkeit festgehalten wird. Das metaphysische Verständnis des Seienden ist es, wonach der Mensch glaubt, Herr der Welt zu sein, während er laut Heidegger tatsächlich einer bestimmten Interpretation des Seienden gehorcht und somit bloß als Diener eines Weltbildes

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GA 65, S. 126. Vgl. auch VA, S. 27. GA 65, S. 126 (kursiviert S.R.). GA 65, S. 108f. GA 65, S. 132.

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wirkt.110 Die Metaphysik droht damit, wie das Gestell auch, das menschliche Wesen in Kategorien der Vorstellbarkeit zu erschöpfen.111 Von Heideggers Interpretation der Metaphysik her gesehen gibt es also keinen wesentlichen Unterschied zwischen antiker WHYFQK und moderner Technik; beide beruhen auf demselben Verständnis des Seienden, das sie selbst zugleich erzeugt haben und weitertreiben. Es ist in Heideggers Interpretation der Metaphysik also dieselbe Interpretation des Seienden, die es in der antiken Technik dem Menschen ermöglicht, Artefakte und Zeug herzustellen, und die in der modernen Technik maßgeblich ist und hier die Herrschaft des Gestells fordert. So gesehen gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Wesen der antiken WHYFQK und dem der modernen Technik. Ob das Seiende berechenbar vorgestellt wird, um daraus Energie zu gewinnen, oder ob es dadurch in anderen Weisen wie zum Beispiel in der Herstellung von Geräten und Zeug dem Menschen dienlich gemacht wird, stellt keinen prinzipiellen Unterschied dar. Ob der Landstrich als Kohlenrevier in der Moderne oder als Silberrevier in der Antike entborgen wird, zeigt einen Zusammenhang und nicht eine Differenz der beiden Zeiträume. Es mag sein, dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen der modernen Technik und der WHYFQK gibt; allein denken wir gezeigt zu haben, dass dieser eventuelle Unterschied nicht mit dem Begriff des Gestelles zu erfassen ist, ganz im Gegenteil: Mit Heideggers Begriff des Gestells wird die Zusammengehörigkeit von Antike und Moderne sichtbar. Von der Metaphysik aus gesehen ist das Seiende schon in der Antike WHYFQK so gestellt, dass es zur Verfügung steht und sich im Prinzip ‚durchgängig berechnen‘ lässt. Die Verbindung der Mathematik mit dem Verständnis des Seienden, so wie es auch in der heutigen Physik zum Ausdruck kommt, wurzelt in der Metaphysik und ist kein Produkt der Moderne, wie Heidegger in „Die Frage nach der Technik“ behauptet.112 Die Mathematik bezeichnet nämlich genau das Wissen a priori von Gegenständen und ihren Relationen – und so gründet auch die Mathematik in der Vorstellbarkeit des Seienden. Das Rechnen der Mathematik ist deswegen nicht nur ein Vorgang, der sich mit Zahlen vollzieht, sie gehört zum Wesen der Metaphysik. „Rechnen im weiten, wesentlichen Sinne meint: mit etwas rechnen, d.h. etwas in Betracht ziehen, auf etwas rechnen, d.h. in die Erwartung stellen. In dieser 110

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Vgl. auch Friedrich Rapps Formulierung: „Bestimmt von einem nihilistischen Willenspathos ist er [der Mensch] versucht, sich als unumschränkter Herr des Universums zu fühlen.“ (Rapp, Friedrich: „Sein und Zeit, 1927; Die Technik und die Kehre, 1962“ in: Nachdenken über Technik, hrsg. von Christoph Hubig, Alois Huning, und Günter Ropold, Berlin 2000, S. 168-172, hier S.170). Vgl. auch WM. S. 313ff, wo Heidegger gegen die Vorstellung vom Menschen als vernünftigem Tier polemisiert. Vgl. VA, S. 25 .

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Weise ist alle Vergegenständlichung des Wirklichen ein Rechnen, mag sie kausal-erklärend den Erfolgen von Ursachen nachsetzen, mag sie morphologisch sich über die Gegenstände ins Bild setzen, mag sie einen Folge- und Ordnungszusammenhang in seinen Gründen sicherstellen.“113

Das Verständnis, wonach das gemeinsame Wesen der antiken und modernen Technik zum Vorschein kommt, ist es gerade, das u.E. den Unterschied zwischen einer ‚historischen Feststellung‘ und einem ‚geschichtlichen Verständnis‘ der modernen Technik ausmacht. So kann zwischen dem Zeitpunkt der Entstehung komplizierter technischer Geräte und dem Ursprung ihres Wesens differenziert werden. Nichtsdestotrotz können wir vor dem Hintergrund der systematisch geschichtlichen Interpretation, die wir als eine Genealogie verstehen, nun auch historisch feststellbare Phänomene des antiken Griechenland anders verstehen; dies ergibt sich aus der bisherigen Interpretation.114 Das Silber, das der Silberschmied für das ‚Opfergerät‘ in Heideggers Beispiel der antiken Technik verwendet, ist nicht einfach in der Natur vorhanden. Der Prozess der Herstellung des Silbers ist aufwendig und setzt voraus, dass die Natur als Ressource gedacht und sehr systematisch bearbeitet wird.115 113 114

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VA, S. 54 (kursiviert S.R.). Im Mittelalter und damit vor der Moderne scheint dasselbe herausfordernde Entbergen wie auch im Gestell gewaltet zu haben. Zu Kriegszeiten wurde alles mobilisiert um gegen den Feind vorzustoßen sogar die Kircheglocken wurden in Waffen herausgefordert und umgeschmolzen. (Vgl. Ihde, Don: „Forty Years in the Wilderness“, in: Postphenomenology – A Critical Companion to Ihde, hrsg. von Evan Selinger, New York 2006, S. 267-290, hier S. 274). Zu Kriegszeiten im antiken Griechenland wurde das Seiende ebenfalls auf seine ‚Schlagkraft‘ herausgefordert. So wurde der Wind von den Athener Kriegschiffen als Kraftquelle entborgen, die wiederum das Meer als Schlachtfeld entborgen haben. Vgl. auch Kalcyk, Hansjörg: Untersuchungen zum attischen Silberbergbau: Gebietstruktur, Geschichte und Technik, Frankfurt am Main, 1982, S 167f: „Am Anfang des Bergbaus stand der Tagebau, wobei zu Tage ausstreichende Lager aufgeschlossen wurden. Neben den vorkommen gediegenen Erzes war der im Gestein gebundene Bleiglanz, aus welchem Silber und Blei gewonnen wurde, für die Bergleute von Bedeutung. Es war auf Grund seines höheren spezifischen Gewichts für einen erfahrenen Hauer leicht von tauben Gestein zu unterscheiden. Von Bedeutung war ferner, daß die Begleitmineralien des Bleiglanzes, Zinkblende, Pyrit, Eisenkies, Arsenkies und Schwefelantimon bei ihrer Zersetzung eine rotbraune Oxidationsfarbe entwickeln und af diese Weise das Ausstreichen eines Lagers an der Oberfläche anzeigten; dies war den antiken Prospektoren schon bekannt […] Auf diese Weise entstanden die eigentümlichen gewundenen Gänge, die häufig als Beleg für die unmenschlichen Arbeitsbedingungen unter Tage angeführt werden.“ (kursiviert S.R.) . Zur Technik und System des Bergbaus in antiken Griechenland vgl. auch: Lauffer, Siegfried: Die Bergwerkssklaven von Laureion, Wiesbaden, 1979. Die Verstellung der antikken Technik ist auch in der neuesten Heideggerforsung deutlich: „Assuming we have allowed our gaze to rest on the essential charecteristic, then what is novel about mo-

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Den faktischen Zusammenhang zwischen Mathematik und der Interpretation des Seienden in der Antike sieht man beispielsweise daran, dass die Mathematik schon im antiken Griechenland sowohl zur Berechnung und Vorhersage von Himmelskörper-Bewegungen angewandt wurde, sich aber auch weiter daraus entwickelte. Die Astronomie kombinierte die Observation mit der Mathematik im Bestreben, die Sterne in ihrer gesetzmäßigen Berechenbarkeit vorzustellen. So bedeutet Astronomie im Griechischischen auch ‚Gesetzmäßigkeit der Sterne‘.116 Darüber hinaus wurde das Seiende in der Antike auch in der WHYFQK von Haus- und Tempelkonstruktionen berechenbar aufgestellt. Ohne die Berechenbarkeit des Seienden ließe sich das Seiende nicht zu einer haltbaren Konstruktion wie der Parthenon-Tempel in Athen zusammenfügen. Daher gehören vom Gesichtspunkt der Wesung des Seins aus WHYFQK und moderne Technik prinzipiell zusammen. Hier wie dort dominiert das Verständnis des Seienden als das vorgestellte und berechenbare Sein. Um Heideggers Interpretation der Metaphysik zu verstehen, müssen wir also die Aufstellung, die durch die Vor-gestelltheit des Seienden geschieht, als eine ursprüngliche und einfache Weise der Herrschaft des Gestells verstehen. Dass das Gestell laut Heidegger sogar den Menschen droht, ihn als ‚Bestand‘ oder als ‚Menschenmaterial‘ zu entbergen und somit vollends sich als ein der menschlichen Tätigkeit übergeordnetes Prinzip zu manifestieren, geschieht auch nicht erst in der Moderne.117 Gerade der durchgängige ‚Verbrauch‘ an Sklaven in der antiken Gesellschaft kann den modernen Menschen darin bestätigen, dass die Idee des Menschen als Material oder als Instrument ein wesentlicher Zusammenhang zur antiken Welt zeigt.118 Phä-

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dern technology? Certainly its impositional character is decisively novel, in comparison with the nurturing character of the earlier technology.“ (Rojcewicz, Richard: The Gods and Technology: A Reading of Heidegger, New York 2006, S. 125). ‚Astronomie‘ in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 58. Vgl. „Fast scheint es, als sei die Metaphysik durch die Art, wie sie das Seiende denkt, dahin gewiesen, ohne ihr Wissen die Schranke zu sein, die dem Menschen den anfänglichen Bezug des Seins zum Menschenwesen verwehrt. Wie aber, wenn das Ausbleiben von weither das moderne Weltalter bestimmen?” (WM, S. 370). Vgl. auch eine Passage aus Aristoteles’ Politik über Sklaven und Werkzeug: „Da nun der Besitz ein Teil des Hauses und die Lehre vom Besitz ein Teil der Haushaltslehre ist – denn ohne das Notwendige kann man weder leben, noch befriedigend leben -, und da, wie für die einzelnen Künste und Handwerke je eigene Werkzeuge vorhanden sein müssen, wenn ihre Leistung geraten soll, ebenso für den Haushalt Werkzeuge erforderlich sind: da ferner Werkzeuge teils unbeseelt, teils beseelt sind, wie z.B. für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes, der Untersteuermann ein beseeltes Werkzeug ist – denn jeder Gehilfe vertritt in Kunst und Handwerk die Stelle eines Werkzeugs -, nun, so ist auch ein einzelnes Besitzstück ein Werkzeug zum Leben und der gesamte Besitz eine Menge solcher Werkzeuge und der Sklave ein beseeltes Besitzstück und alles, was Gehilfe und Diener heißt, gleichsam ein Werkzeug vor allen

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nomenologisch ausgelegt bedeutet ‚versklaven‘, den Menschen als Handelsware herauszufordern und ihn als Instrument einzusetzen – unter anderem in der Herstellung vom Zeug. Der Sklave in der Antike kann in dem Sinne als die vorindustrielle Maschine verstanden werden.119 Schließlich soll hier auch deutlich gemacht werden, dass die Herausforderung eines Flussstromes, ‚Kraft‘ zu liefern, auch keine Erfindung der Moderne ist. Auch in der Antike hat man Wasserräder konstruiert, sie in Flüsse gestellt, ihre Drehung auf das Mahlen von Korn hin gesteuert, das Gemahlene gespeichert und verteilt.120 Die Entbergung des Seienden durch die antike Wassermühle kann also auch als ein ‚Erschließen, Umformen, Speichern und Verteilen‘ von Ressourcen beschr ieben werden.121 Gemäß unserer Interpretation verliert Heideggers Einteilung von Epochen in der ersten Genealogie, wonach die moderne Technik sich von der antiken WHYFQK durch die Herrschaft des Gestells unterscheidet, in Heideggers zweiter Geschichte ihren systematischen Ausgangspunkt. Die Konsequenzen, die diese zwei Geschichtsauffassungen für die Moderne haben, möchten wir nun kurz besprechen.

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andren Werkzeugen. […] Noch ist zu bemerken, daß man von einem Besitzstück in derselben Weise redet, wie von einem Teil. Der Teil nämlich ist nicht bloß Teil eines anderen, sondern ist überhaupt eines anderen, und dasselbe gilt von einem Besitzstück.“ (Aristoteles: Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Philosophische Schriften, in 6 Bänden, Band 4, Hamburg 1995, 1.1253bf). Würde man versuchen, die Antike von der Sklaverei aus zu verstehen und sie anschließend mit der Moderne hinsichtlich ihrer vielfältigen Kunstwerke zu vergleichen, dann ließe sich die Moderne gegenüber der Antike positiv beurteilen. Vgl.: Lauffer, Siegfried: Die Bergwerkssklaven von Laureion, Wiesbaden, 1979. Wikander, Örjan: Handbook of Ancient Water Technology, Leiden 2000, S. 371ff und vgl. hierzu auch Lucas, Adam: Wind, Water, Work: Ancient and Medieval Milling Technology, Brill 2006: “Between the fifth and the early first centuries B.C., three new types of mill began to be used in Central Europe and eastern Mediterranean. These new machines applied the principle of rotary motion to the action of grinding for the first time. The profound impact that they had on ancient societies has only begun to be properly understood over the last three decades or so as archaeological evidence has revealed the extent to which they were applied in a variety of domestic, commercial and military contexts.” (S. 11ff). Vgl. VA, S. 20. In einer Kritik an Heideggers Interpretation der modernen Technik schreibt der französische Philosoph Bruno Latour: „Contrary to what makes Heideggerians weep, there is an extraordinary continuity, which historians and philosophers of technology have increasingly made legible, between nuclear plants, missile-guidance systems, computer-chip design, or subway automation and the ancient mixture of society, symbols, and matter that ethnographers and archaeologists have studied for generations in the culture of New Guinea, Old England or sixteenth-century Burgundy.“ (Latour, Bruno: Pendora’s Hope, Cambridge 1999, S. 195). Vgl. auch Lee, Keekok: „Homo faber: the unity of the history and philosophy of technology”, in: New Waves in the Philosophy of Technology, hrsg. von Søren Riis , Jan Kyrre , Berg Olsen und Evan Selinger, London 2008.

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C Ansätze zwei verschiedener Kritiken der Moderne Je stärker Heidegger die abendländische Geschichte als die Geschichte der Metaphysik betont, umso geringer wird der Unterschied zwischen antiker WHYFQK und moderner Technik. Umgekehrt ist hervorzuheben, dass je deutlicher Heidegger den prinzipiellen Unterschied zwischen antiker WHYFQK und moderner Technik betont, umso weniger seine einheitliche Geschichte der Metaphysik einleuchtet.122 Je nachdem wo das Entstehungsgeschehen der modernen Technik ihren Ausgangspunkt nimmt, gestaltet sich Heideggers Modernekritik. Aus zwei verschiedenen Interpretationen der Antike entwickelt Heidegger zwei entsprechende Interpretationen der Moderne: In der einen Interpretation versucht er, einen wesentlichen Umschlag zu betonen, in der anderen hebt er eine wesentliche Gemeinschaft hervor. In jener bildet die Antike die Kontrastfolie zur Moderne, während sie in dieser als ihr Ursprung gilt. Die Differenz der Moderneauffassungen geht aus den bisherigen Untersuchungen hervor und soll in diesem Abschnitt auf ihren entscheidenden Aspekt hin zusammengefasst werden. Anhand zweier Ausführungen Heideggers wird der Anfang zweier verschiedener Interpretationen der Antike erkennbar. Und um diesen zwei verschiedenen Anfängen gerecht zu werden, entwickelt Heidegger auch zwei unterschiedliche Kritiken der Moderne. „Einstmals trug nicht nur die Technik den Namen WHYFQK. Einstmals hieß WHYFQK auch jenes Entbergen, das die Wahrheit in den Glanz des Scheinenden hervorbringt. 122

Günter Figal zeigt in seiner Heideggerinterpretation, wie das Wesen der Geschichte des Abendlandes mit Heidegger auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden werden kann. Zum einen als eine ‚gigantische Zwischenzeit‘ (Vgl. Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 169f). Fasst man sie so auf, dann muss man sich jedoch im klaren sein, „welchen Preis es hat, wenn man Heidegger hier folgen will: Man muß die gesamte Geschichte als Verfall, als Untergang denken und sie als Übergang ohne Ziel verstehen wollen.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 171). Zum anderen gibt es aber auch die Möglichkeit, in jedem Moment der Geschichte das Unverborgenheitsgeschehen der Wahrheit zu erfahren nämlich als ein besonderes Spiel von ‚Präsenz und Absenz‘. Hinsichtlich der ersten Interpretationsmöglichkeit ergänzt Figal: „Erscheint einem dieser Preis zu hoch, so muß man allerdings nicht den Gedanken einer Präsenz aufgeben, die in sich durch Absenz charakterisiert ist; er läßt sich auch außerhalb des Schemas einer dreifach gegliederten Zeit festhalten. Nicht alles, was sich der Erfahrung entzieht, ist darum auch gewesen oder zukünftig; jeder Versuch des Verstehens stößt auf solches, was dem Verstehen widersteht und in eben dieser Absenz – ‚praesent‘ ist. (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 171). Für unsere Interpretation bedeutet die jederzeit mögliche Erfahrung des Spiels von Absenz und Präsenz, also des Wahrheitsgeschehens, dass es im Prinzip möglich ist, an jedem Punkt der Geschichte einen neuen Anfang zu stiften und zu bewahren. Auf diese Interpretation kommen wir im nächsten Kapitel ausführlicher zurück.

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Einstmals hieß WHYFQK auch das Hervorbringen des Wahren in das Schöne. WHYFQK hieß auch die SRLYKVL der schönen Künste. Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschicks zum Leuchten.“123

Demgegenüber sieht in der ‚Geschichte der Metaphysik‘ die Antike anders aus: „Es gibt keine andere Philosophie als die abendländische. Die ‚Philosophie‘ ist in ihrem Wesen so ursprünglich abendländisch, daß sie den Grund der Geschichte des Abendlandes trägt. Aus diesem Grunde allein ist die Technik erwachsen. Es gibt nur eine abendländische Technik. Sie ist die Folge der ‚Philosophie‘ und nichts außerdem.“124 Der grundsätzliche Unterschied zwischen der mit den zwei verschiedenen Genealogien verbundenen Moderneauffassung besteht darin, dass die Moderne gemäß der ersten Geschichte als ein Anfang und bezüglich der zweiten Geschichte als ein Ende interpretiert wird. Vor dem Hintergrund der ersten Geschichte, das heißt gemäß dem wesentlichen Unterschied zwischen WHYFQK und moderner Technik, erschließt die moderne Technik einen radikal anderen Weg als den der WHYFQK, auf dem die ‚höchste Gefahr‘ für die Menschen lauert.125 Dies ist die Gefahr, dass der Mensch das eigene Wesen und das des Seienden verkennt. Zwar gibt es laut Heidegger auch eine Rettung, aber sie besteht nicht darin, dass die modernen technischen Entwicklungen aufgehalten werden, sondern darin, dass der einzelnen Mensch sich auf das Wesen der modernen Technik besinnt. Gelingt ihm dies, sieht der Mensch nämlich ein, dass die moderne Technik eigentlich ein Ereignis der Wahrheit ist und insofern auch mit der Kunst verwandt ist. Dadurch kann der Mensch sich als zugehörig zum Wesen der Wahrheit verstehen, sein eigenes Wesen erfahren und sich selbst vor der Herrschaft des Gestells ‚retten‘. Im Sinne dieser Interpretation, die besonders deutlich im Technikaufsatz wird, spricht Heidegger auch nicht von einer Epoche nach der Moderne, denn die Moderne ist das Zeitalter, das soeben angebrochen ist.

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VA, S. 38. Heidegger, Martin: Heraklit, Gesamtausgabe, Band 55, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt am Main 1979, S. 3. Vgl. auch: „Wohl dagegen ist dies, daß sich für Platon die Seiendheit des Seienden als HL?GR (Aussehen, Anblick) bestimmt, die weit vorausgeschickte, lang im verborgenen mittelbar waltende Voraussetzung dafür, daß die Welt zum Bild werden muß.“ (Holzw, S. 91). Vgl. auch: „Ob innerhalb der heutigen durch die Technik bestimmte Welt, durch diese und für sie, d i e e r s t a m B e g i n n d e r E n t f a l t u n g i s t , Kunst wesentlich und notwendig und darum möglich ist!“ (Heidegger, Martin: „Technik und Kunst – Gestell“, in: Biemel, Walter und v. Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.): Kunst und Technik, Frankfurt am Main 1989, S. XIII; gesperrt S.R.).

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In dieser Analyse gibt es im Prinzip weder Lob noch Tadel an der Moderne selbst. In der Moderne werden die technischen Entwicklungen zwar vorangetrieben, aber sie schließt nicht aus, dass der Mensch in diesem Zeitalter einen Bezug zu Wahrheit gewinnen kann. Eines Tages kann das Wesen der Wahrheit sich dem einzelnen Menschen durch alles Technische hindurch zeigen.126 Heideggers Interpretation der Moderne ist dieser Auffassung nach zunächst als eine strukturelle Beschreibung zu verstehen, die im griechischen Sinne als Kritik verstanden werden kann, nämlich als ein ‚Scheiden‘.127 Zum einen weil Heidegger in dieser Interpretation versucht, einen Zäsur zur Moderne stark zu machen, zum anderen weil die Moderne selbst als eine Zeit ausgelegt wird, in der das Geschick des jeweiligen Menschen zur Entscheidung steht. Entweder findet der Mensch Anschluss an die Wahrheit als DMOKTHXYHLQ oder er wandelt sich zu einer Art menschlicher Maschine, deren genaueren Antrieb das Gestell diktiert.128 Der zweiten Geschichte nach gibt es nicht die Moderne als eine besondere Epoche des Geschicks des Seins. Die Moderne führt sozusagen bloß die antike Vorlage in ihrer äußersten Konsequenz weiter. Das, was in der ersten Geschichte als eine Modernekritik erfasst werden könnte, kann also in der zweiten Geschichte als eine Antikekritik interpretiert werden. Die Moderne ist in der Geschichte der Metaphysik als eine Vollendung (WHYOR) des antiken Anfangs (DMUFKY) gedacht.129 „Der Anfang, der Ursprung, kommt dagegen im Geschehen allererst zum Vorschein und ist voll da erst an seinem Ende.“130 Die Moderne steht so gesehen an der Schwelle eines ‚anderen Anfangs‘. Wenn Heidegger also von einem ‚anderen Anfang‘ spricht, dann geschieht es immer als Absetzung vom ‚ersten Anfang‘, den er im antiken

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Vgl. S. 39. ‚Kritik‘ in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1999, S. 580. Den Versuch, eine solche ‚menschliche Maschine‘ in ihren einzelnen Mechanismen genauer zu bestimmen, hat unter anderem Ernst Jünger in seinem Buch Der Arbeiter unternommen. (Vgl. Jünger, Ernst: Der Arbeiter, Stuttgart 1981.) Den wesentlichen Zusammenhang von DMUFKY und WHYOR hebt Günter Figal besonders deutlich hervor, indem er sich auf Aristoteles bezieht: „[DMUFKY,Y und WHYOR] gehören bei Aristoteles nicht nur deshalb zusammen, weil sie gleichsam die Eckpfeiler einer Bewegung bezeichnen, indem das eine Wort, DMUFKY,Y dasjenige nennt, worin eine Bewegung ihren Anfang hat, während das andere, télos, sagt, worin sie sich vollendet; vielmehr muß im Anfang einer Bewegung ihr Ziel schon liegen, damit die Bewegung überhaupt zielgerichtet sein kann.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 157). Vgl. auch Werner Marx’ Interpretation zu Heideggers Interpretation des Begriffs der ‚Eschatologie‘. (Marx, Werner: Heidegger und die Tradition, Stuttgart 1961, S. 165ff.) GA 39, S. 4.

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Griechenland lokalisiert.131 Dass dieser ‚andere Anfang‘ laut Heidegger noch nicht geschehen ist und erst vorbereitet werden muss, macht unseres Erachtens den Zusammenhang zwischen Antike und Moderne indirekt klar.132 Dass die Moderne zugleich die Vollendung der Metaphysik bildet, macht Heidegger in seinem späten Aufsatz „Ende der Philosophie und Aufgabe des Denkens“ besonders deutlich, aber diese Auffassung kommt auch viel früher in dem Aufsatz „Überwindung der Metaphysik“ bei Heidegger zum Ausdruck. Hier schreibt er: „Der Name ‚die Technik‘ ist hier so wesentlich verstanden, daß er sich in seiner Bedeutung deckt mit dem Titel: die vollendete Metaphysik. Er enthält die Erinnerung an die WHYFQK, die eine Grundbedingung der Wesensentfaltung der Metaphysik überhaupt ist. Der Name ermöglicht zugleich, daß das Planetarische der Metaphysikvollendung und ihrer Herrschaft ohne Bezugnahme auf historisch nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten gedacht werden kann.“133

Diesen Aufsatz zur ‚Überwindung der Metaphysik‘ leitet Heidegger zudem mit der Aussage ein: „Philosophie ist Metaphysik.“134 Philosophie beschäftigt sich laut Heidegger nur mit dem Seienden im Ganzen, und es ergibt sich aus diesem Zusammenhang zunächst die Notwendigkeit, seine Interpretation vom ‚Ende der Philosophie‘ zu präzisieren: „Was meint die Rede vom Ende der Philosophie? Zu schnell verstehen wir das Ende von etwas im negativen Sinn als das bloße Aufhören, als das Ausbleiben eines Fortgangs, wenn nicht gar als Verfall und Unvermögen. Dem entgegen bedeutet die Rede vom Ende der Philosophie die „Vollendung der Metaphysik.“135 Diese ‚Vollendung‘ drückt sich in der Entstehung der Wissenschaften und der modernen Technik aus: „Die Ausbildung der Wissenschaften ist zugleich ihre Lösung von der Philosophie und die Einrichtung ihrer Eingeständigkeit. Dieser Vorgang gehört zur Vollendung der Philosophie. Seine Entfaltung ist heute auf allen Gebieten des Seienden in vollem Gang. Sie sieht aus wie die bloße Auflösung der Philosophie und ist in Wahrheit gerade ihre Vollendung.“136 Heidegger führt weiter aus: „Der Grundzug dieser Wissenschaftlichkeit aber 131 132

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GA 65, S. 4f. Vgl. GA 65, S. 178ff. Vgl. auch Günter Figals Begriff einer ‚gigantischen Zwischenzeit‘.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 170). Überwindung der Metaphysik, in: VA, S.76f. SdD, S. 61. SdD, S. 62. SdD, S 63. Vgl. auch „Es gibt keine andere Philosophie als die abendländische. Die ‚Philosophie‘ ist in ihrem Wesen so ursprünglich abendländisch, daß sie den Grund der Geschichte des Abendlandes trägt. Aus diesem Grunde allein ist die Technik erwachsen. Es gibt nur eine abendländische Technik. Sie ist die Folge der ‚Philosophie‘ und nichts außerdem.“ (Heidegger, Martin: Heraklit, Gesamtausgabe, Band 55, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt am Main 1979, S. 3; kursiviert S.R.).

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ist ihr kybernetischer, d.h. technischer Charakter […] Denn immer spricht in der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften die Urkunde ihrer Geburt aus der Philosophie. Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung.“137 Um die Wesensverwandtschaft der Antike und der Moderne, beziehungsweise des Anfangs der Metaphysik und der modernen Technik anders zu bestätigen, möchten wir schließlich Heideggers eigene phänomenologisch geschichtliche Betrachtung anführen. Diese Betrachtung hebt den innigen Bezug zwischen Anfang und Ende hervor: „Das Letzte ist Jenes, was die längste Vor-läuferschaft nicht nur brauch, sondern selbst ist, nicht das Aufhören, sondern der tiefste Anfang, dem am weitesten ausgreifend am schwersten sich einholt.“138 Oder anders gewendet: „Der Anfang enthält schon verborgen das Ende.“139 Aus Heideggers Interpretation der Vollendung der Metaphysik in der modernen Technik erkennen wir auch, dass die Moderne in der zweiten Genealogie nicht einen eigenständigen Neuanfang definiere, sondern aus dem Anfang der Metaphysik zu verstehen sei. Aber eben weil Heidegger die Moderne als eine Vollendung interpretiert, geht aus ihr erst recht die Geschichte der bisherigen Epoche hervor.140 Gleichzeitig kann sich in dieser Auslegung der Moderne – im Prinzip – immer ein neuer Anfang durchsetzen und damit eine wahrhaft andere Epoche beginnen.141 Zeitlich gesehen, kann die Vollendung der Metaphysik lange anhalten und der zweite Anfang in weiter Ferne sein. Aber worauf es bei Heidegger hinsichtlich der Geschichte der Metaphysik ankommt, ist, dass die Moderne, als Ende verstanden, strukturell sowohl auf einen ersten als auch eine anderen Anfang verweist. Die Vollendung ist bei Heidegger also auch die erste Anzeige des Beginns eines anderen Anfangs.142 Angesichts der nicht ausgeschöpften Mög137 138

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SdD, S. 64f (kursiviert S.R.). GA 65, S. 405. Den Begriff des Endes gebraucht Heidegger analog zum Begriff des ‚Letzten‘ in „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe der Denkens“. (Vgl. SdD, S. 61ff). Holzw, S. 64. Vgl. dazu auch: „Die beiden ersten, Neuzeit und Moderne, legen Tiefenschichten dessen frei, was unter den Stichworten der Wissenschaft und der Technik sichtbar wurde; die Gegenwart bringt diese Geschichte an ein Ende, von dem aus die sich gleichsam als ganze reflexiv erfasst und zugleich die Frage nach einem anderen Selbst- und Seinsverhältnis aufwirft.“ (Angehrn, Emil: „Kritik der Metaphysik und Technik: Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition“, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, S. 268-279, hier S. 273). Siehe auch 3. Teil 3. Kapitel. Siehe auch Angehrn, Emil: „Kritik der Metaphysik und Technik: Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition“, in: Heidegger-Handbuch, hrsg. von Dieter Thomä, Stuttgart 2003, S. 268-279, hier S. 275f.

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lichkeiten, die sich für Heidegger in dieser Auslegung der Moderne ergeben, ist die Moderne der ‚Vorbote‘ eines post-metaphysischen Zeitalters. Die optimistischen Verheißungen der Moderne werden von Heidegger nur selten explizit betont; wir möchten jedoch mit einer dieser Passagen diesen Anschnitt beenden.143 Sie stammt aus derselben Zeit wie „Die Frage nach der Technik“, und hier heißt es: „Das Zeitalter der Bildung geht zu Ende, nicht weil die Ungebildeten an die Herrschaft gelangen, sondern weil Zeichen eines Weltalters sichtbar werden, in dem erst das Fragwürdige wieder die Tore zum Wesenhaften aller Dinge und Geschicke öffnet.“144

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Um den Optimismus der so verstandenen Zukunft im Zusammenhang der zwei Genealogien der modernen Technik zu sehen, ist eine phänomenologische Überlegung Günter Figals weiterführend: „Man erzählt das, was gewesen ist, anders, wenn man die Zukunft als Bedrohung erfährt, als dann, wenn man sie im Sinne eines zu erwartenden Fortschritts interpretiert.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 157). VA, S. 65.

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Zweites Kapitel

Alternative Genealogien A Die Bewandtnis des Seienden Mit dem Ausgangspunkt in „Die Frage nach der Technik“ ist es unser Ziel in diesem Kapitel zwei alternative Genealogien des Wesens der modernen Technik aufzudecken. Unsere These ist, dass es in „Die Frage nach der Technik“ zwei weitere Ansätze zum Verständnis der Entstehung der modernen Technik gibt, die mit Hilfe anderer Werke Heideggers herausgearbeitet werden können. In dieser dritten Genealogie soll nachgewiesen werden, dass das herausfordernde Entbergen des Seienden und damit das Wesen des Gestells mit dem Ursprung des Menschen zusammenhängt. Betrachten wir „Die Frage nach der Technik“ aus einem anderen Blickwinkel, lassen sich aus ihr auch andere Konsequenzen ziehen. Die folgende Genealogie, die wir nun entwickeln, zeigt Verwandtschaft mit der Genealogie der Metaphysik auf, die wir soeben untersucht haben. Dennoch ist sie prinzipiell anders, denn im Sinne der vorherigen Genealogie der modernen Technik gehört ihr Wesen zu Vollendung der Geschichte der Metaphysik, eben weil die moderne Technik anhand des Vorbilds der vor- und aufgestellten Welt der Metaphysik alle Bereiche des Seienden beherrschbar macht. Daher gehört das Wesen der modernen Technik zu Vollendung der Geschichte der Metaphysik, weil „das Operationale und Modellhafte des vorstellend-rechnenden Denkens zu Herrschaft [gelangen ist].“145 Diese Vollendung ist also als die Instrumentalisierung des metaphysisch theoretischen Vorgriffs auf das Seiende zu verstehen. Dagegen führt diese dritte Genealogie moderner Technik das Wesen der modernen Technik vor der Metaphysik und vor dem vorstellenden Denken in die phänomenologisch gesehen unmittelbare Welterfahrung zurück. Das Wesen der modernen Technik hat hier ihren Ursprung in der Erfahrung des In-der-Welt-seins des Daseins überhaupt. Und in diesem Sinne gewinnt sich diese Genealogie aus einem vorgeschichtlichen Ursprung, beziehungsweise sie setzt mit dem Ursprung des Menschen an. In „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Wo und wie geschieht das Entbergen, wenn es kein bloßes Gemächte des Menschen ist? Wir brauchen nicht weit zu suchen. Nötig ist nur, unvoreingenommen jenes zu vernehmen, was den Menschen immer schon in Anspruch genommen hat, und dies so entschieden, daß er nur als der so An145

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gesprochene jeweils Mensch sein kann. Wo immer der Mensch sein Auge und Ohr öffnet, sein Herz aufschließt, sich in das Sinnen und Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken freigibt, findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht.“146

Von welcher Art ist die Entbergung, die laut Heidegger den Menschen ‚immer schon‘ in Anspruch genommen hat? Wie verhält sie sich zur Entbergung des Gestells? Um die Antworten auf diese Fragen besser entwickeln zu können, müssen wir das Hauptwerk Heideggers, Sein und Zeit, heranziehen. Darin hat er diese unmittelbare Erfahrung der Inanspruchnahme des Menschen mit größter Sorgfalt ausgelegt. Entscheidend für die beiden Untersuchungen ist es, dass Heidegger die Erfahrung der Unverborgenheit als ein Geschehen auslegt, worüber der Mensch nicht Herr ist. Der Mensch wird unmittelbar und auf eine besondere Weise von dem Entbergungsgeschehen angesprochen bzw. herausgefordert. Wenn der Mensch nicht Herr der Entbergung ist, so der Gedankengang Heideggers in „Die Frage nach der Technik“, dann ist er also einer anderen Herrschaft unterworfen.147 Um diese Herrschaft über die Unverborgenheit genauer zu verstehen, gibt es eine auffällige Passage in Sein und Zeit, die uns weiterhelfen kann. In Sein und Zeit schreibt Heidegger über die ursprüngliche Entbergung der Natur, die den Menschen als solche beherrscht: „Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden – auch nicht als Naturmacht. Der Wald ist Forst, der Berg ist Steinbruch, der Fluss Wasserkraft, der Wind ist Wind ‚in den Segeln‘.“148 Jahre später wird Heidegger im Technikaufsatz die Entbergung des Gestells in bemerkenswerter Ähnlichkeit beschreiben – nämlich als die Herausforderung des Flusses als ‚Wasserkraft‘ und des Bodens als ‚Erzlagerstätte‘.149 So gesehen können wir also den ursprünglichen Anspruch, der den Menschen anfänglich fordert, den Fluss als Wasserkraft zu entbergen, mit der Herausforderung des Gestells verbinden.150 Die Herausforderung des Gestells scheint 146 147 148 149

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VA, S. 22 (kursiviert S.R.). Vgl. S. 22ff. SuZ, S. 70 (gesperrt S.R.). VA, S. 18ff. Vgl. auch: „The nature of the ready-to-hand does anticipate the notion of standing reserve.” (Ihde, Don: Technics and Praxis, Dordrecht 1979, S. 124.) Siehe auch Graham Harmans Beschreibung des Übergangs von Zuhandenheit in Vorhandenheit: „In the first instance [Zuhandenheit], every object is obliterated, withdrawing into its tool-being in the contexture of the world. In this way, the individual objects are smothered and enslaved, emerging into the sun only in the moment of their breakdown.“ (Harman, Graham: Tool-Being. Heidegger and the Metaphysics of Objects, Chicago/La Salle 2002, S. 45.) Günter Seubold sieht in Heideggers Verständnis der Unverborgenheit im Technikaufsatz nur eine Relativierung des anthropologischen Verständnisses der Technik, nicht aber den Zusammenhang mit Sein und Zeit. Er unterscheidet daher nicht die unmittelbare Unverborgenheit der Bewandtnis des Seienden von dem heraus-

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also zum Anspruch zu gehören, der schon immer den Menschen herausgefordert hat. Wenn das Gestell jedoch von diesem Anspruch her interpretiert wird, dann stellt sich sein Entstehungsgeschehen wesentlich anders als in den bisherigen Genealogien dar. Um den Ursprung des Entbergens besser zu verstehen, das den Fluss als ‚Wasserkraft‘ und den Berg als ‚Steinbruch‘ aufdeckt, müssen wir Sein und Zeit genauer auslegen. Diese Untersuchung der unmittelbaren Unverborgenheit des Seienden geschieht in Sein und Zeit nicht einfach nebenbei; vielmehr gehört sie zur Grundlage des gesamten Werkes. In diesem Abschnitt soll der Rahmen dieser ursprünglichen Entbergung der Natur kurz aufgezeichnet werden, damit den Ansatz einer dritten möglichen Wesensherkunft der modernen Technik einsichtig werden kann. Der in Sein und Zeit entfaltete ursprüngliche Begriff der Natur als ‚Forst‘, Steinbruch, Wasserkraft et cetera entspringt aus Heideggers Bestimmung des Menschen als Dasein. Dasein bedeutet für Heidegger In-der-Welt-sein, und damit verdeutlicht Heidegger, dass eine aufgestellte Welt immer schon zum Wesen des Menschen gehört und vor dem jeweiligen Menschen je schon aufgedeckt ist. Das ‚in‘ in Heideggers Formel des Daseins hat somit eine besondere Bedeutung. „Das In-Sein ist nach dem Gesagten keine ‚Eigenschaft‘, die das Dasein zuweilen hat, zuweilen auch nicht, ohne dies es sein könnte so gut wie mit ihr. Der Mensch ‚ist‘ nicht und hat überdies noch ein Seinsverhältnis zur ‚Welt‘, die er sich gelegentlich zulegt. Dasein ist nie ‚zunächst‘ ein gleichsam in-seinfreies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ‚Beziehung‘ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist.“151

und „Sobald aber das ‚Phänomen des Welterkennens‘ selbst erfasst wurde, geriet es auch schon in eine ‚äußerliche‘, formale Auslegung. Der Index dafür ist die heute noch übliche Ansetzung von Erkennen als einer ‚Beziehung zwischen Subjekt und Objekt‘, die so viel ‚Wahrheit‘ als Leerheit in sich birgt. Subjekt und Objekt decken sich aber nicht etwa mit Dasein und Welt.“152

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fordernden Entbergen des Gestells. Auch beachtet er nicht, wie die Unverborgenheit als Unverborgenheit immer schon den Menschen herausfordert. (Vgl. Seubold, Günter: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg im Breisgau/München 1986, S.120ff). SuZ, S. 57. Siehe auch: „Im Sichrichten auf…und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die er zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer noch ‚draußen‘ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“ (SuZ, S. 62) SuZ, S. 60.

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Aus diesen zwei Passagen zeigt sich ein grundsätzlicher Umschlag in der in Sein und Zeit entwickelten Seinsgeschichte. Die Entbergung des Seins, wonach der Wald als Forst erscheint, der Berg als Erzlager verstanden wird und der Wind sich als Antrieb für Boote zeigt, ist laut Sein und Zeit das ursprüngliche Verständnis des Seins. Diese Entbergung des Seins ist in Sein und Zeit weder erst Resultat des Wesens der modernen Technik noch dasjenige der Metaphysik: vielmehr gehört diese Entbergung des Seins zum Menschen und definiert ihn als Dasein. Sie geht mit anderen Worten sowohl der modernen Technik als auch der Metaphysik voraus. Jedes andere Verständnis des Seienden, eingeschlossen dasjenige der Naturwissenschaften, kommt nach dieser ursprünglichen Entbergung des Seins. Aus dem zweiten Zitat wird das reflexive Moment des Erkennens als einen Bruch hervorgehoben, und diesen Bruch können wir gemäß der vorherigen Genealogie zum Geburt der Metaphysik gehörend auslegen. Denn wie wir im letzten Kapitel erfahren haben, bezeichnet der Anfang der Metaphysik die Stelle, wo das Wissen vom Seienden sich selbst in Frage stellt, sich selbst erst recht ‚erfasst‘ und damit methodisches Wissen wie das der WHYFQK ermöglicht. In Heideggers Verständnis des Seienden in Sein und Zeit, zeigt sich das Seiende im unmittelbaren Umgang im ursprünglichen Modus der ‚Zuhandenheit‘ ,während das Seiende im metaphysischen oder reflexiven Erkennen im Modus der ‚Vorhandenheit‘ erfahren wird.153 Was bedeutet aber die ursprüngliche Entbergungsweise der ‚Zuhandenheit‘, die der Metaphysik vorausgeht? Wie ist der von Heidegger geprägte Begriff der ‚Zuhandenheit‘ zu verstehen? Das Seiende, das sich im Modus der ‚Zuhandenheit‘ zeigt, hat seine Bedeutung im praktischen Hantieren. Das Seiende ist im Modus der Zuhandenheit nicht etwas, wozu der Mensch erst eine Beziehung gewinnen muss, um es dann nachfolgend zu verstehen.154 Das Seiende ist unmittelbar da, als sinnvoll für den Menschen erschlossen. Der Mensch ist von Vornherein auf das Seiende bezogen, und das Seiende ist im Gesichtskreis des Menschen immer schon entborgen. Dass das Seiende nicht zunächst isoliert und dem Menschen entfremdet ist, sondern dass es von vornherein in einem Beziehungszusammenhang mit dem Menschen steht, analysiert Heidegger in Analogie mit der Beziehung zwischen Menschen und Zeug.155 Das Seiende ist dem Menschen zuerst und 153 154

155

Vgl. SuZ, S. 66ff. Andrew Feenberg gibt eine prägnante Interpretation dieses Phänomens: „Our everyday commerce with the world is based on informed anticipation. We do not first know individual facts or sense data but rather the ‘look’ we bring to things in engaging with them. We anticipate the ‘what’ of the things as the condition for encountering it in all our relations to the real, not just in production proper.” (Feenberg, Andrew: Heidegger and Marcuse: the Catastrophe and Redemption of History, New York 2005, S. 37). Vgl. SuZ, S. 68ff.

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zunächst als ein Zeug erschlossen, das heißt das Seienden dient einem Zweck und fügt sich in einen Zusammenhang; in diesem Sinne ist der Begriff ‚Zuhandenheit‘ als die ursprüngliche praktische Entborgenheit des Seienden zu verstehen.156 Das Seiende im Modus der Zuhandenheit ist kein Gegenstand; wesentlich gesehen ‚ist‘ das Seiende als Zuhandenes laut Heidegger eigentlich nie: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer eine Zeugganges, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ‚etwas, um zu..‘. Die verschiedenen Weisen des ‚Um-zu‘ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.“157 Das Seiende als in der ursprünglichen Zuhandenheit Entborgenes hat laut Heidegger nur einen Sinn in der Instrumentalisierung, das heißt, es zeigt sich zunächst ‚um etwas willen‘. Nur indem das zuhandene Seiende von sich weg auf ihre Dienlichkeit eines übergeordneten Zusammenhangs zeigt, hat das Seiende einen Sinn als Zuhandenes. Die Seinsart der Zuhandenheit steht somit in einem praktischen Verweisungszusammenhang. Den Menschen ist das Seiende also je schon so entborgen, als ob es im Zusammenhang seiner alltäglichen Zwecke stünde. In diesem Zusammenhang hat das jeweilige Seiende seinen primären Stand und Bedeutung. Das jeweilig entborgene Seiende als zuhandenes ist zum Beispiel eine Axt – es steht in einem besonderen Sinnzusammenhang: Die Axt ist nicht einfach da, sondern ist um des Holzes willen, dementsprechend zeigen sich der Wald als Forst und die Bäume als auf die Axt bezogene Gegenstände, das Holz als Holz im Kamin und das Feuer als Instrument für das Kochen.158 In dem Sinne ist das Seiende für Heidegger in Sein und Zeit immer schon in einem praktischen Zusammenhang entborgen. „Die Zeugverfassung des Zuhandenen wurde als Verweisung angezeigt. Wie kann Welt das Seiende dieser Seinsart hinsichtlich seines Seins freigeben, warum begegnet dieses Seiende zunächst? Als bestimmte Verweisungen nannten wir Dienlichkeit zu, Abträglichkeit, Verwendbarkeit und dergleichen. Das Wozu einer Dienlichkeit und das Wofür einer Verwendbarkeit zeichnen je die mögliche Konkretion der Verweisung vor […] Das Sein des Zuhandenen hat die Struktur der Verweisung – heißt: es hat an ihm selbst den Charakter der Verwiesenheit. Seiendes ist daraufhin entdeckt, daß es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen ist. Es hat mit ihm bei etwas 156 157 158

Vgl. SuZ, S. 68ff. SuZ, S.68. Vgl. auch: „Das herzustellende Werk ist aber nicht alleine verwendbar für…, das Herstellen selbst ist je ein Verwenden von etwas für etwas. Im Werk liegt zugleich die Verweisung auf ‚Materialien‘. Es ist angewiesen auf Leder, Faden, Nägel u. dgl. Leder, wiederum ist hergestellt aus Häuten. Diese sind Tieren abgenommen, die von anderen gezüchtet werden. Tiere kommen innerhalb der Welt auch ohne Züchtung vor, und auch bei dieser stellt sich dieses Seiende in gewisser Weise selbst vor.” (SuZ, S. 70).

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sein Bewenden. Der Seinscharakter des Zuhandenen ist die Bewandtnis […] Bewandtnis ist das Sein des innerweltlichen Seienden, darauf es je schon zunächst freigegeben ist.“159

Das Seiende im Modus der Zuhandenheit darf aber nicht zu eng auf die ‚Hand‘ und das ‚Werk unserer Hände‘ hin verstanden werden. Denn wenn der Fluss sich als Wasserkraft zeigt, dann ist er auch im Modus der Zuhandenheit entborgen. Heidegger präzisiert den ‚Seinscharakter der Zuhandenheit‘ als die ‚Bewandtnis‘. Das Wesen des unmittelbaren Entbergens des Seienden durch den Menschen stellt also das Seiende in einer Bewandtnis auf. Wenn Heidegger beschreibt, wie das Gestell die Natur herausfordert und den Rhein als Wasserkraft zeigt, den Boden als Erzlagerstätte aufdeckt und das Holz nur als Moment der Produktion von Zellulose dienlich ist, dann gehört dies unseres Erachtens zur Entbergung der Bewandtnis im Heideggerschen Sinne. Dass die Zusammenhänge der Bewandtnis in der Moderne komplizierter als in der Antike sind, ändert nichts an ihrer Wesensgemeinschaft des herausfordernden Entbergens. Die wesentliche Beziehung zwischen dem vom Gestell entborgenen Seiendem und dem in seiner Bewandtnis entborgenen Seienden, zeigt sich auch daran, dass das Seiende keinen eigenen Stand hat; es ist immer Bestandteil eines übergeordneten Zusammenhangs, in dem es bestellt oder dienlich gemacht wird.160 Mit anderen Worten: Die strukturelle Bestimmung des zuhandenen Zeugs entzieht es dem Eigenwert und bahnt damit den Weg für die Ausbeutung des zeughaften Seienden. Vor diesem Hintergrund können wir aus „Die Frage nach der Technik“ ergänzen: „Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei.“161 Der Mensch ist hier nicht als eine abstrakte eigenständige Größe gesehen, er hat zunächst nur einen Sinn in der Dienlichkeit und Bestellbarkeit – 159

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161

SuZ, S. 83f. Zur Diskussion der Begriffe ‚Bewandtnis‘ und ‚Freigabe‘, vgl. Anm. 129 dort. Vgl. auch Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers, 3. erweiterte Auflage, Pfullingen 1990, S. 355. Ein Kritikpunkt Heideggers an der moderne Technik ist, dass sie der Besinnung zuwiderläuft, weil sie keinen Sinn für das ‚Nutzlose‘ erlaubt: „Besinnung heißt: den Sinn wecken für das Nutzlose. In einer Welt, für die nur noch das unmittelbar Nützliche gilt, die nur noch auf Steigerung der Bedürfnisse und des Verbrauchs ausgeht, dürfte ein Hinweis auf das Nutzlose alsbald ins Leere sprechen […] Was soll und vermag bei der Vormacht des Nutzbaren noch das Nutzlose? Nutzlos in der Weise, daß sich daraus unmittelbar praktisch nichts machen lässt, ist der Sinn der Dinge. Darum wirft die Besinnung, die ihm nachsinnt, zwar keinen praktischen Nutzen ab, gleichwohl ist der Sinn der Dinge das Nötigste.“ (Heidegger, Martin: Überlieferte Sprache und technische Sprache, St. Gallen, 1989, S. 6f). Wird das Seiende gemäß der Bewandtnis erfasst, dann wird das Seiende auch nicht in seiner ‚Nutzlosigkeit‘ erfasst, wodurch die Bewandtnis des Seienden auch die ‚Besinnung‘ und den ‚Sinn der Dinge‘ versperrt. VA, S. 30f.

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in seiner Bewandtnis für einen Zusammenhang.162 Der Mensch muss sich nicht erst selbst entbergen, sondern er ist immer schon in einem bestimmen Zusammenhang herausgefordert und gestellt, deswegen ist das Entbergungsgeschehen der Zuhandenheit nicht bloß als ein menschliches Tun zu verstehen. „Das auf Bewandtnis hin freigegebene Je-schon-haben-bewenden-lassen ist ein apriorisches Perfekt, das die Seinsart des Daseins selbst charakterisiert. Das ontologische verstandene Bewendenlassen ist vorgängige Freigabe des Seienden auf seine innerumweltliche Zuhandenheit. Aus dem Wobei des Bewendenlassen her ist das Womit der Bewandtnis freigegeben. Dem Besorgen begegnet es als dieses Zuhandene. Sofern sich ihm überhaupt ein Seiendes zeigt, das heißt, sofern es in seinem Sein entdeckt ist, ist es je schon umweltlich Zuhandenes und gerade nicht ‚zunächst‘ nur vorhandener ‚Weltstoff‘.“163

162

163

Vgl. eine weitere Passage aus Sein und Zeit: „Das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auslegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition. Diese nimmt ihm die eigene Führung, das Fragen und Wählen ab.“ (SuZ, S. 21) Siehe auch: „Die Person ‚schwebt‘ als Wesen- und Aktzentrum über ihrer Geschichte – und kann doch nur in ihr und durch sie sich explizieren und gestalten und verwirklichen. Dieser Schwebe-Stand oder besser dieser Nicht-stand, dieser Mangel im SRX VLZ auch in der Zeit, ist, was die Mystiker „nunc stans“ nannten. Man darf es nicht aufheben wie Heidegger – ohne der Person den freien Atem aus der Luft der Ewigkeit zu versagen; ohne sie ganz sich vergaffen zu lassen in das Sein der Zeitlichkeit, sich in ihrer und des ‚Man‘ und ‚Wir‘ Geschichte aufgehen und verschweben zu lassen.“ Scheler, Max: Schriften, Gesammelte Werke, Band 9, hrsg. von Manfred F. Frings, Bern/München 1976, S. 299. Ebenso: „Die in Sein und Zeit vorgetragene Theorie der Theorie verrät, daß das großartige Experiment, das Seins- und Weltverständnis des Menschen ohne Zuhilfenahme des Geistesbegriffs auszulegen, gescheitert ist.“ Theunissen, Michael in: Good, Paul (Hrsg.): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern 1975, S. 102. SuZ, S. 85 (kursiviert S.R.). Günter Figal entwickelt ein interessante Interpretation der Heideggerschen Begriffe der ‚Bewandtnis‘ und der ‚Freigabe‘, der zufolge die Bewandtnis des Seienden mit dem Möglichkeitssinn des Menschen zusammenhängt (vgl. Figal, Günter: Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 84ff). Diese Interpretation scheint zunächst der unseren zuwiderzulaufen, aber dies ist bei genauerer Überprüfung nicht der Fall. Figals Interpretation läuft auf den folgenden Zusammenhang hinaus: Wird die Zuhandenheit und die Bewandtnis erst ‚als solche‘ verstanden, das heißt in der Terminologie des jungen Heideggers ‚ontologisch‘ verstanden, dann ist bereits vom konkreten Bewandtniszusammenhang Abstand genommen, und es wird möglich, sich auf die besondere Offenheit einzulassen, worin das Zuhandene überhaupt erst Zuhanden sein kann. Demnach gehört zu Zuhandenheit also auch Offenheit; in diesem Sinne ist der Mensch laut Figals Interpretation nicht bloß ein integrales Moment des Bewandtniszusammenhangs. Die Interpretation von Figal läuft im Prinzip parallel zu Heideggers Gedankengang in „Die Frage nach der Technik“, sie bezieht sich aber auf das ‚Technikverständnis‘ in

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Die Einsicht in das Wesen der Entbergungsart des innerweltlich Seienden kann nicht unmittelbar geschehen, sie ist immer nachfolgend. Der Wesenblick, wonach es möglich wird, die Entbergung des Seienden als ein Wahrheitsgeschehen zu sehen, ist immer retrospektiv. Denn die Welt ist dem Menschen anfänglich in einer bestimmten Weise unverborgen. Die Gefahr, die Heidegger in der „Die Frage nach der Technik“ beschreibt, wonach der Mensch sich selbst und das Seiende als Bestand oder Bestandteil eines Zusammenhangs versteht, gehört ursprünglich mit der Entbergung des Seienden als Zuhanden zusammen. Das ‚Rettende‘, das den Blick in das Wesen gewährt, ist ebenso im Vergleich dazu nachfolgend: Diese Einsicht ist erst dann möglich, wenn der Mensch eine Distanz zum Seienden als Zuhanden gewonnen hat.

Sein und Zeit. Der Bewandtniszusammenhang von Zeug und dass heißt in „Die Frage nach der Technik“ der Entbergungszusammenhang der modernen Technik ist zunächst gefährlich für den Menschen. Gewinnt der Mensch jedoch Einblick in das Wesen der modernen Technik, dann bekommt er auch die Offenheit, zu sehen, wo das Entbergungsgeschehen des Gestells sich ereignet, und dann gehört er nicht unter der Herrschaft des Gestells: „Alles Entbergen kommt aus dem Freien, geht ins Freie, und bringt ins Freie.“ (VA, S. 29). Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, wie man aus dem ontisch verstandenen Bewandtniszusammenhang zum ontologischen Verständnis davon gelangt – beziehungsweise wie man aus dem Umgang mit der modernen Technik zu einem Einblick in ihr Wesen kommt. Unsere Interpretation besagt, dass dies nicht unmittelbar geschehen kann. Deswegen gibt es dieselbe Gefahr, wenn das Seiende gemäß seiner Bewandtnis aufgedeckt ist, als wenn es vom Gestell herausgefordert ist. Figal betont, dass seine Interpretation sich auf das ‚ontologische‘ Verständnis des ‚Bewendenlassens‘ vom Seienden bezieht. ‚Bewendenlassen‘ hänge so gesehen mit Heideggers Ausführung des ‚Seienden in seiner Wahrheit wesen zu lassen‘ und dem ‚Sicheinlassen auf das Seiende‘ zusammen. (Vgl. Figal, Günter: Martin Heidegger: Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 86). Das ‚Sicheinlassen auf das Seiende‘ versteht Figal mit Heidegger als ein ‚sich Einlassen auf das Offene und dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht‘ (Vgl. Ibid., eS. 86f). So ist das, was es in dieser Interpretation dem Menschen erlaubt ‚aufgeschlossen für die Offenheit des Seienden‘ zu sein, derselbe Einblick in das Wesen, der auch in „Die Frage nach der Technik“ ermöglicht, eine ‚freie Beziehung‘ zur Technik zu schaffen. Aber versteht der Mensch nur das Seiende ontisch, dann entscheidet der Bewandtniszusammenhang über seinen Umgang mit dem Seienden: „Noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche.“ (SuZ, S. 69). Die ‚Freigabe‘ des Seienden auf Bewandtnis hin, gerade davon spricht Heidegger, hat daher nicht mit der Offenheit und Mehrdeutigkeit des Seienden zu tun, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Im Einklang mit dem Wahrheitsgeschehen, das ontisch als solches nicht zugänglich ist, und wonach das Seiende als Zuhanden entborgen ist, bedeutet ‚Freigabe‘ eigentlich ‚ausgeliefert‘ sein beziehungsweise ‚frei‘ oder ‚zugänglich‘ für Instrumentalisierung zu sein. Mit anderen Worten: Aus dem Bewandtniszusammenhang des Seienden selbst erfolgt keine Abstandnahme davon, sondern die Herausforderung, die Bewandtnis meistern zu wollen und damit die vertiefte Hingabe an den Bewandtniszusammenhang.

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In der Terminologie von Sein und Zeit, zeigt sich das Seiende entweder im Modus der ‚Zuhandenheit‘ oder des nachträglichen Modus der ‚Vorhandenheit‘. Übersetzen wir also die Gegebenheitsweise des Seienden, wie es sich dem Wesensblick in die Begrifflichkeit von Sein und Zeit erschlossen ist, dann können wir sagen, dass sie das Seiende als ‚vorhanden‘ voraussetzt.164 Das Seiende in seiner Zuhandenheit versperrt den Blick in das Wesen und verbirgt sein eigenes Wahrheitsgeschehen. Erst nach einem Bruch mit der Zuhandenheit, kann das Entbergen als ein Wahrheitsgeschehen verstanden werden. Heidegger drückt dies zu Beginn seines Technikaufsatzes folgendermaßen aus: „Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet.“165 Eine solche ‚freie Beziehung‘, die auf eine Einsicht in das Wesen beruht, muss immer vorbereitet sein, denn sie stellt sich nie unmittelbar ein. Anders interpretiert haben wir ursprünglich eine unfreie Beziehung zum Seienden und zur Technik; nicht nur im Bereich der Technik gibt es die von Heidegger beschriebene Gefahr. Selbst das Werk der Kunst kann in dieser Interpretation vom Seienden nicht unmittelbar dem Bewandtniszusammenhang entkommen, wie Heidegger es in „Die Frage nach der Technik“ suggeriert.166 Dennoch erwartet er, wie wir schon gesehen haben, die Auseinandersetzung mit dem Gestell von der Kunst her. Es hat mit der Kunst nämlich ursprünglich eine besondere ‚Bewandtnis‘ – Kunst ist zunächst und zumeist ‚Gebrauchskunst‘. Dies wird auch daher ersichtlich, dass Heidegger selbst sagt: „Das Werk trägt die Verweisungsganzheit, innerhalb derer das Zeug begegnet.“167 So ist zum Beispiel das paradigmatische Werk des griechischen Tempels in Heideggers Kunstwerkaufsatz auch nicht einfach beliebig hergestellt worden, sondern um etwas besonderen willen. Untersucht man den Tempel unter dem Anlass seines Baus bzw. von seiner praktischen Funktion, wofür er entstanden ist, her, dann erschließt auch er sich als eine Art Zeug.168 Ein Werk als ein Kunstwerk im Heideggerschen Sinne zu sehen, kann seinem Bewandtniszusammenhang nach also nicht unmittelbar erscheinen. Die Distanz zum Seienden, die bereits in der Feststellung von etwas als Kunstwerk vorhanden sein muss, zeigt an, dass der Betrachter nicht an der Zuhandenheit verhaftet 164

165 166

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Um die damit verbundene Affinität zu E. Husserls Phänomenologie zu studieren siehe: Friedman, Michael: A Parting of Ways, Chicago 2000, S. 43. VA, S. 9 (kursiviert S.R.). Mit Heideggers Begriff des Kunstsbetriebs gewinnen wir jedoch eine Ahnung davon, was die ‚Bewandtnis der Kunst‘ heute bedeuten kann. (Vgl. Holzw, S. 56ff). SuZ, S. 70. Vgl. auch: „Denn daß der Wille, der so ein Bauwerk [wie den Dom der Hagia Sophia] erzeugt hat, bloß ein Kunst-Wille gewesen sei, das ist eine sehr neuzeitliche Vorstellung.“ (Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1976, S. 331; kursiviert S.R.).

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ist. In diesem Sinne kann die Kunst zwar vielleicht das ‚Rettende‘ fördern, aber sie ist nicht das Rettende selbst. Ist diese Abstandnahme genommen, kann das Blick in das Wesen des Werkes auch die ‚Verweisungsganzheit‘ erschließen. Alles in allem wird die Herrschaft des Gestells in dieser dritten Genealogie als zugehörig zum menschlichen Dasein interpretiert. Seine Herrschaft entsteht folglich aus dem unreflektierten Umgang mit dem Seienden – oder anders gewendet: Das Gestell als Wesen der modernen Technik ist die neuzeitige Weiterentwicklung der Herrschaft des in der Bewandtnis aufgedeckten Seienden. Die Rettung aus der Gefahr des Gestells gibt es nur, insofern der Mensch nicht nur die Bewandtnis des Seiende mitvollzieht, sondern fähig ist, sich von diesem pragmatischen Zusammenhang zu distanzieren und einsieht, dass er die Bewandtnis des Seienden einem besonderen Wahrheitsgeschehen zu verdanken hat.

B Biotechnologie Wenn wir nun wieder zum Technikaufsatz zurückkehren, dann gibt es darin auch versteckte Ansätze einer vierten Genealogie der modernen Technik. Dies ist eine Genealogie, wonach die moderne Technik im Grunde genommen noch ‚anfänglicher‘ als in den drei bisherigen Genealogien gedacht werden kann. Wir erinnern uns, dass Heidegger sagt: „Jenes, was hinsichtlich des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“169

Diesen Gedanke haben wir bisher in dem Sinne ausgelegt, wie er im Heideggerschen Kontext entwickelt wird, und so haben wir gesehen, dass das Wesen der modernen Technik früher als das Hervorkommen der neuzeitlichen Wissenschaften sei.170 Von hieraus möchten wir nun aber noch einen Schritt weiter zurückgehen. Denn versuchen wir die Struktur dieser Logik konsequent zu Ende zu denken, dann wäre es vielleicht auch möglich, die moderne Technik so zu interpretieren, dass sie ‚früher‘ selbst als die antike Technik sei. Dass das Neue früher als das Alte sei, erscheint ersteinmal paradox. Wie kann dieser Gedanke überhaupt verständlich gemacht werden? Zunächst soll darauf 169 170

VA, S. 26. Vgl. VA, S. 26.

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hingewiesen werden, dass eine solche Auslegung der modernen Technik im Prinzip nicht kontraintuiver ist als Heideggers eigener Gedanke, dass die moderne Technik früher als die neuzeitliche Wissenschaft ist. Um dies plausibel zu machen, soll versucht werden, die Struktur einer ‚Umkehrung‘ der historischen Abläufe überhaupt zu verdeutlichen. Dieser Begriff der ‚Umkehrung‘ kommt in Heideggers Gedankengang häufiger vor.171 Warum zeigt sich laut Heidegger die ‚anfängliche Frühe‘ also erst zuletzt? Die Antwort lautet, dass wir es bei Heidegger mit einer teleologischen Geschichtsauffassung zu tun haben. So stehen Anfang und Ende in einem sehr innigen und wesentlichen Verhältnis zu einander, selbst wenn sie auch zeitlich weit voneinander entfernt sein mögen. Das Ende oder das WHYOR einer geschichtlichen Entwicklung ist für Heidegger als Vollendung zu verstehen.172 So gesehen unterbricht das Ende nicht einfach die durch den Anfang (DMUFKY) ins Rollen gebrachte Entwicklung, sondern es gibt erst der Epoche die Gestalt, von woher der Anfang als Anfang verständlich wird.173 Eine geschichtliche Epoche ist in dieser Konzeption als ein Entfaltungsprozess zu verstehen, worin das Wesen des Anfangs im Laufe der Geschichte immer deutlicher zum Vorschein kommt. Es ist also in diesem Sinn, dass das historische Spätere in seinem engen Bezug zum Anfang steht, deswegen zeigt sich die ‚anfängliche Frühe‘ erst zuletzt; deswegen kann Heidegger auch die Moderne von der Perspektive der Vollendung der antiken Metaphysik aus in den Blick nehmen. Die Umkehrung der Historie heißt, dass die Vollendung mit dem Anfang wesensverwandt ist und so die längste Zeit vorbereitet war. Das, was die längste Zeit vorbereitet ist, ist geschichtlich gesehen früher als das, was historisch diesem Phänomen vorausgegangen ist. Anders gesagt: Der Verlauf der historischen Erscheinungen steht in einer reziproken Beziehung zur Chronologie. Um ein zeitliches Phänomen zu verstehen, muss seine 171 172

173

Vgl. Holzw, S. 28f und TK, S. 37ff. Vgl. VA, S. 13. Damit interpretieren wir Heidegger anders als Friedrich Rapp, der sagt: „Gewiß lässt sich der historische Prozeß in der Rückschau immer als kausal notwendig erweisen, weil die vorhergehenden Stadien genau die darauffolgende Stufen hervorgebracht haben. Doch dabei handelt es sich – determinationstheoretisch gesprochen – um ein genetisches Hervorbringen und nicht um ein teleologisches Erstreben. Deshalb muß man sich fragen, ob das unterstellte Wesen der Technik auch in der Zukunft dieselben Resultate zeitigen werde, die es in der Vergangenheit ‚hervorgebracht‘ hat.“ (Rapp, Friedrich: „Sein und Zeit, 1927; Die Technik und die Kehre, 1962“ in: Nachdenken über Technik, hrsg. von Christoph Hubig, Alois Huning, und Günter Ropold, Berlin 2000, S. 168-172, hier S. 172). Rapps Unterscheidung eines ‚teleologisches Erstrebens‘ von einem ‚genetisches Hervorbringen‘ bleibt unklar, zumal der Begriff der ‚Genese‘ Erzeugung bedeutet, und damit einen Prozess vorzeichnet, der erst vom Erzeugtem verständlich wird und erst bei diesem Ende des Schaffens (WHYOR) zum Stehen kommt: in diesem Sinne ist er teleologisch. (Vgl. auch ‚Genesis‘, in: Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 232). Vgl. S. 13.

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Vollendung mit dem Anfang des Phänomens zu einer Einheit verbunden werden, so dass es in seiner Gestalt plausibel wird und zum Stehen kommt. Wie Heidegger sagt: „Das Letzte ist Jenes, was die längste Vor-läuferschaft nicht nur braucht, sondern selber ist, nicht das Aufhören, sondern der tiefste Anfang, der am wietesten ausgreifend am schwersten sich einholt. Das Letzte entzieht sich deshalb aller Rechnung und muß deshalb die Last der lautesten und häufigsten Missdeutungen ertragen können. Wie könnte es anders das Überholende bleiben.“174

Versuchen wir, vor diesem Hintergrund das Wesen der modernen Technik erneut zu denken. Ist es dann möglich, dieses Wesen noch anfänglicher als in den bisherigen drei Genealogien zu verstehen? Können wir mit Heidegger noch einen Schritt weiter zurückgehen und seiner Aufforderung zum anfänglichen Denken besser entsprechen: „Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“175 Entlang Heideggers phänomenologischer Umkehrung der Historie möchten wir nun fragen: Wie kann die moderne Technik noch anfänglicher als bisher gedacht werden? Wie wurde überhaupt die antike WHYFQK anfänglich gedacht? Wie wir bereits gesehen haben, folgert Heidegger in „Die Frage nach der Technik“, dass die antike WHYFQK als eine Art SRLYKVL gedacht wurde und zwar im Unterschied zur SRLYKVL der Natur. Heidegger sagt: „Die IXYVL ist sogar SRLYKVL im höchsten Sinne. Denn das Natur nach (IXYVHL) Anwesende hat den Aufbruch des Her-vor-bringens, z.B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (HMQH-DXWZ ). Dagegen hat das handwerklich und künstlerisch Her-vor-brachte, z.B. die Silberschale, den Aufbruch des Hervorbringens nicht in ihm selber, sondern in einem anderen (HMQD?OOZ), im Handwerker und Künstler.“ 176 Diese antike Bestimmung der Technik setzt auch einen Anfang hinsichtlich des Ziels ihrer Entwicklung – sie muss nämlich die Grenze zur Natur zu überwinden.177 Weil die SRLYKVL 174 175 176 177

GA 65, S. 405. VA, S. 26. VA, S. 15. Gerade das Grenzüberschreitende gehört für Heidegger zur Machenschaft, die wie bereits vom Wesen her betrachtet haben und die hierin ihren systematischen Platz im Gestell hat. So schreibt Heidegger: „Machenschaft und Erlebnis: Im Wesen beider liegt es, keine Grenzen zu kennen und vor allem keine Verlegenheit und vollends keine Scheu […] Gemäß ihrem Grenzen- und Verlegenheitslosen ist der Machenschaft und dem Erlebnis alles offen und nichts unmöglich.“ (GA 65, S. 131, kursiviert S.R.).

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der antiken WHYFQK den Anfang außer sich hat, im Unterschied zur SRLYKVL der IXYVL, ist sie nicht ‚SRLYKVL im höchsten Sinne‘. Es fragt sich also, wie sie dazu werden könnte. Die antike Technik ist ausdrückliche Nachahmung von dem, was die Natur von selbst leistet, und als Nachahmung (PL YPKVL) ist sie anfänglich vom Vorbild der Natur abgeleitet und dementsprechend als eine Hervorbringung zweiten Ranges zu verstehen. Die ÆWHYFQK ist aber sowohl als eine defiziente als auch vollendende Art der Hervorbringung bestimmt. Aristoteles sagt: „0DYOLVWDGHIDQHURQHMSLWZ Q ]ZYZQ WZ Q D@OOZQ D RX@WH WHYFQK RX@WH ]KWKYVDQWD RX@WH ERXOHXVDYPHQD SRLHL “178 „Die Kunstfertigkeit bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu ende bringen kann, teils eifert sie ihr (der Natur) nach.“179 Diese Bestimmung der WHYFQK bestimmt die WHYFQK im Bezug auf die IXYVL als PL YPKVL hinsichtlich ihr Verfahren – aber ihr WHYOR liegt auch außerhalb der Reichweite der IXYVL, so dass gesagt werden kann, dass die WHYFQK die IXYVL vollenden kann. In dieser Bestimmung der Hervorbringung der WHYFQK kommt das Wesen der WHYFQK auf eine besondere Weise zum Ausdruck. Die antike Technik wird dadurch auf einen Weg gebracht, und, wie Heidegger sagt, „auf einen Weg bringen – dies heißt in unserer Sprache: schicken.“180 So gesehen entspringt die Geschichte der WHYFQK und damit die Genealogie der modernen Technik der Bestimmung der WHYFQK als Nachahmung und Vollendung der Vorgänge der Natur. Die WHYFQK ist Nachahmung der IXYVL weil sie versucht etwas anhand der vorbildlichen Hervorbringungsart der IXYVL hervorzubringen.181 Als Nachahmung der IXYVL ist die WHYFQK geschichtlich gesehen sowohl nachträgliche zur IXYVL als auch davon bestimmt. Durch die Nachahmung entsteht das methodische Verfahren, womit auch solche Dinge hervorgebracht werden können, wozu die IXYVL nicht fähig ist. So können durch die WHYFQK Häuser und anderes Zeug hervorgebracht werden, aber die WHYFQK kann auch wie im Falle der Heilkunst, das zu Ende bringen, wozu die IXYVL von alleine nicht fähig ist, nämlich zur Gene-

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Aristoteles: Physik (Aristotle’s Physics), hrsg. von G. P. Goold, Cambridge/London 1980. 2.199a. Ders.: Physik. Vorlesung über die Natur, übersetzt von Hans Günter Zeckl, in: Philosophische Schriften, in 6 Bänden, Band 6, Hamburg 1995, S. 1-258, 2.199a. VA, S 28. So kann das Phänomen der Zeugung auch schon als antikes Beispiel für die Biotechnologie ausgelegt werden. Dementsprechend gerät Aristoteles bei dem Versuch, die WHYFQK von der Lebendigkeit zu unterscheiden, in Schwierigkeiten. Vgl. dazu: „Gerade die Zeugung stellt Aristoteles’ Bewegungsmodel vor eine Herausforderung, wenn er es für die Lebewesen aus dem Herstellungsparadigma lösen will.“ (Hilt, Annette: Ousia – Psyche – Nous: Aristoteles Philosophie der Lebendigkeit, Freiburg/München 2005, S. 177).

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sung zu führen. In diesem Sinne ist die WHYFQK nicht nur als Nachahmung, sondern auch als Vollendung der IXYVL zu verstehen.182 Um das Geschick der WHYFQK besser zu verstehen, ist es entscheidend, ihren Vollendungscharakter zu verdeutlichen. Denn allein implizit in dieser Bestimmung ist ausgedrückt, dass die IXYVL als mangel- und fehlerhaft vorgestellt wird. Dies drückt Aristoteles auch aus, ohne dieser Bestimmung der Natur besondere Aufmerksamkeit zu widmen, insofern er auf eine Ähnlichkeit zwischen WHYFQK und natürlichen Dingen verweist: „HLMGKHMYVWLQ HMYQLDNDWDWHYFQKQHMQRL- WRRMUTZ H-YQHNDYWRXHMQGHWRL D-PDUWDQRPHYQRL H-YQHNDPHYQWLQRHMSLFHLUHL WDLDMOOMDMSRWXJFDYQHWDLR-PRLYZDMYQH@FRLNDLHMQ WRL IXVLNRL NDLYWDWHYUDWDD-PDUWKYPDWDHMNHLYQRXWRX H-YQHNDYWRX “183 „Wenn es also unter den Erzeugnissen gemäß Kunstfertigkeit welche gibt, bei denen das richtige ‚wegen etwas‘ wohl versucht, aber verfehlt worden ist, dann dürfte sich das bei den natürlichen Dingen ähnlich verhalten, und Missbildungen sind Verfehlungen jenes ‚wegen etwas‘.“184 Wenn zum Beispiel ein Arzt mit seinem ärztlichen Wissen und dessen ‚Technik‘ eine ‚Missbildung‘ heilt, dann bessert er einen Fehler der Natur aus und vollendet laut Aristoteles ein Werk, wozu die IXYVL von sich aus nicht fähig wäre. In der Annahme, dass in der Natur Fehler geschehen können, liegt unseres Erachtens eine indirekte Teleologie und ein maßloser Vorgriff auf die Natur vor, und dies wird von der Technik evoziert. Dementsprechend ist es nicht nur möglich, Eingriffe in die Natur zu rechtfertigen, sondern auch, sie zu erstreben. Wenn etwas als ‚Fehler‘ eingestuft wird, dann spricht sich darin gleichzeitig das Wissen davon aus, wie die Natur ‚richtig‘ hätte sein sollen; in dieser maßlosen, unangemessenen Bestimmung der Natur liegt zugleich der Imperativ, diese Fehler aufzuheben. Um den ‚Fehler‘ der Natur überhaupt ausfindig zu machen, muss die Natur aber zuerst auch als Ordnungsgefüge und in Regeln aufgestellt, vorgestellt und von diesen Maßstäben her beurteilt werden. Ob bei Aristoteles das ‚Fehlerhafte‘ und das ‚Richtige‘ auf den Menschen bezogen wird und somit auf einer anthropozentrischen Grundlage beruht, lassen wir dahingestellt sein. Aufmerksam machen möchten wir aber auf den strukturellen Zusammenhang zwischen ‚Fehler‘ und ‚Vollendung‘: Weil die Natur überhaupt fehlerhaft ausgelegt wird, und die WHYFQK fähig ist, die Natur zu ‚reparieren‘, folgt daraus ein WHYOR der WHYFQK. Nämlich die IXYVL 182

183

184

Vgl. Aristoteles: Physik (Aristotle’s Physics), hrsg. von G. P. Goold, Cambridge/ London 1980. Physik 2.199a. Aristoteles: Physik (Aristotle’s Physics), hrsg. von G. P. Goold, Cambridge/London 1980. 2.199b. Ders.: Physik. Vorlesung über die Natur, übersetzt von Hans Günter Zeckl, in: Philosophische Schriften, in 6 Bänden, Band 6, Hamburg 1995, S. 1-258. 2.199b (kursiviert vom Autor).

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letztendlich fehlerlos zu machen. Zudem können wir fragen: Worin vollendet sich die PL YPKVL? Wie kann dass, was grundsätzlich als Nachahmung bestimmt worden ist, zu seinem Ziel und Ende kommen? Diese Fragen können zunächst so beantwortet werden, dass solange es eine Differenz zwischen WHYFQK und IXYVL gibt, von Seiten der WHYFQK her versucht wird, die IXYVL einzuholen. Das heißt den Prozess des Hervorbringens mit ständig weniger Aufwand zu vollziehen, bis er automatisch ‚von-sich-her‘ geschieht.185 Konkret erfüllt die Bio-Technologie diese beiden Bestimmungen – sie ist die vollkommene Nachahmung und Verbesserung der Natur zugleich. Auf den Punkt gebracht ist die hier vertretene These also die, dass die Biotechnologie die geschichtliche systematische Vollendung der Bestimmung der WHYFQK sei. In der Biotechnologie ist die Art und Weise der Hervorbringung der Technik von der vorbildlichen Natur nicht länger zu unterscheiden. Und in diesem Sinne ist die moderne Technik im Sinne der Biotechnologie zwar historisch später als die antike WHYFQK, wird aber die Biotechnologie anfänglich gedacht, dann entsteht sie gleichzeitig mit der Bestimmung der WHYFQK als Nachahmung und Verbesserung der Natur; in ihrer Vollendung geht sie der WHYFQK sogar voraus, als sie dem Vor-Bild der WHYFQK gleicht. In der Biotechnologie ‚verwindet‘ die Technik den Abstand zur Natur – in ihr kehrt die Technik in ihren Ursprung in der Natur zurück. Die Biotechnologie als Rückkehr in den Ursprung der Technik zu denken, ist eine ‚Umkehrung‘ des historischen Zusammenhanges. In der Biotechnologie vollendet sich der Keim, aus dem die WHYFQK in ihrem Anfang entstanden ist. In der Biotechnologie schlägt die Technik in Natur um.186 Die Biotechnologie ist wie erläutert nicht nur die Vollendung der WHYFQK als PL YPKVL der Hervorbringung der IXYVL, sie ist auch als die Vollendung der IXYVL zu betrachten, worin die ‚Fehler der Natur‘ aufgehoben werden. So verändert zum Beispiel die Gen-‚therapie‘ nicht nur die Reproduktion und somit die Selbstbewegung der natürlichen Dinge, sondern betrachten wir sie von der Stammzellenforschung aus, zielt die Biotechnologie letztendlich darauf ab, makellose Menschen und Organismen herzustellen, bzw. sie zu reproduzieren. Nur wenn die Biotechnologie die ‚Fehler‘ und ‚Mängel‘ der Natur aufgehoben hat, kann sie überhaupt zu einem Ende kommen. Die 185

186

Nach diesem Verständnis der Technik ist die Entwicklung der Maschine nicht zufällig. Sie ist Ausdruck einer Annäherung des WHYOR der Selbstbewegung der Natur. Vgl. auch: „Erst duch diesen Automatismus erhält unsere Technik das ihr eigentümliche Gepräge, das sie von der Technik aller anderen Zeiten unterscheidet. Und erst durch ihn gelangt sie zu der Vollendung, die wir an ihr wahrzunehmen beginnen.“ Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 1953, S. 39. Zudem könnte man argumentieren, dass die Technik der Landwirtschaft schon immer Biotechnologie war und dass diese ursprüngliche Technik mit der modernen – der grünen – Biotechnologie zur allgemeinen Herrschaft kommen wird.

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Bio-Technologie ist demnach nicht einfach eine Technik unter anderen, sondern sie ist in dieser Interpretation also die konsequente Vollendung der Bestimmung der antiken WHYFQK.187 Demnach kann das Wesen der modernen Technik in Analogie zu dem Wesen der Natur verstanden werden. Das Wesen der modernen Technik muss als eine besondere Art der Selbstbewegung verstanden werden, also in dem Sinne von Wesen erfasst werden, wie dies im ersten Teil der Abhandlung entwickelt wurde.188 Durch das Wesen der modernen Technik wird das Seiende absichtlich in seiner lenkbaren Natur entborgen. Das heißt, dass das Wesen der modernen Technik ein Geschick stiftet, das erst dann zu seinem Ende kommt, wenn das Seiende so aufgestellt ist, dass es sich gemäß einem makellosen Vorbild selbst reproduziert – das wir als ein schönes und vortreffliches Ideal verstehen können: Das Wesen der modernen Technik vollendet sich laut dieser Interpretation darin, insofern es die höchste SRLYKVL der Natur mit der schönen SRLYKVL der Kunst verbindet – das heißt indem die Selbstbewegung sich gemäß des vollendeten HL?GR der Schönheit vollzieht. Und von diesem Geschick der Technik ist der Mensch so wie das Seiende überhaupt herausgefordert. Ob nun die Vollendung der Technik letztendlich die Herrschaft des technisch entborgenen Seienden bezeichnet oder die Herrschaft der Natur über die Technik lässt sich nicht entscheiden und ist auch nicht für unser Vorhaben wichtig. Biotechnologie kann je nach Perspektive als Vorherrschaft der Technik oder der Natur interpretiert werden – wesentlich für unserer Interpretation der Genealogie der modernen Technik ist allein, dass die Selbstbewegung der Natur zur Vollendung der Technik gehört.189

187

188

189

Diesen wesentlichen Aspekt übersehen mehrere Forscher – ohne ein Verständnis davon, inwiefern die Natur zugleich Ideal für die moderne Technik ist und in dem Sinne auch in der Moderne wieder auflebt. So schreibt unter anderem Ben-Alexander Bohnke in seiner Monographie mit dem bezeichnenden Titel Abschied von der Natur: „Die Natur verschwindet aus unserer Welt, jeden Tag mehr. Tiere Pflanzen, Landschaften, Gewässer – sie sterben aus oder sterben ab. Die Natur insgesamt wird untergehen. Und so kommt die Zeit, sich von ihr zu verabschieden.“ Bohnke, BenAlexander: Abschied von der Natur, Düsseldorf 1997, S. 1. (kursiviert S.R.). Mit Blick auf den ersten Teil der Abhandlung ließe sich argumentieren, dass die moderne Technik von ihrem Wesen her gesehen, immer als eine Art Biotechnologie zu verstehen ist. Siehe auch: ”Late twentieth-century machines have made thoroughly ambigous the difference between natural and artificial, mind and body, self-developing and externally designed, and many other distinctions that used to apply to organisms and machines.” Haraway, Donna J: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York, 1991, S. 163.

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C Unterwegs zum Ursprung der modernen Technik Wir haben jetzt in vier verschiedenen Ansätzen nach Antworten auf die Frage gesucht, wie und wann das Wesen der modernen Technik in sein ‚Walten‘ kam. Wir haben somit untersucht, wie und wann das Gestell zu herrschen angefangen hat. Je anfänglicher wir gefragt haben, umso weiter hat sich dieser Anfang zurückgezogen. Damit haben wir ausgehend von „Die Frage nach der Technik“ am Ende vier unterschiedliche Genealogien der modernen Technik herauskristallisieren können. Diese vier Genealogien schließen einander in manchen Hinsichten gegenseitig aus, aber sie müssen auch nicht kohärent zueinander sein. Wir möchten anhand der vier verschiedenen Genealogien zeigen, dass in demselben Text sehr unterschiedliche Ansätze zur Genealogie der modernen Technik gegeben sind. Wann die Epoche der Herrschaft des Gestells angefangen hat, und womit sie aufhört, hängt davon ab, wie wir den Ursprung der modernen Technik interpretieren. In den vier Genealogien hoffen wir, entscheidende Spannungen in Heideggers Technikverständnis aufgedeckt zu haben. Damit sind wir der Meinung, diesen Text in seiner Fragwürdigkeit aufgedeckt zu haben und in diesem Sinne einen Beitrag zur künftigen Auseinandersetzungen mit diesem wirkungsreichen Werk beigetragen zu haben. Der ersten Genealogie zufolge scheinen Ursprung der modernen Technik und damit die Herrschaft des Gestells mit dem Anbruch der Moderne zusammenzuhängen. In dieser Genealogie ist ‚das Neuartige der modernen Technik‘ gegenüber der WHYFQK, dass durch sie das Seiende entborgen und zugleich herausgefordert wird.190 „Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.“191 Damit erweckt Heidegger einen phänomenologischen Eindruck, dass das Wesen der modernen Technik auch modern ist, denn Energie zu gewinnen und speichern zu können, hängt historisch gesehen unmittelbar mit der Stromgeneration und den Stromkondensatoren der Moderne eng zusammen. Diese Auslegung vom modernen Ursprung des Gestells erlangt durch Heideggers Beschreibung der Herausforderung des Wesens der modernen Technik zusätzliche Unterstützung: „Diese geschieht dadurch [die Herausforderung], daß die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeichert wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird.“192 Mit der Zusammengehörigkeit von ‚erschließen, umformen, speichern, verteilen und umschalten‘ bringt Heidegger den Leser dazu, nicht nur an 190 191 192

Vgl. VA, S. 18. VA, S. 18 VA, S. 20.

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Stromgeneration und Kondensierung zu denken, sondern auch an die damit verbundenen moderne Verbrauchernetzwerke. Wenn diese verschiedenen Phänomene der Herausforderung des Seienden notwendig zum Gestell gehören, und nicht nur als moderne Erscheinungen seiner antiken Herrschaft ausgelegt werden, dann scheint sein Ursprung auch in der Moderne zu sein.193 Lesen wir weiter, wird deutlich, dass das Entbergen des Seienden in ‚Energie‘ bei Heidegger sehr weit gefasst sein muss, denn Heidegger verbindet auch das ‚Entbergen von Menschen als Krankenmaterial einer Klinik‘ und den ‚Wald als Zellulose‘ mit dem herausfordernde Entbergen der modernen Technik.194 Aber ‚Krankenmaterial‘ und Zellulose sind nicht unmittelbar Formen von Energie. Das Gestell muss also in seinem Repertoire wieter erfasst werden und als eine Herrschaft verstanden werden, die das Seiende entbergt, so das es zur Verfügung steht und als Bestand vorgestellt wird. Von diesem prinzipiellen und allgemeiner gefassten Begriff des Wesens der modernen Technik aus sind wir auf den Spuren einer anderen Genealogie der modernen Technik gekommen. Gemäß dieser Interpretation ist der herrschende Anfang des Wesens der modernen Technik nicht in der Moderne zu lokalisieren, sondern bereits in der Antike geschehen. Dementsprechend wird schon im Technikaufsatz der neuzeitliche Ursprung des Gestells in Frage gestellt. Denn das Gestell geht den neuzeitlichen Wissenschaften als ihrer Möglichkeitsbedingung voraus.195 So stellt sich also die Frage: Wenn nicht erst in der Epoche der Moderne, wann ist der Ursprung der Herrschaft des Gestells dann geschehen? Gehen wir Heideggers Auslegung des Wesens 193

194 195

Interessant ist, dass Ernst Jünger eine Revolution der Geschichte des Abendlandes erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem in der ersten Genealogie Heideggers festlegt, sie mit dem ersten Weltkrieg verbindet. In seiner phänomenologischen Beschreibung dieser Revolution gibt es wesentliche Ähnlichkeiten zu Heideggers Interpretation der Herrschaft des Gestells: „In dieser absoluten Erfassung der potentiellen Energie, die die Kriegführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt, deutet sich der Anbruch des Arbeitszeitalters vielleicht am sinnfälligsten an – sie macht den Weltkrieg zu einer historischen Erscheinung, die an Bedeutung der Französischen Revolution überlegen ist. Um Energien von solchem Ausmaß zu entfalten, genügt es nicht mehr, den Schwertarm zu rüsten – es ist eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich. Sie zu verwirklichen, ist die Aufgabe der Totalen Mobilmachung, eines Aktes, durch den das weit verzweigte und vielfach geänderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strom der kriegerischen Energie zugeleitet wird. Eine Mobilisation von diesem Umfang hatte der menschliche Verstand zu Beginn des Weltkrieges noch nicht vorgesehen.“ (Jünger, Ernst: Die Totale Mobilmachung, in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Essays, Band 7: Essays I: Betrachtungen über die Zeit, Stuttgart 1980, S. 119-142, hier S. 126). Vgl. VA, S. 21. Vgl. VA, S. 26f.

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der modernen Technik als ‚Ge-stell‘ nach, dann sehen wir, dass das Gestell als das ‚ursprünglich Versammelnde‘ der verschiedenen Weisen der Aufstellung des Seienden bestimmt wird, wovon sowohl Vorstellen, Herstellen als auch Bestellen Ausdrücke sind.196 Das Vorstellen gehört aber auch mit dem Herstellen im Sinne der WHYFQK zusammen, weil es ihre Möglichkeitsbedingung ist. Die WHYFQK ist eben ein Herstellen des vorgestellten HL?GR in die Anwesenheit. So liegt bereits in der ‚vorstellenden Nachstellen‘ der WHYFQK eine Herausforderung des Seienden, wonach das Seiende als Baumaterial, Ressource oder Bestand entborgen wird. Also geschieht bereits in der Vorstellung der WHYFQK eine Aufstellung des Seienden, die als ein Vorgriff auf das Seiende zu verstehen ist, der im wesentlichen dieselbe Herausforderung des Seienden wie durch das Gestell nicht nur veranlasst, sondern selber ist. In „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Wenn also der Mensch forschend, betrachtend der Natur als einem Bezirk seines Vorstellens nachstellt, dann ist er bereits von einer Weise der Entbergung beansprucht, die ihn herausfordert, die Natur als einen Gegenstand der Forschung anzugehen, bis auch der Gegenstand in das Gegenstandlose des Bestandes verschwindet.“197 Wenn die Natur im Bereich des Vorstellens nachgestellt wird, so wie es bereits in der WHYFQK geschieht, dann ist sie vom Gestell herausgefordert. Damit wird in dieser zweiten Genealogie das Wesen der modernen Technik auf einen früheren Anfang relativiert. In dieser Interpretation ist der Ursprung des ‚Waltens‘ des Gestells unzertrennlich vom ‚vorstellenden Nachstellen des Seienden‘. Also ist der Ursprung des Gestells in dieser Genealogie in der Antike zu lokalisieren. Versuchen wir aber, Heideggers Gedanken noch anfänglicher zu durchdenken, stoßen wir auf zwei weitere mögliche Ursprünge des Gestells. Bereits in „Die Frage nach der Technik“ schreibt Heidegger: „Wo immer der Mensch sein Auge und Ohr öffnet, sein Herz aufschließt, sich in das Sinnen und Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken freigibt, findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht. Dessen Unverborgenheit hat sich schon ereignet, so oft sie den Menschen in die ihm zugemessenen Weisen des Entbergens hervorruft.“198 An diesen Gedanken zum ‚Hervorrufen des Menschen in die ihm zugemessenen Weisen des Entbergens‘ knüpft Heidegger an Gedanken in Sein und Zeit an. Die dem Menschen als Dasein ursprüngliche entsprechende Entbergungsweise des Seienden beschreibt Heidegger in Sein und Zeit als „die ‚Natur‘ im Lichte der Naturprodukte.“199 Und er schreibt weiter: „Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden – auch nicht als Naturmacht. Der Wald ist 196 197 198 199

Vgl. VA, S. 23ff. VA, S. 22. VA, S. 22. SuZ, S. 70.

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Forst, der Berg ist Steinbruch, der Fluss Wasserkraft, der Wind ist Wind ‚in den Segeln‘.“200 Wegen des besonderen Seins des Menschen entbirgt sich ihm ursprünglich das Seiende in einem Bewandtniszusammenhang – so ist das Seiende immer in einer pragmatischen Struktur entborgen, worin es als Zeug instrumentalisiert ist. Dementsprechend wird das Seiende dem jeweiligen Menschen im voraus als zuhanden entborgen: „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist.“201 Und eben die Entbergung des Seienden als zuhanden entspricht in wesentlichen Hinsichten der Entbergungsweise des Gestells; denn gemäß solcher Entbergungsweisen wird das Seiende als Ressource aufgestellt, so dass das jeweilige Seiende immer nach seinem ‚wozu‘ oder ‚worumwillen‘ oder sein ‚Bewandtnis‘ verstanden wird. Das Seiende gehört daher in einem den Menschen umfassenden Zusammenhang von Instrumentalisierungen. Die Schwierigkeit für Heideggers Verständnis des Gestells ergibt sich daraus, dass das Seiende als Zuhandenheit entborgen keine explizit moderne Form ist und gar keinen historischen Anfang hat. Vielmehr ist die Zuhandenheit als ein Ursprungsphänomen zu verstehen, das wesentlich der Entstehung des Menschen gehört. Die Zuhandenheit bezeichnet, wie das Seiende ‚an sich‘ für den Menschen sei.202 Sowie es Menschen gibt, ist das Seienden bereits als zuhanden entborgen, erst nachträglich kann das Seiende anders entborgen werden. Der Anfang des gemäß dem Gestell aufgestellten Seienden hebt also in dieser Genealogie gleichzeitig mit dem Dasein des Menschen an. Phänomenologisch gesehen stellt diese Interpretation den Ursprung von der Herrschaft des Gestells sowohl vor die Moderne als auch vor die griechische Antike zurück. Nach der Entstehung des Menschen als ein Dasein haben sich die Bewandtniszusammenhänge des Seienden zwar ausgedehnt und verkompliziert, ihr Wesen aber nicht prinzipiell geändert. Mit anderen Worten interpretiert die dritte Genealogie die Genese des Gestells noch anfänglicher als bisher, indem sie sie mit der Entstehung des Menschen verbindet. Schließlich haben wir Ansätze zu einer vierten Genealogie der modernen Technik in „Die Frage nach der Technik“ aufdecken können. Diese Genealogie geht, so wie die dritte Genealogie auch, bloß indirekt aus dem Text hervor, aber sie lässt sich dennoch als eine mögliche und in sich schlüssige Interpretation ausarbeiten. In dieser vierten Genealogie strebt die moderne Technik nach Vereinigung mit der vorbildlichen Herstellungswiese der Natur. Dementsprechend ist der Anfang der antiken WHYFQK als eine Art Mittelstation zwischen Anfang und Ende des Wesens der modernen Tech200 201 202

SuZ, S. 70. SuZ, S. 71. Vgl. SuZ, S. 71.

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nik zu verstehen, denn in dieser Genealogie wird das Wesen der modernen Technik direkt mit dem, was die antike WHYFQK als ideale Herstellungsweise dient, verbunden: Das, was der antike WHYFQK vorausgeht und versucht nachzuahmen, nämlich die Natur. Die Natur setzt in dieser Geschichte die WHYFQK ins Werk und verweist auf die Vollendung der Technik in der modernen Biotechnologie. Die moderne Technik als Biotechnologie verstanden kehrt mit anderen Worten in die Natur zurück oder holt ihr Vorbild ein. In dieser Genealogie der modernen Technik wird ihren Ursprung noch anfänglicher gedacht und paradoxerweise so, dass wir sagen können, die moderne sei Technik noch älter als die antike Technik. In diesen vier verschiedenen Genealogien haben wir somit versucht, Spannungen in Heideggers Technikaufsatz offenzulegen, die zunächst ein Gedanke Heideggers evoziert hat: „Jenes, was hinsichtlicht des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt.“203 So hat Heidegger uns gegenüber einer voreiligen und besonders modernen Bestimmung des Wesens der modernen Technik skeptisch gemacht. Das, was die moderne Technik bestimmt, muss nicht selbst modern sein, ganz im Gegenteil. Ergänzend für unseren Versuch, das Wesen der modernen Technik stets anfänglicher zu denken, hat Heideggers Gedanken uns weitergeholfen: „Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“204 Selbst wenn Heidegger diesen Text nicht in dieser Vieldeutigkeit angelegt hätte, wie wir ihn hier ausgelegt haben, so würde es nicht Ansatz und Sinn vorliegender Interpretationen antasten, ganz im Gegenteil. Eben weil wir hier die vier verschiedenen Interpretationen enggeführt haben, heißt dies gerade nicht, dass eine von denen die richtige sei, sondern wir möchten vielmehr einen Spielraum für die Interpretation von „Die Frage nach der Technik“ im Vollzug des Hervorgangs dieser Interpretationen erschließen. Würden wir behaupten, dass nur eine Interpretation die ‚richtige‘ sei, dann würden wir uns genau zu Zielscheibe von Heideggers Metaphysikkritik machen. Wir möchten somit nicht den Text so auf- und feststellen, dass er eindeutig wird und nur eine Interpretation ermöglicht. Wir haben somit auch nicht versucht, Heideggers Intention mit dem Text zu erraten, und sie zum Maßstab für unsere Auslegung zu machen. Ein solches Verfahren 203 204

VA, S. 26. VA, S. 26.

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schiene auch Heideggers eigenem Umgang mit andren Autoren zuwiderzulaufen. Wenn es um ‚wesentliche Sprachwerke‘ geht, wozu Heideggers eigene Texte auch gehören, erklärt Heidegger unter anderem anhand seiner Interpretation von Hölderlin, dass die Sprache immer mehr verbirgt als der Autor in ihr darstellt. Denn „die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne“205, wie wir im zweiten Teil der Arbeit bereits gesehen haben. Dementsprechend ist der Möglichkeitsraum der Interpretationen eines Sprachwerkes laut Heidegger immer größer als der Autor unmittelbar zu meinen gibt. „Wenn wir uns aufmachen, das in Hölderlins Dichtung Gedichtete zu denken, dann trachten wir bei solchen Versuchen auch nicht darnach, das vor die Anschauung zu bringen, was Hölderlin im ersten Sagen seiner Dichtung bei sich selber vorgestellt hat. Das wird keine Forschung je erkunden und kein Denken je ersinnen können. Gesetzt sogar, dieses Unmögliche wäre möglich, angenommen also, wir könnten uns genau in den damaligen Umkreis der Hölderlinschen Vorstellungen zurückversetzen, dann wäre so in keiner Weise verbürgt, daß wir hiermit das denken, was Hölderlins Wort dichtet. Denn das Wort des wahrhaften Dichters dichtet jedesmal über das eigene Meinen und Vorstellen des Dichters hinaus.“206

Glaubt der Dichter oder Denker, das Wort und die Sprache beherrschen zu können, dann muss er genauso ‚blind‘ gegen ihr Wesen sein, wie derjenige blind gegen das Wesen der Technik ist, über den Heidegger sich zu Beginn seines Technikaufsatzes mokiert.207 Die Sprache lässt sich nicht vom Autor beherrschen und wehrt sich gegen dogmatische Interpretationen. „Das dichtende Wort nennt solches, was über den Dichter kommt und ihn in eine Zugehörigkeit versetzt, die nicht er geschaffen, der er selbst nur folgen kann. Das im dichtenden Wort Genannte steht niemals wie ein überschaubarer Gegenstand vor dem Dichter. Das Gedichtete nimmt den Dichter nicht nur in eine sein Wesen wandelnde Zugehörigkeit. Das Gedichtete birgt sogar selbst noch in sich ein Verschlossenes, was über die Kraft des Wortes geht. Das Wort des Dichters und das in ihm Gedichtete überdichten den Dichter und sein Sagen. Wenn wir dies von ‚der Dichtung‘ behaupten, meinen wir überall nur die wesentliche Dichtung. Sie allein dichtet Anfängliches; sie allein entbindet Ursprüngliches zu seiner eigenen Ankunft.“208

Dementsprechend haben wir auch versucht, das in Heideggers Sprachwerk ‚Ursprüngliches‘ zu ‚entbinden‘ und zu artikulieren, sodass es zum Weiterdenken auffordert.

205 206 207 208

Holzw, S. 62. GA 52, S. 6f. Vgl. VA, S. 9. GA 52, S. 7. Im zweiten Teil der Arbeit haben wir gezeigt, in welchem Sinne Heideggers Schriften als ‚Dichtung’ zu verstehen sind.

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Drittes Kapitel

Umstellung A Ein zeitliches Kunstwerk Wir haben zwei verschiedenen Ursprünge der modernen Technik in „Die Frage nach der Technik“ gewonnen. Aus diesen zwei Ursprüngen haben wir zunächst zwei unterschiedliche Genealogien der modernen Technik herausgearbeitet. Gemäß der ersten Genealogie wird das Wesen der modernen Technik mit der Entstehung der Moderne verbunden. Wir haben aber auch versucht, das Wesen der modernen Technik noch anfänglicher zu durchdenken, infolgedessen haben wir deutliche Anhaltspunkte für eine anfänglichere Genealogie der modernen Technik aufdecken können. Dieser Genealogie zufolge lässt sich auch einsehen, wie der Ursprung der modernen Technik der Moderne vorausgeht und somit verstehen, inwiefern die Herrschaft des Gestells bereits mit der antiken Metaphysik einsetzt. Darüber hinaus bietet „Die Frage nach der Technik“ auch Ansätze für zwei weitere Ursprünge der modernen Technik. Und aus diesen zwei Ansätzen lassen sich zwei alternative Genealogien der modernen Technik bilden, sodass wir insgesamt vier Interpretationen zum Ursprung der modernen Technik entwickelt haben. Die zwei ersten Genealogien sind im Technikaufsatz selbst entfaltet, während die zwei noch anfänglicher gedachten Genealogien mehr interpretatorischen Aufwand und Verständnis anderer Texte Heideggers erfordern. Dennoch können wir sagen, dass „Die Fragen nach der Technik“ mindestens vier verschiedene Genealogien der modernen Technik ermöglicht. Was bedeutet dies für unser Verständnis der Geschichte? Unsere These lautet, dass die vier verschiedene Genealogien als zeitliche Kunstwerke zu verstehen sind, die die Geschichte unterschiedlich zu verstehen geben und somit auch vier ‚Wahrheiten‘ vom Ursprung und Wesen der modernen Technik entfalten. Dementsprechend möchten wir hier diese Genealogien und überhaupt den Begriff einer geschichtlichen Epoche als zeitliches Kunstwerk auslegen. Das, was gemäß der verschiedenen Genealogien der modernen Technik als ‚Epochenbildung‘ bezeichnet werden kann, ist als eine künstlerische Tätigkeit zu verstehen und gehört zum Wesen der Kunst. Heidegger hat ‚zeitliche Kunstwerke‘ in seinem Kunstwerkaufsatz zwar nicht explizit berücksichtigt, aber anhand der darin entfalteten Begrifflichkeit, kann unsere These bestätigt werden. Wir können unsere These sogar mit einer Zuspitzung der hier entfaltenden Interpretation von „Der Ursprung des Kunstwer262

kes“ verbinden, indem wir zu zeigen versuchen, dass sich Heideggers Begrifflichkeit der Kunst besser für zeitliche Kunstwerke eignet. Im Bezug auf eine geschichtliche Epoche gewinnen seine Grundbegriffe eine starke Ausdruckskraft, die ihrem prozessualen Charakter entspricht. Im Kunstwerkaufsatz fragt Heidegger nach dem Ursprung des Kunstwerkes als dem, ‚woher‘ und ‚wodurch‘ seines Wesens.209 Heidegger legt den so verstandenen Ursprung des Kunstwerkes als Stiftung der Wahrheit aus. Stiftung der Wahrheit versteht er wiederum als ‚Anfangen, Schenken und Gründen‘, wobei er sagt: „Schenkung und Gründung haben in sich das Unvermittelte dessen, was wir einen Anfang nennen.“210 Aus diesem Zusammenhang wird klar, dass die Begriffe ‚Ursprung‘, ‚Wesen‘ und ‚Anfang‘ bei Heidegger eng miteinander verbunden sind und einander gegenseitig erhellen. Diese Struktur geht auch aus den Beiträgen zur Philosophie hervor: „[Der Anfang] ist die Wesung des Seins selbst […] Der Anfang – anfänglich begriffen – ist das Seyn selbst.“211 Dem Begriff des Anfangs kommt in Heideggers Verständnis des Kunstwerkes und des Seins eine Schlüsselfunktion zu. Der Anfang wird als das Ereignis der Wahrheit des Seins verstanden, wodurch das Seiende als das, was es ist, entborgen wird. Die Entbergung, die durch den Anfang geschieht, bedeutet im Rahmen von Heideggers Kunstwerkverständnis, dass eine Wahrheit gestiftet und sichtbar wird. Gemäß dieses Anfangs wird eine besondere Wahrheit ins Werk gesetzt – das Seiende wird somit auf einen Weg geschickt, und diese Schickung ist laut Heidegger als Ursprung der Geschichte zu verstehen.212 Die phänomenologische und geschichtliche Interpretation des Kunstwerkes verbindet Heidegger explizit am Ende von „Der Ursprung des Kunstwerkes“: „Das ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine ausgezeichnete Weise, wie Wahrheit seiend, d.h. geschichtlich wird.“213 Der Anfang, der in der Kunst gestiftet wird, ist eine ausgezeichnete Weise, Geschichte zu bilden. Entscheidende Grundbegriffe der Heideggerschen Interpretation des Kunstwerks, wie Anfang, Ursprung, Stiften, Wesen, Wahrheit und ‚Ins-WerkSetzen‘, bezeichnen zeitliche Vorgänge. Und wie wir im zweiten Teil der Arbeit gesehen haben, lassen sich die zwei Grundbegriffe ‚Welt‘ und ‚Erde‘ nur durch den zeitlichen ‚Streit‘ des Kunstwerkes verstehen, durch den sich wiederum ‚Welt‘ und ‚Erde‘ überhaupt erst geschichtlich explizieren lassen.214 209 210 211 212 213 214

Vgl. Holzw, S. 1. Holzw, S. 64 (kursiviert S.R.). GA 65, S. 58. Vgl. S. 28. Holzw, S. 66 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw S. 28ff.

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Durch den Anfang oder den Ursprung des Kunstwerkes wird das Seiende entborgen und auf einen Weg gebracht – durch den Anfang erhält das Seiende sein Wesen. Der Anfang ist als Anfang des Seienden äußerst folgenschwer. Wird etwas als ein Anfang ausgelegt, dann ist damit zugleich eine Art hermeneutischer Fixpunkt gegeben, von dem aus die nachfolgenden Vorgänge einsichtig werden.215 Der Anfang ist die DMUFKY, die zugleich ein bestimmtes Ende oder eine Gestalt einschließt, die wir auch als WHYOR des Anfangs verstehen können. In diesem spezifischen Sinne kann Heideggers Verständnis des Kunstwerkes auch als teleologisch gefasst werden.216 Heidegger sagt in „Der Ursprung des Kunstwerkes“: „Der Anfang enthält schon verborgen das Ende.“217 Der Anfang ist als die Herrschaft des Angefangenen zu verstehen: „Nun ist das größte Ereignis immer der Anfang […] Denn der Anfang ist das Verborgene, der noch nicht missbrauchte und betriebene Ursprung, der sich immer entziehend am weitesten vorausgreift und so die höchste Herrschaft in sich verwahrt.“218 Der Anfang greift am weitesten voraus und ist dadurch Herr der angefangenen Geschehnisse; dennoch bleibt der Anfang verborgen, weil er sich in das entborgene Seiende zurückstellt und damit nur indirekt und nachträglich zum Vorschein kommt.219 Vor diesem Hintergrund können wir also eine geschichtliche Epoche als ein einheitliches geschichtliches Geschehen verstehen, das einen bestimmten Anfang und Ende hat.220 Am Anfang der Epoche wird das Seiende auf eine

215

216

217 218 219 220

In diesem Sinne können wir auch Heidegger verstehen, wenn er sagt: „Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit des Seins.“ (Holzw, S. 263) D.h. nach dem Anfang, also durch den Anfang und im Bezug darauf, ist das Seiende schon auf eine entschiedene Weise zum Stehen gekommen. Diese Gestalt des Seins durchherrscht die Epoche von der der Anfang ein Anfang ist. Vgl. auch Hans-Helmuth Ganders Begriff von einem ‚teleologischen Für‘. (Gander, Hans-Helmuth: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger, Frankfurt am Main 2001, S. 344). Holzw, S. 64. GA 65, S. 57 (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 64f. Vgl. auch: „Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein, in welchen Schickungen sowohl das Schicken als auch das Es, das schickt, an sich halten mit der Bekundung ihrer selbst. An sich halten heißt griechisch HMSRFKY. Daher die Rede von Epochen des Seinsgeschickes. Epoche meint hier nicht einen Zeitabschnitt im Geschehen, sondern den Grundzug des Schickens, das jeweilige An-sich-halten seiner selbst zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe, d.h. des Seins im Hinblick auf die Ergründung des Seienden.“ (SdD, S. 9). Das ‚Es‘, das im Sinne von ‚ergründen und geben‘ schickt, interpretieren wir hier analog zum ‚Gründen und Schenken‘ des Wesens der Kunst in „Der Ursprung des Kunstwerkes“. (Vgl. Holzw, S. 63). Vgl. auch: „Der Anfang der Kunst eines Volkes ist immer Anfang seiner Geschichte und das gleiche gilt vom Ende.“ (Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger

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bestimmte Weise entborgen, wodurch sich eine besondere ‚Welt‘ mit ihren eigenen Bezügen und charakteristischen Ausprägungen zeigt.221 Diese Epoche oder besondere Welt gibt zugleich die systematischen Kriterien für ihr eigenes Ende vor – dies selbst dann, wenn die Epoche in ihrer zeitlichen Dauer unbestimmt bleibt. Indem eine Epoche anfängt und eine spezifische ‚Welt‘ sich öffnet „bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge.“222 Die Epoche bringt das Seiende zum stehen in eine besondere Struktur; das heißt, eine Epoche gibt das Maß an, anhand dessen das Seiende künftig entborgen und verstanden wird. In diesem Sinne bildet sich die Herrschaft des Anfangs über das Seiende im Ganzen.223 Anhand des Werkes einer geschichtlichen Epoche wird Heideggers Begriff von ‚Weile und Eile der Dinge‘ verständlicher als in einem Gemälde, aber auch der Begriff von einer aufgestellten ‚Welt‘ kommt anhand einer geschichtlichen Epoche deutlicher zum Vorschein. Die ‚Welt‘ einer Epoche scheint gerade für den Heideggerschen Begriff der ‚Welt‘ paradigmatisch zu sein, wohingegen die ‚Welt‘ eines Gemäldes als abgeleitet und reduziert verstanden werden muss. Zum Begriff einer vollständigen und einheitlichen Welt gehört eine Beziehungs- und Bedeutungsganzheit, worin der Mensch sein Leben entfalten kann. Mit anderen Worten: Eine ‚Welt‘, worin der Mensch nicht leben kann, ist im übertragenen Sinne zu verstehen und dadurch auch parasitär an der Bedeutungsfülle der ‚Welt‘, in der wir leben. Wenn Heidegger den Begriff ‚Welt‘ in seinem Kunstwerkaufsatz einführt, bezieht er tatsächlich auch seinen Sinn auf die Entfaltung des Lebens und verbindet den Begriff der ‚Welt‘ mit dem der ‚Geschichte‘: „Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. Wo die wesenhafte Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da waltet Welt.“224 Und es ist diese Bedeutung

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1889-1989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22, hier S. 21). In diesem Zusammenhang ist Franco Volpis Identifizierung von Oswald Spenglers Werk bemerkenswert: „Oswald Spengler gab mit seinem epochemachenden Werk Der Untergang des Abendlandes (1918-1922) den Ton an, und es erhoben sich alsbald weitere Stimmen, die aus je verschiedener philosophischer oder weltanschaulicher Perspektive ihr Verständnis von Wissenschaft, Rationalität und Technik als Grundfaktoren der okzidentalen Geschichte vorlegten.“ (Volpi, Franco: „Der Bezug Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik“ in: Kunst und Technik, hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 67-91, hier S. 67; kursiviert S.R.). Aus dieser Perspektive gesehen fällt Heideggers Interpretation der Technik in den Rahmen von Oswald Spenglers Auslegung. Holzw, S. 31. Vgl. Holzw, S. 60. Holzw, S. 30f (kursiviert S.R.).

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von ‚Welt‘, die eine geschichtliche Epoche besonders deutlich zum Vorschein bringt.225 Wie findet man aber den Anfang einer geschichtliche Epoche? Dies scheint außerordentlich schwierig, nicht zuletzt, weil der Anfang sich laut Heidegger verborgen hält. ‚Antike‘, ‚Mittelalter‘ und ‚Moderne‘ sind inzwischen fast selbstverständliche Bezeichnungen geschichtlicher Epochen geworden. Aber sie sind auch erst in großer Distanz ihrem jeweiligen Beginn gebildet; insbesondere an den Begriffen der ‚Antike‘ und des ‚Mittelalters‘ ist zu erkennen, dass diese Bezeichnungen nicht aus dem Selbstverständnis dieser Zeit hervorgegangen sind, sondern erst als nachträgliche Sammlung gestiftet wurden. Denn grundsätzlich kann eine Epoche erst im nachhinein als antik beziehungsweise ‚vorherig‘ oder als eine ‚mittlere Zeit‘ bezeichnet werden.226 Die Zeit unterwirft das Seiende ständige Veränderung, und diese Veränderungen bedeuten, dass das Seiende sich immer anders zeigt. Oder besser gesagt, ist die ‚Zeit‘ eben daran zu erkennen, dass sich das Seiende ständig ändert und in Bewegung ist. So gesehen ist das Seiende generell in Analogie zur IXYVL zu verstehen, und von dieser Bedeutung ist laut Heidegger auch die ursprüngliche Bedeutung des Seienden abgeleitet worden.227 Das Seiende ist dementsprechend als ein ständiges Anfangen zu verstehen oder von einer Bewegung bestimmt, die sich selbst immer ‚im Ende‘ hat (HMQWHYOH[HLD).228 Das Seiende kann von sich aus daher nie als fertig beschrieben werden. Deswegen gibt es auch keine selbstverständlichen oder ‚natürlichen‘ Epochen.229 Eine Epoche kommt erst mittelbar als ‚künstliche‘ Vollendung oder Gestaltung dieser Bewegung zustande. Versuchen wir den Begriff einer Epoche noch genauer zu verstehen: Etwas als eine Epoche zu bezeichnen heißt, die Veränderungen des Seienden zu verbinden und zu sammeln, indem sie auf einen Anfang bezogen werden. So kommt eine Epoche zum Vorschein, indem ein ‚Geschick des Seienden‘ auf einen Ursprung relativiert wird, wonach es als dieses besondere Geschick angebahnt wurde. Aber um eine Epoche in diesem Sinne zu identifizieren, 225

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Hinzu kommt, dass der Begriff ‚Welt‘ etymologisch gesehen aus den Begriffen ‚Menschenalter‘ und ‚Menschenzeit‘ hervorgeht und daher mit Geschichte und dem Vollzug menschliches Lebens zusammenhängt. (Vgl. ‚Welt‘, in; Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 808f). Vgl. ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, in: Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1997, S. 39, 463. Vgl. WM, S. 239ff. Vgl. WM, 284. Diese Einsicht lässt sich auch noch weitergehend formulieren. Wie Günter Figal im Bezug auf Heidegger sagt: „Anfang ist, wie wir wissen, die Zeit selbst, die Zeit, die durch das Ineinanderspiel von Präsenz und Absenz charakterisiert ist, das wiederum in der Verweigerung der Gewesenheit und dem Vorenthalt der Zukunft erfahren wird.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 155f).

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muss eine Suche nach einem Anfang unternommen werden, der wiederum laut Heidegger unmittelbar verborgen ist und droht, sich ständig weiter zurück zu ziehen. In gewissem Sinne hat die Bewegung des Seienden nämlich immer schon angefangen, solange es Seiendes gibt. Möchten wir also den Anfang einer Epoche genau datieren, dann ergibt sich immer die Frage, ob der jeweilige Anfang nicht bereits im voraus von einem anderen Anfang angebahnt wurde und somit kein wahrer Anfang ist.230 Kann ein Anfang also unmittelbar eindeutig identifiziert werden oder kommt er erst mittelbar zustande? Darauf gibt Heidegger eine interpretationsbedürftige Antwort: „Doch dieses Unvermittelte des Anfangs, das Eigentümliche des Sprunges aus dem Unvermittelbaren her, schließt nicht aus sondern ein, daß der Anfang am längsten und unauffällig sich vorbereitet.“231 Diese Antwort scheint zunächst paradox zu sein, denn wie kann der Anfang unvermittelt und doch vorbereitet sein? Zur Beantwortung dieser abgeleiteten Frage, ist es wichtig, dass Heidegger von einer ‚unauffälligen Vorbereitung‘ spricht. In unserer Interpretation heißt es nämlich, dass der Anfang ‚unvermittelt‘ sei, eben weil seine Vorbereitung ‚unauffällig‘ sei, und daher nicht zum Vorschein gekommen ist.232 Der Anfang als Anfang verstanden springt als dieses bestimmte Ereignis immer ins Auge und ist nicht unauffällig. Es scheint auch sinnlos von einem Anfang zu sprechen, der nicht zu sehen und gar kein Sprung wäre, sondern entweder als eine Nachfolge zu betrachten oder noch nicht zum Vorschein gekommen ist. So könnte gegen Heidegger eingewendet werden, dass er eigentlich nur darauf aufmerksam macht, was schon im Begriff des ‚Anfangs‘ zu hören ist und somit einfach eine Tautologie bestätigt: Anfangen ist als anfangen verstanden auffällig, ansonsten nicht.233 Denn unter Anfang ist immer ein Umschlag oder eine Zäsur zu verstehen, die in ihrer scheinbaren Unvermitteltheit auffällig ist. Wird etwas als Anfang bezeichnet, dann bedeutet dies, dass es entscheidend ist und als Herr der nachfolgenden Geschichte verstanden wird. Phänomenologisch und hermeneutisch gesehen ist der Anfang also immer ‚herrschender Anfang‘. Wenn wir Heidegger dementsprechend verstehen, ergibt sich aber ein zweites Paradox, denn Hei230

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So ist dies auch zu verstehen, wenn Heidegger den Anfang eines neuen philosophischen Systems in der Geschichte des Abendlandes auf den Anfang der Metaphysik zurückführt. Das, was als ein Anfang aussieht, zeigt sich in Heideggers Interpretation schließlich als eine Folgeerscheinung. Holzw, S. 64. Vgl. auch den zweiten Teil dieser Arbeit (S. 110ff). Vgl. auch: „Immer ist da der Sprung des Anfangs, den man gerade dann begreift, wenn man grundsätzlich davon absteht, diesen Sprung nun am Ende doch verständlich zu machen, d.h. auf Bekanntes zurückzuführen.“ (Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung“, in: Martin Heidegger 1889-1989, Heidegger Studien (Heidegger Studies, Etudes Heidegeriennes), Volume 5: Commemorative Issue, Berlin 1989, S. 5-22, hier S. 21).

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degger scheint zu meinen, dass der Anfang auffällig sei und doch auch verborgen: „Denn der Anfang ist das Verborgene, der noch nicht missbrauchte und betriebene Ursprung.“234 Dieses Paradox können wir mit dem bereits erwähnten verbinden, wo Heidegger zu verstehen gab, dass der Anfang sowohl unvermittelt als auch vorbereitet ist. Wie hängt also zusammen, dass Heidegger den Begriff des Anfangs als unvermittelt und vermittelt beschreibt und ihn gleichzeitig als auffällig und unauffällig bezeichnet? Heidegger scheint sich zu widersprechen, denn der Anfang wäre entweder nicht der herrschende Anfang, denn er könnte gemäß seiner Vermittlung auf einen vorherigen Anfang zurückgeführt werden, der über ihn verfügt, oder er müsste auffällig und unauffällig zugleich sein. Dieser Widerspruch lässt sich aufheben, wenn wir eine exoterisch-esoterische Interpretationsstrategie geltend machen. Dementsprechend könnten wir einen wahren Anfang von einer ‚öffentlichen‘ Identifikation eines Anfangs unterscheiden.235 Noch eine weitere Möglichkeit gibt es, die Verborgenheit und die Auffälligkeit des Anfangs in Zusammenklang zu bringen und zwar ohne Heideggers Denken derart zu strapazieren: Selbst wenn der Anfang als Ereignis auffällig ist, ist er in seiner Fülle am Anfang doch verborgen. Der Anfang greift am ‚weitesten voraus‘, sagt Heidegger, und er kann dementsprechend erst mit der Zeit in seiner Fülle entborgen und verstanden werden, indem immer mehr Phänomene darauf bezogen werden beziehungsweise daraus entstehen.236 Anders gewendet ist der Begriff des Anfangs relational und kann erst in Bezug auf das Ende abschließend festgestellt werden. Der Anfang ist immer schon vorbei, wenn er in seiner Fülle einsichtig wird, und es kann daher nie einen reinen Anfang geben. Deswegen ist der Anfang immer vermittelt verstanden und dadurch wird er auffällig. Erst durch die nachträgliche Interpretation wird der Anfang als Anfang auffällig: Der Anfang ist interpretationsbedürftig. Die Interpretation zieht den Anfang aus dem ständigen Strom der Veränderungen und deckt somit einen Anhaltspunkt (als eine Art Ruhe) auf, worin die nachfolgenden Veränderungen sich spiegeln können. In diesem Sinne ist eine Epoche als ein Wahrheitsgeschehen zu verstehen. Wir stellen diese Überlegungen zum Begriff des Anfangs an, weil sie uns helfen können, seine Ambivalenz samt der notwendigen Stiftung der Interpretation zu sehen. Wie auch immer der Anfang einer geschichtlichen Epo234 235

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GA 65, S. 57 (kursiviert S.R.). Dass Heideggers Denken sowohl zu einer esoterischen als auch einer exoterischen Auslegung Anlass geben könnte, bezeugen manche seiner Formulierungen, u.a. Heideggers Anmerkung zum Titel von Beiträge zur Philosophie, wo es heißt „Der öffentliche Titel: Beiträge zur Philosophie und die wesentliche Überschrift: Vom Ereignis“. (GA 65, S. 3). Vgl. GA 65, S. 57.

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che gesehen wird, er kann nicht unmittelbar geschehen, denn der Anfang ist ein relationaler Begriff. Zwar ist der Anfang als Geschehen unmittelbar auffällig, aber das, wovon dieses Ereignis der Anfang ist, ist unmittelbar verborgen. Sowohl ein Ereignis als Anfang einer Epoche zu bezeichnen als auch der Rückbezug der künftigen Phänomene auf diesen Anfang geschieht nicht von alleine und ist somit nicht selbstverständlich. Wie müssen wir dann den Anfang einer geschichtlichen Epoche verstehen? Weil es keinen selbstverständlichen Anfang geben kann, kann es von allein zwar ein Ereignis geben, aber keinen Anfang und keinen Ursprung. Denn der Anfang und der Ursprung kann erst nachträglich bestimmt oder gestiftet werden. Und dies geschieht durch Interpretation. Am Anfang ist also nicht das nackte Ereignis, sondern gleichzeitig damit die Interpretation. Die Interpretation ist die Stiftung einer Relation, auf der der Begriff des Anfangs definitorisch beruht. Den Begriff einer Epoche möchten wir entsprechend seiner griechischen Bedeutung verständlich machen. Epoche kommt aus HMSHYFZ, was sowohl ‚anhalten‘ als auch ‚in der Gewalt haben‘ bedeutet.237 Das ‚Anhalten‘ gehört wiederum zum Bedeutungsfeld von ‚einklammern‘. Mit dem Begriff des Einklammerns, können wir wiederum deutlicher machen, inwiefern eine Epoche als zeitliches Kunstwerk zu verstehen ist: Etwas als eine Epoche zu sehen und zu verstehen bedeutet, ein geschichtliches Phänomen im Bezug auf einen bestimmten Anfang auszulegen. Was vor der Epoche geschieht wird dadurch absichtlich ausgeklammert, und infolgedessen wird der Versuch unternommen, eine Reihe Phänomen vom Anfang der jeweiligen Epoche aus einheitlich zu verstehen238: Der Anfang einer Epoche setzt geschichtlich verstanden nur sich selbst voraus, um so als Anfang oder Ursprung zu gelten – dementsprechend schreibt Heidegger: „Der Anfang ist das Sichgründende Vorausgreifende.“239 Eine Epoche muss als Epoche, wie Heideggers Verständnis des Kunstwerkes, von sich aus verstanden werden. Der Einschnitt des Anfangs einer Epoche kann im Prinzip beliebig gesetzt werden, aber ist der Anfang als Anfang einer Epoche bestimmt, dann ist auch das Ende dieser Epoche systematisch vorgezeichnet. Alles was es zwischen Anfang und Ende der Epoche gibt, ihre Welt, ist vom Gesetz und Maß des 237

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Vgl. Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 1997, S. 300. Bemerkenswert ist, dass Heidegger Hölderlins Dichtung als „Eine Z e i t e n t s c h e i d u n g im Sinne der ursprünglichen Zeit der Völker“ bezeichnet (GA 39, S. 140; gesperrt S.R.). Vgl. auch Jacob Burckhardts Betrachtung zum Begriff der Anfang in der Geschichte: „Was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können, sind ohnehin schon ganz späte Stadien. Das ägyptische Königtum des Menes z.B. deutet auf eine lange große Vorgeschichte hin.“ (Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Leipzig 1985, S. 21). GA 65, S. 55.

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Anfangs – der DMUFKY der Epoche – verständlich gemacht oder zumindest verständlich zu machen, und eben somit in der ‚Gewalt‘ der Epoche. In diesem Sinne wird die Welt einer geschichtliche Epoche gestiftet. Die Stiftung des Anfangs einer Epoche geschieht nicht von selbst, sondern setzt eine Interpretation voraus. Durch diese Interpretation wird das Seiende auf eine besondere Weise entborgt, so dass wir gemäß Heidegger sagen können, dass der Anbruch einer Epoche eine Weise ist, wie ‚Wahrheit‘ geschieht. Alle Epochalisierungen der Zeit, schöpfen eine besondere Welt, die es so zuvor nicht gegeben hat. In diesem Sinne ist eine Epoche, und damit auch Heideggers Interpretation der ‚Antike‘ und der ‚Moderne‘, als historisches oder zeitliches Kunstwerk zu verstehen. Der durch die Interpretation entstandene Anfang zeigt die schöpferische Tätigkeit des Verstehens und Auslegens, wodurch die Analogie zwischen künstlerischem und interpretatorischem Schaffen deutlich wird. Die Affinität der beiden Tätigkeiten verstärkt sich mit Heideggers Interpretation des Kunstwerkes. Ihn interessiert nämlich vor allem der ‚Ursprung‘ des Kunstwerkes, das heißt, wie es möglich ist, das Kunstwerk als den Anfang eines Wahrheitsgeschehens beziehungsweise eines Geschicks zu verstehen. Daher können wir also auch Heideggers Interpretation des Kunstwerkes so auslegen, dass ein Kunstwerk erst zu einem Kunstwerk wird, wenn es eine ‚Epoche‘ bildet. Damit wäre ein Kunstwerk im Sinne Heideggers dasselbe wie die geschichtliche Epoche und die Tätigkeit des Interpretierens dasselbe wie das Schaffen eines Kunstwerkes. Sie gehören alle zum Bereich des Ins-Werk-Setzens der Wahrheit. Nun kann man dagegen einwenden, dass der Interpret, der den Anfang einer Epoche stiftet, nicht das Seiende von alleine schafft und aufstellt, so wie es in der Kunst möglich ist. Dieser Einwand kann aber dreierlei entgegnet werden. Jedoch trifft zum einen dieser Einwand nicht das Künstlerische an der Kunst. Denn es mag durchaus auch die ‚Bauernschuhe‘ gegeben haben, die Vincent van Gogh ins Werk setzt, und die später als Moment von Heideggers Werk „Der Ursprung des Kunstwerkes“ auftaucht.240 Zum anderen muss bemerkt werden, dass eine Epoche das Seiende auf eine bestimmte Weise entbirgt und als solche im Sinne eines Kunstwerkes ein Wahrheitsgeschehen ist. Das Seiende, das sich in dieser Konstellation und Bezugsganzheit zeigt, ist nicht länger dasselbe Seiende, bzw. wird erst darin als ein bestimmtes Seiende sichtbar. Erst als Moment eines solchen Kunstwerkes erhält die Vergangenheit eine Gestalt und kann untersucht und verstanden werden.241 Im Prinzip ist die Vergangenheit also genau so offen für Inter240 241

Vgl. S 18ff. Interessant für eine spätere Untersuchung wäre es, diesen Begriff des Interpretierens im Zusammenhang mit dem Heideggerschen Begriff der ‚Blickrichtung‘ auszulegen, „in die hinein Vergangenheit allein gestellt werden kann“ (Heidegger, Martin:

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pretationen wie die Zukunft. Die ‚Welt‘ einer Epoche ist als ein Gesamtkunstwerk zu verstehen, das zugleich eine Schöpfung aus dem Nichts bildet, „wenn mit dem Nichts das bloße Nicht des Seienden gemeint und wenn dabei das Seiende als jenes gewöhnlich Vorhandene vorgestellt ist, was hernach durch das Dastehen des Werkes als das nur vermeintlich wahre Seiende an den Tag kommt und erschüttert wird.“242 Schließlich: selbst wenn eingeräumt wird, dass etwas im Charakter einer Welt dem Interpreten einer Epoche entgegensteht, dann wird damit das künstliche Schaffen des epochalen Verstehens nicht verkannt. So gesehen könnten wir nämlich den Interpreten, dem ‚Bewahrer‘ der Kunstwerke gleichsetzen, von dem Heidegger in „Der Ursprung des Kunstwerks“ sagt, dass auch er ‚Wahrheit‘ stifte: „Nicht nur das Schaffen des Werkes ist dichterisch, sondern ebenso dichterisch, nur in seiner eigenen Weise, ist auch das Bewahren des Werkes […] Stiftung ist aber nur in Bewahrung wirklich. So entspricht jeder Weise des Stiftens eine solche des Bewahrens.“243 So ist das Bewahren auch als ein ‚Anfangen‘, ein ‚Gründen‘ und ein ‚Schenken‘ zu verstehen.244 Heidegger führt weiter aus: „Ins-Werk-Setzen heißt aber zugleich: in Gang- und Geschehen-Bringen des Werkseins. Das geschieht als Bewahrung. Also ist die Kunst: die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk.“245 Ob der Anfang einer Epoche nun eher als ein Akt des Schaffens oder als einer des Bewahrens verstanden wird, ändert nichts daran, dass er ein Wahrheitsgeschehen ist, das eine Welt zum Vorschein bringt. Und ge-

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Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002, S 8). Über diesen Begriff, den Heidegger in einer frühen Schrift entwickelt, sagt er des weiteren, dass sie das ‚als was‘ bestimmt, in dem der Interpretationsgegenstand vorgrifflich genommen und das ‚woraufhin‘, auf das er ausgelegt werden soll.“ (Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002, S. 7). Diesem Vorgriff des Interpretierens zum trotz, der die ‚Blickrichtung‘ veranschaulicht und den Heidegger als ein ‚Hineindeuten‘ beschreibt, ist historisches Erkennen wichtig; anders gesagt: Gerade deswegen beschreibt. Heidegger diesen Vorgriff präziser: „Dieses Hineindeuten ist nicht nur nicht wider den Sinn historischen Erkennens, sondern geradezu die Grundbedingung, um Vergangenheit überhaupt zum Sprechen zu bringen. Alle Auslegung im Felde der Geschichte der Philosophie und gleicherweise in anderen, die darauf halten, gegenüber problemgeschichtlichen ‚Konstruktionen‘ nichts in die Texte hineinzudeuten, müssen sich dabei ertappen lassen, dass sie ebenso hineindeuten, nur ohne Orientierung und mit begrifflichen Mitteln disparatester und unkontrollierbarer Herkunft. Man hält die Unbekümmertheit um das, was man ‚eigentlich macht‘, und die Unkenntnis über die dabei verwandten Mitteln für ein Ausschalten jeglicher Subjektivität.“ (Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt am Main, 2002, S. 8f; kursiviert S.R.). Holzw, S. 59. Holzw, S. 62f (kursiviert S.R.). Vgl. Holzw, S. 63. Holzw, S. 59.

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rade anhand der Stiftung einer Epoche scheint die Differenz von Schaffen und Bewahren zu verschwinden – denn auch das Schaffen einer Epoche ist eine herausragende Art des Bewahrens des Vergangenen. Die Interpretation des Anfangs einer Epoche scheint das gewaltigste Ins-Werk-Setzen der Wahrheit und das größte Ereignis zu sein, denn sie umfasst das ganze Seiende einer bestimmten Zeit. Als zugehörig zum Sein einer Epoche wird alles Seiende zum Moment einer besonderen Konstellation, über die wir sagen können, dass sie im Heideggerschen Sinne als ein Kunstwerk verstanden werden kann. Die ‚Herrschaft‘ einer Epoche bestimmt den Gang einer Welt, und von diesem Vorgang her wird Geschichte erst verständlich. Dementsprechend möchten wir auch Heideggers Interpretationen der ‚Moderne‘ als ein Kunstwerk auslegen, nämlich als seine Entbergungen bestimmter Zeit- und Spiel-Räume von Seiendem. Durch die von Heidegger ermöglichten Epochen kann das Seiende sich in unterschiedlichen Gestalten zeigen. Das als ‚modern‘ entborgene Seiende hat sogleich ein bestimmtes Geschick, denn von Anfang an strebt es ein bestimmtes Ende an. Und wenn wir uns auf Heideggers ‚Kunstwerke der Moderne‘ einlassen, dann könnten wir hinzufügen, dass zum Anfang der Moderne der Anbruch der Herrschaft des Gestells gehört; deswegen ist ihr Ende auch als die Verwandlung des Seienden in ‚Bestand‘ schon vorgezeichnet. Wenn die Herrschaft des Gestells derlei aus Heideggers verschiedenen ‚Kunstwerken‘ entspringen kann, dann ist es an der Zeit, den Begriff des Gestell anders als bisher zu verstehen.

B ‚Wo aber das Rettende ist, wächst die Gefahr auch‘ In „Der Ursprung des Kunstwerkes“ führt Heidegger aus, dass die ‚Stiftung‘ der Wahrheit des Kunstwerkes eine ‚Welt‘ erschließt, durch die „alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge [bekommen].“246 Bisher haben wir dem geschichtlichen Aspekt dieser Stiftung der Wahrheit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei haben wir die These erhoben, dass der Ursprung eines Kunstwerkes in Heideggers Terminologie wie der Anfang einer geschichtlichen Epoche zu verstehen sei. Die Verbindung zwischen Kunstwerk und Geschichte hat Heidegger deutlich gesehen, aber in seinem Kunstwerkaufsatz zunächst vom Kunstwerk her beschrieben. „Immer wenn Kunst geschieht, d.h. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an.“247 Jedoch fügt Heidegger hinzu: „Da wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte

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Holzw, S. 31. Holzw, S. 65.

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fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da waltet Welt.“248 Dabei wird deutlich, dass ‚Welt‘ eben auch durch ‚wesenhafte Entscheidungen‘ der Geschichte selbst zum Vorschein kommt – und zu wesentlichen ‚Ent-scheidungen‘ gehört eben die Stiftung eines Anfangs und damit die gleichzeitige Sammlung und Abgrenzung der zeitlichen Veränderungen durch eine Epoche. Unserer These zufolge ist eine Epoche als ein paradigmatisches Kunstwerk zu verstehen, denn ihre Welt weist alle Merkmale eines Kunstwerkes auf. Dazu kommt, dass eine geschichtliche Epoche die für Heidegger wesentliche Prozessualität eines Kunstwerkes deutlicher als zum Beispiel ein Gemälde zum Vorschein bringt – eben weil eine Epoche ein zeitliches Werk ist. Heidegger hebt prägnant hervor: „Werksein heißt: eine Welt aufzustellen.“249 Um besser zu verstehen, inwiefern das schöpferische Interpretieren einer geschichtlichen Epoche zur Kunst gehört, hilft Heideggers Deutung im Kunstwerkaufsatz, dass Dichten der Inbegriff von Kunst sei – und dazu gehört auch das Dichten von Geschichte.250 „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird.“251 Heidegger führt genauer aus: „Das entwerfende Sagen ist Dichtung: die Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter. Die Dichtung ist die Sage der Unverborgenheit des Seienden. Die jeweilige Sprache ist das Geschehnis jenes Sagens, in dem geschichtlich einem Volk seine Welt aufgeht und die Erde als das Verschlossene aufbewahrt wird. Das entwerfende Sagen ist jenes, das in der Bereitung des Sagbaren zugleich das Unsagbare als ein solches zur Welt bringt. In solchem Sagen werden einem geschichtlichen Volk die Begriffe seines Wesens, d.h. seiner Zugehörigkeit zur Welt-Geschichte vorgeprägt.“252

Erst durch das ‚entwerfende Sagen‘, das eine Welt bildet, wird ein Volk überhaupt geschichtlich.253 In diesem Zusammenhang können wir auch 248 249 250 251 252 253

Holzw, S. 31. Holzw, S. 30. Vgl. Holzw, S. 59ff. Holzw, S. 59. Holzw, S. 61f (kursiviert S.R.). Vgl. auch: „Die Grundstimmung, und d a s h e i ß t d i e W a h r h e i t d e s D a s e i n s e i n e s V o l k e s , w i r d u r s p r ü n g l i c h g e s t i f t e t d u r c h d e n D i c h t e r . Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen und gefügt und damit erst eröffnet durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird in den letzten und ersten Ernst des Seienden, d.h. in die be-stimmte geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß da Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird. Das geschieht durch die Schaffung des seinem Wesen zu-bestimmten Staates durch den Staatsschöpfer.“ (GA 39, S. 144; gesperrt S.R.). Heidegger schreibt aber auch: „Eine wesentliche Weise, wie die Wahrheit sich in dem durch sie eröffneten Seienden einrichtet, ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Eine andere Weise, wie die west, ist die staatgründende Tat.“

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Heideggers wiederholte Bezugnahme auf einen Vers von Hölderlin auslegen. Heidegger betont wiederholt einen besonderen Vers Hölderlins aus dem Gedicht „Andenken“, wo er schreibt: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“254 Zur Interpretation dieses Verses führt Heidegger an: „Die gründende Schenkung des Anfänglichen ist Stiftung. Stiften können nur die über den Steg an die Quelle gegangenen Dichter. Weil an der Quelle jedoch alles anfänglich ist, muß auch das Wesen dieser Dichtung erst gedichtet werden. Hölderlin hat das Wesen der kommenden Dichter gedichtet und alles in das eine Wort verschlossen: Was aber bleibet, stiften die Dichter.“255 So schickt sich der Dichter an den Ursprung oder den Anfang, um von hier aus das Bleibende zu stiften. Das Bleibende ist aber in Heideggerschen Sinne als das ‚Währende und Fortwährende‘ zu verstehen, das das ‚Wesen‘ in seinem zeitlichen Sinne ausmacht:256 „‚Wesen‘ verbal verstanden, ist das Selbe wie ‚währen‘; nicht nur bedeutungsmäßig, sondern auch in der lautlichen Wort-

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(Holzw, S. 49) Laut Heideggers erster Interpretation ist jedoch die ‚staatgründende Tat‘ ein Werk der Dichtung und muss daher auch von der Kunst verstanden werden. Die durch die staatgründende Tat entstandene Welt ist also auch ein Kunstwerk. GA 4, S. 144. GA. 52, S. 193 (kursiviert S.R.). Heidegger hat auch seine erste Hölderlininterpretation diesen Vers über das Vermögen des Dichters vorausgeschickt. (Vgl. GA 39, S. 3). Hölderlin kann als ein Dichter, der die ‚Selbstbehauptung des Menschen als bodenlos‘ erweist, interpretiert werden. Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Hölderlin einen Bezug zwischen der ‚dürftigen Zeit‘ und den ‚fliehenden Göttern‘ stiftet. Günter Figal sagt dementsprechend: „Die Grundstimmung der Hölderlinschen Dichtung schließt die Einstellung der Selbstbehauptung radikal aus.“ (Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 144). Während es zwar für diese Interpretation viele Belege gibt, versuchen wir anhand des hier entwickelten Zusammenhangs von Hölderlin und Heidegger einen anderen Akzent zu setzen: in einer Interpretation, mit der auch der ‚dürftigen Zeit‘ als einer Stiftung des Dichters Gerechtigkeit widerfahren kann. Weil der Dichter fähig ist, das ‚Bleibende‘ zu stiften, ist der Mensch niemals der Bodenlosigkeit vollends ausgeliefert. Der höchste Mensch, wie der Dichter in Hölderlins und Heideggers Auslegung genannt werden könnte, ist eben dazu fähig, einen Anfang zu stiften und somit die ‚Dürftigkeit‘ zu überwinden. Hölderlin als Dichter, der ausspricht, was bleibe, stiften die Dichter, kann diese mehr oder weniger verdeckte Selbstseinschätzung unseres Erachtens auch als eine Art Selbstbehauptung aufzeigen. Das Selbstverständnis des höchsten Menschen oder des Menschen als Dichter, dessen Keim für Hölderlin in allen Menschen liegt, kommt v.a. in Hölderlins Werk Hyperion zum Ausdruck. Darin dichtet Hölderlin in Anspielung an den Sonnengott, Hyperion, die Geschichte eines Menschen, der an einer entscheidenden Stelle des Werkes die Immanenz des Göttlichen im Menschen zum Vorschein bringt, durch welches der Mensch sich behaupten kann: „Hat mich eines Töpfers Hand gemacht, so mag er sein Gefäß zerschlagen, wie es ihm gefällt. Doch was da lebt, muß unerzeugt, muß göttlicher Natur in seinem Keime sein, erhaben über alle Macht, und alle Kunst, und darum unverletzlich, ewig.“ (Hölderlin, Friedrich: Hyperion, Sämtliche Werke, Band 3, kleine Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1958, S. 147). Vgl. auch VA, S. 34f.

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bildung.“257 Von dieser Bedeutung des Wesens aus beschreibt Heidegger auch das ‚Wesende‘ der Technik: „Alles Wesende währt. Aber ist das Währende nur das Fortwährende? […] Wie die Technik west, lässt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet. Goethe gebraucht einmal statt ‚fortwährend‘ das geheimnisvolle Wort ‚fortgewähren‘. Sein Ohr hört hier ‚währen‘ und ‚gewähren‘ in einem unausgesprochenen Einklang. Bedenken wir nun aber nachdenklicher als bisher, was eigentlich währt und vielleicht einzig währt, dann dürfen wir sagen: Nur das Gewährte währt. Das anfänglich aus der Frühe Währende ist das Gewährende.“258

So sehen wir erneut, wie Heidegger betont, dass das ‚Wesen‘ auf den ‚Anfang‘ bezogen wird und als das ‚anfänglich aus der Frühe Währende‘ zu verstehen sei. Wir können nun Heideggers Einsichten verbinden und sagen, dass das, welches das Kunstwerk stiftet, das ‚Gewährende‘ sei – dass das ‚Wesen‘ eine Stiftung des Kunstwerkes sei.259 Und eben die zum Wesen gehörende Geschichtlichkeit zeigt sich paradigmatisch an einer geschichtlichen Epoche. So ergibt sich das ‚Fortgewährende‘ also nicht von alleine. Das, was die Heterogenität einer Epoche verbindet und sammelt, muss zu allererst als das ‚anfänglich aus der Frühe Währende‘ gestiftet werden. Unserer Interpretation zufolge ist das Wesen zeitlich verstanden eben das Sammelnde eines bestimmten Geschicks und somit der Gehalt einer Epoche des Seins. Weil das ‚Wesen‘ gemäß dieser Auslegung erst durch die Dichtung gestiftet wird und zugleich dasjenige bildet, was einer ‚Welt‘ Bestand gibt, möchten wir nun versuchen, Heideggers Verständnis vom Wesen der Technik anders und grundsätzlicher auslegen, als er es in „Die Frage nach der Technik“ selbst getan hat. Wir möchten versuchen zu zeigen, dass Heidegger einerseits das ‚Wesen der Technik‘ selbst gedichtet hat – und andererseits, dass es ihm nicht gelingt, das ‚Wesen der Technik‘ von anderen ‚Weisen des Wesens‘ grundsätzlich zu unterscheiden. Das Wesen wird von Heidegger als ‚anfängliches Geschick des Seienden‘ gestiftet, und dieses Geschick des Seienden entbirgt immer das Seiende als 257 258 259

VA, S. 34. VA, S. 35. Wenn es denn so sei, kann man sich fragen, woher das Kunstwerk dann sein Wesen bekomme. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Durch das ‚Bewahren‘ des Kunstwerkes. Auch das ‚Bewahren‘ stiftet ein ‚Währen‘ und vielleicht ist Heideggers eigene Interpretation des Kunstwerkes auch als ein Bewahren zu verstehen, das allererst bestimmt, was zu Kunst gehört. Damit wäre die systematische Reihenfolge von Schaffen und Bewahren jedoch im umgekehrten Verhältnis zu ihrem zeitlichen Entstehen zu denken. Oder man müsste sagen, dass die ursprüngliche Kunst nicht nur eine ‚Welt‘ aufstellt, sondern diese auch reflektieren muss.

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Bestandteil seines eigenen Maßes. Darin besteht aber keine direkte Gefahr, denn dieses Maß gibt den Dingen erst ihre ‚Weile und Eile – Nähe und Ferne‘. Nur als Folge des Maßes kann es also ‚Ferne‘ geben, das heißt, nur nachdem eine Welt zum Stehen gekommen ist, kann das Seiende auseinander treten und so was wie eine offene Stelle oder eine Lichtung sich zeigen. Eine offene Stelle ‚inmitten des Seienden‘ gibt es also nicht von selbst, sie kann erst in einer Welt gesichtet werden und sie bildet sich aus einer besonderen Konstellation von ‚Nähe und Ferne‘. Die Weise, in der ‚Offenheit‘ sich zeigt, kann anhand von Heideggers Beschreibung des griechischen Tempels in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ verdeutlicht werden. Hier sagt Heidegger: „Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. […] Das sichere Ragen macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meerflut und lässt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen.“260 So wird der ‚offene Raum‘ erst sichtbar, wenn er sich von einer festen Struktur abheben kann – so wie der Weltraum sich auch erst dadurch erschließt und aus dem Nichts hervorgeht, dass es Sterne gibt.261 Sehen wir wiederum den ‚wegrasenden Sturm‘ als ein Ausdruck der fortlaufenden Zeit, dann können wir auch jetzt begreifen, inwiefern der Tempel und die dazugehörige Epoche, die Zeit erst fassbar macht, denn sie bieten einen ‚Anhalt‘. Das, was die Dichter laut Heidegger und Hölderlin stiften, ist das Wesen der Dinge, wodurch die Dinge erst ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge [bekommen].“262 Um ein Beispiel davon zu geben, wie unsere Interpretation zu verstehen ist, genügt ein Blick auf die Epoche des Christentums. Diese Epoche kann so gebildet werden, dass sie mit der Geburt von Jesus Christus anfängt. Dieser Anfang durchherrscht bis heute noch die abendländische Zeitrechnung und gibt zusammen mit der gestifteten Dichtung des Neuen Testaments den Dingen ihren Sinn und macht die Zeit sicht- und fassbar für die Christen. Daran werden die Christen auch immer wieder erinnert, wenn die Glocken der christlichen Tempel erklingen.263 Diese Glocken halfen, die christliche 260 261

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Holzw, S. 28 (kursiviert S.R.). Vgl. auch: „Die Offenheit dieses Offenen, d.h. die Wahrheit, kann nur sein, was sie ist, nämlich diese Offenheit, wenn sie sich und solange sie sich selbst in ihr Offenes einrichtet. D a r u m m u ß i n d i e s e m O f f e n e n j e e i n S e i e n d e s s e i n , w o r i n d i e O f f e n h e i t i h r e n S t a n d u n d i h r e S t ä n d i g k e i t n i m m t .“ (Holzw, S. 48; gesperrt S.R.). Heidegger führt weiter aus: „Weil es zum Wesen der Wahrheit gehört, sich in das Seiende einzurichten, um so erst Wahrheit zu werden, deshalb liegt im Wesen der Wahrheit der Zug zum Werk als einer ausgezeichneten Möglichkeit der Wahrheit, inmitten des Seienden selbst seiend zu sein.“ (Holzw, S. 50). Die Wahrheit ist also nur im Seienden am Werk. Holzw, S. 31. Mumford, Lewis: The Monastery and the Clock: Technics and Civilization, New York 1934.

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Welt und Zeitrechnung erfahrbar zu machen. Zu dieser besonderen Zeitrechnung gehört auch, den Mensch zur Rechenschaft zu stellen und das Seiende im Ganzen gemäß dem Ursprung eschatologisch zu bestimmen. Aus der derartigen Entbergung des Seienden bekommen die Dinge ein besonderes christliches Geschick und Wesen. Und dementsprechend reproduziert die christliche Welt sich selbst.264 Die Dichtung stiftet, laut Heidegger, erst den Maßstab und das Rechte „im Sinne des entlang weisenden Maßes als welche das Wesenhafte die Wiesungen gibt.“265 Es gibt prinzipiell gesehen nicht von alleine ‚Weile und Eile samt Nähe und Ferne‘ und damit auch unmittelbar keine Lichtung. Erst der Maßstab und das ‚Rechte‘ bringt Sichtbarkeit. Immer und überall, wo wir hingehen, hat die Welt aber eine mehr oder weniger deutliche Gestalt – und in dem Sinne gibt es vor dem jeweiligen Tun des Menschen Sichtbarkeit. „Wo immer der Mensch sein Auge und Ohr öffnet, sein Herz aufschließt, sich in das Sinnen und Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken freigibt, findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht.“266 Anders betrachtet: Weil wir immer eine ‚Welt‘ vor Augen haben, gibt es also mehr oder minder bewusst, einen Maßstab, anhand dessen das Seiende zurrecht gelegt wird. Gäbe es ihn nicht, dann gäbe es keine Sichtbarkeit, keine Ordnung und auch keine ‚offene Stelle inmitten des Seienden‘. Vor diesem Hintergrund möchten wir nun Heideggers Begriff des ‚Gestells‘ auslegen. Alles, was entborgen wird, gehört für Heidegger in eine Welt, die ein bestimmtes Maß hat – die ihre eigene ‚Weile und Eile samt Nähe und Ferne‘ hat. Insofern es Unverborgenheit gibt, gibt es ‚Welt‘. Diese 264

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Vgl. auch dieses historische Faktum, mit dem Versuch in der französischen Aufklärung, eine neue Weltordnung zu gründen durch einen neuen Kalender, der sogenannte ‚Revolutionskalender‘: „Das Verhalten der Bevölkerung müsse anders werden. Durch ganz Frankreich halle der Ruf: ‚Donnez-nous d’autres moeurs, ou nous allons retomber dans nos anciennes habitudes.‘ Der Revolutionskalender wurde damit als Werkzeug entdeckt, das, konsequent angewendet, es erlaube, die aus dem Ancien Régime überkommenen alten Gewohnheiten auszurotten. Es sei ein Mittel, in die alltägliche Verhaltensweisen der Bevölkerung einzugreifen.“ Meinzer, Michael: Der französiche Revolutionskalender (1792 - 1805), München: Oldenburg 1992. Holzw, S. 30 (kursiviert S.R.). Die daraus folgenden Implikationen für Heideggers eigene Interpretation von Hölderlin treten in seiner ersten Vorlesung über ihn deutlich zutage: „Wir wollen uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters bringen.“ (GA 39, S. 4). Dies bedeutet für Heidegger, „unser Dasein zum Lebensträger der Macht der Dichtung [zu machen]“ (GA 39, S. 19). Auf diese zwei Stellen wurde ich durch Günter Figal aufmerksam. (Vgl. Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 139). Wie das ‚Wollen‘ hier zu verstehen sei – ob das Interpretieren von einem Willensakt abhängig sei, bleibt jedoch zunächst ungeklärt. Vorläufig können wir es aber als ein Zeigen für eine Art Unbedingtheit oder einen Spielraum des Interpretierens auslegen. VA, S. 22.

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Entbergungsstruktur gilt gleichermaßen für die Entbergung der Natur, der Kunst und der Technik. Das Seiende, das zum Vorschein kommt, das heißt die jeweils entborgene Welt, bestimmt den Rahmen dafür, wie Seiendes gesehen wird, und entscheidet somit auch, wie sich etwas in dieser Welt gestaltet. Ob es nun die Art und Weise ist, wie die Blumen die Jahreszeiten entbergen oder wie ein Gemälde ein paar Schuhe oder wie der Kraftwerk einen Fluss entbirgt, so fordert jede ‚Welt‘, dass ihr entsprechend das Seiende auf- und festgestellt wird.267 Oder anders gesagt, die ‚Welt‘ ist eben Welt, weil sie eine ganze Konstellation des Seienden ist, und diese Konstellation ist der Maß von ‚Weile und Eile samt Nähe und Ferne‘. Das ‚Wesen‘ dieser Welt ist in der ‚Weile und Eile und der Nähe und Ferne‘ der Dinge zu erkennen. Ist die ‚Weile und Eile samt Nähe und Ferne‘ aber erst entborgen, bedeutet es, dass das Seiende sich in ihren Bezügen und ihrer Dauer dementsprechend zeigt. Deswegen fängt mit jeder Entbergung auch ein bestimmtes Geschick an – das als Inbegriff des Wesens dieser Welt zu verstehen ist.268 Dieses Geschick deckt alles gemäß dem ihm zugrunde liegenden Maß auf und macht somit das Seiende zum Bestandteil seiner Welt. Und in dem Sinne läuft unsere Interpretation des Gestells schließlich darauf hinaus, dass jede Welt ihr eigentümliches Ge-stell hat. Der Mensch ist in unserer Interpretation von Heidegger als ‚In-der-Welt-sein‘ zu verstehen, weil sein Handeln und Verstehen immer im Bezug auf eine ‚Welt‘ geschieht. Jeder Mensch handelt und versteht gemäß einer bestimmten Welt – insofern ist die ‚Welt‘ für den Menschen auch ‚maßgebend‘. Den Drang der jeweiligen Welt, ihr Maß zu vollstrecken, also das Geschick selbst, beschreibt Heidegger in „Die Frage nach der Technik“. Hier sagt er wie im zweiten Teil der 267

268

Für diese Umdeutung und Erweiterung des Begriffs des Gestells finden wir auch in einer anderen Schrift Heideggers einen Anhaltspunkt. Hier schreibt Heidegger: „Das Wesen des Gestells ist die Gefahr. Als die Gefahr kehrt sich das Sein in die Vergessenheit seines Wesens von diesem Wesen weg und kehrt sich so zugleich gegen die Wahrheit seines Wesens. In der Gefahr waltet dieses noch nicht bedachte Sichkehren. Im Wesen der Gefahr verbirgt sich darum die Möglichkeit einer Kehre, in der die Vergessenheit des Wesens des Seins sich so wendet, daß mit dieser Kehre die Wahrheit des Wesens des Seins in das S e i e n d e e i g e n s e i n k e h r t .“ (TK, S. 40; gesperrt S.R). In „Die Kehre“ kursiv geht es Heidegger darum, die Gefahr des Gestells zu entfalten; dabei verwendet er eine bemerkenswerte Formulierung. Im ersten Satz dieses Aufsatzes heißt es: „Das Wesen des Gestells ist das in sich gesammelte Stellen […]“ (TK, S. 37). Das Gestell ist aber bereits als ‚das Wesen der Technik‘ bestimmt, d.h., dass das ‚Wesen des Gestells‘ ‚das Wesen des Wesens der Technik‘ bedeuten muss. Ob diese Verdoppelung überhaupt sinnvoll ist, soll dahingestellt sein. Wir möchten jedoch diese Formulierung als einen Ausdruck dafür ansehen, dass das ‚Gestell‘ im Heideggerschen Sinne nicht nur in der Technik waltet, sondern auch in anderen Bereiche seine Herrschaft entfalten kann. Das ‚Wesen des Gestells‘ wäre dann das, was die verschiedenen ‚Gestelle‘ durchzieht und ‚gefährlich‘ macht. Vgl. VA, S 27ff.

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Arbeit gezeigt: „Auf einen Weg bringen – dies heißt in unserer Sprache: schicken. Wir nennen jenes versammelnde Schicken, das den Menschen erst auf einen Weg des Entbergens bringt, das Geschick. Von hier aus bestimmt sich das Wesen aller Geschichte.“269 Und er fügt hinzu: „Immer geht die Unverborgenheit dessen, was ist, auf einem Weg des Entbergens. Immer durchwaltet den Menschen das Geschick der Entbergung.“270 So gibt es immer besondere Konturen in der Unverborgenheit, die die Sichtbarkeit bestimmt und es dem Menschen ermöglicht, sich zu orientieren. Von daher gibt es für den jeweiligen Menschen unmittelbar eine geordnete Welt. Wenn Heidegger also seine Arbeit zum Ursprung des Kunstwerkes mit einem Hölderlin-Zitat beendet, möchten wir auch Hölderlin in diesem Zusammenhang zu Wort kommen lassen. Am Ende des Kunstwerkaufsatzes lässt Heidegger Hölderlin sprechen: „Schwer verlässt// Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.“271 Der Mensch, der in der Nähe des Ursprungs wohnt, wird durchherrscht von der ‚Nähe und Ferne‘ des vom Ursprung durchherrschten Seienden. Dieser Mensch hat sich gemäß des Maßstabs dieser Welt eingerichtet, das heißt er ‚wohnt‘ dementsprechend. Und sein ‚Wohnen‘ zeigt metaphorisch die Beständigkeit an, die es so schwer macht, diesen Ort zu verlassen, wenn er erstmals mit dem Maßstab des Ursprungs durchmessen ist und der Mensch sich entsprechend eingerichtet hat. Hölderlins Vers interpretieren wir also im Zusammenhang mit Heideggers Verständnis des Kunstwerkes als eine anschauliche Formulierung von der Macht des Geschicks. Mit anderen Worten kommt in Hölderlins Vers das epochale ‚Anhalten‘ des Menschen zum Ausdruck.272 Heidegger schreibt: „Was ist die moderne Technik? Auch sie ist ein Entbergen.“273 Und von hier aus bestimmt Heidegger das Wesen der modernen Technik als Gestell. Ausgehend von Heideggers Entfaltung der Entbergung der modernen Technik, möchten wir nun das Gestell erneut interpretieren. „Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne der Herausforderung […] Dieses läuft jedoch nicht 269 270 271 272

273

VA, S. 28. VA, S. 28. Holzw, S. 66. Im Kunstwerkaufsatz können wir Heideggers Begriff des ‚Einrichtens‘ in seinem Bezug auf das Wohnen finden, wodurch die Herrschaft des zur Welt gehörigen Maßes deutlich wird. „Indem ein Werk Werk ist, räumt es jene Geräumigkeit ein. Einräumen bedeutet hier zumal: freigeben das Freie des Offenen und einrichten dieses Freie in seinem Gezüge. Dieses Ein-richten west aus dem genannten Er-richten.“ (Holzw, S. 30; kursiviert S.R.) ‚Er-richten‘ besagt für Heidegger: „Öffnen das Rechte im Sinne des entlang weisenden Maßes, als welches das Wesenhafte die Weisungen gibt.“ (Holzw, S. 30). VA, S, 18.

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einfach ab. Es verläuft sich auch nicht ins Unbestimmte. Das Entbergen entbirgt ihm selber seine eigenen, vielfach verzahnen Bahnen dadurch, daß es sie steuert. Die Steuerung selbst wird ihrerseits überall gesichert. Steuerung und Sicherung werden sogar die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.“274

Aber kein Entbergen verläuft ins Unbestimmte: Entborgen zu sein heißt, wie wir bereits gesehen haben, in einer besonderen Art und Weite ‚bestimmt‘ zu sein. Die Entbergung bringt jeweils eine besondere ‚Welt‘ zum Vorschein, die von einer bestimmten Konstellation maßgeblich geprägt worden ist. Eben weil jedes Entbergen nicht vom Geschick zu trennen ist, verläuft das Entbergen als Entbergen nicht ins Unbestimmte. Die Bestimmung des Geschicks einer jeden Enbergung ist zugleich als eine ‚Steuerung und Sicherung‘ zu verstehen. Denn jede ‚Welt‘ bestätigt sich selbst und treibt ihr Werden weiter voran, indem immer mehr mit ihrem Maß durchmessen und entborgen wird. Heidegger versucht das ‚herausfordernde Entbergen des Gestells‘ noch klarer zu fassen, indem er hervorhebt, dass diese Art des Entbergens das Seiende als ‚Bestand‘ aufdeckt: „Das Wort ‚Bestand‘ rückt jetzt in den Rang eines Titels. Es kennzeichnet nichts Geringeres als die Weise, wie alles anwest, was vom herausfordernden Entbergen betroffen wird. Was im Sinne des Bestandes steht, steht nicht mehr als Gegenstand gegenüber.“275 Weil ‚Welt‘ überhaupt zum Menschsein gehört, steht das Seiende zunächst dem Menschen ‚gegenüber‘ nicht als Gegenstand, sondern das Seiende ist zunächst entborgen als Bestandteil einer bestimmten Welt. Solange das Entbergen gemäß dem Maß einer Welt geschieht, ist das Entbergen immer herausfordernd. Dies gilt nicht nur für das Entbergen der modernen Technik. So sagt Heidegger auch über das Kunstwerk: „Wie kommt das Werk zur Forderung einer solchen Aufstellung? Weil es selbst in seinem Werksein aufstellend ist. Was stellt das Werk als Werk auf? In-sichaufragend eröffnet das Werk eine Welt und hält diese im waltenden Verbleib.“276 Auch das Kunstwerk fordert für Heidegger das Seiende heraus. Dies wird noch deutlicher, indem Heidegger sagt: „Niemals aber sind die Menschen und die Tiere, die Pflanzen und die Dinge als unveränderliche Gegenstände vorhanden und bekannt, um dann beiläufig für den Tempel, der eines Tages auch noch zu dem Anwesenden hinzukommt, die passende Umgebung darzustellen. Wir kommen dem, was ist, eher nahe wenn wir alles umgekehrt denken, gesetzt freilich, daß wir im voraus den Blick dafür haben, wie alles sich anders uns zukehrt […] Der Tempel

274 275 276

VA, S. 20. VA, S. 20. Holzw, S. 30.

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gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.“277

In dieser ‚Umkehrung‘, die Heidegger hier ausführlich beschreibt, sehen wir, inwiefern das Kunstwerk den Menschen herausfordert, das Seiende und ihn selbst als Teile der durch ihn erschlossenen Welt zu entbergen. Es wird somit deutlich, inwiefern der Tempel zum Geschick des Menschen gehört und ihn bestimmt. Mit dem, was wir hier als einer Hermeneutik aller möglichen ‚Welten‘ beschreiben können, möchten wir ‚Welt‘ als dasjenige verstehen, was eine ‚Herausforderung‘ an den Menschen stellt, das Seiende gemäß ihrem Maß zu entbergen. Diese automatische Weiterbildung einer Welt kann auch als ein ‚Bestellen‘ beschrieben werden, wonach Seiendes als ‚Bestand‘ der jewieligen Welt ausgelegt wird. Durch das herausfordernde Bestellen kommt das ‚Geschick‘ einer ‚Welt‘ zum Vorschein. Und von hier aus können wir verstehen, inwiefern ein besonderes ‚Gestell‘ zu jeder Welt gehört, denn Heidegger bestimmt das ‚Gestell‘ folgendermaßen: „Wir nennen jetzt jenen herausfordernden Anspruch, der den Menschen dahin versammelt, das Sichentbergen als Bestand zu bestellen – das Ge-stell.“278 Das, was an jeder Welt, welches den Menschen dazu führt, das Seiende als Teil dieser Welt zu entbergen – dies ist in unserer Interpretation als ein ‚Gestell‘ zu verstehen. Jede Art ‚Welt‘ birgt damit eine Gefahr, denn die Gefahr geht vom Geschick des Gestells aus. Nicht nur im Bezug auf das Geschick des Gestells, sondern im Allgemeinen, bedeutet das ‚Geschick‘ laut Heidegger eine Gefahr für den Menschen. „Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr. Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr.“279 Den Unterschied zwischen ‚der Gefahr‘ und der ‚höchsten Gefahr‘ entfaltet Heidegger nicht, und er scheint auch nicht, von prinzipieller Bedeutung zu sein. Das, was nicht als ‚irgendeine Gefahr‘, sondern als ‚die Gefahr‘ von Heidegger kursiv hervorgehoben wird, ist als Inbegriff einer Gefahr zu verstehen, und das, was als Inbegriff einer Gefahr beschrieben werden kann, gehört wiederum zur ‚höchsten Gefahr‘. Oder einfacher ausgedrückt: Etwas kann nicht gefährlicher sein, als die Gefahr schlechthin. Ob es nun tatsächlich einen Unterschied zwischen ‚der Gefahr‘ und die ‚höchste Gefahr‘ gibt, spielt für unser Vorhaben keine wesentliche Rolle – wichtig ist zu bemerken, dass jedes Geschick „nicht irgendeine, sondern die Gefahr [ist].“280 Die Gefahr, die Heidegger im Bezug auf das Wesen der Technik entfaltet hat, muss daher auf 277 278 279 280

Holzw, S. 28f. VA, S. 23. VA, S. 30. VA, S. 30.

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jede Welt bezogen werden, und diese Gefahr besteht darin, den Menschen auf ein besonderes Geschick zu bringen: „also unterwegs, immerfort am Rande der Möglichkeit, nur das im Bestellen Entborgene zu verfolgen und zu betreiben und von da her alle Maße zu nehmen.“281 An der Gefahr des Wesens der modernen Technik ist in unserer Interpretation die Universalität des Gestells zu erkennen. Die von Heidegger im Zusammenhang mit dem Wesen der modernen Technik entfaltete Gefahr gehört zu jeder entborgenen Welt, und erlaubt der modernen Technik keine Sonderstellung. Denn das Geschick jeder Welt neigt in dem Sinne zur Totalisierung, in dem es nur sein eigenes Maß durchsetzt. Dies ist eben die Bedeutung des ‚Geschicks‘, und in dem Sinne ist auch die ‚Umkehrung‘ des Seienden zu verstehen, wonach das Kunstwerk sich selbst zentriert und den Fixpunkt gibt, um den alles ‚kreist‘: „Niemals aber sind die Menschen und die Tiere, die Pflanzen und die Dinge als unveränderliche Gegenstände vorhanden und bekannt, um dann beiläufig für den Tempel, der eines Tages noch zu dem Anwesenden hinzukommt, die passende Umgebung darzustellen. Wir kommen dem, was ist, eher nahe, wenn wir alles umgekehrt denken.“282 Auch der Mensch wird vom Tempel entborgen, und dadurch kann auch die Möglichkeit verdeckt werden, „dass der Mensch eher und mehr und stets anfänglicher auf das Wesen des Unverborgenen und sein Unverborgenheit sich einlässt.“283 Was Heidegger unter der Gefahr des Gestells versteht, kann daher als der Totalitätsanspruch einer jeden Welt ausgelegt werden. So kann zum Beispiel die Epoche, die die mittelalterliche Welt ausmachte, genauso gefährlich für den Menschen sein wie die Welt des Zeitalters der modernen Technik. Wenn der mittelalterliche Mensch sich wie von der Kirche vorgeschrieben dogmatisch an diese charakteristische Welt hält und die so aufgestellte Welt als Legitimation für die Inquisitionsgerichte, Folter und Hexenverbrennungen nimmt, dann herrscht auch in jener Welt die ‚höchste Gefahr‘. Wenn die mittelalterliche ‚Welt‘ die Menschen zu Untertanen Gottes macht, dann besteht auch die Möglichkeit, von dort her „alle Maße zu nehmen.“284 Heideggers Begrifflichkeit, um die Welt unter der Herrschaft des Gestells zu bezeichnen, könnte sogar in eben eine solche übersetzt werden, die entscheidende Phänomene des Mittelalters zeigt. So können ‚Missionieren‘, ‚die Schöpfung‘ und die ‚Dogmen‘ der Kirche als wesensverwandt mit dem Begriff des ‚Bestellens‘ beziehungsweise des ‚Bestands‘ charakterisiert werden. Die im Mittelalter aufgestellte ‚Welt‘ reproduzierte sich gerade so, wie Heidegger es dem Zeitalter der modernen Technik vorgeworfen hat. Deswegen konnte das Mittelalter auch so lange bestehen. Hier wie dort trägt die Selbst281 282 283 284

VA, S. 29. Holzw, S. 28f. VA, S. 29. VA, S. 29.

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bestätigung dazu bei, die Möglichkeit eines anderen Anfangs zu verschließen. Eine Frage, die nahe liegt, die wir aber nur streifen können, ist offensichtlich, inwieweit die Frage des Gestells mit einem Problemzusammenhang verbunden werden kann, dem sich der frühe Heidegger widmete, nämlich dem Unterschied zwischen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. So würden wir zugleich einen Zusammenhang stiften, in dem eine Epoche sichtbar wird, die das frühe und späte Denken Heideggers umfasst. Denn, so kann polemisch gefragt werden, besteht nicht eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Welterfahrung des Gestells und der Rettung einerseits und der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit andererseits? Unter der Herrschaft des Gestells und im Seinsmodus der Uneigentlickeit scheint der Mensch in einem Zusammenhang des Seienden zu stehen, durch den ihm im voraus alle Maßstäbe festgelegt werden, während er sie durch die Erfahrung des Rettenden und im Seinsmodus der Eigentlichkeit in ihrer Offenheit durchschaut und sie neu stiften kann.285 In der Uneigentlichkeit wird der Mensch so gesehen vom Gestell geführt und verhält sich ausschließlich zu der ihm entborgene Wirklichkeit, während der Mensch im Seinsmodus der Eigentlichkeit sich auf die Offenheit und Unbestimmtheit des Seienden einlässt und den Möglichkeitsraum des Seienden erfahren kann.286 Im Unterschied zum Diskussionsrahmen, der noch in Sein und Zeit besteht, ist die Rettung aus der Uneigentlichkeit jedoch eher mit einer philosophischen Einstellung verbunden, der Fähigkeit, das Wahrheitsgeschehen des Seienden zu vergegenwärtigen, wodurch der Mensch sozusagen das Seiende in der ‚Schwebe‘ oder Unbestimmtheit halten und aushalten kann. Den frühen Heidegger drängte es hingegen zu der Entscheidung, eine besondere Möglichkeit zu realisieren und als das ‚Eigene‘ zu verstehen. Verbinden wir das Gestell mit dem Gedanken der Uneigentlichkeit dann sehen wir auch leichter ein, dass das Gestell zu einer jeden Welt gehört.287 Es gibt somit nicht nur ein ‚Gestell‘, sondern jede Epoche oder jede Welt hat ihr eigenes Gestell, das dadurch gekennzeichnet ist, das Sein gemäß seinem immanenten Maßstab herauszufordern. Denn jede ‚Welt‘ und das heißt, jede menschliche Welt, stellt das Seiende auf eine bestimmte Weise auf und gibt 285 286 287

Vgl. SuZ, S. 42f. Vgl. SuZ, S. 188. Vgl. auch einen anderen Versuch, die Bedeutung des Heideggerschen Begriffs des Gestells zu erweitern: Feenberg, Andrew: Questioning Technology, New York 1999, S. 14ff. Vgl. auch Hubert Dreyfus’ und Charles Spinosas Ansatz, Heideggers Konzeption der Geschichte des Seins anhand des Begriffs der ‚Paradigma‘ einsichtig zu machen: Dreyfus, Hubert L. / Spinosa, Charles: „Heidegger and Borgmann on How to Affirm Technology”, in: Philosophy of Technology: the technological Condition: an Anthology, hrsg. von Robert C. Scharff und Val Dusek, Malden/Oxford 2003, S. 315326, hier S. 315ff.

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dementsprechend zu verstehen, welches besondere Geschick sich anbahnt. Gäbe es kein ‚Gestell‘ in diesem Sinne, könnten die Menschen sich nicht orientieren, sich auf nichts verlassen und hätten ständig Angst – denn nichts wäre selbstverständlich und von Verlass. Gäbe es nicht den relativ festen Boden des Gestells, könnte der Mensch sich nicht in der ‚Welt‘ einrichten und leben. Ohne das Gestell könnte es auch keinen ‚Streit‘ und keinen ‚Riss‘ geben und auch kein Wahrheitsgeschehen, denn nur das Feststehende kann reißen; nur um etwas Bestimmten willen lässt sich streiten. Dementsprechend ist es auch leicht einzusehen, dass ein ‚Ursprung‘ auch nur vor einem stabilen Hintergrund zum Vorschein kommen kann. Der Neuanfang ist ohne das ‚Gestell‘ undenkbar.

C Der andere Anfang Alles Seiende, das heißt die unverborgene offenbare Wirklichkeit, hat seinen Ursprung in einem Wahrheitsgeschehen. Von diesem Ereignis wird es für Heidegger, ‚was und wie‘ es ist.288 Und so ist der Ursprung der Anfang des Wesens des Seienden.289 Vom Ursprung wird das Geschick des Seienden bestimmt, und von da her ist das Seiende geschichtlich. Das Wesen ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Das Wesen des Seienden zeigt sich in seiner Geschichtlichkeit, und deswegen können wir auch verständlich machen, wieso die Vorsokratiker laut Heidegger von der ‚Natur des Seienden‘ gesprochen haben.290 Das Geschick des Wesens des Seienden bestimmt die Veränderung der Unverborgenheit des Seienden, die wie die Selbstentfaltung der Natur erscheint. Im Geschick entfaltet sich die Reproduktion des Ursprungsgeschehens der Wahrheit. Orientiert sich der Mensch nur an der Unverborgenheit, dann wird er unwissentlich vom Geschick geleitet, dann ist er vom Geschick bestellt und gestellt, dann lebt er unter der Herrschaft des Gestells. Sein Maßstab ist die Richtigkeit der offenbaren Welt. So gestellt hat der Mensch keinen Sinn für das Wahrheitsgeschehen, sondern nur für seine Folgewirkungen. Die Offenheit, das Freie, das Wahrheitsgeschehen bleiben ihm verborgen und so können wir sagen, dass für ihn die ‚Natur des Seienden‘ das Festgelegte, Musterhafte, Durchgeplante heißt. Es gibt für ihn Naturgesetze – Gesetze, an die das Seiende sich hält.291 Der Mensch ist jedoch auch fähig, eine Einsicht in das Wahrheitsgeschehen des Wesens des Seienden zu gewinnen. Dieser Wesensblick relativiert das Seiende auf das Wahrheitsgeschehen hin, wodurch die Offenheit des 288 289 290 291

Vgl. Holzw, S. 1. Vgl. Holzw, S. 1. Vgl. WM, 300. Bereits in Sein und Zeit sagt Heidegger über die ‚Naturgesetze‘: „Bevor die Gesetzte Newtons entdeckt wurden, waren sie nicht ‚wahr‘.“ (SuZ, S. 226).

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Seienden erfahren und ein Möglichkeitssinn gestiftet wird. Die IXYVL als die ‚Natur des Seienden‘ bedeutet für den Menschen die ständige Veränderung des Seienden, den Spielraum von Unverborgenheit und Verborgenheit, die Möglichkeit eines anderen Anfangs und damit auch eine neue Ordnung und eine neue Epoche stiften zu können. Indem der Mensch das Wesen eines Seienden erschließt, erfährt er es in seiner Begrenzung und Geschichtlichkeit. Die denkende Erfahrung der Wahrheit und der Relativierung der Herrschaft der Unverborgenheit, ermöglicht eine offene, eine freiere Beziehung zum Seienden.292 Und so gesehen kann der Mensch sich vom Gestell eines Geschicks besser distanzieren. Er hat nun Spielraum und kann mit der Technik auch freier umgehen. In dem Sinne ist die Erfahrung der Wahrheit laut Heidegger rettend, weil vom Gestell freimachend.293 Für den Menschen, der aus einem freieren Bezug zum Seienden den neuen Anfang denkt, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, in der Welt zu sein: Die skeptische und die stiftende. Die erste ist eine explizite, die zweite eine implizite Auseinandersetzung mit dem ersten Anfang. Die erste Möglichkeit besteht darin, den ersten Anfang, die von einem Gestell entborgene Unverborgenheit ständig in Frage zu stellen, um einen Freiraum für einen anderen Anfang möglichst offen zu halten oder ihn als Wahrheitsgeschehen transparent zu machen.294 Diese Aufgabe des Denkens ist im Bezug auf die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen unabschließbar: Es gibt immer Bereiche oder Aspekte des Seienden, deren Wahrheitsgeschehen gemäß des ersten Anfanges weiter herrscht und als solcher in Frage gestellt oder entlarvt werden muss. Dann gibt es jedoch auch die stiftende Möglichkeit, den anderen Anfang zu denken. Sie vollzieht sich, wie wir anhand von „Der Ursprung des Kunstwerkes“ gesehen haben, indem das Werk, dessen Wahrheit die Bezüge des Menschen zum Seienden verändert und sein Geschick maßgeblich prägt, gestiftet oder dichterisch bewahrt wird. Dieses Stiften ist ein anderer Anfang, weil die Wahrheit eines Seienden dadurch zur Wirklichkeit kommt, die sich anders als alles bisherig Seiende zeigt. Für die Menschen, die sich an diesem Werk orientieren, stiftet das Werk zugleich ein Geschick. Wird der andere Anfang nicht im Bezug auf das Wahrheitsgeschehen verstanden, dann ist er gefährlich und kann genauso verhängnisvoll werden, wie der erste Anfang. In unserer Auslegung des Gestells bezeichnet das Gestell also nicht bloß das Wesen der modernen Technik, sondern die auf- und festgestellte Ent292 293 294

Vgl. TK, S. 44. Vgl. VA, S. 32ff; TK, S. 41. Vgl. Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1996, S. 146ff. Vgl. auch Jacob Burckhardt Betrachtungen zur Geschichte: „Gewiß hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in ständiger Bewegung ist [.]“. (Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Leipzig 1985, S. 25) .

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bergung des Seienden überhaupt, die das Seiende als solches durchherrscht und wodurch es allererst seine Bewandtnis und seinen Sinn erhält. Nur als aufgestelltes hat ‚Sein‘ eine bestimmte Bedeutung, oder anders gesagt: Das Seiende ist als unverborgen schon immer vom Gestell bestimmt. Wegen des Vorgriffs des Gestells auf das Seiende kann das Seiende sich auch unmittelbar zeigen und dadurch so etwas wie Erfahrung von Evidenz ermöglichen. Übersetzen wir unsere Interpretation der Herrschaft des Gestells in eine Begrifflichkeit der Hermeneutik, dann können wir sie auch anders einsichtig machen, nämlich als die Struktur von Vorurteilen, wodurch das Sein von vornherein bestimmt und verständlich gemacht wird.295 Von hier aus ist es leichter zu verstehen, inwiefern das Gestell in unserer Interpretation über den Bereich der Technik hinausgreift und mit dem ‚Maß‘ zusammenhängt, das immanent in all dem wirksam ist, was uns selbstverständlich und offenbar vorkommt. Nur weil es das Gestell gibt, kann es überhaupt ein Geschick des Seienden geben – oder anders gesagt: Jedes Geschick zeigt ein besonderes Gestell – ein besonderes Maß, wonach das Seiende auf- und festgestellt ist. Das Gestell west als Geschick. Das Geschick bedeutet, dass so wie das Seiende anfänglich entborgen wird, auch die Maßstäbe für den künftigen Umgang und das Verständnis des Seienden auf- und festgestellt werden. Dementsprechend bildet sich eine Epoche des Seins. Und deswegen kann Heidegger in Bezug auf das Entbergungsgeschehen das Geschick mit seinem Verständnis der Gefahr verbinden: „Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr.“296 Heidegger sagt also, dass die Entbergung als solche eine Gefahr ist, und zwar eine Gefahr dafür, dass der Mensch von der je spezifischen Entbergung her ‚alle Maße nimmt‘ und so sein eigenes Wesen verkennt und das Seiende missversteht.297 Heidegger trifft daher eine unsachgemäße Unterscheidung, wenn er das Gestell im Sinne des Wesens der modernen Technik als eine einzigartige gefährliche Weise versteht, in der das Geschick walten kann. Alle Geschicke sind von einem Gestell durchherrscht und deswegen gefährlich. Heideggers Versuch einer Differenzierung der Gefährlichkeit der Geschicke ist zum Scheitern verurteilt: „Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr. Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Gestells, dann ist es die höchste Gefahr.“298 Um zu sehen, worin diese Behauptung Heideggers fehlgeht, müssen wir erst rückfragen: Warum versteht Heidegger überhaupt das Geschick als ‚die Gefahr‘? Die Antwort muss lauten: Weil das jeweilige Geschick den Menschen auf einen bestimmten Weg 295

296 297 298

Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik II, Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Gesammelte Werke, Band 2, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 57ff. VA, S. 30. VA, S. 29f. VA, S. 30.

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schickt und den Menschen auffordert, sich an einer bestimmten ‚Entbergung‘ zu orientieren. Gleichgültig wie dieser Weg verläuft – er ist ein je besonderer Weg, der die Offenheit verschiedener Ausrichtungen verbirgt und demnach ein bestimmtes Geschick, das immer andere mögliche Wege ausschließt. Darüber hinaus ist das Geschick als Weg der Entbergung gefährlich, weil es eine Weiterführung seines Selbst ist, das heißt, es reproduziert eine besondere Entbergungsweise.299 Wir möchten also hier nicht behaupten, dass es keinen Unterschied zwischen den Geschicken des Seins gibt, wonach das Seiende entborgen wird, ganz im Gegenteil. Dieser Unterschied der Geschicke kann nur nicht mit dem Begriff des Gestells eingefangen werden, denn das Gestell bezeichnet sachgemäß das entscheidende Maß beziehungsweise das Bindemittel eines jeden Geschicks. Das Gestell bestimmt die Tragfähigkeit und Verbindlichkeit eines Geschicks überhaupt. In diesem Sinne lässt die Herrschaft eines Gestells sich aber auch anders erkennen. Zum Beispiel darin, wie ein bestimmter Philosoph das Seiende entbirgt und anschließend Schulen stiftet und Epoche bildet. Eine solche Schule oder philosophische Richtung denkt dem Prinzip nach weiter entlang des Weges, der vom Gründer der Schule gestiftet wurde. Die Philosophie ist damit nicht länger anfängliches Denken.300 Die Schulbildung gehört in diesem Sinne zum ‚Geschick‘ der anfänglichen Auf- und Feststellung des Seienden. Das, was in hermeneutischer Terminologie mit ‚Wirkungsgeschichte‘ anschaulich erfasst wird – was wir als die vorgängige Bestimmung von Er-

299

300

Ein griechischer Tempel entbirgt zum Beispiel das Seiende anders als ein Parlamentsgebäude oder ein königliches Schloss. Ist das Seiende aber erst in einer dieser unterschiedlichen Weisen entborgen, dann ist damit auch ein Weg genommen, der nach seinem eigenen Maßstab weiterführt und diesen auch künftig als maßgeblich aufrecht hält. Anstatt wie Heidegger zwischen Philosophie und Denken zu differenzieren, lässt sich dieselbe Unterscheidung auch anders formulieren, nämlich als eine zwischen Philosophie und epigonaler Philosophie. In einer Anspielung auf Thomas Kuhns Verwendung des Begriffs ‚Paradigma‘, die er „durch einheitliche Methoden, anerkannte Grundbegriffe und mehr oder weniger homogene Verständigungsstrukturen“ interpretiert, wird bei Figal diese Unterscheidung einleuchtend: „Es gibt die Philosophie nur als Philosophien, wobei jede große Philosophie im Sinne Kuhns ein Paradigma ist. Allerdings, und das wird sich noch genauer zeigen, ist die Philosophie anders als die Wissenschaft nur im Paradigmenwechsel, was sie ihrem Wesen nach sein soll. Zwar gibt es auch in der Philosophie, was Kuhn ‚normal science‘ nennt, also den Ausbau, die Vertiefung, die Verdeutlichung eines großen systematischen Entwurfs. Doch ist die Philosophie auf dergleichen nicht angelegt; wenn sie als normal science betrieben wird, bleibt sie hinter dem, was sie sein soll, zurück.” (Figal, Günter: Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 34).

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kenntnismöglichkeiten bezeichnen können – möchten wir in unserer Heideggerinterpretation auch zugehörig zum Geschick des Gestells verstehen.301 Der sammelnde Zug des Geschicks des Gestells, wonach wir das Phänomen einheitlicher Auslegungen des Seienden erfasst haben, ist zwar eine Gefahr, aber nicht unmittelbar ein ‚Missgeschick‘ oder ein ‚Irrweg‘. Die ‚höchste Gefahr‘ des Gestells besteht darin, dass ein Weg als der alleinige Weg des Verstehens oder Interpretierens ausgelegt wird. Die ‚höchste Gefahr‘ besteht mit anderen Worten darin, dass ein einziges Maß über alles entscheidet, das ‚Richtige‘ verabsolutiert und die ‚Wahrheit‘ verdeckt. Die ‚höchste Gefahr‘ gibt es immanent in jeder Auslegung des Seienden, die sich nicht selbstreflexiv mit der Wahrheit als einem Geschehnis auseinandersetzt. Die ‚höchste Gefahr‘ hat also nicht spezifisch mit der Epoche der modernen Technik zu tun. Die ‚höchste Gefahr‘ ist eine Gefahr des Verstehens überhaupt. Der Mensch, der seine ‚höchste Würde‘ nicht mit einer epigonenhaften Existenz verwechselt und so in bloße Dogmatik, lauter Vorurteile oder reine Metaphysik im Sinne Heideggers verfällt, darf sich auch nicht in philosophischen Systemen einrichten und es sich dort bequem machen.302 Dementsprechend kündigt Heidegger am Ende seines eigenen Schaffens sogar das ‚Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens‘ an.303 Diese programmatische Aussage kann durchaus als eine Relativierung seiner eigenen Beiträge zur Philosophie und zugleich als eine Aufforderung zu kritischer Auseinandersetzung mit seinen Schriften gelesen werden. In diesem Sinne beabsichtigte Heidegger keine ‚Lehre‘ der Technik – und wollte keine Schule der Philosophie stiften.304 Zunächst ist Heideggers Behauptung aber als eine Kritik der philosophischen Tradition zu verstehen. Denn auch die Philosophie ist laut Heidegger an das Seiende verfallen und so steht sie auch unter der Herrschaft eines bestimmten Gestells, das durch den Ursprung der Metaphysik bestimmt ist. Anders gesagt ist die Metaphysik eine ursprüngliche Weise, in der das Wesen des Gestells waltet. Der Metaphysik als Philosophie kommt eine besondere Verantwortung zu, weil sie für Heidegger den offenen Raum des Seinsverständnis versperrt und so die Philosophie zur Gefangenen eines Gestells verurteilt hat. „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“ soll in unserer Interpretation aber nicht heißen, dass das Denken nicht geschichtlich sein soll, denn das 301

302 303 304

Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik II, Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Gesammelte Werke, Band 2, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 228. Vgl. VA, S. 36. SdD, S. 61. Vgl. „Dem Wesen der Technik denken wir jedoch keineswegs deshalb nach, um das Gebäude einer Philosophie der Technik zu errichten oder auch nur so zu entwerfen.“ (GA 79. S. 45)

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Denken wird erst hinsichtlich des Wahrheitsgeschehens zum Denken, und dieses Geschehen ist als Geschehen zeitlich und geschichtsstiftend. In „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“ ist ‚Ende der Philosophie‘ also auch so zu lesen, dass Heidegger das ‚Ziel‘ des Geschicks der antiken Philosophie zeigen möchte, während mit ‚Aufgabe des Denkens‘ umgekehrt von Heidegger angezeigt wird, dass das ‚Denken‘ immer anfänglich ist, und das heißt, sich auch auf das Wahrheitsgeschehen bezieht und somit auch geschichtlich ist. In dem Sinne verstehen wir auch den ‚wesentlichen Titel‘ von Heideggers Beiträgen zur Philosophie, ‚Vom Ereignis‘: Als Entfaltung eines Denkens, das versucht, in Beziehung auf das Wahrheitsgeschehen – und dies heißt bei Heidegger auch ‚vom Ereignis‘ her – zu denken. Die Fähigkeit zu denken, und in diesem Sinne einen ersten Anfang zu kritisieren oder einen anderen Anfang zu stiften, sieht Heidegger als die ‚höchste Würde‘ des Menschen. ‚Denken‘ ist zwar für alle Menschen möglich, aber wird laut Heidegger tatsächlich nur von ‚Wenigen‘ vollzogen – nämlich von denjenigen, „die von Zeit zu Zeit wieder fragen, d.i. das Wesen der Wahrheit erneut zur Entscheidung stellen.“305 In diesem Sinne müssen auch wir uns mit Heidegger auseinandersetzen und seine Interpretation vom Wesen der Technik in Frage stellen, wenn wir ihn ernst nehmen wollen. Der Ansatz zu einem anderen Anfang ist immer auf den bisherigen, das heißt den herrschenden Anfang angewiesen. Sehen wir also die ‚höchste Gefahr‘ im Zusammenhang mit der ‚höchsten Würde‘ des Menschen, dann zeigt Heidegger den Menschen die Möglichkeit, sich von dem, was ist und somit für ‚richtig’ gehalten wird, zu distanzieren und auf das Wahrheitsgeschehen hin zu relativieren. Der ‚erste Anfang‘ zeigt sich unserer Interpretation nach als die Unverborgenheit des Seienden selbst, also darin, wie das Seiende traditionell bestimmt wird. In diesem Sinne ist das Denken der andere Anfang phänomenologisch – es setzt sich mit dem ‚Sichzeigen‘ des Seienden auseinander. Wir haben versucht, Heideggers Aufweisung der Technik fragwürdig zu machen. Damit sollte das Selbstverständliche seiner Interpretation der Technik in Klammern gesetzt werden, und von da her haben wir uns bemüht, die Fragwürdigkeit seiner Interpretation der Technik zu steigern. Dementsprechend haben wir zunächst Heideggers Interpretation des Wesens der Technik hinsichtlich seiner Bestimmung des Wesens hinterfragt. Dabei hat sich gezeigt, dass diese Bestimmung des Wesens das Seiende mobilisiert, lebendig und gefährlich macht. Somit ist es nicht das Wesen der Technik, das den Menschen gefährdet, sondern das Wesen des Seienden überhaupt. Dennoch kann es den Menschen gelingen, das Wesen der Technik und des Seienden in seiner Begrenzung zu erfahren, nämlich dann wenn der Mensch einen 305

GA 65, S. 11.

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Einblick in das Wahrheitsgeschehen des Wesens gewinnt. Wie das Wesen der Wahrheit zu sehen und zu verstehen sei, entwickelt Heidegger besonders anschaulich im Hinblick auf das Kunstwerk. Dennoch haben wir aufweisen können, dass Heideggers Entfaltung der Wahrheit des Wesens des Kunstwerks keine systematische immanente Differenzierung zwischen Kunstwerk und technischem Zeug zulässt. Daher ist es schließlich bloß eine Frage der Interpretation, beziehungsweise des ‚zureichenden Blicks‘, was von Heidegger als Kunstwerk und als Technik gesehen und verstanden wird. Schließlich haben wir anhand von Heideggers Interpretation der Entstehung der modernen Technik, das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit bei Heidegger im Vollzug untersucht. Und somit wurde letzten Endes das Wesen des Seienden als ein geschichtliches Kunstwerk transparent. In der Auseinandersetzung mit Heidegger haben wir also nach Ansatzpunkten gesucht, das ‚Strittige‘ seiner Bestimmung der Technik aufzudecken. Dabei ist es unser Vorhaben gewesen, im Bereich der Technik erneut Spielräume für ihre Interpretation zu gewinnen. So steht die Technik am Ende der vorliegenden Arbeit wie die Kunst im Bereich des Offenen und Freien. Damit möchten wir das Wahrheitsgeschehen, das in Heideggers Werk das Wesen der Technik bestimmt, erneut zur Entscheidung stellen, und so den Möglichkeitsraum einer Neubestimmung des Wesens der Technik zeigen. In dem Sinne möchten wir mit einer Einsicht Heideggers den Gedankengang der Arbeit beschließen: „Auseinandersetzung ist echte Kritik. Sie ist die höchste und einzige Weise der wahren Schätzung eines Denkers […] Und wozu dieses? Damit wir selbst durch Auseinandersetzung für die höchste Anstrengung des Denkens frei werden.“306

306

N I, S. 13.

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Gel

Frühe Schriften, Gesamtausgabe, Band 1, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1978. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe, Band 4, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1984. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Gesamtausgabe, Band 29/30, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1984. Hölderlins Hymnen ‚Germania‘ und ‚Der Rhein‘, Gesamtausgabe, Band 39, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1980. Hölderlins Hymne ‚Andenken‘, Gesamtausgabe, Band 52, hrsg. von Curd Ochwart, Frankfurt am Main 1982. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe, Band 65, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989. Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe, Band 79, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt am Main 1994. Zu Ernst Jünger, Gesamtausgabe, Band 90, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2004. Gelassenheit, Pfullingen 1959.

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NI

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N II

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SuZ

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WM

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GA 4

GA 29/30

GA 39

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Register Analogie 13, 34, 48, 57, 69, 72, 75, 7980, 82, 85, 86, 87, 89, 93, 96, 101, 108, 115, 133, 171-172, 184, 243, 255, 266 Anfang 14, 23, 27, 37, 47, 51, 57-58, 6062, 71, 83, 86, 91, 94, 108, 113, 122, 131, 138, 140, 147-149, 151-152, 156158, 164, 166, 176, 200-201, 204-205, 207, 217, 223-225, 228, 231, 234-236, 238, 243, 250-251, 254, 256-259, 263264, 266-276, 283-285, 289 Anstoß 27-28, 122, 138, 143, 145, 147, 149, 155-156, 169, 171, 181-182, 189, 204 Antike 12-13, 52, 90, 141, 150, 179, 183, 185, 200, 207-209, 222-223, 226, 228-229, 232-235, 237-238, 245, 257-259, 266, 270 Anwesenheit 58, 64-65, 102, 104, 106107, 113, 124, 138, 141, 229, 258 Auseinandersetzung 12, 16-17, 23, 42, 46-47, 49, 56, 119, 128, 154, 197, 220, 248, 256, 285, 288, 290 Auslegung 15, 16, 34, 47-48, 70, 78, 81, 87-89, 91, 93-94, 103, 106, 113, 126, 129, 138-39, 151, 154, 175, 184, 200, 214, 229, 242, 250, 260, 265, 268, 271, 274-275, 285, 288 Begriff 14, 38, 58, 65, 75, 78, 82, 87, 90, 93, 95-96, 101-102, 104, 107, 113, 125, 129-130, 133-134, 146, 148, 151-152, 158-159, 161, 164-165, 176-178, 184-185, 189, 197, 202, 206, 213, 217, 219, 222, 229-230, 236-237, 242, 245-246, 248, 250, 263, 265, 268-269, 273, 277-278, 282-283, 287 Bestand 32-33, 36, 38-39, 40, 42, 50, 5354, 65, 68, 92, 102, 161, 178, 208-209, 210, 216-217, 222, 227, 232, 247, 257-258, 272, 275, 280-282

Bestellen 31-33, 36, 41, 49, 53-54, 87, 92, 161-162, 210, 258, 281-282 Bestimmung 11, 15, 22, 24-26, 34, 45, 61, 66, 84, 102, 108, 121-122, 126, 130-131, 133, 146, 149, 184, 186, 198, 206, 242, 245, 251-255, 259-260, 280, 287, 289-290 Bewahren 93, 145, 146, 149-150, 154, 171, 184, 186, 189, 234, 271, 275 Bewandtnis 77, 86, 240-241, 245-249, 259, 286 Bewegung 57-58, 60, 62, 64, 66-67, 6970, 72, 76, 80-84, 96-97, 99, 100-101, 103, 105, 108-110, 112, 114-115, 135-136, 145, 206, 236, 266, 267, 285 Beziehung 11, 22-23, 25, 29, 36-37, 38, 43, 46-47, 51-53, 56, 61-62, 73, 85, 97, 119, 134, 136, 154, 166, 171-172, 183, 185, 188, 242,-243, 245, 247248, 250, 285, 289 Bezug 31, 38-40, 51, 61, 68-69, 77, 9091, 115, 131-133, 147, 151, 162-164, 167, 170, 184, 191-193, 201-202, 205, 208, 211, 217, 223-224, 232, 236, 238, 250, 252, 263-264, 268-269, 274, 278-279, 281, 285-286 Dasein 22, 69, 70, 77-78, 90, 98, 119, 145, 151, 190, 198, 242-243, 246, 248-249, 258-259, 273, 277 Denken 15, 22-23, 34, 43-46, 48, 54, 58, 70, 87, 91, 93-94, 96, 98, 113, 121, 124, 152-153, 155-156, 161, 163, 189, 200-202, 204, 216, 223, 225-226, 228, 240, 249, 251, 260-261, 268, 283, 285, 287-290 Dichter 15, 39, 40, 90, 212, 261, 273274, 276-277 Dichtung 15, 146, 148-150, 154, 170, 175, 201, 218-219, 261, 269, 273-277

299

Ding 5, 23, 26, 34, 50, 64, 73-74, 80, 85, 93, 94, 97, 99-101, 110-112, 122-128, 130, 132-134, 137-139, 147, 160-163, 168, 170, 174, 181, 188, 191, 202, 208, 213, 239, 245, 252, 254, 265, 272, 276-278, 280, 282 Eigentlichkeit 283 Einheit 26, 61, 80-82, 84, 86, 92, 102, 107-109, 111, 123, 125, 133, 136, 140, 146, 162, 180, 199, 201, 203, 251 Ende 5, 11, 22, 26-27, 44, 48, 64, 66, 71, 82, 93, 129, 140, 147, 151-153, 156, 159, 165, 174-175, 193, 200, 206, 216, 218, 221, 235-238, 249-250, 252, 254-255, 256, 259, 264, 266-269, 272, 279, 285, 288, 290 Energie 31, 53, 72, 82, 97, 180, 198-199, 207, 230, 256-257 Enthüllen 25, 204 Entwurf 22, 46, 125, 147, 151, 153, 189, 287 Epoche 11, 16, 42, 150, 200, 201, 203, 223, 233, 235-236, 238, 250, 256-257, 262, 264, 266, 268-269, 270-273, 275-276, 282-283, 285-288 Ereignis 41-42, 98, 111, 116, 143, 151, 163, 165, 182-183, 217, 235, 263-264, 267-269, 272, 284, 289 Erfahrung 17, 38, 124-125, 127, 137, 146, 169, 174, 184, 213, 221, 224, 234, 240-241, 283, 285-286 Erkennen 30, 45, 75, 197, 206, 242-243, 271 Existenz 69-70, 72, 145, 181, 288 Experiment 35, 45, 205, 246 Forschung 15, 32, 45, 48, 258, 261 Frage 14-15, 21-22, 30, 36, 40, 42-48, 57, 87-88, 91, 94, 102-103, 107-110, 112, 120, 127-128, 131, 140, 142, 146-147, 152, 159-162, 168, 178, 185, 190, 203, 211, 215-216, 224-225, 227, 230, 245-247, 254, 257, 267, 275, 278, 283, 285, 289

300

Freiheit 24, 30, 37-38, 40-42, 50, 52, 54-55, 99, 192-193 Gefahr 7, 11-14, 24, 36, 38-43, 48-49, 51, 65, 91, 129, 166, 181-182, 190191, 193-194, 209-210, 216-220, 235, 247-249, 272, 276, 278, 281-282, 286, 288-289 Gegenstand 32, 39, 47, 71, 110, 133, 147, 161, 170, 181, 185, 208-209, 225-226, 231, 244, 258, 261, 280, 282 Genealogie 14, 90, 194, 197, 202, 204, 224, 231, 233, 235, 239-240, 242-243, 249, 251-252, 255-260, 262 Geschichte 37, 45, 56, 64, 126, 149, 152, 169, 194-195, 200, 201, 203, 204, 213, 223-225, 228-229, 233-238, 240, 246, 250, 252, 257, 260, 262267, 269, 271-274, 279, 283, 285 Geschick 5, 12, 37-42, 49, 67, 69-70, 85-86, 92-93, 95, 97, 114, 119, 133, 136, 157, 161-163, 165, 180, 187, 189-191, 194, 228, 235-236, 239, 253, 255, 264, 266, 270, 272, 275, 277282, 284-289 Gestell 30, 33-39, 40-42, 44, 49-57, 61, 65, 67-72, 74-76, 79, 82-83, 85-93, 99, 109, 119, 131, 160-166, 172, 178179, 182, 184, 190-192, 197, 199-200, 203-209, 216-221, 225, 227, 229-233, 235-236, 240-242, 245, 247-249, 251, 256-259, 262, 272, 277-288 Gott 101, 111, 123, 132-133, 149, 168172, 175, 180, 183, 187-188, 191, 227, 235, 273, 282 Grund 26, 29, 47, 59, 99, 133-134, 151152, 175, 199, 216, 227, 229, 235 Gründen 136, 150-151, 202, 221, 231, 263-264, 271, 277 Handwerker 28, 51, 65, 141, 167, 169, 211, 213-216, 221, 251 Herausforderung 12-13, 31, 41, 50, 59, 65, 68, 71, 75, 98, 198, 207, 210, 233, 241, 247, 252, 256, 258, 279, 281

Hermeneutik 281, 286 Herr 84, 86, 163, 180, 185, 191, 194, 209, 229-230, 241, 264, 267 Herrschaft 5, 36, 44, 49, 50-54, 57, 60, 67-70, 72, 75, 83-84, 86, 90, 93, 114115, 116, 119, 127, 182, 184, 190191, 199, 200, 204, 216-220, 224-225, 228, 230, 232-233, 235, 237, 239-241, 247, 249, 254-257, 259, 262, 264-265, 272, 278-279, 282-288 Herstellen 31-32, 53, 66, 134-135, 141, 143, 161, 167, 169, 175, 206, 208, 211, 213-217, 244, 258 Hervorbringen 27-30, 37, 49-51, 141, 143, 145, 167, 171, 184, 197, 221, 235, 250-251, 254 Historie 250-251 Hören 37, 74 Idee 101, 112, 115, 171, 213, 215, 227, 232 Interpretation 13-14, 37, 47-49, 55, 74, 89-91, 93-96, 99, 101-103, 112, 114, 124, 129, 139, 142, 147, 149, 151, 154-155, 158, 160, 162, 169, 179, 182-183, 185, 189, 192, 202, 204, 211-213, 217-221, 223, 227-229, 233-234, 237, 243, 246-248, 255, 257, 259, 262-263, 267-269, 272, 276, 281-282, 286, 288-290 Kehre 107, 162, 278 Kritik 13-14, 16, 47-49, 99, 102, 105, 171, 202, 208, 224, 233-234, 236, 288, 290 Kunst 11, 13, 22, 29, 42-43, 49, 56, 59, 64, 79, 116-117, 119, 120-123, 128, 129, 131-132, 139-142, 146-153, 155-161, 165-168, 170-173, 175-179, 182-183, 185-193, 195, 206, 211-213, 220-222, 232, 235, 248, 255, 262-264, 270-275, 278, 290 Künstler 28, 51, 120, 127, 132, 140-142, 144, 156, 158-159, 168-169, 175, 183-185, 188, 211, 251

Kunstwerk 14, 31, 74, 120-122, 127134, 136-137, 139-141, 143-149, 151-153, 155-166, 168-186, 188-194, 211-213, 222, 233, 248, 262-263, 267, 269-275, 280-282, 290 Leben 52, 60-62, 64, 69, 72, 82, 85-86, 90, 100, 146, 174, 190, 232, 257, 265, 266 Lichtung 137-139, 142-143, 148-149, 181, 273, 276-277 Logik 45, 218, 249 Machenschaft 70, 201-202, 223, 228229, 251 Maß 37, 49, 125, 134, 137, 142-43, 148, 162-163, 165, 191-192, 194, 222, 265, 269, 276-282, 286-288 Mathematik 34, 215, 226, 230, 232 Mensch 11, 13-15, 22-25, 30, 32-43, 4655, 57, 59, 61-64, 68-74, 76, 79-81, 83, 85-87, 89-90, 92-94, 99, 112, 115, 119-120, 122-123, 125, 133-134, 136, 138, 145, 149, 151, 161-163, 167-168, 174-175, 180-181, 183-184, 187-188, 191-192, 194, 199, 200, 203-204, 208210, 216-217, 219, 222, 229-230, 232, 235, 236, 240-243, 245-247, 249, 251, 253-255, 257-260, 265, 274, 277-286, 288-289 Metaphysik 23, 56, 64, 93, 100, 103, 107, 121, 200-203, 216, 223-230, 232-238, 240, 243, 250, 262, 267, 288 Mobilmachung 70, 96, 99-101, 106110, 112, 114-115, 119, 257 Moderne 11-12, 52, 62, 86, 99, 111, 200, 202, 204-205, 222-223, 225-226, 229-236, 238, 245, 250, 255-257, 259, 262, 266, 270, 272 Möglichkeit 11-14, 32, 38-39, 42, 46, 49, 53, 69, 77-78, 97-98, 105, 107, 115, 159, 162, 165, 182, 184, 188, 190, 192, 200-202, 209, 221, 234, 239, 268, 276, 278, 282-283, 285, 289

301

Natur 11, 13, 30-32, 34-35, 39, 45, 4953, 55-58, 64, 65, 69, 79, 82-84, 93, 94, 99-101, 105, 111-112, 143, 175, 177, 180, 184, 188, 195, 199, 205, 207, 231, 241-242, 245, 251-256, 258-259, 274, 278, 284, 285 Naturwissenschaft 34-35, 58, 199-200, 203-204, 225, 227, 228, 243 Nichts 109, 149, 213, 271, 276 Nihilismus 101, 102, 108, 109, 112, 226 Offenheit 16, 35, 38, 79, 113-114, 142, 145-146, 148-149, 182, 192, 218, 246-247, 276, 283-284, 287 Ontologie 87, 112 Ontologisch 183, 246, 259 Ort 43, 47, 132-133, 136-137, 154, 183, 188, 216, 279 Perfektion 70-71, 73, 81 Pflanze 57, 58, 72, 80-86, 88, 91, 93, 97, 100, 105-106, 108, 111, 133, 148, 181, 255, 280, 282 Phänomen 13-14, 63, 67, 69, 70, 76, 81, 88-90, 92, 93, 107, 108, 112, 137, 140, 144, 168, 177, 189, 190, 198, 204, 218219, 222, 225-226, 228, 231, 242-243, 250, 252, 257, 268-269, 282, 288 Philosophie 12, 16, 22, 26, 30, 47, 56, 71, 88, 94, 112-113, 174, 175, 202, 208, 213, 223-224, 226, 235, 237, 271, 287, 288 Rätsel 152, 155, 177-178, 189, 224 Rechnen 71, 163, 215, 225, 229, 230 Rettende, das 40-42, 52, 97, 108, 190, 193, 217-220, 249, 272, 283 Schein 39, 130, 135, 138 Schenken 150-151, 263-264, 271 Schicksal 37, 38, 165 Seiendes 15, 37-39, 45-46, 56-58, 65, 68, 73, 75, 77-78, 83-84, 88, 92-104, 106-115, 121, 126-129, 131-132, 136-139, 141-146, 148-152, 156-159, 161, 165, 172, 174-180, 182- 183, 186-188, 192, 194, 198, 200- 201, 205-214, 216-218, 222-226, 228-233,

302

235, 237, 240-249, 255-259, 263-264, 266, 270, 272-273, 275-289 Sein 13, 57, 73-74, 77-78, 91, 93-96, 98, 101-105, 107-113, 115, 121, 131, 137, 145, 148, 151, 157-158, 162, 175, 177-178, 191, 194, 203-204, 209, 212, 219, 222, 224-225, 229, 232, 236, 242, 244, 246, 263-265, 272, 275, 278, 283-284, 286-287 Seinsverständnis 112, 224, 227, 288 Sinn 46, 48, 69, 86, 92, 108, 112, 133, 146, 151, 162, 164-165, 170-171, 180, 184, 192, 199, 209, 211, 219, 227, 237, 244-245, 250, 260, 265, 271, 276, 284, 286 Spielraum 13, 14, 38, 94, 149, 165, 177, 182, 198, 260, 273, 277, 285, 290 Sprache 34, 48, 98, 112, 123-124, 140, 147-149, 152, 155, 167, 176, 213, 252, 261, 273, 279 Sprung 151, 158-159, 204, 267 Stiften 16, 38, 150-151, 160, 164, 171172, 186, 191, 194, 234, 263, 271, 274, 276, 283, 285, 288, 289 Technik 7, 11-15, 19, 21-26, 28-44, 47, 49-54, 56-57, 61-63, 66-72, 75, 8284, 86-87, 89-94, 96, 99, 100, 110, 117, 119, 128, 148, 154-155, 157, 159-162, 164-166, 170, 176, 178-179, 181-182, 184-194, 197-207, 209-211, 213-214, 216-217, 219-223, 226, 228, 230-235, 237-243, 245, 247-262, 265, 275, 278-282, 285-286, 288-290 Tod 59-61, 85, 109, 123, 130, 133, 162, 170-171, 173, 191, 227, 265 Tradition 123, 150, 183, 186, 227, 246, 288 Umwelt 75, 82, 84, 93, 101, 133 Untergang 43, 69, 100, 143, 187-188, 234, 265 Unverborgenheit 29, 32, 38, 41, 43, 58, 69, 95, 97, 103, 108, 114, 143- 144, 146, 151, 158, 177-178, 191-192, 197,

209-210, 241-242, 258, 273, 277, 279, 282, 284-285, 289 Ursprung 11, 52, 69, 99, 109, 119, 120121, 124, 127-128, 130, 140, 143, 146-147, 150-153, 156-158, 160, 185, 192, 198, 200, 203-204, 217, 226, 231, 234, 236, 240, 242, 254, 256260, 262-264, 266-271, 274, 277, 279, 284-285, 288 Verbergung 95, 138-139, 169, 273 Verstehen 14, 23, 47-48, 63, 121, 134, 137-140, 156, 158, 175, 181-182, 184, 202, 234, 270, 271, 278, 288 Verstellen 36, 39, 138, 190, 219 Verweisung 73, 76, 77, 79, 244 Verweisungszusammenhang 73, 75, 77-79, 86, 244 Vollendung 27, 54, 62, 71, 99, 107-108, 135-136, 139, 145, 151, 168, 201, 225, 236-238, 240, 250, 252-255, 260, 266 Vorhanden 181, 232, 248, 280, 282 Vorstellung 15, 23, 24, 107, 125, 136, 141, 168, 214, 224-226, 230, 258, 261 Wachstum 52, 68, 72, 80-81, 83-85, 87, 97, 100, 105, 106, 190, 219, 220 Wahrheit 13-14, 28-30, 35, 37, 39-42, 54, 56, 58, 65, 91, 95-97, 103-104, 106-107, 109-111, 113, 115-116, 119, 126, 129-133, 136-139, 142-143, 145-146, 148-150, 152-153, 155-158, 160, 163, 165, 171-172, 176-179, 181-183, 185, 187-188, 190, 192, 194, 197, 201, 209-213, 217, 219-225, 234-237, 242, 247, 262-263, 270-273, 276, 278, 284-285, 288-290 Weg 13, 24-25, 28, 36, 38-39, 41, 43-44, 47-48, 62, 92, 95, 121, 129, 131, 148, 153-154, 162-163, 168, 190, 218, 235, 245, 252, 263-264, 279, 286-288 Welt 21, 27, 33, 39, 51, 75, 78-79, 107, 109, 111-112, 114-115, 130, 133-139, 142, 146, 149, 151-153, 161-164, 170171, 173-176, 180-183, 185-186, 188-

189, 191-194, 197, 202, 204, 208, 214, 218, 229, 232, 235, 238, 240, 242, 244247, 255, 263, 265-266, 269-285 Wesen 12-14, 19, 22-26, 28-45, 49, 5157, 60, 63-68, 72, 82-84, 86-97, 99104, 106-111, 113-115, 119-122, 127128, 131-132, 134, 138, 139-140, 142, 147, 149-151, 153-154, 156-162, 164166, 171, 173, 175, 177-180, 182-183, 186-187, 189-190, 192-194, 197, 199201, 203-212, 214-217, 219-223, 226231, 234-237, 240, 242-243, 245-252, 255-264, 273-279, 281-282, 284-290 Wiederkehr 102, 104-106, 108-109, 113 Wirklichkeit 27, 33, 35-36, 38-40, 42, 54, 78, 85, 139-140, 147, 150, 152, 161, 171, 176, 185, 193, 215, 283-285 Wissenschaft 21-22, 34-35, 45, 71, 112, 142, 168, 225-226, 228, 237-238, 249-250, 257, 265, 287 Wort 15, 28, 34, 37, 41, 50, 68, 92, 98, 148-149, 153, 161, 164, 177, 178, 190, 206, 213, 218, 228, 261, 274275, 279-280 Zeigen 63, 67, 77-78, 97, 136, 142, 161, 165, 192, 236, 244, 256, 272, 276277, 286 Zeit 22, 52, 91-92, 95-96, 99, 101, 110115, 143, 150, 164, 183, 185, 187, 194, 200, 202-204, 206, 208, 230, 234, 236, 250, 254, 266, 268-270, 272, 274, 276, 289 Zeug 24, 72-86, 89-90, 127-133, 139145, 147, 152, 154, 157, 160, 166167, 169-170, 172-175, 177, 179, 183-186, 189, 197, 212-213, 215, 221, 230, 233, 243, 245, 247-248, 252, 259, 290 Zuhandenes 73, 244, 246 Zukunft 11, 13, 61-62, 102, 113-114, 201, 239, 250, 266, 271 Zweck 24-27, 71, 82, 85, 96, 100, 108, 198, 206, 244

303

Verzeichnis griechischer Begriffe



DMOKYTHLD 28-30, 58, 65, 95, 103, 113,

SRLYKVL 28-29, 39, 51, 103-104, 164,

131, 137, 171, 177, 197, 201, 211, 223 DMUFKY 57-62, 68, 72, 80, 82-84, 86, 97, 206-207, 236, 250, 264 HL?GR 26, 198, 201, 206-207, 211-217, 222, 224, 227, 235, 255, 258 IXYVHLR?QWD 58, 61, 64, 73, 82-84, 86, 89, 114 IXYVL 28, 49, 51, 55-69, 72, 79-84, 8689, 91-100, 103-108-109, 111, 113115, 133-135, 139, 143, 177, 184, 189, 197, 206, 251-254, 266, 285

304

197, 208, 221-222, 229, 251-252, 255

THYVL 164-165 WHYFQK 12, 29, 30-31, 42, 49-52, 55, 56,

59-68, 94, 128, 141, 166, 187, 197, 198, 201-203, 205-218, 221-223, 227-230, 232-235, 237, 243, 251-256, 258-260 WHYOR 27, 66, 83, 101, 198, 206, 214, 236, 250, 252-254, 264