Kants Geschmackstheorie in weltbürgerlicher Absicht 9783495999974, 9783495492468


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Zitierweise und Abkürzungen
Einleitung
1. Problem der unterschiedlichen Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils
2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil
2.1. Bedeutung des Übergangs von der Natur zur Freiheit
2.2. Die für den Übergang erforderliche Erweiterung des reinen Geschmacksurteils
3. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung und der Kantische Weltbegriff
3.1. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung
3.2. Weltbegriff bei Kant und seine Geschmackstheorie
I. Kants Theorie des Geschmacksurteils und die darin angedeutete Erweiterung des reinen Geschmacksurteils
1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils
1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen als Darstellungsorte der Theorie des reinen Geschmacksurteils
1.1.1. Reichweite der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile
1.1.2. Charakteristika des Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen
1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Bewusstsein seiner Selbsttätigkeit
1.2.1. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Lebensgefühl
1.2.2. Belebung des Gemüts durch innere Kausalität
a. Das Lebensgefühl als ein subjektbezogenes Gefühl
b. Beförderung des Lebens durch Selbsttätigkeit
1.2.3. Mehr als ein Wohlgefallen – Bewusstsein der Allgemeingültigkeit im Gefühl der Lust
1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils
1.3.1. Aufgabe der Deduktion
1.3.2. Argument der Deduktion und Fehler der Äquivokation
1.3.3. Vernachlässigung der ursprünglich gestellten Aufgabe der Deduktion
1.3.4. Unausführbarkeit der von Kant selbst gestellten Aufgabe der Deduktion
1.4. Allisons Interpretation von Kants Deduktion und das Problem von quid facti
1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil
1.5.1. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil
1.5.2. Allgemeine Verfügbarkeit der Bedingung für das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil
2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil und dessen Erweiterung
2.1. Art und Struktur der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil
2.1.1. Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen
2.1.2. Subjektive und formale Zweckmäßigkeit
2.1.3. Struktur der zufälligen Übereinstimmung der Natur mit einem Bedürfnis unseres Erkenntnisvermögens
a. Gefühl der Lust aufgrund der zufälligen Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen bei den besonderen Naturgesetzen
b. Zufälligkeit der Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen beim Geschmacksurteil und dessen Möglichkeit, mit einem Bedürfnis verbunden zu werden
2.2. Zwei Blickrichtungen auf Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils
2.2.1. Tendenz der ersten Blickrichtung: Möglichst vom Objekt abstrahieren!
2.2.2. Tendenz der zweiten Blickrichtung: Auf das Verhältnis des (Natur-) Objekts außer uns zum menschlichen Subjekt achten!
2.2.3. Interpretation zu den zwei Blickrichtungen
3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils außerhalb der Theorie des reinen Geschmacksurteils
3.1. Eine mögliche Interpretation und Einwand dagegen
3.2. Perspektivenwechsel vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse
3.3. Ausdehnung der Urteilsart und ein anderer Allgemeingültigkeitsanspruch
3.4. Erweiterung sowie Ausdehnung in Hinsicht auf das Subjekt
II. Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils
1. Frage der Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils und Defizit der bisherigen Forschungen
2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung
2.1. Recki
2.2. Ginsborg und Allison
2.3. Rind
2.3.1. Rinds Behauptungen
2.3.2. Probleme in Rinds Argumentation
a. Unnötige sowie irreführende Interpretationen hinsichtlich »ansinnen« und »zumuten«
b. Vernachlässigung der moralischen Implikationen des Anspruches eines Geschmacksurteils
3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen
3.1. (Un-)Berechenbarkeit aufgrund von Abweichungs(-un-)möglichkeit
3.1.1. Der Werden-Sollen-Gegensatz in Kants Moralphilosophie
3.1.2. Werden bei theoretisch-objektiver Notwendigkeit: Müssen-Notwendigkeit als eine auf notwendige Bedingungen gründende Berechenbarkeit
3.2. Zurechnungsfähigkeit
3.2.1. Anonymität des transzendentalen Subjekts, Persönlichkeit sowie Zurechnungsfähigkeit des praktischen Subjekts
3.2.2. Verortung des ästhetischen Subjekts
4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne zum Erhellen des ästhetischen Sollens
4.1. Zusatz-Tätigkeit und Gemeinsinn in zweifachem Sinne
4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn
4.2.1. Konstitutiver Gemeinsinn
4.2.2. Regulativer Gemeinsinn
4.2.3. Künstlicher Gemeinsinn
4.2.4. Natürlicher Gemeinsinn im zweifachen Sinne
a. Konkretes Verfahren der Erkenntniskräfte
b. Angeborenes Vermögen
4.2.5. Zu erwerbender Gemeinsinn
a. Kein angeborenes, sondern ein kultiviertes Vermögen für die komplexe Reflexion
b. Zu erwerbendes Vermögen in Bezugnahme auf die höheren Zwecke
5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts
5.1. Zwei Begriffe des Werts
5.2. Von Maximen abhängiger Wert des Subjekts eines Geschmacksurteils
6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten?
6.1. Werden als unausweichliche Funktionsweise eines an eine einzige Welt gebundenen Subjekts
6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis durch Transzendierung der eigenen Natur des Subjekts und das ästhetische Sollen
7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils
III. Erweiterung des reinen Geschmacksurteils und das Bedürfnis der praktischen Vernunft
1. Intellektuelles Interesse am Schönen und das Bedürfnis der praktischen Vernunft
1.1. Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können
1.2. Bedürfnis nach der objektiven Realität von Ideen
2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie
2.1. Das höchste Gut als Pflicht
2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts
2.2.1. Notwendigkeit des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft
2.2.2. Transzendente Vernunftidee des höchsten Guts
a. Vollkommene Sittlichkeit mit der ihr entsprechenden vollkommenen Glückseligkeit
b. Kollektive Ebene des höchsten Guts
2.2.3. Fehlende Realisierbarkeit der transzendenten Vernunftidee des höchsten Guts als solche
a. Problem hinsichtlich der Glückseligkeit
b. Problem hinsichtlich der Sittlichkeit des menschlichen Kollektivs
2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts
2.3.1. Immanenz des höchsten Guts für die Ausführbarkeit der Pflicht
2.3.2. Transzendenz des höchsten Guts und Bedürfnis der praktischen Vernunft
a. Transzendenz des höchsten Guts
b. Dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft liegt der Transzendenz-Begriff zugrunde.
3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht
3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss
3.1.1. Ein theoretisch zu lösendes Problem
3.1.2. Folgenschwere Auswirkungen der theoretischen Unstimmigkeit bei der Willensbestimmung
3.1.3. Möglichkeit verschiedener Maßnahmen
3.2. Erweiterung des theoretischen Erkenntnisvermögens um des höchsten Guts willen in der zweiten und dritten Kritik
IV. Befugnis zur Erweiterung des Geschmacksurteils
1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils
1.1. Verwandte Beziehung zwischen Bedürfnis und Interesse
1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants
1.2.1. Unumgänglichkeit des Bedürfnisses der theoretischen Vernunft
1.2.2. Freiwilligkeit des Interesses der theoretischen Vernunft
1.2.3. Vergleich zwischen dem Bedürfnis der spekulativen Vernunft und dem der praktischen Vernunft hinsichtlich des Status
1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants
1.3.1. Interesse in Kants Handlungstheorie
1.3.2. Das nicht wählbare Bedürfnis, das frei wählbare Interesse
1.4. Der Fall der Erweiterung des Geschmacksurteils
2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse am Naturschönen
2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff
2.1.1. Zweckbegriff bei der Philosophie nach dem Weltbegriff
2.1.2. Praktische Aufgabe des Philosophen nach dem Weltbegriff
2.1.3. Existenzielle Fragen des Menschen durch die Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung
a. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Welt«
b. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Weltbürger«
2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen in § 42 der Kritik der Urteilskraft
2.2.1. Orientierung an der Idee des höchsten Guts
2.2.2. Geläutertes und gründliches Denkverhalten zur Willensbestimmung
2.2.3. Wert nach der »Wahl« des Erlebnisses der Naturschönheit
V. Weltbürgerliche Absicht beim Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils
1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse
1.1. Sollens-Anspruch als eine Handlung aus dem intellektuellen Interesse
1.2. Der hinsichtlich der objektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch
1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch
1.3.1. Das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls
1.3.2. Einhelligkeit der Sinnesart und ihr äußerliches Verhältnis zur Sittlichkeit
a. Empirischer Charakter, intelligibler Charakter
b. Beitrag der Einhelligkeit der Menschen hinsichtlich der äußerlichen Tugend zu der dem höchsten Gut förderlichen Gesellschaft
Exkurs: Die konstitutive und unmittelbare Förderung des höchsten Guts durch die Kultivierung der Sinnesart
1.3.3. Die exemplarische Notwendigkeit und der ästhetische Sollens-Anspruch
a. Praktische Notwendigkeit mit hypothetischem Charakter
b. Exemplarische Struktur im Hypothetischen
1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht
1.4.1. Streit über den Geschmack als Sollens-Anspruch in weltbürgerlicher Absicht
1.4.2. Unbestimmtheit des Vernunftbegriffs und Übergang von der Natur zur Freiheit
1.4.3. Das als bestimmbar interpretierte Übersinnliche und das ästhetische Sollen
1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes in weltbürgerlicher Absicht
2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit
2.1. Das weltbürgerliche Interesse in Kants Darlegung der Symbol-Theorie
2.1.1. Interesse an der objektiven Realität eines Vernunftbegriffs in praktischer Absicht
2.1.2. Struktur des Fortschreitens vom Besonderen zum Allgemeinen
2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?
2.2.1. Der Fall eines Symbols der Sittlichkeit
2.2.2. Der Fall vom Symbol des Sittlich-Guten und das Symbolisieren desselben durch das Schöne
2.2.3. Über den Begriff des Schönen in der These »das Schöne ist das Symbol des Sittlich=guten« und dessen weltbürgerliche Bedeutung
2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These und Wert des weltbürgerlichen Subjekts
2.3.1. Berechtigung des Sollens-Anspruchs aufgrund des symbolischen Verhältnisses und Notwendigkeit des erweiterten Reflexionsgangs
2.3.2. Wert der Maxime in weltbürgerlicher Hinsicht
3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks
Literaturverzeichnis
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Kants Geschmackstheorie in weltbürgerlicher Absicht
 9783495999974, 9783495492468

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Praktische Philosophie

99

Hye-Jin Lee

Kants Geschmackstheorie in weltbürgerlicher Absicht

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Praktische Philosophie Herausgegeben von Christoph Horn Axel Hutter Karl-Heinz Nusser Bert Heinrichs Band 99

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Hye-Jin Lee

Kants Geschmackstheorie in weltbürgerlicher Absicht

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Diss, Universität Tübingen, 2019 ISBN 978-3-495-49246-8 (Print) ISBN 978-3-495-99997-4 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

In memoriam Prof. Dr. Chang-Huan Lee (1953–2021)

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2019 an der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation eingereicht. Der Druck des sprachlich verbesserten Textes wurde von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften großzügig gefördert. Außerdem wurde sie durch das Promotionsstipendium nach dem Graduiertenförderungsgesetz finanziell unterstützt. Für die wohlwollende Drittbegutachtung dieser Arbeit möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Andreas Kablitz aus Köln bedanken. Für die Zweitbegutachtung sowie in seiner Rolle des Zweitbetreuers möchte ich Prof. Dr. Ulrich Schlösser meinen besonderen Dank aussprechen. Er hat meine Arbeit mit Geduld und Scharfsinnigkeit sowie wertvoller Kritik unterstützt. Den größten Dank schulde ich, über die Betreuung dieses Pro­ jekts hinaus, meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe. Ohne seine warmherzige Unterstützung hätte ich nicht den Mut gefunden, den ich in der Endphase meiner Arbeit wirklich benötigt hatte, als ich mich in Seoul befand, wo ich aufgrund ver­ schiedener familiärer Verpflichtungen immer wieder gebremst wurde, meine Arbeit zum Abschluss zu bringen. Mit seiner Ermutigung und seinen Anregungen konnte ich mich in dieser schwierigen Situation schließlich durchsetzen. Nicht nur in jener harten Zeit, sondern auch im übrigen Zeit­ raum meiner langjährigen Arbeit, haben meine musikliebhabenden Freunde in Deutschland und Südkorea meinen Alltag begleitet. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, meinen lieben Freunden für den Austausch der Gedanken und Gefühle über die Musik und deren Erleben sowie über das Leben im Allgemeinen zu danken. Ich glaube, dass dieser Austausch über den Alltag hinaus meine wissenschaftliche Arbeiten inspiriert hat. Des Weiteren möchte ich meinen Lehrern aus meiner Studienzeit an der Seoul National University meinen Dank erweisen. Sie haben mich die Faszination für die Philosophie gelehrt. Es sind namentlich Prof. Dr. Chong-Hyon Paek und Prof. Dr. Chang-Huan Lee. Diese

7 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Danksagung

Arbeit ist Prof. Lee gewidmet, der letztes Jahr verschied. Nach diesem schmerzlichen Abschied wurde mir mehr denn je bewusst, wie sehr mich seine Lehre geprägt und beeinflusst hat. Ganz besonders danke ich meinen Eltern und meiner Schwester Sujin für ihre Liebe und ihre unaufhörliche Unterstützung, die sie mir in jeder möglichen Art und Weise erweisen. Zuletzt danke ich meinem Mann und meinen beiden Kindern dafür, dass sie mich am Tag des Promotionskolloquiums in Frieden gelassen haben, so dass ich in der Lage war, mich ganz auf die Prüfung zu konzentrieren.

8 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Inhaltsverzeichnis

Zitierweise und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . .

19

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Problem der unterschiedlichen Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils

.

23

2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . .

29

2.1. Bedeutung des Übergangs von der Natur zur Freiheit . .

29

2.2. Die für den Übergang erforderliche Erweiterung des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung und der Kantische Weltbegriff

37

3.1. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

3.2. Weltbegriff bei Kant und seine Geschmackstheorie . . .

38

I.

Kants Theorie des Geschmacksurteils und die darin angedeutete Erweiterung des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils . . . .

43

1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen als Darstellungsorte der Theorie des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Reichweite der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 44

9 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Inhaltsverzeichnis

1.1.2. Charakteristika des Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Bewusstsein seiner Selbsttätigkeit . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Lebensgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Belebung des Gemüts durch innere Kausalität . . a. Das Lebensgefühl als ein subjektbezogenes Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Beförderung des Lebens durch Selbsttätigkeit . . 1.2.3. Mehr als ein Wohlgefallen – Bewusstsein der Allgemeingültigkeit im Gefühl der Lust . . . . . . 1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . 1.3.1. Aufgabe der Deduktion . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Argument der Deduktion und Fehler der Äquivokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Vernachlässigung der ursprünglich gestellten Aufgabe der Deduktion . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. Unausführbarkeit der von Kant selbst gestellten Aufgabe der Deduktion . . . . . . . . . . . . .

45 51 51 54 54 56 58

. .

63 64

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67

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69

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71

1.4. Allisons Interpretation von Kants Deduktion und das Problem von quid facti . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2. Allgemeine Verfügbarkeit der Bedingung für das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil . . . . . . .

81

2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil und dessen Erweiterung . . . . .

85

2.1. Art und Struktur der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Subjektive und formale Zweckmäßigkeit . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

78 78

86 86 87

Inhaltsverzeichnis

2.1.3. Struktur der zufälligen Übereinstimmung der Natur mit einem Bedürfnis unseres Erkenntnisvermögens a. Gefühl der Lust aufgrund der zufälligen Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen bei den besonderen Naturgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zufälligkeit der Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen beim Geschmacksurteil und dessen Möglichkeit, mit einem Bedürfnis verbunden zu werden . . . . . 2.2. Zwei Blickrichtungen auf Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . . . 2.2.1. Tendenz der ersten Blickrichtung: Möglichst vom Objekt abstrahieren! . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Tendenz der zweiten Blickrichtung: Auf das Verhältnis des (Natur-) Objekts außer uns zum menschlichen Subjekt achten! . . . . . . . . . . 2.2.3. Interpretation zu den zwei Blickrichtungen . . .

88

89

91

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97

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97

. .

100 103

3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils außerhalb der Theorie des reinen Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . .

107

3.1. Eine mögliche Interpretation und Einwand dagegen . . .

108

3.2. Perspektivenwechsel vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse . . . . . . . .

109

3.3. Ausdehnung der Urteilsart und ein anderer Allgemeingültigkeitsanspruch . . . . . . . . . . . . . .

115

3.4. Erweiterung sowie Ausdehnung in Hinsicht auf das Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118

11 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Inhaltsverzeichnis

II. Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils . . . . . .

121

1. Frage der Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils und Defizit der bisherigen Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung . . . . . . . . . . . . .

127

2.1. Recki

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

2.2. Ginsborg und Allison . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

2.3. Rind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Rinds Behauptungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Probleme in Rinds Argumentation . . . . . . . . a. Unnötige sowie irreführende Interpretationen hinsichtlich »ansinnen« und »zumuten« . . . . b. Vernachlässigung der moralischen Implikationen des Anspruches eines Geschmacksurteils . . . .

132 132 133

3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. (Un-)Berechenbarkeit aufgrund von Abweichungs(un-)möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Der Werden-Sollen-Gegensatz in Kants Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Werden bei theoretisch-objektiver Notwendigkeit: Müssen-Notwendigkeit als eine auf notwendige Bedingungen gründende Berechenbarkeit . . . . .

133 137 143 143 143 146

3.2. Zurechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Anonymität des transzendentalen Subjekts, Persönlichkeit sowie Zurechnungsfähigkeit des praktischen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Verortung des ästhetischen Subjekts . . . . . . .

149 151

4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne zum Erhellen des ästhetischen Sollens . . . . . . .

155

4.1. Zusatz-Tätigkeit und Gemeinsinn in zweifachem Sinne

155

12 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

149

Inhaltsverzeichnis

4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn . 4.2.1. Konstitutiver Gemeinsinn . . . . . . . . . . . 4.2.2. Regulativer Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Künstlicher Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . 4.2.4. Natürlicher Gemeinsinn im zweifachen Sinne . a. Konkretes Verfahren der Erkenntniskräfte . . b. Angeborenes Vermögen . . . . . . . . . . . 4.2.5. Zu erwerbender Gemeinsinn . . . . . . . . . . a. Kein angeborenes, sondern ein kultiviertes Vermögen für die komplexe Reflexion . . . . b. Zu erwerbendes Vermögen in Bezugnahme auf die höheren Zwecke . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

158 159 160 163 164 164 165 166

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167

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168

5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts . . . . . . . . . . .

173

5.1. Zwei Begriffe des Werts . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

5.2. Von Maximen abhängiger Wert des Subjekts eines Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

6.1. Werden als unausweichliche Funktionsweise eines an eine einzige Welt gebundenen Subjekts . . . . . . . . . . .

181

6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis durch Transzendierung der eigenen Natur des Subjekts und das ästhetische Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . .

189

III. Erweiterung des reinen Geschmacksurteils und das Bedürfnis der praktischen Vernunft . . . . . . . . .

193

1. Intellektuelles Interesse am Schönen und das Bedürfnis der praktischen Vernunft . . . . . . . . .

195

1.1. Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

13 https://doi.org/10.5771/9783495999974 .

Inhaltsverzeichnis

1.2. Bedürfnis nach der objektiven Realität von Ideen . . . .

197

2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie . . . .

201

2.1. Das höchste Gut als Pflicht . . . . . . . . . . . . . . .

201

2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts . . . . . 2.2.1. Notwendigkeit des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Transzendente Vernunftidee des höchsten Guts . a. Vollkommene Sittlichkeit mit der ihr entsprechenden vollkommenen Glückseligkeit b. Kollektive Ebene des höchsten Guts . . . . . . 2.2.3. Fehlende Realisierbarkeit der transzendenten Vernunftidee des höchsten Guts als solche . . . a. Problem hinsichtlich der Glückseligkeit . . . . b. Problem hinsichtlich der Sittlichkeit des menschlichen Kollektivs . . . . . . . . . . .

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202

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202 204

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204 206

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208

2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Immanenz des höchsten Guts für die Ausführbarkeit der Pflicht . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Transzendenz des höchsten Guts und Bedürfnis der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . a. Transzendenz des höchsten Guts . . . . . . . . b. Dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft liegt der Transzendenz-Begriff zugrunde. . . . .

3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Ein theoretisch zu lösendes Problem . . . . . . 3.1.2. Folgenschwere Auswirkungen der theoretischen Unstimmigkeit bei der Willensbestimmung . . . 3.1.3. Möglichkeit verschiedener Maßnahmen . . . .

209 209 210 210 213 217

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217 217

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218 221

3.2. Erweiterung des theoretischen Erkenntnisvermögens um des höchsten Guts willen in der zweiten und dritten Kritik

224

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Inhaltsverzeichnis

IV. Befugnis zur Erweiterung des Geschmacksurteils

229

1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

1.1. Verwandte Beziehung zwischen Bedürfnis und Interesse

232

1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Unumgänglichkeit des Bedürfnisses der theoretischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Freiwilligkeit des Interesses der theoretischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Vergleich zwischen dem Bedürfnis der spekulativen Vernunft und dem der praktischen Vernunft hinsichtlich des Status . . . . . . . . . . . . . .

234 234 237 239

1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Interesse in Kants Handlungstheorie . . . . . . . 1.3.2. Das nicht wählbare Bedürfnis, das frei wählbare Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

1.4. Der Fall der Erweiterung des Geschmacksurteils . . . . .

247

2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse am Naturschönen . . . . .

249

2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff . . . . . . . 2.1.1. Zweckbegriff bei der Philosophie nach dem Weltbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Praktische Aufgabe des Philosophen nach dem Weltbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Existenzielle Fragen des Menschen durch die Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung . . a. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Welt« b. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Weltbürger« . . . . . . . . . . . . . . . .

241 242

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249

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249

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252

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255 256

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257

2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen in § 42 der Kritik der Urteilskraft . . . 2.2.1. Orientierung an der Idee des höchsten Guts . . .

260 261

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2. Geläutertes und gründliches Denkverhalten zur Willensbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Wert nach der »Wahl« des Erlebnisses der Naturschönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264

V. Weltbürgerliche Absicht beim Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

269

1.1. Sollens-Anspruch als eine Handlung aus dem intellektuellen Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

1.2. Der hinsichtlich der objektiven Seite behauptete SollensAnspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete SollensAnspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Einhelligkeit der Sinnesart und ihr äußerliches Verhältnis zur Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . a. Empirischer Charakter, intelligibler Charakter . b. Beitrag der Einhelligkeit der Menschen hinsichtlich der äußerlichen Tugend zu der dem höchsten Gut förderlichen Gesellschaft . . . . . Exkurs: Die konstitutive und unmittelbare Förderung des höchsten Guts durch die Kultivierung der Sinnesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Die exemplarische Notwendigkeit und der ästhetische Sollens-Anspruch . . . . . . . . . . . a. Praktische Notwendigkeit mit hypothetischem Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Exemplarische Struktur im Hypothetischen . . . 1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Streit über den Geschmack als Sollens-Anspruch in weltbürgerlicher Absicht . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Unbestimmtheit des Vernunftbegriffs und Übergang von der Natur zur Freiheit . . . . . . .

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261

272 272 276 276 278 282 285 285 290 293 294 296

Inhaltsverzeichnis

1.4.3. Das als bestimmbar interpretierte Übersinnliche und das ästhetische Sollen . . . . . . . . . . . .

301

1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes in weltbürgerlicher Absicht . . . .

303

2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

2.1. Das weltbürgerliche Interesse in Kants Darlegung der Symbol-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Interesse an der objektiven Realität eines Vernunftbegriffs in praktischer Absicht . . . . . . 2.1.2. Struktur des Fortschreitens vom Besonderen zum Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten? . . . . 2.2.1. Der Fall eines Symbols der Sittlichkeit . . . . . 2.2.2. Der Fall vom Symbol des Sittlich-Guten und das Symbolisieren desselben durch das Schöne . . . 2.2.3. Über den Begriff des Schönen in der These »das Schöne ist das Symbol des Sittlich=guten« und dessen weltbürgerliche Bedeutung . . . . . . .

309 310 310

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312 312

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314

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318

2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These und Wert des weltbürgerlichen Subjekts . . . . . . . . . . . 2.3.1. Berechtigung des Sollens-Anspruchs aufgrund des symbolischen Verhältnisses und Notwendigkeit des erweiterten Reflexionsgangs . . . . . . . . . . . 2.3.2. Wert der Maxime in weltbürgerlicher Hinsicht . .

326 330

3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zitierweise und Abkürzungen

Kants Schriften werden nach der Elektronischen Edition der Gesam­ melten Werke Immanuel Kants (https://korpora.zim.uni-duisburgessen.de/kant/) zitiert, in der Kants Texte aus den Bänden 1–23 der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902 ff.), der »Akademie-Ausgabe«, seitenweise – der jeweiligen Druckseite der Akademie-Ausgabe entsprechend – bereitgestellt sind. Der Stellen­ beleg kommt unmittelbar nach dem zitierten Text, und zwar in Klam­ mern gesetzt, wobei die erste Zahl sich auf den Band der AkademieAusgabe bezieht und die anschließend durch Doppelpunkt abgesetzte Zahl sich auf die Seitenzahl bezieht (z. B. 5: 254 = Band 5, S. 254). Zwei Schriften werden ausnahmsweise nicht nach der Akade­ mie-Ausgabe zitiert: Kritik der reinen Vernunft und Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz). Im Falle der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben und nach der von J. Timmermann herausgegebenen Ausgabe (Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998) zitiert. Im Falle der Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz), die im Band 28 der Aka­ demie-Ausgabe gedruckt und deshalb in der Elektronischen Edition der Gesammelten Werke Immanuel Kants nicht verfügbar sind, wird der Text nach der Ausgabe aus Erfurt 1821 (in der Keyserschen Buchhandlung) zitiert. Nur in diesen zwei Fällen werden die Titel der Schriften Kants in den Stellenbelegen durch Abkürzungen (KrV und VM) angeführt, ansonsten werden keine Abkürzungen, sondern die Originaltitel der Kantischen Schriften in fetter und kursiver Form verwendet. Auf sonstige Literatur wird durch Verfassername, Erscheinungs­ jahr und Seitenzahl Bezug genommen.

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Einleitung

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1. Problem der unterschiedlichen Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils

Das Geschmacksurteil ist ein subjektives Urteil, das eine Vorstellung nicht »auf das Object zum Erkenntnisse«, sondern »auf das Subject und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben« bezieht (5: 203). In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft thematisiert Kant den Anspruch sowohl auf Allgemeingültigkeit als auch auf die Notwendigkeit, den das Geschmacksurteil trotz seiner Subjektivität erhebt, und versucht, ihn zu rechtfertigen. Der offizielle Ort für die Rechtfertigung des Anspruchs ist die Deduktion der reinen ästhetischen Urtheile [ab jetzt: Deduktion], die sich in der Analytik der ästhetischen Urtheilskraft [ab jetzt: Analytik] befindet und in dem § 38 kulminiert. Kant behauptet in der Deduktion, dass das Prinzip des Geschmacksurteils eine spezi­ elle Zusammenarbeit der Einbildungskraft und des Verstandes ist, die Kant als »freies Spiel« jener Erkenntniskräfte bezeichnet, und dieses Prinzip als »formale Bedingung der Urtheilskraft« erklärt, die bei jedem Gebrauch der Urteilskraft »zum möglichen Erkenntnisse über­ haupt erforderlich« ist (5: 290). In dieser Hinsicht wird das Geschmacksurteil zum Anspruch auf Allgemeingültigkeit sowie auf Notwendigkeit berechtigt, da es auf die »allgemein bei jedem voraus­ setzen[de]« Bedingung der menschlichen Erkenntnis gründet (ibid.). Kant sagt indessen in der Dialektik der ästhetischen Urtheilskraft [ab jetzt: Dialektik], das Geschmacksurteil gründe auf einem Ver­ nunftbegriff vom Übersinnlichen und ohne Rücksicht auf ihn »wäre der Anspruch des Geschmacksurteils auf allgemeine Gültigkeit nicht zu retten« (5: 340). Noch dazu behauptet Kant in dem berühmten § 59: »das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten; und auch nur in dieser Rücksicht [...] gefällt es mit einem Anspruche auf jedes anderen Beistimmung« (5: 353). Hier fällt die Inkonsistenz zwischen der Analytik und der Dia­ lektik hinsichtlich des Rechtfertigungsversuchs für den Anspruch

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1. Unterschiedliche Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch

des Geschmacksurteils auf. Denn die in der Dialektik behauptete Bezüglichkeit auf das Übersinnliche sowie auf die Moralität liegt offensichtlich weit entfernt von dem speziellen Begriff vom freien Spiel aus der Analytik sowie deren erkenntnistheoretischen Erklärun­ gen. Man muss einräumen, dass sich die beiden Thesen nur schwer vergleichen lassen, wenn man daran denkt, dass die Ebenen, auf denen die jeweiligen Theorien entwickelt werden, von vornherein unter­ schiedlich sind: Die Ebene der Deduktion (sowie des größten Teils der Analytik) ist insofern sinnlich, als dort von der subjektiven Bedingung der Erkenntnis als Ergebnis der Kooperation der Sinnlichkeit und der Verstandesleistung die Rede ist, während die Dialektik ständig auf der übersinnlichen Ebene verweilt. Außerdem gibt die in der Dialektik verfochtene Position den Eindruck, dass sie die Autonomie des Geschmacks beschädigt, die in der Analytik wiederum durch das strenge Trennen des Ästhetischen vom Moralischen sorgfältig gepflegt wurde. Viele Interpreten Kants waren sich dieser Inkonsistenz in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft bewusst und haben lange darüber diskutiert, wie man das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Thesen innerhalb des einen Werks verstehen solle. Die meisten Interpreten lassen sich je nach Schwerpunkt – obzwar verschieden im Detail – in zwei Gruppen teilen, die nachfolgend jeweils A- und B-Interpreten genannt werden. A-Interpreten: Wer sich für die erkenntnistheoretische Analyse des Geschmacksurteils Kants interessiert, nimmt die Analytik zum hauptsächlichen Gegenstand eigener Untersuchungen und behauptet, dass die Theorien vom Übersinnlichen oder »[v]on der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« (Überschrift des § 59) für die Rechtfertigung der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils unnötig seien und solche metaphysisch klingenden Theorien der Dialektik nichts mehr als Kants starrsinniges Festhalten an der Architektonik seiner Kritiken zeigten und deswegen nicht von großer Bedeutung seien (Guyer, 1979, 310–343; MacMillan 1985, 45 f.; Wenzel 2000, 129–139; All­ ison 2001, 266 f.). B-Interpreten: Wer auf die Rolle der Kritik der Urteilskraft im System von Kants kritischer Philosophie achtet und in diesem Sinne Kants Geschmackstheorie interpretieren will, betont, dass der »Sollens«-Charakter, der dem Anspruch des Geschmacksurteils zuge­ sprochen wird, durch die erkenntnistheoretischen Erklärungen der Analytik nicht erklärt werden kann. Denn der Sollens-Anspruch sei

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1. Unterschiedliche Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch

eine praktische Forderung auf Zustimmung zu einem Geschmacksur­ teil, d. h. auf einen Akt, wie aus Kants Formulierungen entnommen werden kann: »In allen Urtheilen, wodurch wir etwas für schön erklären, verstatten wir keinem anderer Meinung zu sein; [...] er [sc. ein Urteilender des Geschmacksurteils] will zu Urtheilen berechtigen, die ein Sollen enthalten: er sagt nicht, daß jedermann mit unserm Urtheile über­ einstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle« (5: 239 Hervorhebung im Original; vgl. 5: 213).

In dieser Hinsicht wird die Ansicht vertreten, dass die richtige Rechtfertigung dieses Zustimmungsanspruchs erst in der Dialektik stattfinde (Elliott 1968, 244‒259; Crawford 1974, 143; Brandt 1989, 179‒195; Arnold 2003, 40; Zuckert 2008). Von diesen zwei Rechtfertigungsversuchen heben die meisten Interpreten nur einen hervor und betrachten den anderen als unwich­ tig, unzureichend sowie unnötig. Unter diesen Umständen soll im Hauptteil der vorliegenden Arbeit folgende These entwickelt werden, die das Verhältnis zwischen den zwei Interpretationsproblemen zeigt: Beide Rechtfertigungsversuche tragen zum Projekt Kants bei, anhand eines Geschmacksurteils den Übergang von der Natur zur Freiheit zu zeigen, wodurch Kants philosophisches System vervollständigt wird. Es wird also die Ansicht vertreten, dass der Übergang nicht möglich wäre, wenn ein Geschmacksurteil sich nicht zugleich auf beide unterschiedliche Ebenen bezöge, auf denen sich die zwei Recht­ fertigungsversuche jeweils befinden. Dabei nähert sich die hier vertretene Ansicht viel stärker den B-Interpreten an als den A-Interpreten. Denn A-Interpreten neigen dazu, die Dialektik zu vernachlässigen und befassen sich fast ausschließlich mit der Analytik, wohingegen B-Interpreten die Bedeutung der Analytik anerkennen, obwohl sie die Ausführungen der Analytik für unzureichend empfinden. Außerdem wird in der vorliegenden Untersuchung mit den B-Interpreten davon ausgegan­ gen, dass der starke Sollens-Charakter des Zustimmungsanspruchs des Geschmacksurteils sich niemals in der offiziellen »Deduktion« erschöpft, sondern erst in der Dialektik richtig behandelt wird. Und auch davon, dass der Sollens-Charakter eine genaue Untersuchung verdient, da erst mit dem Sollens-Anspruch jener Übergang vollzogen wird. Jedoch wird als ergänzungsbedürftig befunden, was B-Interpre­ ten bisher geleistet haben.

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1. Unterschiedliche Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch

Bei all der Unterschiedlichkeit der interpretatorischen Ansichten über die Kritik der ästhetischen Urteilskraft scheint es zumindest einen Konsens zu geben: Die dem Geschmacksurteil eigene Tätigkeit zwischen dem Verstand und der Einbildungskraft, d. h. das freie Spiel, das Kant in der Analytik wiederholt thematisiert, ist ein festsitzen­ des, unumgängliches Moment einer ästhetischen Beurteilung. Dies verführt einerseits A-Interpreten leicht zu dem Fehler, die Dialektik beiseitezulassen, denn dort ist weder von dem freien Spiel noch vom Verhältnis des Begriffs des Übersinnlichen zum freien Spiel die Rede. Andererseits stellt dies B-Interpreten vor die wichtige Aufgabe, in ihrer Interpretation das freie Spiel mit einer Zusatz-Tätigkeit der Erkenntniskräfte erfolgreich zu kombinieren. Diese Tätigkeit sollte eine sich vom freien Spiel unterscheidende Operation der Erkennt­ niskräfte sein, auf der der Sollens-Zustimmungsanspruch beruht. Denn wenn man mit B-Interpreten annimmt, dass sich der SollensAnspruch des Geschmacksurteils nicht durch die offizielle Deduktion allein berechtigen lässt, wird man zur Vermutung genötigt, dass zum Sollens-Anspruch eine andere Tätigkeit der Erkenntniskräfte das Geschmacksurteil beeinflussen muss, die über das freie Spiel als formale Bedingung jeder menschlichen Erkenntnis hinausgeht. Beim Behandeln dieser anderen Tätigkeit ist die Tatsache zu beachten, dass sich diese Tätigkeit genauso wie das freie Spiel im Bewusstsein des Subjekts des Geschmacksurteils verortet, nicht etwa in der Spekulation des Transzendentalphilosophen. Wenn diese Tätig­ keit dem Sollens-Anspruch zugrunde liegt, muss sich das Subjekt des Geschmacksurteils ihrer klar bewusst werden, damit es aufgrund dieser Tätigkeit den Sollens-Anspruch erheben kann. Dazu muss das Verhältnis dieser Tätigkeit zum freien Spiel ans Licht kommen, da beide Bewegungen im gleichen Subjekt stattfinden. Schließlich wird der Sollens-Anspruch von demselben Subjekt wie jenem des freien Spiels erhoben. Daher steht ein Interpret der Kritik der ästhetischen Urteilskraft erstens vor der Aufgabe, zu erkennen, was für eine Tätig­ keit dem Sollens-Anspruch zugrunde liegt und zweitens, wie diese Tätigkeit im Bewusstsein des gleichen Subjekts des Geschmacksur­ teils zugleich mit dem freien Spiel zusammenhängt. Leider begegnet man in der bisherigen Forschung einem Her­ angehen an diese Interpretationsaufgabe ausgesprochen selten. Es seien zwei Interpreten genannt, die sich dieser Aufgabe zwar bewusst waren, ihr aber nicht ganz gerecht wurden: Reinhard Brandt und Wolfgang Bartuschat.

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1. Unterschiedliche Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch

Reinhard Brandt erscheint als derjenige, der den Unterschied zwischen der Analytik und der Dialektik der ästhetischen Urteils­ kraft bezüglich der Rechtfertigung des Allgemeinheitsanspruchs des Geschmacksurteils auf das Genauste eingesehen und in präziser Spra­ che dargestellt hat (Brandt 1989). Er betont die praktische Notwen­ digkeit (»practical necessity«) des Sollens-Anspruchs und zugleich die Unzulänglichkeit der offiziellen Deduktion für diesen Anspruch (Brandt 1989, 180). Dabei deutet er an, dass neben dem freien Spiel noch eine andere Tätigkeit in ein den Sollens-Anspruch erhebendes Geschmacksurteil eingeschlossen wird: »The Judging subject feels more than the mere formal harmony of a phenomenon when it appears to him as beautiful« (Brandt 1989, 193). Die andere Tätigkeit bezieht Brandt auf »the practical reference in the thought of the supersensible substrate« sowie auf »the components [...] of duty« (Brandt 1989, 194). Jedoch expliziert er sie nicht weiter. Brandt weist lediglich darauf hin, dass Kant zwei Tätigkeiten behandelt (»treat«) und die beiden in einem Geschmacksurteil präsent (»present«) sind (Brandt 1989, 194). In welchem Verhältnis sie konkret zueinanderstehen, wird von Brandt nicht thematisiert. Wolfgang Bartuschat hat hingegen in seiner Monographie Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft die andere Tätigkeit herausgearbeitet. Im Zuge seiner sorgfältigen sowie scharf­ sinnigen Analyse sagt er zu Recht, dass das freie Spiel als rein subjektive Tätigkeit der »bloß reflektierenden Urtheilskraft« (5: 253; 5: 296; 20: 225; 20: 250) mit weiterer Reflexion verknüpft werden muss, die sich an einem Telos orientiert und über das freie Spiel als eigene Leistung reflektiert (Bartuschat 1972, 238–245). Trotz seiner hervorragenden Ausführungen fehlt ihm jedoch die Einsicht, dass der erst durch die zusätzliche Tätigkeit zu verstehende Anspruch des Geschmacksurteils ein Anspruch auf die pflichtartige Zustimmung zu einem Geschmacksurteil ist und folglich einen praktischen Charakter hat. Bartuschat fasst nämlich den Anspruch bloß als einen Anspruch auf Apriorität auf, die auf die Urteilskraft als ursprüngliche Fähigkeit des Menschen verweist, die Heterogenität bzw. Differenz aufzulösen (Bartuschat 1972, 246–266). In dieser Hinsicht wird die in der Dialek­ tik vertretene These »das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten« auf den formalen Charakter der Urteilskraft überhaupt reduziert, die für »die Vermittlung zwischen den heterogenen Polen Vernunft und Sinnlichkeit« zuständig ist (Bartuschat 1972, 168). Folglich gelingt es Bartuschat nicht, den pflichtartigen Charakter des Sollens-Anspruchs

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1. Unterschiedliche Rechtfertigungsversuche zum Zustimmungsanspruch

herauszustellen, der mit einem bestimmten Fall der ästhetischen Erfahrung verbunden ist und deswegen durch die Apriorität der Urteilskraft allein nicht erschöpft werden kann. Es gibt noch Interpreten, die den von Bartuschat begangenen Fehler in anderer Hinsicht wiederholen, d. h. den Fehler, aus dem Blick zu verlieren, welchen wesentlichen Anspruch der Rechtfertigungsver­ such der Dialektik vertritt. Man stößt also in der Forschung oft auf die Interpretationstendenz, den pflichtartigen Charakter des SollensAnspruchs auf eine Betonung der moralischen Sinnhaftigkeit der ästhetischen Erfahrung oder Bildung – meist im allgemeinen Sinne – zu reduzieren. Man kann zwar nicht leugnen, dass Kant ab und zu den Moralisierungseffekt der ästhetischen Erfahrung bzw. Bildung anspricht. Jedoch ist darauf zu achten, dass der Sollens-Anspruch eines Geschmacksurteils sich auf die Pflicht der Zustimmung zu einem bestimmten Geschmacksurteil bezieht und nicht auf eine Pflicht der allgemeinen Bildung durch ästhetische Erfahrungen oder Übungen.1 Auch wenn man annimmt, dass die Zustimmungspflicht zu einem Geschmacksurteil in bestimmter Hinsicht mit moralischer Sinnhaf­ tigkeit im Bewusstsein des ästhetischen Subjekts integriert sein muss, besteht die Notwendigkeit, das Verhältnis des Bewusstseins morali­ scher Sinnhaftigkeit zum freien Spiel der Erkenntniskräfte darzulegen und zu erkennen, durch welchen Prozess die beiden Elemente im Bewusstsein integriert werden, wodurch man anhand jener Sinnhaf­ tigkeit zur Erklärung des Sollens-Anspruchs beitragen kann. Dieser Zusammenhang wurde bislang aber kaum berücksichtigt. Zusammenfassend wurde oben versucht, auf eine Forschungslü­ cke bezüglich der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zu verweisen, zu deren Bearbeitung die oben formulierte Aufgabe einer ZusatzTätigkeit der Urteilskraft vorgeschlagen wird. Dabei muss diese Auf­ gabe sogar bei jeder Interpretation berücksichtigt werden, die Kants Gedanken sowie seinen Intentionen bezüglich des Sollens-Anspruchs eines Geschmacksurteils gerecht werden wollen. Außerdem ist die Erfüllung dieser Aufgabe in Hinsicht auf das andere Interpretations­ problem wichtig: Das Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil.

1 Maitlands weist auf diesen Fehler hin (1976, 351). Seine Kritik richtet sich zwar auf Elliott (1968), jedoch lassen sich Düsing (1990) und Zuckert (2008) wegen des gleichen Fehlers kritisieren.

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2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil

2.1. Bedeutung des Übergangs von der Natur zur Freiheit Bekanntermaßen unternahm Kant mit der dritten Kritik den Versuch, sein philosophisches System zu vervollständigen. Das Besondere des Kantischen Systems besteht darin, dass es nicht durch ein absolutes Prinzip der Identität ermöglicht wird, das alle Sphären durchdringt sowie in sich fasst bzw. verschmelzen lässt, wie bei den Systementwürfen der Deutschen Idealisten. Bei Kant bleibt die Differenz zwischen den beiden voneinander unabhängigen Sphären, d. h. zwischen der Natur und der Freiheit, bzw. dem Theoretischen und dem Praktischen, unberührt. Diese Differenz versucht Kant nicht aufzulösen, sondern ein drittes Element soll vermittelnd wir­ ken. Dieses Element ist die Urteilskraft als Mittelglied der oberen Erkenntnisvermögen, d. h., es ist Mittler zwischen dem gegenüber der Natur gesetzgebenden Verstand und der gegenüber der Freiheit gesetzgebenden Vernunft. Die Tätigkeit der Urteilskraft zu jener Vermittlung bezeichnet Kant als Übergang (5: 176, 5: 196; bes. zum Übergang durch den Geschmack: 5: 297, 5: 258, 5: 354). Die beiden einer Vermittlung bedürfenden Glieder bleiben zwar – auch nach der Vermittlung durch den Übergang – hinsichtlich jeweiliger Gesetzgebung sowie Charakteristik selbstständig und individuell. Jedoch lässt sich die­ ser Übergang nicht durch die Kompatibilität beider Sphären oder ihre Verbindung in der Möglichkeit der verschiedenen Standpunkte erschöpfen. Zwischen beiden Gliedern besteht stattdessen eine Rei­ henfolge, indem das eine (das vorhergehende) durch das andere vorausgesetzt wird. Als Beispiel eines vermittelnden Übergangs, bei dem sich eine solche Reihenfolge offenbart, sei § 6 der Kritik der Urteilskraft genannt: »[V]on Begriffen giebt es keinen Übergang zum Gefühle der Lust oder Unlust (ausgenommen in reinen praktischen Gesetzen

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2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil

[…]« (5: 211). Kant anerkennt als einzigen Fall eines Gefühls, zu dem ein Übergang von Begriffen stattfinden kann, das moralische Gefühl. Betont sei hier die (logische) Reihenfolge: Wenn ein moralisches Gesetz erst nach einem Gefühl der Lust oder Unlust zustande käme, wäre es kein moralisches Gesetz. Das Gefühl der Lust als moralisches Gefühl setzt immer das Bewusstsein vom Gesetz voraus. Auch in seinen Anwendungen dieses Begriffs hinsichtlich der Vermittlung durch die Urteilskraft bestimmt Kant eine feste Reihen­ folge. Er betont stets den Übergang von der Natur zur Freiheit, vom Theoretischen zum Praktischen, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, doch niemals umgekehrt. Was bedeutet daher diese Reihenfolge? Kant zeigt in der »dritten Antinomie« der ersten Kritik, dass die Kausalität der Natur und jene der Freiheit in keinem logischen Widerspruch zueinanderstehen. Jedoch geht es hier weder um das praktische Sollen, das unter der Bedingung der Kausalität der Natur steht, d. h. die Pflicht des Freiheitsgesetzes des unter dem Naturgesetz lebenden Menschen, noch geht es um die Motivation für die Erfüllung dieser Pflicht. In der dritten Antinomie geht es vielmehr um die Möglichkeit der logischen Kompatibilität der beiden Kausalitäten. Dahingegen bezieht sich die Rede vom Übergang in der dritten Kritik klar auf den praktischen Kontext: In der Einleitung der dritten Kritik weist Kant darauf hin, dass der Übergang wegen des Problems der Realisierungsmöglichkeit des Endzwecks, d. h. des höchsten Guts, erforderlich sei (5: 176; 5: 196). Die Lösung des gleichen Problems in Kants zweiter Kritik ist insbesondere das Postulat vom Dasein Gottes. Bei dieser Lösung geht es auch um die Motivation zur Pflicht. Kant verdeutlicht dabei, dass die Vorstellung einer Ausführungsmöglich­ keit der Pflicht des höchsten Guts grundlegende Bedingung ist für den Willen zur Pflichtbestimmung. Mit dem Postulat Gottes verfolgt Kant eine theoretische Annahme der Vorstellungsmöglichkeit der Ausführung der Pflicht als einer notwendigen Bedingung für eine gelungene objektive Bestimmung des Willens. Jedoch ist dies nichts mehr als eine Lösung lediglich nach den Freiheitsbegriffen, die keinen Berührungspunkt mit der Natur in ihrer Realität selbst hat. Dies ist bloß die Möglichkeit, die durch das unmittelbare Projizieren des Sol­ lens nach den Freiheitsbegriffen auf das Sein nach den Naturbegriffen erdacht wird, und zwar ohne Berücksichtigung der Wirklichkeit der Natur bzw. deren Diskrepanz zur Freiheit. Im Gegensatz dazu gilt bei der Rede vom Übergang in der dritten Kritik immer die Reihenfolge von der Natur zur Freiheit. Dies bedeu­

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2.1. Bedeutung des Übergangs von der Natur zur Freiheit

tet, dass die Verbindung zwischen Natur und Freiheit – anders als in der zweiten Kritik – auf der Wirklichkeit der Natur fußt. Die Pflicht des höchsten Guts besitzt nur subjektive Realität, sofern sie – ohne Berücksichtigung des wirklichen Seins der Natur – lediglich in Hin­ sicht auf das Sollen nach den Freiheitsbegriffen betrachtet wird. Hin­ gegen kommt es beim Vernunftinteresse am Schönen, vermittels des­ sen die Verbindung bzw. der Übergang durch den Geschmack geschieht, wie wir später sehen werden, auf die »objektive Realität« an, wie Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft selbst äußert. Die schöne Natur ist zwar nichts mehr als »eine Spur […] oder ei[n] Wink« für die objektive Realität (5: 300). Der entscheidende Punkt ist hier aber, dass die Verbindung zwischen Natur und Freiheit auf­ grund des objektiven Bezugs, d. h. des Bezugs auf die Natur, erfolgt, deren Sein in Wirklichkeit zur Freiheit angemessen zu sein scheint. Aufgrund der Erscheinung der Natur erkennt ein Subjekt also die Ausführungsmöglichkeit der Pflicht und lässt sich somit motivieren. Die Motivation des Willens soll sich letztendlich nach der mora­ lischen Bestimmung des Menschen richten, den durch das Gesetz der Freiheit aufgelegten Endzweck in der Natur zu realisieren. Wichtig ist dabei zu beachten, dass die interesselose, d. h. zweckfreie Feststellung der Natur durch ein reines Geschmacksurteil einer Reflexion über die Realisierungsmöglichkeit des Endzwecks vorausgehen muss. Daher ergibt sich eine Reihenfolge von der Natur an sich hin zur Freiheit. Im Kontrast dazu reicht in der Diskussion der zweiten Kritik die Reihenfolge vom Gottespostulat über die Freiheit zur Natur, wobei der Begriff des Endzwecks einseitig auf die Natur projiziert wird. Es ist zwar einzuräumen, dass für die Reflexion der schönen Natur zur Möglichkeit des Endzwecks der Freiheitsbegriff des End­ zwecks in einer Hinsicht vorausgesetzt werden muss. Kant bezieht sich auf diesen Punkt, wenn er in § 42 der Kritik der Urteilskraft sagt, dass dergleichen Übergang »nur denen eigen [sei], deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vor­ züglich empfänglich ist« (5: 301). Trotzdem betont Kant, dass die hier entdeckte Angemessenheit – in Kants Terminus »Zweckmäßigkeit« – der Natur zunächst im Verhältnis »zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen« (5: 300; Hervorhebung der Verf.) steht. Das bedeutet, auch wenn die moralische Kultiviertheit für die Moti­ vation erforderlich ist, muss das Urteil über die Schönheit der Natur doch frei von allen moralischen Interessen bzw. Zwecken sein. Denn nur die neutrale, von jeder moralischen Absicht freie Betrachtung

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2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil

kann für den objektiven Bezug der Natur auf die Ausführungsmög­ lichkeit der Pflicht sorgen. Obzwar Kant durch das Postulat des Gottes in der Kritik der praktischen Vernunft die Möglichkeit, die für die Ausführung der Pflicht günstige Natur anzunehmen, geschaffen hat, hat er sich nicht damit zufriedengegeben und in der Kritik der Urteilskraft nach einem anderen Weg geforscht. Vermutlich hat Kant eine Annahme der Ausführungsmöglichkeit der Pflicht genötigt gesehen, die der existenziellen Bestimmung des Menschen – der als sinnliches Ver­ nunftwesen in der Natur den Freiheitsbegriff zu realisieren hat – besser entspricht. Das Problem der Pflicht des höchsten Guts ist zuletzt ein Motivationsproblem. Eine Lösung, die auf die existenzielle Kondition der Akteure Rücksicht nimmt, bringt sicherlich ein besseres Ergebnis in der Motivation mit sich, als eine andere.

2.2. Die für den Übergang erforderliche Erweiterung des reinen Geschmacksurteils Es sei zu dem zweiten Interpretationsproblem der Kritik der ästheti­ schen Urteilskraft zu kommen, auf das bereits zu Beginn hingewiesen wurde. Es lässt sich schildern wie folgt: Kant deutet auf einen Zusam­ menhang zwischen dem Übergang und – unter verschiedenem Gebrauch der reflektierten Urteilskraft – dem ästhetischen Urteil bzw. dem Geschmack hin, z. B. im allerletzten Absatz der Einleitung sowie in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft (5: 197; 5: 297 f.; 5: 354), und er zählt die Kritik der ästhetischen Urteilskraft wegen des Prinzips die­ ser Art der Urteilskraft, d. h. des Prinzips der formalen Zweckmäßig­ keit, zu dem Teil, welcher der Kritik der Urteilskraft »wesentlich angehörig« ist (5: 193). Aber Kant gibt nirgendwo eine klare Erklä­ rung, in welcher Weise die ästhetische Urteilskraft bzw. ein Geschmacksurteil diesen Übergang schaffen. Somit bleibt es Aufgabe der Interpreten, diesen Zusammenhang näher zu erschließen. Um dieser Interpretationsaufgabe gerecht zu werden, muss zuerst darauf geachtet werden, was für ein ästhetisches Urteil Kant hinsichtlich des Übergangs durch den Geschmack vor Augen hat. In den beiden Fassungen der Einleitung macht Kant hinsichtlich des Ver­ ständnisses des Übergangs in einer Hinsicht einen irreführenden Ein­ druck, indem er die Wichtigkeit des Prinzips der formalen Zweckmä­

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2.2. Die für den Übergang erforderliche Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

ßigkeit (5: 193; 20: 224 f.) sowie jene der Leistung der »bloß reflectierenden Urtheilskraft« (20: 225; 20: 250; 5: 253; 5: 296) beim Geschmacksurteil betont. Da die Einleitungen die Orte sind, an denen sich Kant intensiv mit dem Übergang befasst, scheinen sie leicht zur Vermutung zu verleiten, es gehe im erforderlichen Übergang durch den Geschmack ausschließlich um ein reines Geschmacksurteil, das in der »bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes« (ibid.) über die bloß formale Zweckmäßigkeit richte.2 Jedoch scheint ein reines Geschmacksurteil allein für den Über­ gang ebenso unzureichend, wie es das für die Erschließung des Sol­ lens-Anspruchs ist. Wird die sich im Geschmacksurteil betätigende Urteilskraft lediglich auf die bloß über die Form reflektierende Urteils­ kraft eingeschränkt, lässt sich kaum ein Weg zur Erläuterung jenes Übergangs finden. Denn der Schlüssel des Übergangsproblems, auf den Kant wiederholt verweist, liegt in der Bezugnahme auf den gemeinsamen Grund des Übersinnlichen zwischen der Natur und der Freiheit, d. h. auf den »Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält« (5: 176; Hervorhebung im Original). Dazu reicht die bloß formale Reflexion beim reinen Geschmacksurteil jedoch nicht aus. Kant sagt, die Urteilskraft in ihrer Übergangsfunktion verschaffe dem übersinnlichen Substrat der Natur die »Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen« (5: 196). Wenn die Tätigkeit des urteilenden Subjekts aber lediglich auf die bloße Reflexion begrenzt würde, bliebe das übersinnliche Substrat »gänzlich unbestimmt« (ibid.; Hervorhe­ bung im Original), genauso wie bei einer allgemeinen Verstandesleis­ tung. Die Natur, die wir lediglich als Erscheinung begreifen können, dient zwar als »Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben« (ibid.). Doch kann das Subjekt in seiner bloßen Reflexion über die Form des Gegenstandes nicht ohne Weiteres zum Gedanken an das Substrat hinter ihm gelangen, geschweige denn zum Gedanken über dessen »Bestimmbarkeit« durch das intellektuelle Vermögen. In der Tat kommt keine Erwähnung zu dem Übergang mehr in den Paragrafen aus den Einleitungen und im vorderen Teil der Analytik (bis zur Deduktion) vor, wo das Geschmacksurteil als Produkt der bloß ästhetisch reflektierenden Urteilskraft verstanden wird. 2

Eine nähere Erläuterung des Begriffs des reinen Geschmacksurteils folgt in Kapitel I.

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2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil

Was die gerade erwähnte »Bestimmbarkeit« des übersinnlichen Substrats der Natur »durch das intellectuelle Vermögen« bedeutet, lässt sich erst anhand der von Kant deutlich aufgezeigten Problemlage des Übergangs verstehen: Der Übergang von der Natur zur Freiheit ist insofern mit Notwendigkeit erforderlich, als die Ausführung des durch Gesetzgebungen der Freiheit auferlegten Zwecks, d. h. des »Endzwecks«, in der Natur von seiner »Möglichkeit« her gedacht werden muss (5: 196; siehe auch 5: 176). Dieser Problemlage liegt das unbedingte Sollen der Verwirklichung des Endzwecks zugrunde, d. h. des höchsten Guts, damit die Grundthese Kants, dass ein Sollen immer das Können voraussetze, und die Unwahrscheinlichkeit des Könnens in der Natur. Bei der Vorstellung der möglichen Ausführung des Endzwecks bzw. des höchsten Guts bezieht sich der Begriff der Zweckmäßigkeit letztlich auf die Angemessenheit der Natur für die problematische Ausführung: Die Natur ist zur Wirkung des Endzwecks zweckmäßig und der Grund der Zweckmäßigkeit liegt im übersinnlichen Substrat hinter der Natur. Diese Bestimmtheit des übersinnlichen Substrates der Natur erfolgt aber nicht durch die Leistung der reflektierenden Urteilskraft allein. Dies lässt sich der Kritik der teleologischen Urteils­ kraft entnehmen, wo Kant den Übergang von der Natur zur Freiheit durch die Urteilskraft – anders als in der Kritik der ästhetischen Urteils­ kraft – ausführlich darstellt. Dieser Punkt verdient nähere Betrach­ tung. Nachdem Kant sich in der Analytik sowie in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft mit der Naturteleologie beschäftigt hat, erkennt er in ihr einen moralischen Zusammenhang und geht auf die Ethikoteleologie und den moralischen Beweis vom Dasein Gottes ein, der als höchste Weltursache die Natur zur Hinwirkung auf den Endzweck trefflich geschaffen habe. Die Annahme eines solchen Welturhebers bedeutet dabei nichts anderes als die Zuschreibung der moral-tauglichen Bestimmtheit gegenüber einem übersinnlichen Substrat der Natur. Dass diese Bestimmtheit nicht durch die über die Naturzwecke theoretisch reflektierende Urteilskraft allein möglich wird, sondern erst durch das Miteingreifen der praktischen Vernunft vermittels ihrer moralischen Ideen, bringt Kant wie folgt zum Aus­ druck: »Die objective Realität der Idee von Gott, als moralischen Welturhe­ bers, kann nun zwar nicht durch physische Zwecke allein dargethan werden; gleichwohl aber, wenn ihr Erkenntniß mit dem des moralischen

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2.2. Die für den Übergang erforderliche Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

verbunden wird, sind jene vermöge der Maxime der reinen Vernunft, Einheit der Principien, so viel sich thun läßt, zu befolgen, von großer Bedeutung, um der praktischen Realität jener Idee durch die, welche sie in theoretischer Absicht für die Urtheilskraft bereits hat, zu Hülfe zu kommen.« (5: 456; Hervorhebung der Verf.).

Was die teleologisch reflektierende Urteilskraft »ohne Rücksicht auf das Praktische« (5: 196) leistet, gibt zwar dem übersinnlichen Substrat der Natur die »Bestimmbarkeit« (ibid.) und bereitet dadurch dessen moraltaugliche Bestimmtheit vor. Aber erst mit der Erkenntnis des Praktischen lässt sich das Übersinnliche voll bestimmen, und die Idee des Endzwecks gewinnt eine praktisch bedeutsame Realität, was wiederum nichts anderes bedeutet als den Übergang von der Natur zur Freiheit durch die teleologische Urteilskraft.3 In der vorliegenden Untersuchung wird zudem die Ansicht vertreten, dass der Übergang auch hinsichtlich der bloß ästhetisch reflektierenden Urteilskraft ebenfalls dadurch erfolgt, dass die Leistung dieser Urteilskraft mit der Bezugnahme der Idee des Endzwecks ergänzt wird. Hier entsteht die Notwendigkeit, anzunehmen, dass die Urteils­ kraft, der Kant die Übergangsfunktion zukommen lässt, eine wei­ tere Tätigkeit neben der »bloßen Reflexion« in sich enthält, wie es bezüglich des Sollens-Anspruchs bereits genauso der Fall war. Die weitere Tätigkeit kann nur durch »das intellectuelle Vermögen« (5: 196) ausgeführt werden, das nicht ganz »ohne Rücksicht auf einen Begriff« (5: 191), sondern in Bezug auf den durch die Vernunft a priori gegebenen Begriff des Endzwecks über jene »Möglichkeit« der Natur reflektiert (5: 353). In der Tat lassen sich für diese Annahme bestätigende Stellen in beiden Fassungen der Einleitung finden. In der zweiten, endgültigen Fassung deutet Kant an, dass der erforderliche Übergang erst »in der Folge« des freien Spiels der Erkenntniskräfte möglich ist (5: 197). Außerdem bringt Kant durch eine Aussage in der ersten Einleitung den Zusammenhang zwischen dem Übergang und einer über das freie Spiel hinausgehenden Reflexion ans Licht: Die ästhetischen Urteile, vermittels derer »ein Übergang [...] von dem sinnlichen Substrat der ersteren, zum intelligibelen der zweyten Phi­ losophie« geschieht (20: 245), seien »von so besonderer Art [...], daß sie sinnliche Anschauungen auf eine Idee der Natur beziehen, deren Gesetzmäßigkeit ohne ein Verhältniß derselben zu einem übersinnli­ chen Substrat nicht verstanden werden kann« (20: 246; Hervorhebung 3

Ingeborg Schüßler führt diese Einsicht detailliert aus (Schüßler 1989, 61‒64).

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2. Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil

der Verf.). Die bloße Reflexion über die Form des Gegenstandes beim reinen Geschmacksurteil bezieht die sinnliche Anschauung also auf das Gefühl der Lust oder Unlust, nicht auf »eine Idee der Natur« (ibid.), wie hier beschrieben ist. Dabei wird der oben angedeutete Zusammenhang zwischen den beiden Interpretationsproblemen deutlich, von denen die vorliegende Untersuchung ausgegangen ist: Sowohl der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils als auch jener Übergang durch dasselbe Urteil können erst dann verständlich werden, wenn eine erweiterte Betäti­ gung der Urteilskraft angenommen wird, die die bloße Reflexion über die Form bzw. das freie Spiel der Erkenntniskräfte zwar zum Ausgangspunkt nimmt, anschließend jedoch darüber hinausgeht. Im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung wird daher diese Zusatz-Tätigkeit der Urteilskraft diskutiert, die sowohl dem SollensAnspruch des Geschmacksurteils als auch dem Übergang von der Natur zur Freiheit zugrunde liegt. Es sei darauf hingewiesen, dass die »Erweiterung des Geschmacksurteils« in der vorliegenden Untersuchung die Verknüp­ fung eines reinen Geschmacksurteils mit der Zusatz-Tätigkeit der Urteilskraft bezeichnet. Im Laufe der Untersuchung wird die Erweite­ rung des Geschmacksurteils in ihrer Komplexität ausgeleuchtet.

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3. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung und der Kantische Weltbegriff

3.1. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts in der bisherigen Forschung Wie vorhin erwähnt wurde, ist die Idee des Endzwecks für die Problemlage des Übergangs grundlegend. Trotzdem wird dies bei der Interpretation der Ästhetik Kants kaum berücksichtigt. Merkwür­ dig, wenn man an die klaren Hinweise Kants auf den Übergang durch den Geschmack denkt. Obzwar diejenigen, die als B-Interpre­ ten bezeichnet werden, doch am Thema des Übergangs durch den Geschmack interessiert sind, sind Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen einem Geschmacksurteil und der Idee des Endzwecks befassen, geschweige denn mit jener erweiterten Tätigkeit der ästhetischen Urteilskraft, ausgesprochen rar. Es scheint, als habe dieser Zusammenhang nur bei wenigen Interpreten die gebührliche Aufmerksamkeit erfahren. Sie alle befas­ sen sich mit dem in § 42 der Kritik der Urteilskraft geschilderten intellektuellen Interesse am Schönen. Dieses Interesse, das die Ver­ nunft hinsichtlich der Idee des höchsten Guts an der Naturschönheit hat (5: 298 ff.), dient in der Tat als Schlüssel zur Erschließung der erweiterten Tätigkeit der Urteilskraft und ist ein Thema, das in der vorliegenden Untersuchung intensiv behandelt werden soll. Jedoch auch in ihren Aufsätzen gelingt es den Interpreten oft nicht, einen klaren Zusammenhang zwischen dem höchsten Gut und dem Geschmacksurteil herzustellen.4 Auch falls der Interpret sich dieses 4 Recki bringt gleichsam nur einen halben Zusammenhang ans Licht, indem sie lediglich einen Bestandteil des höchsten Guts (Glückseligkeit) betrachtet (1993). Kneller vertritt hingegen eine unklare Position, wenn sie an einer Stelle sagt: »Kant returns to this issue [of the highest good] in his aesthetics [...] at Section 42«, aber bereits nach einigen Zeilen die Verbindung vom »unmittelbaren Interesse« – eine

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3. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts und der Weltbegriff

Zusammenhangs deutlich bewusst ist, kann er zur Enthüllung des komplexen Sachverhalts nicht viel beitragen, wenn er ihn nicht im Kontext der gesamten Theorie Kants über das höchste Gut darstellt oder nicht die Eigentümlichkeit des Übergangs durch den Geschmack im Vergleich mit anderen möglichen Arten des Übergangs aufzeigt,5 welches in der vorliegenden Arbeit getan werden soll. Dass der Bezug der Kantischen Geschmackstheorie auf den Begriff des höchsten Guts bei den Kant-Interpreten kaum beachtet wird, führt auf die Tatsache zurück, dass Kant selbst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft diesen Begriff des höchsten Guts nicht explizit verwendet und entsprechend schon gar keine Theorie diesbe­ züglich entwickelt. Außerdem zeigt sich Kant so sehr bemüht, die Tätigkeit der ästhetischen Urteilskraft von den begrifflichen Bestim­ mungen, dem Einfluss des Begehrungsvermögens sowie der Tätigkeit der teleologischen Urteilskraft abzuheben, dass die Kant-Interpreten mit einer Bezugnahme auf das höchste Gut wohl nicht unbedingt ein Risiko eingehen möchten, diese Abgrenzung möglicherweise zu verwischen. Wenn man aber den eigentlichen und höchsten Begriff der Kanti­ schen Philosophie vor Augen nimmt,6 ist bei der Auseinandersetzung mit der Kantischen Geschmackstheorie allerdings schwerlich zu ver­ passen, wie Kant nach dem Ausführen der Eigenart sowie der Selbst­ ständigkeit des reinen Geschmacksurteils betont, dass ein reines Geschmacksurteil doch zusätzlich mit der Tätigkeit der Vernunft ver­ bunden werden könne (KU § 42, § 57, § 59), was unumgänglich nach einer Untersuchung verlangt, warum Kant diese Verbindung zieht. Der einschlägige Begriff der Kantischen Philosophie heißt »Weltbe­ griff«.

3.2. Weltbegriff bei Kant und seine Geschmackstheorie Bei der Kantischen Konzeption der Philosophie bildet der Weltbegriff den Gegensatz des Schulbegriffs. In der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant zum Schulbegriff der Philosophie: Bezeichnung Kants für das intellektuelle Interesse am Schönen – zum höchsten Gut leugnet (2007, 64). 5 Solch ein unglückliches Beispiel sehen wir z. B. bei Moledo (2008). 6 Fahrenbach beklagt sich darüber, dass die höchste Sinnbestimmung der Kantischen Philosophie bei den Interpreten zu selten beachtet wird (1992, 35).

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3.2. Weltbegriff bei Kant und seine Geschmackstheorie

»Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff, nämlich von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zu Zwe­ cke zu haben« (KrV B 866).

Während nach dem Schulbegriff der Philosophie die logisch vollkom­ mene Wissenschaft als »Selbstzweck« (Fahrenbach 1992, 42) betrach­ tet wird, ist sie nach dem Weltbegriff »die Wissenschaft von der Beziehung alles Erkenntnisses auf den Endzweck der menschlichen Vernunft« (9: 24). Die Philosophie nach dem Weltbegriff bezieht sich laut Kant auf die praktische Zweckmäßigkeit von Erkenntnissen für das höchste Gut als dem Endzweck der Vernunft. Folglich hat die Philosophie nach dem Weltbegriff praktischen Sinn, wie im Hauptteil noch näher besprochen wird. In diesem Sinne bezeichnet Kant die Philosophie nach dem Weltbegriff auch mehrmals als Philosophie »in sensu cosmopolitico« (VM 4, 5), d. h. Philosophie in weltbürger­ licher Bedeutung. Das Praktische in seinem Begriff der Philosophie ist dermaßen bedeutsam, dass Kant sagt: »Dieser hohe Begriff [sc. Philosophie nach dem Weltbegriff] giebt der Philosophie würde, d. i. einen absoluten Werth« (9: 23). Dieser Begriff der Philosophie ist für Kant »Philosophie in sensu eminenti« (VM 6). In der vorliegenden Untersuchung wird die Ansicht vertreten, dass Kant in seiner letzten Kritik die Philosophie nach dem Weltbe­ griff vor Augen behält. Das Ideal dieses Begriffs der Philosophie widerspiegelt sich vor allem in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, auch wenn Kant dort nicht zur detaillierten Diskussion über sie gelangt. In Kapitel I wird gezeigt, dass Kant auch in der Analytik, in der hauptsächlich von einem reinen Geschmacksurteil die Rede ist und sich kein direkter Hinweis auf den Weltbegriff bzw. das höchste Gut findet, seine Aufmerksamkeit darauf richtet, wie die zufällige Einstimmung zwischen dem Subjekt und der Natur das Gefühl der Lust veranlasst, auch wenn das Bewusstsein der Zufällig­ keit beim Fällen eines reinen Geschmacksurteils keine Rolle spielt. Diese mit dem Menschensubjekt übereinstimmende Natur ist, wenn sie hinsichtlich des Weltbegriffs der Philosophie betrachtet wird, nicht bloß ein Objekt der interesselosen Kontemplation, sondern die Lebenswelt des Menschen selbst, der als zur Natur gehöriges Wesen den Endzweck nach den Freiheitsbegriffen in dieser Natur realisieren soll (vgl. Fahrenbach 1992, 44).

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3. Vernachlässigung der Idee des höchsten Guts und der Weltbegriff

Kants anthropologisch-praktische Interpretationen des Sachver­ halts bezüglich des Geschmacksurteils lassen sich eher nach der Deduktion der Geschmacksurteile beobachten, in der die Theorie des reinen Geschmacksurteils kulminiert, statt vor ihr. Die Paragrafen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, die nach der Deduktion folgen und über die Theorie des reinen Geschmacksurteils hinausgehen, sollten hinsichtlich des Weltbegriffs der Philosophie verstanden werden. Wichtig bleibt, dass Kant den Philosophen gemäß dem Welt­ begriff als »Weltbürger« versteht. Wie später besprochen wird, ist ein Weltbürger der praktische Mensch, der sich seiner Bestimmung bezüglich des höchsten Guts in seiner Lebenswelt stets bewusst ist. Die in der vorliegenden Untersuchung thematisierte Erweiterung des Geschmacksurteils ist der Vorgang, durch den ein Weltbürger bei seiner Begegnung mit der Schönheit in seiner Lebenswelt diese Schönheit nach dem Weltbegriff interpretiert und schließlich zur Willensbestimmung für das höchste Gut fortschreitet. Die Betitelung der vorliegenden Untersuchung, d. h. »Kants Geschmackstheorie in weltbürgerlicher Bedeutung«, lässt sich in dieser Hinsicht verstehen.

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I. Kants Theorie des Geschmacksurteils und die darin angedeutete Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Wie in der Einleitung erörtert wurde, geht die vorliegende Untersu­ chung von der Ansicht aus, dass der ästhetische Sollens-Anspruch nicht durch die offizielle Deduktion allein erschlossen und gerechtfer­ tigt werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Deduktion zwar auf den Sollens-Anspruch eingehe, aber ihn nicht ausreichend rechtfertige. Das Ziel der Deduktion liegt in der Rechtfertigung eines anderen Anspruchs des Geschmacksurteils, d. h. des Anspruches eines reinen Geschmacksurteils, der vom Sollens-Anspruch unabhängig besteht und sich folglich von ihm unterscheiden lässt. Die Mehr­ schicht eines Geschmacksurteils besteht darin, dass eine Zusatz-Tätig­ keit der Urteilskraft an das reine Geschmacksurteil anknüpft, wie in der Einleitung behauptet wurde. Erst wenn die Zusatz-Tätigkeit mit dem reinen Geschmacksurteil in Verbindung gesetzt wird, entsteht der Sollens-Anspruch auf die Zustimmung aller anderen Subjekte. Um die komplexe Struktur des erweiterten Geschmacksurteils zu erschließen, muss zunächst betrachtet werden, was Kant mit einem reinen Geschmacksurteil meint und was die zugehörige Theorie des reinen Geschmacksurteils besagt. Die Besprechung von Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils in diesem ersten Kapitel wird zeigen, dass eine solche Erweiterung in einem Geschmacksurteil bereits strukturell angelegt ist.

1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen als Darstellungsorte der Theorie des reinen Geschmacksurteils In diesem Abschnitt wird dargelegt, dass erstens die Reichweite der Deduktion auf das reine Geschmacksurteil eingeschränkt ist und zwei­ tens die Exposition eines reinen Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen durchgeführt wird.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

1.1.1. Reichweite der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile Es scheint sinnvoll, zunächst klarzumachen, dass es in der Deduktion lediglich um die Rechtfertigung des reinen Geschmacksurteils geht, nicht etwa um die Rechtfertigung des durch die Zusatz-Tätigkeit erweiterten Urteils. Bereits aus dem ersten Paragrafen der Deduktion und dessen Überschrift lässt sich entnehmen, dass das Rechtferti­ gungsobjekt der offiziellen Deduktion ein reines Geschmacksurteil ist. Dies besprechen wir jetzt. Kant versah die §§ 30–38 der dritten Kritik ursprünglich mit der Überschrift »Deduktion der ästhetischen Urtheile«. Jedoch ist seit der zweiten Auflage der Kritik der Urteilskraft dieser Überschrift das Adjektiv »rein« hinzugefügt, was Kants Absicht verdeutlicht, ist, den Umfang der Deduktion auf die »reinen ästhetischen Urtheile« (5: 279; Hervorhebung der Verf.) zu begrenzen. Nach Kant ist ein rein ästhe­ tisches Urteil ein Urteil, in dem die »subjektive Zweckmäßigkeit der gegebenen Vorstellung« (ibid.) durch das Gefühl der Lust oder der Unlust beurteilt wird, und zwar unabhängig von einem Begriff des Zwecks oder des Objekts in der »unmittelbaren Anschauung« (5: 270). Da sich ästhetische Urteile in Geschmacksurteile und Urteile über das Erhabene unterscheiden (5: 192), zählen nicht nur reine Geschmacksurteile, sondern auch rein ästhetische Urteile über das Erhabene zu den »reinen ästhetischen Urteilen«. Wie aber in § 30 erläutert wird, bedarf ein reines ästhetisches Urteil über das Erhabene keiner zusätzlichen Deduktion, wenn bereits die »Exposition« des Erhabenen aufgeführt wurde (§§ 23‒29). Nicht nur beim Schönen, sondern auch beim Erhabenen geht es zwar um eine subjektive Zweckmäßigkeit einer Vorstellung. Es gibt jedoch zwischen ihnen den großen Unterschied, dass die subjektive Zweck­ mäßigkeit beim Schönen dem Objekt, beim Erhabenen aber dem Sub­ jekt zukommt. Die subjektive Zweckmäßigkeit des Erhabenen findet sich völlig innerhalb des Subjekts, d. h., sie besteht in der Einstellung des Subjekts, die »selbst a priori zweckmäßig« (5: 280; Hervorhebung der Verf.) »für die Vernunft als Quell der Ideen« (5: 260) ist. In dieser Hinsicht ist sie eine Zweckmäßigkeit des Subjektiven für das Subjek­ tive sowie eine nach Denkungsart angenommene Zweckmäßigkeit, »species finalis accepta« (5: 280). Dahingegen besteht die subjektive Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil im zweckmäßigen Verhält­ nis des Objekts zu subjektiven Bedingungen der Urteilskraft. Sie ist – aus der Perspektive des Subjekts – insofern eine dem Subjekt (von

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1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen

außen) gegebene Zweckmäßigkeit, in Kants Worten »species finalis […] data« (ibid.), als die Zweckmäßigkeit dem Objekt – insbesondere der Natur, wie Kant in § 30 hervorhebt – zugeschrieben ist. Nach Kants ausdrücklicher Behauptung in § 30 ist es genau diese Charakteristik des Geschmacksurteils, die extra eine »Deduktion« nötig macht. Es ist Kants Grundgedanke, dass eine Verbindung zwi­ schen heterogenen Elementen einer Deduktion oder wenigstens einer speziellen Erläuterung bedarf, wie z. B. in der Transzendentalen Deduktion der ersten Kritik oder in der Schematismuslehre beobachtet wird. Im gleichen Sinne braucht das Geschmacksurteil extra eine Rechtfertigung, da es bei einem Geschmacksurteil um das zweckmä­ ßige Verhältnis zwischen heterogenen Elementen (Objekt – Subjekt) geht. Folglich lässt sich das Rechtfertigungsobjekt der »Deduktion der reinen ästhetischen Urtheile« auf die reinen Geschmacksurteile ein­ schränken (5: 280). Wenn nun feststeht, dass das Rechtfertigungsobjekt der Deduk­ tion das reine Geschmacksurteil ist, was genau ist dann ein reines Geschmacksurteil? Während die Deduktion nur den Anspruch eines reinen Geschmacksurteils rechtfertigt, wird die »Exposition« des reinen Geschmacksurteils im Rahmen der Analytik des Schönen ausgeführt. Daher wird es erforderlich zu erkennen, wie Kant in der Analytik des Schönen das reine Geschmacksurteil darstellt und charakterisiert. Das bewerkstelligt Kant anhand von vier Momenten (Qualität, Quantität, Relation, Modalität).

1.1.2. Charakteristika des Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen Die Charakteristika eines reinen Geschmacksurteils kann man den Erläuterungen gemäß, die Kant für die jeweiligen Momente zusam­ mengefasst hat, wiedergeben wie folgt: 1.

2.

Das Ästhetische: Ein Geschmacksurteil ist ein Urteil, in dem man nicht vermittels eines Begriffs des Gegenstandes, sondern unmittelbar durch das Gefühl der Lust anhand der Vorstellung des Gegenstandes urteilt (Das erste Moment nach der Qualität; siehe auch 5: 353). Interesselosigkeit: Das Gefühl der Lust bei einem Geschmacks­ urteil darf mit keinerlei Interesse verbunden sein (Das zweite Moment nach der Quantität; siehe auch 5: 354).

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

3.

4.

Formale Zweckmäßigkeit: In einem Geschmacksurteil wird die formale Zweckmäßigkeit (»Zweckmäßigkeit ohne Zweck«) beurteilt, die anhand einer Vorstellung des Gegenstandes wahr­ genommen wird (Das dritte Moment nach der Relation). Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, den ein Geschmacksurteil aufgrund seines Prinzips a priori erhebt: Das Gefühl der Lust bei einem Geschmacksurteil wird von dessen Subjekt als allgemeingültig sowie notwendig erkannt (Das zweite Moment nach der Quantität und das vierte Moment nach der Modalität; siehe auch 5: 281).

Hierzu lässt sich einiges anmerken. Das zweite Moment thematisiert zwei Merkmale eines Geschmacksurteils – Interesselosigkeit und All­ gemeingültigkeit –, sodass dessen Inhalt im Punkt (2) und (4) wie­ dergegeben ist. Unter ihnen lässt sich die Allgemeingültigkeit nun gemeinsam mit der im vierten Moment thematisierten Charakteris­ tik, d. h. der Notwendigkeit, darauf zurückführen, dass das Geschmacksurteil auf der fundamentalen subjektiven Bedingung der Urteilskraft bzw. Erkenntnis überhaupt gründet, die man bei jedem Urteilenden als apriorische Ausstattung der Urteilskraft voraussetzen darf (siehe § 9 und § 21). Deshalb sind die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit im Punkt (4) gemeinsam eingruppiert. Bei Kant sind die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit untrennbare Merkmale eines Urteiles a priori. Obzwar bei Geschmacksurteilen »das Prädicat (der mit der Vorstellung verbundenen eigenen Lust) empirisch ist«, erklären sie sich durch das Erheben des Anspruches auf die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit als »Urtheile a priori […], oder [wollen] dafürgehalten werden« (5: 288). Zu bemerken ist, dass die Begriffsverwendung von »Notwendig­ keit« im vierten Moment nicht nur die im Punkt (4) dargestellte Notwendigkeit, sondern auch eine Notwendigkeit auf einer anderen Ebene umfasst. Die Unterscheidung zwischen diesen Notwendigkei­ ten ist für die spätere Diskussion für das Verstehen des ästhetischen Sollens sowie der Struktur der Erweiterung eines reinen Geschmacks­ urteils sehr wichtig. An dieser Stelle legen wir zunächst lediglich die unter dem Punkt (4) beschriebene Notwendigkeit dar. Der mit der »Allgemeingültigkeit« auswechselbare Begriff von Notwendigkeit stützt sich in Kants Erläuterung des vierten Moments auf die Idee von »Gemeinsinn«. Der Gemeinsinn bedeutet in diesem Kontext eine Grundausstattung der menschlichen Erkenntnis. Kant beschreibt ihn als »die nothwendige Bedingung der allgemeinen Mitt­

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1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen

heilbarkeit unserer Erkenntniß, welche in jeder Logik und jedem Princip der Erkenntnisse, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt wer­ den muß« (5: 239). Diese notwendige Bedingung ist in concreto eine bestimmte »Proportion« zwischen der Einbildungskraft und dem Ver­ stand, welche die »zuträglichste für beide Gemüthskräfte in Absicht auf Erkenntnis (gegebener Gegenstände) überhaupt ist« (5: 238 f.). Diese Proportion »kann nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden« (5: 239). Dies lässt sich so verstehen, dass Kant den Gemeinsinn als Beurteilungsvermögen durch das Gefühl begreift (§ 40). Kants Argument, durch das er die Allgemeingültigkeit bzw. die Notwendigkeit des reinen Geschmacksurteils behauptet, beruht auf der Allgemeingültigkeit dieses Gefühls, das der Beurteilung beim reinen Geschmacksurteil zugrunde liegt. In der Gemeinsinn-Theo­ rie knüpft Kant das Thema »Gefühl« an den Gemeinsinn als »die nothwendige Bedingung der allgemeinen Mittheilbarkeit unserer Erkenntniß«, indem er behauptet, dass wir unter dem Gemeinsinn »die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte verste­ hen« sollen (5: 238). Das freie Spiel der Erkenntniskräfte ist Kants Bezeichnung für den besonderen Gemütszustand, in dem die subjek­ tive Bedingung für die »Erkenntnis überhaupt« festgehalten wird. Das Besondere liegt darin, dass das Zusammenwirken der Einbildungs­ kraft und des Verstandes, welches für jedes Urteil erforderlich ist, in einer eigentümlichen Weise zustande kommt. Anders als bei einer bestimmten Erkenntnis eines Objekts durch dessen Begriff wird das Mannigfaltige der Vorstellung nicht durch den Verstand und dessen Begriffe reguliert. Die Fülle des Mannigfaltigen wird erhalten und der Verstand liefert dem nur einen großen rationalen Rahmen, den Kant »Gesetzmäßigkeit« nennt, fesselt jedoch nicht. Dieses Verhältnis bezeichnet Kant als das »Spiel der Erkenntniskräfte«, und zwar in dem Sinne, dass die Einbildungskraft als Vorstellungskraft »für die Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen dersel­ ben« (5: 287) die Befreiung von den Fesseln durch den Verstand genießt und zugleich eine Harmonie mit dem Verstand bewahrt. Wenn dieses freie Spiel im Gemüt zustande kommt, wird man sich davon im Gefühl der Lust bewusst. Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil besagt diesen Gemütszustand. Dieses Gefühl der Lust soll im nächsten Abschnitt näher erläutert werden. Durch die Verknüpfung des Gemeinsinns mit dem freien Spiel erhöht Kant den Status des freien Spiels zum Status der subjektiven

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Bedingungen hin, die »zu einem Erkenntnisse überhaupt erforder­ lich« sind (5: 218). Im gleichen Sinne zählt es auch zu den »subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt« (5: 290). Folglich kann Kant sagen, dass »wir berechtigt sind, dieselben subjec­ tiven Bedingungen der Urtheilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen, die wir in uns antreffen« (5: 290). Genau hier findet der Anspruch des Geschmacksurteils auf Allgemeingültigkeit seine Berechtigung: Denn wenn ein Urteil auf den bei jedem vorhandenen Bedingungen gründet, so ist es in der Lage, die Allgemeingültigkeit zu behaupten. Die ästhetische Charakteristik des Geschmacksurteils besteht darin, dass die allgemeinen und notwendigen Bedingungen, auf denen ein Geschmacksurteil beruht, nur durch das Gefühl erfassbar sind. Bei all seinen erkenntnistheoretischen Erläuterungen Kants fällt ein Urteilender des Geschmacksurteils sein Urteil ausschließlich aufgrund eines Gefühls der Lust. Wichtig bleibt dabei, dass das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil eine Lust der Reflexion ist, die Kant im zweiten Moment des Geschmacksurteils streng von anderen Arten der Lust, d. h. von der Lust der Sinne und von der Lust am Guten, abgrenzt (vgl. auch 5: 292). Diese anderen Arten von Lust beziehen sich jeweils auf das Urteil über das Angenehme und das über das Gute und sind mit einem Interesse verbunden. Durch diese Abgrenzung erklärt Kant das reine Geschmacksurteil als frei von jedem Interesse, weil wir, so Kant, »gewiß sein können, daß es nicht mehr Arten des Interesses gebe« als das Interesse am Guten und das am Angenehmen (5: 205).7 Unter der Voraussetzung der Interesselosigkeit kann sich der Urteilende auf die allgemeinen und apriorischen Bedingungen beziehen und sie zu seinem Prinzip für ein ästhetisches Urteil machen. Insofern es a priori auf einem Prinzip gründet, berechtigt sich dieses Urteil zum Anspruch auf Notwendigkeit. Jetzt soll Punkt (3) an der Reihe sein, der sich wiederum anhand eines anderen Punkts erklären lässt, d. h. anhand des ästhetischen Charakters. Hierbei ist zunächst von der formalen Zweckmäßigkeit als dem »Bestimmungsgrunde« eines Geschmacksurteils die Rede (5: 223). Da aber ein reines Geschmacksurteil weder auf ein Interesse 7 Allison versucht gestützt auf die moralphilosophischen Texte Kants nachzuweisen, dass das Interesse am Guten und am Angenehmen die »Arten des Interesses« tatsächlich ausschöpft (Allison 2001, 90–94).

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1.1. Deduktion der reinen ästhetischen Urteile und Analytik des Schönen

noch auf einen Zweck bezogen ist, kann der Begriff »Zweckmäßigkeit« nur in Bezug auf das Ästhetische verstanden werden. Es steht fest, dass ein Geschmacksurteil den Gegenstand nicht intellektuell, son­ dern ästhetisch beurteilt (5: 218 f.). Doch wie kann sich der Urteilende bewusst werden, ob eine Vorstellung des Gegenstandes die infrage stehende Zweckmäßigkeit zeigt? Kants Antwort lautet: durch »ein unmittelbares Wohlgefallen« (5: 227). In der Einleitung steht, dass unter der einem Geschmacksurteil eigenen Voraussetzung des Abstrahierens von jedem Begriff (des Zwecks oder der Erkenntnis) »der Gegenstand alsdann nur darum zweckmäßig genannt [wird], weil seine Vorstellung unmittelbar mit dem Gefühle der Lust ver­ bunden ist« (5: 189). Auch in § 9 sagt Kant, das zweckmäßige Ver­ hältnis könne »sich nur durch Empfindung kenntlich machen« (5: 219). Es stellt sich die Frage, warum Kant einen solch komplizierten Begriff (»Zweckmäßigkeit«) eingeführt hat, wenn die Zweckmäßig­ keit im Geschmacksurteil in der Tat im Bewusstsein des Urteilenden nichts anderes als ein Gefühl der Lust bedeutet. Diesbezüglich wird in erster Annäherung die Ansicht vertreten, dass das zweckmäßige Verhältnis im Geschmacksurteil mehrere Schichten enthalten muss und Kant anhand der Komplexität des Begriffs »Zweckmäßigkeit« die Erweiterung des Geschmacksurteils ausführt. Darauf wird später einge­ gangen. Bisher wurden Charakteristika eines reinen Geschmacksurteils besprochen. Doch möglicherweise lassen sich die Ergebnisse der Ana­ lytik des Schönen tatsächlich nicht ohne Weiteres als Charakteristika eines reinen Geschmacksurteils beibehalten, denn Kant spricht dort meistens schlicht von »Geschmacksurteil« und erwähnt den Ausdruck »ein reines Geschmacksurteil« nur selten. Wenn wir allerdings die Kontexte erkunden, in denen Kant vom reinen Geschmacksurteil spricht, werden etwaige Zweifel der Gewissheit weichen, dass Kant in der Analytik des Schönen mit »Geschmacksurteil« in der Tat ein reines Geschmacksurteil meint. Die meisten der nicht zahlreichen Stellen, wo Kant das reine Geschmacksurteil erwähnt, befinden sich in der Analyse nach dem dritten Moment des Geschmacksurteils. Dort grenzt Kant das reine Geschmacksurteil sorgfältig von anderen Urteilen über die Schönheit ab, welche durch »Rührung« oder »Reiz« beeinflusst sind bzw. von einem Begriff eines bestimmten Zwecks und folglich von der Voll­ kommenheit des Gegenstandes hinsichtlich des Zwecks abhängen.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Der letztere Fall trifft kein ästhetisches Urteil, das »auf subjectiven Gründen beruht« (5: 228). Er bezieht sich nicht »auf das Subjekt«, sondern auf die »Beschaffenheit des Gegenstandes« (ibid.) sowie dessen objektive Zweckmäßigkeit (5: 226). Der andere Fall, d. h. die Urteile durch Rührung oder Reiz, ergibt zwar ästhetische Urteile, aber diese sind nicht »formale«, sondern »materiale ästhetische Urtheile«, von welchen nur die ersteren allein als »eigentliche Geschmacksurtheile«, d. h. reine Geschmacksurteile, betrachtet werden können (5: 223). Materiale ästhetische Urteile, die Kant auch »Sinnenurtheile« nennt (ibid.), haben »bloß die Materie der Vorstellungen, nämlich lediglich Empfindung zum Grunde« (5: 224). Sie können keinen Anspruch auf allgemeingültiges Wohlgefallen erheben (5: 223), da sich die »Qualität der Empfindungen selbst nicht in allen Subjekten als einstimmig [...] annehmen läßt« (5: 224). »[D]as einzige, was sich von [...] Vorstellungen mit Gewißheit allgemein mittheilen läßt«, ist die Form der Vorstellungen (ibid.). Es ist die Form der Vorstellung, mit der sich die Einbildungskraft und der Verstand in einem reinen Geschmacksurteil beschäftigen. Es ist die Form der Vorstellung, die für das freie Spiel zwischen den Erkenntniskräften sorgt. Dabei kommt hinsichtlich der Form eine »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt, was es sein solle)« zustande (5: 227). Dies bezeichnet Kant als Zweckmäßigkeit der Form (5: 223). Da diese Zweckmäßigkeit keinen bestimmten Zweck hat, lässt sie sich auch als formale Zweckmäßig­ keit betrachten. Das im dritten Moment dargestellte »reine Geschmacksurteil« ist also kein anderes Urteil als das, was bereits oben unter den vier Punkten betrachtet wurde. Außerhalb des dritten Moments lassen sich Kants Erwähnungen von »reinen« Geschmacksurteilen in der Analytik des Schönen nur noch in § 2 und § 6 finden (5: 205; 5: 211 f.). Beide Stellen lassen erkennen, dass Kant mit dem »reinen Geschmacksurteil« ein ästhetisches Urteil über das Schöne meint, das mit keinem Interesse »vermengt« bzw. »verbunden« ist. Diese Bedin­ gung der Unabhängigkeit von jedem Interesse wird vom oben in vier Punkten dargestellten Geschmacksurteil erfüllt, da in ihm die Inter­ esselosigkeit (Punkt (2)) vorausgesetzt ist. Folglich lässt sich das in der Analytik des Schönen besprochene Geschmacksurteil problemlos als reines Geschmacksurteil annehmen. Zugleich besteht Gewissheit dahin gehend, dass Kant in der Analytik des Schönen die Theorie des reinen Geschmacksurteils entwickelt.

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Bewusstsein seiner Selbsttätigkeit Die bisherigen Überlegungen führen zur Annahme, dass der Schlüs­ selbegriff für ein reines Geschmacksurteil das Gefühl der Lust ist, das von jeglichen Bestimmungen durch das Begehrungsvermögen, wie etwa einem Interesse und einem Zweck, frei ist und das die allgemeingültige Proportion zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand trifft. Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil soll nachfolgend näher erläutert werden.

1.2.1. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als Lebensgefühl Im ersten Paragrafen der Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil als »Lebensge­ fühl«. Dieser Begriff ist wichtig für das Verständnis des Gefühls der Lust beim reinen Geschmacksurteil. Zur begrifflichen Erschließung soll zunächst die Bedeutung vom »Leben« bei Kant besprochen wer­ den, bevor eine Passage folgt, in der Kant das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil als »Lebensgefühl« bezeichnet. Kant legt in der Kritik der praktischen Vernunft eine Definition des Lebens vor, wonach es beim Leben um das Handeln um der Wirklichkeit eines Objekts willen geht: »Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begeh­ rungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Ver­ mögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirk­ lichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Hand­ lung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklich­ keit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)« (5: 9 Anm.).

Beim reinen Geschmacksurteil soll also jede Verbindung mit dem Begehrungsvermögen ausgeschlossen sein. Folglich wird eine andere Erklärung für das Leben benötigt. Dies ist Makkreel gelungen, dessen Vorschlag wir uns anschließen. Makkreel bespricht eine Passage aus der dritten Kritik, in der Kant das Leben mit dem Gemüt gleichsetzt.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Dabei erklärt Kant, dass »das Gemüth für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst) ist« (5: 278). Makkreel formuliert anhand dieser Stelle die These, dass »Leben nicht nur die Fähigkeit zu handeln einschließen muß, sondern auch das Bewußtsein davon, daß auf es eingewirkt wird«8 (Makkreel 1997, 120). Ein solches Verständnis vom »Leben« befreit diesen Begriff von der in der Definition des Lebens aus der zweiten Kritik implizierten Begrenztheit auf die Hervorbringung eines Objekts bzw. auf das Interesse an der Existenz eines Objekts. Das »Leben« kann auch das Bewusstsein des Subjekts betreffend den Zustand seines eigenen Gemüts sein. Dieses Verständnis vom »Leben« passt hervorragend zur Passage, in der Kant das Lebensge­ fühl als das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil themati­ siert: »Hier [sc. im Geschmacksurteil] wird die Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust bezogen: welches ein ganz besonde­ res Unterscheidungs= und Beurtheilungsvermögen gründet, das zum Erkenntniß nichts beiträgt, sondern nur die gegebene Vorstellung im Subjecte gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält, dessen sich das Gemüth im Gefühl seines Zustandes bewußt wird« (5: 204; Hervorhebung der Verf.).

Hier äußert Kant, dass das Lebensgefühl »ein ganz besonderes Unter­ scheidungs= und Beurtheilungsvermögen gründet« (5: 204; Hervorhe­ bung der Verf.). Da wird der »Zustand« des Subjekts unterschieden sowie beurteilt durch das Gefühl der Lust oder Unlust. Doch genauer: Welches wird von welchem unterschieden und was wird beurteilt? Zunächst zur Unterscheidung. Wie Kant in der obigen Passage andeutet, bezieht sich das Lebensgefühl entweder auf das Gefühl der Lust oder auf das Gefühl der Unlust. Ob das Gefühl ein positives oder ein negatives sei, lautet dabei das Kriterium der Unterscheidung. Makkreel weist hierzu (Makkreel 1997, 121) auf eine wichtige Aus­ kunft in den Vorlesungen über Metaphysik hin: »Das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist Lust, und das Gefühl von der Hinderniß des Lebens ist Unlust« (28: 586). Dies führt zur Erkenntnis, dass also durch das Gefühl unterschieden wird, ob das Leben befördert oder gehindert wird. Das Original des hinteren Teils der zitierten Passage in englischer Sprache besagt: »the conciousness of being acted upon« (Makkreel 1990, 91).

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

Nun zur Beurteilung. Die Beförderung oder Hinderung des Lebens bzw. des Gemüts sind bei der Beurteilung durch das Lebens­ gefühl ebenfalls das Kriterium. Kant bringt dies zum klaren Ausdruck, wenn er sagt, das Geschmacksurteil müsse »auf einem Gefühle beru­ hen, das den Gegenstand […] auf die Beförderung der Erkenntnißver­ mögen in ihrem freien Spiele beurtheilen läßt« (5: 287; Hervorhebung der Verf.). Der Gegensatz von Beförderung und Hinderung lässt sich in der dritten Kritik wiederfinden, wenn Kant sagt, dass das Schöne »ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt und daher mit Rei­ zen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist«, während beim Erhabenen das Gemüt »auch immer wieder abgestoßen« und eine Unlust als »Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte« erlebt wird (5: 244 f.). Makkreel sagt zu der Beförde­ rung des Lebens beim reinen Geschmacksurteil: »Das Spiel der Ein­ bildungskraft im Urteil über Schönheit dient dazu, die Tätigkeit unse­ res geistigen (mental) Lebens überhaupt zu intensivieren« (ibid.).9 Was Makkreels Ausdruck »geistiges Leben« angeht, ist anzu­ merken, dass Kant bei den Erläuterungen des Ausdrucks »Lebens­ gefühl« auf das Körperliche großes Gewicht legt. An der anderen Stelle aus der Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflectirenden Urtheile, wo dieser Ausdruck noch einmal auftaucht und das »Gemüt« mit dem »Leben« gleichgesetzt wird, sagt Kant, dass »das Leben ohne Gefühl des körperlichen Organs bloß Bewußtsein seiner Existenz« ist (5: 278; Hervorhebung der Verf.). Die mit Ver­ gnügen oder Schmerzen verbundenen Vorstellungen beziehen sich laut Kant auf die »Modification des Subjects« und »afficiren« erst das Lebensgefühl (5: 277). Und dass »immer Vergnügen und Schmerz zuletzt doch körperlich sei«, sei nicht zu leugnen (ibid.). Bei aller Betonung des Körperlichen bezüglich des Lebensgefühls ist jedoch zu vermuten, dass Kant mit dem »körperlichen Organ« nicht Obwohl Kant erklärt, dass ein Geschmacksurteil durch das Gefühl der Lust oder Unlust entschieden werde, thematisiert er nie das Gefühl der Unlust. In seinem Text ist nicht klar, ob diese Unlust eine Hemmung bzw. Hinderung der Lebenskräfte wie beim Erhabenen ist oder eher fehlende Förderung der Lebenskräfte. Zum Thema des Hässlichen bei Kant lässt sich die Forschungen laut Wenzel in zwei Richtungen unterteilen, die entweder gegen oder für die Möglichkeit eines negativen Geschmacks­ urteils bei Kant argumentieren (Wenzel 2005, 132). Es sei angemerkt, dass diese Untersuchung über die Erweiterung des Geschmacksurteils ohne eine Diskussion der Unlust auskommt, da die Erweiterung die gelingende Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, aus der sich das Gefühl der Lust ergibt. 9

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

die anatomischen Organe des menschlichen Körpers meint. Denn Kant zählt zu den Vorstellungen, die das Lebensgefühl affizieren, auch die Vorstellungen, die »ganz intellektuell« sind (5: 277). Und das Gemüt, um dessen Zustand es dem Lebensgefühl geht, ist etwas See­ lisches, nicht Körperliches. In § 20 der Kritik der Urteilskraft steht auch, dass Kant mit dem Gemeinsinn als ästhetischem Beurteilungs­ vermögen beim reinen Geschmacksurteil »keinen äußern Sinn« (5: 238) meint. Kant scheint an jener Stelle aus der Allgemeinen Anmer­ kung zur Exposition der ästhetischen reflectirenden Urtheile mit dem Ausdruck »körperlich« eine ästhetisch unmittelbar bewusste Ände­ rung des Gemütszustandes anhand einer Vorstellung zu meinen. Zusammenfassend lässt sich das Lebensgefühl damit als jenes »Gefühl des körperlichen Organs« begreifen, das ein ästhetisch unmittelbar wahrgenommenes Bewusstsein des Subjekts über die durch eine Vorstellung affizierte Modifikation seines eigenen Gemütszustandes bedeutet.

1.2.2. Belebung des Gemüts durch innere Kausalität a. Das Lebensgefühl als ein subjektbezogenes Gefühl Im Vergleich zu der vorhin zitierten Definition des Lebens aus der Kri­ tik der praktischen Vernunft zeigt Kants Stellungnahme zum Leben sowie zum Lebensgefühl in der Kritik der Urteilskraft eine Eigenart in Hinsicht auf die Kausalität der Vorstellung. In der zweiten Kritik bedeutet das Leben das Vermögen, einen Gegenstand durch eine Vorstellung desselben zu verwirklichen (5: 9 Anm.). Auch hier spielt das Gefühl der Lust hinein. Bei der erfolgreichen Verwirklichung bzw. einer Möglichkeit solchen Erfolgs entsteht die Lust (ibid.). Bemerkenswerterweise spricht Kant hier von der »Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects«, wobei die Vorstellung die Wirklichkeit des Objekts verursacht (ibid.). Dahinge­ gen sieht es beim Lebensgefühl in der dritten Kritik anders aus. Während im Kontext des Lebensbegriffs aus der zweiten Kritik die Vorstellung des Gegenstandes das Gemüt hinsichtlich der Her­ vorbringung des Gegenstandes völlig bestimmt und das Gefühl der Lust mit der Beurteilung der Zweckmäßigkeit für seine Hervorbrin­ gung verbunden ist, kommt es beim Lebensgefühl in der dritten Kritik darauf an, wie es dem Gemüt ergeht, wenn es durch eine

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

Vorstellung affiziert wird. Dabei wird eine Zweckvorstellung, die außerhalb des Gemüts liegt, beiseitegelassen. Es geht um Wohlbefin­ den oder Unwohlsein (Vergnügen oder Schmerz) des Gemüts selbst. Dabei scheint der Zusammenhang zwischen der Vorstellung und dem Gemüt beträchtlich gelockert zu sein. Was das Lebensgefühl betrifft, besteht das entscheidende Anliegen des Subjekts also eher darin, ob es seinem Gemüt wohl oder übel ergeht, als darin, welche Vorstellung positiv oder negativ auf sein Gemüt einwirkt. Die vorhin zitierte Passage aus § 1 besagt, dass das Lebensgefühl die Vorstellung des Gegenstandes »gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält« (5: 204). Zum Bewusstsein der Vorstellung geht dieser Passage Kants Aussage voran, dass das Subjekt »sich dieser Vorstellung mit der Empfindung des Wohlgefallens bewußt« werde (ibid.). Unter der Annahme, dass bei dieser Art der Empfindung das Ergehen des Gemüts bedeutsam ist, scheint die Vorstellung die Unter­ scheidung bzw. die Beurteilung durch das Wohlgefallen oder Miss­ fallen lediglich zu begleiten. Die Vorstellung und das Wohlgefallen im Bewusstsein finden durch das Lebensgefühl zu keinem ausbalan­ cierten Gleichgewicht. Hier überwiegt das Wohlgefallen, denn das Lebensgefühl beim reinen Geschmacksurteil ist »das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objecte bezeichnet wird, sondern in der das Subject, wie es durch die Vorstellung afficirt wird, sich selbst fühlt« (ibid.; Hervorhebung der Verf.). Zu dieser Charakteristik des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil schlussfolgert Makkreel: »Während bestimmende Urteile die Existenz von Gegenständen in der Natur bejahen oder bestreiten, kann von reflektierenden Urteilen in der Ästhetik gesagt werden, daß sie die Vitalität des Subjekts beja­ hen oder verneinen« (Makkreel 1997, 126). Diese Subjekt-Orientiertheit des Lebensgefühls beim reinen Geschmacksurteil eröffnet eine neue Perspektive bezüglich des Begriffs »Kausalität«. Der Definition des Lebens aus der zweiten Kri­ tik zufolge geht es um die »Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects« (5: 9 Anm.). Eine solche Kausalität, in welcher die Vorstellung als »Ursache« der Beschaffenheit des Gegenstandes fungiert (ibid.), ist im Begriff des Lebensgefühls zwar nicht enthalten, denn das Lebensgefühl wird durch eine Vorstellung bloß erregt bzw., in Kants Worten, »veranlaßt« (5: 218). Jedoch ist nicht zu leugnen, dass auch beim Lebensgefühl die Vorstellung für das Geschehen des Lebensgefühls verantwortlich ist. Das bedeutet, hinsichtlich dieses Geschehens besteht doch ein Kausalverhältnis.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Wenn Kant aber in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft tatsächlich das Thema der Kausalität anschneidet, geschieht dies aus einem ganz anderen Blickwinkel. Darauf soll nun eingegangen werden.

b. Beförderung des Lebens durch Selbsttätigkeit Die Subjektorientiertheit des Lebensgefühls beschränkt die Rolle des Objekts dahin gehend, dass Kant formuliert, der für das Geschmacks­ urteil typische Gemütszustand werde durch »eine innere Causalität« erhalten (5: 222), d. h. durch ein kausales Verhältnis, das innerhalb des Subjekts zu betrachten ist. Obwohl ein kausales Verhältnis zwischen der Vorstellung des Objekts als Auslöser und dem durch sie ausgelös­ ten Zustand des Subjekts besteht, lässt Kant hier die Aufmerksamkeit auf das Objekt beiseite. Dies scheint etwas mit Kants nachdrücklicher Betonung des Unterschieds zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem Urteil über das Angenehme zu tun zu haben, welches ebenfalls eine Beur­ teilung durch ein unmittelbares Wohlgefallen ist. Das Wohlgefallen beim Angenehmen ist eine Sinnesempfindung, die das Gemüt in seiner Passivität gleichsam vom Objekt empfängt, und die sich auf das Objekt selbst bezieht, d. h. auf das tatsächliche Vorhandensein desselben. Dahingegen ist das Wohlgefallen beim Schönen ein Gefühl der Lust, das zwar ebenfalls eine Empfänglichkeit des Subjekts voraus­ setzt, aber niemals »passiv« ist (5: 222). Außerdem fehlt ihm das Interesse an der Existenz des Gegenstandes. Kants Zuschreibung der Selbsttätigkeit gegenüber dem Gemüt beim reinen Geschmacksurteil erfolgt mit der Verwendung zweier Begriffe: (1) Innere Kausalität; (2) Wechselseitige Beförderung der Erkenntniskräfte. (1) Kant sagt zur inneren Kausalität: »Sie [sc. Die Lust beim rei­ nen Geschmacksurteil] hat aber doch Causalität in sich, nämlich den Zustand der Vorstellung selbst und die Beschäftigung der Erkennt­ nißkräfte ohne weitere Absicht zu erhalten. Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproducirt« (5: 222; Hervorhebung der Verf.). Es sei auch darauf hingewiesen, dass Kant an der gleichen Stelle diese »Beschäftigung der Erkenntnißkräfte« als deren freies Spiel bezeichnet, welches oben in 1.1 besprochen wurde. Das Wort »Freiheit« bedeutet bei Kant nicht bloß, dass etwas keinem Zwang ausgesetzt ist, sondern auch eine aktive Selbstbestimmung, an die auch der Begriff der praktischen Freiheit erinnert. Indem das freie Spiel der Erkenntniskräfte und die

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

innere Kausalität in engen Zusammenhang treten, tritt der aktive Charakter des Subjekts beim Lebensgefühl deutlicher zutage. Freilich ist dieses Gefühl der Lust insofern eine Empfänglichkeit des Subjekts, als es durch eine Vorstellung des Objekts affiziert wor­ den ist (5: 204), das außerhalb des Subjekts liegt, wie es auch beim Gefühl des Angenehmen der Fall ist. In dieser Hinsicht spricht Kant von der Kausalität zwischen Vorstellung und Zustand des Subjekts, wenn er in § 10 der Kritik der Urteilskraft eine allgemeine Definition der Lust vorlegt: »Das Bewußtsein der Causalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjects, es in demselben zu erhalten, kann hier im Allgemeinen das bezeichnen, was man Lust nennt« (5: 220). Aber wenn Kant von einer inneren Kausalität für ein reines Geschmacksurteil spricht, impliziert er damit, dass in diesem spezi­ ellen Fall die Vorstellung des Objekts in der Tat bloß als Anlass für die Tätigkeit des Gemüts fungiert, in der das Gemüt die Vorstellung für die Aktivierung seiner Selbsttätigkeit nutzt. Sofern Kants Aussage über die innere Kausalität übernommen wird, muss das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil nicht als Bewusstsein der Wir­ kung des Objekts auf das Subjekt, sondern als Bewusstsein der inneren Kausalität des Gemüts angesehen werden. In diesem Sinne richtet sich der Urteilende beim reinen Geschmacksurteil also eher auf die Selbst­ tätigkeit seines Gemüts als auf das Verhältnis zwischen dem Objekt und seinem Gemüt. Kant scheint auf diesen Punkt anzuspielen, als er zum Ende seiner Einleitung in die Kritik der Urteilskraft dem freien Spiel der Erkenntniskräfte eine »Spontaneität« zuspricht (5: 197). Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil ist das Bewusstsein vom freien Spiel der Erkenntniskräfte, das auf der Spontaneität des Gemüts beruht.10 (2) Die Tätigkeit des Gemüts bei der inneren Kausalität, in der die Tätigkeit der Erkenntniskräfte »sich selbst stärkt und reproducirt« (5: 222), führt zur Beförderung von sich selbst. Diese selbstbefördernde Tätigkeit nennt Kant auch das freie Spiel der Erkenntniskräfte, wie bereits verdeutlicht wurde. Sie ist in den vorhin zitierten Formulierun­ gen Kants über die innere Kausalität dahin gehend dargestellt, dass das Gemüt als eine Einheit in Beziehung zu sich selbst tritt. 10 Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil hat also einen speziellen Status zwischen der Empfänglichkeit und der Spontaneität. Um dies zu verdeutlichen, weist Makkreel auf den »inwendigen Sinn (sensus interior)« in Kants Anthropologie (7: 153) hin, der »sowohl von der Passivität des inneren Sinns als auch von der Aktivität des Verstandes unterschieden werden« muss (Makkreel 1997, 124).

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Jedoch schlägt Kant einen anderen Standpunkt zum selben Gemütszustand vor, indem er wiederholt eine »wechselseitige« Beziehung der Einbildungskraft und des Verstandes formuliert. Kant spricht von »der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit« (5: 287, Hervorhebung der Verf.). Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil sei »kein anderes Bewußtsein [...], als durch Empfindung der Wirkung, die im erleichterten Spiele beider durch wechselseitige Zusammenstimmung belebten Gemüthskräfte (der Ein­ bildungskraft und des Verstandes) besteht« (5: 219). Bei dieser Kon­ stellation spielt die Vorstellung des Gegenstandes ebenfalls keine Hauptrolle, wenn Kant sie als »das wechselseitige Verhältniß des Verstandes und der Einbildungskraft zu einander in der gegebenen Vorstellung« schildert (5: 286; Hervorhebung der Verf.). Dergleichen Verständnis der Selbsttätigkeit des Gemüts hängt mit der Perspektive auf die Zweckmäßigkeit beim reinen Geschmacksurteil zusammen, die möglichst vom Objekt abstrahie­ ren und zugleich die Zweckmäßigkeit als wechselseitiges Verhältnis zwischen den Erkenntniskräften betrachten will. Damit wird sich Abschnitt 2.2 noch auseinandersetzen.

1.2.3. Mehr als ein Wohlgefallen – Bewusstsein der Allgemeingültigkeit im Gefühl der Lust In das Funktionsgerüst des reinen Geschmacksurteils integriert Kant neben dem Gefühl der Lust noch ein rationales Element, durch das der Allgemeingültigkeitsanspruch erhoben wird: Der Urteilende des reinen Geschmacksurteils ist sich dabei der Allgemeingültigkeit seines Gefühls bewusst und diese wiederum kann nicht durch einen Begriff, sondern durch das Gefühl bewusst werden. Diese uneindeu­ tige Erläuterung Kants führte zu verschiedenen Interpretationen, auf welche dieser Abschnitt eingehen wird. Das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil ist mit der »bloßen Auffassung« (5: 189) bzw. mit der »bloßen Beurtheilung« (5: 289) der Vorstellung eines Gegenstandes »unmittelbar […] verbun­ den« (5: 189; 5: 289). Oben wurde bereits verdeutlicht, dass dieses Gefühl, welches Kant »Lebensgefühl« nennt, »ein ganz besonderes Unterscheidungs= und Beurtheilungsvermögen gründet« (5: 204) und dass dabei unterschieden und beurteilt wird, ob die Vorstellung

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

das Leben bzw. Gemüt befördert oder hindert. Jedoch gibt es noch einen wichtigen Beurteilungsfaktor beim reinen Geschmacksurteil. In der Theorie des reinen Geschmacksurteils hält Kant an der Ansicht fest, dass der Faktor der Allgemeingültigkeit beim reinen Geschmacks­ urteil immer präsent sei. Nachfolgend wird auf die Stellen eingegan­ gen, welche diese Ansicht stützen. In § 37 der Kritik der Urteilskraft äußert Kant: »Also ist es nicht die Lust, sondern die Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurtheilung eines Gegenstandes im Gemüthe als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine Regel für die Urtheilskraft, für jedermann gültig, in einem Geschmacksur­ theile vorgestellt wird« (2: 289).

Diese Passage lässt erkennen, dass das besprochene Lebensgefühl im Sinne eines Bewusstseins des eigenen Gemütszustandes, in dem die Erkenntniskräfte bei der bloßen Beurteilung bzw. Auffassung einer Vorstellung des Gegenstandes zum freien Spiel miteinander erregt werden, in der Tat kein bloßes Wohlgefallen ist, sondern ein Moment der Allgemeingültigkeit dieses Wohlgefallens enthält. In der Diskussion über den Gemeinsinn in § 20 sagt Kant, dass der Urteilende eines reinen Geschmacksurteils durch ein Gefühl der Lust oder Unlust das Wohlgefallen oder Missfallen (d. h. die Beför­ derung oder Hinderung) »allgemeingültig bestimme« (5: 238). Die­ ses Prinzip und zugleich das Beurteilungsvermögen nennt Kant Gemeinsinn. Die Passage lautet: »Also müssen sie ein subjectives Princip haben, welches nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle. Ein solches Princip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen werden« (5:238).

Hier schreibt Kant dem Urteilen über das Wohl- oder Missfallen die Allgemeingültigkeit zu. Diese Allgemeingültigkeit ist letztlich die Allgemeingültigkeit des Wohl- oder Missfallens, die in der vorhin zitierten Passage aus § 37 erwähnt wird. Diese Allgemeingültigkeit wird »im Gemüthe […] wahrgenommen« (2: 289), d. h., jemand wird sich dieser Allgemeingültigkeit im eigenen reinen Geschmacksurteil bewusst. Diesbezüglich meint Kant in § 40, dass das Subjekt durch Geschmack sogar über den Grund dieser Allgemeingültigkeit urteile:

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

»Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurtheilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittelung eines Begriffs allgemein mittheilbar macht, definiren« (5: 295; Hervorhebung der Verf.).

Kant äußert mehrmals seine Ansicht, dass der Urteilende sich der Allgemeingültigkeit seines Gefühls bzw. Gemütszustandes bewusst ist, sofern er ein reines Geschmacksurteil fällt: »[…] wir uns bewußt sind, daß dieses zum Erkenntniß überhaupt schickliche subjective Verhältniß eben so wohl für jedermann gel­ ten und folglich allgemein mittheilbar sein müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntniß ist, die doch immer auf jenem Verhältniß als subjectiver Bedingung beruht« (5: 218). »[…] sie [sc. die Lust] ist doch der Bestimmungsgrund dieses Urtheils nur dadurch, daß man sich bewußt ist, sie beruhe bloß auf der Refle­ xion und den allgemeinen, obwohl nur subjectiven, Bedingungen der Übereinstimmung derselben zum Erkenntniß der Objecte überhaupt« (5: 191).

Kants fester Überzeugung zufolge wird sich der Urteilende bewusst, dass sein Gefühl auf dem allgemeingültigen Verhältnis der Erkennt­ niskräfte beruht, das zur Erkenntnis überhaupt »schicklich« ist. Diese »subjektive Bedingung« für jede Erkenntnis, die »zu einem Erkennt­ nisse überhaupt erforderlich ist« (5: 218), ist gerade das, »was unser Gefühl […] allgemein mittheilbar macht« (5: 295). Den eben zitierten Passagen ist gemein, dass sie zwei Momente des Bewusstseins bei einem reinen Geschmacksurteil berühren: Das Moment des Fühlens und das des Urteilens über die Allgemein­ gültigkeit des Gefühls. Hauptsächlich unter den englischsprachigen Kant-Interpreten regen sich seit längerer Zeit Diskussionen darüber, wie sich diese beiden Momente in ein Geschmacksurteil integrieren lassen. Unter anderen hat Guyer in seinem einflussreichen Buch Kant and the Claims of Taste behauptet, ein Geschmacksurteil bestehe aus zwei Phasen, nämlich aus dem Lustempfinden und einem weiteren Urteilsakt, durch den erst sich ein Geschmacksurteil sowie seine For­ derung auf die Allgemeingültigkeit ergäben. Bei dieser Interpretation wird die (bloße) »Beurtheilung« des Gegenstandes, die im wechselsei­ tigen, frei spielenden Verhältnis zwischen Erkenntniskräften besteht, von einem Geschmacksurteil unterschieden.

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1.2. Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil

Dahingegen hat Ginsborg Guyers »Zwei-Akte-Theorie« (Gins­ borg 2008, 73)11 kritisiert und in eigener Stellungnahme zu diesem Thema vorgeschlagen, dass sich das Lustempfinden sowie die Beur­ teilung des Gegenstandes nicht vom Geschmacksurteil selbst unter­ scheiden ließen, das ihn für schön hält. Sie sagt dazu: »So sind Lust und Urteil letztendlich ein- und dasselbe, obwohl wir auch ihr Ver­ hältnis charakterisieren können, indem wir sagen, die Lust sei die phänomenologische Manifestation des Urteilsakts, oder auch, wie Kant es manchmal auch tut, daß wir »vermittelst« (XX 229) oder »durch« (§ 5: 211) die Lust urteilen« (Ginsborg 2008, 74). Wenzel hat sich ebenfalls mit Guyers und Ginsborgs Interpre­ tationen auseinandergesetzt (Wenzel 2000). Den Anfang seiner Dis­ sertation widmet er der Kritik an sieben Interpreten. Gegen Ginsborgs Kritik an Guyer wendet Wenzel dabei ein, dass Guyers Fehler »nicht in der Untersuchung verschiedener Momente, sondern nur in der zeitlich-genetischen Anordnung dieser Momente« liegt (Wenzel 2000, 62 f.; Hervorhebung im Original). Wenzel meint, dass Ginsborg den gleichen Fehler empiristischer Sichtweise begeht, denn ihre »Identi­ fikationen [verschiedener Momente] übersehen und unterdrücken den urteilslogischen Aspekt des Geschmacksurteils und sehen es ein­ seitig als einen bloß empirischen Akt und ein Ereignis« (Wenzel 2000, 63; Hervorhebung der Verf.). Wenzels Aussage, dass Guyer und Ginsborg auf ein reines Geschmacksurteil eine empirische Sichtweise anwenden und dass dies jeweils ein Problem darstellt, scheint valide. So muss Guyer gar des­ halb eine Passage in § 9 der Kritik der Urteilskraft zum Fehler Kants erklären, weil diese nicht zur Annahme einer selbst entworfenen zeit­ lich-genetischen Anordnung passt (Guyer 1979, 151‒160 and 1983, 33‒48; Ginsborg 2008, 73). Ginsborg scheint tatsächlich durch ihre »Identitätsthese« (Wenzel 2000, 58) verschiedene Aspekte eines rei­ nen Geschmacksurteils auf »einen bloß empirischen Akt und ein Ereignis« zu reduzieren. Kant scheint in seiner Theorie des reinen Geschmacksurteils auch nicht auf die Erläuterung dessen abzuzielen, wie eine ästhetische Erfahrung durch ein reines Geschmacksurteil genau aussieht oder durch welchen Prozess ein solches Urteil zustande kommt. Dafür sind 11 In diesem Aufsatz vom einführenden Charakter aus dem Jahr 2008 fasst Ginsborg ihre eigenen Schriften aus den Neunzigerjahren (Ginsborg 1990, 1991) zusammen. Da sie englischsprachig verfasst sind, wird hier der sprachlichen Bequemlichkeit halber der Aufsatz von 2008 zitiert, der auf Deutsch veröffentlicht wurde.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Kants Erläuterungen zu ungenau und manchmal in der Gesamtheit unstimmig. In dieser Hinsicht wäre es klüger, sich auf die urteilslogi­ schen und transzendental-logischen Elemente in Kants Theorie zu konzentrieren, wie Wenzel es in seiner Dissertation auch tut. Trotzdem spricht Kant in der Tat sehr häufig vom Bewusstsein des Urteilenden des Geschmacks, wie vorhin deutlich wurde, was er in der ersten Kritik kaum tut, obwohl sich der urteilslogische und transzendental-logische Charakter der Kritik der ästhetischen Urteilskraft an den der ersten Kritik anlehnt. Dies rührt von den folgenden zwei Eigentümlichkeiten des Sachverhalts her, mit dem sich die erste Hälfte der dritten Kritik beschäftigt. Erstens ist es der Gemütszustand, der den »allgemeinen Beziehungspunkt« bzw. den »Bestimmungsgrund des Urtheils über diese allgemeine Mittheilbar­ keit« eines reinen Geschmacksurteils ausmacht (5: 217). Denn im rein ästhetischen Urteil muss ein solcher »ohne einen Begriff vom Gegen­ stande, gedacht werden« (ibid.). Zweitens wird dieser Gemütszustand beim reinen Geschmacksurteil nur ästhetisch, unmittelbar durch das Gefühl der Lust oder Unlust, »bewußt« (5: 218). Ein Geschmacksurteil entsteht durch das eigene Bewusstsein vom eigenen Gemütszustand im Gefühl der Lust. Genau in dieser Hinsicht spricht Kant von der »Autonomie« des Geschmacksurteils: »Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urtheile sich zum Bestimmungs­ grunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie« (5: 282). Deshalb muss jeder eine persönliche Erfahrung des Gefühls der Lust machen und sich seines eigenen Gemütszustandes bewusst werden, um ein Urteil über die Schönheit zu fällen. Kant erwähnt hierzu häufig das »Bewusstsein« des Urteilen­ den. In dieser Hinsicht wird die Wenzelsche Position, die nur den urteilslogischen Aspekt des Geschmacksurteils hervorhebt und den empirischen Charakter desselben »unterdrückt« (Wenzel 2000, 63), geschwächt. Wegen der Unhintergehbarkeit des empirischen Charakters des Geschmacksurteils könnte Kant seine Äußerungen in Bezug auf das »Bewußtsein« durch die ästhetische Wahrnehmung nicht vermeiden, auch wenn er in solchen Äußerungen zugleich die geltungslogischen Elemente bezüglich der Allgemeingültigkeit des Urteils zum Aus­ druck bringt. Folglich scheinen mehrere Stellen Kants zu besagen, dass geltungslogische Sachverhalte, die sich in transzendental-logi­ scher Sprache formulieren lassen, im Bewusstsein des Urteilenden ästhetisch wahrgenommen werden. Werden solche Aussagen Kants

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

wörtlich genommen, entsteht leicht Verwirrung, da der Urteilende sich im Gefühl mit komplizierten transzendental-logischen Gedanken beschäftigen sollte.12 Da das Gefühl der Lust in der philosophischen Methode Kants solche Unbequemlichkeit hervorruft, konstatiert Kant in § 31 der Kri­ tik der Urteilskraft, dass er vom Gefühl der Lust als dem Inhalt des Geschmacksurteils abstrahiert und nur die Form des Urteils übrig lässt, um mit der Deduktion zu beginnen (5: 281). Indem Kant das reine Geschmacksurteil als ein synthetisches Urteil a priori und das Zeigen der Möglichkeit der Synthesis a priori als die Aufgabe der Deduktion verkündet, steht das Gefühl der Lust jedoch wieder im Mittelpunkt. Denn bei einem synthetischen Urteil a priori geht es um die Synthesis der Vorstellung des Gegenstandes mit dem Prädikat und hier spielt das Gefühl der Lust die Rolle des Prädikats (5: 288 f.). Der nächste Abschnitt kommt auf die Aufgabe der Deduktion zurück. Die wesentliche Rolle des Gefühls der Lust lässt sich auch in der Erweiterung des Geschmacksurteils beobachten, die andererseits einer sehr komplexen und spekulativen Reflexion bedarf. Dabei spielt solch eine Rolle das Gefühl der Lust gegenüber der Erfüllungsmög­ lichkeit der Pflicht des höchsten Guts. Diese Lust ist mit dem intellek­ tuellen Interesse am Naturschönen verbunden und bezieht sich auf die Motivation zur Ausführung der Pflicht. Näheres zur Funktion des intellektuellen Interesses wird später besprochen.

1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils Wie bisher verdeutlicht wurde, ist ein reines Geschmacksurteil auf seinen eigenen Zustand, d. h. auf die Tätigkeiten der Erkenntniskräfte innerhalb seines Subjekts, ausgerichtet. Und dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit nicht auf die Tatsache, dass dennoch ein Objekt außerhalb des Subjekts jenen Zustand ausgelöst hat. Wenn Kant einem reinen Geschmacksurteil »X ist schön« den Status eines Urteils zuschreibt, ist dieses Urteil der Beschränktheit ausgesetzt, dass dem ihm zugrunde liegenden Gefühl als Prädikat des Urteils die notwen­ 12 Anscheinend hat Guyer in seinem zweistufigen Interpretationsmodell das ästhe­ tische Fühlen und die vernünftige Tätigkeit deshalb getrennt, weil er es unbequem findet, dass zwei Elemente in Kants Text immer wieder zusammenstoßen (Guyer 1979; 1983).

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

dige Verbindung mit X fehlt. Hier ergibt sich die Frage, wie es um den Anspruch oder dessen Berechtigung bezüglich des reinen Geschmacksurteils bestellt ist. Tatsächlich lässt sich eine solche in Kants Deduktion, d. h. im Rechtfertigungsversuch des Anspruchs eines reinen Geschmacksurteils, beobachten. Es wird ersichtlich wer­ den, dass sich die Deduktion in ähnlich beschränkter Weise vollzieht wie das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil, weshalb sie ihrer ursprünglich intendierten Aufgabe nicht gerecht wird, die sich auf das Verhältnis zwischen dem Urteilenden und dem Objekt außer­ halb von ihm richtet.

1.3.1. Aufgabe der Deduktion Was für einen Anspruch will Kant mit seiner Deduktion des reinen Geschmacksurteils rechtfertigen? Im § 36 der Kritik der Urteilskraft, der bereits der Überschrift nach der Erläuterung der »Aufgabe einer Deduction der Geschmacksurtheile« gewidmet ist, lässt Kant erken­ nen: Es geht um den Anspruch, den das Geschmacksurteil als ein Urteil haben kann.13 Ein Urteil ist die Verbindung zwischen einem Subjekt und einem Prädikat durch die Kopula »ist«. Das »Verhältnis­ wörtchen ist« (KrV B 141) kann nach Ansicht Kants in der ersten Kritik nur bei einer notwendigen Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat zugeteilt werden, die durch »die reine Synthesis des Verstandes« (KrV B 140), durch die reinen Verstandesbegriffe, d. h. Kategorien, zur objektiven Einheit kommt (5:288). Diese Art von Einheit sei »allein objektiv gültig« (KrV B 140). Alle anderen Arten von Synthesis des Mannigfaltigen haben nur subjektive Gültigkeit, erklärt Kant in sei­ ner ersten Kritik.14 Nun erhebt das reine ästhetische Urteil über das In der gleichen Hinsicht hat Kant bereits im letzten Satz des § 31 der Kritik der Urteilskraft erklärt, dass er für die Deduktion »anfänglich von allem Inhalte [...], näm­ lich dem Gefühle der Lust, abstrahiren und bloß die ästhetische Form mit der Form der objektiven Urtheile […] vergleichen« wird (5: 281). Damit meint er den Vergleich zwischen beiden Urteilsarten hinsichtlich des urteilslogischen Aspekts, der im Ver­ hältnis des Subjekts zum Prädikat in § 36 zur Feststellung führt, dass beide Urteils­ arten gemeinsam als synthetische Urteile a priori betrachtet werden können (5: 289). 14 »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv, und muß von der subjektiven Einheit des Bewußtseins unterschieden werden, die eine Bestimmung des inneren Sinnes ist, dadurch jenes 13

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

Schöne, in dem zwischen der Vorstellung des Objekts und dem Gefühl der Lust oder Unlust15 keine objektive Einheit durch Kategorien zustande kommt, ebenfalls den Anspruch eines Urteils, d. h. den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit (5:281). Diese Erscheinung widerspricht der obigen Ansicht in der ersten Kritik. Es wird notwendig zu erklären, wie ein reines Geschmacksurteil zu sol­ chem Anspruch gelangt. In diesem Kontext formuliert Kant die Auf­ gabe der Deduktion des reinen Geschmacksurteils in der Form der folgenden Frage: »[W]ie ist ein Urtheil möglich, das bloß aus dem eigenen Gefühl der Lust an einem Gegenstande unabhängig von dessen Begriffe diese Lust, als der Vorstellung desselben Objects in jedem andern Subjecte anhängig, a priori, d. i. ohne fremde Beistimmung abwarten zu dürfen, beurtheilte?« (5: 288; Hervorhebung der Verf.). Zwei Punkte werden deutlich: (1) Der Anspruch des reinen Geschmacksurteils bezieht sich auf die allgemeingültige Synthesis der Vorstellung des Objekts mit der Lust; (2) Dieser Anspruch stützt sich auf das »eigene« Gefühl der Lust. Sofern diese Deduktion die Mög­ lichkeit einer allgemeingültigen Synthesis a priori betrifft, hat sie eine Gemeinsamkeit mit der Transzendentalen Analytik in der ersten Kri­ tik: »Daß Geschmacksurtheile synthetische sind, ist leicht einzuse­ hen, weil sie über den Begriff und selbst die Anschauung des Objects hinausgehen und etwas, das gar nicht einmal Erkenntniß ist, nämlich Gefühl der Lust (oder Unlust), zu jener als Prädicat hinzuthun. […] so gehört diese Aufgabe der Kritik der Urtheilskraft unter das allge­ meine Problem der Transcendentalphilosophie: wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? « (5: 288 f.). Es ist anzumerken, dass, obwohl Kant hierdurch auf die Gemein­ samkeit zwischen der Transzendentalen Deduktion und der Deduk­ tion der reinen Geschmacksurteile hinweist, in der dritten Kritik eine unterschiedliche Vorgehensweise hinsichtlich der Rechtfertigung von Mannigfaltige der Anschauung zu einer solchen Verbindung empirisch gegeben wird. [...] Daher die empirische Einheit des Bewußtseins, durch Assoziation der Vorstell­ ungen, selbst eine Erscheinung betrifft, und ganz zufällig ist. [...] Jene Einheit ist allein objektiv gültig; die empirische Einheit der Apperzeption [...] hat nur subjektive Gül­ tigkeit [...] und [...] ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend« (KrV B 139 f.). 15 Hinsichtlich des Satzbaus von einem Geschmacksurteil, »X ist schön«, ist das Prä­ dikat zwar das Adjektiv »schön«. Aber Kant bezeichnet in §§ 36 f. nicht weniger als dreimal das Gefühl der Lust bzw. die Lust als Prädikat eines Geschmacksurteils. Denn es ist das Gefühl der Lust, welches im Bewusstsein des Urteilenden eine Synthesis mit der Vorstellung des Gegenstandes bildet (5: 288).

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Synthesis erkennbar wird. In der Transzendentalen Deduktion geht es zunächst um das Recht der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien), sich auf sinnliche Anschauungen anwenden zu lassen. Die Notwen­ digkeit der Verbindung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat (im Sinne der Urteilslogik) lässt sich erst nachträglich durch die synthetisierende Funktion des Verstandes durch Kategorien erklären. Es sind ja schließlich die Kategorien selbst, die in der Transzendentalen Deduktion gerechtfertigt werden. Es ist dahingegen die Allgemeingültigkeit der Verbindung zwi­ schen dem Subjekt und dem Prädikat, deren Nachweis in der Deduk­ tion der reinen Geschmacksurteile benötigt wird. Es handelt sich hier um die Verbindung von heterogenen Elementen. Nicht wie beim Erkenntnisurteil, in dem das Prädikat eine Eigenschaft des Objekts präsentiert und mit der Vorstellung des Objekts durch die Verstan­ desfunktion untrennbar a priori vereinheitlicht ist, sind das Prädikat und die Vorstellung des Objekts bei einem reinen Geschmacksurteil heterogen. Denn hier ist das Prädikat keine Eigenschaft des Objekts. Vielmehr ist das Prädikat als Gefühl der Lust auf den Zustand des Subjekts (des Urteilenden) bezogen, wie vorhin gesehen wurde. Doch begegnet man Kants auf das Verhältnis zwischen hetero­ genen Elementen im reinen Geschmacksurteil gerichteten Aufmerk­ samkeit nicht zum ersten Mal. Denn Kant nennt bereits in § 30 (im allerersten § der Deduktion) das zweckmäßige Verhältnis zwischen heterogenen Elementen als Grund für den Bedarf an einer Deduktion des Geschmacksurteils (gegenüber der Überflüssigkeit einer Deduk­ tion des Urteils über das Erhabene). Nachher wird ersichtlich, dass die Charakteristik der Heterogenität im Geschmacksurteil dem Urheber eines reinen Geschmacksurteils einen Anlass gibt, seine auf den eige­ nen Zustand begrenzte Aufmerksamkeit auf eine andere Ebene aus­ zuweiten, und dass sich daraus die Erweiterung des Urteils ergibt. Die von Kant tatsächlich ausgeführte Deduktion der reinen Geschmacksurteile konzentriert sich jedoch auf die Etablierung der Allgemeingültigkeit des speziellen Verhältnisses der Erkenntnis­ kräfte selbst und damit nicht auf die Etablierung der Allgemeingültig­ keit der Verbindung zwischen einer Vorstellung des Gegenstandes und dem Gefühl der Lust, sodass die oben dargestellte Aufgabe der Deduktion völlig vernachlässigt wird. Dies tritt bei der gleich folgenden Überprüfung des Arguments der Deduktion zutage.

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

1.3.2. Argument der Deduktion und Fehler der Äquivokation Der § 38 trägt die Überschrift »Deduktion der Geschmacksurtheile« und gibt dadurch zu erkennen, dass dieser zweiteilige § Hauptort der Durchführung der Deduktion ist. Er besteht aus einem mit einer Fuß­ note versehenen Hauptteil und einer »Anmerkung«. Das Argument des relativ kurzen Hauptteils lässt sich so wiedergeben: (a) Wenn das Kriterium der Reinheit beim Fällen eines Geschmacksurteils einge­ halten wird, richtet sich dieses Geschmacksurteil ausschließlich auf »die subjectiven Bedingungen des Gebrauchs der Urtheilskraft über­ haupt«. (b) Diese Bedingungen kann »man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen« (5:290). (c) Damit berechtigt sich der Urheber eines solchen Geschmacksurteils zum Anspruch der Allgemeingültigkeit desselben. Um dieses Argument zu vervollständigen, muss Kant noch weitere zwei Punkte erhellen: (1) Inwiefern das Prinzip eines Geschmacksurteils mit den subjektiven Bedingungen der Urteilskraft überhaupt übereinstimmt. Diese Frage richtet sich auf die Prämisse (a). Denn es ist nicht selbstverständlich, dass eine spezielle Anwen­ dung der Urteilskraft bezüglich des Schönen »die subjectiven Bedin­ gungen des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt« vertritt; (2) Inwiefern jene Bedingungen der Urteilskraft allgemeingültig sind. Diese Frage bezieht sich auf den Punkt (b). Es ist diese Prämisse, auf die das Fazit des Arguments aufbaut. Folglich bedarf sie einer sorgfältigen Erklärung. Die Antwort auf (1) findet sich in § 35 der Kritik der Urteils­ kraft, wo Kant das Prinzip des Geschmacksurteils mit der »formalen Bedingung eines Urtheils überhaupt« gleichsetzt (5: 287). Dort erklärt Kant, dass dergleichen Prinzip »zweier Vorstellungskräfte Zusam­ menstimmung« ist (ibid.). Prima facie lässt sich dieses Prinzip als das betrachten, was bei jedem Gebrauch der Urteilskraft zum Einsatz kommt. Kants Explizieren jenes Prinzips entwickelt sich aber in eine andere Richtung. Das genannte Prinzip der »Zusammenstimmung« ist nach Kant »ein Princip der Subsumtion, aber nicht der Anschau­ ungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt« (ibid.). Die ursprüngliche Tätigkeit der Urteilskraft liegt jedoch nicht in der Subsumtion zwischen Erkenntniskräften, sondern in der Subsumtion

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

des Besonderen unter das Allgemeine. Die »Subsumtion […] des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbil­ dungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. den Verstand)« muss als metaphorischer Ausdruck betrachtet werden, der ein spezi­ fisches Sachverhältnis darstellt. Die »formale Bedingung eines Urtheils überhaupt« ist schließlich keine notwendige Bedingung für jeden Gebrauch der Urteilskraft, sondern sie stellt einen speziellen Fall des Gebrauchs der Urteilskraft dar, der eher als Ausnahme gilt.16 Eine Antwort auf (2) scheint Kant in seiner Fußnote zum Haupt­ teil des § 38 versucht zu haben. In »1)« der Fußnote sagt Kant, dass die subjektiven Bedingungen der Urteilskraft als erforderliche Bedin­ gungen für Erkenntnis gerade deshalb allgemeingültig sein müssen, weil ansonsten »Menschen ihre Vorstellungen und selbst das Erkenntniß nicht mittheilen könnten« (5:290). Dieses Argument scheint zwar nachvollziehbar, da es hier um die Relation zwischen der Erkenntnis und deren notwendiger Bedingung geht. Wir haben jedoch gerade gesehen, dass die in der Deduktion zu rechtfertigenden »sub­ jektiven Bedingungen der Urteilskraft« als Prinzip des Geschmacks­ urteils in der Tat nicht die Bedingungen sind, die sich tatsächlich als notwendige Bedingung für eine Erkenntnis ansehen lassen. Die genannten subjektiven Bedingungen der Urteilskraft, deren Allge­ meingültigkeit Kant hier zeigen will, sind schließlich nichts anderes als das spezielle Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand, mit anderen Worten das freie Spiel zwischen ihnen. Dieses ist keine notwendige Bedingung für eine Erkenntnis, denn bei einer Erkenntnis geschieht das freie Spiel in der Tat nicht. Sie besteht grundsätzlich in einer objektiven Einheit des Mannigfaltigen, wobei die Einbildungs­ kraft sozusagen durch Kategorien unter die Verstandesfunktion gefes­ selt werden muss. In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass Kant hier den logischen Irrtum der Äquivokation begeht, indem er den Ausdruck »subjektive Bedingungen der Urteilskraft« innerhalb eines Arguments seiner Deduktion doppeldeutig verwendet. Denn wo Kant auf den Beweis 16 Trotzdem ist der Versuch zu unternehmen, die von Kant vertretene These zu verstehen, dass die subjektive Bedingung des reinen Geschmacksurteils nichts anderes als subjektive Bedingung der Erkenntnis bzw. der Urteilskraft überhaupt sei. Manfred Baum legt eine plausible Interpretation vor, nach der das freie Spiel nicht die notwen­ dige Bedingung für eine konkrete Erkenntnis ist, sondern eine solche Bedingung in ihrer möglichst unbearbeiteten Form, folglich in einer für einen konkreten Fall unverwendbaren Form präsentiert (Baum 1991, 276‒288).

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

der Allgemeingültigkeit der subjektiven Bedingung eines reinen Geschmacksurteils abzielt, d. h. auf das freie Spiel, stützt er sich auf die Allgemeingültigkeit der fundamentalen Bedingung für eine Erkenntnis, bei der das freie Spiel nicht geschieht. Der Irrtum liegt darin, die verschiedenen Bedingungen gemeinsam als »subjektive Bedingungen der Urtheilskraft« zu bezeichnen.

1.3.3. Vernachlässigung der ursprünglich gestellten Aufgabe der Deduktion Auch wenn der Fehler der Äquivokation beiseitegelassen wird, der das oben dargestellte Argument Kants beeinträchtigt, stößt Kants Deduk­ tion der reinen Geschmacksurteile auf ein noch wichtigeres Problem. Denn die von Kant selbst gestellte Aufgabe der Deduktion bleibt unerfüllt: Obwohl die Aufgabe sich gerade auf die Verbindung zwi­ schen der Vorstellung des Gegenstandes und dem freien Spiel der Erkenntniskräfte bezieht, gelingt es Kants Deduktion nicht, den Sach­ verhalt dieser Verbindung zu klären. Kant geht also nicht so recht auf die ursprünglich von ihm selbst gestellte Aufgabe ein. Zunächst sei die Wiedergabe von Kants Argument in § 38 nochmals aufgeführt: (a) Wenn das Kriterium der Reinheit beim Fällen eines Geschmacksur­ teils eingehalten wird, richtet sich dieses Geschmacksurteil ausschließ­ lich auf »die subjectiven Bedingungen des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt«. (b) Diese Bedingungen kann »man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) vorausset­ zen« (5: 290). (c) Damit berechtigt sich der Urheber eines solchen Geschmacksurteils zum Anspruch der Allgemeingültigkeit desselben.

Hier steht, die Reinheit des Urteils werde als Prämisse vorausgesetzt. Wie vorhin bezüglich der Charakteristika des reinen Geschmacksur­ teils deutlich wurde, ist die Reinheit bzw. Unvermengtheit mit einem Interesse oder mit einem Begriff ein wichtiges Kriterium eines reinen Geschmacksurteils. Eine auffallende Gedankenrichtung bei Kant ist, dass er aus dieser negativen Bestimmung der Unvermengtheit mit anderem etwas Positives herstellt. Kant äußert im Hauptteil des § 38, dass bei dieser Reinheit »die Urtheilskraft in Ansehung der formalen Regeln der Beurtheilung, ohne alle Materie (weder Sinnenempfin­ dung noch Begriff), nur auf die subjectiven Bedingungen des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt […] gerichtet sein kann« (5:

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

290). Die Unvermengtheit ermögliche also das Gerichtet-Sein auf die subjektiven Bedingungen der Urteilskraft. Beachtlich ist Kants Paraphrasierung dieser Prämisse (a) in der »Anmerkung«, wo Kant im zweiten »daß«-Satz die Reinheit des Urteils durch die richtige Subsumtion des Objekts unter die subjekti­ ven Bedingungen der Urteilkraft ersetzt: »Es behauptet nur: daß wir berechtigt sind, dieselben subjectiven Bedingungen der Urtheilskraft allgemein bei jedem Menschen voraus­ zusetzen, die wir in uns antreffen; und nur noch, daß wir unter diese Bedingungen das gegebene Object richtig subsumirt haben.« (5:290; Hervorhebung der Verf.).

Hat Kant hier recht? Bedeutet das ausschließliche Gerichtet-Sein des Geschmacksurteils auf die subjektiven Bedingungen ohne Weiteres die richtige Subsumtion der Vorstellung des Gegenstandes unter jenen Bedingungen? Eine fehlende Reinheit des Urteils führt zwar zur unrichtigen Subsumtion, wie Kant in der Fußnote zu diesem § sagt. Jedoch verraten die Reinheit des Urteils selbst bzw. das vollkom­ mene Gerichtet-Sein des Subjekts auf allgemeingültige Bedingungen allein niemals einen konkreten Zusammenhang mit dem »gegebenen Object«. Es ist Kants Fehler, dass er zwei verschiedene Sachverhalte auf dieselbe Ebene stellt. Auch wenn dieser zweite »daß«-Satz keine Paraphrasierung von (a), sondern eine neue Prämisse wäre, beginge Kant dennoch einen entscheidenden Fehler. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass hierdurch der Punkt der richtigen Subsumtion in der Form einer Prämisse erledigt wird. Es ist jedoch gerade diese Subsumtion, deren Gültigkeit zu beweisen Kant sich in § 36 als Aufgabe seiner Deduktion gestellt hat: »Diese Aufgabe kann auch so vorgestellt werden: wie ist ein Urtheil möglich, das bloß aus dem eigenen Gefühl der Lust an einem Gegen­ stande unabhängig von dessen Begriffe diese Lust, als der Vorstellung desselben Objects in jedem andern Subjecte anhängig, a priori, d. i. ohne fremde Beistimmung abwarten zu dürfen, beurtheilte?« (5: 288; Hervorhebung der Verf.).

Wie in dieser bereits oben besprochenen Passage zu sehen ist, liegt die ursprüngliche Aufgabe der Kantischen Deduktion im Beweis der All­ gemeingültigkeit der Synthesis zwischen der Lust und der Vorstellung des Gegenstandes. Da die Lust nichts anderes als das Bewusstsein des freien Spiels der Erkenntniskräfte ist, lässt sich diese Synthesis als

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

Subsumtion der Vorstellung unter das freie Spiel betrachten, welches Kant in der Deduktion – obzwar durch den Fehler der Äquivokation – mit den subjektiven Bedingungen der Urteilskraft gleichsetzt. In dieser Hinsicht wird das Problem bei Kants Behandlung der Richtigkeit der Subsumtion zutage treten. Die Richtigkeit einer Subsumtion, bzw. eines Urteils, impliziert bei Kant die Allgemein­ gültigkeit des Urteils. Deshalb darf Kant in seiner Deduktion die Richtigkeit der Subsumtion nicht bloß als Prämisse annehmen. Das Problem liegt also darin, dass Kant in seiner Deduktion bloß als eine Prämisse behandelt, was eigentlich bewiesen werden soll.17 In dieser Hinsicht hat Kant die ursprünglich von ihm selbst gestellte Aufgabe vernachlässigt.

1.3.4. Unausführbarkeit der von Kant selbst gestellten Aufgabe der Deduktion Wie könnte die Allgemeingültigkeit der Subsumtion der Urteilskraft bei einem Geschmacksurteil dann bewiesen werden? Lässt sie sich überhaupt beweisen? In der Tat ist jene Subsumtion keine Sache, die apriorisch bewie­ sen werden kann. Dies ist aber nicht deshalb der Fall, weil es in einem Geschmacksurteil immer um ein empirisches Prädikat (Gefühl der Lust) geht (§ 36). Es sei ein empirisches Erkenntnisurteil (»Erfah­ rungsurteil«) betrachtet, das zwar ebenfalls nur durch Erfahrung veri­ fizierbar ist, aber die Subsumtion dort die transzendentale Notwen­ 17 Rind vertritt die Ansicht bezüglich dessen, was mit Kant in der vorliegenden Untersuchung als Aufgabe der Deduktion bestimmt wurde, dass sich die Frage »How is X possible?«, [Wie ist X möglich?], nicht unbedingt auf das Beweisen der Möglichkeit von X bezieht. Sie könne sich auch auf das Erklären vom »Wie« der Möglichkeit von X beziehen, nachdem die Möglichkeit von X bereits vorausgesetzt wurde. Aus letzterer Sichtweise könne die Kantische Deduktion der Geschmacksurteile gerettet werden, lautet Rinds These. Deren Grund sieht er darin, dass Kant in § 38 das, was durch die Deduktion bewiesen werden sollte, in der Form einer konditionalen Prämisse aus­ drückt. Würde Rinds Ansicht für richtig gehalten, ließe sich nicht länger die oben geäußerte These vertreten, dass Kant die Aufgabe der Deduktion vernachlässigt hat, sondern sie müsste besagen, dass Kant die Aufgabe anderweitig als durch das Bewei­ sen erfüllen konnte. Jedoch vernachlässigt Rind die Tatsache, dass das Thema des Verhältnisses zwischen Objekt und Subjekt durch Kants (von Rind behauptete) »Erklärungen« in der Deduktion gar nicht angeschnitten wird. (Rind 2002, 43‒45). Deshalb soll Kants Deduktion weiterhin für erfolglos gehalten werden.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

digkeit besitzt. Die »ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption« verarbeitet das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung im Falle eines Erfahrungsurteils bereits beim GegebenWerden in der Sinnlichkeit durch den Verstand (KrV B 143). Ansons­ ten ist das Mannigfaltige nicht erfahrbar. Jene Einheit enthält bereits die Verbindung, d. h. die Subsumtion der Anschauung unter einem empirischen Begriff. Die Subsumtion ist dadurch mit der transzen­ dentalen Notwendigkeit versehen und kann deshalb nicht »leicht trü­ gen« (5: 291). Dahingegen hat ein Geschmacksurteil »anhangende Schwierig­ keiten«, immer wieder in eine »fehlerhafte Subsumtion« zu geraten (5: 291). Dies hängt damit zusammen, dass eine gelungene Sub­ sumtion, die beim Geschmacksurteil erfolgt, unter vielen möglichen Erfahrungen nur in den zufällig für sie günstigen Fällen möglich ist und folglich nicht mit der transzendentalen Notwendigkeit ver­ knüpft ist. Ein Subjekt kann folglich von allen erfahrbaren Gegen­ ständen ein Erkenntnisurteil zustande bringen, aber nicht immer ein Geschmacksurteil. Nicht alle Gegenstände geben dabei Anlass, die Erkenntniskräfte ins freie Spiel zu versetzen. Abgesehen von der Rich­ tigkeit oder Falschheit einer Subsumtion stehen zudem die Umstände, in denen ein richtiges Geschmacksurteil möglich ist, nur zufällig zur Verfügung. Die Möglichkeit eines gelungenen Geschmacksurteils hängt nicht bloß von der richtigen Anwendung der Urteilskraft des Urteilenden ab, sondern auch von der zufälligen Gegebenheit eines das freie Spiel begünstigenden Gegenstandes, die nicht in der Befugnis des transzendentalen Subjekts liegt. Das heißt also, die Subsumtion einer Vorstellung unter dem freien Spiel wird erst dann möglich, wenn sowohl die Bedingungen des Gebrauches der Erkenntniskräfte a priori als auch die empirische Bedingung der zufälligen Gegebenheit befriedigt werden, und folglich ist die Richtigkeit der Subsumtion nicht a priori beweisbar. Kant scheint selbst zu merken, dass sein Argument in der Deduk­ tion jener von ihm selbst gestellten Aufgabe der Deduktion nicht gerecht wird und es auch keine andere Lösung gibt. Denn Kant redu­ ziert den Umfang des Rechtfertigungsobjekts seiner Deduktion, indem er in der Anmerkung zu § 38 sagt, dass der Anspruch des Geschmacks »darauf hinausläuft: die Richtigkeit des Prinzips, aus subjectiven Gründen für jedermann gültig zu urtheilen« (5: 291; Hervorhebung der Verf.).

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

Hierdurch rückt er den Anspruch auf die Richtigkeit des Prinzips selbst in die Mitte, auf dem ein Geschmacksurteil gründet – anstatt des Anspruchs eines Geschmacksurteils, in dem es darum geht, ob dieses Prinzip richtig angewandt worden ist. Die eben zitierte Passage lässt erkennen, dass im Höhepunkt der Kantischen Deduktion schließlich nicht vom Anspruch eines Geschmacksurteils die Rede ist, welches immer ein einzelnes Urteil ist und damit nicht vom Anspruch auf Zustimmung aller zu einem bestimmten Urteil über die Schönheit, um den es in der Analytik des Schönen in der Tat stets geht. Der Analytik des Schönen zufolge wird bei einer Schönheitsbeurteilung die »Beistimmung aller zu einem Urtheil« gefordert, d. h. zu einem einzelnen Fall von Geschmacksur­ teilen (5: 237; siehe auch 5: 212, 5: 214). Der Anspruch auf eine solche »Beistimmung« zeichnet sich als »Zumuten« oder »Ansinnen« des Gefühls der Lust aus, welches nach Kant »das Wohlgefallen an einem [einzelnen, bestimmten] Gegenstande« ist (5: 214; Hervorhebung der Verf.). Dieses Wohlgefallen ist »mit der Vorstellung desselben [sc. des Gegenstandes] verknüpft« (5: 191). Folglich sieht der Anspruch eines Geschmacksurteils so aus, »als wäre sie [sc. die Schönheit] eine Eigenschaft der Dinge« (5: 212). Jedoch sieht Kant in der Anmerkung zu § 38 von der Eigentüm­ lichkeit des einzelnen Urteils ab und scheint den Inhalt des Anspruchs des Geschmacksurteils bloß auf die »Richtigkeit des Prinzips« – nicht auf eine richtige Anwendung desselben in einzelnen Urteilen – zu reduzieren, wobei Kant mit »Prinzip« wohl das Prinzip des freien Spiels meint. Noch dazu behauptet Kant, dass einzelne Fälle der unrichtigen Anwendung des Prinzips die »Rechtmäßigkeit des Anspruchs auf diese Gültigkeit eines ästhetischen Urtheils überhaupt, mithin das Princip selber so wenig zweifelhaft« machen (5: 291). Kant schreibt dem Prinzip sogar einen Status des Gesetzes zu und sagt, als ob seine fehlerhafte Anwendung nicht wichtig wäre: »Wenn in Ansehung dieses letztern [der Anwendung des Prinzips] auch gefehlt worden, so betrifft das nur die unrichtige Anwendung der Befugniß, die ein Gesetz uns giebt, auf einen besondern Fall, wodurch die Befugniß überhaupt nicht aufgehoben wird« (5: 290 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Um jedoch den Allgemeingültigkeitsanspruch eines Geschmacksurteils zu rechtfertigen, in dem es immer um einen einzelnen Gegenstand geht, muss neben der Richtigkeit des Prinzips auch die Richtigkeit seiner Anwendung im einzelnen Fall bewiesen werden.

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

In Vertretung Kants ließe sich einwenden, dass die Synthesis beim Geschmacksurteil durch das freie Spiel erschöpft werde, genauso wie die Synthesis beim Erkenntnisurteil durch die ursprüngliche Apperzeption des Verstandes durch Kategorien. Folglich, dass Kant durch die Rechtfertigung des Prinzips des freien Spiels seine Aufgabe bei der Deduktion erfüllt habe. Kant macht tatsächlich den Eindruck, dass er das freie Spiel als eine selbstständig bestehende Synthesis der Erkenntniskräft betrachtet, wenn er die Einbildungskraft als »Vermö­ gen der Anschauungen« und den Verstand als »Vermögen der Begriffe« beschreibt (5: 287)18. Denn normalerweise ergibt sich durch Synthesis der Anschauungen und der Begriffe ein Urteil. Jedoch ist zu beachten, dass die in § 38 thematisierte Subsumtion, d. h. ein Geschmacksurteil, nicht bereits im freien Spiel selbst erledigt wird, sondern erst dadurch entsteht, wenn die Vorstellung eines Gegenstan­ des unter das freie Spiel subsumiert wird. In diesem Sinne lässt sich verstehen, wieso Kant in der dritten Kritik die Tätigkeit der Subsumtion nicht dem Verstand, sondern der Urteilskraft zurechnet (5: 286 ff.), während er in der ersten Kritik den transzendentalen Verstand mit seinem Prinzip der transzendentalen Apperzeption für die synthetische Einheit als Erfahrung zuständig macht. Die Funktion des Verstandes scheint beim Geschmacksurteil eher darin zu bestehen, die freie Tätigkeit der Einbildungskraft an einer kompletten Trennung von der Gesetzmäßigkeit zu hindern und sie mit einem rationalen Rahmen zu versehen. Indem Kant selbst den Umfang seiner Behauptung bezüglich der Deduktion verkleinert, lässt er die ursprüngliche Aufgabe der Deduk­ tion liegen, nach der die Deduktion die Möglichkeit der allgemeingül­ tigen Synthesis der Vorstellung eines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust, durch das das freie Spiel bewusst wird, nachweisen soll. Bei der mehrmaligen Betonung Kants, dass sozusagen das Grundrecht eines Geschmacksurteils durch die häufig geschehenden Fehler der Subsumtion nicht beeinträchtigt wird, scheint Kant selbst einzuräu­ men, dass er für die Rechtfertigung eines reinen Geschmacksurteils schließlich nicht mehr tun konnte, als sein Prinzip a priori – subjektive Bedingungen der Urteilskraft, die man bei jedem voraussetzen kann – zu bestätigen.

Die Einbildungskraft wird auch als »Vermögen der Sinnlichkeit« (5: 257) und der Verstand wird auch als Vermögen der »Gesetzmäßigkeit« (5: 198; 5: 354) betrachtet.

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1.3. Deduktion des reinen Geschmacksurteils

Was Kant in § 38, in dem Hauptparagrafen der Deduktion, aus­ führen sollte, aber nicht kann, ist, die allgemeingültige Synthesis zwi­ schen einer Vorstellung des Gegenstands außerhalb vom Subjekt und der subjektiven Bedingung innerhalb vom Subjekt zu thematisieren und ihre Möglichkeit aufzuzeigen. Dieser Misserfolg ist, wie gesagt, durch den speziellen Sachverhalt des Geschmacksurteils bedingt, d. h. dadurch, dass das Gelingen eines Geschmacksurteils von zufälligen Gegebenheiten abhängt. Daher lässt sich die Möglichkeit eines trans­ zendentalen Bewusstseins (im Sinne der ersten Kritik) über das Ver­ hältnis zwischen der Vorstellung des Objekts und der subjektiven Bedingung beim Geschmacksurteil nicht erwarten. Stattdessen kon­ zentriert sich Kant auf das Prinzip des freien Spiels der Einbildungs­ kraft und des Verstandes, das einzige Element, das Kant in dieser Konstellation als transzendentaltheoretisch erklärbar betrachtet, indem er dieses Prinzip mit der fundamentalen Bedingung der Erkenntnis überhaupt gleichsetzt. In dieser Hinsicht wird jetzt verständlich, warum Kant in seiner Deduktion, die in transzendentaltheoretischer Weise ausgeführt ist, nicht über das freie Spiel hinausschauen kann. Das Verhältnis zwi­ schen dem Objekt und dem Subjekt, das Kant ursprünglich mit seiner Deduktion ans Licht bringen wollte, ist ja kein Gegenstand der tran­ szendentaltheoretischen Untersuchung. Außerdem muss bemerkt werden, dass es für Kant auch wichtig war, in seiner Deduktion vor allem das freie Spiel in die Mitte zu rücken. Denn das freie Spiel ist nicht nur das transzendentaltheoretisch erklärbare Element bei einem Geschmacksurteil, sondern auch das, was durch das Gefühl der Lust unmittelbar anhand der Vorstellung eines Gegenstandes bewusst wird, was folglich ein reines ästhetisches Urteil wesentlich auszeich­ net. Es lässt sich fragen, warum das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt thematisiert werden muss, wenn dieses nicht transzendental­ theoretisch beweisbar ist und wenn dem Verhältnis in einem reinen Geschmacksurteil kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wie oben bereits besprochen wurde, ist dieses Verhältnis ein substantielles Element für das Zustandekommen eines reinen Geschmacksurteils, obzwar es in diesem Urteil selbst nicht verarbeitet wird. Ohne das zufällig gelungene Verhältnis der Vorstellung des Objekts zu subjek­ tiven Bedingungen der Erkenntniskräfte ist ein reines Geschmacks­ urteil unvorstellbar. Außerdem, wenn der systematische Zusammen­ hang des Geschmacksurteils untersucht wird, ist jener Aspekt der

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Kantischen Geschmackstheorie zu betrachten, bezüglich dessen das systematische Interesse Kants als Aufmerksamkeit auf das spezielle Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt in einem Geschmacksurteil beobachtet wird.

1.4. Allisons Interpretation von Kants Deduktion und das Problem von quid facti Kritische Auseinandersetzungen mit der Kantischen Deduktion führ­ ten zur Interpretation, dass Kant in seiner Deduktion etwas transzen­ dentalphilosophisch nicht Beweisbares zum Gegenstand der Recht­ fertigung nimmt und schließlich die geplante Rechtfertigung nicht richtig ausführt. Es wurde herausgestellt, dass, obwohl Kant in der Analytik des Schönen das Rechtfertigungsproblem des Allgemeingül­ tigkeitsanspruches eines einzelnen Geschmacksurteils in das Zentrum rückt, sich die Richtigkeit der Subsumption einer Vorstellung des Gegenstandes unter die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis überhaupt, die ein solches Urteil ausmachen, überhaupt niemals transzendentalphilosophisch beweisen lässt. Denn solche Richtigkeit hängt von dem zufällig gelungenen Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt ab. Sie ist also unter bestimmten faktischen Bedin­ gungen möglich. Kaum ein/e InterpretIn achtet auf diesen Punkt und geht auf ihn ein, abgesehen von Allison. In Anlehnung an Henrichs Aufsatz (Hen­ rich 1989) erkennt Allison, dass das Nebeneinander des Problems von quid facti und jenem von quid juris, das nach Henrich dem Verstehen aller Deduktionen Kants zugrunde liegen soll (Henrich 1989, 30), auch auf die Deduktion des reinen Geschmacksurteils zutrifft und sie erfolgreich erklären kann: Quid juris ist hier die Befugnis des Prinzips a priori des reinen Geschmacksurteils, die Kant – auch nach unserer Ansicht – in seiner eigenen Weise rechtfertigt. Quid facti bezieht sich hingegen darauf, ob ein infrage stehendes Geschmacksurteil rein sei und gehört deshalb nicht zum Gegenstandsbereich der apriorischen Rechtfertigung. Allisons Unterscheidung von quid facti und quid juris bringt das oben aufgedeckte Defizit der Kantischen Deduktion des Geschmacksurteils in hervorragender Weise zutage. Dabei sei auch darauf hingewiesen, dass Allison trotzdem an einer Kant zu sehr entgegenkommenden Ansicht festhält. Allison scheint sich an der Diskrepanz zwischen der Aufgabe und ihrer

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1.4. Allisons Interpretation von Kants Deduktion und das Problem von quid facti

tatsächlichen Ausführung nicht zu stören. Vielmehr scheint er sich mit Kant im Lauf der tatsächlichen Deduktion mit dem Resultat der Deduktion zufriedenzugeben. Allison verteidigt dieses begrenzte Resultat, indem er die Wichtigkeit der Normativität und der Auto­ nomie eines Geschmacksurteils hervorhebt, die in der Deduktion begründet werden (Allison 2001, 179). Zur Position Allisons soll Distanz eingenommen werden. Nicht bloß deshalb, weil die Diskrepanz zwischen dem von Kant in der Aufgabenstellung Versprochenen und dem von Kant in der Deduktion tatsächlich Ausgeführten klar erkannt und für nicht unwichtig gehal­ ten wurde. Sondern auch, weil im Unterschied zu Allison festgestellt wurde, dass hinsichtlich von quid facti nicht nur der subjektive, sondern auch der objektive Aspekt besteht. Allison sieht lediglich die subjektive Seite von quid facti bei einem reinen Geschmacksurteil. Wie erwähnt wurde, bestimmt er quid facti dabei als Problem der Reinheit des infrage stehenden Schönheitsurteils und damit als die Frage, ob die Bedingungen der Reinheit im gegebenen einzelnen Fall befriedigt worden sind (Allison 2000, 370; Allison 2001, 179). Quid facti in diesem Verständnis Allisons scheint zunächst rein subjektiv und damit gänzlich von der Einstellung des Urteilenden abhängig zu sein: als ob sich das quid facti hier durch das Problem der Reinheit des subjektiven Gemütszustan­ des allein erschöpfen ließe. Allerdings ist das Problem der Reinheit das der Richtigkeit von Subsumtion, welche ein Verhältnis zwischen dem subjektiven Prinzip des Urteils und der unter ihm zu subsumierenden Vorstellung eines Gegenstandes darstellt. Kant selbst paraphrasiert den zweiten Punkt über die Reinheit des Urteils in der Fußnote zum Hauptteil des § 38 (5: 290) später als »Richtigkeit der Subsumtion« (5: 291). Dazu wurde im vorigen Abschnitt (1.3.4) festgehalten: Die Möglichkeit eines gelungenen Geschmacksurteils hängt nicht bloß von der richtigen Anwendung der Urteilskraft des Urteilenden ab, sondern auch von der zufälligen Gegebenheit eines das freie Spiel begünstigenden Gegen­ standes, die nicht in der Befugnis des transzendentalen Subjekts liegt. Wird diese zufällige Bedingtheit insbesondere auf der objektiven Seite übersehen und nicht als konstitutives Moment des Kantischen Geschmacksurteils beachtet, lässt sich ein Interpret leicht dazu ver­ leiten, »eine in hohem Maße unplausible Konsequenz« zu ziehen, die »alle Gegenstände möglicher Erkenntnis zu schönen Gegenstän­ den« macht (Fricke 1990, 4). In der Tat haben sich besonders im

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

englischsprachigen Raum zahlreiche Interpreten dem Versuch gewid­ met, diese Konsequenz aufzulösen. Sie lässt sich von vornherein vermeiden, sofern die objektive Bedingung für das Zustandekommen eines reinen Geschmacksurteils gebührende Aufmerksamkeit erhält. Es sei kurz darauf hingewiesen, dass die zufällige Befriedigung bezüglich des Objekts als quid facti ein Vernunftinteresse hervorruft und zur Erweiterung des Gechmacksurteils führt, welches das Thema der späteren Teile der vorliegenden Untersuchung ist.

1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil 1.5.1. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil Nicht wenige Interpreten der Geschmackstheorie Kants haben sich mit dem Verhältnis zwischen § 21 und § 38 der Kritik der Urteilskraft beschäftigt, da sie meinen, dass Kant die Deduktion des reinen Geschmacksurteils in beiden §§ ausgeführt hat (u. a. Guyer 1979, Ameriks 1982, Allison 2001, Dobe 2010). Hier wird dagegen die Ansicht vertreten, dass dem § 21 ein ganz anderes Ziel als die Deduk­ tion des reinen Geschmacksurteils zugrunde liegt: Während es in § 38 um die Berechtigung des Zustimmungsanspruchs zu einem ästhetischen Urteil als der »Subsumtion« der Vorstellung eines Gegenstandes unter dem subjektiven Prinzip der Urteilskraft über­ haupt geht (5: 291), kommt es in § 21 nicht auf ein Urteil, sondern auf das Gefühl an, das in einem Geschmacksurteil als Prädikat fungiert (5: 288). Dabei verwendet Kant in § 21 den Begriff »allgemeine Mit­ teilbarkeit eines Gefühls« (5: 239; Hervorhebung der Verf.), was der folgende Abschnitt näher ausführen soll. Noch ein wichtiger Begriff in § 21 ist der des Gemeinsinns. Der Gemeinsinn ist ein dem Geschmack eigenes Beurteilungsvermögen, durch das Kant versucht, die Möglichkeit des allgemein mitteilbaren Gefühls zu erhellen. Der Gemeinsinn (sensus communis, common sense) ist ein tra­ ditioneller Begriff. Er verwendet ihn in seiner eigenen Weise, erklärt ihn als das Prinzip des Geschmacksurteils. In § 20 in der Kritik der Urteilskraft erwähnt Kant den Gemeinsinn zum ersten Mal:

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1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil

Geschmacksurteile müssen »ein subjectives Princip haben, welches nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle. […] Also nur unter der Voraus­ setzung, daß es einen Gemeinsinn gebe (wodurch wir aber keinen äußern Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte verstehen), nur unter Voraussetzung, sage ich, eines solchen Gemeinsinns kann das Geschmacksurtheil gefällt werden« (§ 20, 5: 238).

Dies zeigt eine Modifizierung der Einstellung, die Kant in der Deduk­ tion über die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils zum Aus­ druck bringt. Dort hält sich Kant an die Perspektive der transzenden­ talphilosophischen Urteilslogik in der ersten Kritik, wobei das reine Geschmacksurteil als synthetisches Urteil a priori betrachtet wird. Deshalb kann Kant dort das unlösbare Problem der transzendentalen Rechtfertigung der »richtigen Subsumtion« nicht vermeiden. Dahin­ gegen zeigt Kant hier eine andere Herangehensweise, die nicht von dergleichen Urteilslogik abhängt: Er führt ein selbstständiges und dem reinen ästhetischen Urteil eigenes Beurteilungsvermögen ein – den Gemeinsinn. Der Gemeinsinn beurteilt das Gefühl im eigenen Subjekt in allgemeingültiger Weise, und zwar durch dasselbe Gefühl als »Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte«. Dies bedeutet, dass dieses Gefühl der Lust als solche Wirkung in seiner qualitativen Eigenschaft mehr als das bloß Ästhetische enthält: Kant schreibt diesem Gefühl die allgemeine Mitteilbarkeit zu. Kant äußert, »der Gemüthszustand, d. i. die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer Erkenntniß überhaupt«, müsse sich genauso wie eine Erkenntnis »allgemein mittheilen lassen«, »weil ohne diese [sc. jene Stimmung] als subjective Bedingung des Erken­ nens das Erkenntniß als Wirkung nicht entspringen könnte« (5:238). Daraus folgt, dass auch das Gefühl der Lust sich allgemein mitteilen lassen muss, denn »diese Stimmung kann nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden« (5: 239). Schließlich macht Kant den Gemeinsinn für die »allgemeine Mittheilbarkeit eines Gefühls« zuständig (ibid.). Seine Logik lautet: Da dieses Gefühl sich allgemein mitteilen lassen muss, muss auch jeder ein gemeinsames Beurteilungsvermögen für dieses Gefühl haben, welches der Gemein­ sinn ist (ibid.). Da Kant die »allgemeine Mittheilbarkeit« dem Gemütszustand bzw. dem Gefühl zugeschrieben sieht, lässt sich das Problem der Synthesis des Gefühls mit der Vorstellung eines Gegenstandes indes­

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sen wieder nicht anschneiden und das Thema der Subsumtion (der Vorstellung des Gegenstandes unter diesem Gefühl) bleibt auch in der Gemeinsinntheorie unbehandelt. Wird Kants gewagte Aufgabenstellung der Deduktion jedoch beiseitegelassen, lässt sich mit dem Begriff der allgemeinen Mitteil­ barkeit des Gefühls allein die gewichtige Bedeutung dieses allgemein mitteilbaren Gefühls sowie Kants eigenes Interesse unterstreichen. Denn Kant verleiht im darauffolgenden § 22 der allgemeinen Mitteil­ barkeit des Gefühls Bedeutung, und zwar durch die Beschreibung des Anspruchs des Geschmacks als Forderung nach der »Einhelligkeit der Sinnesart« und der »Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besonderen«. Darauf wird in 2.3 des zweiten Kapitels noch eingegangen. Es gibt einen weiteren Beleg, der die Ansicht stützt, dass Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils mehr als eine Urteilstheorie ist: Kants Verwendung des Begriffs »Mitteilbarkeit«. Schlösser gelangt durch seine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff zu der Ansicht, dass Kants Begriff der Mitteilbarkeit kein Begriff ist, der auf ein Urteil mit dem Geltungsbezug begrenzt ist, und deshalb nicht mit dem Begriff der subjektiven Allgemeingültigkeit begrifflich identifi­ ziert werden darf, wie bei den meisten anderen Interpreten von Kants Geschmackstheorie (Schlösser 2015, 228 ff.). Dabei weist Schlösser darauf hin, dass Kant ausdrücklich auch den ästhetischen Empfindungen als Affektion durch den Zustand der eigenen Erkenntnisvermögen (20: 223) die allgemeine Mitteilbarkeit zuschreibt (Schlösser 2015, 229 f.). Dieser Kontext der Kantischen Begriffsverwendung und seiner mehr­ maligen Hinweise auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls weist darauf hin, dass sich Kants eigenes Interesse bei der Entwicklung der Theorie des reinen Geschmacksurteils niemals durch die Rechtfertigung des Zustimmungsanspruchs eines Geschmacksurteils erschöpfen lässt. Das allgemein mitteilbare Gefühl der Lust bei einem reinen Geschmacksurteil dient als Ausgangspunkt für die Erweiterung eines reinen Geschmacksurteils hinsichtlich der kollektiven Sittlichkeit und ist eine Bedingung für das höchste Gut, welches das große Thema der vorliegenden Untersuchung ist. Diese Theorie liefert die Grundlage für die Möglichkeit der Einträchtigkeit des menschlichen Gefühls. In diesem Kontext wird der Akzent nicht auf die Richtigkeit der Subsum­ tion bzw. des Urteils selbst gelegt, sondern auf die Einträchtigkeit der Urteilenden durch das Gefühl. Dies wird später erörtert.

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1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil

1.5.2. Allgemeine Verfügbarkeit der Bedingung für das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil Was die Einträchtigkeit zwischen der Mehrzahl von Subjekten angeht, soll der Umfang der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls bei einem reinen Geschmacksurteil besprochen werden. Das Wort Mit­ teilbarkeit verrät bereits die Modalität dieses Begriffs. Die »Allge­ meine Mittheilbarkeit eines Gefühls« besagt, dass dieses Gefühl der Lust allgemein mitgeteilt werden kann und dass grundsätzlich jeder dieses Gefühl fühlen kann. Der Gedanke der allgemeinen Verfügbarkeit einer bestimmten Bedingung in den Erkenntniskräften wurde bereits in der Deduktion erkennbar. Dort sagt Kant, dass »wir berechtigt sind, dieselben sub­ jectiven Bedingungen der Urtheilskraft allgemein bei jedem Men­ schen vorauszusetzen, die wir in uns antreffen« (5: 290). Diese all­ gemeine Verfügbarkeit des Prinzips eines reinen Geschmacksurteils liefert den Grund der Erwartung, dass auch andere Urteilende glei­ chen unparteiischen Gebrauch desselben Prinzips machen können. Diesen Sachverhalt stellt Kant in § 39 der Kritik der Urteilskraft wie­ derum mit dem Ausdruck »allgemein mittheilbar« dar: »Eben darum darf auch der mit Geschmack Urtheilende (wenn er nur in diesem Bewußtsein nicht irrt und nicht die Materie für die Form, Reiz für Schönheit nimmt) die subjective Zweckmäßigkeit, d. i. sein Wohlgefallen am Objecte, jedem andern ansinnen und sein Gefühl als allgemein mittheilbar und zwar ohne Vermittlung der Begriffe annehmen« (5: 293; Hervorhebung der Verf.).

Die Bedingung, die Kant in Klammern ausführt, wurde bereits als Unparteilichkeit beschrieben. Im gleichen Aufsatz, auf den im vorigen Abschnitt verwiesen wurde, sieht Schlösser denselben Sachverhalt als erfolgreiche Auswirkung der »Zweckmäßigkeit der Vermögen selbst« an (Schlösser 2015, 214). Er deutet an, dass »die Vermögen gänzlich unter dem Blickpunkt ihrer Ausrichtung auf die Erfüllung der Funk­ tion« erfasst werden, wobei die Erfüllung selbst zweckmäßig ist (Schlösser 2015, 215). In diesem Zusammenhang nimmt Schlösser an, dass die Erkenntniskräfte »in Anbetracht der unterschiedlichen Widerständlichkeit der Gegenstände auf das Erkenntnisziel orientiert bleiben« (Schlösser 2015, 215), wenn Kant in § 21 von der Unter­ schiedlichkeit in der Proportion der Erkenntniskräfte je nach dem gegebenen Gegenstand spricht (5: 238). Mit Schlösser ließe sich

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annehmen, dass die Richtigkeit der Subsumtion, die als quid facti die Kantische Deduktion niemals rechtfertigen kann, unter der Annahme der zweckmäßigen Tätigkeiten der Erkenntniskräfte nicht unbedingt problematisch wird. Dennoch bleibt sie unbegründet und dies wäre der Grund dafür, dass Kant nicht nur in der eben zitierten Passage, sondern wiederholt den allgemeinen Zustimmungsanspruch eines reinen Geschmacksurteils mit der Formulierung »ansinnen« bezeich­ net. Das Verhältnis zwischen der allgemeinen Verfügbarkeit des Prin­ zips eines reinen Geschmacksurteils und dem Anspruch auf die all­ gemeine Zustimmung zu dem Urteil bildet einen Gegensatz zu dem Fall des Urteils über das Erhabene. Ebenfalls in § 39 konstatiert Kant zum Urteil über das Erhabene: »Daß aber andere Menschen [...] in der Betrachtung der rauhen Größe der Natur ein Wohlgefallen finden werden [...], bin ich nicht schlecht­ hin vorauszusetzen berechtigt« (5: 292).

Dies liegt daran, dass das Gefühl des Erhabenen eine Bedingung voraussetzt, die nicht jeder erfüllen kann. Kant äußert: »Die Lust am Erhabenen der Natur [...] macht zwar auch auf allgemeine Theilnehmung Anspruch, setzt aber doch schon ein anderes Gefühl, nämlich das seiner übersinnlichen Bestimmung, voraus« (5: 292).

Obwohl das Gefühl der eigenen übersinnlichen Bestimmung in der jedem Menschen innewohnenden moralischen Anlage wurzelt, lässt sich nach Kant nicht erwarten, dass jeder auf seine moralische Anlage Rücksicht nimmt und Lust am Erhabenen findet. Denn jenes braucht die »Entwickelung sittlicher Ideen« sowie ein relativ fortgeschrittenes Gemüt, das »durch Cultur vorbereitet« worden ist (5: 265), d. h. Voraussetzungen, welche in der Tat nicht jeder befriedigen kann. Hier tut sich eine Diskrepanz zwischen dem Sein und dem Sollen auf. Zwar ist nicht jeder imstande, bei der erschreckenden Natur auf seine übersinnliche Bestimmung Rücksicht zu nehmen, doch soll jeder dahin gehend gefördert werden, dergleichen Niveau des Gemüts zu erreichen, denn die Bewusstwerdung der übersinnlichen Bestimmung sei die Voraussetzung, um ein wahrer Mensch zu sein. Dabei lässt sich vermuten, dass der Anspruch »auf allgemeine Theilnehmung« (5: 292), den das Urteil über das Erhabene trotzdem erhebt, eine andere Art von Modalität besitzt als der Anspruch des reinen Geschmacksurteils. Die folgende Passage verrät etwas über die Modalität des Anspruchs beim Erhabenen:

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1.5. Allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil

»Dem ungeachtet kann ich doch in Betracht dessen, daß auf jene moralischen Anlagen bei jeder schicklichen Veranlassung Rücksicht genommen werden sollte, auch jenes Wohlgefallen jedermann ansin­ nen, aber nur vermittelst des moralischen Gesetzes, welches seinerseits wiederum auf Begriffen der Vernunft gegründet ist« (ibid.).

Der Anspruch auf allgemeine Zustimmung lässt sich in diesem Fall durch eine Zusatzbedingung erheben, d. h. durch das Beziehen auf eine die Realität der Nicht-Allgemeinverfügbarkeit transzendierende Notwendigkeit, die Kant in der eben zitierten Passage mit dem Wort »sollte« formuliert. Hier macht Kant klar, dass diese Notwendigkeit sich schließlich auf die Idee des moralischen Gesetzes stützt. Deutlich wird, dass die zum Urteil über das Erhabene erforderliche Tätigkeit der Erkenntniskräfte sehr komplex ist, da sie von einem Naturphänomen ausgeht und zuletzt zur Idee des moralischen Gesetzes übergeht. Deshalb sagt Kant zum Urteil über das Erhabene: »[E]s scheint eine bei weitem größere Cultur nicht bloß der ästheti­ schen Urtheilskraft, sondern auch der Erkenntnißvermögen, die ihr zum Grunde liegen, erforderlich zu sein« – während wir beim Schönen »Einstimmigkeit des Urtheils mit dem unsrigen jedermann geradezu ansinnen und auch, ohne sonderlich zu fehlen, erwarten können« (5: 264).

Die bisherigen Überlegungen lassen sich in folgende Worte fassen: Das reine Geschmacksurteil bezieht sich auf einen allgemeinen Zustimmungsanspruch, da es hier um die Voraussetzungen geht, die im Prinzip jeder erfüllen kann. Dahingegen erhebt das Urteil über das Erhabene seinen Zustimmungsanspruch, da die erforderliche Voraussetzung zwar nicht von jedem erfüllt werden kann, aber von jedem erfüllt werden soll. Wir sind der Ansicht, dass der Anspruch des Urteils über das Erhabene in mancherlei Hinsicht dem Sollens-Anspruch ähnelt, den Kant einem Geschmacksurteil zuschreibt. Da der Sollens-Anspruch jedoch noch nicht ausführlich behandelt wurde, sollten die im Fol­ genden genannten Punkte als Vorwegnahme der nächsten Kapitel betrachtet werden. Erstens beruhen beide Ansprüche auf einer Voraus­ setzung im Subjekt, die in der Realität nicht jeder erfüllen kann, aber hinsichtlich der moralischen Bestimmung des Menschen jeder erfüllen soll. Zweitens liegen beiden Ansprüchen sehr komplexe Tätigkeiten der Erkenntniskräfte zugrunde, da beide Ansprüche die Idee der

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1. Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

moralischen Bestimmung berücksichtigen, die eigentlich nicht direkt die ästhetischen Erscheinungen betrifft. Zu beachten ist, dass das mit dem Geschmacksurteil verbun­ dene Sollen in der Tat die allgemeine Verfügbarkeit der subjektiven Bedingungen eines reinen Geschmacksurteils voraussetzt. Wie später verdeutlicht wird, bezieht der Urteilende des Geschmacks seinen Sollens-Anspruch auf die Idee der sittlichen Einträchtigkeit des Men­ schen, wobei die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls beim reinen Geschmacksurteil als das dient, was auf die Möglichkeit der Einträch­ tigkeit hindeutet. Hier verdient der Unterschied des Umfangs der betroffenen Subjekte unsere Aufmerksamkeit dahin gehend, was die allgemeine oder begrenzte Verfügbarkeit bei Subjekten angeht. Das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil und das Bewusstsein betreffend die Pflicht des höchsten Guts, die die Idee der sittlichen Einträchtigkeit des Menschen enthält, liegen für alle vor, aber das für den ästhetischen Sollens-Anspruch benötigte Vermögen liegt nicht für alle vor, wie es beim Urteil über das Erhabene der Fall ist. Um dergleichen Anspruch zu erheben, muss man dieses allgemein mitteilbare Gefühl an die Ver­ nunftideen knüpfen, was einer komplexen Reflexionsfähigkeit bedarf. Der erforderliche Reflexionsvorgang wird im Laufe der vorliegenden Untersuchung beschrieben.

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil und dessen Erweiterung

Obwohl die Abschnitte, die sich hauptsächlich mit der Theorie des reinen Geschmacksurteils befassen, d. h. die Deduktion und die Analytik des Schönen, die auf die Selbsttätigkeit begrenzte Auf­ merksamkeit des Subjekts darstellen, verrät ein Teil der Analytik des Schönen, d. h. das dritte Moment des Geschmacksurteils, dass eine dergleichen Begrenztheit überschreitende Struktur doch einem reinen Geschmacksurteil innewohnt. Der Schlüsselbegriff dabei ist die Zweckmäßigkeit. Im reinen Geschmacksurteil selbst lässt sich, wie vorhin gezeigt wurde, die Zweckmäßigkeit in der Tat auf das Gefühl der Lust redu­ zieren und nicht mit irgendeinem rationalen Moment verbinden. Diesbezüglich scheint der Begriff der Zweckmäßigkeit nicht zwingend nötig, wenn man sich bloß für den ästhetischen Charakter des reinen Geschmacksurteils interessiert. Die Zweckmäßigkeit ist jedoch der Begriff, mit dem man den Sachverhalt des Geschmacksurteils sehr gut klären kann, der sich im rein Ästhetischen nicht erschöpft. Dieser Sachverhalt kann als Über­ einstimmung zwischen dem Objekt und dem Subjekt charakterisiert werden oder auch als Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen, wie der Ausdruck Kants für das Geschmacksur­ teil lautet. Da sich dieses Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt innerhalb eines reinen Geschmacksurteils kaum artikulieren lässt, kann sich der Urteilende erst im erweiterten Geschmacksurteil mit diesem Verhältnis auseinandersetzen. Es wird herausgestellt, dass Kant im reinen Geschmacksurteil den Begriff der Zweckmäßigkeit dadurch subjektiviert, dass er ihn nicht als ein Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt, sondern als ein Verhältnis innerhalb des Subjekts zu fassen sucht. Dies scheint die Maßnahme zu sein, den Zweckmäßigkeitsbegriff an die Theorie des reinen Geschmacksurteils anzupassen. Folglich lassen

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

sich innerhalb Kants Geschmackstheorie zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beobachten.

2.1. Art und Struktur der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil 2.1.1. Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen Kant beginnt das dritte Moment des Geschmacksurteils mit dem § 10, dessen Überschrift lautet: »Von der Zweckmäßigkeit überhaupt«. Wie der Begriff »Zweckmäßigkeit« selbst verrät, ist in diesem Begriff eine Zweckvorstellung enthalten (5: 220). Jedoch ist die Zweckmäßigkeit beim schönen Gegenstand von besonderer Art. Denn Kant charakte­ risiert sie als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, d. h. als Zweckmäßigkeit, die »ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm [sc. Gegenstand] wahr­ genommen wird« (5: 236). Da jede Zweckvorstellung ausgeschlossen wird, erfolgt die Art und Weise, in der man diese Zweckmäßigkeit wahrnimmt, nicht intellektuell, sondern ästhetisch, d. h. durch das Gefühl (5: 218 f.): Die Zweckmäßigkeit beim Schönen lässt sich als Gefühl der Lust spüren (5: 222). Normalerweise steht etwas Zweckmäßiges im untrennbaren Zusammenhang mit dem Zweck. Es ist damit immer in Verbindung mit etwas, für das es zweckmäßig ist. Worauf aber richtet sich die Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes, wenn es nicht um eine Vorstellung des Zwecks geht, welche eine Kausalität der Hervorbrin­ gung eines Objekts als Zweck enthalten soll? Kant meint, der schöne Gegenstand stehe nicht in zweckmäßiger Verbindung zu einem Objekt, das anhand einer Zweckvorstellung hervorgebracht werden soll, sondern in zweckmäßiger Verbindung »zu den Erkenntnisver­ mögen, die in der reflektierenden Urtheilskraft im Spiel sind« (5: 189 f.). Im gleichen Sinne sagt Kant auch, dass »der Gegenstand […] als zweckmäßig für die reflektierende Urtheilskraft angesehen wer­ den« muss (5: 190). In der Deduktion äußert Kant diesen Sachverhalt konkreter: Er ist zweckmäßig für die »Zusammenstimmung« der Ein­ bildungskraft und des Verstandes als »subjektive Bedingung aller Urtheile« (5: 287) und damit subjektive und »formale Bedingung« (5: 290 Anm.) »des Gebrauchs der Urtheilskraft überhaupt« (5: 290), die

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Kant auch subjektive Bedingung zu einer »Erkenntnis überhaupt« nennt (5: 217). Sofern die Zusammenstimmung der Einbildungskraft und des Verstandes beim Schönen nicht einen beliebigen Fall der Konstellatio­ nen zwischen Erkenntniskräften darstellt, sondern nach Kant die fun­ damentale Bedingung der Urteilskraft überhaupt, lassen sich die zwei Erkenntnisvermögen als in ihrer Ursprünglichkeit bewahrt betrachten. In diesem Sinne lässt sich auch sagen, dass der Gegenstand, der im Geschmacksurteil als schön bezeichnet wird, zweckmäßig für unser Erkenntnisvermögen überhaupt ist.

2.1.2. Subjektive und formale Zweckmäßigkeit Dieses zweckmäßige Verhältnis des Gegenstandes zum Erkenntnis­ vermögen bezeichnet Kant nicht nur als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«. Bei Kants Unterteilungen des Zweckmäßigkeitsbegriffs wird die Zweckmäßigkeit beim reinen Geschmacksurteil als eine subjektive und formale charakterisiert. Diese Unterteilungen sind so komplex und nicht immer eindeutig, sodass viele Interpreten sich darum bemüht haben, sie möglichst übersichtlich wiederzugeben.19 Unter ihnen sind Manfred Frank und Véronique Zanetti, die in ihrem Kommentar zur Kritik der Urteilkraft die verschiedenen Arten von Zweckmäßigkeit bei Kant in der kompakten Sprache darlegen, wovon hier Gebrauch gemacht werden soll. Subjektiv heißt eine Zweckmäßigkeit, wenn sie sich nicht auf die Absicht der Hervorbringung eines Objekts bezieht, sondern »dem Subjekt innerlich bleibt« (Frank und Zanetti 2009, 1199). Eine formale Zweckmäßigkeit bedeutet, dass die infrage stehende Zweckmäßigkeit weder (wie bei einem Organismus) eine Kausalbeziehung aufgrund vom »Begriff mit einem bestimmten und erfahrungsgestützten Inhalt (Stoff)« (Frank und Zanetti 2009, 1201) enthält, noch (wie beim Wohlgefallen durch das Angenehme) ein derartiges kausales Verhält­ nis zum Gefühl des Subjekts zeigt, in dem der »Stoff der Empfindung« des Gegenstandes der Grund des Gefühls der Lust ist (Frank und Zanetti 2009, 1199). Die Zweckmäßigkeit beim reinen Geschmacks­ 19 Unter anderen sind Konrad Marc-Wogau und Giorgio Tonelli für ihre jeweili­ gen Schemata der verschiedenen Arten von Kants Zweckmäßigkeitsbegriff bekannt (Marc-Wogau 1938; Tonelli 1958).

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

urteil wird unter der Abstraktion sowohl von der »begriffliche[n] Bestimmtheit« des Gegenstandes als auch von seiner Existenz gefun­ den (ibid.).

2.1.3. Struktur der zufälligen Übereinstimmung der Natur mit einem Bedürfnis unseres Erkenntnisvermögens Die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil ist nicht der einzige Fall der formalen und subjektiven Zweckmäßigkeit. Es gibt noch zwei andere Fälle: (1) Die Zweckmäßigkeit der besonderen Naturge­ setze, auf die in der naturwissenschaftlichen Forschung gestoßen wird (Marc-Wogau 1938, 71; Tonelli 1958, 163, 164); (2) Die Zweckmäßig­ keit beim Erhabenen (Marc-Wogau 1938, 71; Tonelli 1958, 161). Beide sind formal und subjektiv im oben aufgeführten Sinne. Die Zweckmäßigkeit beim Erhabenen grenzt sich jedoch von den anderen beiden Zweckmäßigkeitsbegriffen dadurch ab, dass sie keine Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisvermögen ist. Wir nennen, so Kant, gewöhnlich einen Gegenstand erhaben, wie wir einen Gegenstand schön nennen. Jedoch sei dergleichen Aus­ drucksweise beim Erhabenen nicht richtig, anders als beim Schönen (5: 245): Denn »das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft« (ibid.). Deshalb verbleibt die Zweckmäßigkeit beim Erhabenen völlig inner­ lich, die im Verhältnis zwischen unseren Erkenntniskräften besteht. In diesem Sinne bezeichnet Kant jene Zweckmäßigkeit als die »des Subjekts«, wohingegen es beim Schönen um »eine Zweckmäßigkeit der Objekte« geht (5: 192). Folglich bleibt lediglich die Zweckmä­ ßigkeit der besonderen Naturgesetze übrig, die, genauso wie die beim Schönen, nicht nur subjektiv und formal ist, sondern auch ein Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt ausdrückt. Es soll die Ansicht vertreten werden, dass das Mit-Betrachten der Zweckmäßigkeit der besonderen Naturgesetze zum Erkennen der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil beitragen kann. Dadurch wird die Struktur der dem Geschmacksurteil innewohnenden Zweck­ mäßigkeit deutlich, die zwar auf der Stufe des reinen Geschmacksur­ teils keine bewusste Aufmerksamkeit findet, jedoch seiner Erweite­ rung zugrunde liegt: Die Struktur einer zufälligen Übereinstimmung der Natur mit einem Bedürfnis unseres Erkenntnisvermögens. Zum

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2.1. Art und Struktur der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

Herausstellen dieser Struktur soll der Umfang des Gegenstandes des reinen Geschmacksurteils auf die Natur eingeschränkt werden.

a. Gefühl der Lust aufgrund der zufälligen Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen bei den besonderen Naturgesetzen Beide Arten der Zweckmäßigkeit bestehen zwischen der Natur und dem menschlichen Erkenntnisvermögen, wie vorhin hinsichtlich des Geschmacksurteils deutlich wurde. Bezogen auf die besonderen Gesetze der Natur betont Kant mehrmals mit Ausdrücken wie »Zweckmäßigkeit«, »Zusammenstimmung«, »Einstimmung« oder »Angemessenheit« der Natur zu »unserem Erkenntnisvermögen« (Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Kapitel V f.), dass es hier um ein Verhältnis zwischen der Natur als Objekt und dem Erkenntnis­ vermögen als Subjekt geht. Was jedoch meint Kant hier mit »unserem Erkenntnisvermö­ gen«? Kant geht anhand der besonderen Naturgesetze näher darauf ein: Mit der »Übereinstimmung der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Gesetze zu unserem Bedürfnisse, Allgemeinheit der Principien für sie aufzufinden« (5: 186), soll unser Erkenntnisvermö­ gen einerseits im vorliegenden Verhältnis der Natur angemessen sein und bedeutet andererseits das Bedürfnis unseres Erkenntnisvermö­ gens, vor allem unseres Verstandes, die Mannigfaltigkeit der Natur in eine systematische Einheit zu bringen. Die Zweckmäßigkeit der besonderen Naturgesetze zum Bedürf­ nis des Verstandes bringt ein Gefühl der Lust hervor, welches Kant hauptsächlich im sechsten Kapitel der Einleitung thematisiert, aber auch im fünften Kapitel einmal zum Ausdruck bringt, indem »wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen« (5: 184; Hervorhebung der Verf.). Im sechsten Kapitel sagt Kant, diese Zweckmäßigkeit sei der »Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung« (5: 187). Denn, wie gleichfalls im Zitat aus dem fünften Kapitel zu lesen ist, die Zweckmäßigkeit lässt sich als Begünstigung der Absicht betrachten. Und die »Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühle der Lust verbunden« (5: 187). Ein Bedürfnis hängt also stets mit der Absicht zusammen, dieses zu befriedigen.

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Das Bedürfnis des Verstandes bezüglich der Einheit der Mannig­ faltigkeit in den besonderen Gesetzen der Natur ist insofern notwen­ dig, als die Vorstellung der möglichen Einheit aufgrund des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur für die sinnvolle Erfahrung mit der Mannigfaltigkeit unentbehrlich wird. In diesem Sinne erklärt Kant den Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur als »transscendentales Erkenntnißprincip« (5: 184). Bemerkenswert an diesem notwendigen Bedürfnis unseres Erkenntnisvermögens scheint, dass es sich hinsichtlich seiner Befrie­ digung zugleich auf die Zufälligkeit bezieht. Dazu sagt Kant, dass wir »die gesetzliche Einheit in einer Verbindung« »zwar einer nothwendi­ gen Absicht (einem Bedürfniß des Verstandes) gemäß, aber zugleich doch als an sich zufällig erkennen« (5: 184). Warum ist die eventuelle Einheit zufällig? Kant betont mehrmals, dass die Einstimmung der besonderen empirischen Naturgesetze mit der Absicht unseres Erkenntnisvermö­ gens, in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit eine Einheit herauszufin­ den, jederzeit zufällig geschieht. Diese Äußerung wiederholt sich in Kapitel VI und VII nicht weniger als zehnmal (5: 183‒188).20 Die Zufälligkeit besteht hier darin, dass unser Erkenntnisvermögen die Einstimmung nicht a priori einsieht. Sie ist nicht einsehbar, weil die zwei Elemente, deren Zusammenstimmung die infrage stehende Einstimmung ausmacht, d. h. die besonderen Naturgesetze und unser Erkenntnisvermögen, heterogen sind. Um diesen Sachverhalt zu ver­ deutlichen, vergleicht Kant ihn mit dem Fall der allgemeinen Gesetze der Natur. Mit »allgemeinen Gesetzen der Natur« meint Kant die Gesetze »nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorieen)« (5: 187). Die Kategorien sind mit dem anderen Terminus Kants die »reinen Ver­ standesbegriffe«, über die unser Verstand a priori verfügt, und die er als transzendentale Werkzeuge nutzt. Die Natur als das Objekt unse­ rer Erfahrung überhaupt ist erst durch diese transzendentalen Begriffe bzw. Gesetze möglich. Dazu sagt Kant, dass »allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben« (5: 180) und zugleich »der Natur als Object unserer Erkenntniß überhaupt nothwendig zukommen« (5: 187). Deshalb kann der Verstand problemlos die Natur und deren allgemeine Gesetze einsehen, da die Natur durch Auch in der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft kommt die gleiche Zufälligkeit mehrmals zum Ausdruck (20: 204, 210, 240, 243).

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diese Gesetze hervorgebracht wird und diese Gesetze »ihren Grund in unserem Verstande haben«.21 Zwischen ihnen besteht keine Hete­ rogenität. Folglich gibt es keinen Zwiespalt zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen und hier entsteht keine notwendige Absicht bzw. kein notwendiges Bedürfnis unseres Erkenntnisvermö­ gens bezüglich der Erkenntnis der Natur. Da keine Absicht ins Spiel kommt, ergibt sich hier auch kein Gefühl der Lust, das auf dem Erreichen einer Absicht gründet. Dazu sagt Kant: »In der That, da wir von dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorieen) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen, auch nicht antreffen können, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur nothwendig verfährt (5: 187; Hervorhebung der Verf.).

b. Zufälligkeit der Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkenntnisvermögen beim Geschmacksurteil und dessen Möglichkeit, mit einem Bedürfnis verbunden zu werden Nachdem wir die Struktur der Zweckmäßigkeit der besonderen Gesetze der Natur sowie das Gefühl der Lust bei ihr besprochen haben, stellen sich zwei Fragen: (1) Wie lässt sich das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil verstehen, das gar nichts mit einer Absicht zu tun hat? (2) Besteht dann irgendeine Gemeinsamkeit zwischen der Zweckmäßigkeit beim reinen Geschmacksurteil und bei den besonderen Gesetzen der Natur? Zu (1): Im siebten Kapitel der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft mit der Überschrift »Von der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur« behandelt Kant die Zweckmäßigkeit beim reinen Geschmacksurteil. In diesem Kapitel ist Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils im Voraus im Rahmen der Einleitung vorgelegt, deren Hauptentwicklung in der Analytik geschieht. Anders als bei den besonderen Gesetzen der Natur ergibt sich das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil nicht durch eine diskursive Reflexion über den Sachverhalt bezüglich unserer Erkenntnisabsicht, sondern es wird als mit der »bloßen Auffassung« der Vorstellung Kant äußert an einer Stelle der Kritik der teleologischen Urteilskraft, dass derjenige, der etwas »selbst hervorbringen«, d. h. »nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann«, das einsieht (5: 384).

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eines Gegenstandes unmittelbar verbunden wahrgenommen (5: 189). Da hier keine rationale Reflexion über das Zweckverhältnis statt­ findet, weist die Zweckmäßigkeit der Natur auf das Wahrnehmen des Gefühls der Lust unmittelbar auf die Vorstellung eines Natur­ gegenstandes hin: »Also wird der Gegenstand alsdann nur darum zweckmäßig genannt, weil seine Vorstellung unmittelbar mit dem Gefühle der Lust verbunden ist; und diese Vorstellung selbst ist eine ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit« (5: 189). Hinsichtlich des unabsichtlichen Verfahrens unseres Erkenntnis­ vermögens scheint der Fall eines reinen Geschmacksurteils eher dem der allgemeinen Gesetze zu ähneln als dem der besonderen Gesetze der Natur. Genauso wie der Verstand mit den allgemeinen Gesetzen unabsichtlich verfährt (5: 187), wird die reflektierende Urteilskraft beim reinen Geschmacksurteil auch »unabsichtlich« tätig (5: 190). Was sie unabsichtlich tut, ist das »Auffassen der Formen«, d. h., die Formen mit dem »Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen« zu vergleichen (ibid.). Wenn »dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, […] muß der Gegenstand alsdann als zweckmäßig für die reflectirende Urtheilskraft angesehen werden« (ibid.). Dahinge­ gen ist bei der Tätigkeit unseres Erkenntnisvermögens mit den beson­ deren Gesetzen die Erkenntnisabsicht des Verstandes unentbehrlich. Bei all diesem vertreten wir die Ansicht, dass der Fall eines Geschmacksurteils über einen Naturgegenstand und der Fall der besonderen Naturgesetze eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Kon­ stellation beim Verhältnis zwischen der Natur und unserem Erkennt­ nisvermögen haben. Bei Kants Erklärungen des reinen Geschmacksurteils taucht der Terminus »Form« häufig auf. Beispielsweise wird die Tätigkeit der Urteilskraft beim reinen Geschmacksurteil als »bloße[n] Reflexion über die Form eines Gegenstandes« beschrieben (5: 191; Hervorhe­ bung der Verf.).22 Kant benutzt in seinen verschiedenen Schriften den Begriff Form zwar ständig als Gegenteil von Materie, aber die Impli­ kationen sind nicht immer gleich. Was das reine Geschmacksurteil angeht, sagt Kant selbst in § 15: »Das Formale in der Vorstellung eines Dinges«, worüber beim reinen Geschmacksurteil reflektiert wird, ist »die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbe­ Folgende Formulierungen tauchen beim Erklären des reinen Geschmacksurteils auf: »Form des Gegenstandes« (5: 190, 192, 244); »Form eines Gegenstandes« (5: 191, 281); »Form des Objekts« (5: 192).

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stimmt, was es sein solle)« (5: 227). Die Aussage Kants erweckt prima facie den Eindruck, dass die betreffende Form beim reinen Geschmacksurteil das Gleiche bedeute wie die Form im erkenntnis­ theoretischen Sinne: Die durch den Verstand bestimmte Art und Weise der Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen. Wenn sich die Zusammenstimmung wie im letzteren Fall auf die Einheit durch einen bestimmten Begriff richtete, wäre der Verstand für die Verbindung des Mannigfaltigen zur Zusammenstimmung verantwortlich. Denn die Erfahrungen in diesem Sinne sind erst durch die Anwendung der Gesetze der Verbindung auf das Mannigfaltige möglich, die vom Ver­ stand auf das durch die Sinne empfangene Mannigfaltige angewendet werden. Jedoch verhält sich es mit der ästhetischen Erfahrung in einem reinen Geschmacksurteil anders. Hier wird die Funktion des Verstan­ des insofern stark reduziert, als dessen Gesetzmäßigkeit der Tätigkeit der Einbildungskraft keine Gesetze, sondern nur einen großen Rah­ men der Gesetzmäßigkeit schafft. Die Tätigkeit der Einbildungskraft beschreibt Kant als »bloße[n] Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung, ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis« (5:189). Die unverwechselbare Charakteristik der Tätigkeit der Einbildungskraft bzw. der Erkenntniskräfte beim reinen Geschmacksurteil liegt darin, dass die Einbildungskraft anhand der ästhetischen Form mit dem Verstand bzw. seiner Gesetzmäßigkeit »spielt«. Bei einer bestimmten Erkenntnis wird das Mannigfaltige nach Kategorien gemäß getrimmt, denn sowohl die zur bestimmten Erkenntnis führende Filterung der Materie des Mannigfaltigen als auch dessen Ordnungsweise (Form) lassen sich vom Verstand ableiten. Jedoch soll die Einbildungskraft beim reinen Geschmacksurteil mit der »Form des Gegenstandes« spielen, d. h. nicht mit den durch Kategorien in das Mannigfaltige hineingegebenen Formen, sondern mit den durch die reinen Anschau­ ungsformen (Raum und Zeit) gemessenen Verbindungsweisen des Mannigfaltigen.23 Hier geschieht nach dem Begriff des Gegenstandes Nur die Verbindungsweisen durch die Formen des Raums und der Zeit werden, so Kant, beim reinen Geschmacksurteil in Betracht gezogen: »Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar auch des innern) ist entweder Gestalt, oder Spiel; im letztern Falle entweder Spiel der Gestalten (im Raume die Mimik und der Tanz); oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit). Der Reiz der Farben, oder angenehmer Töne des Instruments kann hinzukommen, aber die Zeichnung in der 23

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

weder eine Reduktion noch eine Anpassung des Mannigfaltigen durch den Verstand. Das Mannigfaltige als Ganzes wird von den Erkenntniskräften reflektiert.24 Den zahlreichen Möglichkeiten der Formen bei einer ästhetischen Einstellung wird wohl kein Begriff des Verstandes gerecht. Genau an diesem Punkt stimmt der Fall des Geschmacksurteils mit dem Fall der besonderen Naturgesetze überein. Der Verstand sieht nicht a priori ein, wie er mit ihrer Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit verfahren soll. Eine Einstimmung zwischen der »unsere Fassungskraft übersteigenden« (5: 187) Urgegebenheit und unserer Erkenntniskräfte einschließlich unseres Verstandes in beiden Fällen ist deshalb zufällig, weil die Elemente, die miteinander überein­ stimmen sollen, heterogen sind. Dabei ist die Übereinstimmung des Gegenstandes mit unseren Erkenntniskräften bei einem Erkenntnis­ urteil »nothwendig« (5: 187), da der Gegenstand »nach allgemeinen Naturbegriffen (den Kategorien)« bestimmt (ibid.) und daher zu unseren Erkenntniskräften ursprünglich homogen ist. In dieser Hinsicht lässt sich das Mannigfaltige des schönen Gegenstandes bei ästhetischer Einstellung als eine für den Verstand besondere und zufällige Erfahrung ansehen. Dies bedeutet, dass ein Gegenstand der Erfahrung in einem reinen Geschmacksurteil nicht notwendigerweise als schön bezeichnet werden kann. Es ist von der zufälligen Gegebenheit des Gegenstandes abhängig, ob die sinnlichen Daten in der Anschauung des Gegenstandes für das freie Spiel geeig­ net sind, auch wenn sie nur durch unsere Subjektivität (Formen der Anschauung) in unser Bewusstsein kommen können. Das freie Spiel und das Gefühl der Lust als Modus von dessen Bewusstsein sind die Zeichen dafür, dass der betreffende Gegenstand über eine besondere und zufällige Qualität der Form (vgl. Theorie des Erhabenen) verfügt, sodass die mannigfaltigen Daten seiner Anschauung hinsichtlich ihrer Verknüpfungsweise durch Raum und Zeit (5: 225) die Einbil­ dungskraft zum freien Spiel mit dem Verstand bringen. Folglich lassen sich die Formen, um die es in einem reinen Geschmacksurteil

ersten und die Composition in dem letzten machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurtheils aus« (5: 225). 24 Diesbezüglich hat Dörflinger festgestellt, dass das materiale Mannigfaltige »schon als empfindungshaft Gegebenes Einfachheit, Gleichförmigkeit und Synthesis anzeigt« (Dörflinger 1988, 136).

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2.1. Art und Struktur der Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

geht, eher auf Rechnung des Gegenstandes außerhalb als jene des Subjekts setzen.25 Was die Einstimmung zwischen der Natur und unserem Erkennt­ nisvermögen beim Geschmacksurteil angeht, spricht Kant in der Einleitung von der Zufälligkeit der Einstimmung: »[D]a diese Zusam­ menstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjects zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit des­ selben in Ansehung der Erkenntnißvermögen des Subjects« (5: 190; Hervorhebung der Verf.). Obwohl sich Kant nur einmalig in dieser Weise äußert, wird klar, dass sich das Moment der Zweckmäßigkeit für ihn nicht nur hinsichtlich der Zweckmäßigkeit bei den besonderen Naturgesetzen, sondern auch bei einem Geschmacksurteil beobachten lässt. Bemerkenswert ist dabei, dass das Lebensgefühl als Bewusst­ sein von der Selbsttätigkeit der Erkenntniskräfte, das das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil auszeichnet, nicht die Auf­ merksamkeit auf das zufällige Verhältnis zwischen dem Gegenstand und dem Erkenntnisvermögen richtet. Solch eine Aufmerksamkeit wird erst mit der Erweiterung des Geschmacksurteils aktualisiert, denn das Moment der Zufälligkeit kommt bei der Konstellation des Geschmacksurteils zwar nicht im Rahmen des reinen Geschmacksur­ teils zum Vorschein, wohnt ihm aber inne und spielt eine entschei­ dende Rolle bei seiner Erweiterung. Dem Aufmerksam-Werden des Subjekts eines Geschmacksur­ teils liegt ebenfalls ein Bedürfnis des Erkenntnisvermögens zugrunde, wie bei den besonderen Naturgesetzen. In § 42 der Kritik der Urteils­ kraft führt Kant die Theorie des intellektuellen Interesses am schönen Naturgegenstande aus. Hier zeigt Kant, wie ein reines Geschmacks­ urteil durch die Aufmerksamkeit des Subjekts die zufällige Einstim­ mung zwischen der Natur und dem Erkenntnisvermögen – aufgrund des Bewusstseins der Heterogenität zwischen beiden – mit einem Interesse verknüpft und eine Erweiterung erfährt. Dieser Aufmerk­ samkeit liegt ein Bedürfnis der Vernunft zugrunde, wie in Kapitel III behauptet werden soll. Dieses ist in Kants Worten das »Bedürfnis der 25 Ameriks sagt, dass die Objektivität des Geschmacks, mit der er die Abhängig­ keit des Geschmacksurteils von den objektiv schönen und unmittelbar wahrnehmba­ ren Naturformen meint, von den Kant-Interpreten vernachlässigt worden ist. Und behauptet, dass sie mit der allgemeinen Gültigkeit des Geschmacksurteils untrenn­ bar zusammenhängt. Er zeigt auch, dass sich der Gedanke der Objektivität des Geschmacks durch andere Charakteristiken des Geschmacksurteils nicht widerlegen lässt (Ameriks 1983, 3‒17).

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

reinen praktischen Vernunft« und hängt mit der Erreichung der Absicht zusammen, das höchste Gut in dieser Welt zu verwirklichen. Ein Interesse ist bei Kant mit dem Gefühl der Lust verbunden und das positive Gefühl am Naturschönen gründet hier auf der Vorstellung der Befriedigung des Bedürfnisses der praktischen Vernunft. In den folgenden Kapiteln wird noch gezeigt, inwiefern sich das Naturschöne als dessen Befriedigung verstehen lässt. Aufgrund der bisherigen Überlegungen lassen sich zwei Ebenen annehmen, wenn sich die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil als die Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für unser Erkenntnisver­ mögen charakterisieren lässt: (1) Die Ebene eines reinen Geschmacks­ urteils, auf der keine Zweckvorstellung wirkt und auf welcher das Gefühl der Lust das Bewusstsein der Selbsttätigkeit der Erkenntnis­ kräfte aufgrund der »inneren Kausalität« ist; (2) Die Ebene eines durch Verbindung mit einem intellektuellen Interesse erweiterten Geschmacksurteils, auf der das Gefühl der Lust auf einer Zweckvor­ stellung (Befriedigung des Bedürfnisses der praktischen Vernunft) gründet und folglich in einem äußeren Kausalverhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt besteht. Im ersteren Fall muss das zweckmäßige Verhältnis nicht unbe­ dingt als ein Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt begrif­ fen werden. Bei der Selbsttätigkeit der Erkenntniskräfte aufgrund der inneren Kausalität liefert das Objekt der Tätigkeit der Erkenntnis­ kräfte nur den Anlass. In dieser Hinsicht zeichnet Kant die Zweckmä­ ßigkeit beim reinen Geschmacksurteil öfter als Verhältnis zwischen den Erkenntniskräften. In der Analytik, zu der auch die Deduktion gehört, lassen sich nämlich zwei unterschiedliche Blickrichtungen beobachten. Nach der einen Blickrichtung besteht das zweckmäßige Verhältnis zwischen dem Objekt und unserem Erkenntnisvermögen. Nach der anderen wird es innerhalb des Subjekts erschöpft. Die erste genannte Blickrichtung herrscht hauptsächlich im Kon­ text von Kants Rechtfertigungsversuch des reinen Geschmacksurteils vor, besonders in der Deduktion. Da im reinen Geschmacksurteil das zufällige Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt nicht berücksichtigt wird, scheint Kant dazu gezwungen zu werden, hin­ sichtlich der Perspektive des reinen Geschmacksurteils den Begriff der Zweckmäßigkeit eher subjektivistisch zu interpretieren. Dies ergibt eine andere Blickrichtung auf die Zweckmäßigkeit als jene, die die Zweckmäßigkeit als ein Objekt-Subjekt-Verhältnis begreift.

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2.2. Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

2.2. Zwei Blickrichtungen auf Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils Diese andere Blickrichtung bestimmt das zweckmäßige Verhältnis beim reinen Geschmacksurteil in einer neuen Weise, nämlich als »wechselseitige subjektive Zweckmäßigkeit« zwischen Einbildungs­ kraft und Verstand (5: 286). Dabei ist zu sehen, dass Kant zugleich vom gegenständlichen Bezug des Geschmacksurteils abstrahiert, wodurch auch die Heterogenität zwischen Objekt und Subjekt außer Acht gelassen wird. Jedoch ist das Objekt nicht komplett außer Acht zu lassen. Denn es geht in einem Geschmacksurteil auf jeden Fall darum, ein bestimm­ tes Objekt als schön zu bezeichnen. Das Objekt muss irgendwie gedacht werden, auch wenn die Zweckmäßigkeit in dieser anderen Blickrichtung innerhalb des Subjekts anzusiedeln ist. Die Lösung Kants besteht in der Subjektivierung des Objekts, wobei das Objekt eher vom Subjekt selbst produziert als dem Subjekt vom Außen her­ gegeben wird. Dies erinnert uns an den transzendentalen Idealismus von Kants Erkenntnistheorie, in der das transzendentale Subjekt im Vordergrund steht, wodurch erst ein Objekt konstruiert wird.26

2.2.1. Tendenz der ersten Blickrichtung: Möglichst vom Objekt abstrahieren! Diese Tendenz tritt in der Analytik des Schönen und der Deduktion verstärkt auf. Bereits in § 2 der dritten Kritik betont Kant, dass die 26 Auch Schlösser weist auf zwei unterschiedliche Blickrichtungen Kants über das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu einem Gegenstand hin, deren Entzweiung bzw. Divergierung mit dem Verfassen der dritten Kritik stattgefunden hat: »Während Kant in der ersten Kritik primär von dem Subjekt und den mit ihm verbundenen Leis­ tungen ausgeht, wird jetzt [sc. in der dritten Kritik] die Blickrichtung umgedreht: Er beginnt mit dem Gegenstand der Bezugnahme, der als etwas ›außer mir‹ gemeinsamer Bezugspunkt unterschiedlicher Personen sein kann« (Schlösser 2015, 204; auch 218 f.). Da Schlössers Interesse auf Kantische Konzeption der Mitteilbarkeit gerichtet ist, die er von dem Geltungsbezug eines Urteils getrennt hat, behandelt er dennoch nicht die für die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil einschlägigen Passagen in der dritten Kritik, die auch diesen Blickrichtungswechsel zeigen. Außerdem ist es in seinem Aufsatz nicht sichtbar, dass Kant sich auch in der dritten Kritik nicht eindeutig für eine Blickrichtung entschieden hat. Dies wollen wir in den folgenden Abschnitten zutage bringen.

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

Vorstellung, »wodurch der Gegenstand gegeben« und wodurch das freie Spiel ausgelöst wird, eher ein Produkt von uns, als etwas dem Gegenstand außer uns Zugehöriges ist: »Man sieht leicht, daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön« (5: 205; Hervorhebung der Verf.).

Kant versucht ein reines Geschmacksurteil möglichst weit vom sub­ jektiv gegebenen Gegenstand zu entfernen und dadurch den Grad von Abhängigkeit eines reinen Geschmacksurteils vom Gegenstand zu minimieren. Dies kommt auch in § 15 zum Ausdruck, wo Kant die »Zweck­ mäßigkeit der Vorstellungen« erkennt als »eine gewisse Zweckmä­ ßigkeit des Vorstellungszustandes im Subject und in diesem eine Behaglichkeit desselben[,] eine gegebene Form in die Einbildungs­ kraft aufzufassen« (5: 227). Obwohl Kant einräumt, dass die in die Einbildungskraft aufzufassende Form nicht von uns selbst gemacht, sondern uns »gegeben« wird, bezieht Kant die Zweckmäßigkeit nicht auf den Gegenstand, sondern auf den Vorstellungszustand des Sub­ jekts. Es liegt hier nicht an der »gegebene[n] Form«, sondern an der aktiven Tätigkeit der Einbildungskraft, die Form der Einbildungskraft aufzufassen. Ein weiterer Hinweis, dass bei dieser Blickrichtung eher die Abhängigkeit des Objekts vom Subjekt als die Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt konstatiert wird, ist auch in der Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile zu finden: »Die ästhetische Zweckmäßigkeit ist die Gesetzmäßigkeit der Ur­ theilskraft in ihrer Freiheit. Das Wohlgefallen an dem Gegenstande hängt von der Beziehung ab, in welcher wir die Einbildungskraft setzen wollen: nur daß sie für sich selbst das Gemüth in freier Beschäftigung unterhalte«. (5: 270; Hervorhebung der Verf.).

Die starke Subjektivierung der Vorstellung des Gegenstands führt schließlich dazu, das Prinzip des reinen Geschmacksurteils auf die Zweckmäßigkeit zwischen Einbildungskraft und Verstand zu redu­ zieren. Dies lässt sich vor allem in der Deduktion (§§ 30‒38) beob­ achten. Beispielsweise formuliert Kant in § 34 das Prinzip des reinen Geschmacksurteils als »wechselseitige subjektive Zweckmäßigkeit« zwischen Einbildungskraft und Verstand (5: 286; Hervorhebung der Verf.). Der gegenständliche Bezug rückt deutlich in den Hintergrund.

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2.2. Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Dies wird verdeutlicht, als Kant in § 35 der dritten Kritik das Prinzip des Geschmacksurteils mit der primären Bedingung der Urteilskraft identifiziert (5: 287). Die Urteilskraft ist das Vermögen, das Subsumtionsverhältnis zwischen einer Vorstellung (dem Beson­ deren) und einem Begriff (dem Allgemeinen) zu erfassen. Bei Kant ist das Geschmacksurteil auch ein Urteil, in dem die bei der Vorstellung gegebene Mannigfaltigkeit durch den Verstand zu einer gesetzmäßi­ gen Einheit gebracht werden muss, und nur in diesem speziellen Fall »ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis« (5: 189). Diese besondere Konstellation könnte man hin­ sichtlich des Verhältnisses zwischen der Vorstellung des Gegenstan­ des und einem unbestimmten Begriff betrachten, und, wenn man den Ausdruck »Subsumtion« verwendet, als Subsumtion des Gegenstan­ des unter einen unbestimmten Begriff darstellen. In diesem Sinne schreibt Kant in § 4 der Kritik der Urteilskraft, dass die »Reflexion über einen Gegenstand« »zu irgend einem Begriffe (unbestimmt wel­ chem) führt« (5: 207). Obwohl solch eine Betrachtungsweise durchaus möglich ist, schließt Kant bei seinen Ausführungen über die Subsumtion in der Deduktion den Gegenstand völlig aus, wie es in 1.3 dieses Kapitels bezüglich des Problems der Rechtfertigung der Subsumtion ausführ­ lich besprochen wurde. In § 35 spricht Kant von der »Subsumtion […], aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. den Verstand), sofern das ers­ tere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusam­ menstimmt« (5: 287). An einer anderen Stelle wird die Subsumtion als die »der Einbildungskraft selbst (bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird) unter der Bedingung, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt« (ibid.), darge­ stellt. Hier scheint Kant die Funktion der Vorstellung des Gegenstan­ des auf bloße Veranlassung der zweckmäßigen Beziehung zwischen Einbildungskraft und Verstand zu begrenzen, wobei die Erkenntnis­ kräfte »sich wechselseitig beleben« (ibid.; Hervorhebung der Verf.). Hierdurch wird deutlich, dass Kants Konzentration auf die Selbsttätigkeit, die vorher bezüglich des Gefühls der Lust beim reinen Geschmacksurteil besprochen wurde, auch in Hinsicht auf den Begriff der Zweckmäßigkeit beachtet werden sollte. Außerdem geht der Charakter der Synthesis zwischen dem Subjekt und dem Objekt (außerhalb vom Subjekt) verloren.

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

Hinsichtlich dieser Ausführungsweise der Subsumtion der Urteilskraft bildet der § 35 einen klaren Kontrast zu der Einleitung, wo hauptsächlich von der Zweckmäßigkeit der Natur für die reflektie­ rende Urteilskraft die Rede ist und folglich die zweite Blickrichtung deutlich spürbar ist. Zu dieser gehen wir nun über.

2.2.2. Tendenz der zweiten Blickrichtung: Auf das Verhältnis des (Natur-) Objekts außer uns zum menschlichen Subjekt achten! Das Kapitel VII der Einleitung zur dritten Kritik steht unter der Über­ schrift: »Von der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur«. Dort äußert Kant zur Tätigkeit der Urteilskraft beim reinen Geschmacksurteil, dass »die reflektierende Urtheilskraft […] sie [sc. Form des Gegenstandes] […] mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche« (5: 190). Hier ist offensichtlich, dass Kant der Objektivität eine gleichgewichtige Rolle wie der Sub­ jektivität zukommen lässt, anders als in § 35, wo die Objektivität um der Subjektivität willen in den Hintergrund gerückt wird. Das Gleich­ gewicht zwischen Objektivität und Subjektivität ist ebenfalls anhand der Art und Weise sichtbar, wie Kant in der Einleitung die Zweckmä­ ßigkeit beim Geschmacksurteil darstellt. In Kapitel VII bezeichnet Kant es wiederholt als den »Gegenstand« selbst oder die »Form« des Gegenstandes, was im zweckmäßigen Verhältnis zur menschlichen Subjektivität steht, die in diesem Kapitel durch die »reflektierende Urteilskraft« bzw. das »Vermögen des Subjekts« repräsentiert wird. Die Art von Zweckmäßigkeit, von der in der Einleitung am meisten die Rede ist, findet sich in der Übereinstimmung von ver­ schiedenen besonderen Gesetzen der Natur mit unserer Urteilskraft. Die ganze Einleitung der dritten Kritik richtet sich auf die Vermittlung zwischen Natur und Freiheit und folglich auf das Verhältnis zwischen der Natur (»außer uns«) und dem menschlichen Subjekt. Die zweite Blickrichtung in der Einleitung, die bei der ästhetischen Zweckmäßig­ keit auf die Gegenüberstellung der Objektivität und der Subjektivität aufmerksam macht, lässt sich in diesem Kontext verstehen. Was bei der zweiten Blickrichtung noch auffällt, ist die Hervor­ hebung der »Form« des Objekts, die vorhin betont wurde. Kants Her­ vorhebung der »Form des Objekts« fällt dann am stärksten auf, wenn er das Schöne mit dem Erhabenen vergleicht. Dies ist der Fall nicht

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2.2. Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

nur in dem die Analytik des Erhabenen eröffnenden § 23, sondern auch – überraschenderweise – am Anfang der Deduktion, d. h. in § 30. Bemerkenswert ist innerhalb Deduktion der große Unterschied der Blickrichtungen zwischen diesem und den darauf folgenden Paragra­ fen. Denn der § 30 vertritt die zweite Blickrichtung in hohem Maße, wohingegen die späteren Paragrafen eindeutig die erste einnehmen. Bereits anhand der Überschrift zu § 30 ist der Unterschied zu erkennen: »Die Deduction der ästhetischen Urtheile über die Gegen­ stände der Natur darf nicht auf das, was wir in dieser erhaben nennen, sondern nur auf das Schöne gerichtet werden« (5: 279; Hervorhebung der Verf.). Bei der Betrachtung der späteren Paragrafen ist klar, dass es sich in der Deduktion um die Geschmacksurteile im Allgemeinen handelt, nicht nur um die Urteile über die Naturdinge. Wo die erste Blickrichtung herrscht, ist es gleichgültig, ob die Gegenstände in der Natur oder woanders liegen, da bei ihr möglichst größte Abstraktion von Gegenständen unternommen wird. Die Gegenüberstellung vom Schönen und Erhabenen in § 30 ist auf die Akzentsetzung hinsichtlich der »Form des Objekts« zurück­ zuführen. Kant sagt zu Beginn des § 30, dass »Geschmacksurtheile über das Schöne der Natur« einer Deduktion bedürfen, weil sie »ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Form des Objects« betreffen (5: 279; Hervorhebung im Original). Dahingegen bedarf das Erhabene der Natur keiner Deduktion, wie es bereits in der Überschrift heißt: »Die Deduction der ästhetischen Urtheile über die Gegenstände der Natur darf nicht auf das, was wir in dieser erhaben nennen, sondern nur auf das Schöne gerichtet werden« (ibid.). Die Differenzierung gründet darauf, dass die Zweckmäßigkeit beim Schönen »im Objecte und seiner Gestalt ihren Grund« und folglich eine Beziehung auf Gegenständlichkeit außer uns hat, während die Zweckmäßigkeit beim Erhabenen innerhalb eines Subjekts besteht und »daher selbst a priori zweckmäßig ist« (5: 280). Kant sagt: »das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein« (5: 245). Die Gegenstände selbst, die wir erhaben nennen, sind eher formlos (5: 244). In diesem Sinne bezeichnet Kant in der Einleitung die Zweckmäßigkeit beim Schönen als »Zweckmäßigkeit der Objecte« und die Zweckmäßigkeit beim Erhabenen als die »des Subjects« (5: 192). Der zweiten Blickrichtung liegt die Einsicht in den (Natur-) Gegenstand des reinen Geschmacksurteils zugrunde, dass er unab­ hängig von uns und außerhalb von uns existiert. Die Zweckmäßigkeit dabei zeigt sich »gleichsam species finalis […] data« (5: 280), d. h.,

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

sie lässt sich als von der »Natur außer uns« gegeben betrachten. In dieser Hinsicht spricht Kant zweimal von der »selbstständige[n] Naturschönheit« (5: 245, 5: 246; Hervorhebung der Verf.). Dies hängt mit der Zufälligkeit des zweckmäßigen Verhältnisses zwischen der Natur und dem Erkenntnisvermögen als heterogenen Elementen zusammen, die vorhin besprochen wurden. Die Naturschönheit, die unabhängig von uns existiert und den­ noch die Zweckmäßigkeit zu unserem Erkenntnisvermögen zeigt, scheint »für unsere Urtheilskraft gleichsam vorherbestimmt« zu sein (5: 245). Die in ihr beobachtbare gesetzmäßige Gestalt führt zur Frage, ob die Natur durch ein intelligentes Wesen geschaffen sei. Gerade in dieser Hinsicht sagt Kant: »Die selbstständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Princip wir in unserm ganzen Verstandesvermögen nicht antref­ fen, vorstellig macht, nämlich dem einer Zweckmäßigkeit respectiv auf den Gebrauch der Urtheilskraft in Ansehung der Erscheinungen« (5: 246; Hervorhebung der Verf.). Dieser Gedanke kommt in § 42 wieder auf. Nur der Ausdruck »Technik der Natur« wird durch »Kunst« ersetzt, die die Natur »an ihren schönen Producten […] gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung […] zeigt« (5: 301; Hervorhebung der Verf.). Zu dieser Passage wird später zurück­ gekehrt. Zu beachten ist, dass Subjekte keine Urheber jener »Technik« bzw. »Kunst« sind. Die unterschiedlichen Ursprünge machen die Heterogenität aus. In Bezug auf die Heterogenität zwischen dem Objekt und dem Subjekt lässt sich die Übereinstimmung der schönen Natur mit der formalen Bedingung unserer Urteilskraft, die im freien Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand besteht, als ein erfreu­ licher Zufall betrachten. Auch die Behauptung in § 42, dass am Kunst­ schönen kein Vernunftinteresse besteht (5: 299), vertritt diesen Punkt. Die Zweckmäßigkeit, die ein Kunstwerk gegenüber den Erkenntniskräften zeigt, lässt sich nicht als Zufall auffassen, da dessen Urheber ein menschliches Subjekt ist. In § 42 äußert Kant: »Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: dieser Gedanke muß die Anschauung und Reflexion begleiten«, damit ein Vernunftinteresse am Schönen bestehen kann (ibid.; Hervorhebung der Verf.). In dem­ selben Paragrafen steht auch, dass unser »Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenk[t], ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden« (5: 300).

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2.2. Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

2.2.3. Interpretation zu den zwei Blickrichtungen Sehr wichtig ist, darauf zu achten, dass der soeben zitierte Gedanke betreffend die Heterogenität der Naturschönheit bezüglich ihrer Her­ kunft sowie des Vernunftinteresses an einer Naturschönheit nicht zum reinen Geschmacksurteil gehört. Denn er ist mit dem Bedürfnis der praktischen Vernunft bezüglich der »Natur außer uns« verbunden, mit dem später eine intensive Auseinandersetzung folgen soll. Um ein reines Geschmacksurteil zu fällen kann in der Tat ver­ nachlässigt werden, ob der Gegenstand von der Natur oder von dem Menschen herkommt, ob er überhaupt existiert. »Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohl­ gefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag« (5: 205). Dieses Wohlgefallen, d. h. das Gefühl der Lust beim reinen Geschmacksurteil, rührt nicht von der Existenz des Gegenstands in der Natur, stattdessen ist es »unmittelbar mit der bloßen Beur­ theilung [der Vorstellung jenes Gegenstandes] verbunden« (5: 289; Hervorhebung der Verf.). Eine bloße Beurteilung der Vorstellung wird daher nicht nur mit einer Erkenntnisabsicht, sondern auch mit einem Bedürfnis der praktischen Vernunft bzw. mit einem darauf orientierten Interesse vermischt. Folglich darf diese Lust des reinen Geschmacksurteils nicht mit dem Lustgefühl verwechselt werden, welches wir fühlen können, wenn wir aus der zweiten Blickrichtung auf das zufällig zustande gekommene zweckmäßige Verhältnis zwischen der Naturschönheit und unserem Erkenntnisvermögen aufmerksam werden. Kant spricht der letzteren Art von Lustgefühl eine ausdrückliche Anerkennung zu, indem er sie »noch eine Lust an der Existenz« des Gegenstandes nennt, wenn er in § 41 der Kritik der Urteilskraft das Thema der Verbin­ dungsmöglichkeit eines Vernunftinteresses mit dem reinen Geschmacksurteil erstmals zur Sprache bringt (5: 296; Hervorhebung der Verf.). Hier lässt sich noch feststellen, dass die erste Blickrichtung allein ausreicht zur Erläuterung der Zweckmäßigkeit bzw. der Lust als deren Bewusstsein beim reinen Geschmacksurteil (5: 222). Die zweite Blickrichtung, die sich auf das zweckmäßige Verhältnis zwischen Natur und Mensch ausrichtet, ist dafür nicht nötig. Damit lässt sich annehmen, dass die zweite Blickrichtung, die sich im Verlauf der Exposition und der Deduktion der reinen Geschmacksurteile zeigt,

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2. Zwei Perspektiven auf die Zweckmäßigkeit beim Geschmacksurteil

die Erweiterung des Geschmacksurteils über den Bereich eines reinen Geschmacksurteils hinaus vorwegnimmt. Kant hat zwar seine Gedanken zur Erweiterung des Geschmacks­ urteils über das reine Geschmacksurteil hinaus nicht explizit ent­ wickelt. Aber sind in der Kritik der Urteilskraft seine weiterführenden Überlegungen zur Erscheinung des – insbesondere – Naturschönen zu beobachten, die den Bereich des reinen Geschmacksurteils durch­ aus übersteigen. Beispielsweise sagt Kant im Eingangsparagrafen der Analytik des Erhabenen Folgendes: »Daraus sehen wir, daß der Begriff des Erhabenen der Natur bei weitem nicht so wichtig und an Folgerungen reichhaltig sei, als der des Schönen in derselben; und daß er überhaupt nichts Zweckmäßiges in der Natur selbst, sondern nur in dem möglichen Gebrauche ihrer Anschauungen, um eine von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns selbst fühlbar zu machen, anzeige. Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns« (5: 246; Hervorhebung der Verf.).

In dieser Passage gibt Kant dem Naturschönen vor dem Erhabenen den Vorrang. Denn nur das Naturschöne zeige Zweckmäßigkeit »in der Natur selbst« und sei folglich »wichtig und an Folgerungen reichhaltig«. Dies lässt sich in Bezug auf den vorhin besprochenen Gedanken verstehen, dass anhand der Schönheit der Natur ein intelli­ genter Urheber vorstellbar wird, der die Natur absichtsvoll, nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, geschaffen hat. Die Zweckmäßigkeit der Natur außer uns und unserem Erkenntnisvermögen als zufällige Einstimmung zwischen heterogenen Elementen veranlasst den Men­ schen zu Überlegungen über seine Bestimmung, den moralischen Zweck in der Natur zu verwirklichen. Dies überschreitet sicherlich den Bereich des rein Ästhetischen. Dass das Naturschöne »an Folgerungen reichhaltig« ist, kommt wieder in § 30 zum Ausdruck: »Man kann daher auch in Ansehung des Schönen der Natur mancherlei Fragen aufwerfen, welche die Ursache dieser Zweckmäßigkeit ihrer Formen betreffen: z. B. wie man erklären wolle, warum die Natur so verschwenderisch allerwärts Schönheit verbreitet habe, selbst im Grunde des Oceans, wo nur selten das menschliche Auge (für welches jene doch allein zweckmäßig ist) hingelangt, u. d. gl. m.« (5: 279; Hervorhebung der Verf.).

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2.2. Zweckmäßigkeit in Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils

Es ist ersichtlich, dass es sich bei diesen »mancherlei Fragen« um Fra­ gen nach dem Zweck der Schöpfung handelt. Die »wichtigen« Fragen danach bzw. das Interesse daran, ob es überhaupt einen allgemein zutreffenden Zweck der Schöpfung gibt, oder, wenn ja, ob dergleichen Zweck unserem moralischen Zweck entspricht, sind erst bei den »Folgerungen« möglich, die sich aus der von der zweiten Blickrichtung durchgeführten Reflexion über das reine Geschmacksurteil ergeben. Die überraschend scheinende Hervorhebung der vor außen her gegebenen Form des Objekts sowie die unerwartete Beschränkung der Diskussion auf die Schönheit der Natur, die wir zu Beginn der Deduk­ tion beobachten konnten, lassen sich jetzt folgendermaßen verstehen: Das Ziel der Deduktion des reinen Geschmacksurteils liegt darin, es zu seinem Zustimmungsanspruch zu berechtigen. Dafür entschei­ det sich Kant letztendlich für die erste Blickrichtung, indem er im Lauf der Deduktion von dem Objekt außer uns abstrahiert. Wird aber ein reines Geschmacksurteil in Hinsicht des Hauptanliegens der gesamten dritten Kritik betrachtet, besteht der Berührungspunkt des reinen Geschmacksurteils zu ihm in der Beurteilung der Form der schönen Natur außer uns. Kant wollte mit der zweiten Blickrichtung anschei­ nend seinen Lesern diesen Überblick geben und sie auf die durch das Vernunftinteresse vermittelte Erweiterung des reinen Geschmacks­ urteils vorbereiten. Dergleichen Erweiterung stellt Kant in § 57 als »eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts« ins Über­ sinnliche dar (5: 339). Nur mit der zweiten Blickrichtung allein lässt sich zwar die »Beziehung der Vorstellung des Objekts« nicht ins Übersinnliche erweitern. Ein Perspektivenwechsel von der ersten hin zur zweiten Blickrichtung, die Aufmerksamkeit lenkt auf die Objek­ tivität der selbstständig als schön erscheinenden Natur, ist aber nötig, um dazu zu gelangen. Im Folgenden wird besprochen, wie die zweite Blickrichtung mit einem Vernunftbegriff verknüpft wird, damit diese Erweiterung des reinen Geschmacksurteils erfolgt.

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils außerhalb der Theorie des reinen Geschmacksurteils

Obwohl Kant die Theorie der Erweiterung des reinen Geschmacks­ urteils weder intensiv noch vollständig entwickelt, so gibt es dennoch einige Stellen, an denen sich durch passende Interpretationen klare Hinweise auf die Erweiterung feststellen lassen. Zuerst sei eine Stelle in § 57 der Kritik der Urteilskraft betrachtet, die den Perspektiven­ wechsel innerhalb des Urteilenden des Geschmacks, der der Erweite­ rung zugrunde liegt, treffend formuliert: »Gleichwohl ist ohne Zweifel im Geschmacksurteile eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts) enthalten, worauf wir eine Ausdehnung dieser Art Urteile, als notwendig für jedermann, gründen, welcher daher notwendig irgendein Begriff zum Grunde liegen muß […]. Ein dergleichen Begriff aber ist der bloße reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, das dem Gegenstande (und auch dem urtheilenden Subjecte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt. Denn nähme man eine solche Rück­ sicht nicht an, so wäre der Anspruch des Geschmacksurteils auf allge­ meine Gültigkeit nicht zu retten« (§ 57, 5: 339 f.; Hervorhebung der Verf.).

Mit einem Perspektivenwechsel ist hier die Änderung der Geistes­ haltung des Urteilenden gegenüber seiner ästhetischen Erfahrung gemeint. Die kursiv markierten Teile des Zitats beziehen sich auf den Wechsel der Perspektiven: eine Erweiterung hinsichtlich der Vorstellung und eine Ausdehnung der Urteilsart. Kant sagt in der zitierten Passage, dass der »Anspruch des Geschmacksurteils« ohne solche Rücksicht nicht besteht. Die Behauptung Kants allein, dass ein Vernunftbegriff vom Übersinnlichen diesem Anspruch und jener Erweiterung sowie Ausdehnung zugrunde liegt, lässt leicht erkennen, dass Kant hier mit dem »Anspruch des Geschmacksurteils« keinen Anspruch meint, den ein reines Geschmacksurteil erheben kann. Im

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird gezeigt, dass dieser Anspruch ein Sollens-Anspruch ist.

3.1. Eine mögliche Interpretation und Einwand dagegen Es soll zuerst eine mögliche, aber von unserer Ansicht abweichende Interpretation der kursiv hervorgehobenen Textabschnitte präsentiert werden, gegen die argumentiert wird, bevor dann unsere Interpreta­ tion entwickelt wird. In dem Absatz, der vor der eben zitierten Passage steht, lehnt Kant die Ansicht ab, ein Geschmacksurteil sei »nur ein Privaturtheil: und sofern würde es seiner Gültigkeit nach auf das urtheilende Indi­ viduum allein beschränkt sein« (5: 339). In diesem textlichen Zusam­ menhang scheinen die hervorgehobenen Textabschnitte nicht mehr als die subjektive Allgemeingültigkeit eines reinen Geschmacksur­ teils zu thematisieren. Die Erweiterung sowie die Ausdehnung ließen sich in dieser Hinsicht so verstehen, dass sie beide sich bloß auf die Anzahl der Subjekte beziehen, die nicht für ein Privaturteil, sondern für ein allgemeingültiges Urteil gilt. Mit anderen Worten ist eine Interpretation dahin gehend denkbar, dass die eben zitierte Passage nicht mehr als eine Wiederholung dessen sei, was im Rahmen der Theorie des reinen Geschmacksurteils dargelegt ist. Diese Interpretation wird außerdem bestärkt, wenn man zwei andere Stellen aus der Kritik der Urteilskraft hinzuzieht, an denen sich die gleichen Ausdrücke – »erweitern« und »ausdehnen« – finden lassen: An der einen Stelle schreibt Kant das Prädikat »erweitert« einem auf die Allgemeingültigkeit eigenen Urteils achtenden Sub­ jekt zu (5: 295). An der anderen Stelle sagt Kant, die subjektive Allgemeingültigkeit eines Geschmacksurteils erörternd, dass man beim Geschmacksurteil »das Prädikat der Schönheit« »über die ganze Sphäre der Urteilenden ausdehnt« (5: 215; Hervorhebung der Verf.). Man könnte annehmen, dass die Ausdrücke »Erweiterung« sowie »Ausdehnung« die Einstellung eines Subjekts bedeuten, das jenseits des Solipsismus steht, und das Verhältnis solch eines Subjekts zu allen anderen Subjekten darstellen. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass das von Kant in der vorliegenden Passage aus § 57 Besagte nicht durch jenes intersubjektive Verhältnis zwischen Subjekten erschöpft wird. Kant spricht dort von der erweiterten Beziehung der Vorstellung, nicht nur

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3.2. Vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse

des Subjekts, sondern auch des Objekts, doch findet in der oben vor­ gelegten Interpretation eine »Erweiterung« hinsichtlich des Objekts keine Berücksichtigung. Während sich die Erweiterung in dieser Interpretation als Vermehrung der Anzahl von betroffenen Subjekten verstehen lässt, ist eine derartige Erweiterung bezüglich des Objekts undenkbar: Das Geschmacksurteil ist logisch betrachtet ein Einzelur­ teil (5: 215), d. h., dessen Urteilender bezieht sich keineswegs auf ein bezüglich des Objekts universales Urteil wie »Alle X sind schön«. Ein Geschmacksurteil bezieht sich zwar auf alle anderen Subjekte, aber nicht auf alle anderen Objekte, die unter dem Begriff X zu verstehen sind. Es stellt sich heraus, dass die obige Interpretation zumindest dem Kantischen Ausdruck »eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts« nicht gerecht wird. Zugleich ergibt sich das Erfordernis, die obige Interpretation auch hinsichtlich der »Ausdehnung« erneut zu überprüfen, die dort nicht strikt von der »Erweiterung« zu unterscheiden war. Der zitierte Passus aus § 57 gibt zu erkennen, dass die »Ausdehnung« auf jener »Erweiterung« begründet wird. Wenn die »Erweiterung« nicht durch die intersubjektive Implikation erschöpft werden kann, muss man auch die »Ausdehnung« anders betrachten. Wird Kants Formulierung genau gelesen, lässt sich ferner bemerken, dass das hier Ausgedehnte nicht die intersubjektive Dimension eines Geschmacksurteils ist, son­ dern »dies[e] Art der Urteile« (5: 339).27 Die »Art der Urteile«, die infrage steht, ist nichts anderes als das Geschmacksurteil. Was meint Kant damit, dass ein Geschmacksurteil ausgedehnt werde? Auf wel­ chen Sachverhalt bezieht er sich außerdem, wenn er in § 57 sagt, dass die »Beziehung der Vorstellung« erweitert werde?

3.2. Perspektivenwechsel vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse Um diese Fragen zu beantworten, muss man wieder den zitierten Pas­ sus aus § 57 unter die Lupe nehmen. Dort führt Kant einen gegenüber der Analytik völlig neuen Gedanken ein: Den »Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, das dem Gegenstande (und auch dem urthei­ In seiner die Bezeichnung »erweitert« sowie die »Ausdehnung« beinhaltenden Bemerkung setzt Wenzel die »Ausdehnung« voreilig mit der »extension […] of the validity of the judgment of taste to everyone« gleich (Wenzel 2005, 45).

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

lenden Subjecte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt« (5: 340). Ersichtlich ist, dass dieser Vernunftbegriff ebenfalls einen gleichzeitigen Bezug auf das Objekt und das Subjekt zum Ausdruck bringt.28 Dies legt die Vermutung nahe, dass die »erweiterte Beziehung der Vorstellung« mit diesem Vernunftbegriff in Verbindung zu bringen ist. Tatsächlich spricht Kant in der zitierten Passage aus § 57 aus, dass die Erweiterung und der Vernunftbegriff in einem engen Zusammenhang stehen, indem die »Ausdehnung« auf der »Erweiterung« gründet und der »Ausdehnung« wiederum der Vernunftbegriff vom Übersinnlichen zugrunde liegt.29 Infolgedessen lässt sich versuchen zu erläutern, in welche Richtung die »Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts)« erweitert wird: Die Erweiterung verfährt von dem Objekt bzw. Subjekt als Erscheinung in die Richtung des übersinnlichen Substrats hin, das ihm als Erscheinung zugrunde liegt. Sie lässt sich als Wechsel der Per­ spektive bezeichnen, der innerhalb des urteilenden Subjekts erfolgt.30 Die zweite Perspektive, die in 1.2. besprochen wurde, richtet zwar die bewusste Aufmerksamkeit auf die Struktur der Verhältnisse, wel­ che dem Sachverhalt innewohnen, der ein reines Geschmacksurteil ermöglicht, doch nimmt sie noch keinen Bezug auf das Übersinnliche. Damit ein solcher Bezug entsteht, muss sich diese Perspektive an Dieser Begriff vom Übersinnlichen, der sich durch den ganzen § 57 (einschließlich der zwei längeren Anmerkungen) zieht, ist zwar manchmal nur auf das Objekt bezo­ gen, wo er als »Grund[] überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft« (§ 57, 5: 340; Hervorhebung der Verf.) beschrieben ist und manchmal nur auf das Subjekt, wo er als »das übersinnliche Substrat der Mensch­ heit« (ibid.; Hervorhebung der Verf.), oder »die unbestimmte Idee des übersinnlichen in uns« (§ 57, 5: 341; Hervorhebung der Verf.) bezeichnet wird. Er bezieht sich aber ausdrücklich auf die beiden, wenn Kant ihn »das intelligibele Substrat der Natur außer uns und in uns« nennt (§ 57, Anm. II, 5: 345; Hervorhebung der Verf.), genauso wie im oben zitierten Passus. Daher ist davon auszugehen, dass der Kantische Begriff vom Übersinnlichen im Grunde über die zweifache Beziehung verfügt. 29 Dieser »Erweiterung« bzw. »Ausdehnung« ist bisher anscheinend keine richtige Aufmerksamkeit geschenkt worden. Trotzdem lassen sich mit Birgit Recki und Paul Guyer zwei Interpreten benennen, die in den vergangenen Jahren darauf aufmerksam gemacht haben, dass Kant den von der »Erweiterung« untrennbaren Begriff vom Übersinnlichen in zweifacher Weise (hinsichtlich des Objekts und zugleich des Sub­ jekts) betrachtet (Recki 2008, 193; Guyer 2005, 231 f.). 30 Zu Recht weisen Dieter Schönecker und Allen Wood darauf hin, dass die Unter­ scheidung zwischen Erscheinungen und deren übersinnlichem Substrat grundsätzlich epistemologisch, nicht ontologisch, zu verstehen ist (Schönecker und Wood 2007, 188 f.). 28

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3.2. Vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse

einen Vernunftbegriff knüpfen, wie die vorliegende Passage aus § 57 besagt. Vor dem Besprechen des Vernunftbegriffs soll erläutert wer­ den, dass das reine Geschmacksurteil, das sich vor der Erweiterung der »Beziehung der Vorstellung« sowie der Ausdehnung befindet, nicht noumenal, sondern phänomenal ist. Dabei ist zu beachten, dass sich die Phänomenalität des reinen Geschmacks und die Noumenali­ tät des erweiterten Geschmacksurteils sowohl in Hinsicht auf das Objekt als auch auf das Subjekt betrachtet werden sollen. Zunächst zum Subjekt: In 1.1. wurde gezeigt, dass sich das reine Geschmacksurteil auf die »innere Kausalität« der Tätigkeiten von eigenen Erkenntniskräften konzentriert. Das Gefühl der Lust, durch das sich das Subjekt der Tätigkeiten bewusst wird, und das Kant als »Lebensgefühl« bezeichnet, bezieht sich zwar auf eine gewisse »Spontaneität« der Erkenntniskräfte (5: 197). Und auch wenn die Erkenntniskräfte durch eine Vorstellung des Gegenstandes zur Tätig­ keit veranlasst wurden, ist es die innere Kausalität, welche die freie Bewegung weiter antreibt. Die Spontaneität dieser inneren Kausalität unterscheidet sich aber von der »reine[n] Selbsttätigkeit«, die sich nur der Vernunft zuschreiben lässt, da die innere Kausalität auf jeden Fall »durch Gegenstände afficirt« werden muss (4: 452). Wenn man außerdem an die Strategie Kants denkt, ein reines Geschmacksurteil auf subjektive Bedingungen für die Erkenntnis überhaupt zu gründen, verharrt das Subjekt des reinen Geschmacksurteils in der Tat auf der Ebene eines Urteilenden, »der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist« (5: 219), d. h. auf der phänome­ nalen Ebene. Hinsichtlich des Objekts wird ein reines Geschmacksurteil eben­ falls auf der Ebene des homo phaenomenon gefällt. Wie bereits betont wurde, charakterisiert sich ein reines Geschmacksurteil in Hinsicht auf das Objekt dadurch, dass die Existenz sowie die Beschaffenheit des Gegenstandes ausgeblendet werden und der Gegenstand dabei ledig­ lich als Auslöser der Tätigkeiten von Erkenntniskräften fungiert – die Mechanik der Tätigkeiten bewegt die »innere Kausalität«. Trotzdem spricht Kant von den Tätigkeiten der Erkenntniskräfte beim reinen Geschmacksurteil als der »bloßen Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung« und als der »bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes«. Wie vorhin erkannt wurde, steht für Kant fest, dass »[a]lle Form der Gegenstände der Sinne (der äuße­ ren sowohl als mittelbar auch des inneren)« raumzeitlich verstanden werden soll (5: 225). Auch wenn Kant die Gegenstandsbezüglichkeit

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

des reinen Geschmacksurteils nicht ständig hervorhebt, lässt sich – wie deutlich wurde – ein gewisser Bezug auf den Gegenstand nicht zu jeder Zeit leugnen. Und was dabei aufgefasst bzw. reflektiert wird, sodass sich die Erkenntniskraft durch das freie Spiel in die innere Kausalität bringen lässt, ist eine raumzeitliche »Beziehung der Vorstellung« (5: 339) des Objekts. In dieser Hinsicht lässt sich sagen: Obwohl ein reines Geschmacksurteil im Gegensatz zu einem Erkenntnisurteil »innerhalb der alten Ordnung [des Raums und der Zeit] eine neue hineinbringt« (de Rosales 2008, 87), zeigt es dennoch einen speziellen Fall des phänomenalen Charakters des Menschen, der sich als »Betroffensein durch die raumzeitlich-sinnliche Prinzipiens­ phäre« auszeichnet (Baumanns 2000, 31). So viel zum phänomenalen Charakter eines reinen Geschmacks­ urteils. Wie sieht dann die Erweiterung der Vorstellung aus, die von der phänomenalen Ebene eines reinen Geschmacksurteils ausgeht und in das dahinter liegende, übersinnliche Substrat mündet? Welche Vernunftidee kann beim Urteilenden dazu führen, an das übersinnli­ che Substrat des Objekts sowie des Subjekts zu denken? Die Antwort ist in der zitierten Passage aus § 57 nicht zu finden. Denn Kant liefert keine weiteren Aussagen mehr zu dieser »Erweiterung«, die seiner Ansicht zufolge »ohne Zweifel« erfolgt (5: 339). Eine ganz andere Stelle lässt sich zur Hilfe nehmen. Kant deutet im § 42 auf die Verknüpfung zwischen einem Geschmacksurteil und dem übersinnlichen Substrat hin, das dem Objekt zugrunde liegt, obwohl er dort den Terminus »übersinnliches Substrat« nicht ver­ wendet. Die Verknüpfung liegt in des Urteilenden Auslegung der Existenz der schönen Natur aus einer übersinnlichen Perspektive, wie später näher erläutert wird. Die zwei kursiv hervorgehobenen Cha­ rakteristiken treffen nicht auf ein reines Geschmacksurteil zu, denn in einem reinen Geschmacksurteil zieht das Subjekt die Existenz des Gegenstandes gar nicht in Erwägung und verbleibt in phänomenaler Perspektive. Wodurch erfährt das Subjekt des reinen Geschmacksur­ teils dann solch eine Veränderung hinsichtlich seines Bewusstseins? Die Antwort in § 42 lautet: Durch ein intellektuelles Interesse, d. h. ein Interesse, das die Vernunft initiiert. Dazu sagt Kant im 7. Absatz des § 42: »Da es aber die Vernunft auch interessirt, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objective Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine

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3.2. Vom Phänomenalen zum Noumenalen durch ein Vernunftinteresse

gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Producte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen […] anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüth über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessirt zu finden« (5: 300).

Diese Passage enthält sehr wichtige Auskünfte in so großer Zahl, dass mehrmals zu ihr zurückgekehrt werden soll, vor allem das Bedürfnis der praktischen Vernunft betreffend, die veranlasst durch das Schöne ein intellektuelles Interesse verfolgt. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass das Subjekt eines reinen Geschmacksurteils durch Einmischung der Vernunft auf das Verhältnis eines schönen Naturdings zum ihm zugrunde liegenden übersinnlichen Substrat aufmerksam wird. Obiger Passage zufolge deuten die schönen Produkte der Natur an, dass »die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittel­ bares Interesse bewirkt) auch objective Realität haben«. Was für Ideen sind dies? Später wird gezeigt, dass Kant hier mit »Ideen« die Idee des höchsten Guts als Endzweck der Vernunft meint. Diese Idee hängt in der Kantischen Philosophie mit einem speziellen Bedürfnis der prak­ tischen Vernunft zusammen. Aufgrund dieses Bedürfnisses interes­ siert sich die Vernunft für Gelegenheiten, die eine »Spur« der objek­ tiven Realität der Idee zeigen. Die Vernunft interessiert also die Vorstellung, dass die Natur doch für die Realisierung des höchsten Guts günstig beschaffen wäre, deren Zweckmäßigkeit für die Vernunft sich ein Subjekt gar nicht versichern kann. Dies klärt auch, warum Kant lediglich das Naturschöne, nicht das Kunstschöne, zum Gegen­ stand solchen intellektuellen Interesses bezügliches des Geschmacks­ urteils zählt: Es ist in der Natur, wo der Endzweck realisiert werden soll (5: 195 f.). Die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit der Natur, die bezüglich ihrer Herkunft unabhängig von unserer Vernunft existiert, für unsere Vernunft sowie das höchste Gut als deren Endzweck ruft den Gedan­ ken hervor, dass das übersinnliche Substrat hinter der schönen Erscheinung der Natur in der Tat mit der moralischen Bestimmung des Menschen zusammenhängen könnte. Dazu äußert Kant im 8. Absatz des § 42 Folgendes: »Dazu kommt noch die Bewunderung der Natur, die sich an ihren schö­ nen Producten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als Zweckmäßigkeit

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst und zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht, nämlich der mora­ lischen Bestimmung, suchen« (5: 301).

In dieser Passage kommt der Begriff »Zufall« vor, der bereits vorhin betrachtet wurde. Dabei wurde darauf geachtet, dass in einem reinen Geschmacksurteil eine Einstimmung zwischen heterogenen Elemen­ ten zustande kommt, die insofern eine zufällige Einstimmung ist. Dahingegen geht es hier um die Bewunderung einer Erscheinung, die nicht wie Zufall, sondern wie die Folge einer Absicht aussieht. Trotz­ dem bezieht sich diese Bewunderung auf die gleiche Einstimmung wie beim reinen Geschmacksurteil. Die Zufälligkeit dieser Einstimmung wird unter der Annahme von Einmischung einer Absicht bei der Schöpfung der Natur negiert: Die Einstimmung ließe sich nicht mehr als zufällig ansehen, wenn sie durch eine Absicht verursacht würde. Aber wieso lässt man sich zu dergleichen Spekulation über eine Absicht leiten, wo man bloß auf eine zufällige Erscheinung stößt? Die Antwort lautet: Die Möglichkeit, eine den Menschen günstige Natur sicherzustellen, ist für die menschliche Vernunft sehr wichtig. Wenn die Ursache der Natur, der sich die unbekannte Absicht zuschreiben lässt, das schöne Naturding mit einer solchen Absicht geschafft hätte, läge also die Vermutung nahe, dass nicht nur diese schöne Natur, sondern sogar die ganze Natur für den Menschen bzw. den »Zweck […] in uns selbst« (5: 301), d. h. den Endzweck der menschlichen Vernunft, günstig geschaffen wurde. Dieses Thema wird ausführlich in Kapitel III besprochen. Dergleichen Gedanken, die durch das intellektuelle Interesse am Naturschönen veranlasst werden, zeigen eine veränderte Betrach­ tungsweise gegenüber dem schönen Gegenstand. Der Gegenstand wurde im reinen Geschmacksurteil bloß als Erscheinung in den raum­ zeitlichen Verhältnissen betrachtet, oder seine Objektivität gar igno­ riert, aber durch das Einmischen der Vernunft wird derselbe Gegen­ stand aus einer anderen, d. h. übersinnlichen Perspektive betrachtet. Genau in dieser Hinsicht geschieht die »erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts« (5: 339). Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt wurde, meint Kant, dass eine solche Erweiterung »zugleich [hinsichtlich] des Subjekts« (ibid.) geschieht. Dennoch behandelt Kant diese Erweiterung nirgendwo ausdrücklich, geschweige denn in § 42, wo lediglich die Erweiterung hinsichtlich des Objekts thema­ tisiert wird. Darauf gehen wir nachher ein.

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3.3. Ausdehnung der Urteilsart und ein anderer Allgemeingültigkeitsanspruch

3.3. Ausdehnung der Urteilsart und ein anderer Allgemeingültigkeitsanspruch Kants Theorie über das Vernunftinteresse am Schönen kann außer­ dem Aufschluss über die »Ausdehnung« geben. Wie Kant zu Beginn des § 41 sagt, wird einem bereits abgeschlossenen »reine[n] ästheti­ sche[n] Urteil« ein Vernunftinteresse beigefügt: »Daß das Geschmacksurtheil, wodurch etwas für schön erklärt wird, kein Interesse zum Bestimmungsgrunde haben müsse, ist oben hinrei­ chend dargethan worden. Aber daraus folgt nicht, daß, nachdem es als reines ästhetisches Urtheil gegeben worden, kein Interesse damit verbunden werden könne« (5: 296).

Aus der neuen, noumenalen Perspektive kommt eine Deutung des Gegenstandes in Bezug auf das übersinnliche Substrat vor, mit einem anderen Wort, seine Beurteilung, die in anderer Weise erfolgt als bei einem reinen Geschmacksurteil. Diese Deutung bzw. Beurteilung wird durch ein Interesse ausgelöst sowie begleitet: »Das Gemüt [kann] über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden« (5: 300; Hervorhebung der Verf.). Dies deutet an, was Kant mit der »Ausdehnung dieser Art Urteile« meint, nämlich, was bei der Erweiterung der Vorstellung bezüglich der Urteilsart geschieht: Man geht von einem rein ästhetischen Urteil zu einem nicht mehr als »rein« zu bezeichnenden Urteil über. Die Tatsache, dass das reine Geschmacksurteil durch Verbindung mit einem Interesse aufhört, »rein« zu sein, lässt sich auch im letzten Satz des § 40 erkennen: »Wenn man annehmen dürfte, daß die bloße allgemeine Mittheilbarkeit seines Gefühls an sich schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse (welches man aber aus der Beschaffenheit einer bloß reflectirenden Urtheilskraft zu schließen nicht berechtigt ist): so würde man sich erklären können, woher das Gefühl im Geschmacksurtheile gleichsam als Pflicht jedermann zugemuthet werde« (5: 296; Hervorhebung der Verf.).

Diese Passage ist der einzige Ort, an dem Kant außerhalb von § 41 und § 42 in der dritten Kritik das Verhältnis zwischen einem Interesse und dem Geschmack erwähnt. Man könnte das hier erwähnte Inter­ esse als ein empirisches Interesse am Schönen betrachten. Denn das empirische Interesse, das im sich an die zitierte Passage direkt anschließenden § 41 thematisiert wird, bezieht sich auf die »allge­

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

meine Mitteilbarkeit« des Gefühls im gesellschaftlichen Kontext. Die­ ses Interesse liegt, sagt Kant in § 41, an der dem Menschen angebo­ renen »Neigung zur Gesellschaft« (5: 297). Es sei jedoch davor gewarnt, das hier in § 40 erwähnte Interesse an der allgemeinen Mit­ teilbarkeit des Gefühls mit dem in § 41 dargestellten empirischen Interesse gleichzusetzen. Aus Kants Aussage, dass anhand des Einmischens dieses Inter­ esses die pflichtartige Zumutung des Geschmacks erklärt werden kann, lässt sich entnehmen, dass das hier genannte Interesse dem empirischen fernsteht. Der Pflichtbegriff hängt mit der unbedingten Notwendigkeit der praktischen Vernunft zusammen. Man könnte freilich in der vorliegenden Passage das Wort »gleichsam« hervor­ heben und einwenden, dass diese Zumutung nicht als unbedingte Notwendigkeit überinterpretiert werden sollte. Auch wenn dieser Einwand richtig wäre, so lässt sich das Interesse hier jedoch nicht als ein empirisches ansehen. Denn es handelt sich hier um den Anspruch auf die Allgemeingültigkeit des Gefühls im Geschmacks­ urteil, der nicht bloß subjektiv ist. (Ob der Anspruch hier auf den Sollens-Anspruch oder den Anspruch eines reinen Geschmacksurteils hindeutet, wie in der Einleitung unterschieden wurde, besprechen wir noch nicht. Außerdem macht das hier auch keinen Unterschied.) Beim empirischen Interesse geht es lediglich um die Befriedigung einer Nei­ gung, sodass man anhand dessen keinen allgemeingültigen Anspruch erheben kann, der jedoch in dieser Passage präsent ist. Folglich ließe sich unter der Voraussetzung, dass Kant das Interesse am Schönen nur in zwei Arten – die empirische und die intellektuelle Art – unterteilt, die Alternative des empirischen Interesses ausschließen und jene des intellektuellen Interesses annehmen. Wird einmal das »Interesse« in der vorliegenden Passage als intellektuelles Interesse festgelegt, so stellt sich heraus, dass die genannte Zumutung als ästhetischer Sollens-Anspruch betrachtet wer­ den muss. Der Grund dafür ist im ersten Absatz des § 41 zu finden, mit dem Kant das Interesse am Schönen einführt. Dort sagt Kant, dass die Verbindung eines Interesses mit einem reinen Geschmacksurteil nur indirekt, d. h. erst durch Verbindung des Geschmacks »mit etwas anderem«, vorgestellt werden kann (5: 296): »Dieses Andere kann nun etwas Empirisches sein, nämlich eine Nei­ gung, die der menschlichen Natur eigen ist; oder etwas Intellectuelles als Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können« (ibid.; Hervorhebung der Verf.).

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3.3. Ausdehnung der Urteilsart und ein anderer Allgemeingültigkeitsanspruch

Aus der kursiv markierten Stelle lässt sich entnehmen, dass es beim intellektuellen Interesse um die Tätigkeit der reinen praktischen Ver­ nunft geht. Denn die apriorische Selbstbestimmtheit ist die Charak­ teristik der reinen praktischen Vernunft. Diese Tätigkeit hängt immer mit der unbedingten praktischen Notwendigkeit zusammen. Dabei zeigt sich, dass es sich hier doch um eine Pflicht handelt (wir dürfen also nicht durch das Wort »gleichsam« in der zitierten Passage aus § 40 irreführt werden), die sich, wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, als kategorischer Imperativ formulieren lässt, der zuletzt auf den Begriff des Endzwecks gründet (KrV A 840 = B 868, 4: 421, 4: 425, 6: 385). Der Anspruch eines reinen Geschmacksurteils, der im Rahmen der Deduktion besprochen wird, hat mit einer solchen praktischen Notwendigkeit nichts zu tun. Was die vorliegende Passage aus § 40 schließlich zu erkennen gibt, ist das Verhältnis zwischen dem Vernunftinteresse und der Urteilsart, die sich dabei ergibt: Durch das Einmischen eines Ver­ nunftinteresses hört die Urteilskraft auf, »bloß [zu] reflektieren«. In der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft artikuliert Kant die bloß reflektierende Tätigkeit der ästhetischen Urteilskraft als »bloße[n] Reflexion über dieselbe [sc. Form des Gegenstandes] (ohne Absicht auf einen von ihm zu erwerbenden Begriff)« (5: 190). Es ist genau diese Tätigkeit, in der ein reines Geschmacksurteil besteht. Wird das reine Geschmacksurteil mit einem Vernunftinteresse verbunden, dann bricht zugleich die bloße Reflexion ab, da dadurch gewisse Begrifflichkeiten in sie hineingebracht werden. Beachtenswert ist, dass Kant in der zitierten Passage aus § 40 versucht, den Zustimmungsanspruch zu dem beim reinen Geschmacksurteil entstehenden Gefühl aufgrund des Vernunftinter­ esses – sich dabei auf etwas außerhalb des reinen Geschmacksurteils Liegendes stützend – zu legitimieren. Der hier erwähnte Zustim­ mungsanspruch ist dann nicht mit demjenigen gleichzustellen, den Kant in der Deduktion zu rechtfertigen versucht. Dies ist auch der Fall bei jenem »Anspruch des Geschmacksurteils auf allgemeine Gültig­ keit«, der in der zu Beginn zitierten Passage aus § 57 besprochen wird. Solange er auf einen Vernunftbegriff aufbaut, steht er außerhalb des reinen Geschmacksurteils. Wenn Kant dennoch den in § 57 erwähnten Anspruch als »Anspruch des Geschmacksurteils« bestimmt, und nach der Auflösung der Antinomie sagt: »das Geschmacksurteil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimmten Begriffe (nämlich vom übersinnlichen Substrat der Erscheinungen)« (5: 340; Hervorhebung

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

der Verf.), verwendet er den Begriff »Geschmacksurteil« im erweiter­ ten Sinne, d. h. nicht mehr in dem Sinne des reinen ästhetischen Urteils. So lässt sich jene »Ausdehnung dieser Art Urteile« erklären: Die »erweiterte Beziehung der Vorstellung« geht also mit der Ausdeh­ nung der Extension eines Geschmacksurteils einher. Bemerkenswert ist noch, dass sich durch die »Erweiterung« zweierlei Ansprüche auf Allgemeingültigkeit des Geschmacks ergeben: Der eine steht innerhalb der Reflexion des reinen Geschmacksurteils, der andere außerhalb derselben.

3.4. Erweiterung sowie Ausdehnung in Hinsicht auf das Subjekt Im letzten Satz des § 40 wird ein anderer wichtiger Punkt angedeutet: Ein Vernunftinteresse kann dem reinen Geschmacksurteil auch in Hinsicht auf das Subjekt beigefügt werden. Das ergänzt den § 42 inhaltlich, der sich nur mit dem Vernunftinteresse an dem schönen Naturding beschäftigt31 und damit die Möglichkeit eines Vernunftin­ teresses an dem Subjektiven komplett außer Acht lässt. Im Gegensatz dazu weist Kant zum Ende des § 40 darauf hin, dass der Urteilende eines reinen Geschmacksurteils ein intellektuelles Interesse nicht nur an der Existenz des schönen Objekts haben kann, sondern auch an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls. Wie vorhin erwähnt wurde, rührt das Vernunftinteresse am Schönen vom Bedürfnis der prakti­ schen Vernunft bezüglich des höchsten Guts her. In welcher Hinsicht könnte die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls mit dem Begriff des höchsten Guts zusammenpassen? Da die Glückseligkeit als objektiver und die Sittlichkeit als subjektiver Teil die beiden Bestandteile des höchsten Guts ausmachen, ließe sich vermuten, dass sich die allge­ meine Mitteilbarkeit des Gefühls als subjektiver Aspekt des Schönen unter den zwei Bestandteilen auf die Sittlichkeit bezieht. Außerdem zeigt der Begriff Allgemeingültigkeit ein entscheidendes Merkmal der 31 Eine kontrastierende Sichtweise besagt, Kants Theorie über das Vernunftinteresse am Schönen bezüglich der Arten von Objekten sei nicht vollständig. So behauptet Jane Kneller, ein Vernunftinteresse auch an der Kunstschönheit sei möglich (Kneller 2007, 68 f.). Aber ein eventuelles Vernunftinteresse am Kunstschönen hätte nichts zu tun mit dem Problem des höchsten Guts bzw. dem Bedürfnis der praktischen Vernunft (siehe Kapitel III).

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3.4. Erweiterung sowie Ausdehnung in Hinsicht auf das Subjekt

Sittlichkeit, bei der immer die Befreiung von jeder Privatbedingung vorausgesetzt wird. Der Ausdruck »allgemeine Mitteilbarkeit« legt einen Akzent auf deren Subjekt-Bezüglichkeit. Mit ihm ist also gemeint, dass etwas ein jedes Subjekt betrifft. Der Begriff der Mitteilbarkeit beleuchtet einen Sachverhalt aus gesellschaftlicher Hinsicht. Es fällt auf, dass sich Kants direkte Verknüpfungen der allgemei­ nen Mitteilbarkeit des Gefühls an die Sittlichkeit sowohl im geschichtsphilosophischen als auch im anthropologischen Kontext finden lassen. In § 83 der Kritik der Urteilskraft sagt Kant: »Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mittheilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenn gleich den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll« (5: 433; Hervorhebung der Verf.).

Der § 69 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht behandelt genau das gleiche Thema: »Der Geschmack […] geht auf Mittheilung seines Gefühls der Lust oder Unlust an Andere und enthält eine Empfänglichkeit, [...] ein Wohlgefallen (complacentia) daran gemeinschaftlich mit Anderen (gesellschaftlich) zu empfinden. [...] Also hat der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität. – Den Menschen für seine gesellschaftliche Lage gesittet zu machen, will zwar nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich gut (moralisch) zu bilden, aber bereitet doch durch die Bestrebung in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden) dazu vor« (7: 244; Hervorhebung der Verf.).

Beide Passagen handeln davon, was sich aus einem (reinen) Geschmacksurteil in gesellschaftlicher Hinsicht ergeben kann. Die »Bestrebung in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden)« lässt erkennen, dass der Mensch die Neigung zum gesellschaftlichen Austausch mit anderen und zur gesellschaftli­ chen Anerkennung besitzt. Durch ein Geschmacksurteil, in dem es um ein allgemein mitteilbares Gefühl geht, kann der Urteilende diese Neigung befriedigen. Kant sagt in beiden Passagen ausdrücklich, dass ein Mensch durch die Bestrebung solcher Art zwar nicht sittlich, aber

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3. Kants Hinweise auf die Erweiterung des reinen Geschmacksurteils

zumindest gesittet werden kann. Und Kant betrachtet dies als äußere Beförderung zur Sittlichkeit. Dieser Prozess steht jedoch der Erweiterung der Vorstellung hinsichtlich des Subjekts durch ein intellektuelles Interesse am Schö­ nen fern. Dort muss eine Deutung des Urteilenden über sein eige­ nes Subjektives in der übersinnlichen Hinsicht, d. h. in der Hinsicht des höchsten Guts als Endzweck der Vernunft, geschehen. Indessen betrachtet der Urteilende des Geschmacks in den beiden zitierten Passagen die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls bloß als ein Mittel zur Befriedigung seiner gesellschaftlichen Neigung. Dabei erfolgt gar kein Übergang vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. In Kapitel III wird nachher die Theorie des höchsten Guts aus der Schrift: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [ab jetzt: Religionsschrift] besprochen, in der Kant die Notwendigkeit eines ethischen Gemeinwesens nachdrücklich betont. Erst dadurch lässt sich ans Licht bringen, warum die Vernunft hinsichtlich des höchsten Guts auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls aufmerk­ sam wird und wie die »erweiterte Beziehung« der Vorstellung des Subjekts vom Sinnlichen her auf das Übersinnliche hin aussieht. Davor soll in Kapitel II die andere Art von Allgemeingültig­ keitsanspruch ausführlich besprochen werden, deren Vorhandensein anhand von Kants Hinweisen auf die Erweiterung des Geschmacks­ urteils festgestellt wurde. Da Kant die Modalität dieses Anspruches als Sollen bestimmt, wird das ästhetische Sollen zum Thema des nächsten Kapitels.

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II. Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils

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1. Frage der Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils und Defizit der bisherigen Forschungen

Obwohl Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils größtenteils in der Analytik des Schönen vorliegt, ist sie zugleich der Ort, an dem der Sollens-Anspruch auf Zustimmung zu einem Geschmacksurteil dar­ gestellt ist. Die erste Darstellung dieses Anspruchs wird in § 7 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft erwähnt: »Er [sc. Urteilender des Geschmacksurteils] sagt daher: die Sache ist schön; und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urtheil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmalen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen. Er tadelt sie, wenn sie anders urtheilen, und spricht ihnen den Geschmack ab, von dem er doch verlangt, daß sie ihn haben sollen« (5: 212 f., Hervorhe­ bung im Original).

Diese Passage legt in zweierlei Hinsicht die Vermutung nahe, dass der Sollens-Anspruch nicht von einem reinen Geschmacksurteil erhoben werden kann. Erstens besagt diese Passage, dass der Urteilende nicht einen empirischen und zufälligen, sondern a priori einen Grund für den Sollens-Anspruch hat. Jedoch lässt sich hinsichtlich eines reinen Geschmacksurteils kein Grund für die Sollens-Forderung der Zustim­ mung finden. Denn ein reines Geschmacksurteil entsteht aufgrund des Gemeinsinns, den Kant als »Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte« (5: 238) erklärt. Wie im ersten Kapitel deutlich wurde, lässt sich mit dieser »Wirkung« nichts mehr meinen als ein Gefühl der Beförderung des Lebens, das sich aus einer konzen­ trierten Aufmerksamkeit des Urteilenden auf seine innere Tätigkeit mit der inneren Kausalität ergibt. Das Lebensgefühl ist sicherlich ein positives Erlebnis für den Urteilenden, aber lässt sich darin ein Grund für den Forderungsanspruch bzw. für das Tadeln gegenüber Nicht-Zustimmenden erkennen? Ein anderer Urteilender, wegen sei­ nes Gegen-Urteils getadelt, würde sich doch wahrscheinlich nach dem

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1. Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils

Grund für die eingeforderte Zustimmung erkundigen: »Wozu muss jeder gerade deinem Urteil zustimmen?« Dem Tadeln und dem For­ dern muss daher eine Begrifflichkeit zugrunde liegen, die den Grund erbringt. Kann aber ein reines Geschmacksurteil, das unmittelbar durch das Gefühl urteilt, solch eine Begrifflichkeit enthalten? Ein reines Geschmacksurteil scheint jedenfalls keine solche Begrifflichkeit einzuschließen, die die Wozu-Frage zu beantworten vermag. Zweitens lässt die oben zitierte Passage erkennen, dass die Begrifflichkeit, mit welcher der Urteilende seine Forderung begrün­ den können muss, mehr impliziert als die Einstimmigkeit von Urteilenden hinsichtlich dieses einzelnen Urteils. Das Tadeln von anderen wird dabei zwar durch die Feststellung veranlasst, dass »sie anders urtheilen«. Was aber schließlich von ihnen »verlangt« wird, ist nicht eine Zustimmung zu dem einzelnen Urteil über die Schönheit, sondern, dass die anderen den Geschmack »haben sollen«. Der Geschmack lässt sich hier also als Vermögen betrachten, das jedem Urteilenden innewohnen soll, sodass alle Urteilenden bezüg­ lich der Schönheit zur Eintracht finden, und zwar nicht bloß anhand eines einzelnen Urteils, sondern auch allgemein. Ein einzelner Fall des Geschmacksurteils indiziert hier, dass jemand den Geschmack habe oder nicht. Auch im Vierten Moment des Schönen – ebenfalls innerhalb der Analytik des Schönen – weist Kant ausdrücklich auf diese gedankliche Struktur eines Urhebers des Geschmacksurteils hin, wobei also ein einzelner Fall für eine Gesamtheit bzw. eine übergrei­ fende Idee steht. Kant nennt sie »exemplarisch«. Auf die Exemplari­ tät eines Geschmacksurteils wird später eingegangen. Hier sei nur darauf verwiesen, dass der Sollens-Anspruch auf Zustimmung zu einem Geschmacksurteil eine komplexe Reflexion einschließt, die sich auf die exemplarische Struktur zwischen einem einzelnen Fall und einer übergreifenden Begrifflichkeit bezieht. Der Sollens-Anspruch erschöpft sich nicht durch das Selbstbewusstsein des Urteilenden hinsichtlich seiner inneren Tätigkeit der Erkenntniskräfte. Das Vierte Moment des Schönen (§§ 18‒22) ist der Teil, in dem neben der Exemplarität viele Informationen über den SollensAnspruch geliefert werden. Das Sollen, das in der oben zitierten Pas­ sage aus § 7 als Modalität des Allgemeingültigkeitsanspruchs festge­ legt ist, greift Kant im Vierten Moment des Geschmacksurteils wieder auf und unterscheidet sie von anderen Arten von Modalität. Dabei bildet einen Kontrast mit der Sollens-Modalität das Verb »Werden«:

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1. Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils

Ein Urteilender des Geschmacksurteils »will zu Urtheilen berechtigen, die ein Sollen enthalten: er sagt nicht, daß jedermann mit unserm Urtheile übereinstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle.« (§ 22, 5: 239, B 67; Hervorhebung im Original).

Das »Werden« ist in § 18 noch einmal dem »Sollen« entgegengesetzt, indem es beim Vorhersagen von fremden Urteilen aufgrund einer theoretischen Notwendigkeit verwendet wird. Dagegen äußern sich die moralisch-praktische sowie die ästhetische Notwendigkeit durch das »Sollen«. Die einschlägige Passage lautet: »Diese Nothwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht eine theo­ retische objective Nothwendigkeit, wo a priori erkannt werden kann, daß jedermann dieses Wohlgefallen an dem von mir schön genannten Gegenstande fühlen werde; auch nicht eine praktische, wo durch Begriffe eines reinen Vernunftwillens, welcher freihandelnden Wesen zur Regel dient, dieses Wohlgefallen die nothwendige Folge eines objectiven Gesetzes ist und nichts anders bedeutet, als daß man schlechterdings (ohne weitere Absicht) auf gewisse Art handeln solle.« (§ 18, 5: 237 f.; Hervorhebung im Original).

Obzwar Kant die ästhetische Notwendigkeit von der praktischen absetzt, schreibt er ihr in § 19 das »Sollen« genauso zu wie der prak­ tischen: »Das Geschmacksurtheil sinnt jedermann Beistimmung an; und wer etwas für schön erklärt, will, daß jedermann dem vorliegenden Gegen­ stande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle.« (§ 19, 5: 237; Hervorhebung im Original).

Dieser Überblick zu Kants Verwendungen von Modalverben im Vier­ ten Moment legt die Vermutung nahe, dass ein Geschmacksurteil in Hinsicht auf die behauptete Notwendigkeit von einem Erkenntnis­ urteil abzuheben ist, doch eine gewisse Gemeinsamkeit mit einem moralischen Urteil hat. Nun stellen sich Fragen hinsichtlich der Verortung des Sollens-Anspruch eines Geschmacksurteils: Welche Gemeinsamkeit lässt aber die zwei verschiedenen Urteilsarten unter das gleiche »Sollen« anordnen? Inwiefern gehört ein Erkenntnisurteil nicht zu der Sollens-Gruppe? Die Beantwortung dieser Fragen ist ent­ scheidend für die Erschließung des Allgemeingültigkeitsanspruchs des Geschmacksurteils. Es gibt einige Interpreten der Kant-Literatur, die die der eben dargestellten Vermutung widersprechende Auffassung vertreten, dass sich das ästhetische Sollen im Wesentlichen mit dem Allgemeingül­

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1. Verortung des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils

tigkeitsanspruch eines Erkenntnisurteils decke, und die sich bemü­ hen, das ästhetische vom moralischen Sollen möglichst fernzuhalten. Die Ansichten solcher Stimmen sollen anhand von Aussagen Kants überprüft werden und zugleich wird nachfolgend der Versuch unter­ nommen, die ästhetische Notwendigkeit richtig zu verorten.

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

2.1. Recki Birgit Recki ist eine der infrage kommenden Interpreten. Sie behaup­ tet zwar nicht die Gleichartigkeit zwischen dem ästhetischen Sollen und dem Anspruch eines Erkenntnisurteils, doch versucht sie, einen Gegensatz zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Sollen zu bilden. In ihrer Monographie Ästhetik der Sitten schreibt sie: »Anders als es auf manche Interpreten wirkt, unternimmt Kant in der Kritik der Urteilskraft keineswegs den Versuch, die allgemeine Geltung ästhetischer Urteile durch ihren Bezug auf Moralität zu legitimieren« (Recki 2001, 114).

Diese Aussage selbst hat nichts mit einer Charakterisierung des ästhetischen Sollens zu tun, aber Recki ergänzt dazu in der Fußnote: »Schon in der Ersten Einleitung ist der Anspruch »daß man so urtheilen solle«, deutlich als ein anderer Ausdruck für die behauptete Notwendig­ keit ausgezeichnet, die Kant in der Analytik des Schönen als subjektive (oder: exemplarische) Notwendigkeit bestimmt – nicht als ein Sollen im moralischen Sinne (10: 239; siehe auch 10: 240)« (Hervorhebung im Original).

Der Inhalt dieser Fußnote einschließlich der Stellenangaben in der Ersten Einleitung lässt sich sinngemäß wiedergeben als: Auch in der Ersten Einleitung verwende Kant »Sollen« für die ästhetische Not­ wendigkeit, aber das Sollen dort weise nicht auf ein Sollen im mora­ lischen Sinne hin. Bereits in § 18 steht aber fest, dass sich die ästhe­ tische von der praktischen Notwendigkeit unterscheiden lässt. Deshalb ist es nicht so informativ wie gewünscht zu sagen, dass sich das ästhetische und das moralische Sollen nicht gleichen. Eine nütz­ liche Auskunft würde darüber informieren, an welchem Punkt die zwei verschiedenen Urteilsarten konvergieren, um gemeinsam einen Sollens-Anspruch erheben zu können. Da Reckis Aussage selbst nicht

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

aufschlussreich ist, soll ihrem Stellenverweis auf die Erste Einleitung gefolgt werden.32 »Sie [sc. ästhetische Reflexionsurteile] machen auf Notwendigkeit Anspruch und sagen nicht, daß jedermann so urtheile – dadurch sie eine Aufgabe zur Erklärung für die empirische Psychologie sein würden – sondern daß man so urtheilen solle, welches so viel sagt, als: daß sie ein Prinzip a priori für sich haben« (10: 239).

Dieser Passage zufolge bringt ein Geschmacksurteil durch seinen Sollens-Anspruch zum Ausdruck, dass es auf einem Prinzip a priori basiert. Es ist bereits ersichtlich, dass Kant hiermit nicht auf irgendeine Affinität zwischen einem Geschmacksurteil und einem moralischen Urteil hinweist. Dafür ist die hier gelieferte Auskunft unzureichend. Anstatt dessen ist die Passage möglicherweise im Zusammenhang mit anderen Stellen der Kritik der Urteilskraft so zu interpretieren, dass sie die Erkenntnisähnlichkeit des Geschmacksur­ teils andeutet. Zuerst findet sich eine ähnliche Stelle in der Zweiten Einleitung: »Ein einzelnes Erfahrungsurteil [...] verlangt mit Recht, daß ein jeder andere es ebenso finden müsse, weil er dieses Urteil, nach den all­ gemeinen Bedingungen der bestimmenden Urteilskraft, unter den Gesetzen einer möglichen Erfahrung überhaupt gefällt hat. Ebenso macht derjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes, ohne Rücksicht auf einen Begriff, Lust empfindet [...]; weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen, obzwar subjektiven Bedingung der reflektierenden Urteile [...] angetroffen wird« (5: 191; Hervorhebung der Verf.).

An der zitierten Stelle stellt Kant einen Vergleichspunkt zwischen einem Erkenntnisurteil und einem Geschmacksurteil heraus. Beide Urteile stellen zu Recht einen Anspruch auf Zustimmung zu sich selbst, da sie auf einem jeweiligen apriorischen Prinzip beruhen. Dies gibt in der Tat den Inhalt der oben zitierten Stelle aus der Ersten Einleitung wieder, einen Vergleich um den Fall eines Erkenntnisurteils ergänzend. Bemerkenswert ist, dass Kant diesmal den Allgemeingül­ tigkeitsanspruch nicht mit Sollen, sondern mit Müssen beschreibt. 32 Obwohl Recki auf Band XX, die Seiten 239 f. verweist, ist auf Seite 240 nichts in Bezug auf ästhetisches Sollen dargelegt. Die Seite behandelt nur ein Sollen, welches in einem teleologischen Urteil zu berücksichtigen ist. Deswegen soll nur eine Passage auf Seite 239 in Erwägung gezogen werden, wo es um ästhetisches Sollen geht.

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2.1. Recki

Ein zweiter relevanter Textauszug befindet sich in § 32 der Kritik der Urteilskraft. »Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche auf jeder­ manns Beistimmung, als ob es objektiv wäre« (5: 281; Hervorhebung der Verf.).

Auch hier markiert Kant eine Vergleichbarkeit zwischen einem Geschmacksurteil und einem Erkenntnisurteil in Hinsicht auf den All­ gemeingültigkeitsanspruch. Anscheinend verweist Recki in diesem Sinne auf jene Stelle aus der Ersten Einleitung, um ihre Abhebung des Geschmacksurteils vom moralischen Urteil zu beweisen. Diese Passage kann aber nicht als Beleg dafür gelten, dass die zwei Urteilsarten nicht zusammen grup­ piert werden könnten. Denn es ist durchaus möglich, das Sollen dort (wir nennen es Sollen A) als nicht identisch mit dem exemplarischen Sollen im Vierten Moment (wir nennen es Sollen B) zu betrachten: Erstens kann das Sollen A durch ein Müssen ersetzt werden, wie die oben zitierte Passage aus der Zweiten Einleitung zeigt. Dies deutet darauf hin, dass es verschiedene Verwendungen des Begriffs Sollen bei Kant gibt. Dies legt zugleich die Vermutung nahe, dass Sollen A und Sollen B möglicherweise unterschiedliche Bedeutungen haben. Ferner wird diese Vermutung durch Kants Vergleich der verschiedenen Urteilsarten in Hinsicht auf deren Notwendigkeit in § 18 unterstützt, indem er dem Geschmacksurteil ein Sollen (Sollen B), aber dem Erkenntnisurteil nicht ein Sollen, sondern ein Werden zuordnet. In § 18 geht es offensichtlich nicht mehr um eine Ähnlichkeit zwischen ihnen, sondern das Sollen B wird dafür verwendet, den Kontrast zu verdeutlichen. Zu Sollen A lässt sich lediglich sagen, dass es kein Erklärungsobjekt der empirischen Psychologie ist und als ein Aus­ druck dafür verwendet wird, dass das es enthaltende Urteil auf einem Prinzip a priori basiert. In dem Fall lässt sich Sollen A nicht als mit dem Sollen B identisch betrachten, da Sollen B nicht für ein Erkennt­ nisurteil steht. Dies zeigt, dass Reckis Gleichsetzung des Sollen A mit dem Sollen B unvorsichtig ist. Nun stellt sich heraus, dass ihr Stel­ lenverweis als Beleg für ihre Ansicht hinter einem Unterschied zwi­ schen ästhetischem und moralischem Sollen zurückbleibt und schließlich nicht klar gemacht werden kann, inwieweit das ästhetische Sollen sich vom moralischen Sollen entfernt.

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

2.2. Ginsborg und Allison Mit Hannah Ginsborg schenkte eine zweite Kant-Interpretin dem vorhin zitierten Satz in § 18 ihre Aufmerksamkeit (Ginsborg 1991, 290‒313): »er sagt nicht, daß jedermann mit unserem Urteil über­ einstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle« (5: 239). Sie versucht das ästhetische Sollen zu charakterisieren, indem sie die Bedeutung des Begriffs Werden expliziert, der dem ästhetischen Sol­ len entgegengesetzt ist. Sie deutet das Werden als eine auf einer empi­ rischen Feststellung basierende empirische Vorhersage, die folglich nicht zu einem Allgemeingültigkeitsanspruch berechtigt ist (Gins­ borg 1991, 296). Dabei zieht sie die gleiche Stelle aus der Ersten Ein­ leitung heran, genauso wie Recki. An jener Stelle ist aber keine Ver­ wendung von Werden zu finden. Trotzdem scheint sie den Dass-Satz aus der Ersten Einleitung, »daß jedermann so urteile«, umzudeuten in »daß jedermann so urteilen werde« und aufgrund dieser Lesart behauptet sie, dass der Ausdruck Werden in § 22 der Kritik der Urteilskraft ein Kennzeichen von Urteilen ist, die nicht a priori begründbar, sondern bloß empirisch-psychologisch erklärbar sind. Wenn Kant den Ausdruck Werden nicht vorher in § 18 verwenden würde, ließe sich Ginsborgs Interpretation akzeptieren, da ein Hin­ zufügen von Werden in einer alltäglichen Situation keinen großen semantischen Unterschied macht. Jedoch nimmt Kant dort das Wer­ den völlig bewusst in Verwendung, denn er selbst hebt das Wort her­ vor: »Diese [ästhetische] Notwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht eine theoretische objektive Notwendigkeit, wo a priori erkannt werden kann, daß jedermann dieses Wohlgefallen an dem von mir schön genannten Gegenstande fühlen werde« (§ 18, 5: 237 f.; Hervorhebung im Original).

Die Implikation dieses Werdens an dieser Stelle sollte folglich im Auge behalten werden, um das Werden im Gegensatz zum ästhetischen Sollen in § 22 richtig zu deuten, sofern man Kants Begriffsverwen­ dungen – wenigstens innerhalb des Vierten Moments – eine gewisse Kohärenz unterstellt. Was für Eigenschaften schreibt Kant in § 18 einem Urteil zu, dessen Anspruch mit Werden ausformuliert werden kann? Das Werden bezieht sich auf eine Eigenschaft der theoretisch objektiven Notwendigkeit, d. h. auf die apriorische Voraussagbarkeit

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2.2. Ginsborg und Allison

eines möglichen Urteils anderer. Mit anderen Worten lässt sich bei einem Erkenntnisurteil unter Bezugnahme auf ein Prinzip a priori vorhersagen, dass auch andere Subjekte dasselbe Urteil anhand des gleichen Gegenstands fällen werden. Dies ist von jener empirischpsychologischen Vorhersage, »daß jedermann so urtheile«, in der Ersten Einleitung deutlich zu unterscheiden (10: 239). Das Werden hier kommt eher dem Sollen dort (Sollen A) näher als einer nicht a priori begründbaren und bloß empirischen Vorhersage, indem dieses ebenfalls wie Sollen A auf eine Apriorität bezogen ist. Es stellt sich nun heraus, dass Ginsborg das Werden in § 22 fehlinterpretiert. Dieser Diagnose liegt die Annahme einer kohärenten Begriffsverwendung durch Kant zugrunde. Dergleichen Ignorierung der Kohärenz inner­ halb des nicht so großen Textteils müsste um der Sorgfalt der Inter­ pretation willen auf irgendeine Weise begründet werden, welches Ginsborg nicht tut. Außerdem bleibt ihre Lesart, »urtheile« als »urtheilen werde« zu lesen, in diesem Aufsatz ebenfalls unbegründet und lässt die gewünschte Sorgfalt vermissen. Diese Missdeutung von Ginsborg führt sie weiter dazu, ohne Weiteres das Sollen B mit dem Sollen A gleichzusetzen. Das Resultat ist, dass sie die Eigentümlichkeit der exemplarischen Notwendigkeit des ästhetischen Sollens lediglich auf die Erkenntnisähnlichkeit redu­ ziert: »We have seen, then, that for Kant a judgment of taste and an empirical cognitive judgment are alike in that they both make claim to universal agreement. And I have suggested in addition that a judgment of taste differs from an empirical cognitive judgment only in that its claim to universal agreement does not invoke a specific concept« (Ginsborg 1991, 306).

Dabei lässt Ginsborg komplett die Tatsache außer Acht, dass Kant in § 18 das Geschmacksurteil gemeinsam mit einem moralischen Urteil unter Sollen gruppiert und von einem Erkenntnisurteil abhebt. Der dritte zu betrachtende Kant-Interpret ist Henry Allison. Ginsborg zustimmend verweist Allison auf ihren Aufsatz (Allison 1998, 466‒483). Er merkt an, dass sie zu Recht auf den Isomor­ phismus zwischen dem ästhetischen Sollen und dem Sollen beim Erkenntnisurteil33 hingewiesen habe. Allison unterscheidet sich von 33 Der Originaltext lautet: »its [sc. of the judgment of taste] isomorphism with the ought of cognitive judgment«. Ibid., S. 483, Fußnote.

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

Ginsborg nur dadurch, dass er seine Ansicht zum Verhältnis zwischen ästhetischem und moralischem Sollen hinzufügt: »this [sc. ästhetisches Sollen] is not to be confused with the moral ought« (ibid.).

Es ist aber leicht zu ersehen, dass diese Ansicht einem Defizit unter­ liegt, da sie auf der Fehlinterpretation von Ginsborg beruht.

2.3. Rind 2.3.1. Rinds Behauptungen Miles Rind weist in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2000 darauf hin, dass der vorwiegende Interpretationstrend zur Diskrepanz innerhalb der Kritik der ästhetischen Urteilskraft bezüglich des Anspruchs eines Geschmacksurteils und dessen Rechtfertigung in einer Annahme liegt, es gebe zwei unterschiedliche Ansprüche, die durch jeweils eine der beiden folgenden Argumentationslinien unterstützt wird: »a claim about how people would respond to an object, to be legitimated by the epistemological argument, and a claim about how people ought to respond to an object, to be legitimated by the moral argument« (Rind 2000, 64; Hervorhebung im Original). Diesbezüglich behauptet Rind, dass dergleichen Interpretation Kants Position verdrehe, denn »the normative character of the claim of taste is supposed to be some­ thing that it shares with ordinary judgments of empirical cognition. […] The demand [of the taste] for universal agreement is a normative claim, yet not a moral one: it is, in Kant’s view, simply an essential feature of public judgments as such« (Rind 2000, 65).

Rind behauptet also, dass der Allgemeinheitsanspruch eines Geschmacksurteils einen normativen Charakter habe, der durch »public judgments« geteilt werde und nicht von der Eigenschaft sei, die die moralische Normativität auszeichnet. Rind klärt selbst, dass er mit »public judgments« die Urteile meint, die das Gegenteil von Privaturteilen bilden (Rind 2000, 65 Anm.). Tatsächlich kontrastiert Kant ein Geschmacksurteil wiederholt mit Privaturteilen wie den Urteilen über das Angenehme und sagt zudem ausdrücklich, der Urteilende des Geschmacks »urtheilt nicht bloß für sich, sondern

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2.3. Rind

für jedermann« (5: 212). Selbst Kant verwendet hinsichtlich des Geschmacksurteils den Ausdruck »public«, indem er die Geschmacks­ urteile als »vorgebliche gemeingültige (publike), […] aber ästhetische […] Urtheile über einen Gegenstand« bezeichnet (5: 214). (Auf den Ausdruck »vorgeblich« wird gleich noch eingegangen.) Kant verwendet das Wort »publik« damit synonym zu »gemeingültig«. Die »public judgments« ließen sich dann mit den auf dem Prinzip a priori beruhenden Urteilen gleichsetzen, die wir durch Reckis Stel­ lenverweis an einer Stelle in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft gesehen haben (10: 239). In dieser Hinsicht müssen auch die moralischen Urteile zu den publiken Urteilen gehören. Rinds Behauptung verdeutlicht aber, dass Rind jedes moralische von seinen »public judgments« trennen möchte und dass er lediglich die Erkenntnisurteile und die (ihnen ähnlichen) Geschmacksurteile dazu zählt. Die vorliegende Untersuchung gehört zur Gruppe der Interpre­ tationen, die Rind mit seinem Aufsatz widerlegen will. Wie bereits in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung klar gemacht wurde, liegt hier das Ziel sowohl darin, zu erläutern, dass das Geschmacks­ urteil sich auf zweierlei Ansprüche der Allgemeingültigkeit bezieht, als auch darin, zu beschreiben, wie sie sich miteinander verhalten. Dieses Verhältnis ist eng mit einem anderen gewichtigen Thema verbunden: dem Thema des Übergangs von der Natur zur Freiheit. Folglich scheint eine selbstkritische Prüfung von Rinds Argumenten ratsam. Auf drei Probleme in Rinds Argumentation soll nachfolgend eingegangen werden.

2.3.2. Probleme in Rinds Argumentation a. Unnötige sowie irreführende Interpretationen hinsichtlich »ansinnen« und »zumuten« Rind versucht, den normativen Charakter des Geschmacksurteils zu zeigen und äußert dabei die Ansicht, dass die Vernachlässigung dieses Charakters durch unrichtige Übersetzungen vom Original Kants ins Englische verursacht werde. Zahlreiche Seiten widmet er dem Erläutern der normativen Bedeutungen folgender deutscher Wörter in Kants Original: »ansinnen« und »zumuten«. Nachfolgend wird die Annahme vertreten, dass Rinds sprachliche Analyse zur unnötigen

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

und irreführenden Dichotomie zwischen »would/could« und »ought to« führt und dass selbst er wichtige Implikationen jener deutschen Wörter übersieht. Rind weist darauf hin, dass die geläufigen englischen Überset­ zungen der dritten Kritik für die deutschen Wörter »ansinnen« sowie »zumuten« als englische Entsprechungen »impute« oder »attribute« verwenden, doch fehle diesen der normative Charakter, der bei den deutschen Wörtern mitschwinge. Nach Rind seien die unbefriedigen­ den Übersetzungen irreführend, denn: »a judgment of taste makes the claim that anyone judging the object in question could or would have the same liking for it as one does oneself« (Rind 2000, 75). Jedoch begründet die Position Rinds nicht überzeugend, dass die sich von der moralischen unterscheidende Normativität des Anspruchs des Geschmacks nicht mit »would (could) have the same liking« übersetzt werden dürfe. Wie in Kapitel I bezüglich der Deduktion ausführlich besprochen wurde, stützt sich diese Art der Normativität des Geschmacksurteils auf die Annahme, dass sich die subjektiven Bedingungen für menschliche Erkenntniskräfte bei jedem voraussetzen lassen, denn Kant sieht sie zugleich als epistemo­ logisches Fundament jeder menschlichen Erkenntnis an. In diesem Sinne kann man zu Recht sagen, dass jeder mit einem individuell gefällten Geschmacksurteil übereinstimmen kann (could). Wird außerdem daran gedacht, dass diese subjektiven Bedin­ gungen eine transzendentale Notwendigkeit besitzen, sodass jedes Geschmacks- und Erkenntnisurteil erst durch sie möglich ist, lässt sich diese Art von Notwendigkeit auch als Voraussagbarkeit interpretie­ ren, die Rind bei seinem Auseinandersetzen mit Guyer verleugnet (Rind 2000, 69). Die Voraussagbarkeit hier hat niemals mit der »Erklärung für die empirische Psychologie« zu tun (10: 239), sondern sie ist mit der Notwendigkeit verknüpft, die auf der Allgemeingültig­ keit der epistemologischen Bedingungen des Urteils gründet (5: 191), wie beim Auseinandersetzen mit Recki deutlich wurde. Deshalb ver­ wendet Kant für diese auf die Notwendigkeit gründende Voraussag­ barkeit das Verb »Werden«, kurz: Er beschreibt die »theoretische objektive Nothwendigkeit« mit »Werden« (5: 237 f.). Zwar ist klar, dass, wie zu Beginn dieses Kapitels gesehen wurde, Kant die Notwendigkeit des Geschmacksurteils von dieser Art Notwendigkeit unterscheidet (ibid.). Streng gesehen gilt die Voraussagbarkeit »a priori« (ibid.) nicht für ein Geschmacksurteil, denn es ist weder ein Urteil a priori noch ein objektives Urteil.

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2.3. Rind

Jedoch verweist Kant immer wieder darauf, dass das Geschmacksur­ teil trotzdem einen dem Erkenntnisurteil mit der »theoretische[n] objektive[n] Nothwendigkeit« ähnlichen Anspruch erhebt, »als ob es objektiv wäre« (5: 281). Gerade hinsichtlich des Anspruchs eines Geschmacksurteils meint Kant: »Ebenso macht« der Urteilende des Geschmacks den Anspruch wie ein theoretisches und objektives Urteil, »daß ein jeder andere es ebenso finden müsse« (5: 191, Hervor­ hebung der Verf.). Aufgrund dieser Überlegungen lässt sich sagen, dass auch das Verb »Werden (would)« die Eigenschaft des Anspru­ ches eines Geschmacksurteils vertritt.34 Die mit der Voraussagbarkeit verbundene Notwendigkeit wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher besprochen. Aufgrund der gerade ausgeführten Überlegungen erscheinen Rinds Unterscheidungen zwischen »would/could« und »ought to« bezüglich der Übersetzung der deutschen Wörter »ansinnen« sowie »zumuten« insofern unnötig, als Rind ebenfalls das »ought to« als die durch den epistemologischen Grund unterstützte Normativität erachtet. Überdies scheint eine solche Unterscheidung geradezu irreführend, da sie die ursprüngliche Absicht Kants bei seiner Wort­ wahl verschleiert. Kants Wortgebrauch von »ansinnen« sowie »zumuten« deu­ tet zwar tatsächlich auf eine Art von Normativität des Anspruchs eines Geschmacksurteils hin. Durch diese Wortwahl wird jedoch das Gewicht darauf gelegt, dass ein Geschmacksurteil an sich zu dem Anspruch, den es selbst erhebt, nicht ganz berechtigt ist. Denn mit diesen deutschen Wörtern wird eine Forderung gemeint, die einen negativen Beiklang hat. Eine solch negative Implikation kommt auch vor, wenn Kant die Geschmacksurteile als »vorgebliche gemeingültige (publike), […] aber ästhetische […] Urtheile über einen Gegenstand« bezeichnet (5: 214). Hier sagt Kant nicht schlicht »publike Urtheile« zu Geschmacksurteilen, wie Rind sich ganz sicher ist, sondern er schildert sie in der Tat als »vorgeblich[]« publike. Dies bedeutet das

Es gibt zwei Fälle, in denen Kant den Anspruch des Geschmacks vom »Werden« unterscheidet: (1) Kant betont den Status des Geschmacksurteils, das trotz seines Anspruches aufgrund seines Beruhens auf dem epistemologischen Fundament nie­ mals über die vollkommene Voraussagbarkeit a priori verfügen kann (5: 237 f.); (2) Kant bezieht sich nicht auf einen solchen Anspruch mit epistemologischem Grund, sondern auf den anderen Anspruch des Geschmacks, der sich auf den moralischen Zweck stützt (5: 239). 34

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

Unbefugt-Sein des Geschmacksurteils gegenüber seinem Anspruch. Das Gleiche wird mit »ansinnen« sowie »zumuten« gemeint. In Kapitel I wurde bereits ausführlich besprochen, dass ein Geschmacksurteil auf einem Prinzip a priori gründet und sich sein Allgemeingültigkeitsanspruch dennoch nicht allein durch den Hin­ weis darauf begründen lässt. Denn die Subsumtion der Vorstellung des Gegenstandes unter dieses Prinzip a priori, woraus sich ein Geschmacksurteil ergibt, geschieht immer a posteriori und lässt sich durch die transzendentale Notwendigkeit nicht steuern. Bleiben dann Geschmacksurteile schlechthin »vorgeblich« publik? Nein. Denn sein Anspruch wird durch die Erweiterung des Geschmacksurteils in die andere Richtung entwickelt, die in der vor­ liegenden Untersuchung im Mittelpunkt steht. Näheres wird im wei­ teren Verlauf diskutiert – an dieser Stelle soll bloß auf die Entwicklung des Status des Allgemeinheitsanspruches eines Geschmacksurteils hingedeutet werden, die sich aus der Überschrift des § 22 entnehmen lässt: »Die Nothwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurteil gedacht wird, ist eine subjektive Nothwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objektiv vorgestellt wird« (5: 239).

Die »subjektive Nothwendigkeit« des Anspruches des Geschmacks impliziert die Begrenztheit eines Geschmacksurteils als ein subjekti­ ves Urteil, die auch durch die Wörter »ansinnen« sowie »zumuten« zum Ausdruck kommt. Es eröffnet sich für das Geschmacksurteil nun die Möglichkeit, diese Begrenztheit zu überwinden, und zwar durch den Bezug auf einen Gemeinsinn. Zu beachten bleibt, dass man den hier infrage stehenden Gemeinsinn nicht mit dem Gemeinsinn ver­ wechseln darf, der im Rahmen der Deduktion als Prinzip a priori sowie allgemeingültiger Grund des Geschmacksurteils eine wichtige Rolle spielt. Denn bereits »unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns« im Sinne der Deduktion wird der Anspruch des Geschmacksurteils erhoben und dadurch wird keineswegs eine Notwendigkeit behaup­ tet, die »als objektiv vorgestellt wird«. In dieser Hinsicht wird das Unterscheiden des Gemeinsinn-Begriffs in zwei Ebenen nötig und der zweite Sinn des Gemeinsinns wird im vorliegenden Kapitel erläutert. Außerdem ist hier bemerkenswert, dass auch das Verb, das Kant für den Allgemeinheitsanspruch verwendet, durch die Erweiterung des Geschmacksurteils geändert wird. Wie in der Einleitung der vor­

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2.3. Rind

liegenden Untersuchung erwähnt wurde, führt Kant in der Dialektik einen unbestimmten Vernunftbegriff als Grund des Geschmacksur­ teils ein. In § 57 sagt Kant: Das Geschmacksurteil »bekommt aber durch ebendenselben [sc. unbestimmten Vernunftbegriff] […] Gül­ tigkeit für jedermann« (5: 340; Hervorhebung der Verf.). Das »[B]ekommen« ist mit keiner negativen Konnotation der Begrenzt­ heit versehen, nicht wie »ansinnen« und »zumuthen« es sind. Obwohl das Geschmacksurteil noch immer ein subjektives Urteil ist, wird sein Allgemeinheitsanspruch gleichsam zum Status der Objektivität erho­ ben – in eine andere Richtung, als Kant im Rahmen der Deduktion sagt: »Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Anse­ hung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre« (5: 281). Die Quasi-Objektivität in dieser Passage besteht darin, dass der Gegen­ stand in einem Geschmacksurteil mit der Schönheit gleichsam als Prädikat verbunden ist, als ob sie eine Eigenschaft des Gegenstandes wäre. Diese Art von Objektivität ist von jener Art der Objektivität zu unterscheiden, die sich nicht durch solche Erkenntnisähnlichkeit ergibt, sondern durch den Bezug auf »eine jedermann nothwendige Idee […], was die Einhelligkeit verschiedener Urtheilenden betrifft« (§ 22, 5: 239) bzw. die Idee von »demjenigen […], was als das über­ sinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann« (§ 57, 5: 340). In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass sich der Anspruch des Geschmacksurteils keineswegs in der auf dem epistemologischen Fundament beruhenden Normativität erschöpft, während Rind den Anspruch des Geschmacks auf solche Normativität reduzieren will.

b. Vernachlässigung der moralischen Implikationen des Anspruches eines Geschmacksurteils Damit Rinds Position gegenüber dem oben dargestellten Interpre­ tationstrend der beiden Ansprüche des Geschmacks gerechtfertigt werden kann, muss er beide Darstellungsarten des Geschmacksan­ spruchs überprüfen und zeigen, dass die zwei Arten in der Tat auf einen einzigen Anspruch hinauslaufen, der sich von der moralischen Normativität unterscheidet. Jedoch ist Rind mit seinen Ausführun­ gen zum moral-ähnlichen Anspruch sparsam und auch wenn die Ausführungen im Mittelpunkt stehen, ist sein Umgang mit ihnen sehr unbefriedigend. Dazu sind zwei Stellen zu nennen.

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

(1) An der ersten Stelle geht es um den letzten Absatz des § 8 der Kritik der Urteilkraft, in dem die Einstimmung zu einem bestimmten Geschmacksurteil nicht durch den epistemologischen Grund, sondern durch eine Idee der »allgemeinen Stimme« unterstützt wird. Diese Idee ist nichts anderes als »eine jedermann nothwendige Idee […], was die Einhelligkeit verschiedener Urtheilenden betrifft« (§ 22, 5: 239) bzw. die Idee von »demjenigen […], was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann« (§ 57, 5: 340), wie wir oben gesehen haben. Der Absatz beginnt wie folgt: »Hier ist nun zu sehen, daß in dem Urtheile des Geschmacks nichts postuliert wird als eine solche allgemeine Stimme in Ansehung des Wohlgefallens ohne Vermittlung der Begriffe; mithin die Möglichkeit eines ästhetischen Urtheils, welches zugleich als für jedermann gül­ tig betrachtet werden könne. Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung […], es sinnt nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet. Die allgemeine Stimme ist also nur eine Idee (worauf sie beruhe, wird hier noch nicht untersucht)« (5: 216; Hervorhebungen im Original).

Bei seiner Auseinandersetzung mit Guyers Interpretation betont Rind, Guyers Übersetzung von »ansinnen« als »expect« sei falsch, da es dem Ausdruck »expect« an normativer Bedeutung mangle (Rind 2000, 70 f.). Rind nutzt die infrage stehende Passage nur zum Beto­ nen der Normativität (von bloß »public judgments«) und lässt die sich dort zeigenden moralischen Implikationen außer Acht (Rind 2000, 69 ff.). Der Ausdruck »ansinnen« deutet jedoch auf die Begrenztheit des Anspruchs auf die allgemeine Einstimmung hin, ganz wie vorhin besprochen wurde. Es ist nur die Idee der allgemeinen Stimme, die zu Recht gefordert, d. h. postuliert werden kann. Ein Geschmacksurteil findet durch die Möglichkeit der allgemeinen Mitteilung von sich selbst einen Berührungspunkt mit dieser Idee. Der Anspruch auf die allgemeine Einstimmung zu einem bestimmten Geschmacksurteil stützt sich also darauf, dass dieses einzelne Geschmacksurteil bezüg­ lich seiner allgemeinen Mitteilbarkeit als ein »Fall der Regel« betrach­ tet werden kann, d. h. als ein Beispiel für die allgemeine Stimme des Menschen. Dies besagt nichts anderes als die »exemplarische Not­ wendigkeit« des Allgemeinheitsanspruchs eines Geschmacksurteils, die Kant im Vierten Moment des Geschmacksurteils nachdrücklich erklärt. Die Begrenztheit des Geschmacksurteils als subjektives Urteil

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2.3. Rind

lässt sich durch die Autorität jener Idee ergänzen. In der eben zitierten Passage steht, worauf diese Idee »beruhe, wird hier noch nicht unter­ sucht«. Es soll die Ansicht vertreten werden, dass ihre Autorität in der moralischen Notwendigkeit des Endzwecks der Vernunft besteht. Auch wenn man dieser Ansicht nicht zustimmt, ist nun klar, dass sich derartige exemplarische Gültigkeit durch die epistemologische Begründung nicht explizieren lässt. (2) Um seine These zu begründen, dass der Anspruch des Geschmacksurteils nicht mit der moralischen Normativität, sondern mit der Normativität der »public judgments« ausgezeichnet wird, richtet Rind sich auf die Beispiele, in denen Kant normative Ausdrücke wie »verlangen« und »fordern« in offenkundiger Weise für den All­ gemeinheitsanspruch des Geschmacksurteils verwendet, der auf dem Niveau eines Erkenntnisurteils erhoben wird (Rind 2000, 74 f.). Es sei die Tatsache anerkannt, dass Kant jene Ausdrücke auch für den Anspruch mit solchem Niveau verwendet, dass sich jene Ausdrücke nicht immer auf den Anspruch mit dem solches Niveau transzendie­ renden Charakter beziehen. Sein Problem liegt aber in der Vernach­ lässigung bzw. dem Missverständnis einer Passage, die zitiert (Rind 2000, 75). Dort heißt es: »Er [sc. ein Urteilender des Geschmacks] tadelt sie [sc. die anderen], wenn sie anders urtheilen, und spricht ihnen den Geschmack ab, von dem er doch verlangt, daß sie ihn haben sollen; und sofern kann man nicht sagen: ein jeder hat seinen besondern Geschmack« (5: 213).

Obzwar Rind beim Zitieren dieser Passage das Wort »verlangt« kursiv hervorhebt und den Eindruck liefert, dass es zusammen mit anderen von ihm hervorgehobenen normativen Ausdrücken in Kants Texten auf die Normativität mit epistemologischem Grund verweise, legt er dort keine besondere argumentative Aufmerksamkeit auf diese Passage. Trotzdem greift er gegen Ende seines Aufsatzes auf sie zurück und behauptet: »But a general duty to have, to exercise, or to cultivate taste is an entirely different thing from a requirement to share in this or that specific judgment of taste« (Rind 2000, 83).

Denn, Rind glaubt, der Allgemeinheitsanspruch eines Geschmacks­ urteils beziehe sich auf die Einstimmung der anderen zu einem bestimmten Urteil. Und dieser Anspruch dürfe nicht so verstanden werden, wie etwa Elliott behauptet/andeutet, dass der Allgemein­ heitsanspruch als sein Adressat auch diejenigen umfasst, die nicht

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2. Kritik an Interpretationen des ästhetischen Sollens in der bisherigen Forschung

gerade über den infrage stehenden Gegenstand ein Schönheitsurteil fällen (Elliot 1968, 247). Elliot meint, der Allgemeinheitsanspruch des Geschmacksurteils ist in dieser Hinsicht stärker als derselbe des Erfahrungsurteils. Zu letzterem äußert Elliot: »If I have no interest in the colour of a particular house, there is no reason why I should go and look at it in order to associate myself with the judgment of a person who declares it to be white« (ibid.). Es scheinen der für Rind infrage kommende Anspruch und der für Elliott jeweils unterschiedliche Gründe zu haben. Der erstere stützt sich auf die allgemeingültige Ausstattung für die Erkenntnis überhaupt, die anhand einer Vorstellung, wodurch ein bestimmter Gegenstand gegeben wird, zu einem gleichen Schönheitsurteil führen muss. Der letztere verlässt sich auf die exemplarische Gültigkeit, die ein Geschmacksurteil bezüglich seiner Möglichkeit behaupten kann, ein Beispiel für die Idee der allgemeinen Stimme zu sein. Da jedes Geschmacksurteil eine Gelegenheit zu solcher exemplarischen Ein­ trächtigkeit des Menschen (§ 22 zweimal) bereitstellt, hat man einer­ seits den Grund auch von denjenigen Einstimmung zu verlangen, die sich nicht gerade für das Schönheitsurteil über einen bestimmten Gegenstand interessieren, andererseits den Grund für die Forderung nach dem Erwerben eines (allgemeingültigen) Geschmacks, denn nur die Besitzer solchen Geschmacks können an der exemplarischen Gele­ genheit zur Eintracht unter den Menschen teilnehmen. Folglich sei Rind bezüglich der eben von ihm zitierten Passage in der Hinsicht zugestimmt, dass man die beiden Ansprüche hin­ sichtlich des Geschmacks strikt voneinander unterscheiden muss. Gerade deswegen braucht man die Theorie, dass Kant anhand eines Geschmacksurteils zweifache Allgemeinheitsansprüche ausführt, die Rind dahingegen in seinem Aufsatz zu widerlegen versucht. Man sollte nicht jenen Anspruch ignorieren, den Kant in seiner Deduktion zu rechtfertigen versucht. Man darf auch nicht den Anspruch über­ sehen, dem Kant die »exemplarische Notwendigkeit« bzw. »exem­ plarische Gültigkeit« als Schlüsselbegriff im Vierten Moment des Geschmacksurteils zuschreibt, d. h. in dem der Erläuterung der Not­ wendigkeit eines Geschmacksurteils gewidmeten Teil. Bisher wurden Auffassungen von vier Kant-Interpreten heran­ gezogen und überprüft. Sie sind zwar im Detail nicht gleich, aber gehen alle bezüglich des Geltungsanspruchs eines Urteils dahin gehend in die gleiche Richtung, das Geschmacksurteil näher beim Erkenntnisurteil und vom moralischen Urteil möglichst weit weg zu

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2.3. Rind

verorten. Wie aber bereits deutlich wurde, mangelt es ihnen allen an einwandfreien Stellenbelegen sowie an interpretatorischer Sorgfalt, den Kantischen Text in seiner Ganzheit zu betrachten. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei der Beantwortung unserer Ausgangs­ fragen bezüglich Kants Zuordnung von Sollen und Werden in § 18 – Was für eine Gemeinsamkeit lässt aber die zwei verschiedenen Urteils­ arten unter das gleiche »Sollen« anordnen? Inwiefern gehört ein Erkenntnisurteil nicht zu dieser Sollens-Gruppe? – gar nicht weiter­ helfen. Der Unterschied zwischen ästhetischem und moralischem Sollen steht bereits fest, wie Kant in § 18 der Kritik der Urteilskraft klar darlegt. Die Aufgabe jener Interpreten, die das ästhetische Sollen auslegen wollen, liegt darin, nicht nur den Unterschied, sondern auch die Gemeinsamkeit zwischen beiden Formen zu erhellen. Eine Auf­ gabe, der alle vier Interpreten keine Rechnung tragen. Die Diskussion der vier Interpretationen zeigte vielmehr, dass ästhetisches Sollen mehr bedeutet als bloße Befugnis eines Urteils zu einem Allgemeingültigkeitsanspruch aufgrund seiner apriori­ schen Beurteilung, über welche alle oben genannten Urteilsarten (Geschmacksurteil, Erkenntnisurteil, moralisches Urteil) grundsätz­ lich auch verfügen, und welche folglich noch differenziert betrachtet werden muss.

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

3.1. (Un-)Berechenbarkeit aufgrund von Abweichungs(un-)möglichkeit 3.1.1. Der Werden-Sollen-Gegensatz in Kants Moralphilosophie Da die Auslegungen der vier Interpreten beim Erschließen von Kants Unterteilung von Sollen und Werden in § 18 nicht hilfreich gewesen sind, sei eine andere Stelle aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten in Anschlag gebracht, an welcher sich der Gegensatz zwischen Werden und Sollen noch einmal sehen lässt: »[…] wenn ich solches [sc. Glied einer intelligiblen Welt] allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen [...]«. (4: 454; Hervorhebung im Original).

Zwar ist das Werden hier nicht im Indikativ, sondern im Konjunktiv verwendet, welches möglicherweise zur Ansicht führen könnte, dass dieses »würden« keine semantische Bedeutung, sondern lediglich eine grammatische Funktion zu zeigen hätte, dass es um eine fiktive Annahme ginge. Und deswegen könnte jenes »sein würden« problem­ los durch die verkürzte Form »wären« ersetzt werden. Und in diesem Sinne wäre hier kein Gegensatz zwischen Werden und Sollen zu sehen. Das »würden« muss jedoch als Vollverb betrachtet werden, das in dem Konjunktiv konjugiert ist, um dem »wäre« des Konditionalsatzes bezüglich des grammatischen Modus zu entsprechen. Zunächst wird dieses Erachten dadurch unterstützt, dass Kant selbst an der zitierten Stelle das Würden und das Sollen hervorhebt, welches zeigt, dass Kant einen Kontrast zwischen den Verben beabsichtigt. Wird derselbe Sachverhalt in Hinsicht auf ein Vernunftwesen, das kein Mensch ist, erneut artikuliert, dessen Handlungen im nicht fiktiven Sinne niemals der Autonomie des Willens widersprechen, und bei dem folglich über das Verhältnis seiner Handlungen zur Autonomie des Willens immer

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

ein Satz im Indikativ ausformuliert wird, lässt sich unsere Ansicht leicht bestätigen. Ein solches Wesen muss Kants Theorie zufolge rein intellektuell sein, ist entweder ein Gott oder ein Engel (6: 442). Es ließe sich beispielsweise folgender Satz formulieren: »Da ein rein intellektuelles Wesen ausschließlich der intelligiblen Welt angehörig ist, werden all seine Handlungen jederzeit der Autonomie des Willens gemäß sein. «

Diesem Satz über ein rein intelligibles Wesen ließe sich mit dem oben zitierten Satz aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten über uns Menschen kombinieren, etwa so: »Da ein rein intellektuelles Wesen ausschließlich der intelligiblen Welt angehörig ist, werden all seine Handlungen jederzeit der Autonomie des Willens gemäß sein. Und wenn ich solches allein wäre, würden auch alle meine Handlungen jederzeit der Autonomie des Willens gemäß sein. Da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, sollen sie der Autonomie gemäß sein.«

Diese ein wenig modifizierte Passage zeigt, dass das Werden sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv als Vollverb fungiert und dabei eine Prognose impliziert, welche auf einer apriorischen Berechenbar­ keit beruht. Bezogen auf ein Wesen, welches ausschließlich der intel­ ligiblen Welt angehört, lassen sich also a priori konstante Überein­ stimmungen zwischen Handlungen und der Autonomie des Willens prognostizieren. Das Auseinanderdriften von Werden und Sollen bei Kantischen Begriffsverwendungen hängt von der Angehörigkeit des infrage kommenden Wesens ab: Gehört es nur der intelligiblen Welt an, wird ihm das Werden zugeordnet. Ist es aber Mitglied der zwei Welten (der intelligiblen und zugleich der sinnlichen), wird das Sollen ausgesprochen. Hier lässt sich feststellen, dass die Handlungen der Zwei-Welten-Angehörigen nicht apriorisch berechenbar sind, da der Begriff Sollen immer die Implikation einer gewissen Verbindlichkeit enthält und ein Anspruch auf Verbindlichkeit erst dann sinnvoll erhoben wird, wenn eine Abweichung vom mit Verbindlichkeit Gefor­ derten möglich ist. Währenddessen lassen Handlungen eines rein intellektuellen Wesens keine Abweichung von dem zu, was dem Zwei-Welten-Angehörigen als Sollen geboten wird. Warum sind bei rein intellektuellen Wesen keine Abweichungen möglich und folglich ihre Handlungen mit Werden beschreibbar? Anhand eines anderen begrifflichen Gegensatzes lässt sich diese Frage beantworten, das ist der Wollen-Sollen-Gegensatz. Dieses Begriffs­

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3.1. (Un-)Berechenbarkeit aufgrund von Abweichungs(-un-)möglichkeit

paar ist mit dem Werden-Sollen-Gegensatz insofern vergleichbar, als der Gegensatz von beiden Fällen in der unterschiedlichen Angehörig­ keit des infrage kommenden Wesens besteht. Das Einbeziehen des Wollen-Sollen-Gegensatzes könnte beim Interpretieren des Werdens im Vierten Moment des Schönen der Kritik der Urteilskraft dadurch Hilfe leisten, mögliche Implikationen des Werdens ans Licht zu brin­ gen. In der folgenden Passage aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten erörtert Kant den Wollen-Sollen-Gegensatz ausführlich: »Ein vollkommen guter Wille würde also eben sowohl unter objectiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genöthigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjectiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältniß objectiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjectiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken« (4: 414; Hervorhebung der Verf.).

Kurz zusammengefasst: Ein lediglich der intelligiblen Welt angehöri­ ges Wesen will stets das, was einem zwei Welten angehörigen als Imperativ bzw. Sollen geboten wird. Es ist so beschaffen, dass seine subjektive Maxime immer mit dem objektiven Gesetz übereinstimmt und eine Abweichung davon unmöglich ist. Deshalb kommt ein Sollen dem ersteren nicht zu. Schließlich braucht es keine Nötigung, um moralischen Gesetzen gerecht zu werden. Nun sei dies an die apriorische Berechenbarkeit beim Werden angeknüpft: Mit Gewissheit lässt sich prognostizieren, dass der Gott und ein Engel immer gesetzmäßig handeln werden, weil sie immer das Gesetzmäßige wollen. Die unveränderte Widerspruchsfreiheit des göttlichen bzw. heiligen Wollens macht also eine apriorische Pro­ gnose möglich. Dagegen lässt sich bezüglich der anderen Wesensart nicht in solcher Weise vorhersagen, ob in Einzelfällen ein solches Wesen bzw. ein Mensch sich für das Gesetz entscheiden wird oder nicht. Denn dieser befolgt manchmal eine Maxime des sinnlichen, manchmal des intelligiblen Selbst. Als Zwei-Welten-Wesen kann der Mensch entscheiden, ob er sich eine entsprechende Maxime setzt oder nicht. Dabei ist eine Abweichung von der Pflicht durchaus möglich.

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

Seine Entscheidung für die Pflicht wird deshalb »genötigt« und als Sollen geboten.

3.1.2. Werden bei theoretisch-objektiver Notwendigkeit: Müssen-Notwendigkeit als eine auf notwendige Bedingungen gründende Berechenbarkeit Im Vierten Moment des Schönen der Kritik der Urteilskraft taucht – wie bereits erkannt wurde – das Werden zweimal auf. Die zwei Stellen seien erneut zitiert: »Diese [ästhetische] Notwendigkeit ist von besonderer Art: nicht eine theoretische objektive Notwendigkeit, wo a priori erkannt werden kann, daß jedermann dieses Wohlgefallen an dem von mir schön genannten Gegenstande fühlen werde« (§ 18, 5: 237 f., Hervorhebung im Original). Der Urteilende eines Geschmacksurteils »sagt nicht, daß jedermann mit unserem Urteil übereinstimmen werde« (§ 22, 5: 239, Hervorhe­ bung im Original).

An der ersten Stelle aus § 18 wird vom Gefühl von anderen Subjekten gesprochen, während an der zweiten aus § 22 von Zustimmung ande­ rer zum subjektiven Urteil die Rede ist. Da es aber bei einem Geschmacksurteil um das Gefühl geht, ist davon auszugehen, dass sich diese Stellen durch Verwendung von Werden auf den gleichen Sachverhalt beziehen. Dann ließe sich die Annahme anschließen, dass auch das Werden aus § 22 die »theoretische objektive« Situation beim ästhetischen Urteil simuliert, die in der Tat nicht auf ein solches Urteil zutrifft. An dieser Stelle beabsichtigt Kant, die Notwendigkeit der ästhetischen Zustimmung von der theoretisch-objektiven Notwen­ digkeit abzugrenzen. Auf die theoretische objektive Notwendigkeit einzugehen scheint hilfreich, das ästhetische Sollen damit einem Ver­ gleich zu unterziehen und richtig zu charakterisieren. Was impliziert das Werden bei der theoretisch-objektiven Notwendigkeit? Ob wohl eine Gemeinsamkeit besteht zwischen der theoretischen und der praktischen Anwendung von Werden? Anders als das Werden in der Kantischen Moralphilosophie ist das Werden bei theoretisch-objektiver Notwendigkeit nicht durch den Wollen-Sollen-Gegensatz erklärbar. Es geht bei einem theoretischen Urteil weder um Willensbestimmung, noch um Zwietracht zwischen

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3.1. (Un-)Berechenbarkeit aufgrund von Abweichungs(-un-)möglichkeit

moralischen und sinnlichen Trieben. Denn bei einem theoretischen Urteil steht man nicht vor einer Entscheidung zwischen dem über­ sinnlichen und dem sinnlichen Selbst, sondern man sieht sich immer insofern bloß als homo phaenomenon, als hierbei das übersinnliche Ich sowie »der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung« kommen (MS 418).35 Im Unterschied zur moralischen Entscheidung des Menschen, bei der eine mit dem Gesetz konvergierende Maxime absoluten Vorrang im evaluativen Sinne hat und folglich mit der Verbindlichkeit verbunden ist, ist auf dem Gebiet des homo phaeno­ menon eine solche Verbindlichkeit nicht zu finden. Dass sich der Mensch bei seiner theoretischen Tätigkeit als ein Eine-Welt-angehö­ riges Wesen (homo phaenomenon) betrachten lässt, ist mit dem rein intelligiblen Wesen in seiner Willensbestimmung vergleichbar. Beide Wesenstypen bewegen sich innerhalb einer Welt – der sinnlichen bzw. übersinnlichen – und ihre Bewegungen sind mit der einzig möglichen Funktionsweise – einer transzendentalen Bestimmung des Gegenstandes durch Kategorien als unausweichliche formale Rah­ mung der Erkenntnis bzw. einer ausnahmslosen Willensbestimmung gemäß der Autonomie – untrennbar verbunden. In dieser Hinsicht ist das theoretische Werden ein Ausdruck eines notwendigen, folglich berechenbaren Vorgangs beim Erken­ nen. Eine Erfahrung wird erst durch Verbindung eines Verstandes­ gesetzes mit der gegebenen Anschauung möglich. Wenn mehrere menschliche Subjekte anhand derselben Gegebenheit eine Erfahrung machen, müssen alle eine gleiche Verbindung der hier gegebenen Mannigfaltigkeit durchführen (vorausgesetzt, dass alle über dieselbe Erkenntnisausstattung verfügen). Das oben kursiv markierte Müssen bedeutet, dass es anders nicht geht, d. h. keine Abweichung möglich ist. Freilich sind Menschen wegen menschlicher Unvollkommenheit nicht völlig fehlerfrei – im Gegensatz zu rein intellektuellen Wesen bei der Willensbestimmung –, allerdings vertritt Kant im Grunde eine Position gegen Skeptizismus, der die ganze menschliche Erfahrung sowie Erkenntnis infrage stellt (5: 238). In diesem Zusammenhang darf angenommen und kann a priori prognostiziert werden, dass jeder mit dem normalen und gesunden Erkenntnisvermögen anhand eines Gegenstandes ohne Abweichungen gleiche Erfahrungen machen und zugleich gleiche Urteile über diese Erfahrungen treffen wird. 35 Hruschka zufolge zählt das Subjekt der Naturwissenschaft, Mathematik und Logik zum homo phaenomenon (Hruschka 2002, 464.).

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

Dieser Sachverhalt kommt in der bereits zitierten Passage aus der Zweiten Einleitung mit dem Müssen zum Ausdruck, die vorher bei der Überprüfung von Reckis Interpretation (1.2.1) herangezogen wurde. Sie sei nochmals zitiert: »Ein einzelnes Erfahrungsurteil [...] verlangt mit Recht, daß ein jeder andere es ebenso finden müsse, weil er dieses Urteil, nach den all­ gemeinen Bedingungen der bestimmenden Urteilskraft, unter den Gesetzen einer möglichen Erfahrung überhaupt gefällt hat« (5: 191; Hervorhebung der Verf.).

Der darauffolgende Satz gibt zu erkennen, dass nicht nur ein theo­ retisches Urteil, sondern auch ein Geschmacksurteil auf die WerdenMüssen-Notwendigkeit bezogen werden können: »Ebenso macht derjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes, ohne Rücksicht auf einen Begriff, Lust emp­ findet [...]; weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen, obzwar subjektiven Bedingung der reflektierenden Urteile [...] angetroffen wird« (ibid.).

Hier begründet Kant die Müssen-Notwendigkeit damit, dass alle Urteilenden in gleicher Weise bezüglich der Bedingungen ihrer Erkenntniskräfte – sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht – in die bereits festgelegten Prinzipien einbezogen und anhand ihrer auch eingeschränkt sind. Außerhalb dieser allgemeinen Prinzipien sind die Erfahrung sowie das Urteil folglich nicht möglich und gerade darin besteht die Notwendigkeit, die Kant hier als Müssen beschreibt. Diese Art Notwendigkeit dient auch als Anhaltspunkt der Deduktion und liegt dem Anspruch eines reinen Geschmacksurteils zugrunde, wie bereits in Kapitel I gesehen wurde. Soweit Kant dem Geschmacksurteil die Werden-Müssen-Notwendigkeit zuschreibt, weist dies wiederum darauf hin, dass das ästhetische Sollen über den durch die Deduktion abgedeckten Bereich hinausgeht. Denn Kant bildet im Vierten Moment des Geschmacksurteils seinen klaren Gegensatz zwischen dem ästhetischen Sollen und dem Werden, wie bereits festgestellt wurde (5: 239). Hieraus lässt sich folgern, dass sich ein Geschmacksurteil zugleich auf die Werden-Müssen-Notwen­ digkeit (im Kontext der Deduktion) und auf die Sollens-Notwendig­ keit bezieht. Das in der Einleitung erwähnte Interpretationsproblem betref­ fend die unterschiedlichen Rechtfertigungsversuche in Kants Ästhetik kann nun geklärt werden: Die Deduktion im Rahmen der Analytik ist

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3.2. Zurechnungsfähigkeit

für die Werden-Müssen-Notwendigkeit zuständig und Kant rückt in der Dialektik die Sollens-Notwendigkeit in den Vordergrund. Wenn es um unterschiedliche Notwendigkeiten geht, lassen sich die unter­ schiedlichen Rechtfertigungsversuche nicht als problematisch anse­ hen. Der Vergleich dieser Passagen aus Kants Einleitung (5: 191) mit den Textstellen aus dem Vierten Moment, an denen Kant die theore­ tisch-objektive Notwendigkeit mit Werden darstellt (5: 237 f.), ver­ deutlicht nochmals, dass sich das in § 22 dem ästhetischen Sollen ent­ gegengesetzte Werden nicht als bloße empirisch-psychologische Erklärbarkeit deuten lässt, wie von Ginsborg interpretiert wird. Das Werden ist eher durch Müssen ersetzbar, wie in der zitierten Passage aus der zweiten Fassung der Einleitung zu sehen. Es kennzeichnet die auf apriorische Notwendigkeit angewiesene Berechenbarkeit und des­ wegen bedeutet es auch nicht eine zeitliche Vorhersage, wie es beim Verb Werden im Alltag der Fall ist.

3.2. Zurechnungsfähigkeit 3.2.1. Anonymität des transzendentalen Subjekts, Persönlichkeit sowie Zurechnungsfähigkeit des praktischen Subjekts Der Vergleich zwischen der Werden-Notwendigkeit und der SollenNotwendigkeit zeigte, dass die Notwendigkeit untrennbar mit dem Status bezüglich der Weltangehörigkeit des jeweiligen Subjekts ver­ bunden ist. Der Statusunterschied lässt sich wiederum nicht von einer anderen Art des Unterschieds zwischen den Subjekten trennen. Dies betrifft den Unterschied zwischen der Anonymität und der Persön­ lichkeit. In der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant die »Natur unseres denkenden Wesens« dar, d. h. die Natur des transzendentalen Sub­ jekts des Denkens: »Zum Grunde derselben [sc. Natur unseres denkenden Wesens] kön­ nen wir aber nichts anderes legen, als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Sub­ jekt der Gedanken vorstellt = x, welches nur durch die Gedanken, die

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, nie­ mals den mindesten Begriff haben können« (KrV A 345 f. = B 403 f.; Hervorhebung im Original).

Ein transzendentales Subjekt ist also grundsätzlich als ein einziges logisches gedacht, weil es an sich keinen Inhalt hat und nur eine logi­ sche Funktion ausführt. Was im Gedanken bzw. Erkennen relevant ist, liegt in der Sachlichkeit und nicht darin, wer sie denkt. Es ist gleich­ gültig, ob »Ich, oder Er, oder Es« denkt. In dieser Hinsicht stellt sich ein denkendes Subjekt einem frei handelnden Subjekt gegenüber, das einer Handlung zurechnungsfähig ist. Hier sei Axel Hutter einbezo­ gen, der diesen Unterschied treffend formuliert als »Differenz zwi­ schen der anonymen Spontaneität eines »Ich oder Er oder Es denkt« und der eo ipso persönlichen Freiheit einer zurechenbaren Handlung« (Hutter 2003, 164 f.; Hervorhebung im Original). Hutter sagt weiter, dass gegenüber der Anonymität des denkenden Subjekts »das genuin praktische Subjekt einer freien und zurechenbaren Handlung […] notwendig eine Person unter mehreren Personen« ist (2003, 165). Der Begriff von Zurechnungsfähigkeit hilft dabei, den Gegensatz zwi­ schen Anonymität und Persönlichkeit besser zu verstehen. Da ein bestimmtes praktisches Subjekt als Urheber einer Handlung die Zurechnung für die Handlung trägt, kann es nicht anonym bleiben.36 Als ein sich von anderen unterscheidendes Individuum hat es seine Persönlichkeit. Wir können nun vermittels des Begriffs von Zurechnungsfähig­ keit die Differenz zwischen dem theoretischen und dem praktischen Subjekt wiederum auf die (Un-) Abweichungsmöglichkeit von Geset­ zen beziehen. Werden als Vergleichspunkt zwischen der Spontaneität des Verstandes und der der Vernunft ihre Gesetze in Betracht gezogen, ist eine Erkenntnis außerhalb der Verstandesgesetzen nicht möglich, während eine vom Moralgesetz abweichende Handlung durchaus möglich ist. Die Abweichungsmöglichkeit ist anders gesagt die Frei­ heit, anders zu handeln. Darauf soll nun eingegangen werden.

36 Diese Differenz bezieht sich wiederum auf die Unterscheidung zwischen homo phaenomenon und homo noumenon, da Kant nur den homo noumenon als zurech­ nungsfähiges Wesen versteht (6: 26; 6: 418).

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3.2. Zurechnungsfähigkeit

Die Zurechnungsfähigkeit setzt insofern die Freiheit voraus, als nur ein freier Urheber als zurechnungsfähig gilt.37 Ein freier Mensch ist nicht nur in der Lage, dem Gesetz zu folgen, sondern auch imstande, vom Gesetz abzuweichen. Ein zurechnungsfähiger Urheber erhält »Tadel«, wenn seine Handlung vom Gesetz abweicht. Denn er ist dazu fähig, die Handlung aufgrund seiner Freiheit hervor­ zubringen als einer »Ursache«, welche »das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen« (KrV A 555 = B 583; Hervorhebung der Verf.). Dabei bedeutet das Wort »anders« nicht irgendeine andere Handlung, sondern diejenige Handlung, die sich auf das Gesetz seiner reinen praktischen Vernunft, d. h. seines übersinnlichen Ichs gründet. Das Kriterium der »Abweichung« liegt hier darin, ob seine Entscheidung aus dem übersinnlichen Ich kommt oder nicht. Wenn er nicht anders – im gerade dargelegten Sinne – bestim­ men könnte, so wäre ihm die schlechte Tat nicht zuzurechnen, er bliebe folglich ungetadelt. Beim Erkennen und Denken kann in dieser Hinsicht von Zurechnung keine Rede sein. Denn das übersinnliche Ich spielt insofern keine Rolle, als sich das transzendentale Subjekt den von der Sinnlichkeit abhängigen Verstandesgesetzen nicht entziehen kann. Es kann also nicht anders.38 Es muss immer Gesetzen folgen. Der Raum, in dem man sinnvoll von Zurechnung sprechen kann, entfällt. Schließlich verbleibt das Subjekt als homo phaenomenon und ist (noch) nicht eine Person, welche »dasjenige Subjekt [ist], dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind« (6: 223).

3.2.2. Verortung des ästhetischen Subjekts Wie ist dann ein Subjekt des Geschmacksurteils einzuordnen? Unter Anonymität, oder unter Persönlichkeit? Diese Frage lässt sich hin­ sichtlich der beiden Ansprüche des Geschmacksurteils betrachten. Mit dem Anspruch, um den es in der Deduktion geht, spielt Kant zunächst Nach Kant ist die Zurechnung das »Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird« (6: 227, Hervorhebung der Verf.). 38 Ein denkendes, erkennendes Subjekt kann auch einen Fehler, d. h. eine »fehlerhafte Subsumtion« (5: 291) begehen, sagt Kant. Ein derartiger Fehler ist jedoch nicht von einer Maxime abhängig, wie es bei einer moralisch bösen Handlung der Fall ist. Deshalb wäre es nicht sinnvoll, von einer fehlerhaften Zurechnung zu sprechen. 37

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

insofern auf die Anonymität des Subjekts an, als er diesen Anspruch mit dem Argument begründet, dass ein reines Geschmacksurteil durch die für jeden verfügbaren subjektiven Bedingungen gefällt wird und deshalb jeder in der Lage dazu ist, diesem Urteil beizupflichten. Es ist zwar einzuräumen, dass das in einem Geschmacksurteil Ausgesagte letztlich auf das Gefühl des Subjekts bezogen ist, anders als im Fall eines Erkenntnisurteils, und folglich die Subjektivität hier einen größeren Anteil hat, als im Fall des letzteren. Um ein Geschmacksurteil als ästhetisches und einzelnes Urteil zu fällen, muss man außerdem das infrage stehende Objekt selbst direkt und persönlich erleben, was Kant mit der »Autonomie« des Geschmacks­ urteils bezeichnet. Was Kants Argument für den Allgemeinheitsanspruch des Geschmacksurteils angeht wird die Betrachtung der Individualität des ästhetischen Subjekts vernachlässigt durch Kants starke Betonung, dass ein Geschmacksurteil auf den allgemein verfügbaren Erkenntnis­ bedingungen beruhe. Ähnliches ist bei Kants Betonung der Erkennt­ nisähnlichkeit der Fall, etwa wenn er schreibt: »Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre« (5: 281; Hervorhebung der Verf.). Es sei betont, dass die Individualität des ästhetischen Subjekts auf jeden Fall von der Persönlichkeit des moralischen Subjekts unter­ schieden werden muss. Kant weist zwar auf die Abweichungsmög­ lichkeit in der ästhetischen Version hin, d. h. die Möglichkeit einer unrichtigen Subsumtion beim Geschmacksurteil (§ 38, 5: 291). Aber diese Abweichung ist keine Entscheidung durch Maximen der menschlichen Willkür, sondern ein unabsichtlicher Fehler. Auch der Fall der korrekten Subsumtion ergibt sich nicht aus einer bestimmten Maxime, sondern beruht auf einer durch die zufällige Einstimmung zwischen dem Objekt und dem Subjekt interesselos entstehenden Portion der Erkenntniskräfte. Da hier jegliches Interesse der Erkennt­ nis, des Vergnügens oder irgendeines Zwecks ausgeschlossen ist, kann von Zurechnung keine Rede sein. Beim anderen Anspruch des Geschmacksurteils, dem SollensAnspruch auf die Zustimmung, sieht es anders aus. Im übernächsten Abschnitt (5.) folgt eine Auseinandersetzung mit der Wertschätzung eines anderen Subjekts aufgrund der Evaluation der Maximen, die Kant bezüglich der Zustimmungsforderung des Geschmacksurteils in § 59 thematisiert (5: 353). Es sei vorweggenommen, dass sich die

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3.2. Zurechnungsfähigkeit

Akte der Erhebung des Sollens-Anspruchs sowie jene des Fällens eines Geschmacksurteils selbst als zurechnungsfähige Handlungen betrachten lassen. Denn sie kommen durch Maximen zustande, die sich der Urteilende aufgrund eines Gesetzes setzt, welches ihm als Kriterium der Abweichung dienen soll. Bei einem reinen Geschmacksurteil mangelt es jedoch an einem Gesetz oder einer mit ihm vergleichbaren Begrifflichkeit. Deshalb gelangt der Anspruch des reinen Geschmacksurteils nicht zur Ebene, auf der die Zustimmung als Sollen gefordert wird. Gerade in diesem Sinne betont Kant in der Dialektik immer wieder die Notwendigkeit der Bezugnahme auf einen Vernunftbegriff, die sich mit einem rei­ nen Geschmacksurteil sowie dessen bloßer Reflexion über die Form des Gegenstandes nicht erklären lässt, die aber die quasi-objektive Gültigkeit jener Forderung garantieren soll. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Verknüpfung einer Zusatz-Tätigkeit der Erkennt­ niskräfte mit jener bloßen Reflexion. Beachtenswert scheint dabei, dass sich die Bezugnahme auf solch eine gesetzähnliche Begrifflichkeit nicht allgemein erwarten lässt. Denn die durch die Zusatz-Tätigkeit erweiterte Beurteilung nach der auf dieser Begrifflichkeit beruhenden Maxime ist nicht so selbstver­ ständlich wie die Handlung nach der Maxime bezüglich der allgemei­ nen moralischen Handlungsgesetze. Anhand eines schönen Natur­ gegenstandes an einen Vernunftbegriff zu denken und sich gemäß dem Begriff, eine Maxime zu setzen, ist viel komplizierter, als bei­ spielsweise im Falle eines Kindesmissbrauchs an die Menschheitsfor­ mel des Kategorischen Imperativs zu denken. Um die Vorstellung eines Gegenstandes an solche Begrifflichkeit verknüpfen zu können, muss man über die Fähigkeit des kultivierten Gebrauchs der Erkennt­ niskräfte verfügen. Wie in Kapitel III zu sehen sein wird, löst ein von Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft thematisiertes intellektuelles Interesse die Zusatz-Tätigkeit der Erkenntniskräfte aus. Dort macht Kant klar, dass ein solches Interesse »wirklich nicht gemein [ist], son­ dern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich ist« (5: 301). Dies deutet an, dass nicht jeder zu dieser Zusatz-Tätigkeit der Erkenntniskräfte fähig zu sein scheint. Neben dem intellektuellen Interesse gibt es einen weiteren Schlüsselbegriff Kants für die Zusatz-Tätigkeit der Erkenntniskräfte beim Geschmacksurteil: den Gemeinsinn. Dieser Gemeinsinn ist jedoch zu unterscheiden von jenem in der anderen Gebrauchsweise,

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3. Allgemeine Charakterisierung von Werden und Sollen

wo der Begriff Gemeinsinn als die fundamentale Erkenntnisbedin­ gung für jede Erkenntnis verstanden wird. Auf eine andere Begriffs­ verwendung des Gemeinsinns wurde beim Überprüfen von Rinds Aufsatz hingewiesen. Durch die Erläuterung der weiteren Begriffsver­ wendung des Gemeinsinns lassen sich mehrere Aspekte der ZusatzTätigkeit erschließen.

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne zum Erhellen des ästhetischen Sollens

4.1. Zusatz-Tätigkeit und Gemeinsinn in zweifachem Sinne In einer Passage aus § 19 deutet Kant die Notwendigkeit einer ZusatzTätigkeit für den Sollens-Anspruch an: »Das Geschmacksurtheil sinnt jedermann Beistimmung an; und wer etwas für schön erklärt, will, daß jedermann dem vorliegenden Gegen­ stande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle. Das Sollen im ästhetischen Urtheile wird also selbst nach allen Datis, die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgesprochen. Man wirbt um jedes andern Beistimmung, weil man dazu einen Grund hat, der allen gemein ist« (5: 237; Hervorhebung der Verf.).

Nachdem Kapitel I subjektive Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt abhandelte, ist leicht festzustellen, dass Kant mit den hier erwähnten Daten, »die zur Beurtheilung erfordert wer­ den«, die für dieselben Bedingungen schickliche Gegebenheit der Vorstellung meint. Ausdrücklich sagt Kant, der Sollens-Anspruch erfordere neben jener Gegebenheit zusätzlich noch eine andere Bedin­ gung. Die andere Bedingung muss dabei als »Grund« dienen, »der allen gemein ist« (ibid.). Was kann das sein? Aus dieser Passage lässt sich lediglich entnehmen, dass es um einen anderen »Grund« geht, der sich von jenen allgemeinen Bedingungen der Urteilskraft unterschei­ det. Die Antwort findet sich in § 22. Dort bezeichnet Kant die Bedin­ gung für den Sollens-Anspruch überraschenderweise als »Gemein­ sinn«. Dies überrascht deshalb, weil bereits im ersten Kapitel der andere Sinn von »Gemeinsinn« zur Sprache kam: Der Gemeinsinn im Sinne einer konstitutiven Bedingung eines reinen Geschmacksurteils und damit als das Vermögen, eine Vorstellung des Gegenstandes durch das Gefühl der Lust als Wirkung aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte anhand der Vorstellung allgemeingültig zu beurtei­ len. Der Gemeinsinn in § 22 muss jedoch insofern von jenem unter­

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne

schieden werden, als er nicht für die ästhetische Beurteilung selbst, sondern für den mit ihr verbundenen Sollens-Anspruch konstitutiv ist. Das zwingt geradezu zur Vermutung, dass Kant den Begriff Gemeinsinn in zwei voneinander zu unterscheidenden Hinsichten verwendet. Diese Vermutung findet im letzten Absatz des § 22 eine Bestätigung, wo Kant zwei Arten von Gemeinsinn aufzählt: »Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn, als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, oder ein noch höheres Prinzip der Vernunft es uns nur zum regulativen Prinzip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höhern Zwecken in uns hervorzubringen; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei, so daß ein Geschmacksurteil, mit seiner Zumutung einer allgemeinen Beistim­ mung, in der Tat nur eine Vernunftforderung sei eine solche Einhel­ ligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sollen, d. i. die objektive Notwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern, nur die Möglichkeit hierin einträchtig zu wer­ den, bedeute, und das Geschmacksurteil nur von Anwendung dieses Prinzips ein Beispiel aufstelle [...]« (§ 22, 5: 240).

Werden Kants Charakterisierungen dieser zwei Arten von Gemein­ sinn im letzten Satz des § 22 übersichtlich in eine Tabelle gebracht und die jeweilige Art Gemeinsinn A und B genannt, sieht es so aus: Gemeinsinn A

Gemeinsinn B

Konstitutives Prinzip der Mög­ lichkeit der Erfahrung

Regulatives Prinzip, welches nach einem noch höheren Prinzip der Vernunft in uns zu höheren Zwecken hervorzubringen ist

Ursprüngliches und natürli­ ches Vermögen

Idee von einem noch zu erwer­ benden und künstlichen Vermö­ gen Allgemeinheitsanspruch des Geschmacksurteils = Vernunftforderung, eine Ein­ helligkeit der Sinnesart hervor­ zubringen

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4.1. Zusatz-Tätigkeit und Gemeinsinn in zweifachem Sinne

Ästhetisches Sollen = Anspruch auf die Möglichkeit der Einträch­ tigkeit Geschmacksurteile = Beispiele der Anwendung dieses regulati­ ven Prinzips Anhand der ersten Charakteristik des Gemeinsinns A (»Konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung«) ist gleich festzustellen, dass der Gemeinsinn A jenem Gemeinsinn entspricht, der im ersten Kapitel thematisiert worden ist und dem Rechtfertigungsversuch des Anspruchs eines reinen Geschmacksurteils in der Deduktion zugrunde liegt. Der Gemeinsinn im ersten Kapitel ist als »Wirkung aus dem freien Spiel« ein konstitutives Element für die ästhetische Erfahrung mit dem Schönen. Wenn wir außerdem daran denken, dass Kant das freie Spiel der Erkenntniskräfte zur Bedingung für die Erkenntnis überhaupt erklärt, könnte dieser Gemeinsinn auch als konstitutiv für Erfahrungen überhaupt betrachtet werden. Die danach erwähnte Charakteristik (»Ursprüngliches und natürliches Vermögen«) lässt sich auch gut nachvollziehen, da nur ein solches Vermögen als für jeden verfügbar erachtet werden kann. Was ist dann mit dem Gemeinsinn B? Obwohl Kant dieser Art von Gemeinsinn mehrere Zeilen widmet, lässt sich der größere Teil des Inhaltes in diesen Zeilen auf die einfache Struktur reduzie­ ren, die bereits besprochen wurde: Die Struktur der exemplarischen Gültigkeit bzw. Notwendigkeit eines Geschmacksurteils. Diese wird mit seiner Bezugnahme auf eine Notwendigkeit der höheren Ebene begründet. Letztere Notwendigkeit ist hier beschrieben als »höheres Prinzip«, »höhere Zwecke«, als die Nötigung der »Einträchtigkeit« und die »Vernunftforderung, eine Einhelligkeit der Sinnesart hervor­ zubringen«, welche hinsichtlich der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls auf die Möglichkeit der menschlichen Eintracht hinzuwei­ sen scheint. Die exemplarische Notwendigkeit lässt sich nicht durch die epis­ temologische Begründung der Kantischen Deduktion explizieren, wie beim Überprüfen von Rinds Aufsatz bemerkt wurde. Außerdem deu­ ten die Ausdrücke »höheres Prinzip«, »höhere Zwecke« und »Ver­ nunftforderung« die Konvergenz mit dem »Vernunftbegriff« an, der in der Dialektik bezüglich des Allgemeinheitsanspruchs betont wird. Es gibt noch einen Konvergenz-Punkt mit der Dialektik. Im obigen

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne

letzten Absatz des § 22 wird das Sollen des Geschmacksurteils durch »die objective Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern« expliziert (5: 240; Her­ vorhebung der Verf.). In der Dialektik verwendet Kant den Ausdruck »Gültigkeit bekommen« (5: 340), eine verstärkte Form von »Zustim­ mung ansinnen/zumuthen«, wie die Auseinandersetzung mit Rind verdeutlichte. Beide Punkte weisen darauf hin, dass ein Geschmacks­ urteil als subjektives Urteil unter Bezugnahme auf einen Vernunft­ begriff (wahrscheinlich eines Zwecks) derartige Erweiterung erlebt, dass es zu dem seinen ursprünglichen Status eines subjektiven Urteils übersteigenden Anspruch berechtigt. Folglich lassen sich die Ausfüh­ rungen Kants, die in der Tabelle dem Gemeinsinn B zugeordnet wur­ den, als Informationen über die Erweiterung sowie den SollensAnspruch des Geschmacksurteils ansehen, und zudem als Informationen über den Gemeinsinn im zweiten Sinne, der nach Kant dem ästhetischen Sollens-Anspruch zugrunde liegt.

4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn Soeben wurde festgestellt, dass die Ausführungen zu zwei unter­ schiedlichen Arten von Gemeinsinn im letzten Absatz des § 22 für diese Untersuchung sehr informativ sowie hilfreich sind. Doch steht ein kritischer Blick auf die im § 22 folgende Zeile Kants noch aus. Denn Kant schließt nach der Aufzählung der Charakteristiken der zwei Arten von Gemeinsinn ohne weitere Aufarbeitungen derselben das Vierte Moment des Geschmacksurteils ab, nur mit der folgenden Aus­ sage: »das [sc. ob ein Gemeinsinn entweder so, oder anders charakte­ risiert wird] wollen und können wir hier noch nicht untersuchen« (§ 22, 5: 240). Diese widerspricht jeglicher Erwartung. Denn Kant verwendet, wie bereits aufgezeigt wurde, innerhalb des Vierten Moments des Geschmacksurteils den Terminus in beiden Sinnen, d. h. er scheint auf die hier von ihm selbst aufgeworfene Ob-Frage bereits geantwortet zu haben. Der Gemeinsinn lässt sich demnach in beide Richtungen charakterisieren und eine der Alternativen wird durch die Ob-Frage nicht ausgeschlossen. Trotzdem gibt es mit Wilhelm Vossenkuhl einen Interpreten, der diesen Absatz des § 22 anders betrachtet. Seine Interpretation zu die­

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4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn

ser Passage soll entkräftet werden, um damit für ein Nebeneinander von zweierlei Arten von Gemeinsinn zu argumentieren. Vossenkuhl meint, »[...] daß die Tätigkeit des Gemeinsinns mit der Alternative zwischen konstitutiv und regulativ, zwischen natürlich und künstlich nicht zu treffen ist. In einem Fall wäre der Gemeinsinn nur eine Verstandes­ leistung und dann auch ständig in gleicher Weise ohne freie Modifi­ kation und fehlerfrei wirksam; die Einbildungskraft würde storniert; das Gefühl des Schönen würde sich nicht zeigen, sondern würde vor­ geführt, demonstriert. Im anderen Fall wäre der Gemeinsinn nur eine Vernunftforderung, deren Erfüllung bis auf weiteres oder beständig aussteht; das Gefühl des Schönen bliebe verborgen und hätte keinen kognitiven Gehalt. Wir wüßten nicht, ob wir ästhetisch urteilen oder nicht« (Vossenkuhl 1995, 116 f.).

Vossenkuhl behauptet hier, dass der Gemeinsinn weder konstitutiv noch regulativ, weder natürlich noch künstlich sei. Wenn man die zitierte Stelle genau betrachtet, lässt sich leicht ersehen, dass Vossen­ kuhls Begründung dieser Behauptung nur das erste Oppositionspaar berücksichtigt, das zweite aber gar nicht. Was er mit »[i]n einem Fall« beschreibt, betrifft nur das Wort »konstitutiv«, aber nicht das Wort »natürlich«. Mit dem »anderen Fall« ist es ebenso. Die Begriffe »natürlich« und »künstlich« beziehen sich auf eine andere Ebene oder einen anderen Kontext. Darauf wird später zurückgekommen. Zunächst sei das Oppositionspaar von »konstitutiv« und »regula­ tiv« betrachtet.

4.2.1. Konstitutiver Gemeinsinn Vossenkuhls Ausführungen kann man entnehmen, dass er nur die objektiven Erfahrungen und die Erfahrungsobjekte für konstituierbar hält. In diesem Sinne sind lediglich die Anschauungsformen, die Kategorien und einige Grundsätze des reinen Verstandes konstitutiv. Vossenkuhl hält also an jener Auffassung fest, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft vertritt. Jedoch erweitert Kant in der Kritik der Urteilskraft die Extensionen der Erkenntnis – die Verwendung des Begriffs »Erkenntnis überhaupt« zeigt dies – und zugleich der Erfah­ rung, wenn man unter der Erfahrung den Inbegriff aller Erkenntnis versteht. Aus dieser erweiterten Perspektive trifft »ein konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung« (§ 22, B 67), welches in obiger

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne

Tabelle dem Gemeinsinn A zugeordnet ist, auf die Zusammenstim­ mung zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand zu. Diese Zusammenstimmung ließe sich also als das konstitutive Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung im weiteren Sinne bezeichnen. Wenn die Zusammenstimmung unter den Verstandesgesetzen erfolgt, wird ein Erfahrungsobjekt konstituiert. Wenn die Zusammenstimmung aber zu einem freien Spiel zwischen den Erkenntniskräften führt, ist es nicht ein Objekt, sondern ein Gefühl der Lust oder Unlust, welches durch dieses konstitutive Prinzip im weiteren Sinne konstituiert wird. Dies ist von Kant selbst zu belegen: Er sagt im abschließenden Absatz der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, dass »das ästhe­ tische Urteil über gewisse Gegenstände«, d. h. das Urteil über die ästhetische Zweckmäßigkeit des Gegenstandes, welches nicht anderes als eine Beurteilung über die Zusammenstimmung der Erkenntnis­ kräfte als das freie Spiel ist, »in Ansehung des Gefühls der Lust oder Unlust ein konstitutives Prinzip ist« (5: 197). Somit ist die These Vossenkuhls, dass der Gemeinsinn weder konstitutiv noch regulativ sein könne, entkräftet worden. Denn wenn man mit Kant einen Gemeinsinn als ein Vermögen ansieht, das »durch Gefühl [...] allge­ meingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle« (5: 238), ist dieser sowohl für das Gefühl als auch für das Geschmacksurteil konstitutiv.

4.2.2. Regulativer Gemeinsinn Nachfolgend soll überprüft werden, ob ein Gemeinsinn regulativ sein kann. Unter Gemeinsinn B in obiger Tabelle ist der Gemeinsinn als ein regulatives Prinzip dargestellt, dessen Hervorbringung nach einem noch höheren Prinzip der Vernunft zu höheren Zwecken führt. Wie anderen Zeilen der Tabelle zu entnehmen ist, scheint Kant zu den »höheren Zwecken« die Idee der Einhelligkeit oder Einträchtigkeit zwischen Menschen zu zählen. Dieser Idee gemäß müssen die Urteile über das Schöne auf die Entsprechung dieser Idee hin reguliert wer­ den. Der regulative Charakter dieser Idee beim Geschmacksurteil zeigt sich im letzten Absatz des § 8 der Kritik der Urteilskraft, der bei der Besprechung von Rind hinsichtlich der exemplarischen Gültigkeit besprochen wurde. Dort sagt Kant, dass der Urteilende des Geschmacks selbst »dieser Idee gemäß«, also der Idee der allgemeinen Stimme gemäß, urteilt (5: 216). Dies bedeutet, dass der Urteilende

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4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn

dieser Idee die regulative Funktion der »Regel« zuschreibt, indem er sein Urteil als »einen Fall der Regel« betrachtet (ibid.). Und später in § 22 erklärt Kant diese Idee als Gemeinsinn: »Also ist der Gemeinsinn, von dessen Urtheil ich mein Geschmacks­ urtheil hier als ein Beispiel angebe und weswegen ich ihm exempla­ rische Gültigkeit beilege, eine bloße idealische Norm, unter deren Voraussetzung man ein Urtheil, welches mit ihr zusammenstimmte, und das in demselben ausgedrückte Wohlgefallen an einem Object für jedermann mit Recht zur Regel machen könnte: weil das Princip, zwar nur subjectiv, dennoch aber, für subjectiv = allgemein (eine jedermann nothwendige Idee) angenommen, was die Einhelligkeit ver­ schiedener Urtheilenden betrifft, gleich einem objectiven allgemeine Beistimmung fordern könnte« (5: 239).

Der Gemeinsinn ist hier die idealische Norm, aufgrund derer der Urteilende seinem Geschmacksurteil die exemplarische Gültigkeit verleihen kann. Und es geht hier um die »Einhelligkeit verschiedener Urtheilende[r]« (ibid.). Hieraus lässt sich schließen, dass, obwohl Kant erst in § 22 den Ausdruck »regulativ« verwendet, das regulative Element bereits in § 8 thematisiert wird. Es soll hier betont werden, dass der Gegenstand der regulativen Überprüfung als ein bereits zustande gekommenes Urteil beschrieben wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die regulative Funktion klar von der das Urteil bzw. das Gefühl der Lust konstituierenden Funktion. Dieser regulative Gebrauch des Gemeinsinns ist jenem der reinen Vernunft sehr ähnlich, der in der Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik erörtert wird: »Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand, und vermittelst dessen auf ihren eigenen empirischen Gebrauch« (KrV A 643 = B 671). Ihr regulativer Gebrauch besteht darin, »den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten« (KrV A 644 = B 672). Dieses Verhältnis zwischen dem Verstand und der Vernunft ist auf dasjenige zwischen dem Gemeinsinn A und dem Gemeinsinn B zu übertragen. Durch den Gemeinsinn B wird zwar kein unmittelbares Gefühl der Lust betreffend den Gegenstand geschaffen, aber Gemein­ sinn B richtet die Tätigkeit von Gemeinsinn A, welche in Hinsicht solchen Gefühls der Lust konstitutiv ist, »zu einem gewissen Ziele«, also auf das Ziel der Einträchtigkeit zwischen Urteilenden. Aufgrund dessen soll der Gemeinsinn B nach Kants Terminologie »regulativ« bezeichnet werden.

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne

Nun ist die Auffassung Vossenkuhls, dass die Tätigkeit des Gemeinsinns nicht regulativ sein könne, nachzuprüfen. Vossenkuhl wendet in der zitierten Passage gegen die regulative Möglichkeit eines Gemeinsinnes ein, dass ein regulativer Gemeinsinn dazu führe, das Ästhetische des Schönen im Geschmacksurteil zu verlieren, denn die­ ser wäre eine reine Vernunftstätigkeit. Wie Kant selbst formuliert, ist die Idee der Einträchtigkeit insofern tatsächlich eine »Vernunftforde­ rung« (§ 22, 5: 240), als diese Idee nicht aus der Beschaffenheit der Erscheinungen hergeleitet und ausschließlich auf ein Vernunftinter­ esse zurückgeführt werden kann. Es ist jedoch eine Beurteilung des Schönen nach dem Gefühl der Lust oder Unlust, auf welche der regu­ lative Gemeinsinn angewandt wird. Diese Regulativität beeinträchtigt also keineswegs das Ästhetische des Schönen, sondern setzt sie vor­ aus. Die Regulativität ersetzt das Ästhetische nicht und beabsichtigt auch nicht, sie zu ersetzen. Vossenkuhls Irrtum liegt darin, dass er übersieht, dass unter dem Kantischen Gemeinsinn zwei verschiedene kognitive Funktionen verstanden werden. Man findet außerhalb des Vierten Moments des Geschmacksur­ teils einen weiteren Paragrafen, in dem der Gemeinsinn nochmals in den Vordergrund tritt. In § 40 führt Kant den Terminus »sensus com­ munis« als anderes Wort für den Gemeinsinn an und definiert ihn wie folgt: »Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemein­ schaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde« (5: 293).

Was in der Tätigkeit bzw. in der »Reflexion« des Gemeinsinns beachtet wird, ist eine apriorische Idee einer allgemeinsten Vorstellungsart des Menschen. Man muss sein eigenes Urteil mit dieser Idee abgleichen. In der sogleich folgenden Passage bringt Kant dies zum Ausdruck mit der Formulierung, »sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile« zu halten (ibid.). Derselbe Sach­ verhalt ist mit »erweiterter Denkungsart«, die Kant als »die zweite Maxime« »des gemeinen Menschenverstandes« (5: 294) bezeichnet, gemeint. Die erweiterte Denkungsart vollzieht sich, wenn man »sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils [...] wegsetzt, und

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4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn

aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eige­ nes Urteil reflektiert« (5: 295; Hervorhebung der Verf.). Aus diesen Ausführungen über den Gemeinsinn tritt das Folgende ans Licht: Der Gemeinsinn als sensus communis ist ein reflektierendes Vermö­ gen des Subjekts über sein eigenes Urteil. Beim Reflektieren ist seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, ob sich sein Urteil an die Regel von dem »allgemeinen Standpunkte« hält. Deshalb ist der sensus communis regulativ, insofern er sich auf die Regel einlässt, gemäß der sich sein Urteil des Schönen ausrichten soll, sich aber nicht direkt an derjenigen ästhetischen Erfahrung beteiligt.

Dies deutet außerdem auf die Erweiterung eines reinen Geschmacks­ urteils, bzw. die Verknüpfung einer zusätzlichen Tätigkeit mit dem reinen Geschmacksurteil hin. Die Meta-Reflexion, d. h. die Reflexion über eine eigene Reflexion, erweitert die ursprüngliche Reflexion.

4.2.3. Künstlicher Gemeinsinn Von der Regulativität des Gemeinsinns B wird zu dessen Charakteri­ sierung als künstliches und noch zu erwerbendes Vermögen überge­ gangen. Es soll behandelt werden, was Kant mit »künstlich« meint und ob sich ein Gemeinsinn als künstlich betrachten lässt. Für diese Aufgabe scheint ein anderer Ausdruck »spekulativ« wichtig zu sein. In der Logik verwendet Kant den Ausdruck »künst­ licher Verstandesgebrauch« und setzt ihn mit dem »speculativen Vernunftgebrauche« gleich (9: 57). Auch in der Kritik der reinen Vernunft wird gesehen, dass der »spekulative Vernunftgebrauch« dem »natürlichen« gegenübergestellt ist. Das Wort »spekulativ« scheint auf denselben Sachverhalt hin­ zuweisen wie »künstlich«, was den Gebrauch der Erkenntniskräfte angeht. Im letzten Absatz des § 22 der Kritik der Urteilskraft bezieht sich das Gegensatzpaar »natürlich-künstlich« auf den Gemeinsinn als eine Art Gebrauch der Erkenntniskräfte. Um zu klären, ob ein Gemeinsinn künstlich sein kann, soll daher zugleich überprüft wer­ den, ob er spekulativ sein kann. Zwei Stellen lassen sich nennen, an denen Kant von der speku­ lativen Erkenntnis spricht. In der ersten Kritik wird von der Art des Gegenstandes einer spekulativen Erkenntnis gesprochen: »Eine

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4. Überprüfung des Gemeinsinns im zweiten Sinne

theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann« (KrV A 634 = B 663; Hervorhebung der Verf.). In der Logik schreibt Kant der spekulativen Erkenntnis die Abstraktion als Denkungsweise zu: »Die Erkenntniß des Allge­ meinen in abstracto ist speculative Erkenntniß, die Erkenntniß des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntniß« (9: 27; Hervorhebung der Verf.). Der Gegensatz zwischen »in concreto« und »in abstracto« lässt sich auch finden, wenn Kant an anderer Stelle in der Logik die natürliche und die künstliche Logik vergleicht (9:17). Hieraus lässt sich schließen, dass die Abstraktion durch einen Gebrauch der Erkenntniskräfte geschieht, den Kant künstlich bzw. spekulativ nennt. Der Gemeinsinn im zweiten Sinne entspricht der Bezeichnung »künstlich« bzw. »spekulativ«. Erstens muss dieses Erkenntnisver­ mögen aus dem einzelnen Geschmacksurteil eine allgemeine Regel abstrahieren, wobei das Urteil als ein Fall dieser Regel betrachtet werden kann. Zweitens ist die Regel hier eine »bloße idealische Norm« der Einhelligkeit des Menschen (5: 239), d. h. eine Idee, zu deren Realisierung »man in keiner Erfahrung gelangen kann« (KrV A 634 = B 663).

4.2.4. Natürlicher Gemeinsinn im zweifachen Sinne a. Konkretes Verfahren der Erkenntniskräfte Die nächste Frage, die beantwortet werden soll, ist jene, ob zum Gemeinsinn im ersten Sinne die Bezeichnung »natürlich« passt. Der schon erwähnte Kontrast zwischen der natürlichen und der künstli­ chen Logik war jener zwischen »in concreto« und »in abstracto«. Ein natürlicher Gebrauch der Erkenntniskräfte übersteigt nicht die Gren­ zen der konkreten Erfahrung, auch wenn er sich auf ein übersinnliches Wesen bezieht. Die »natürliche« Theologie ist ein gutes Beispiel. Sie »denkt sich nun ihren Gegenstand […] durch einen Begriff, den sie aus der Natur (unserer Seele) entlehnt« (KrV A 631 = B 659). Sie versucht, »den Gegenstand nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich als ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte« (ibid.). Die natürliche Theologie will ihren Gegenstand in Anlehnung zu jenem, »was geschieht, (dem Empirischzufälligen,)« (KrV A 635 = B 663), »in concreto« bestimmen.

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4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn

Ein reines Geschmacksurteil wird durch den Gebrauch der Erkenntniskräfte gefällt, indem er auf die Konkretheit des »Empi­ rischzufälligen« im ausreichenden Grad aufmerksam macht und dadurch die Abstraktion aus der konkreten Gegebenheit möglichst wenig zustande kommt. In dem freien Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes unterliegt die Mannigfaltigkeit zwar gewissen Gesetzmäßigkeiten, ist aber nicht auf einen Begriff des Gegenstandes reduziert. In dieser Hinsicht lässt sich ein reines Geschmacksurteil als Verwirklichung des »in concreto« natürlichen Gebrauchs von Erkenntniskräften betrachten. Auf diesen Gebrauch bezieht sich der Gemeinsinn im ersten Sinne, der einem reinen Geschmacksurteil zugrunde liegt und von Kant als »Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte« (5: 238) verstanden wird. Dahingegen zeigt der andere Gemeinsinn einen künstlichen bzw. spekulativen Gebrauch der Erkenntniskräfte, da er aus dem »empirischzufälligen« Gegenstand der Schönheit die exemplarische Beziehung auf eine allgemeine Regel ersieht.

b. Angeborenes Vermögen Das Wort »natürlich« zeigt sich nicht nur als Gegenteil von »künst­ lich«, sondern es enthält auch eine andere Bedeutung, die es als Gegenteil von »zu erwerbend« hat. In der letzteren Hinsicht bedeutet es das Gleiche wie »angeboren« (6: 25). Nun soll überprüft werden, ob der Gemeinsinn im ersten Sinne, dem der natürliche Gebrauch der Erkenntniskräfte »in concreto« entspricht, als angeborenes Vermögen betrachtet werden kann. In § 39 der Kritik der Urteilskraft sagt Kant zur Lust am Schönen als Lust der bloßen Reflexion beim reinen Geschmacksurteil: »[...] Diese Lust muß notwendig bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil sie subjektive Bedingungen der Möglich­ keit einer Erkenntnis überhaupt sind, und die Proportion dieser Erkenntnisvermögen, welche zum Geschmack erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich ist, den man bei jedermann voraussetzen darf. Eben darum darf auch der mit Geschmack Urteilende […] die subjektive Zweckmäßigkeit, d. i. sein Wohlgefallen am Objekte jedem anderen ansinnen und sein Gefühl als allgemein mitteilbar, und zwar ohne Vermittlung der Begriffe, anneh­ men« (5: 292 f.; Hervorhebung der Verf.).

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Hier spricht Kant vom Gemeinsinn im ersten Sinne, der subjek­ tive Bedingungen der Erkenntnis überhaupt nicht nur zum reinen Geschmacksurteil, sondern auch zum »gemeinen und gesunden Ver­ stande« erfordert. Vom gemeinen (und gesunden) Verstand ist in vielen Werken Kants die Rede. Er wird sowohl im theoretischen als auch im praktischen Kontext verwendet und bezieht sich auf den »ordinären« (vgl. Zöller 2009, 93) Zustand der menschlichen Erkenntniskräfte, der »das Minimum« (7: 295) oder »das Geringste« (5: 293) von dem, was von einem Menschen gewöhnlich erwartet wird, formuliert. Der gemeine Menschenverstand lässt sich jedoch nicht immer im verächtlichen Sinne betrachten, denn dessen Träger sind im prak­ tischen Kontext die »den moralischen Gesetzen unterworfene[n] und zu deren Beobachtung selbst mit Aufopferung aller ihnen widerstreitenden Lebensannehmlichkeiten durch unsere Vernunft bestimmte[n] Wesen« (7: 58). Im theoretischen Kontext fungiert der gemeine Menschenverstand auch als »Probirstein, um die Fehler des künstlichen Verstandesgebrauchs zu entdecken« (9: 57). Er ist zwar gewöhnlich, aber zugleich »gesund«. Aufgrund dieser Zusammenhänge sagt Kant in der zitierten Pas­ sage aus § 39 der dritten Kritik, dass man den gemeinen und gesunden Verstande »bei jedermann voraussetzen darf« (5: 292). In dieser Hin­ sicht ist der gemeine Menschenverstand kein Vermögen, das durch Bemühungen erworben werden muss. Er liegt bei jedem Menschen natürlicherweise vor. Dann ist der Gemeinsinn, der als subjektive Bedingung der Erkenntnis überhaupt nicht nur zum Geschmacksur­ teil, sondern auch »zum gemeinen und gesunden Verstande erforder­ lich ist« (ibid.), ebenfalls eine angeborene, natürliche Kompetenz des Menschen.

4.2.5. Zu erwerbender Gemeinsinn Wenn das Wort »erworben« das Gegenteil von »angeboren« ist, so ist bereits ein anderer Ausdruck für das »erworben« bekannt, näm­ lich: kultiviert. In einem vergangenen Abschnitt wurde besprochen, dass der Gemeinsinn im zweiten Sinne einen kultivierten Gebrauch der Erkenntniskräfte zeitigt. Dieser Aspekt des Gemeinsinns wurde durch unsere Überlegungen zum Gemeinsinn als ein regulatives und spekulatives Vermögen klar. Die Tätigkeit dieses Vermögens, das

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eine Meta-Reflexion über seine eigene Reflexion bezüglich einer abstrakten Idee a priori durchführt, muss so komplex sein, dass man sie nicht von jedem erwarten kann. Es soll zuerst die Komplexität der Tätigkeit des Gemeinsinns näher betrachtet werden und danach wird erläutert, warum dieses Vermögen nicht nur die Eigenschaft besitzt, dass es nur durch Mühe erlangt wird, sondern auch, dass sein Erwerben gesollt wird, d. h., warum es ein »zu erwerbendes« Vermögen ist.

a. Kein angeborenes, sondern ein kultiviertes Vermögen für die komplexe Reflexion Die Annahme, der Gemeinsinn sei kultiviertes Vermögen, unter­ mauert die komplexe Reflexion, die dieser Gemeinsinn durchführt, die man wiederum nicht »allenthalben antrifft« (5: 293). In dieser Hinsicht erinnert der Gemeinsinn, der dem Sollens-Anspruch eines Geschmacksurteils zugrunde liegt, an das Urteil über das Erhabene. Ein reines Urteil über das Erhabene erhebt zwar Anspruch auf Notwendigkeit, aber keinen Anspruch auf allgemeine Mitteilbarkeit wie das reine Geschmacksurteil, da es nicht auf einer bei jedem voraussetzbaren Bedingung für die menschliche Erkenntnis wie das reine Geschmacksurteil beruht, sondern auf einer Bedingung, die der »Cultur bedarf« (5: 265). In dieser Hinsicht kann man bezüglich des Erhabenen keine allgemeine Zustimmung wie beim Schönen erwarten (5: 264). Denn er gibt Menschen, deren Gemüter für das Urteil über das Erhabene nicht genug kultiviert sind: »Daß aber andere Menschen darauf Rücksicht nehmen und in der Betrachtung der rauhen Größe der Natur ein Wohlgefallen finden werden (welches wahrhaftig dem Anblicke derselben, der eher abschre­ ckend ist, nicht zugeschrieben werden kann), bin ich nicht schlechthin vorauszusetzen berechtigt« (5: 292).

In dieser Hinsicht sagt Kant, dass das Urteil des Erhabenen »eine bei weitem größere Cultur nicht bloß der ästhetischen Urtheilskraft, son­ dern auch der Erkenntnißvermögen« beim Urteilenden voraussetzt (5: 264). Der ästhetische Sollens-Anspruch, dem der Gemeinsinn (im zweiten Sinne) zugrunde liegt, braucht ebenfalls diese Kultur der Erkenntnisvermögen, denn man muss anhand einer rein ästhetischen Erfahrung auf eine Vernunftidee (einer der »höheren Zwecke«) hin

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reflektieren. Ein Aspekt der hier erforderlichen komplexen Reflexio­ nen wird bereits im Anfangsparagrafen des Vierten Moments (§ 18) verraten: Die Struktur der Exemplarität, die bereits mehrmals bespro­ chen wurde. Die Notwendigkeit des ästhetischen Sollens, sagt Kant, »kann als Nothwendigkeit, die in einem ästhetischen Urtheile gedacht wird, nur exemplarisch genannt werden, d. i. eine Nothwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urtheil, was als Beispiel einer allgemei­ nen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird« (5: 237; Hervorhebung der Verf.). Man muss anhand einer ästhetischen Erscheinung durch Reflexion auf eine rationale (nicht ästhetische) Idee schließen, deren Verhältnis zum rein ästhetischen Urteil dabei mitgedacht wird. Diese komplexen Tätigkeiten sind nicht für jeden zugänglich und zählen nicht zu fundamentalen Fertigkeiten, die bei jedem Menschen verfügbar sind. Daher lässt sich vermuten, dass der Gemeinsinn (im zweiten Sinne) ein kultiviertes Vermögen des Men­ schen ist.

b. Zu erwerbendes Vermögen in Bezugnahme auf die höheren Zwecke Ein kultiviertes Vermögen und ein »zu erwerbendes« Vermögen sind jedoch unterschiedliche Sachen. Ein Vermögen kann man kultivieren und verfeinern, was jedoch nicht bei jedem erforderlich ist. Ein »zu erwerbendes« Vermögen hingegen soll nicht beliebig sein, sondern sein Erwerb wird von der Vernunft geboten. Die exemplarische Not­ wendigkeit des ästhetischen Sollens-Anspruchs, die bereits bespro­ chen wurde, nennt Kant in § 22 auch »exemplarische Gültigkeit« des­ selben (5: 239). Dort erklärt Kant, dass der exemplarische Bezug auf eine Vernunftidee, deren Beispiel das betreffende Geschmacksurteil ist, den Urteilenden zum Erheben von dergleichen Anspruch berech­ tigt, was bedeutet, der Sollens-Anspruch stützt sich auf die Autorität jener Vernunftidee. Wie bereits besprochen, weist Kant in § 22 darauf hin, dass diesem Sollens-Anspruch ein »Gemeinsinn zu höheren Zwecken« zugrunde liegt (5: 240; Hervorhebung der Verf.). Nun sei die Ansicht vertreten, dass die »höheren Zwecke« wieder auf den Endzweck der Vernunft bezogen sind, d. h. auf das höchste Gut. Nach Kant gebietet unsere Vernunft a priori, das höchste Gut »nach allen meinen Kräften zu befördern« (5: 142). Demnach scheint der Sollens-Anspruch auf Zustimmung mit diesem Gebot der Ver­ nunft zusammenzuhängen. Die Begründung dieser Ansicht und die

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4.2. Das Nebeneinander der zwei Arten von Gemeinsinn

Erörterung des Verhältnisses zwischen einem Geschmacksurteil und dem höchsten Zweck folgen in späteren Teilen. Unabhängig von jenem Verhältnis, welches noch nicht bespro­ chen wurde, gibt es in § 59 der Kritik der Urteilskraft eine Passage, die darauf hinweist, dass der dem Sollens-Anspruch zugrunde lie­ gende Gemeinsinn ein »zu erwerbendes« Vermögen ist. Die Passage beginnt mit der berühmten These zu dem symbolischen Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Sittlichen: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheils­ kraft schätzt« (5: 353; Hervorhebung der Verf.).

Bereits in der Einleitung zur vorliegenden Untersuchung wurde erklärt, dass die These zum symbolischen Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Sittlichen mit ästhetischem Sollen zusammen­ hängt. Es ist dennoch nötig, hier klar zu machen, inwiefern sich der »Anspruche auf jedes anderen Beistimmung« aus dieser Passage als ästhetischer Sollens-Anspruch betrachten lässt. Die Schlüsselbegriffe dazu sind »Pflicht« (§ 59) und »höhere Zwecke«, auf die der Gemein­ sinn im zweiten Sinne den ästhetischen Sollens-Anspruch bezieht (§ 22). In der zitierten Passage äußert Kant, dass der infrage stehende Anspruch nur in der Rücksicht auf das symbolische Verhältnis erho­ ben wird und derartige Berücksichtigung jedem als Pflicht zugemutet wird. Es ist eine Pflicht, in deren Form ein moralisches Gesetz gegen­ über Menschen vorgestellt wird. Wenn man eine Pflicht sprachlich formuliert, ergibt sich ein Imperativ. Imperative teilen sich auf in die hypothetischen (bedingten) und kategorischen (unbedingten). Es sind lediglich kategorische Imperative, die den Pflichtbegriff zum Ausdruck bringen können (4: 425). Kategorische Imperative sind zudem Imperative, die sich von dem Kategorischen Imperativ als ein­ zigem Grundprinzip der reinen praktischen Vernunft (4: 421) ableiten lassen. Während der Kategorische Imperativ ein rein formales Prinzip präsentiert, verfügt ein kategorischer Imperativ über einen konkreten Zweck, der dem jeweiligen kategorischen Imperativ entspricht. Kant sagt, ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft ist

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»ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet. Es muß nun einen solchen Zweck und einen ihm correspon­ direnden kategorischen Imperativ geben« (6: 385). Die Zwecke von dieser Art, die mit kategorischen Imperativen sowie mit dem Pflichtbegriff verbunden werden können, lassen sich »höhere Zwecke« (5: 61 f.) bzw. »wesentliche Zwecke« (KrV A 840 = B 868) nennen – im Vergleich zu jenen Zwecken, die mit hypotheti­ schen Imperativen zusammenhängen. Sie sind »subalterne Zwecke«, die zu dem einzigen höchsten Zweck, d. h. dem Endzweck, »als Mittel nothwendig gehören« (ibid.). Bisher wurden der Pflichtbegriff sowie der Begriff der höhe­ ren Zwecke betrachtet, die Kant beide auf den ästhetischen SollensAnspruch bezog. Von einer Pflicht kann bei Kant z. B. für einen Zustimmungsanspruch keine Rede sein, der auf erkenntnistheoreti­ scher Ebene erklärt wird, wie in der Deduktion des Geschmacksurteils. Denn bei einem solchen Anspruch geht es nicht um unbedingte Zwe­ cke, die nur beim homo noumenon vorstellbar sind. Eine Pflicht impli­ ziert nicht irgendeine Notwendigkeit, sondern sie bezieht sich auf eine unbedingte Notwendigkeit, die auf noumenaler Ebene besteht. In dieser Hinsicht lässt sich klar sagen, dass es in dieser Passage um den ästhetischen Sollens-Anspruch, nicht um einen anderen Anspruch geht, der in der Deduktion thematisiert wird. In der zitierten Passage aus § 59 führt Kant einen neuen Begriff ein und verknüpft ihn mit dem Sollens-Anspruch. Der Begriff heißt »Wert«. Dieser Begriff verdeutlicht die Abweichungsmöglichkeit von dem, was durch den Anspruch gesollt wird, und zugleich betont er dessen praktische Notwendigkeit a priori, indem er der Erfüllung des­ selben eine apriorisch positive Schätzung zuschreibt. Es wurde bereits festgestellt, dass der Gemeinsinn als das dem Sollens-Anspruch zugrunde liegende Vermögen ein kultiviertes Vermögen ist. Wenn dieses Vermögen bzw. der Sollens-Anspruch mit der praktischen Not­ wendigkeit verbunden ist, muss man sich bemühen, um die entspre­ chende Kultiviertheit zu erreichen und damit dieses Vermögen zu erwerben. Indem Kant die Erhebung des Sollens-Anspruchs in aprio­ rischer Hinsicht als wertvoll einschätzt, lässt sich der Gemeinsinn im zweiten Sinne als Vermögen betrachten, das nicht jeder natürlich besitzt, jedoch erwerben soll. »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es

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mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheils­ kraft schätzt« (5: 353; Hervorhebung der Verf.).

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass in der Klammer der oben zitierten Passage zwei gegensätzlich scheinende Begriffe auftau­ chen: »natürlich« und »Pflicht«. Sie scheinen sich zu widersprechen: (1) weil die Pflicht auf der noumenalen Ebene besteht und die Natur im allgemeinen Sinne nicht dazu gehört; (2) weil die symbolische »Beziehung«, auf die sich die zwei Begriffe beziehen, genauso wie jene exemplarische Beziehung ein spekulativer Gebrauch der Erkenntniskräfte zu sein scheint, der sich dem für jeden verfügbaren natürlichen Gebrauch entgegensetzt. Des­ wegen entsteht die Frage, warum Kant sie als »jedermann natürlich« bezeichnet. In der Tat hat eine symbolische Beziehung nach Kants Erläuterungen in § 59 eine komplexe Struktur, in der »die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwen­ den« (5: 352).

Diese scheinbare Diskrepanz muss man so verstehen, dass die der Pflicht der Einsicht in jene symbolische Beziehung zugrunde liegende Idee in der natürlichen Anlage von jedem liegt. Diese Idee ist nichts anderes als die Idee des Endzwecks der menschlichen Vernunft, die Idee des höchsten Guts, zu dessen Förderung sich der Mensch verpflichtet. Dass die Empfänglichkeit für diese Idee jeder menschli­ chen Vernunft angeboren ist, bedeutet nicht, bezüglich dieser Idee einen spekulativen (künstlichen) Gebrauch vom Erkenntnisvermögen zu machen. Im vergangenen Abschnitt wurde gesehen, dass das Urteil über das Erhabene ein hohes Maß der Kultiviertheit braucht. Auch in die­ sem Fall muss die natürlich angeborene Anlage zur Empfänglichkeit für die Idee der übersinnlichen Bestimmung des Menschen hinein­ spielen: »Darum aber, weil das Urtheil über das Erhabene der Natur Cultur bedarf […], ist es doch dadurch nicht eben von der Cultur zuerst erzeugt und etwa bloß conventionsmäßig in der Gesellschaft einge­

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führt; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur […], nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen.« (5: 265).

Die praktisch notwendigen Ideen in unserer Vernunft sowie die Anlage zum Gefühl für sie liegen bei jedem vor. Nur der Gebrauch der Erkenntniskräfte, der von der »abschreckend[en]« »rauhen Größe der Natur« hin zu Gedanken der Überlegenheit unserer übersinnlichen Bestimmung über die Natur springt, lässt sich nicht bei jedem erwar­ ten (5: 292). In Kapitel III soll behauptet werden, dass die Idee, die der Erwei­ terung des Geschmacksurteils bzw. der Tätigkeit des Gemeinsinns im zweiten Sinne zugrunde liegt, letztlich die Idee des höchsten Guts als des Endzwecks der Vernunft ist. Es wird die Ansicht vertreten, dass der große Sprung von einem Geschmacksurteil hin zur Vernunftidee berechtigt sowie erforderlich ist, und zwar durch das Konzept der Philosophie nach dem Weltbegriff und dessen Verallgemeinerbarkeit als idealische Norm. Darauf wird in Kapitel IV zurückgekommen.

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5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts

5.1. Zwei Begriffe des Werts Zunächst sei auf Kants zweifache Anwendung von »Wert« hingewie­ sen, woraufhin eine der beiden Anwendungen aus der Diskussion ausgeschlossen werden soll, da jene nichts mit der Abweichungsmög­ lichkeit des Gesollten zu tun hat. Diese Anwendung steht im Zentrum der Moralphilosophie Kants: Die Anwendung des Begriffs »Wert« im Sinne der Menschenwürde: »Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subject einer mora­ lisch=praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht blos als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.« (6: 434 f.; Hervorhebung der Verf.)39.

Ein Mensch, der über die moralisch-praktische Vernunft verfügt, darf niemals als Mittel zu einem anderen Zweck behandelt werden, da er einen »absoluten innern Werth« besitzt: Er ist der Zweck an sich selbst. Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass dieser absolute Wert 39 In der sogenannten Selbstzweckformel (oder Zweck-an-sich-Formel) des Kate­ gorischen Imperativs in Grundlegung der Metaphysik der Sitten gibt Kant zwar denselben Inhalt dieser Passage aus der Metaphysik der Sitten wieder, aber in einer problematischen Form: Was hier Zwecke an sich sind, sind dort bloß »vernünftige« Wesen (4: 428). Hier scheint nur ein über Denkvermögen verfügendes Wesen, d. h. auch ein homo phaenomenon, als Zweck an sich betrachtet zu werden. Dass dieses aber nicht der Fall ist, d. h., dass Kant mit vernünftigen Wesen nur jene der Kategorie homo noumenon meint, zeigen Dieter Schönecker und Allen W. Wood im Gesamtzusammenhang der Grundlegung der Metaphysik der Sitten und unter Berücksichtigung anderer Texte Kants wie seiner Vorlesungsnachschrift aus dem Jahr 1784 (Schönecker und Wood 2007, 142‒149).

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5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts

bei Kant jedem moralfähigen Menschen zugeteilt wird. Mit anderen Worten besitzen auch die schlechtesten Menschen wie Adolf Hitler die gleiche Würde (Schönecker und Wood 2007, 149). Dieser absolute Wert bleibt »von ihrem tatsächlichen Fehlverhalten unberührt« und kann »weder verdient werden noch verloren gehen« (Schönecker und Wood 2007, 149). Die moralischen Potenzialitäten aller Personen sind gleichwürdig, wie am Ende der zitierten Passage zu lesen ist. Weil jeder Person ihre Handlungen zugerechnet werden müs­ sen, lässt diese sich in evaluativer Hinsicht je nach ihrer einzelnen Handlung unterschiedlich beurteilen, auch wenn sie immer die glei­ che Menschenwürde wie andere Personen besitzt. Deshalb spricht Kant vom moralischen Wert einer Handlung: »[E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth […] in der Maxime, nach der sie beschlossen wird« (4: 399). Es ist gerade diese Art von Wert, die uns interessiert in Bezug auf die Zurechnung bzw. Abweichungs­ möglichkeit des Menschen hinsichtlich seiner einzelnen Handlung. Dass der moralische Wert einer Handlung also in der Maxime liegt, für die sich ein Mensch frei entscheidet, d. h. er zurechnungsfähig ist, bedeutet, – aber immer mit der Abweichungsmöglichkeit vom Gesetz – dass ebenso eine moralisch verwerfliche Handlung von einer Person mit moralischer Potenzialität herrühren kann. Der moralische Wert wird ausschließlich den Handlungen zugeteilt, deren Maximen sich »unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens« lediglich das Gesetz berufen, und andere Handlungen verdienen keinen moralischen Wert (4: 400). Bemerkenswert scheint, dass Kant dergleichen Wert einer Handlung auch deren Urheber zuschreibt. Dies wird in der Tat insofern verständlich, als der Urheber als zurech­ nungsfähig betrachtet wird. Kant erklärt, man solle sich »eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt« (ibid.). In der vorliegenden Diskussion über den moralischen Wert, der den Handlungen aus Pflicht sowie deren Urhebern zugeteilt wird, soll der Begriff Abweichungsmöglichkeit des praktischen Subjekts in die Mitte rücken. Dass dieser Wert nicht für alle Handlungen sowie Akteure gilt, liegt an ihrer Abweichungsmöglichkeit vom Gesetz. Ohne jene gälte er a priori für jede Handlung sowie jede Person, wie beim rein intellektuellen Wesen. Gerade die Abweichungsmög­ lichkeit ermöglicht die Unterscheidung der als moralisch beurteilten Handlungen und deren Urheber von anderen Fällen. Sie gilt sozu­ sagen als moralischer Wert, der mit Seltenheitswert versehen ist,

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5.1. Zwei Begriffe des Werts

während der Wert des moralfähigen Wesens für jede Person verfügbar ist und folglich nichts mit Seltenheit zu tun hat. Nachfolgend wird auf diesen moralischen Wert im neu eingeführten Sinne eingegangen, da dies dabei helfen wird, das Sollen sowie das ästhetische Sollen zu erschließen. Der infrage stehende Wert bezieht sich aber keinesfalls auf einen angeborenen privilegierten Status, sondern auf den Status, der sich nur durch gewisse Bemühungen erreichen lässt und den alle auf diese Weise erreichen sollen. Akteure, denen dieser Wert zukommt, werden von Kant hochgeschätzt, da sie durch eigene Maximensetzungen sowie Anstrengungen die moralische Handlung zustande bringen, obwohl sie durchaus anders handeln könnten. Es scheint hier sinnvoll, auf Kants Betonung des mühevollen Strebens als notwendiges Ele­ ment einer moralischen Handlung hinzuweisen. Die wahren morali­ schen Handlungen geschehen immer aus Pflicht, d. h. aus Achtung vor dem moralischen Gesetz. Beim Gefühl der Achtung begegnet man notwendigerweise der eigenen Beschränkung als sinnliches Wesen und unterwirft sich aus Demütigung dem Gesetz. Die »Demütigung auf der sinnlichen Seite« (5: 79) bildet eine wichtige Station bei der moralischen Maximensetzung der Menschen. Eine Passage aus der zweiten Kritik zeigt dies: »Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und theilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu thun, oder aus Liebe zur Ordnung gerecht zu sein, aber das ist noch nicht die ächte moralische Maxime unsers Verhaltens, die unserm Standpunkte unter vernünftigen Wesen als Menschen angemessen ist, wenn wir uns anmaßen, gleichsam als Volontäre uns mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen und, als vom Gebote unabhängig, blos aus eigener Lust das thun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nöthig wäre.« (5: 82).

Diese Passage besagt schließlich, dass die wahre Moralität des Men­ schen nicht das Objekt vom reinen Wollen, sondern nur vom Sollen ist. Weil sie kein Wollen sein kann, muss sich das menschliche Subjekt »Zwange« (5: 80) antun und »Demütigung« erleben. Für es bedeu­ tet all dies ein mühevolles Streben.40 Da moralische Handlungen dergleichen Bemühungen bedürfen, kommen auch oft Handlungen 40 Auch außerhalb der Theorie der Achtung vor dem Gesetz betrachtet Kant als Bedingung des moralischen Werts, dass man durch den »Streit[], den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat«, »empor arbeiten« muss (5: 147).

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5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts

vor, die vom Gesetz abweichen. Vorhin wurde bei der Diskussion zur Zurechnungsfähigkeit von Tadel gesprochen. Dahingegen verdient der Urheber einer moralischen Handlung Lob, weil er sich für das mühevolle Streben41 entscheidet und es auf sich nimmt, obwohl er anders handeln könnte. Während der fundamentale Wert des Menschen von jedem variablen Faktor unabhängig und damit absolut ist, bleibt der moralische Wert einer menschlichen Handlung relativ. Dieser hat insofern verhältnismäßige Bedeutung, als der Mensch als Zwei-Welten-Wesen immer die Abweichungsmöglichkeit vom Gesetz hat. Der Begriff des relativen Werts einer Handlung ist bei Kant auch sehr wichtig. Denn er berührt den Kern seiner Moralphilo­ sophie als Theorie der Achtung sowie des Status des Menschen als Zwei-Welten-Wesen, dem die Moralität immer als Sollen geboten ist. Der absolute Wert des Menschen, der jedem eignet, basiert auf der Potenzialität jedes Menschen als homo noumenon (6: 434 f.). Der andere Wert, der einer moralischen Handlung sowie deren Urheber zukommt, wird bei seiner Zumessung nur auf die Fälle beschränkt, in denen jene Potenzialität verwirklicht wird. Die Verwirklichung kommt nur durch das Setzen dafür geeigneter Maximen zustande. Der moralische Wert einer Handlung ist bei Kant nichts anderes als mora­ lischer Wert ihrer Maxime.

5.2. Von Maximen abhängiger Wert des Subjekts eines Geschmacksurteils Die oben bereits zitierte Passage aus § 59 der dritten Kritik gibt zu erkennen, dass ein solches Verhältnis zwischen dem Wert und einer Maxime auch in Hinsicht auf den ästhetischen Sollens-Anspruch besteht. Hier haben wir noch einmal die Passage vor Augen: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist 41 Dieses Streben kann auch schmerzhaft sein, weil es eigener »Selbstliebe Abbruch tut« (4: 401).

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5.2. Von Maximen abhängiger Wert des Subjekts eines Geschmacksurteils

und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft schätzt« (5:353; Hervorhebung der Verf.).

Hier wird vom Wert anderer gesprochen, deren Maxime zu vermuten ist. Obzwar Kant hier nicht vom dem Sollens-Anspruch-Erheber eige­ nen Wert spricht, deutet die Passage an, dass sich der Anspruch-Erhe­ ber auch des eigenen Werts bewusst wird. Eine wichtige Beobachtung scheint zu sein, dass diese Sollens-Anspruchserhebung durch das Bewusstsein des eigenen Gemütszustands, d. h. die »Veredlung und Erhebung« der eigenen Seele, begleitet wird. Kants Wortwahl hier erinnert an die bereits zitierte Passage aus seiner Moralphilosophie, die besagt, dass wir »eine gewisse Erhabenheit und Würde an derje­ nigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt« (4:440). Der Satz besagt, dass die Erhabenheit der Seele in Kants Moralphilosophie mit Wert zusammenhängt. Wenn Kant vom Bewusstsein der Erhe­ bung oder Erhabenheit der Seele spricht (5: 78, 5: 87, 5: 88), meint er damit schließlich das Bewusstsein des persönlichen Werts des ein­ schlägigen Subjekts (5: 86, 5: 87, 4: 449 f.). Dies gilt insofern auch für diese Passage aus § 59, als er anschließend den Wert thematisiert. Es ist zwar direkt vom Wert anderer die Rede, aber wie lässt sich aus der Formulierung »nach einer ähnlichen Maxime« entnehmen, dass das Subjekt des Sollens-Anspruchs sich der eigenen Maxime in evaluati­ ver Hinsicht bewusst ist und die zu vermutende Maxime anderer mit der eigenen Maxime vergleicht. Die Anerkennung sowie Wertschät­ zung anderer bedeutet schließlich auch eigene Wertschätzung. Der Begriff »Maxime« aus der zitierten Passage verdient Auf­ merksamkeit, da durch ihn ersichtlich wird, dass die Zuschreibung dieses Wertes von Maximen abhängt und dieser Wert damit ein Ergebnis der Evaluation der einschlägigen Maxime ist. In dieser Hinsicht ist dieser Wert sehr ähnlich zu jenem Wert, der je nach Handlungsmaxime deren Subjekt zukommt. Bei einem Wert muss es im evaluativen Sinne ein Kriterium geben, das den Wert für eine Maxime des infrage stehenden Subjekts bestimmt. Beim Handeln war dies eine Maxime, die sich völlig aus Pflicht und aus Achtung vor dem Moralgesetz aufstellt. Welchen Inhalt hat dann die Maxime, die im Falle eines ästhetischen Subjekts wertvoll erscheint? Auf diese Frage soll nun eingegangen werden. Eine Maxime heißt bei Kant normalerweise das subjektive Prin­ zip der praktischen Vernunft bzw. des Handelns. Dass diese Definition nicht ganz auf die Begriffsverwendung in § 59 der Kritik der Urteils­ kraft zutrifft, ist aber offensichtlich, denn beim Geschmacksurteil geht

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5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts

es nicht um das Handeln. Auch in der ersten Kritik wird von Maximen gesprochen, die »subjektive Grundsätze [sind], die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft, in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts, hergenommen sind« (KrV A 666 = B 694). Sie nennt Kant »Maximen der spekulativen Vernunft«. Ein Geschmacksurteil zielt aber nicht auf vollkommene Erkenntnis des Objekts ab, folglich ist diese Definition der Maxime wieder nicht direkt anwendbar. Wie die Urteilskraft das Mittelglied zwischen der spekulativen und praktischen Vernunft ist, so liegt auch die einschlägige Maxime der Urteilskraft zwischen der Maxime der spekulativen und derjeni­ gen der praktischen Vernunft: Einerseits ist sie in Hinsicht auf das Verhältnis zum Objekt mit der Maxime der spekulativen Vernunft verwandt, indem beide Arten von Maximen keinen direkten Einfluss auf das Objekt bzw. die Welt einüben können – Maximen der prak­ tischen Vernunft können dahingegen durch ihre Kausalität die Welt verändern. Die ersten beiden Arten sind bloß regulativ gegenüber den Denkungsarten des Subjekts (vgl. KrV A 666 = B 694). Andererseits ist die in § 59 thematisierte Maxime in Hinsicht auf das Verhältnis zum Wert des Subjekts mit der Maxime der praktischen Vernunft darin zu vergleichen, dass dem einschlägigen Subjekt gemäß dem Ergebnis seiner Evaluation von Maximen persönlicher Wert entsteht. Es betrifft zwar hauptsächlich die Maxime der teleologischen Urteilskraft, wenn Kant außerhalb des § 59 die »Maxime der Urteils­ kraft« thematisiert.42 Die teleologische Urteilskraft und ihre Maximen jedoch richten sich auf die Erweiterung der Erkenntnis von Objekten, wie die spekulative Vernunft, und sie gehört »zum theoretischen Teile der Philosophie« (5: 194). Sie besagt folglich nichts über den persön­ lichen Wert des Subjekts. Da der textliche Sachverhalt sich so gestal­ tet, müssen wir den Inhalt der in § 59 erwähnten Maxime der Urteils­ kraft, aufgrund derer dem Subjekt der persönliche Wert zukommen kann, selbst herausfinden. Es könnte prima facie vermutet werden, dass die infrage kommende Maxime nichts anderes als das Prinzip des freien Spiels der Erkenntniskräfte sei, da dieses das bekannteste Prin­ zip zur Beurteilung des Schönen ist. Anhand eines Gegenstandes eine ästhetische Einstellung zu beziehen ist sicherlich als ein Fall der Maxi­

Siehe dazu besonders die Dialektik der telelogischen Urteilskraft, die zweite Abtei­ lung der Kritik der teleologischen Urteilskraft.

42

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5.2. Von Maximen abhängiger Wert des Subjekts eines Geschmacksurteils

mensetzung zu betrachten, da dies eine Entscheidung des Subjekts ist, wie es mit seinen Erkenntniskräften verfährt. Hinsichtlich dieses Prinzips lässt sich aber nicht klären, inwie­ fern die subjektive Entscheidung zur ästhetischen Einstellung per­ sönlichen Wert verleiht. Was den persönlichen Wert des Subjekts anbelangt, zeigt die ästhetische Einstellung anhand eines Gegenstan­ des keinen Vorzug gegenüber z. B. einer theoretischen Einstellung anhand desselben Gegenstandes. Beide Einstellungen, beide Maxi­ men haben an sich nichts mit persönlichem Wert zu tun. Das Prinzip, das die ästhetische Einstellung ausmacht, wird auch als Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit hinsichtlich der »Belebung der Erkennt­ niskräfte« oder hinsichtlich von »Erkenntnis überhaupt« bezeichnet (5: 222). Auch mit diesen Varianten lässt sich aber kein Bezug auf persönlichen Wert herstellen. Sie scheinen nicht auf den homo noumenon-Status des Subjekts zu verweisen, bei dem erst sich vom persönlichen Wert sprechen lässt.43 Aufgrund bisheriger Überlegungen stellt sich heraus, dass eine andere Maxime des Geschmacks gefunden werden muss als diejenige, die im Bereich des homo phaenomenon verbleibt, um in die Lage zu kommen, die »Maxime« des § 59 und ferner das ästhetische Sollen zu verstehen. Es steht inzwischen fest, dass die Maxime vom Gemeinsinn im zweiten Sinne entworfen ist, der das Schöne auf höhere Zwecke bezieht. Näheres dazu kann erst eine Auseinandersetzung mit der Kantischen Theorie des Vernunftinteresses und des höchsten Guts ergeben, die in der vorliegenden Untersuchung daher noch erfolgen soll. Kants Erwähnung des von Maximen abhängigen Werts in § 59 lässt auf der Basis bisheriger Erkenntnisse jedoch bereits das Folgende erkennen: Auch der ästhetische Zustimmungsanspruch verfügt über die Charakteristik des moralischen Sollens, d. h. die der Möglichkeit der Wertverleihung gegenüber der Maxime. Hierdurch scheint ein guter Grund gefunden, das ästhetische Sollen mit moralischem Sollen

43 Höffe weist darauf hin, dass der kategorische Imperativ, der gern mit dem Prin­ zip der Verallgemeinerung gleichgesetzt wird, »aus zwei weiteren Elementen, dem Gegenstand der Verallgemeinerung, den Maximen, und dem Gebot, lediglich nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln«, besteht (Höffe 2012, 121). Sofern sich keine Notwendigkeit für eine verallgemeinerbare Maxime behaupten lässt, entfällt mit der Moralität dieser Maxime auch ihr moralischer Wert. Auf phänomenaler Ebene aber lässt sich solch eine praktische Notwendigkeit, sich für die rein ästhetische Einstellung zu entscheiden, nicht behaupten.

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5. Von Maximen abhängiger Wert des praktischen sowie des ästhetischen Subjekts

zusammen zu betrachten und von anderen Arten der Notwendigkeit wie dem Werden bzw. Müssen abzugrenzen. Es wurden verschiedene Aspekte der Werdens-Notwendigkeit sowie der Sollens-Notwendigkeit anhand der ebenfalls verschiedenen Arten von Subjekten wie transzendentalem, praktischem, ästheti­ schem Subjekt gründlich besprochen. Nun besteht die Möglichkeit, aus den bisherigen Diskussionen die allgemeinen Charakteristiken beider Notwendigkeiten herauszuziehen.

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6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten?

6.1. Werden als unausweichliche Funktionsweise eines an eine einzige Welt gebundenen Subjekts Durch die bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Werden anhand des menschlichen transzendentalen Subjekts und des nicht-menschli­ chen rein intellektuellen Wesens wurde festgestellt, dass das Werden eine apriorische Erkennbarkeit bzw. Vorhersagbarkeit impliziert, wel­ che auf der Unmöglichkeit einer Abweichung vom Gesetz basiert bzw. auf der notwendigen Übereinstimmung mit dem Gesetz: Das durch das Wollen ersetzbare Werden beim rein intelligiblen Wesen drückt die Vorhersagbarkeit aus, dass es immer gesetzmäßig handeln wird, weil es für ein solches Wesen unmöglich ist, anders zu han­ deln. Auch das Werden beim transzendentalen Subjekt bedeutet eine auf dem menschlichen Erkenntnisprinzip a priori gründende Vorher­ sagbarkeit, d. h., dass jeder einem theoretischen objektiven Urteil beistimmen wird, weil es für »jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist« (5: 219), unmöglich ist, in anderer Weise in erfahrungshaften Kontakt zu dem Objekt zu treten. Diese Gemeinsamkeit zwischen unterschiedlichen Wesen lässt sich folgendermaßen interpretieren: Sie liegt darin, dass beide jeweils einer einzigen Ebene angehören – das rein intellektuelle Wesen der übersinnlichen Ebene und das transzendentale Subjekt der sinnlichen Ebene.44 Die Werdens-Notwendigkeit ist in beiden Fällen auf die Einschränkung angewiesen, dass das einschlägige Subjekt die Ebene, auf der es sich befindet, nicht verlassen kann. Es ist notwendigerweise 44 Damit wird nicht die Tatsache geleugnet, dass sich die Spontaneität eines Subjekts von dessen Empfänglichkeit für Sinnesdaten unterscheidet, sondern lediglich betont, dass das erkennende transzendentale Subjekt bei seiner Tätigkeit immer an die Sinnlichkeit gebunden ist.

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6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten?

an seine Ebene gebunden, muss folglich die auf dieser Ebene gültigen Gesetze befolgen. Anders kann es nicht handeln und nichts erkennen. In Hinsicht auf die Moralität einer Handlung allein könnte die Beschränkung des rein intellektuellen Wesens auf die übersinnliche Ebene einerseits vorteilhaft sein, indem all seine Handlungen not­ wendigerweise dem Gesetz entsprechen werden. Wegen dieser Cha­ rakteristik lässt sich jedoch andererseits der Begriff des moralischen Werts von menschlichen Handlungen nicht auf ein rein intellektuelles Wesen anwenden. Wie vorhin gesehen wurde, besteht der moralische Wert menschlicher Handlungen in seinen Maximen. Aber beim rein intellektuellen Wesen wird die Unterscheidung zwischen Gesetzen als objektiven und Maximen als subjektiven Grundsätzen der Hand­ lung (5:19) belanglos, da seine subjektiven Handlungsgrundsätze unausweichlich mit den objektiven konform sein werden. Seine »Natur« als rein intellektuelles Wesen ist ursprünglich dem Gesetz angemessen, sodass es sich keine Mühe geben muss, um moralisch zu handeln, während der moralische Wert menschlicher Handlungen beim Zwei-Welten-Wesen Bemühungen verlangt, die phänomenale Ebene, auf der es sich bereits befindet, zu verlassen und in die höhere Ebene hinaufzusteigen. Anders betrachtet bedeutet die Natur des rein intellektuellen Wesens als Eine-Welt-Wesen insofern eine Beschränkung in der Frei­ heit, als es von der Möglichkeit, auch anders zu handeln, grundsätzlich ausgeschlossen ist. Im nächsten Abschnitt wird darauf hingewiesen, dass der Freiheitsbegriff bei einer Begriffsverwendung Kants nicht dem rein intellektuellen Wesen zugeschrieben wird. Wenn Kant, wie bereits gesehen, in der mühsamen und frei ent­ schiedenen Transzendierung eigener Natur den Kern des moralischen Werts menschlicher Handlungen findet, kommt einem rein intellek­ tuellen Wesen kein solcher Wert zu.45 Zugleich kann bei Handlungen eines solchen Wesens nicht von einer Persönlichkeit des Urhebers als 45 Einem rein intellektuellen Wesen fehlt das Moment der Selbstentschiedenheit, mit der sich ein moralischer Mensch trotz der Freiheit der Abweichungsmöglichkeit fürs Gesetz entscheidet. Kant unternimmt in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft ein Gedankenexperiment, wonach Menschen über schrankenloses Erkennt­ nisvermögen verfügen, was sie dazu zwingt, stets moralisch zu handeln (5: 147). Kant betont dabei, dass der moralische Wert des Menschen tatsächlich in seiner selbstentschiedenen moralischen Handlung liegt. Der gezwungenen Moralität fehlt es, so Kant, am »Leben« der wahren menschlichen Moralität, das darin besteht, »empor [zu] arbeiten […], um Kraft zum Widerstande gegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der Würde des Gesetzes zu sammeln« (ibid.).

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6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis und das ästhetische Sollen

eines Individuums bzw. zurechenbaren Handlungen die Rede sein. Das rein intellektuelle Wesen bleibt anonym, es unterscheidet sich nicht, weil all die ihm Gleichen ausnahmslos moralisch handeln. Es wäre also unangebracht, solch einem Wesen seine Handlungen zuzurechnen, gerade weil es nicht anders handeln kann. Jetzt soll überlegt werden, ob sich die Werdens-Notwendigkeit auf ein Geschmacksurteil anwenden lässt. Wie bereits besprochen wurde, ist Kants Rechtfertigungsversuch des reinen Geschmacksur­ teils in der Analytik und Deduktion auf diese Werdens-Notwendigkeit angewiesen. Der Anspruch des reinen Geschmacksurteils auf die allgemeine Zustimmung wurde damit begründet, dass das fundamen­ tale Erkenntnisprinzip des transzendentalen Subjekts auch hier funk­ tioniere. Sofern das der Erkenntnis eines sinnlichen Gegenstandes zugrunde liegende Prinzip als Prinzip des reinen Geschmacksurteils wirkt, scheint das Subjekt des reinen Geschmacksurteils die Grenze zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt nicht zu über­ schreiten, sondern in der ersten Welt zu verbleiben, genauso wie das transzendentale Subjekt. Doch muss darauf beachtet werden, dass Kant sich in Hinsicht auf seine Strategie in der Deduktion zwar auf die Werdens-Notwen­ digkeit verlässt, sich das notwendige Ergebnis dieser Notwendigkeit beim reinen Geschmacksurteil aber nicht garantieren lässt. Denn ein reines Geschmacksurteil ist, wie im vorigen Kapitel besprochen wurde, nicht an die Notwendigkeit des Verstandesgesetzes gebunden, sodass es keine Möglichkeit gibt, die Richtigkeit der Subsumtion bei ihm sicherzustellen. Man kann folglich nicht davon ausgehen, dass sich die Werdens-Notwendigkeit unproblematisch auf ein reines Geschmacksurteil anwenden lässt.

6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis durch Transzendierung der eigenen Natur des Subjekts und das ästhetische Sollen Das Werden kann allgemein als unausweichliche Funktionsweise eines an eine einzige – sinnliche oder übersinnliche – Welt gebun­ denen Subjekts charakterisiert werden. Dementsprechend wird nun eine allgemeine Charakterisierung des Sollens angestrebt. Aufgrund der bisherigen Überlegungen ließe sich bereits annehmen, dass die wesentliche Charakteristik des moralischen Sollens, durch die sich das

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6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten?

menschliche praktische Subjekt von den an die Werdens-Notwendig­ keit gebundenen Subjekten absetzt, auch auf das ästhetische Sollen zutrifft. Denn anhand einer Passage aus § 59 der Kritik der Urteils­ kraft wurde festgestellt, dass auch einem ästhetischen Subjekt der von Maximen abhängige Wert zugesprochen werden kann. Dieser Wert ist ebenso von evaluativer Bedeutung wie der Wert des Urhebers einer moralischen Handlung und er weist darauf hin, dass die Abwei­ chungsmöglichkeit von den wertbegründenden gewünschten Maxi­ men besteht. Im bereits besprochenen Bewusstsein des persönlichen Werts anderer Urteilender ist vorausgesetzt worden, dass ihnen die einschlägigen Maximen zugerechnet sind. Zur Bestätigung unserer Annahme wollen wir zuerst eine allge­ meine Charakteristik des Sollens anhand des moralischen Sollens auf­ stellen, die sich unserer allgemeinen Charakterisierung des Werdens entgegenstellen lässt, und danach überprüfen, ob die Charakterisie­ rung auch auf das ästhetische Sollen anwendbar ist. Wie besprochen, lässt sich die im Werden implizierte Unaus­ weichlichkeit vom Status des an eine einzige Welt gebundenen Sub­ jekts her erklären. Der moralische Sollens-Anspruch bezieht sich dahingegen ausschließlich auf ein Zwei-Welten-Wesen, welches bei seiner Maximensetzung vom Gesetz, d. h. von der Gesetzgebung des übersinnlichen Ichs, abweichen und sich den Trieben des sinnlichen Ichs unterwerfen kann. Wegen dieses Status des menschlichen prak­ tischen Subjekts sind menschliche Handlungen dahin gehend immer unberechenbar, ob sie dem Sollens-Anspruch gerecht werden. Diese Unberechenbarkeit könnte einerseits als Defizit menschlicher Hand­ lungen betrachtet werden, andererseits zeigt sie aber die Eigentüm­ lichkeit menschlicher Freiheit, wie in einer Reflexion zu erfahren ist: »Die Freiheit ist bei uns bloß ein Vermögen, keine nach beständigen Gesetzen wirkende Kraft. Daher ist auf die Maximen unserer Freiheit nicht sicher zu rechnen. Das Vermögen zum Gegenteil ist immer da« (Ref. 7178 10: 265).

Dieser Freiheitsbegriff trifft nicht auf ein rein intelligibles Wesen zu, da es ausnahmslos nach Moralgesetzen handeln wird. Ihm fehlt die Möglichkeit, anders zu handeln. Dergleichen Trennung des Frei­ heitsbegriffs vom rein intelligiblen Wesen liest sich auch in einer Anmerkung in Prolegomena: »Die Idee der Freiheit findet lediglich in dem Verhältnisse des intellek­ tuellen als Ursache zur Erscheinung als Wirkung statt. Daher können

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6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis und das ästhetische Sollen

wir der Materie in Ansehung ihrer unaufhörlichen Handlung, dadurch sie ihren Raum erfüllt, nicht Freiheit beilegen, obschon diese Hand­ lung, aus innerem Prinzip geschieht. Eben so wenig können wir für reine Verstandeswesen, z. B. Gott, so fern seine Handlung immanent ist, keinen Begriff von Freiheit angemessen finden. Denn seine Handlung, obzwar unabhängig von äußeren bestimmenden Ursachen, ist dennoch in seiner ewigen Vernunft, mithin der göttlichen Natur bestimmt« (4: 344 Anm.; Hervorhebung der Verf.).

Diese Passage zieht Aufmerksamkeit auf sich, indem sie göttliche Handlungen für mit naturmechanischen Handlungen vergleichbar hält. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass alles, was da geschieht, »aus innerem Prinzip« erfolgt, d. h. aus dem der jeweiligen eigenen »Natur« »immanenten« Prinzip. Was in dieser Passage nicht direkt gesagt wird und sich trotzdem daraus leicht schließen lässt, ist dies: Die freien Handlungen des Menschen geschehen dahingegen aus dem Prinzip, das gegenüber menschlicher (sinnlicher) Natur transzendent ist. Dieses Prinzip fordert also von Menschen, ihre eigene Natur zu transzendieren. Es wäre sinnvoll, an dieser Stelle auf den Begriff »menschliche Natur« einzugehen. Sofern ein Mensch ein Zwei-Welten angehöriges Wesen ist, verfügt er nicht nur über die Natur der einen Welt, sondern auch über die der anderen Welt.46 Die obige Passage – da sie in der Tat nur den Menschen die Freiheit zuschreibt – impliziert die Ansicht Kants, dass die menschliche Natur sich eher auf die Sinneswelt als auf die übersinnliche Welt richtet. Diese Ansicht ist in der Tat damit konform, was hinsichtlich der wahren Moralität des Menschen gesehen wurde: Ohne Achtung vor dem Gesetz und die begleitende Demütigung auf der sinnlichen Seite besteht keine wahre Moralität der Menschen. Dergleichen Ansicht Kants über menschliche Natur hinsichtlich seines Wollens zeigt sich auch in einer Passage der Kritik der Urteilskraft: »[…] weil die menschliche Natur nicht so von selbst, sondern nur durch Gewalt, welche die Vernunft der Sinnlichkeit anthut, zu jenem Guten zusammenstimmt« (5: 271). Dass »die menschliche Natur nicht so von selbst« moralisch ist gibt den Grund an, warum die Moralität gegenüber dem Menschen nicht das Wollen, sondern nur das Sollen sein kann. Wenn Kant also die menschliche Natur als sinnlich betrachtet, muss der Mensch

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Kant spricht z. B. von der »vernünftigen Natur« des Menschen (4: 437).

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6. Welt-Status des Subjekts: Eine Welt oder zwei Welten?

zunächst diese Natur überwinden und transzendieren, um moralisch zu sein. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass bei Kant die in den Passagen aus der Reflexion und Prolegomena erfahrene Trennung des Freiheitsbegriffs vom rein intellektuellen Wesen nicht immer gilt. Es gibt auch einen anderen Freiheitsbegriff, der nicht die Eigentüm­ lichkeit menschlicher Natur fokussiert und einem rein intelligiblen Wesen näher als einem Menschen liegt. Im Kontext der letzteren Begriffsanwendung wird die Freiheit »als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht« (5: 97), weshalb kein anderes Wesen für diesen Begriff besser geeignet ist als ein rein intelligibles. Dieser Freiheitsbegriff wird vor allem zu Beginn des dritten Abschnitts der Grundlegung der Metaphysik der Sitten dargestellt, wo es heißt: »Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs« (4: 447).

Dieser Satz lässt sich sinngemäß so umformulieren, dass die Sitt­ lichkeit in einem freien Willen analytisch enthalten bzw. aus ihm abgeleitet ist. Ein freier Wille handelt damit stets sittlich. Zu beachten ist, dass dieser »freie« Wille nicht als der Wille eines Zwei-Welten-, sondern eines rein intelligiblen Wesens verstanden werden muss. Denn ein Wesen der ersteren Art handelt, wie der Mensch, nicht immer sittlich. In diesem Sinne wird die Freiheit zunächst dem Willen eines rein intelligiblen Wesens zugeordnet, welcher die Sittlichkeit analytisch in sich trägt. Diesmal hat der Freiheitsbegriff nichts mit der Abweichungsmöglichkeit oder mit dem Sollen zu tun. Die zwei Begriffsverwendungen von Freiheit sind zwar unter­ schiedlich in der Hinsicht auf ihre Zuordnung der Freiheit gegenüber den jeweiligen Wesen, jedoch enthüllen sie einen gleichen Sachver­ halt des Menschen, nämlich die Synthetizität der Sittlichkeit eines sinnlichen Vernunftwesens. Damit ist im Gegensatz zum AnalytischEnthalten-Sein der Sittlichkeit z. B. im göttlichen Willen gemeint, dass eine sittliche Handlung eines Menschen dadurch zustande kommt, dass er zuerst seine sinnliche Natur transzendiert und sein Wollen an etwas in seiner Natur nicht (Analytisch-)Enthaltenes knüpft. Kant nennt deshalb den Kategorischen Imperativ »einen synthetisch-praktischen Satz a priori« (4: 420) und merkt dazu an:

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6.2. Sollen als Forderung nach Synthesis und das ästhetische Sollen

»Ich verknüpfe mit dem Willen ohne vorausgesetzte Bedingung aus irgend einer Neigung die That a priori, mithin nothwendig (obgleich nur objectiv, d. i. unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjective Bewegursachen völlige Gewalt hätte). Dieses ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben keinen so voll­ kommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft.« (4: 420; Anm.).

Das dem Willen Hinzugefügte ist dem menschlichen Wollen nicht immanent. Es ist nichts anderes als das Sittengesetz selbst. Durch die aktive und freiwillige Synthetisierung des eigenen Willens durch ein solches Gesetz wird dieses Gesetz die subjektive Maxime bestimmen. Eine sittliche Maxime lässt sich als Ergebnis der Synthesis des Willens aus dem Gesetz betrachten. Diese Synthetizität der menschlichen Sittlichkeit hängt mit den bereits aufgezeigten Eigentümlichkeiten des Sollens untrennbar zusammen. Der Möglichkeit der Synthesis liegt die Abweichungs­ möglichkeit bezüglich der menschlichen Freiheit zugrunde. Ohne die Abweichungsmöglichkeit wäre die Sittlichkeit der Handlung im menschlichen Willen analytisch enthalten. Wenn jemand trotz der Abweichungsmöglichkeit seiner Maxime vom Sittengesetz dennoch moralisch handelt, heißt dies, dass er das gegenüber seiner Natur transzendente Gesetz einbezogen hat, obwohl für ihn die Möglichkeit besteht, in seiner Natur zu verbleiben. Dies ist die entscheidende Charakteristik der menschlichen Sittlichkeit. Aufgrund der bisherigen Überlegungen lässt sich sagen, dass das moralische Sollen die Synthesis durch Transzendierung der dem Subjekt eigenen Natur beinhaltet. Was die Art der Notwendigkeit angeht, lässt sich dieser Sollens-Anspruch wiederum vom Werdens-Anspruch unterscheiden. Wenn es sich beim letzteren um die Unausweichlich­ keit der Funktionsweise des Subjekts handelt, ist hier von der Forde­ rung einer bestimmten Funktionsweise die Rede, welche nicht immer gestellt wird. Wenn ein Werdens-Anspruch besagt, dass jeder von der einschlägigen Art von Subjekt ausnahmslos etwas tut, so fordert ein Sollens-Anspruch von jedem, etwas zu tun, obwohl ersichtlich ist, dass solches Handeln nicht von jedem, nicht immer ausgeführt wird. Eine Transzendierung seiner eigenen Natur praktiziert entsprechend nicht jeder, sofern er auch in ihr verbleiben kann.

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7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils

Nun soll festgestellt werden, ob diese Charakterisierung des mora­ lischen Sollens auch auf das ästhetische Sollen zutrifft. Wie bereits beobachtet wurde, handelt es sich beim ästhetischen SollensAnspruch um einen von Maximen abhängigen persönlichen Wert, dessen Zusammenhang mit seinem Anspruch sich der AnspruchsUrheber bewusst wird. Dies weist darauf hin, dass der diesen Anspruch Erhebende von der Voraussetzung ausgeht, dass nicht jeder seinen Anspruch befriedigen kann. Mit der Voraussetzung der Abweichungsmöglichkeit gehen auch die sinnvolle Zurechnung sowie die Evaluation von Maximen einher. Muss folglich auch der ästhetische Sollens-Anspruch mit der Transzendierung der eigenen Natur zusammenhängen? Vor einer Antwort darauf muss erneut die »Natur« interpretiert werden, die bei der Synthesis transzendiert werden soll, da sich der ästhetische Sollens-Anspruch nicht unmittelbar auf Kants Hand­ lungstheorie anwenden lässt. Der Passage des § 59 der Kritik der Urteilskraft lässt sich entnehmen, dass auch beim ästhetischen Fall von der Transzendierung gewisser Sinnlichkeit die Rede ist, da Kant dort von »einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke« spricht (5: 353; Hervorhebung der Verf.). Die kursiv markierte Formulierung könnte freilich als Verweis auf den »Sinnengeschmack« (5: 214; 238) gedeutet werden, dessen Gegenteil der »Reflexionsgeschmack« ist, d. h. der Geschmack, der auf dem Prinzip des freien Spiels der Erkenntniskräfte gründet (5: 238) und folglich keine »bloß Privaturteile« ergeben lässt (5: 214). Meint Kant dann mit der »Veredlung und Erhebung« bloß, dass das Subjekt durch ein reines Geschmacksurteil einen nicht mehr privaten, verallgemeinerbaren Gemütszustand erreicht hat? Zwar ist das Subjekt des Reflexionsgeschmacks von jeder Pri­ vatbedingung befreit und fühlt sich deswegen frei (5: 211). Dieser Gemütszustand kann jedoch schwerlich als veredelt oder erhaben gel­ ten, wenn bedacht wird, dass Kant diese Begriffe fast nur hinsichtlich

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7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils

der Angemessenheit der Seele für Vernunftideen des Übersinnlichen verwendet, die z. B. die Idee der Bestimmung des Menschen (7: 329), die Idee der Pflicht (6: 182) und die Idee der Zweckmäßigkeit der Welt (5: 380) explizieren. Mit dem freien Spiel beim Reflexionsgeschmack allein nimmt das ästhetische Subjekt keinen Bezug auf eine Vernunftidee. Mit ihm allein lässt sich auch nicht die Wertschätzung nach Maximen erklären, wie im vorherigen Abschnitt besprochen wurde. Außerdem ist zu beachten, dass die »Veredlung und Erhebung« in Hinsicht auf die These »das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten« erwähnt wird, wobei sich klar erkennen lässt, dass der Gemütszustand bezüglich einer Vernunftidee, d. h. der Idee des Sittlich-Guten, interpretiert worden ist. Dabei lässt sich weiter vermuten, dass im Gedanken des Erhebers des ästhetischen Sollens-Anspruchs, der die Veredlung und Erhebung seines Gemüts erlebt, eine Synthesis des freien Spiels – als des für eine rein ästhetische Erfahrung konstitutiven Gemütszustan­ des – mit einer Vernunftidee des Sittlich-Guten erfolgt. Was genau wird dann transzendiert? Hat es etwas mit unserer »Natur« zu tun? Um die Antwort zu finden, soll nochmals eine bereits zitierte Passage aus dem Vierten Moment herangezogen werden, die aufzeigt, dass das ästhetische Sollen das Moment solcher Synthesis enthält. Bei der Erörterung der Bedingtheit des ästhetischen Sollens sagt Kant: »Das Sollen im ästhetischen Urteil wird also selbst nach allen Datis, die zur Beurteilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgesprochen« (5: 237).

Kant behauptet hier, dass eine bloß ästhetische Beurteilung des Verhältnisses zwischen einer Vorstellung und Erkenntniskräften nicht ausreicht, um ein ästhetisches Sollen auszusprechen. Dafür muss das Subjekt die Ebene dieser Beurteilung transzendieren und etwas hinzufügen, das der Beurteilungstätigkeit des Subjekts nicht imma­ nent ist. Die Bedingtheit des ästhetischen Sollens heißt also zusätzli­ che Bezugnahme auf etwas, das nicht auf dieser Beurteilungsebene selbst besteht. Dieses Etwas ist, was das ästhetische Sollen bedingt bzw. die Bedingung des ästhetischen Sollens, laut Kant die Idee des Gemeinsinns. Und diese Idee bezieht sich auf einen Zweck, der in Kapitel III als der Endzweck der Vernunft, d. h. das höchste Gut, herausgestellt wird. Dass diese Idee des Vernunftzwecks die Bedingung des ästheti­ schen Sollens ist, gibt zu erkennen, dass der ästhetisch Urteilende

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7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils

neben seiner Urteilstätigkeit extra die Idee hinzuziehen muss, um einen Sollens-Anspruch hinsichtlich seiner Beurteilung erheben zu können. Und die Idee steht außerhalb der Beurteilung, gleichsam über dem Verhältnis zwischen der Vorstellung des gegebenen Gegenstan­ des und den Erkenntniskräften. Sie transzendiert also die Beurteilung. Nun wird auch ersichtlich, was beim ästhetischen Sollen transzendiert werden muss: Es ist die rein ästhetische Beurteilungstätigkeit mit der Einbildungskraft und dem Verstand selbst. Das ästhetische Subjekt soll nicht auf der rein ästhetischen Beurteilungsebene verweilen, sondern darüber hinaus eine Vernunftidee einbeziehen. Folglich muss die beim Sollen zu transzendierende »Natur« für den Fall des ästhetischen Sollens neu interpretiert werden. Sie soll von einer phänomenalen Ebene der menschlichen Beurteilung eines Gegenstandes ausgehen, die jedem Menschen verfügbar ist, der »durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist« (5: 219), und deswegen allen gemein ist. Die Transzendierung dieser phänomenalen Ebene bezieht sich dahingegen auf die Charak­ teristik des Sollens, dass in Wirklichkeit nicht jeder das Gesollte auch ausführt. Während die phänomenale Bedingung für menschli­ ches Beurteilen also für jeden gilt, ist ihre Transzendierung eine Sache, die weder jederzeit noch für alle gilt, da eine Beurteilung des Gegenstandes aus der phänomenalen Perspektive bereits ein abgeschlossener Akt ist, dem nichts extra hinzugefügt werden muss. Die Transzendierung von dergleichen Beurteilung trifft damit nur auf diejenigen zu, die bereits eine Vorstellung der Vernunftidee des Sittlich-Guten haben und ihre ästhetischen Urteile in Bezug auf die Idee öffnen können. Nun lässt sich sagen, dass die Charakterisierung des Sollens als Synthesis durch die Transzendierung eigener Natur auch für das ästhetische Sollen gilt. Die allgemeinen Charakteristiken des Werdens und Sollens wer­ den nachfolgend tabellarisch präsentiert. Wenn Werden und Sollen bei Kant als Ausdruck der Notwendigkeit für jeden, X zu tun, verwendet werden, d. h. in Satzformen wie »Jeder wird X tun.« bzw. »Jeder soll X tun.«, können die Charakteristiken dieser Notwendigkeiten einander entgegensetzt werden wie folgt:

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7. Das ästhetische Sollen als eigenständiger Anspruch des Geschmacksurteils

»Jeder wird X tun.«

»Jeder soll X tun.«

Art der Notwendigkeit

Unausweichlichkeit, X zu tun

Forderung, X zu tun

Ausführungsmöglichkeit in Wirklichkeit

Jeder tut X – Anonymität des Ausführers

Nicht jeder tut X – Persön­ lichkeit des Ausführers

Abweichungsmöglichkeit von X

Nein

Ja

Sinnvolle Zurechnung von X Nein

Ja

Evaluation und Wertverlei­ hung nach Maximen des Subjekts dafür, X zu tun

Nein

Ja

Verhältnis zwischen X und Natur des Subjekts

X ist immanent in der Natur X ist transzendent gegen­ des Subjekts über der Natur des Subjekts

Status des Subjekts

Eine-Welt-Wesen

Zwei-Welten-Wesen

Das zweite Kapitel hindurch wurde festgestellt, dass die in der rechten Spalte aufgezählten Charakteristiken nicht nur auf das moralische Sollen, sondern auch auf das ästhetische Sollen zutreffen. Folglich wird die zu Beginn dieses Kapitels geäußerte Vermutung bestätigt, dass sich der Anspruch des Geschmacksurteils, den Kant mit dem Modalverb Sollen expliziert, von dem in der Deduktion thematisier­ ten Anspruch unterscheidet. Denn der letztere Anspruch gehört der Rechtfertigungsstrategie Kants nach zur linken Spalte und die phänomenale Natur der menschlichen Beurteilung eines sinnlichen Gegenstandes, die der Strategie zugrunde liegt, muss bezüglich des ästhetischen Sollens-Anspruchs transzendiert werden. Das Moment der Transzendierung beim ästhetischen Sollen grenzt sich vom moralischen dadurch ab, dass bei der Transzendierung das Sinnliche nicht negiert wird, sondern dass stattdessen ein Wechsel der Perspektiven vom Sinnlichen zum Übersinnlichen geschieht. Das Moment der Transzendierung lässt sich als Übergang von der Natur zur Freiheit durch die Denkungsart verstehen. In den nächsten Kapiteln wird darauf eingegangen.

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III. Erweiterung des reinen Geschmacksurteils und das Bedürfnis der praktischen Vernunft

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1. Intellektuelles Interesse am Schönen und das Bedürfnis der praktischen Vernunft

1.1. Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können Der § 42 der Kritik der Urteilskraft behandelt das Auslösen der Erweiterung eines reinen Geschmacksurteils, indem er die Verbin­ dung des Geschmacksurteils mit einem Vernunftinteresse themati­ siert. Kant sagt ausdrücklich, dass diese Verbindung geschieht, »nach­ dem es als reines ästhetisches Urtheil gegeben worden« ist (5: 296). Dies bestätigt, dass es hier um eine Synthesis des reinen Geschmacks­ urteils mit etwas geht, was außerhalb dessen steht. Dadurch verbleibt ein reines Geschmacksurteil nicht mehr als ein reines ästhetisches Urteil. Zu beachten ist, dass die Verbindung zwischen einem reinen Geschmacksurteil und diesem Etwas nicht unmittelbar stattfindet, sondern nur mittelbar möglich ist. Dies lässt sich nachvollziehen, wenn man daran denkt, dass ein reines Geschmacksurteil nicht nur selbst auf keinem Interesse basiert, sondern zudem »an sich auch gar kein Interesse« begründet (5: 205). Ein reines Geschmacksurteil lässt sich weder intern noch extern unmittelbar mit einem Interesse verknüpfen. Deshalb braucht ein reines Geschmacksurteil »etwas anderes«, was »den Grund zu einem Interesse [...] legen« kann, um sich mit dem Vernunftinteresse zu verknüpfen (5: 296). Und im Fall eines intellektuellen Interesses ist das vermittelnde Dritte, so Kant, die »Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können« (ibid.). Diese Auskunft, insbesondere der Begriff »Wille« darin, lässt sich aber nicht ohne Weiteres nachvollziehen. Was das Vernunftin­ teresse am Schönen dem § 42 zufolge unmittelbar auslöst, ist nicht eine Handlung, sondern eine theoretische Tätigkeit der Erkenntnis­ kräfte – in Kants Ausdruck, »über die Schönheit der Natur […] nach[zu]denken« (5: 300). Dass dieses Vernunftinteresse letztlich auf

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1. Intellektuelles Interesse am Schönen und das Bedürfnis der praktischen Vernunft

den Willen bezogen ist, kann in Bezug auf zwei Punkte im ganzen Vorgang der Erweiterung des Geschmacksurteils verständlich werden, nämlich auf den Start- und auf den Endpunkt des Vorgangs. Zunächst ist der Zusammenhang des Vernunftinteresses mit der Willensbestimmung, was den Endpunkt angeht, ersichtlich, wenn man daran denkt, dass das Interesse letztlich in eine Zustimmungs­ forderung einmündet, die einen Handlungscharakter hat. Darauf soll eingegangen werden. Man muss darauf achten, dass sich dieser Zustimmungsanspruch von dem im Rahmen der Deduktion behandelten Anspruch auf All­ gemeingültigkeit deutlich abhebt. Dort spricht Kant einem reinen Geschmacksurteil in Hinsicht auf dessen Gültigkeit einen ähnlichen Status zu wie einem Erkenntnisurteil, indem er das Prinzip des rei­ nen Geschmacksurteils als »die formale Bedingung der Urteilskraft« bezeichnet (5: 290 Anm.). Ein reines Geschmacksurteil zu fällen enthält die letztere Art von Anspruch bereits in sich. Diesen Anspruch zu erheben ist nicht anders, als das Urteil zu fällen. Der Urteilende erhebt also dadurch den Anspruch, dass er das Urteil fällt. Hier bleibt und gründet der Anspruch auf der theoretischen Ebene. Wenn sich der Anspruch dagegen durch eine praktische Hand­ lung erhebt, d. h. durch einen selbstständigen Forderungsakt auf Zustimmung, wird die theoretische Ebene überschritten. Die Forde­ rung des Urteilenden beim erweiterten Geschmacksurteil beschreibt Kant wie folgt: »Er tadelt sie, wenn sie anders urtheilen, und spricht ihnen den Geschmack ab, von dem er doch verlangt, daß sie ihn haben sollen« (5: 213).

Dieser Forderungsakt unterscheidet sich klar vom Fällen eines reinen Geschmacksurteils. Die Forderung stützt sich zwar auf die Allgemein­ gültigkeit des reinen Geschmacksurteils, setzt jedoch einen Zweck voraus, den sie erfüllen soll, wie jede andere Handlung im praktischen Sinne (vgl. 6: 385). Es ist daher die Vorstellung des Zwecks, die den Forderungsakt initiiert. Dieser Zweck steht offensichtlich außerhalb des reinen Geschmacksurteils. Durch den Forderungsakt wird ein bloß Urteilender ein Handelnder, der seinen Willen einer Zweckvor­ stellung gemäß bestimmt. Natürlich kann man sich auch bei jedem Erkenntnisurteil eine Situation vorstellen, in der ein Subjekt von einem anderen Zustim­ mung fordert, sofern irgendeine Unstimmigkeit zwischen beiden

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1.2. Bedürfnis nach der objektiven Realität von Ideen

entsteht. Doch wird auch in diesem Fall die theoretische Ebene verlassen und ein Zweck vorausgesetzt. Der Zweck kann in gelunge­ ner Kommunikation liegen, doch auch in jedem anderen beliebigen Zweck, den sich die intersubjektive Kommunikationsgruppe gesetzt hat. Von diesem Fall unterscheidet sich jener Forderungsakt hinsicht­ lich eines Geschmacksurteils darin, dass er insofern einen reinen Vernunftzweck hat, als sein Wille »a priori durch Vernunft bestimmt« wird (5: 296). Zweitens lässt Kants Aussage, dass der Geschmack nur durch die »Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können« (5: 296), mit einem Vernunftinteresse verbunden werden kann, erkennen, dass die Erweiterung des Geschmacksurteils durch das Anliegen der reinen praktischen Vernunft ausgelöst wird. Mit Kants Worten ausgedrückt rührt die ganze Erweiterung von einem notwendigen Bedürfnis der praktischen Vernunft her. Wie der Startund der Endpunkt zeigen, hängt die Erweiterung des Geschmacksur­ teils mit einem praktischen Anliegen der Vernunft zusammen. Auf das Bedürfnis der praktischen Vernunft wird jetzt eingegangen.

1.2. Bedürfnis nach der objektiven Realität von Ideen Welches Bedürfnis der praktischen Vernunft kann hinsichtlich eines reinen Geschmacksurteils einbezogen werden? Der Begriff »Bedürf­ nis« impliziert immer ein Defizit bzw. eine gewisse Eingeschränktheit des Subjekts, wie es auch bei der Kantischen Verwendung dieses Begriffs der Fall ist. In § 42 der Kritik der Urteilskraft gibt es eine Stelle, die erkennen lässt, dass sich es bei dem Vernunftinteresse am Schönen um ein Bedürfnis in diesem Sinne handelt. Die Stelle lautet: »Da es aber die Vernunft auch interessirt, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objective Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Producte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen […] anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähn­ lichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüth über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessirt zu finden.« (5:300; Hervorhebung der Verf.).

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1. Intellektuelles Interesse am Schönen und das Bedürfnis der praktischen Vernunft

Diese Passage gibt zu erkennen, dass es Ideen gibt, die der objektiven Realität bedürfen, und dass das Schöne in der Natur »eine Spur […] oder einen Wink« für die objektive Realität liefert. Die »objektive Rea­ lität« einer Idee heißt, dass eine der Idee entsprechende Anschauung gegeben werden kann (5: 351). Die zitierte Passage scheint der Natur­ schönheit die Rolle solch einer Anschauung zuzuschreiben. Jedoch ist eine Anschauung, die einer Idee »zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben« und damit exakt angemessen ist, »etwas Unmögliches«, wie Kant selbst betont (ibid.). Was meint Kant genau mit der objektiven Realität der Ideen und in welcher Weise bezieht sich die Naturschönheit darauf? Auch wenn sich diese Fragen jetzt nicht beantworten lassen, lässt sich anhand der zitierten Passage vermuten, dass die Möglichkeit der objektiven Realität, derartige einschlägige Ideen zu finden, ein praktisches Anliegen von hoher Bedeutung ist. Dabei ist wichtig: Gerade mit diesen Ideen ist das Bedürfnis der praktischen Vernunft untrennbar verbunden. Welche Ideen sind damit gemeint? Es sei auf den kursiv markierten Teil in der vorhin zitierten Passage hingewiesen, dem zufolge das Interesse bezüglich dieser Idee »im moralischen Gefühle« bewirkt werde. Ein Interesse »im moralischen Gefühle« wäre das Interesse an moralischen Gesetzen. Für den Menschen als endlichen Vernunftwesen ist ein Befehl des Moralgesetzes nicht immer das Objekt des Wollens. Deshalb bedarf er einer Triebfeder, damit er das Moralgesetz zu seiner Maxime macht. Zu diesen moralischen Triebfedern gehören das Interesse an der Befolgung des Gesetzes (das moralische Interesse) und das moralische Gefühl (Achtung gegenüber dem Gesetz). Über das enge Verhältnis zwischen moralischen Triebfedern, die für eine moralische Handlung des Menschen »nothwendig« sind (4: 449), sagt Kant, dass »die Fähig­ keit, ein solches Interesse am Gesetze zu nehmen, (oder die Achtung fürs moralische Gesetz selbst) eigentlich das moralische Gefühl ist« (5: 80). Aus diesem Grund könnten die »Ideen«, deren objektive Realität infrage steht, als moralische Gesetze angesehen werden. Die Aussage an der kursiv markierten Stelle, die dieses Interesse als »unmittelbar« bezeichnet, bekräftigt ebenfalls die Vermutung, dass Kant mit jenen »Ideen« die moralischen Gesetze meint. Denn auch Kants Interesse-Theorie in der Kritik der Urteilskraft bezieht den Begriff der Unmittelbarkeit auf das Sittliche. Ein intellektuelles Interesse ist, so Kant, immer ein Interesse am Guten: Kant ist sich sicher, dass »es nicht mehr Arten des Interesse gebe« als das am Ange­

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1.2. Bedürfnis nach der objektiven Realität von Ideen

nehmen und am Guten (5: 205), und das erste könne kein intellektuel­ les Interesse sein. Das Interesse am Guten teilt sich durch die folgende Frage in zwei Arten: »ob es blos mittelbar = gut oder unmittelbar = gut (ob nützlich oder an sich gut) sei« (5: 208). Etwas ist »mittelbar = gut«, wenn das für einen beliebigen Zweck gut ist. »[U]nmittelbar = gut« ist dahingegen »das schlechterdings und in aller Absicht Gute, nämlich das moralische« (5: 209). Nach den bisherigen Überlegungen scheint das intellektuelle und unmittelbare Interesse an der zitierten Stelle, das im moralischen Gefühl hervorgerufen wird, auf das moralische Interesse an Moralgesetzen hinzuweisen. Es stellt sich sodann die Frage: Bedürfen die Moralgesetze einer Bestätigung ihrer »objektiven Realität«? Wohlbekannt ist, dass das moralische Gesetz bzw. dessen Bewusstsein bei Kant »ein Factum der reinen Vernunft« (5: 31, 5: 47, 5: 55) ist. Das Gesetz ist damit keine solche Idee, deren objektive Realität man auch nur nach einem schwa­ chen Hinweis darauf feststellen will. Kant behauptet mit Nachdruck: »die objective Realität des moralischen Gesetzes […] steht […] für sich selbst fest« (5: 47). Welche moralischen Ideen brauchen dann ihre eigene objektive Realität zu zeigen? In der Dialektik der reinen praktischen Vernunft lässt sich noch eine Idee finden, die sich ein Subjekt »im moralischen Gefühle«, d. h. in einem durch das moralische Gesetz bewirkten Gemütszustand, vorstellt. Das ist die Idee des höchsten Guts. Dort macht Kant klar, dass eine notwendige Beziehung zwischen dem moralischen Gefühl und der Beförderung des höchsten Guts besteht. Er betont, »der subjective Effect dieses Gesetzes«, d. h. das moralische Gefühl, sei »die ihm angemessene und durch dasselbe auch nothwendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern« (5: 143). An anderer Stelle sagt er, dass die »Absicht aufs höchste Gut« eine »durch die Achtung fürs moralische Gesetz nothwendige Absicht« ist (5: 132). Dies gibt Anlass zur Vermutung, dass Kant mit jenen »Ideen« schließlich die Idee des höchsten Guts meint, deren objektive Reali­ tät gefunden werden soll. Dieses Bedürfnis der Vernunft nach der Möglichkeit einer objektiven Realität des höchsten Guts nennt Kant das »Bedürfniß der reinen praktischen Vernunft« (5: 141). Bevor auf das Problem dieses Bedürfnisses eingegangen wird, das der Schlüssel zum Erschließen des intellektuellen Interesses am Schönen sowie des ganzen Vorgangs der Erweiterung eines reinen Geschmacksurteils ist, folgt eine Erläuterung zu Kants Begriff des höchsten Guts.

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

2.1. Das höchste Gut als Pflicht In der Analytik der reinen praktischen Vernunft konzentriert sich Kant auf das Formale der Sittlichkeit. Jedoch muss jede konkrete Handlung des Menschen – einschließlich einer sittlichen Handlung – eine Mate­ rie, d. h. einen Gegenstand der praktischen Vernunft enthalten, unter dem Kant »die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit« versteht (5: 57; siehe auch 5: 21). Dies ist auch der Fall bei der Willensbestimmung durch die reine praktische Vernunft, wo der Bestimmungsgrund des Willens nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz selbst ist. Kant betont mehrmals in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft, dass das höchste Gut »das ganze Object« (5: 119) bzw. »der ganze Gegenstand« der reinen praktischen Vernunft (5: 109) ist. Es ist ein »Gebot« der Vernunft (5: 119), bzw. eine »Pflicht« (5: 143 Anm.), das höchste Gut »zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern« (5: 142). Wie sieht dann das höchste Gut bei Kant aus? Es gibt zwei Bestandteile bzw. Elemente des höchsten Guts: Die Sittlichkeit und »die genau dem sittlichen Werthe angemessene Glückseligkeit« (5: 145), bzw., wie es an anderer Stelle heißt, eine der Sittlichkeit »genau proportionirte« Glückseligkeit als »Folge« der Sittlichkeit (5: 119). Kant meint, es besteht in der reinen Vernunft »eine natürliche und nothwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionirten Glückseligkeit« (ibid.; Hervorhebung der Verf.), und zwar auch dann, wenn der Wille nur aus Pflicht zur sittlichen Handlung bestimmt wird. Kants Begriff des höchsten Guts bereitet Kant-Interpreten viele Probleme. Vor allem scheint er mit Kants formaler Theorie der Pflicht inkonsistent zu sein, die hauptsächlich in der Analytik der zweiten Kritik ausgeführt worden ist, indem die Pflicht des höchsten Guts die Beförderung der Glückseligkeit als materiellen Bestandteil enthält. Kann eine Beförderung von Glückseligkeit, die die eigene Glückseligkeit des Akteurs einschließt, auf der Autonomie von Moral

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

bestehen? In dieser Hinsicht werden dieser Begriff und dessen Theorie von manchen Interpreten nicht ernst aufgenommen. Lewis White Beck wendet ein, dass eine solche Pflicht gar nicht existiere (Beck 1960, 244; 1995, 227). Unter dieser Annahme lässt sich jedoch über das Bedürfnis der praktischen Vernunft nicht diskutieren, das erst bezüglich der Aus­ führbarkeit der Pflicht der Beförderung des höchsten Guts entsteht. Erst wenn man diese Pflicht anerkennt, ergibt sich das Problem von deren Ausführbarkeit. Trotz der besprochenen Inkonsistenz der Theorie des höchsten Guts mit seiner formalen Theorie der Pflicht versucht Kant die Pflicht des höchsten Guts sogar an das Gebot des Gesetzes zu knüpfen. Dadurch entsteht die Notwendigkeit der Pflicht sowie des Bedürfnisses bezüglich ihrer Ausführung. Darauf soll nachfolgend eingegangen werden.

2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts 2.2.1. Notwendigkeit des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft Warum ist die objektive Realität des höchsten Guts so wichtig, dass Kant das Bedürfnis danach als »Bedürfniß der reinen praktischen Vernunft« (5: 141) bezeichnet? Nach Kant ist dieses Bedürfnis mit einer dringlichen Notwendigkeit verbunden: Das Bedürfnis befindet sich »in schlechterdings nothwendiger Absicht« (5: 143). Die Notwen­ digkeit beruht insofern auf dem zweischichtigen Verhältnis, als das Bedürfnis auf der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, »gegründet« ist (5: 142) und die Pflicht wiederum in dem moralischen Gesetz wur­ zelt. Dies soll in einzelnen Schichten betrachtet werden: (1) Verhältnis zwischen der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, und dem morali­ schen Gesetz, sofern diese Pflicht von dem moralischen Gesetz als notwendig auferlegt ist; (2) Verhältnis zwischen der Pflicht und dem Bedürfnis in dem Sinne, dass das Bedürfnis von der Notwendigkeit der Ausführung dieser Pflicht her entsteht. Erstens ist die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, nach Kants Ansicht ein »unnachlaßliche[s] Vernunftgebot« (5: 143). Denn das Gesetz »gebietet« (5: 114) diese Pflicht insofern, als sie »mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt« (5: 114) und als die Pflicht eine »durch die Achtung fürs moralische Gesetz

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2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts

notwendige Absicht« ist (5: 132). In Was heißt sich im Denken orientiren? steht, dass die Idee des höchsten Guts »die Moralität unzertrennlich begleitet« (8: 139). Dieser von Kant angenommene Zusammenhang steht, wie oben erwähnt wurde, allerdings im Zentrum der Kritiken über seine Moral­ philosophie. In der Tat führt diese Annahme Kant zu der Aussage, die die Selbstständigkeit des moralischen Gesetzes riskiert, indem seine Angewiesenheit auf das höchste Gut angedeutet wird: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, an sich falsch sein« (5: 114).

Kants Behauptung, dass die Pflicht durch das moralische Gesetz geboten wird, klingt auch nicht selbstverständlich. Kants Annahme der »unzertrennlichen« Verknüpfung zwischen dem höchsten Gut und dem moralischen Gesetz lässt sich sogar durch seine eigene Aussage in der Religionsschrift infrage stellen: »Daß aber jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen sollte, ist ein synthetischer praktischer Satz a priori […], der über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht und eine Folge derselben (einen Effect) hinzuthut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist und daraus also analytisch nicht entwickelt werden kann.« (6: 6 Anm.; Hervorhebung der Verf.).

Es sei eingeräumt, dass jene Annahme der unzertrennlichen Verknüp­ fung des höchsten Guts zum moralischen Gesetz zu Recht großer Kritik ausgesetzt ist – und doch sei an ihr festgehalten. Denn sie ist eine Annahme, die Kant schließlich nicht aufgeben wollte, obwohl er sich ihrer Problematik bewusst war. Und diese Annahme liegt gerade dem Bedürfnis der praktischen Vernunft zugrunde, auf dem wiederum die Erweiterung des Geschmacksurteils aufbaut. Zweitens entsteht unter der Auffassung, dass die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, mit solch großer Notwendigkeit versehen ist, das Bedürfnis der praktischen Vernunft nach der objektiven Rea­ lität der Idee, mit anderen Worten, das Bedürfnis, »die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen« (5: 125; Hervorhebung der Verf.). In diesem Sinne sagt Kant, dass dieses Bedürfnis »mit dem Bewußtsein unserer Pflicht verbunden« ist (5: 126). Das Bedürfnis besteht in der Vorstellung, dass es »praktisch unmöglich« wäre, »dem Objecte eines Begriffes nachzustreben, welcher im Grunde leer und

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

ohne Object wäre« (5: 143; siehe auch KrV A 811 = B 839, 8: 139). Damit vertritt Kant seine Grundansicht, dass die Ausführung einer Pflicht ihre Ausführbarkeit voraussetzt. An dieser Stelle muss klar gemacht werden, inwiefern die Aus­ führbarkeit der Pflicht des höchsten Guts infrage gestellt wird. Dafür ist zunächst zu klären, was genau diese Pflicht beinhaltet.

2.2.2. Transzendente Vernunftidee des höchsten Guts a. Vollkommene Sittlichkeit mit der ihr entsprechenden vollkommenen Glückseligkeit Es ist für die ersten zwei Kritiken gemein, dass Kant den Begriff des höchsten Guts als das höchste abgeleitete Gut bezeichnet (KrV A 810 = B 839 f.; 5:125, 5:28, 5:131). Es ist also von der Idee des höchsten ursprünglichen Guts abgeleitet, in der »der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glück­ seligkeit in der Welt ist, sofern sie mit der Sittlichkeit (als der Wür­ digkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht« (KrV A 810 = B 839). Dieser Wille ist nichts anders als »Gott« (5: 125). Die trans­ zendentale Vernunftidee des höchsten Guts hier ist das »»Ideal« der Vernunft«, das von der höchsten Intelligenz abgeleitet worden ist, d. h. das Ideal des »auf jenen »Grund« zurückzuweisenden höchsten Gutes« (Heimsoeth 1971, 764). In dieser Hinsicht lässt sich der Begriff des höchsten (abgeleiteten) Guts kaum dahin gehend interpretieren, dass er aus einer Teilmenge des höchsten Grads der Sittlichkeit und aus der dieser Menge exakt entsprechenden Portion der Glückselig­ keit bestehe. Dieser Begriff bei Kant ist vielmehr der Begriff »eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sitt­ licher […] Vollkommenheit […] verbunden vorgestellt wird« (5: 129 f.; Hervorhebung der Verf.).47Die Lehre des Postulats der 47 In der Tat ist es möglich, dass man sich anhand von Kants Betonung der genauen Proportion der Glückseligkeit im Verhältnis zur Sittlichkeit zur Annahme leiten lässt, die Idee des höchsten Guts enthalte die Vorstellung der Bestrafung eines sittlich-bösen Akteurs. In der ersten Kritik behauptet Kant – neben seinen Äuße­ rungen zur Glückseligkeit, die »in genauem Verhältnisse« (KrV A 811 = B 839) bzw. »in dem genauen Ebenmaße« mit der Sittlichkeit (KrV A 814 = B 842) steht –, dass nach der Idee des höchsten Guts die Glückseligkeit »der Moralität genau angemessen ausgeteilt« sein soll (KrV A 811 = B 839; Hervorhebung der Verf.). Die

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2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts

Unsterblichkeit der Seele in der zweiten Kritik zeigt am klarsten, wie Kant in der Tat an der Idee der vollkommenen Sittlichkeit festhält. Dort sagt er, »die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze« ist »die oberste Bedingung des höchsten Guts« (5: 122; Hervorhebung der Verf.). In der ersten Kritik lässt sich neben dem »höchsten abgeleiteten Gut« noch ein weiterer Begriff finden, der die Implikation der Voll­ kommenheit im höchsten Gut zeigt. Dies ist der Begriff der morali­ Erwähnung solcher »Austeilung« kommt in der zweiten Kritik wieder vor (5: 110). In dieser Hinsicht lässt sich die Behauptung von Beiser verstärken, dass im Kantischen Begriff des höchsten Guts ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit (»a principle of distributive justice«) mitspielt (Beiser 2006, 597). Er betrachtet diesen Punkt als christlich-theologische Charakteristik des Kantischen höchsten Guts, die es von anderen heidnischen Begriffen des höchsten Guts abgrenzt (ibid.). Guyer wendet ein, dass Kants Philosophie das Thema von Strafe nicht behandle (Guyer 2011, 103). Reath hingegen erachtet zwar als unvermeidlich, Kants Betonung der »genauen Proportion« als System der Belohnung und der Bestrafung zu verstehen, aber er findet es zugleich problematisch, da dies das moralische Interesse des Individuums zu heteronom mache: »It is difficult to avoid seeing a proportionality of happiness and virtue as a system of rewards and punishments that would inevitably make an individual’s interest in moral conduct heteronomous« (Reath 1988, 610). Die Passage aus der Kritik der teleologischen Urteilskraft, mit der Beiser seine Interpretation belegt (5: 458, Zeilen 9‒17), weist sicher darauf hin, dass Kants Begriff des höchsten Guts die Vorstellung der Verteilungsgerechtigkeit einschließt, sodass eine »unparteiische[] Vernunft« (5: 110) die Verteilung der Glückseligkeit unter Berücksichtigung des jeweiligen Grades der Sittlichkeit für rational hält. Dies macht Kant auch bei der Einführung des Begriffs vom höchsten Gut in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft klar: »Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen« (ibid.). Hier ergibt sich die Frage, ob die Verteilungsge­ rechtigkeit, die die Kombination nur der Teilmenge von der möglichst vollkommenen Menge der Sittlichkeit mit der ihr entsprechenden Teilmenge der Glückseligkeit erlaubt, nicht der transzendenten Idee des höchsten Guts als des vollkommenen Guts widerspricht. Diese Frage lässt sich in Bezugnahme auf die Unterscheidung von Silber zwischen dem Immanenz- und dem Transzendenz-Begriff des Kantischen höchsten Guts klären, die gleich eingeführt werden soll: Einem Ausführenden der Pflicht des höchsten Guts sollte der Transzendenz-Begriff »als ein regulatives Prinzip« für seine Willensbestimmung dienen, damit er nach dem möglichst vollkommenen höchsten Gut strebt (Silber 1964, 404). Andererseits impliziert der Begriff des höchsten Guts auch, die Grenze der Fähigkeit eines Akteurs sowie die Reichweite seiner Zurechnung zu bestimmen, und dies ist die Rolle des heiligen Richters (Silber 1964, 401). Das Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung richtet sich auf die subjektive Willensbestimmung nach der Pflicht. In diesem Zusammenhang behält daher der Transzendenz- über den Immanenz-Begriff die Oberhand.

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

schen Welt. Es ist die vollkommene Sittlichkeit, die in der moralischen Welt herrschen soll. Kant setzt das höchste abgeleitete Gut mit der »moralischen Welt« gleich (KrV A 810 = B 838 f.). Eine derartige Welt ist, so Kant, eine intelligible Welt, »in deren Begriff wir von allen Hin­ dernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glück­ seligkeit auch als notwendig denken« (KrV A 809 = B 837). An einer anderen Stelle sagt Kant, dass eine moralische Welt »allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, (wie sie es denn, nach der Freiheit der ver­ nünftigen Wesen, sein kann, und, nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, sein soll)« (KrV A 808 = B 836). Eine Welt umfasst nicht nur die handelnden Akteure, sondern auch den Ort, an dem die Akteure handeln. Folglich wird mit Kants Aussage, dass eine Welt »allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre«, gemeint, dass diese Welt nicht nur die höchste Sittlichkeit, sondern auch die höchste Glückse­ ligkeit der Akteure einschließt. Dies alles besagt, dass eine moralische Welt, und damit das höchste Gut, eine notwendige Verbindung zwi­ schen der vollkommenen Sittlichkeit und dem ihr entsprechenden vollkommenen Grad der Glückseligkeit impliziert.

b. Kollektive Ebene des höchsten Guts Wichtig bleibt, dass die moralische Vollkommenheit dabei nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Ebene zeigt. Kant sagt in der ersten Kritik, die moralische Welt gründet auf der Bedingung, »daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen« (KrV A 810 = B 838). Es fällt auf, dass Kant nicht über die vollkommene Sittlichkeit eines Individuums spricht, sondern die Sittlichkeit aller Handlungen von mehrfachen und damit allen Akteuren betont. Das Kollektiv von Individuen, die alle Handlungen moralisch ausführen, ist die »Ursache der allgemeinen Glückseligkeit« (KrV A 809 = B 837; Hervorhebung der Verf.). »[D]ie vernünftigen Wesen also selbst« werden »Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein« (ibid.; Hervorhebung der Verf.). Die Handlungen eines Individuums beeinflussen also nicht nur dessen eigene Glück­ seligkeit, sondern auch jene der anderen. Die Gemeinschaft der einzelnen Menschen schafft dadurch allgemeine Glückseligkeit. In dieser Weise sollen wir, so Kant, »das Weltbeste an uns und an

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2.2. Ausführbarkeit der Pflicht des höchsten Guts

anderen befördern« (KrV A 819 = B 847; Hervorhebung der Verf.). In der Religionsschrift entwickelt er dies zum Begriff des ethischen Gemeinwesens und erklärt das Errichten des ethischen Gemeinwesens zudem zur Pflicht der menschlichen Gattung (6: 98).

2.2.3. Fehlende Realisierbarkeit der transzendenten Vernunftidee des höchsten Guts als solche Wird diese transzendente Idee des höchsten Guts als solche zu erreichen als Pflicht angenommen, erscheint ein Problem. Denn diese Pflicht scheint in mehreren Hinsichten unausführbar zu sein.

a. Problem hinsichtlich der Glückseligkeit Zunächst wird deutlich, dass sich in der Sinnenwelt keine solche Verknüpfung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit beobachten lässt, wenngleich die Glückseligkeit in der genauen Proportion mit der Sittlichkeit hervorgebracht werden müsste. Obwohl Kant sagt, dass in der moralischen Welt unsere Sittlichkeit die »Ursache der allgemeinen Glückseligkeit« ist (KrV A 809 = B 837; Hervorhebung der Verf.), gilt dies in der Sinnenwelt nicht ganz. Der Mensch kann leider nicht »eine wirkende Ursache […], welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang […] bestimmt« (KrV A 812=B 840), sein. Denn eine andere wichtige Bedingung spielt mit, die den »Ausgang« unserer Sittlichkeit beeinflusst: Die Natur. Der gewünschte Ausgang unserer Sittlichkeit ist die ihr genau proportionierte Glückseligkeit. Jedoch ist diese Glückseligkeit von der Natur abhängig: In dem höchsten Gut ist »die Möglichkeit des einen Theils, nämlich der Glückseligkeit, empirisch bedingt, d. i. von der Beschaffenheit der Natur (ob sie zu diesem Zwecke übereinstimme oder nicht) abhängig« (5: 453). Schließlich muss mit Kant gesagt werden, dass die Möglichkeit der Glückseligkeit »nicht in unserer Gewalt« ist (5: 119). Dies ist der Fall sowohl bezüglich der eigenen Glückseligkeit, als auch bezüglich der Glückseligkeit der anderen.

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

b. Problem hinsichtlich der Sittlichkeit des menschlichen Kollektivs Mit dem anderen Teil des höchsten Guts verhält es sich dagegen anders, da hier »die Sittlichkeit, in Ansehung deren wir von der Naturmitwirkung frei sind, seiner Möglichkeit nach a priori fest steht und dogmatisch gewiß ist« (5: 453; Hervorhebung der Verf.). In diesem Sinne ist die Möglichkeit der Sittlichkeit »unmittelbar in unserer Gewalt« (5: 119). In individueller Hinsicht ist dies wahr: Die sittliche Gesinnung hängt gänzlich von eigener, selbstständiger Willensbestimmung ab. Was jedoch die vollkommene Sittlichkeit des menschlichen Kol­ lektivs anbelangt, die zum Bestandteil der transzendenten Idee des höchsten Guts zählt, stößt der Einzelne an die Grenze seines Kön­ nens. Denn die Sittlichkeit der anderen ist nicht in seiner Gewalt. Dies bedeutet, dass die Sittlichkeit des Menschen in kollektiver Hinsicht nicht unter der Kontrolle eines einzelnen Menschen liegt. Daher erscheint die Pflicht des höchsten Guts als transzendenter Idee ebenfalls in Hinsicht auf Sittlichkeit nicht realisierbar. Hier wird der zweite Grund ersichtlich, warum diese Idee als solche nicht realisierbar erscheint. Wie vorhin erwähnt wurde, thematisiert Kant bereits in der ers­ ten Kritik das wechselseitige Verhältnis zwischen Menschen, indem des einen Handlungen die Glückseligkeit anderer beeinflussen kön­ nen (KrV A 810 = B 838, A 809 = B 837, A 819 = B 847). In der Religionsschrift definiert Kant das für das höchste Gut erforderliche Verhältnis zwischen Menschen als vereinigtes System der Akteure, die als Ganzes nach demselben Zweck streben. Ein solches System ist deshalb erforderlich, weil das höchste Gut durch alleinige Bemühun­ gen unerreichbar ist. Kant sagt dazu, dass »das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann« (6: 97 f.; Hervorhebung der Verf.). Anschließend macht Kant zudem klar, dass die Möglichkeit die­ ses Systems nicht feststeht, anders als die Möglichkeit individueller Sittlichkeit. Er sagt, dass »die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es

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2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts

in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe« (6: 98; Hervorhebung der Verf.).

2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts 2.3.1. Immanenz des höchsten Guts für die Ausführbarkeit der Pflicht Aus den bisherigen Überlegungen ist zu folgern: Auch wenn jemand gleichsam sein Bestes gäbe, um der transzendenten Idee des höchsten Guts gerecht zu werden, stellte sich dies doch als unmögliches Ziel heraus, sowohl hinsichtlich der Glückseligkeit als auch der Sittlichkeit auf der kollektiven Ebene. Dabei kommt die Problematik der Pflicht bezüglich des höchsten Guts zum Vorschein. Der Grundgedanke Kants zur Pflicht lautet, dass Einzelne lediglich zu dem verpflichtet sind, was sie können: »[W]as er nämlich auf den Geheiß seiner moralisch=gebietenden Vernunft will, das soll er, folglich kann er es auch thun (denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten)« (7: 148; siehe auch 5: 159).

Folglich sollte der Inhalt der Pflicht nicht als Realisierung jener transzendenten Idee an sich selbst, sondern als stete Bestrebung nach deren Realisierung möglichst nah bei dieser Idee an sich selbst begriffen werden, um die Pflicht bezüglich des höchsten Guts als sinnvoll erachten zu können. Kant bringt diesen Punkt tatsächlich in verschiedenen Schriften zum Ausdruck. Er definiert das Objekt der Pflicht als »ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt« (8: 279; Hervorhebung der Verf.) bzw. »das praktisch mögliche höchste Gut« (5: 143; Hervorhebung der Verf.). Die Pflicht könnte sich darin äußern, das höchste Gut »nach allen meinen Kräften zu befördern« (5: 142; Hervorhebung der Verf.; siehe auch 5: 453) oder darin, »so viel […] in unserem Vermögen ist, zu befördern « (5: 451). Mit diesen Formulierungen beabsichtigt Kant, klar zu machen, dass die Ausführung der Pflicht doch in unserer Gewalt stehe.

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

Gerade in diesem Kontext verwendet Silber den Begriff »Imma­ nenz« des höchsten Guts. Er sagt: »Indem Kant die Verpflichtung des Menschen auf die tatsächlichen Grenzen seines Könnens beschränkt, d. h. indem er das notwendige Objekt des moralischen Wollens nicht so sehr als die Pflicht bestimmt, das höchste Gut zu erreichen, als vielmehr, es zu befördern, gelingt es ihm, die Idee des höchsten Gutes dem menschlichen Leben immanent zu machen« (Silber 1964, 393; Hervorhebung der Verf.).

Wenn man jedoch das höchste Gut lediglich aus der Sicht der Immanenz betrachtet, ergibt sich das Problem mit dem normativen Charakter des höchsten Guts. Auch wenn die perfekte Realisierung der transzendenten Idee des höchsten Guts nicht in menschlicher Gewalt liegt, sollen die Menschen sich dieser Idee möglichst weit annähern. Wird aber ab initio von der Annahme ihrer fehlenden Realisierbarkeit ausgegangen, wird ein Subjekt niemals der Pflicht gerecht, das höchste Gut »nach allen [s]einen Kräften zu befördern« (5: 142; Hervorhebung der Verf.). Dass das Immanenz-Konzept nicht die Normativität der Pflicht des höchsten Guts beleuchten kann, wird im folgenden Abschnitt näher besprochen.

2.3.2. Transzendenz des höchsten Guts und Bedürfnis der praktischen Vernunft a. Transzendenz des höchsten Guts Da man mit der Immanenz-Theorie allein den normativen Charakter des höchsten Guts nicht aufrechterhalten kann, muss man auch die andere Seite des höchsten Guts berücksichtigen: die Transzendenz des höchsten Guts. Auch hierzu gibt Silbers Diskussion Impulse. Am Beginn seines Argumentes für die Transzendenz sagt er: »Wir sind moralisch verpflichtet, das höchste Gut bis zur Grenze unserer Macht zu fördern. Aber wie können wir die Grenzen unseres Vermögens bestimmen?« (Silber 1964, 395).

Kants Standpunkt zum praktischen Können des Menschen ist dies: Die Grenze des Könnens lässt sich nicht dadurch bestimmen, was bereits getan worden ist. Folglich lässt sich aus der Erfahrung nicht schließen, ob das, was noch nicht versucht wurde, gekonnt wird oder nicht. Kant sagt dazu: »[G]emeiniglich lernen wir unsere Kräfte nur

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2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts

dadurch allererst kennen, daß wir sie versuchen« (5: 247; siehe auch 20: 231 Anm.). Ebenfalls bleibt offen, ob das durch einen Versuch entdeckte Können auf die Grenze des Könnens hinweist. In dieser Hinsicht dürfen die Ausführung des moralischen Geset­ zes sowie die Pflicht des höchsten Guts, die uns, wie Kant behauptet, durch das moralische Gesetz auferlegt ist, nicht von empirischer Ein­ schätzung eigenen Könnens beschränkt werden. Kant macht mehr­ mals klar, dass die Erfahrung keine Richtlinie für die Ausführung des moralischen Gesetzes bestimmen kann. In der ersten Kritik sagt er: »[E]s ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird« (KrV A 318 = B 375).

In der Metaphysik der Sitten steht: »[D]ie Begriffe und Urtheile über uns selbst und unser Thun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich blos von der Erfahrung lernen läßt, enthalten« (6: 215). Die »gröbsten und verderblichsten Irrthümer« liegen darin, »etwas aus der letztern Quelle [sc. der Erfahrung] zum moralischen Grundsatze zu machen« (ibid.).

Was muss dann als Grund der Kraftbestimmung bei der Ausführung des Moralischen fungieren? Diesbezüglich weist Silber auf eine Stelle von Kants Vorlesung über Ethik hin: »[D]as moralische Gesetz ist das Urbild, das Richtmaß, das Muster unserer Handlungen. Das Muster muß aber exakt und präzise sein, wäre es nicht so, wonach sollte man alsdann alles beurteilen?«48

Die Bestimmung der Grenze unseres Könnens gehört ebenfalls zu moralischen Beurteilungen, deshalb gilt auch hier das moralische Gesetz als deren Muster, und zwar in ihrer Reinheit und Heiligkeit: »Die höchste Pflicht ist also, das moralische Gesetz in aller Reinigkeit und Heiligkeit vorzutragen, so wie es das höchste Verbrechen ist, von der Reinigkeit desselben was abzunehmen«49.

48 Vorlesung Kants über Ethik, hrsg. von Paul Menzer, im Auftrage der Kant-Gesell­ schaft, Pan Verlag, Rolf Heise, Berlin, 1924, S. 79 f., zitiert nach Silber 1964, 399. 49 Ibid.

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

Hiernach ist es offenbar »das höchste Verbrechen«, wenn bei einer Grenzbestimmung der Kräfte das Gebot des Gesetzes abgeschwächt wird, um es an eine beliebige Grenzbestimmung anzupassen. Nun ließe sich sagen, dass die transzendente Vernunftidee des höchsten Guts, deren Realisierungsmöglichkeit nicht a priori fest­ steht, an sich selbst »der Maßstab« sein muss, »den der Mensch bei der Abschätzung der Grenzen seines Vermögens benutzt« (Silber 1964, 400). Das ist auch so, wenn jene Idee selbst gegenüber dem Können, »vom Standpunkt der wirklichen Tätigkeit des Menschen aus gesehen, transzendent« zu sein scheint (Silber 1964, 397; Hervorhebung der Verf.). Hier gilt das Konzept der Transzendenz des höchsten Guts. Dabei weist Silber auf »eine zusätzliche Bedeutung des Satzes »ich soll«« hin: »»Ich soll« impliziert »ich kann«, in dem Sinne, daß das moralische Gesetz uns den einzigen und daher besten positiven Hinweis auf das Ausmaß unserer Freiheit verschafft« (Silber 1964, 397).

Im gleichen Sinne lässt sich noch eine Stelle aus der Vorlesung Kants über Ethik hinzuziehen: »Die moralischen Gesetze müssen niemals nach der menschlichen Schwäche eingerichtet werden, sondern das Gesetz muß heilig, rein, und sittlich vollkommen vorgetragen werden, der Mensch mag beschaffen sein, wie er will«.50

Gerade in dieser Einstellung, behauptet Silber, kann der Mensch »zum vollen Bewußtsein seiner selbst als eines autonomen Wesens« kommen (Silber 1964, 399). Derjenige, der das moralische Gesetz und sein Gebot zum höchsten Gut in seiner Reinheit zur eigenen Maxime setzt, macht sich den transzendenten Maßstab zu eigen. Diese Einstel­ lung ist ersichtlicherweise mit der Achtung vor dem Gesetz verbun­ den, da die Achtung »ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn« ein »durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl« ist bzw. die »unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben« bedeutet (4: 401 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Hieraus tritt zutage, dass sich die Gesinnung gegenüber der Pflicht des höchsten Guts nicht auf die Immanenz-, sondern auf die Transzendenz-Theorie des höchsten Guts beziehen soll. Vorlesung Kants über Ethik, hrsg. von Paul Menzer, im Auftrage der Kant-Gesell­ schaft, Pan Verlag, Rolf Heise, Berlin, 1924, S. 79 f., zitiert nach Silber 1964, 399.

50

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2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts

b. Dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft liegt der Transzendenz-Begriff zugrunde. Das Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft entsteht erst, indem die Transzendenz der Pflicht bezüglich des höchsten Guts gegen­ über dem Können erkannt und akzeptiert wird und sich trotz der Schwierigkeiten ein Gehorchen der Pflicht vornimmt. Wenn der Begriff des höchsten Guts als immanent betrachtet würde, hielte man die Pflicht des höchsten Guts grundsätzlich für ausführbar und das Bedürfnis ließe sich nicht thematisieren. Denn dieses Bedürfnis setzt das Bewusstsein des Defizits eines Könnens voraus. Das Defizit hier bezieht sich auf die Unausführbarkeit der Pflicht aufgrund der Diskrepanz zwischen der Pflicht und dem Können. Das Bewusstsein eigener Mangelhaftigkeit wohnt ursprünglich dem Gefühl der Achtung inne. »Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, ist Achtung«, sagt Kant (5: 257; Hervorhebung der Verf.). Diese Aussage befremdet hier durchaus nicht, denn bereits in Kapitel II wurde gese­ hen, dass das »Sollen« immer das Transzendieren der eigenen Natur fordert und damit das Überwinden der eigenen »Unangemessenheit«. Trotzdem kommt das Bedürfnis der praktischen Vernunft nicht bei jedem Sollen vor. Das Charakteristische am höchsten Gut, das das Bedürfnis der praktischen Vernunft hervorruft, liegt darin, dass die Diskrepanz zwischen dem Vermögen und der Idee des höchsten Guts als theoretischer Widerspruch wahrgenommen wird, auf den der nächste Abschnitt eingehen wird. Wegen des festgestellten theoretischen Problems könnte man die Pflicht selbst infrage stellen. Derjenige jedoch, der in der Achtung vor dem Gesetz jene Pflicht als seine eigene Pflicht wahrgenommen hat, will nicht den Inhalt der Pflicht ändern oder abschwächen. Vielmehr will er eine Maßnahme treffen, die ihm dabei hilft, den theoretischen Widerspruch als gelöst zu betrachten und ungehindert seine Kraft für die Ausführung der Pflicht zu verwenden. Diese Diskussion zum höchsten Gut sowie das Bedürfnis der praktischen Vernunft sollte dazu dienen, das Verbunden-Sein des intellektuellen Interesses am Schönen mit dem Bedürfnis zu klären, welches für die Erweiterung des Geschmacksurteils entscheidend ist. Es ist der Sollens-Anspruch, zu dem die Erweiterung schließlich führt, und eine Charakteristik eines Sollens-Anspruchs liegt darin, dass er eine Forderung auf das Transzendieren der eigenen Natur ist, wie in

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2. Idee des höchsten Guts in Kants Philosophie

Kapitel II gesehen wurde. Später wird noch dargelegt, dass der Urhe­ ber des ästhetischen Sollens-Anspruchs jenes Transzendieren nicht nur vom Adressaten fordert, sondern auch bei der Erweiterung des Geschmacksurteils das Transzendieren selbst erleben muss. Ebenfalls wird später besprochen, dass sich der ästhetische Sollens-Anspruch als Ergebnis der Überlegungen und Bemühungen betrachten lässt, der Pflicht des höchsten Guts nach allen Kräften nachzukommen, auch wenn es das Können zu übersteigen scheint. Dabei berührt das ästhe­ tische Sollen das Konzept der Transzendenz des höchsten Guts, indem man danach strebt, sein Vermögen an den das Individuum überstei­ genden Maßstab anzupassen. In gleicher Hinsicht lässt sich darauf hinweisen, dass das intellektuelle Interesse am Schönen ebenfalls im moralischen Gefühl hervorgerufen wird, wie der § 42 der Kritik der Urteilskraft zu erkennen gibt und wie bereits gesehen wurde. Die Einstellung, unser alltägliches Können zu übersteigen und der tran­ szendenten Vernunftforderung nachzukommen, rührt von derglei­ chen moralischer Gesinnung her. Um die Diskussion über das höchste Gut abzuschließen, sei kurz zusammengefasst, wie die unterschiedlichen Seiten des höchs­ ten Guts – die Immanenz und Transzendenz – verstanden werden sollen. Ein sittlicher Mensch, für den die Idee des höchsten Guts eine Pflicht ist, soll den Begriff des höchsten Guts in Hinsicht auf seine Transzendenz annehmen. Das Immanenz-Konzept zieht hingegen für den Begriff des höchsten Guts eine formale Grenze, damit jene Pflicht als wahre Pflicht, d. h. als ausführbares Gebot, besteht. Das Imma­ nenz-Konzept darf niemals für die Einstellung des Akteurs eingesetzt werden, der gerade seine Pflicht angreift. Wenn sich ein sittlicher Mensch trotz der Transzendenz um die Verwirklichung des höchsten Guts bemüht, soll er auf den Erfolg seiner Bemühungen abzielen und für den Erfolg die Grenze seines Könnens erweitern. Dahingegen bei der Evaluation der abgeschlossenen Pflicht-Ausführung die das Können übersteigenden Elemente beiseitelassen und lediglich die in menschlicher Gewalt stehenden Elemente betrachten. In dieser Hinsicht also nützt der Immanenz-Begriff. Bisher wurden die beiden Seiten des höchsten Guts anhand des Begriffspaars Immanenz und Transzendenz betrachtet.51 Wie klar 51 Viele Interpreten übernehmen die Unterscheidung Silbers aus seinem einfluss­ reichen Aufsatz und differenzieren zwischen dem transzendenten und dem imma­ nenten Begriff des Kantischen höchsten Guts, obzwar diese beiden Begriffe jeweils

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2.3. »Immanenz«- und »Transzendenz«-Begriff des höchsten Guts

geworden ist, ergibt sich das Bedürfnis der praktischen Vernunft durch die Transzendenz-Vorstellung des höchsten Guts. Die Pflicht selbst erscheint zwar nach dieser Vorstellung unausführbar, doch verweigert sich ein Akteur im moralischen Gefühl nicht, diese Pflicht als seine Pflicht anzunehmen. Vielmehr versucht er stattdessen, einen Weg zu finden, um diese Pflicht doch noch als ausführbar betrachten zu können, sodass seine sittliche Motivation zur Verwirklichung des höchsten Guts nicht abgeschwächt wird.52 Wie vorhin gesagt wurde, erfolgt diese Maßnahme in theoretischer Weise, durch die die logische Unstimmigkeit zwischen dem Pflichtsein des höchsten Guts und der Unausführbarkeit desselben aufgelöst werden soll. In diesem Sinne äußert Kant, dass sich dieses Anliegen »selbst für die theoretische Vernunft gehört« (5: 126). Letztendlich richtet sich allerdings die Thematik der praktischen Vernunft auf die Ausführung der Pflicht. Auf diesen Punkt wird nachfolgend eingegangen.

unterschiedlich verstanden und bewertet werden. Darunter sind einige Interpreten, die in Anlehnung an Kants Unterscheidung zwischen natura archetypa und natura ectypa in der Kritik der praktischen Vernunft (5: 43) den transzendenten zum Archetypen und den immanenten zum Ectypen umbestimmen (Auxter 1979; Wike und Showler 2010). 52 Forschner behauptet, dass der Vernunftglaube an die Ausführbarkeit des höchsten Guts zu notwendigen Motiven des vernünftigen und moralischen Handelns des Menschen zählt. Er sagt, dass »nicht nur das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, sondern auch die im Vernunftglauben gegebene Hoffnung auf das höchste Gut nach Kant notwendiges (und beides im Verein notwendiges und zureichendes) Motiv vernünftigen menschlichen Handelns [ist]« (Forschner 2005, 328). Denn »[m]ensch­ liches Handeln ist allemal regelgeleitet und zielorientiert« (333). Ihm sei in dieser Ansicht zugestimmt und in der vorliegenden Untersuchung wird mehrmals die gleiche Ansicht über die Zielorientiertheit des menschlichen Handelns vertreten, obzwar die hiesige Diskussion auf die problematisch erscheinende Pflicht des höchsten Guts begrenzt ist.

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss 3.1.1. Ein theoretisch zu lösendes Problem Nachfolgend soll erläutert werden, dass das Bedürfnis, die Ausführ­ barkeit der Pflicht des höchsten Guts vorauszusetzen, sich nicht nur in praktischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht betrachten lässt. Dieses Bedürfnis bezieht sich einerseits letztendlich auf eine praktische Realität, d. h. auf eine wirkliche Ausführung der Pflicht; andererseits liegt die Befriedigung des Bedürfnisses konkret darin, einen Widerspruch, d. h. ein theoretisches Problem, zu lösen. Der Begriff des höchsten Guts ist eine Idee der Vernunft, weshalb er, wie jede andere Idee, »in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend, seiner objektiven Realität nach bewiesen werden kann« (5: 469). Dies bedeutet: Der Begriff des höchsten Guts verfügt ohnehin über keine objektive Realität im theoretischen Sinne, d. h. über keine theoreti­ sche Feststellung, dass die einschlägige Idee in der Sinnenwelt tat­ sächlich einen ihr adäquat entsprechenden Gegenstand habe. Worauf es bei diesem Begriff ankommt, ist die »objektive, aber praktische Realität« (20: 300; Hervorhebung der Verf.). Die objektive Realität einer Idee im praktischen Sinne bedeutet, dass sie »für den Gebrauch der Freyheit des Menschen Realität hat« (20: 299; Hervorhebung der Verf.). Nach Kant ist der »Endzweck der reinen praktischen Vernunft« das höchste Gut (5: 129). In dieser Bestimmung ist das Vernunftgebot enthalten, das höchste Gut zu verwirklichen, welches den Menschen unmöglich zu sein scheint. Damit die Vernunft dieses Gebot für vernünftig hält, um von ihm tatsächlichen Gebrauch zu machen, muss daher die Realisierungsmöglichkeit des höchsten Guts gesichert werden.

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

Obzwar sich das Bedürfnis der praktischen Vernunft auf die Ausführbarkeit einer Pflicht richtet, hängt das eigentliche Problem des Subjekts, das es zu einem Bedürfnis macht, mit der theoretischen Vernunft zusammen. Die Eingeschränktheit des Ichs als Handelndem besteht darin, dass es sowohl die Natur, von der ein erfolgreiches Hervorbringen der Glückseligkeit abhängt, als auch die Handlungen anderer, mit denen zusammen das Ich die Sittlichkeit im kollektiven Sinne zustande bringen muss, nicht unter Kontrolle hat. Zwischen diesen Verhältnissen und der Pflicht erkennt die theoretische Ver­ nunft eine Unstimmigkeit. Die Ausführung einer Pflicht bzw. einer Handlung setzt einen komplexen Vorgang voraus, in dem nicht nur praktische Tätigkeiten wie die subjektive Willensbestimmung, sondern auch theoretische Mehrfachtätigkeiten wie Urteile enthalten sind. Auf die theoretischen Tätigkeiten wirkt diese Unstimmigkeit negativ ein, sodass die nötige Willensbestimmung verhindert wird.

3.1.2. Folgenschwere Auswirkungen der theoretischen Unstimmigkeit bei der Willensbestimmung Kants Theorie der Willensbestimmung soll eingeführt werden, um zu zeigen, wie ein theoretisches Problem die Willensbestimmung gra­ vierend beeinflussen kann. Kant äußert an mehreren Stellen, dass eine Unterteilung in die objektive sowie in die subjektive Willensbestim­ mung erfolgt (4: 400 f.; 5: 79; 6: 218).53 Dazu wird eine Passage aus der Metaphysik der Sitten zitiert: »Zu aller Gesetzgebung […] gehören zwei Stücke: erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objectiv als nothwendig vorstellt […], zweitens eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjectiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft […]. Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches ein bloßes theoretisches Erkenntniß der mög­ lichen Bestimmung der Willkür, d. i. praktischer Regeln, ist: durch das zweite wird die Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestim­ 53 Grenberg weist darauf hin, dass die objektive und die subjektive Willensbestim­ mung in späteren Schriften Kants wie in der Metaphysik der Sitten und Die Religions­ schrift durch andere Ausdrücke ersetzt werden, d. h. jeweils durch die Bestimmung von Willen und durch die Bestimmung von Willkür (vgl. 6: 213, 6: 27) (Grenberg 2001, 156).

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3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss

mungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjecte verbunden. « (6: 218; alle Hervorhebungen der Verf.).

Bei der objektiven Willensbestimmung stellt man sich das Gesetz bzw. eine praktische Regel vor. Kant erläutert diese »Vorstellung« näher: Sie ist ein theoretisches Erkennen des Gesetzes als »mögliche Bestimmung der Willkür« (ibid.; Hervorhebung der Verf.).54 Das Wort »möglich« bedeutet hier, dass das Gesetz zwar vom Hand­ lungssubjekt objektiv anerkannt, aber noch nicht subjektiv »in seine Maxime aufgenommen« wird (6: 24). Dergleichen Diskrepanz zwi­ schen objektiver und subjektiver Bestimmung rührt von der Beschaf­ fenheit menschlichen Willens her. Er ist ein Wille, »der nicht immer darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sei« (4: 413; Hervorhebung der Verf.). Also »sind die Handlungen, die objektiv als nothwendig erkannt werden, subjektiv zufällig« (ibid., Hervorhebung der Verf.). Weil diese objektive Bestimmung des menschlichen Willens durch eine bloß theoretische Vorstellung des Gesetzes für die tatsächliche Durchführung einer Handlung unzurei­ chend ist, sind Triebfedern – Gefühle der Lust oder Unlust und das Interesse – nötig, damit die Vorstellung auch zum subjektiven Bestimmungsgrund des Willens wird (6: 399). Wenn die theoretische Vernunft bezüglich der praktischen Regel einen Widerspruch feststellte, verhinderte dieses Urteil über den Widerspruch eine tatsächliche Durchführung der möglichen Hand­ lung, die nach der Regel durchgeführt werden soll. Die Feststellung des Widerspruches führte nicht nur zur Nicht-Ausführung der Regel, sondern auch dazu, die Regel selbst infrage zu stellen. Bereits bei der objektiven Willensbestimmung entsteht ein großes Problem. Genau um ein derartiges Problem handelt es sich bei dem Bedürfnis der praktischen Vernunft, wo die betreffende Handlungsregel bzw. Pflicht – wie oben besprochen – mit dem moralischen Gesetz zusammen­ hängt und deshalb der Widerspruch als folgenschwer erachtet werden kann. Dies schildert Kant in § 91 der Kritik der Urteilskraft: »Aber die speculative Vernunft sieht die Ausführbarkeit derselben (weder von Seiten unseres eigenen physischen Vermögens noch der In der Kritik der praktischen Vernunft lassen sich andere Formulierungen für die objektive Willensbestimmung finden, wie die »Anerkennung des moralischen Geset­ zes« und das »Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen« (5: 79).

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

Mitwirkung der Natur)55 gar nicht ein; vielmehr muß sie aus solchen Ursachen, so viel wir vernünftiger Weise urtheilen können, einen solchen Erfolg unseres Wohlverhaltens von der bloßen Natur (in uns und außer uns), ohne Gott und Unsterblichkeit anzunehmen, für eine ungegründete und nichtige, wenn gleich wohlgemeinte Erwartung halten und, wenn sie von diesem Urtheile völlige Gewißheit haben könnte, das moralische Gesetz selbst als bloße Täuschung unserer Ver­ nunft in praktischer Rücksicht ansehen.« (5: 471 Anm.; Hervorhebung der Verf.).

Diese Passage macht ersichtlich, dass das Problem betreffend die spe­ kulative, theoretische Vernunft durch das Urteil über die Bedingungen der Realisierung des höchsten Guts bewusst wird. Dieses theoretische Problem kann dazu führen, dass das moralische Gesetz, das die Pflicht des höchsten Guts auferlegt, als »bloße Täuschung unserer Vernunft« betrachtet wird. Dies bedeutet auch, dass die Ausübung der Pflicht des höchsten Guts bereits bei der objektiven Willensbestim­ mung weitgehend verhindert wird, mehr noch bei der subjektiven. Hinsichtlich jenes Urteils als Tätigkeit der theoretischen Vernunft entsteht die Notwendigkeit, eine Maßnahme zu treffen, wodurch sich

55 Wie hier deutlich wird, ist die Sittlichkeit des Menschen im kollektiven Sinne in der Kritik der teleologischen Urteilskraft nicht als Bedingung berücksichtigt, die die Aus­ führbarkeit des höchsten Guts beeinträchtigt. In einer anderen Passage aus der Kritik der teleologischen Urteilskraft sagt Kant: »In diesem Endzwecke ist die Möglichkeit des einen Teils, nämlich der Glückseligkeit, empirisch bedingt, d. i. von der Beschaffenheit der Natur (ob sie zu diesem Zwecke übereinstimme oder nicht) abhängig, und in theoretischer Rücksicht problematisch; indes der andere Teil, nämlich die Sittlichkeit, in Ansehung deren wir von der Naturmitwirkung frei sind, seiner Möglichkeit nach a priori feststeht und dogmatisch gewiß ist« (5: 453). Hiermit werden die zwei Ebenen der Sittlichkeit gar nicht artikuliert und die grob gefasste Sittlichkeit bleibt vom Thema des Bedürfnisses der praktischen Vernunft abgetrennt. In der Tat schenkt die Kritik der teleologischen Urteilskraft dem Kollektiv des Menschensubjektes nur sparsame Aufmerksamkeit, anders als der andere Teil der dritten Kritik. Dies wahrscheinlich deshalb, weil sich das Hauptprojekt dieses Werkes auf das theoretische Erfassen der Natur-Organismen bezieht. In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft kommt dahingegen der Begriff der Einträchtigkeit der Menschen mehrmals vor und eigentlich ist dort das Interesse an der Einträchtigkeit immer präsent, da einem Geschmacksurteil der Anspruch auf die Einstimmung anderer innewohnt. Vorhin wurde gesehen, dass die transzendente Idee des höchsten Guts als Urbild dessen, was in dieser Welt zu realisieren ist, die menschliche Sittlichkeit auf der kollektiven Ebene als sein Element hat. An dieser Annahme soll festgehalten werden und der Position der Kritik der teleologischen Urteilskraft, die die kollektive Ebene der Sittlichkeit vernachlässigt, wird nicht zugestimmt.

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3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss

jenes Problem auf theoretische Weise ausgleichen lässt, sodass es die Willensbestimmung für die Pflicht nicht länger beeinträchtigt.

3.1.3. Möglichkeit verschiedener Maßnahmen In der eben zitierten Passage sind zwei Maßnahmen angegeben. Hier scheint Kant die Annahmen des Gottes und der Unsterblichkeit als passend zu erachten. Dabei postuliert Kant das Dasein Gottes, das er in allen drei Kritiken behandelt, und das der Unsterblichkeit der Seele, die er in der zweiten Kritik expliziert. Was die Annahme des Daseins Gottes angeht, kann man Kant darin zustimmen, dass sie auch im Kontext der zitierten Passage eine passende theoretische Maßnahme ist. Nach dem dort gefällten Urteil liege das Problem im physischen Vermögen des Menschen und in der Mitwirkung der äußeren Natur. Beides bezieht sich auf das Postulat des Gottesdaseins. Das Dasein Gottes wird deshalb postuliert, weil die Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts wesentlich von der Mitwirkung der Natur abhängt, aber der Mensch »durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein und sie [...] mit seinen prakti­ schen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann« (5:124 f.; Hervorhebung der Verf.). Folglich »wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesam­ ten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert« (5: 125). Dergleichen Ursache nennt Kant Gott. Was die Unsterblichkeit der Seele anbelangt ist jedoch fraglich, ob deren Annahme das dabei entdeckte theoretische Problem lösen kann. Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele entsteht bezüglich »der notwendigen Vollständigkeit des ersten und vornehmsten Teils des höchsten Guts, der Sittlichkeit«, die »nur in einer Ewigkeit völlig aufgelöst werden kann« (5: 124). Bei dem Urteil dort kommt es aber eher auf die Möglichkeit von einem »Erfolg unseres Wohlverhaltens« in der Sinnenwelt an als auf die Vervollkommnung unserer Sittlich­ keit, die nur in der außerirdischen Welt möglich wäre. In der zitierten Passage ist unsere Sittlichkeit – als »Wohlverhalten« – bereits vor­ ausgesetzt und deren Erfolg in der Form der ihr entsprechenden Glückseligkeit, soll sich in der Sinnenwelt, d. h. nicht im Jenseits, befinden. Die »Seiten unseres eigenen physischen Vermögens« und »der Mitwirkung der Natur« werden zum Problem, weil an ihnen

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

der »Erfolg unseres Wohlverhaltens« in der Sinnenwelt hängt (5: 471 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Deshalb löst das Postulat der Unsterblichkeit das hier festgestellte Problem nicht auf. Obzwar die Unsterblichkeit in der zitierten Passage unange­ brachterweise erwähnt wurde, lässt sich anhand jener beiden Begriffe (Gott und Unsterblichkeit), die in Kants Philosophie jeweils als eigenständige Lösung für das Problem des höchsten Guts fungieren, das Folgende feststellen: Es gibt nicht den einen Standpunkt, wenn über die Realisierungsmöglichkeit des höchsten Guts Urteile gefällt werden und über mögliche Maßnahme dafür überlegt wird. Je nach vertretenem Standpunkt lässt sich entsprechend anders urteilen und je nach Urteil lassen sich verschiedene Maßnahmen anschließen. Kant diskutiert in der Tat in vielen seiner Hauptwerke das Problem des höchsten Guts, aber die Art und Weise, wie er es insgesamt betrachtet und löst, ist entfernt von einer Einzigkeit. Die Zuordnung zu den verschiedenen Standpunkten erfolgt anhand zweier Kriterien: (1) Richtet der Standpunkt sich auf die Möglichkeit der Sittlichkeit oder auf die der Glückseligkeit aus?; (2) Ist er irdisch oder überirdisch?56 Die Verschiedenheit der Standpunkte scheint wichtig, weil sie andeutet, dass die Kritik der ästhetischen Urteilskraft auch einen eigenen Standpunkt zeigen könnte, der bei der Erweite­ rung des Geschmacks eine entscheidende Rolle spielt. Das Postulat des Daseins Gottes und das der Unsterblichkeit der Seele in der Kritik der praktischen Vernunft sind gute Beispiele für (1). Das erstere bezieht sich auf die Möglichkeit der Glückseligkeit und das letztere auf die der Sittlichkeit. Was (2) angeht, ist das letztere völlig Es gibt nicht wenige Interpreten, hauptsächlich aus dem englischsprachigen Raum, die Silbers Unterscheidung des Begriffs des höchsten Guts zu ihrem eigenen inter­ pretatorischen Ausgang machen und Silbers Immanenz-Begriff als säkular (»secular«) neu interpretieren. Ihrer Ansicht nach gelte der andere Begriff des höchsten Guts, den sie als theologisch (»theological«) bezeichnen, nicht mehr (Siehe Caswell 2006, 186 f. und Pasternack 2017, 441 f.). Ihre Ansicht lässt sich dadurch unterstützen, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft das höchste Gut öfter als etwas beschreibt, was »in der Welt« verwirklicht werden soll (Pasternack 2017, 442; siehe auch Guyer 2011). Auch in der vorliegenden Untersuchung werden die Bemühungen um die Verwirkli­ chungsmöglichkeit des höchsten Guts in der Welt akzentuiert. Dies liegt jedoch nicht daran, dass einer der Begriffe desselben vor einem anderen bevorzugt wird. Vielmehr beschränkt sich diese Untersuchung auf die Erweiterung des Geschmacksurteils, das von der ästhetischen Erfahrung der sinnlichen Welt ausgeht. Es wird die Ansicht ver­ treten, dass die Bestimmung des Orts der Verwirklichung des höchsten Guts sowohl von den Umständen abhängt, denen das Subjekt unterliegt, als auch von seinem eige­ nen Interesse. 56

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3.1. Praktisches Bedürfnis, welches auf theoretische Weise befriedigt werden muss

überirdisch. Aber das Postulat vom Dasein Gottes kann beiderseitig sein. Es ist einerseits eine metaphysische Maßnahme, Gott als eine übersinnliche Intelligenz anzunehmen. Andererseits ist es die Natur, also die Sinnenwelt, die Gott als ihre oberste Ursache beeinflussen soll. Es ist eine Maßnahme für die Realisierung des höchsten Guts in dieser irdischen Welt. Dahingegen ist der Ort der Realisierung des höchsten Guts beim Postulat der Unsterblichkeit der Seele keine irdi­ sche Welt mehr. Eine Diskrepanz in Kants Theorie des höchsten Guts zeigt sich in seiner zweiten Kritik, wo die Glückseligkeit im genauen Verhältnis zur Sittlichkeit erreicht werden soll, aber die Glückseligkeit in der Sinnenwelt und die Sittlichkeit in der übersinnlichen Welt verwirklicht wird (vgl. Guyer 2011, 104). Ein Blick in die Religionsschrift zeigt bezüglich des höchsten Guts, dass eine scheinbar gleiche Annahme, die als Maßnahme gegen das bewusste Problem des höchsten Guts vorgeschlagen wird, durch­ aus von unterschiedlichen Urteilen über das Problem herrühren kann. Hier ist von der Annahme des Daseins Gottes die Rede. In drei Kri­ tiken Kants wird Gott als moralischer Welturheber betrachtet, der als die höchste Intelligenz der Natur gegenüber moralisch-gesetzgebend ist (KrV A 815 = B 843, 5: 125, 5: 450, 455 f.) und zudem für die Glückseligkeit zuständig ist (v. a. 5: 450). Dahingegen wird in der Religionsschrift Gott als Maßnahme für die Sittlichkeit der mensch­ lichen Gattung postuliert, indem seine Funktion als Gesetzgeber der »Tugendgesetze« für das ethische Gemeinwesen beschrieben wird (6: 99). In der Religionsschrift wird das Problembewusstsein bezüglich des höchsten Guts dahin gehend erläutert, dass »das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen mora­ lischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird« (6: 97; Hervorhe­ bung der Verf.). Dergleichen Problembewusstsein betreffend die Sitt­ lichkeit als oberste Bedingung des höchsten Guts unterscheidet sich von dem in der zweiten Kritik, in der die Annahme der Seelenunsterb­ lichkeit als Lösung des festgestellten Problems vorgeschlagen wird, und zwar darin, dass es in der Religionsschrift nicht auf die Vollkom­ menheit der Sittlichkeit eines einzelnen Menschen ankommt, son­ dern auf die Sittlichkeit, die alle Menschen zusammen in ihrer Verei­ nigung erreichen sollen (Guyer 2011, 111 und 113). Um der letzteren Art der Sittlichkeit willen ist die Idee des ethischen Gemeinwesens nötig und für die Realisierung desselben wird Gott als Gesetzgeber der Tugendgesetze vorausgesetzt, was das ethische Gemeinwesen erhält.

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

Bemerkenswert scheint die nicht überirdische, sondern irdische Perspektive Kants auf die Sittlichkeit der Menschengattung, obwohl er den Begriff des Gottes hinsichtlich des ethischen Gemeinwesens einführt. Aus der Überschrift des Dritten Stücks der Religionsschrift, in dem die Theorie des ethischen Gemeinwesens erläutert ist, lässt sich entnehmen, dass das ethische Gemeinwesen »auf Erden« gegrün­ det werden soll (6: 93). Außerdem äußert Kant explizit, dass nicht die Einmischung des Gottes, sondern höchste Anstrengungen der Men­ schen die erste Bedingung für die Errichtung des ethischen Gemein­ wesens sein müssen. Der Mensch »muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Voll­ endung werde angedeihen lassen« (6: 100 f.). Es wird die Ansicht vertreten, dass die sich auf die kollektiv zu konstituierende Sittlichkeit beziehende und irdische Lösung des Pro­ blems des höchsten Guts auch in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ersichtlich ist. Dies wird sich im Lauf der späteren Kapitel zeigen. Nachdem die verschiedenen Perspektiven auf dasselbe höchste Gut bedacht wurden, fragt sich nun, wie sie sich zueinander verhalten und in welcher Weise die einzelnen Möglichkeiten sich ihre jeweilige Gültigkeit sichern können. Diese Fragen lassen sich beantworten, indem der Zusammenhang zwischen dem Begriff des Bedürfnisses und dem des Interesses untersucht werden. Zunächst werden die allgemeinen Begriffe des Bedürfnisses und des Interesses erläutert und aufbauend darauf der konkrete Inhalt und die Funktion des intellektuellen Interesses bei der Erweiterung des Geschmacks rekon­ struiert. Auf dieses Thema wird in Kapitel IV eingegangen.

3.2. Erweiterung des theoretischen Erkenntnisvermögens um des höchsten Guts willen in der zweiten und dritten Kritik Vor dem Übergang zum nächsten Kapitel lässt sich aufgrund des bisher Überlegten die Implikation des Transzendenz-Begriffs des höchsten Guts ergänzen. Dieser Begriff entspricht einerseits der prak­ tisch hochgradig engagiert scheinenden Gesinnung, eine anschei­ nend unausführbare Pflicht aufzugreifen, wie bereits gesehen wurde. Anhand der verschiedenen Möglichkeiten der theoretisch getroffenen Maßnahmen lässt sich erkennen, dass die Ausführung solcher Pflicht

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3.2. Erweiterung des theoretischen Erkenntnisvermögens

nicht nur dergleichen Gesinnung der Entschiedenheit einfordert, sondern auch die Erweiterung unserer theoretischen Erkenntniskräfte von der alltäglichen Verwendung hin zu einer anderen Ebene. Darauf soll eingegangen werden. Der Übergang des Subjekts eines reinen Geschmacksurteils ver­ mittels eines intellektuellen Interesses hin zur noumenalen Ebene wurde als Erweiterung des Geschmacksurteils bezeichnet. Dieser Ausdruck war kein beliebiger, sondern eine Entlehnung aus § 57 der Kritik der Urteilskraft, die »eine erweiterte Beziehung der Vorstel­ lung des Objekts (zugleich auch des Subjekts)« formuliert (5: 339). Die Kritik der praktischen Vernunft lässt aber erkennen, dass Kant in einer Diskussion über das höchste Gut gerade den Ausdruck »Erweiterung« gebraucht: »Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntniß als speculativ zugleich zu erweitern, zu denken möglich sei?« (5: 134 f.). Die »Erweiterung der reinen Vernunft in praktischer Absicht« bedeutet hier, die objektive Realität der Ideen der Freiheit, des Got­ tes und der Unsterblichkeit der Seele theoretisch anzunehmen, die dafür vorausgesetzt werden müssen, »das nothwendige Object der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen« (5: 135). Dies besagt natürlich nicht, dass irgendeine Anschauung diesen Ideen entspräche. Kant sagt, dass die Erweiterung »noch nicht Erkenntniß dieser Objecte« sei (ibid.). Es ist also »keine Erweiterung der Erkenntniß von gegebenen übersinnlichen Gegenständen, aber doch eine Erweiterung der theoretischen Vernunft und der Erkenntniß derselben in Ansehung des Übersinnlichen überhaupt, so fern als sie genöthigt wurde, daß es solche Gegenstände gebe, einzuräumen, ohne sie doch näher [zu] bestimmen« (ibid.). Die reine spekulative Vernunft wird »durchs praktische Gesetz, welches die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet«, dazu »berechtigt«, dass »jene für sie sonst problematische (blos denkbare) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objecte zukommen« (5: 134; Hervorhebung der Verf.). Die theoretische Vernunft hält diese Ideen im üblichen Fall lediglich für problematisch. Problematische Urteile, so Kant in der Logik, sind »mit dem Bewußtsein der bloßen Möglichkeit […] beglei­ tet« (9: 108; vgl. KrV A 254 = B 310). Jedoch verleiht das moralische Gesetz, das die Pflicht des höchsten Guts gebietet, der theoretischen Vernunft das Recht, diesen Ideen das »Bewußtsein der Wirklichkeit«

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3. Erweiterung des theoretischen Vermögens in praktischer Absicht

(ibid.) zuzuschreiben. Auf diese Art von »Recht« wird in den nächsten Kapiteln zurückgegriffen. Später wird zudem festgestellt, dass auch die Erweiterung des Geschmacksurteils durch die Autorität desselben Gesetzes ausgelöst sowie berechtigt wird. Jedoch ist diesmal das Erkenntnisvermögen, das die Erweiterung erlebt, nicht die reine theoretische Vernunft. Die reine theoretische Vernunft führt eine reine Spekulation zum Lösen des Problems des höchsten Guts durch, d. h. ohne dabei ein empirisch Gegebenes hinzuzuziehen. Aber die Erweiterung des Geschmacksur­ teils geht von einer Beobachtung des Naturschönen aus. Sie rührt davon, dass sich das Subjekt des Geschmacksurteils für ein Indiz der Natur interessiert, das die Natur als für die Realisierung des höchsten Guts in ihr günstig beschaffen interpretieren lässt. Es ist die reflektierende Urteilskraft, die sich hierdurch erweitert. Anhand eines schönen Gegenstandes ist im üblichen Fall die reflektierende Urteilskraft als freies Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes tätig. In diesem Fall verlässt dieses Vermögen diese Ebene und bewegt sich auf eine andere Ebene. In Kapitel II wurde festgestellt, dass das Sollen überhaupt eine Transzendenz des Subjekts über seine eigene Natur hinaus beinhal­ tet und das ästhetische Sollen ebenfalls dazu gehört. Es wird die Ansicht vertreten, dass das ästhetische Sollen mit dem intellektuellen Interesse am Schönen untrennbar zusammenhängt, und zwar in der Erweiterung des Geschmacksurteils. An dieser Stelle besteht die Gele­ genheit zu erhellen, inwiefern sich die Erweiterung des Geschmacks­ urteils bzw. der reflektierenden Urteilskraft als Transzendenz der eigenen Natur betrachten lässt. Wie in Kapitel I besprochen wurde, beschreibt Kant das freie Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes als Lebensgefühl. Dies stimmt insofern mit der Natur des Menschen gut überein, als es innere Kausalität in sich trägt, die den Urteilenden bei der Betrachtung des Schönen »ohne weitere Absicht« »weilen« lässt (5: 222). Es wird verweilt, »weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproducirt« (ibid.). Durch ein intellektuelles Interesse geht aber das Subjekt über diese attraktive Tätigkeit der Erkenntniskräfte hinaus und bewegt sich in einer Spekulation über die Natur auf eine ganz andere Ebene. Diese Spekulation stimmt mit jener Spekulation der reinen Vernunft aus der zweiten Kritik darin überein, dass sie fragt, wie man anhand der vorliegenden Indexe der Natur die Pflicht des höchsten Guts

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3.2. Erweiterung des theoretischen Erkenntnisvermögens

für ausführbar halten könnte. Die Spekulation über den schönen Naturgegenstand weicht von der Spekulation der reinen Vernunft ab, dass sie ohne das empirisch Gegebene keinen Anfang nimmt. Sie richtet sich darauf, im Ausgang von dem Gegebenen ein System des Denkens zu entwerfen, welches zweckmäßig für die objektive Realität des Endzwecks der Vernunft, d. h. des höchsten Guts ist. Das menschliche Vermögen, dort, wo ein bestimmtes Ziel angegeben, aber kein Weg dazu festgelegt ist, diesen Weg mithilfe der Zusammenwir­ kung der Einbildungskraft und der theoretischen Vernunft (bzw. des Verstandes) zu ersinnen, ist die reflektierende Urteilskraft. Näheres zu Kants Vorstellung der Spekulation des Subjekts bei der Erweiterung des Geschmacksurteils soll in Kapitel V besprochen werden. Im nächsten Kapitel soll zunächst das charakteristische Ver­ halten des Subjekts bei der Erweiterung berechtigt werden.

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IV. Befugnis zur Erweiterung des Geschmacksurteils

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

Das Bedürfnis der praktischen Vernunft mit seinem Bezug auf das höchste Gut wurde bisher ebenso erläutert wie die Weise, in der es zugleich der Erweiterung des Geschmacksurteils zugrunde liegt, wie der § 42 der Kritik der Urteilskraft nahelegt. Was Kant aber aus­ drücklich in Zusammenhang mit jener Erweiterung bringt ist nicht das Bedürfnis, sondern das Interesse der Vernunft. Zwar konnte ver­ mutet werden, dass dem Interesse das Bedürfnis der praktischen Ver­ nunft zugrunde liegt. Trotzdem ergibt sich das Erfordernis, das Ver­ hältnis zwischen dem Bedürfnis und dem Interesse bei dieser Erweiterung genau zu erläutern. Denn in Kants Begriffsverwendung von Bedürfnis und Interesse ist nicht so klar, in welcher Hinsicht sich beide Begriffe voneinander unterscheiden lassen. Einerseits verwendet Kant beide Begriffe hinsichtlich der menschlichen Vernunft oft ohne klare Unterscheidung, andererseits scheinen sie sich, von einem kleinen Unterschied abgesehen, zu ähneln. Es ist außerdem nicht leicht, in der Kant-Literatur gründliche Auseinandersetzungen zu diesem Unterschied zu finden. Auch in den beiden wichtigsten Monografien, die sich dem Kantischen Inter­ essenbegriff widmen, namentlich Kants Begriff »Vernunftinteresse« von Pascher (1991) und Das Interesse der Vernunft von Hutter (2003), ist das der Fall. Pascher erklärt bereits eingangs, dass »wir davon ausgehen können, daß Kant die Begriffe »Vernunftinteresse« und »Vernunftbedürfnis« synonym gebraucht« (Pascher 1991, 19). Hutter äußert zwar, dass »die Begriffe »Bedürfnis« und »Interesse« […] nicht genau dasselbe bedeuten« (Hutter 2003, 34), geht aber an keiner Stelle auf den Unterschied ein. Unter diesen Umständen werde ich versuchen, Kants Verwen­ dungen der zwei Begriffe zu mustern, um schließlich den Unterschied zwischen ihnen zu bestimmen. Dabei soll weder eine vollständige Ausführung von Kants Verwendungen dieser Begriffe erfolgen noch die Vorlage einer allgemein anwendbaren Klärung des Unterschieds,

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

sondern es soll eine Begriffserklärung entstehen, welche den Vorgang der Erweiterung des Geschmacks plausibilisiert.

1.1. Verwandte Beziehung zwischen Bedürfnis und Interesse »Bedürfnis« und »Interesse« rühren beide von dem endlichen Charak­ ter des Menschen als eines vernünftigen Wesens her. Pascher merkt zu dem Kantischen Begriff »Vernunftinteresse« das Folgende an: »Nur auf die Vernunft eines endlichen Wesens – und wir kennen nur ein endliches vernünftiges Wesen, den Menschen – kann der Begriff bezogen werden. Weder ist er auf die göttliche Vernunft noch auf ein prävernünftiges Wesen anwendbar« (Pascher 1991, 17).

Dies gilt auch für den Begriff »Bedürfnis«. Als vorhin das Bedürfnis der praktischen Vernunft ausführlich besprochen wurde, war vom Bedürfnis der spekulativen Vernunft gar keine Rede. Jedoch hat auch die spekulative Vernunft ein eigenes Bedürfnis. Die Vernunft des Menschen beabsichtigt die höchste systematische Einheit sowohl in praktischer wie auch in spekulativer Hinsicht. Beim Ersteren geht es um die Realisierung des höchsten Guts in harmonischer Einheit mit der äußeren Natur und der menschlichen Willensbestimmung. Beim Letzteren kommt es auf die absolute Vollständigkeit der Erkennt­ nis an. Das Erreichen von beiden Zielen befindet sich jedoch auf der übersinnlichen Ebene und solcher Erfolg lässt sich durch menschliches Können nicht sichern. Dennoch sind die Ziele der menschlichen Vernunft eigen und folglich notwendig. Deshalb sind die Bedürfnisse der menschlichen Vernunft immer mit dem defizitären Zustand des Menschen verbunden, der mit der nach den höchsten Zielen streben­ den Vernunft geboren ist, wobei aber das Streben unendlich sein muss. Durch den Ausdruck »Bedürfnis« wird ein Akzent auf diesen speziellen Zustand des Menschen gesetzt, in dem sich der Mensch von der »Natur« (KrV B 22; A 797 = B 825) seiner Vernunft sowie seines sinnlichen und zugleich vernünftigen Wesens her befindet. Trotz ihrer Gemeinsamkeit des Begrenztseins auf die endlichen Vernunftwesen unterscheiden sich diese Begriffe voneinander. Beim Kantischen Begriff des Bedürfnisses geht es um die »Zufriedenheit mit seinem Zustande« (5: 25), »die nicht etwa ein ursprünglicher

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1.1. Verwandte Beziehung zwischen Bedürfnis und Interesse

Besitz« (ibid.) ist. in dieser Hinsicht formuliert Achim Vesper in seinem Beitrag über den Begriff »Bedürfnis« im Kant-Lexikon in drei Bänden, dass die gewollte Zufriedenheit bei den endlichen Wesen deshalb »ein Problem ist« (Vesper 2015, 230). Diese Wortwahl passt zu Kants eigener Formulierung zum Bedürfnis der Vernunft, sodass solches Bedürfnis durch »vorausgehende nothwendige Probleme« begründet ist (5: 142 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Das Kantische Interesse der Vernunft lässt sich hingegen als frei­ willige Entscheidung verstehen und als der durch die notwendigen Probleme genötigte Trieb, welchen Kant als Bedürfnis bezeichnet.57 Genau in dieser Hinsicht soll im vorliegenden Kapitel die Unterschei­ dung zwischen dem Kantischen Bedürfnis- und dem Interessensbe­ griff getroffen werden, um schließlich das Verhältnis zwischen dem intellektuellen Interesse am Schönen (§ 42 der dritten Kritik) und dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft zu erläutern. An dieser Stelle soll unterstrichen werden: Was die reine prak­ tische Vernunft betrifft, geht das Bewusstsein des Bedürfnisses der Aktivierung des Interesses voran. Dies beschreibt Pauline Kleingeld bei ihrem Erläutern des Begriffs des Vernunftbedürfnisses so: Bei Kants Anwendung des Begriffs »Bedürfnis« ist »vorausgesetzt, daß, wenn ein Subjekt sich eines Bedürfnisses bewußt ist, es Befriedigung suchen und nach demjenigen verlangen wird, was voraussichtlich das Bedürfnis befriedigt« (Kleingeld 1995, 91).58 Und dieses Verlangen bezieht sich auf ein Interesse: »Wer sich eines Bedürfnisses bewußt ist, nimmt ein Interesse an demjenigen, was das Bedürfnis voraus­ sichtlich befriedigen wird« (Kleingeld 1995, 92). Zwar sind diese Aussagen Kleingelds nicht ausdrücklich auf die reine praktische Ver­ nunft begrenzt, doch weisen sie auf den Fall derselben hin, indem das Bedürfnis dem Interesse vorangeht. Denn Kant erklärt – wie später ausführlich erläutert wird –, dass das Bedürfnis der spekulativen Vernunft, wenn es dem der praktischen Vernunft nicht untergeordnet wäre, durch ein rein theoretisches Interesse aufgegeben werden könne

Kant sagt, dass die Vernunft »durch eigenes Bedürfnis getrieben« wird (KrV B 21). Hiermit soll ein Bezug zur als Erstes genannten Möglichkeit in der folgenden Passage hergestellt werden, in der Kant die Verwandtschaft zwischen den zwei Begrif­ fen beschreibt: »Alles Interesse setzt Bedürfniß voraus, oder bringt eines hervor« (5: 210). Und zugleich wird Vespers Interpretation dieser Passage widerlegt, bei der er die erste Möglichkeit ausschließlich der Ebene der Neigung und die zweite der Ebene der Vernunft zuschreibt und dadurch den betonten Punkt verpasst (Vesper 2015, 231). 57

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

und damit in rein theoretischer Hinsicht das Bedürfnis der Vernunft ein Interesse voraussetzen könne. Obgleich das Hauptanliegen auf das Bedürfnis der praktischen Vernunft gerichtet bleiben soll, wird zunächst der Fall der spekulativen Vernunft betrachtet, der dennoch die Charakteristiken des Bedürfnisund des Interessenbegriffs zeigt. Diese sind die Unumgänglichkeit des Bedürfnisses und die Freiwilligkeit des Interesses.

1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants Es sei zunächst darauf eingegangen, wie Kant in der ersten und dritten Kritik das Bedürfnis der spekulativen Vernunft behandelt und inwie­ fern es mit der Unumgänglichkeit verbunden wird. Auch wird darauf hingewiesen, dass solch ein Bedürfnis durch die Annahmen gestillt werden kann, die mit den ursprünglichen Erkenntnisbedingungen des Menschen zusammenhängen und folglich transzendentale Stel­ lung haben. Danach wird anhand der Antinomielehre der ersten Kritik über­ prüft, wie Kant den Begriff des Interesses verwendet, um schließlich festzustellen, dass es hier um die freiwillig entschiedene Auswahl unter den verschiedenen Möglichkeiten geht. Schließlich wird der schwankende Status des Bedürfnisses der spekulativen Vernunft besprochen mitsamt seiner Integrationsmöglichkeit hinsichtlich des Bedürfnisses der praktischen Vernunft.

1.2.1. Unumgänglichkeit des Bedürfnisses der theoretischen Vernunft Im dritten Kapitel wurde gesehen, dass das Bedürfnis der praktischen Vernunft mit einem notwendigen und dringenden Problem betref­ fend die Ausführbarkeit der Pflicht zusammenhängt. Was für ein notwendiges Problem liegt dann dem Bedürfnis der spekulativen Vernunft zugrunde? Zunächst soll ein Blick in die erste Kritik erfolgen. Im dritten Hauptstück der Transzendentalen Dialektik befasst sich Kant mit dem »dringenden Bedürfnis der [spekulativen] Vernunft« (KrV A 583 = B 611; Hervorhebung der Verf.). Hier erläutert Kant das Bedürfnis

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1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants

der spekulativen Vernunft hinsichtlich einer notwendigen Annahme eines Urwesens. Nach Kant hegt die spekulative Vernunft die Absicht auf eine vollständige Erkenntnis der Dinge, welche sich durch das Prinzip der durchgängigen Bestimmung als möglich denken lässt. Ein Ding wird durchgängig bestimmt, wenn »ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß« (KrV A 571 = B 599 f.). »Die durchgängige Bestim­ mung ist folglich ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Tota­ lität nach darstellen können« (KrV A 573 = B 601). Deshalb ist der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung nur eine Forderung der Vernunft (Ferrari 1998, 499). Wichtig bleibt, dass dieser Grundsatz nur unter der Annahme eines göttlichen Urwesens funktioniert, welches »sowohl der Inbegriff aller möglichen Sachhaltigkeit (omnitudo realitatis, ens realissimum) als auch deren Ursprung (ens perfectissimum)« ist (Höffe 2004, 260). Denn »die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, indem Einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird« (KrV A 577 = B 605; Hervorhebung der Verf.). In dieser Hinsicht sagt Kant, dass das »dringende[] Bedürfnis der Vernunft« darin besteht, »etwas vorauszusetzen, was dem Verstande zu der durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vollständig zum Grunde liegen könne« (KrV A 583 = B 611), d. h. das Urwesen vorauszusetzen. Ohne diese »Hypothese«59 der unbedingten Gottheit lässt sich die »Reihe« der Gründe in der systematischen Forschung zur vollständigen Erkenntnis nicht abschließen und der »Boden« der Art und Weise, wie die menschliche spekulative Vernunft zur Erkenntnis der Dinge funktioniert, »sinkt« (KrV A 584 = B 612). Dies besagt, dass das Bedürfnis der spekulativen Vernunft ebenfalls mit dem gewichtigen und notwendigen Problem verknüpft ist. In der zweiten Kritik, wo der Inhalt der ersten Kritik hinsichtlich dieser Thematik kurz wiedergegeben wird, äußert Kant zum Bedürfnis der spekulativen Vernunft:

59 »Hypothese« ist das Wort, das Kant zum Kontrast zwischen dem Bedürfnis der spekulativen und dem der praktischen Vernunft einführt: »Ein Bedürfniß der reinen Vernunft in ihrem speculativen Gebrauche führt nur auf Hypothesen, das der reinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten« (5: 142).

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

»Ohne solche vorausgehende nothwendige Probleme giebt es keine Bedürfnisse, wenigstens nicht der reinen Vernunft; die übrigen sind Bedürfnisse der Neigung« (5: 142 Anm.; Hervorhebung der Verf.).

In der dritten Kritik, in deren Rahmen diese Arbeit die Erweiterung des Geschmacksurteils behandelt, wird das Bedürfnis der spekulativen Vernunft hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Natur thematisiert, die in Bezug auf das Bedürfnis der Vernunft in den vorausgehenden Kritiken nie in die Mitte der Diskussion gerückt wurde (5: 142). Diese Verwendungsfälle von »Bedürfnis« finden sich in beiden Fassungen der Einleitung zur dritten Kritik, in denen der logische Gebrauch der Urteilskraft im Vordergrund steht. Bei diesem Gebrauch der Urteilskraft geht es um die systematische Einheit der empirischen Erkenntnisse. Obzwar sich die Ausführungen darüber in zwei Fas­ sungen der Einleitung im Detail voneinander unterscheiden, haben sie einen gemeinsamen Schlüsselbegriff: das Bedürfnis. Kant sagt in der ersten Einleitung, dass Subjekte beabsichtigen, »in das Aggregat empirischer Gesetze, als solcher, wo möglich einen Zusammenhang, als in einem System, zu bringen, indem wir der Natur eine Bezie­ hung auf dieses unser Bedürfnis beylegen« (20: 205). Der gleiche Inhalt wird in der zweiten Einleitung wiedergegeben wie folgt: Ein »durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung« (5: 183) muss stattfinden, und zwar »einer nothwendigen Absicht (einem Bedürfniß des Verstandes60) gemäß« (5: 184; Hervorhebung der Verf.). Kants Unterstreichen der Notwendig­ keit des Bedürfnisses der spekulativen Vernunft wird erneut deutlich. Die transzendentale Bedeutung der das jeweilige Bedürfnis befriedigenden Lösungen Kants scheint bemerkenswert. Die Lösung für das Bedürfnis der vollständigen Erkenntnis der einzelnen Dinge war die Annahme des Urwesens. Um den Begriff eines Dinges im Grad der Vollständigkeit zu erhalten, muss man es »mit dem Inbe­ griffe aller möglichen Prädicate« dahin gehend vergleichen, ob ein Prädikat bejaht oder verneint werden soll (KrV A 573 = B 601; siehe auch A 574 = B 602). Dergleichen Erwägung ist, so betont Kant, nicht logisch, sondern transzendental. Folglich gewinnt die Annahme des Urwesens, die dieser transzendentalen Erwägung zugrunde liegt, auch transzendentale Bedeutung. Auch in dieser Hinsicht wird die Unumgänglichkeit dieser Annahme deutlich, da die durchgängige Bestimmung aufgrund dieser Annahme die einzige Art und Weise ist, 60

Mit dem »Verstand« ist hier die spekulative Vernunft gemeint.

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1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants

auf die sich für die menschliche Vernunft zur vollständigen Erkenntnis nicht verzichten lässt. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur, das Kant als Lösung für das Bedürfnis der systematischen Vorstellung der empirischen Naturgesetze vorgegeben hat, ist ebenfalls transzendental. Der Begriff der Zweckmäßigkeit zeigt, so Kant, »die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durch­ gängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen« (5: 184). Im gleichen Sinne betont Kant, dass »wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzu­ stellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden« (5: 185). Dies lässt erkennen, dass das Prinzip der Zweckmäßigkeit ein transzendentales Prinzip ist (5: 181) und insofern für die weitere Naturforschung unumgänglich ist.

1.2.2. Freiwilligkeit des Interesses der theoretischen Vernunft Kants Verwendung des Interessenbegriffs in der Kritik der reinen Ver­ nunft kommt vor allem im Dritten Abschnitt der Antinomie der reinen Vernunft zum Vorschein, der mit dem Titel »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« versehen ist (KrV A 462 = B 490). Die Antinomie der reinen Vernunft ist der Widerstreit zwischen zwei Sätzen, d. h. zwischen »Gründen« (Thesen) und »Gegengrün­ den« (Antithesen) in Bezug auf eine Bestimmung der kosmologischen Ideen (KrV A 464 = B 492). Im Dritten Abschnitt vertritt Kant die Ansicht, dass dieser Widerstreit eher durch Verschiedenheit des Interesses als durch rein unparteiische Suche nach dem »logischen Probierstein der Wahrheit« zustande kommt (KrV A 465 = B 493). Dass die zwei Positionen von unterschiedlichen Prinzipien ausgehen (KrV A 465 = B 493) besagt auch die Verschiedenheit des Interesses, das sie jeweils haben. Dies wird nachfolgend angesprochen. Kant bezeichnet die Position der Thesen als »Dogmatism der reinen Vernunft« (KrV A 466 = B 494), da sie um ihres praktischen Interesses bezüglich der »Grundsteine der Moral und Religion« willen über die Grenze der Erfahrung hinausgeht (ibid.). Im Gegensatz dazu geht es bei der Antithese um »ein Principium des reinen Empirismus« (ibid.). Dort »findet sich […] kein solches praktisches Interesse aus reinen Prinzipien der Vernunft, als Moral und Religion bei sich

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

führen« (KrV A 468 = B 496). Dies bedeutet, dass die Divergenz zwischen Thesen und Antithesen bloß durch Verschiedenheiten des Interesses in praktischer Hinsicht verursacht werden kann, obwohl die Gegensätze zwischen ihnen prima facie wie rein theoretische Konflikte aussehen. Die Verschiedenheit des Interesses lässt sich auch in rein theore­ tischer Hinsicht beobachten. Die zwei Positionen folgen also eigenem spekulativem Interesse, das sich jeweils auf einen theoretischen Vorteil bezieht. Hinsichtlich des spekulativen Interesses der Vernunft hat die dogmatische Position den Vorteil, dass »man völlig a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen, und die Ableitung des Bedingten begreifen [kann], indem man vom Unbedingten anfängt, welches die Antithesis nicht leistet« (KrV A 467 = B 495). Die empiristische Position »bietet aber […] Vorteile an, die sehr anlockend sind und diejenigen weit übertreffen, die der dogmatische Lehrer der Vernunf­ tideen versprechen mag« (KrV A 468 = B 496). Der Vorteil des Empirismus ist nichts anderes, als dass der Verstand »auf seinem eigentümlichen Boden […] seine sichere und faßliche Erkenntnis ohne Ende erweitern kann« (ibid.). Dahingegen trägt der Dogmatis­ mus in striktem Sinne gar nicht zur Erweiterung der Erkenntnis bei. Dies zeigt, dass es bei der Antinomie der reinen Vernunft nicht nur in praktischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht auf Präferenz und Vorteile ankommt, die einem Subjekt eigen sind und sein eigenes Interesse bestimmen. Obzwar Kant im Dritten Abschnitt sagt, dass es ein »praktisches Interesse [ist], woran jeder Wohlgesinnte, wenn er sich auf seinen wahren Vorteil versteht, herzlich Teil nimmt« (KrV A 466 = B 494; Hervorhebung der Verf.), ist es im spekulativen Interesse genauso der Fall, dass das Bewusstsein von Vorteilen und von eigener Präferenz unter möglichen Vorteilen eine Rolle spielt. Diese Tatsache entspricht der wichtigen Aussage Kants aus der Kritik der praktischen Vernunft, dass »alles Interesse zuletzt praktisch ist« (5: 121; Hervorhebung der Verf.). Damit ist gemeint, dass auch ein spekulatives Interesse, obwohl es von der Absicht der theoretischen Vernunft herrührt, bei dem konkreten Gebrauch von Erkenntniskräf­ ten zur Befriedigung der Absicht letztlich auf das Praktische ange­ wiesen bleiben muss. In den Antithesen der Antinomie der reinen Vernunft spielt zwar das praktische Interesse an »Grundsteine[n] der Moral und Religion« (KrV A 466 = B 494) gar keine Rolle. Was aber zur Entscheidung für eine der möglichen Maximen wichtig ist, reicht über eine rein theoretische Suche nach der Wahrheit hinaus

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1.2. Bedürfnis und Interesse in der theoretischen Philosophie Kants

und wurzelt in einem Interesse als praktischem Faktor. Dies lässt sich wiederum durch eine weitere Äußerung Kants bestätigen, die sich an der eben zitierten Stelle aus der zweiten Kritik anschließt: »und selbst das [sc. Interesse] der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist« (5: 121; Hervorhe­ bung der Verf.).

Über die erfolgte Diskussion der Funktion des Interesses in der Anti­ nomielehre aus der ersten Kritik lässt sich zusammenfassend sagen: Die Antinomie der reinen Vernunft kann als Widerstreit zwischen verschiedenen Interessen der Vernunft betrachtet werden, wie Kant selbst äußert: Es ist »bloß ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht« (KrV A 666 = B 694). Der Begriff der Verschiedenheit des Interesses lässt sich auf den Kontrast zwischen dem Bedürfnis und dem Interesse hin zuspitzen. Die Verschiedenheit des Interesses lässt sich so interpretieren, dass man bezüglich des Interesses unter mehreren Möglichkeiten wählen kann. Wenn die Befriedigung des Bedürfnisses der spekulativen Ver­ nunft mit der unumgänglichen Absicht zusammenhängt, kann man sich für ein Interesse entscheiden, und zwar je nach eigener Präferenz bzw. eigenem Vorteil. Man wählt freiwillig ein Interesse unter den subjektiven Bedingungen, die man vorfindet. Das Wählen ist ein Begriff, den Kant selbst benutzt (5: 143; siehe auch den Ausdruck »Wahl« in der ersten Kritik A 587 = B 615 und in der dritten Kritik 5: 300), und auf den beim Kontrast zwischen dem Bedürfnis und dem Interesse im praktischen Bereich unter dem Untertitel »Das nicht wählbare Bedürfnis, das frei wählbare Interesse« zurückgekommen werden soll.

1.2.3. Vergleich zwischen dem Bedürfnis der spekulativen Vernunft und dem der praktischen Vernunft hinsichtlich des Status Nachdem das Bedürfnis der spekulativen Vernunft als unumgänglich und das Interesse derselben als freiwillig charakterisiert wurden, kann man einwenden, dass im Kontext der Antinomie doch das Bedürfnis nach der Annahme des unbedingten Wesens durch ein Interesse gewählt wird, folglich nicht unumgänglich ist. Das ist ein richtiger

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

Einwand. Im Kontext der Antinomie kann man sich aus der rein empi­ ristischen Position gegen die Annahme des Unbedingten entscheiden. An dieser Stelle lässt sich wieder unterstreichen, dass durch diese Begriffscharakterisierung des Bedürfnisses und des Interesses hinsichtlich der theoretischen Philosophie Kants nur der Unterschied zwischen diesen Begriffen in seiner praktischen Philosophie vorweg­ genommen werden soll, der letztendlich für diese Untersuchung wichtig ist. Auch die Verwirrung bezüglich der Unumgänglichkeit bei der Charakterisierung des Bedürfnisses lässt sich erklären. Diese Charak­ terisierung gilt von vornherein unter der vorausgesetzten Entschie­ denheit für die Suche nach der vollständigen Erkenntnis der Welt. Jedoch lässt sich diese Suche immer wieder durch die empiristische Position entkräften. Zu beachten ist hier, dass das Bedürfnis der spekulativen Vernunft jederzeit aufgegeben werden kann, was die rein theoretische Sache angeht. Obzwar die spekulative Vernunft angeboren ist und auf ihr Bedürfnis nicht gänzlich verzichtet werden kann, ist dieses Bedürfnis solcher Relativierungsgefahr ausgesetzt. Diesen Sachverhalt bringt Kant zum Ausdruck mit »Unschließigkeit der Spekulation« (KrV A 589 = B 617), bzw. mit »Schwanken der speculativen Vernunft« (5: 145). Es verhält sich aber ganz anders im Bereich der praktischen Vernunft. Kant ist davon überzeugt, dass die moralische Pflicht und das darauf gegründete Bedürfnis niemals aufgegeben werden können. Der Status des Interesses wird auch in Bezug auf dieses absolut notwendige Bedürfnis festgelegt. Anders als im rein theoretischen Bereich, wo die Lösungen für das Bedürfnis der Vernunft wegen der begrenzten Eigenschaft der menschlichen Erkenntniskräfte eindeutig bestimmt werden (die Annahme des Urwesens und die Annahme der Zweckmäßigkeit der Natur), gibt es keine Begrenzung in den Möglichkeiten der Lösung für das heikle Problem, dem der Mensch hinsichtlich seiner moralischen Bestimmung ausgesetzt ist. Denn es genügt, wenn der Mensch nur durch eine Lösung zur Ausführung der Pflicht motiviert werden kann. Und es ist ein Interesse, das sich für eine unter den möglichen Lösungen zum Befriedigen des Bedürf­ nisses entscheidet. Hier ordnet sich ein Interesse dem Bedürfnis der Vernunft unter. Man kann auch das Bedürfnis der spekulativen Vernunft dem Praktischen unterordnen, d. h. auf die Ebene des Praktischen verset­ zen und dadurch die sozusagen schwankende Unumgänglichkeit des

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1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants

Bedürfnisses retten. Wie in der These der Antinomie ein Interesse für die »Grundsteine der Moral und Religion« (KrV A 466 = B 494) die Vernunft über die Grenze der Erfahrung hinaus treibt und dadurch den Raum für das Anliegen der praktischen Vernunft schafft, kann man das Geschäft der theoretischen Vernunft in das übergreifende System der praktischen Vernunft integrieren. Und eine derartige Integration geschieht beim Versuch der Befriedigung des Bedürfnisses der prakti­ schen Vernunft tatsächlich, denn sein Problem muss in theoretischer Weise gelöst werden, wie im dritten Kapitel erläutert wurde. Die Integration des Bedürfnisses der spekulativen ins Bedürfnis der praktischen Vernunft kann die vorhin genannte »Unschließigkeit der Spekulation« »aus dem Gleichgewichte bringen« (KrV A 589 = B 617) und ist dazu fähig, »im Schwanken der speculativen Vernunft den Ausschlag zu geben« (5: 145).

1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants Bevor auf Kants Begriffe von Bedürfnis und Interesse hinsichtlich der praktischen Vernunft eingegangen wird, lohnt es sich, den Interessen­ begriff in Kants Handlungstheorie anzusprechen. Obwohl sich der Interessenbegriff im letzteren Fall nicht direkt an die Theorie über den Bedürfnis- und den Interessenbegriff der Vernunft verknüpfen lässt, soll gezeigt werden: Man kann im Rahmen der Handlungs­ theorie beobachten, dass Kant dem Begriff des Interesses die Rolle der Bestimmung des spezifischen Gebrauchs von Erkenntniskräften – in diesem Fall der Bestimmung des Willens – zuschreibt. Diese Rolle gehört dem Interesse der praktischen Vernunft, indem das Interesse in Hinsicht auf die mögliche Befriedigung des Bedürfnisses der praktischen Vernunft eine freiwillige Entscheidung darüber trifft, wie in concreto die Erkenntniskräfte dafür eingesetzt und gebraucht werden sollten. Nachdem diese Konstellation des Bedürfnis- und den Interes­ senbegriffs der Vernunft erläutert wird, wird in 1.4 behauptet, dass das intellektuelle Interesse am Schönen (§ 42 der dritten Kritik) und der Sollens-Anspruch auf die Zustimmung zu einem Geschmacksurteil mit derartiger spezifischer Bestimmung der Erkenntniskräfte zur Befriedigung der praktischen Vernunft zusammenhängen.

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

1.3.1. Interesse in Kants Handlungstheorie In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten sagt Kant: »Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Principien der Vernunft heißt ein Interesse« (4: 413, Anm.).

Ein Wille kann eine Handlung dadurch verursachen, durch ein bestimmtes Prinzip subjektiv bestimmt zu werden, damit das Prinzip schließlich sein subjektiver Grundsatz, d. h. seine Maxime wird. Dass der menschliche Wille »zufällig« bestimmbar ist, bedeutet, dass die subjektive Bestimmung des Willens durch eine freie Entscheidung des Subjekts erfolgt. Der Wille kann unter mehreren Prinzipien eines aus­ wählen oder sich entscheiden, ob er sich durch ein Prinzip bestimmen lässt oder nicht. Der zitierte Satz zeigt, dass ein Interesse zum Einsatz kommen muss, damit eine subjektive Willensbestimmung durch die Beziehung auf tatsächlich zu verwendende Prinzipien vollzogen werden kann. Der freiwillige Charakter solch einer Entscheidung wird anhand Kants Erklärung des Interessenbegriffs in seiner Handlungstheorie deutlich. Denn ein Interesse trägt immer das Element der Lust in sich (6: 212 f.; 5: 204), das eine freiwillige Entscheidung für etwas möglich macht. Dies ist sogar bei moralischen Handlungen der Fall, die dem Menschen als Sollen geboten werden. Durch das Einmischen des moralischen Interesses kann das moralische Sollen zum Wollen wer­ den (4: 449). Kant nimmt als Tatsache an, dass »die Sittlichkeit inter­ essire«, d. h., dass »ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe«. Sie ist aber die Tatsache, deren »Erklärung […] uns Menschen gänz­ lich unmöglich« ist (4: 460). Dass Kant trotz der Unerklärbarkeit daran festhält, zeigt die untrennbare Verbindung zwischen der menschlichen Freiheit, sich für eine Handlung bzw. Maxime zu ent­ scheiden, und dem positiven Gefühl.

1.3.2. Das nicht wählbare Bedürfnis, das frei wählbare Interesse Nun soll das Bedürfnis der praktischen Vernunft besprochen werden, hinsichtlich dessen die Verbindung des Interessenbegriffs mit der frei­ willigen Entscheidung des Subjekts besonders deutlich dargestellt ist. Wie in Kapitel III erläutert wurde, richtet sich das Bedürfnis der prakti­

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1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants

schen Vernunft darauf aus, sich die Möglichkeit des höchsten Guts zu sichern. Dieses Bedürfnis ist in moral-anthropologischer Hinsicht auf den Menschen mit der dringlichen Notwendigkeit verbunden: Wird davon ausgegangen, dass alle Menschen moralisch verpflichtet sind, die Realisierung des höchsten Guts möglichst zu fördern, so muss die Pflicht ausführbar sein. Auch wenn die Ausführbarkeit nicht gewähr­ leistet werden könnte, wie der Eindruck besagt, den die Natur gibt, muss mindestens die Ausführbarkeit denkbar sein. In diesem Sinne muss die Befriedigung des Bedürfnisses auf eine theoretische Weise erfolgen, indem also ein die Ausführbarkeit begünstigender (theore­ tischer) Satz angenommen wird. Die Postulate des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele sind solche theoretischen Sätze, die Kant zur Einlösung der Befriedigung vorschlägt. Bemerkenswert ist aber, dass diese Lösung nicht die einzige Lösungsmöglichkeit und folglich keine notwendige Lösung ist. Sie ist schließlich das Ergebnis der Entscheidung des Subjekts aus einem subjektiven Grund. Und es liegt ein Interesse zugrunde. Diese Rolle des Interesses ist bereits aus der Diskussion über die Antinomie der reinen Vernunft bekannt. Jetzt soll auf die Rolle des Interesses hinsichtlich des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft näher eingegangen werden. Kant behauptet zwar, seine Lösung – die Postulate anzunehmen – sei »die einzige ihr [sc. Vernunft] theoretisch mögliche, zugleich der Moralität (die unter einem objectiven Gesetze der Vernunft steht) allein zuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts zu denken« (5: 145; Hervorhebung der Verf.). Wichtig ist jedoch, dass diese Lösung nicht die einzige »theoretisch mögliche« (ibid.) ist, obwohl sie unter Berücksichtigung der beiden Hinsichten – in theoretischer und moralischer Hinsicht – die zuträglichste Lösung ist. Dazu sagt Kant: »Allein die Art, wie wir uns diese Möglichkeit vorstellen sollen, ob nach allgemeinen Naturgesetzen ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber, oder nur unter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunft objectiv nicht entscheiden« (ibid). Hier räumt Kant ein, dass wenigstens in theoretischer Hinsicht noch eine Lösung ohne Voraussetzung des Gottes möglich ist. Dies liefert einen entscheidenden Anhaltspunkt für eine Diffe­ renzierung zwischen Bedürfnis und Interesse. Denn hierdurch erklärt Kant die freiwillige Entscheidung des Subjekts zwischen theoretisch denkbaren verschiedenen Annahmen (zur Befriedigung des Bedürf­

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

nisses der praktischen Vernunft) doch als möglich, während das Bedürfnis selbst nicht wählbar ist.61 Und das Kriterium der Entschei­ dung liegt, so Kant, in dem Interesse des Subjekts. Nach Kant »ist es für jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessen [sc. des höchsten Guts] objectiver Möglichkeit nothwendig ist« (5: 143 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Dabei ist von der Notwendigkeit des Bedürfnisses der praktischen Vernunft für alle Menschen die Rede. Was hier als »unvermeidlich« festgestellt wird, ist aber die Voraus­ setzung selbst, d. h. die »Voraussetzung der ihm [sc. dem höchsten Gut] angemessenen Bedingungen in der Natur« (5: 143 Anm.). Dies deutet an: Welche Bedingungen genau vorausgesetzt werden sollen, wird durch das notwendige Bedürfnis selbst nicht festgelegt. Durch jede Voraussetzung von etwas, was erfolgreiche Bedingung für eine Realisierung des höchsten Guts sein kann, lässt sich das notwendige und unvermeidliche Bedürfnis befriedigen. Gerade in diesem Sinne spricht Kant wie in dem oben bereits zitierten Satz: »Allein die Art, wie wir uns diese Möglichkeit vorstellen sollen, ob nach allgemeinen Naturgesetzen ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber, oder nur unter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunft objectiv nicht entscheiden« (5: 145; Hervorhebung der Verf.).

Wenn, wie dieser Satz hinweist, in objektiver Hinsicht eine Vorstel­ lung der Realisierbarkeit des höchsten Guts sowohl unter der Voraus­ setzung eines Gottes als auch ohne Gott möglich ist, was ist der Grund dafür, dass wir uns für die erstere entscheiden? Die Entscheidung wird anhand eines subjektiven Grundes getroffen. Kant ist der Ansicht, dass die Vernunft nach dem selbstgewählten subjektiven Grunde zu einer Entscheidung berechtigt ist, wo kein objektiver Grund verfüg­ bar ist:62 »Wenn jemand nicht beweisen kann, daß ein Ding ist, so mag er versuchen zu beweisen, daß es nicht ist. Will es ihm mit keinem von beiden gelingen (ein Fall, der oft eintritt), so kann er noch fragen: ob es ihn interessire, das Eine oder das Andere (durch eine Hypothese) anzu­ nehmen, und dies zwar entweder in theoretischer, oder in praktischer Rücksicht, d. i. entweder um sich bloß ein gewisses Phänomen (wie z. B. 61 Dazu sagt Kant, dass der reine Vernunftwille bezüglich dieses Bedürfnisses einen praktisch notwendigen Zweck hat und dabei »nicht wählt« (5: 143). 62 Diesbezüglich verweist Kleingeld auf Kants Ausdruck »Recht des Bedürfnisses« (8: 137). Siehe Kleingeld (1995, 93 f.).

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1.3. Bedürfnis und Interesse in der praktischen Philosophie Kants

für den Astronom das des Rückganges und Stillstandes der Planeten) zu erklären, oder um einen gewissen Zweck zu erreichen, der nun wiederum entweder pragmatisch (bloßer Kunstzweck) oder moralisch, d. i. ein solcher Zweck sein kann, den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht ist. « (6: 354; Hervorhebung der Verf.).

Wie hier zu entnehmen ist, gilt dies sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Wichtig ist jedoch, dass die Entscheidung selbst insofern ein theoretischer Akt ist, als sie eine Annahme von Hypo­ thesen ist, auch wenn sie zuletzt zum Erreichen eines praktischen Zwecks führt. Wie Kant hier formuliert, entscheidet sich das Subjekt für das, was es »interessire«. Das subjektive Interesse als Kriterium der Entscheidung findet sich auch an der anderen Stelle: »Da nun die Beförderung desselben und also die Voraussetzung seiner Möglichkeit objectiv (aber nur der praktischen Vernunft zu Folge) nothwendig ist, zugleich aber die Art, auf welche Weise wir es uns als möglich denken wollen, in unserer Wahl steht, in welcher aber ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers entscheidet: so ist das Princip, was unser Urtheil hierin bestimmt, […] der Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d. i. ein reiner praktischer Vernunftglaube. (5: 145 f.; Hervorhebung der Verf.).

»[I]n unserer Wahl steht« die Entscheidung für eine Vorstellungs­ möglichkeit der Realisierbarkeit des höchsten Guts. Die infrage kommende Vorstellung kann insofern die Realisierbarkeit niemals beweisen, sondern lediglich zu deren Annahme beitragen, als das höchste Gut etwas ist, was die Vernunft »durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf« (8: 137). In diesem Sinne nennt Kant in der gerade zitierten Passage das Prinzip der Entscheidung für eine Vorstellungsmöglichkeit die »Maxime des Fürwahrhaltens« (5: 146), d.h. den subjektiven Grundsatz des Fürwahrhaltens. Trotz der Subjektivität ist eine Maxime jedoch mit der erforderlichen Rationalität ausgestattet. Aufgrund dieser Rationalität kann die aus­ gewählte Vorstellungsmöglichkeit die Annahme der Realisierbarkeit des höchsten Guts theoretisch dahingehend unterstützen, dass das Subjekt der Pflicht eine objektive praktische Realität aufgrund seiner Überzeugung durch die ausgewählte Vorstellung zuschreiben kann. In diesem Punkt lässt sich die Entscheidung des Subjekts für eine Vorstellungsmöglichkeit als ein Urteilsakt betrachten. Kant verwen­ det deshalb an zahlreichen Stellen einschließlich der oben zitierten

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

Passage Ausdrucksformen wie »urteilen« und »unser Urtheil bestim­ men«, was derartige Entscheidung betrifft. Eine weitere wichtige Auskunft aus der oben zitierten Passage besagt, dass der Grund der subjektiven Entscheidung im »[W]ollen« und damit im »freie[n] Interesse« liegt. Kant definiert in der Kritik der Urteilskraft das »Interesse« an etwas ohnehin als »[e]twas […] wollen« (5: 209). Der Kontext, in dem sich diese Definition befindet, beschränkt sich jedoch auf das Interesse, das mit dem Gebrauch des Begehrungsvermögens zusammenhängt. Die zitierte Passage ist deshalb also entscheidend für die Charakterisierung des Kantischen Interessenbegriffs. Sie macht klar, dass nicht nur im Bereich des Handelns, sondern auch in dem des Denkens ein Interesse betätigt werden kann und dass das Denken der reinen Vernunft durch eine subjektive Entscheidung beeinflusst werden kann. Hier wird nicht unmittelbar die Existenz eines Gegenstandes gewollt, sondern ein Urteil, welches an sich ein Denken ist, auch wenn es letztendlich zu einer Handlung (Ausführung der Pflicht) führen soll.63 Die Postulate vom Dasein Gottes und der Unsterblichkeit hält Kant für die Objekte von »Glauben« (5: 143). Der Vernunftglaube ist, so Kant, die »freiwillige, zur moralischen (gebotenen) Absicht zuträg­ liche, überdem noch mit dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunft einstimmige Bestimmung unseres Urtheils, jene Existenz anzunehmen und dem Vernunftgebrauch ferner zum Grunde zu legen« (5: 146; Hervorhebung der Verf.). Da der Vernunftglaube eine »freiwillige […] Bestimmung unseres Urtheils« ist, steht auf der übergeordneten Ebene des Bedürfnisses der praktischen Vernunft die Entscheidung des Subjekts zwischen verschiedenen Richtungen der Bestimmung seines Urteils noch offen. Dennoch ist er laut Kant »in moralischer Absicht nothwendig« (20: 298; Hervorhebung der Verf.) und gewinnt in gleicher Hinsicht eine »objective Realität« (20: 299). Die »moralisch=praktische Reali­ tät« besteht darin, »uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände […], die man also in jener (praktischen) Rücksicht postuliren darf, gegeben wären« (8: 416). Diese Realität bedeutet also nicht etwa »Existenzbe­ hauptungen« (Gardner 2015, 1820), sondern läuft letztendlich auf die für den Endzweck zweckmäßige praktische Wirkung hinaus, die der 63 Kant gibt die Postulate wie im Folgenden wieder: »ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei« (5: 143; Hervorhebung der Verf.).

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1.4. Der Fall der Erweiterung des Geschmacksurteils

Vernunftglaube unterstützt. Hinsichtlich dieser objektiven Realität äußert Kant auch, dass wir den Postulaten »objective Realität freywillig geben, da wir versichert sind, daß in diesen Ideen kein Widerspruch gefunden wer­ den könne, von der Annahme derselben die Zurückwirkung auf die subjectiven Prinzipien der Moralität und deren Bestärkung, mithin auf das Thun und Lassen selbst, wiederum in der Intention moralisch ist« (20: 299; Hervorhebung der Verf.).

Die Postulate bzw. die Vernunftglauben finden ihre Berechtigungen durch das Urteil, dass die Annahme dieser Ideen die Wirkungskraft für die Maximen, ferner für die Handlungen, die zum Endzweck zweckmäßig sind, zeigen könne.

1.4. Der Fall der Erweiterung des Geschmacksurteils Durch die bisherigen Überlegungen wurde offensichtlich, dass ein Interesse mit der Bestimmung eines Urteils zusammenhängt, welches zur Befriedigung des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft dienen soll. Dies bringt ans Licht, dass das Interesse nicht nur bei praktischen Handlungen, wo die subjektive Willensbestimmung durch Interesse erfolgt, sondern auch beim eher theoretischen Gebrauch unzertrennlich mit der »Thätigkeit«64 des Erkenntnisver­ mögens verbunden ist. An dieser Stelle lässt sich betonen: Das Ver­ nunftinteresse am Schönen, von dem in § 41 f. der Kritik der Urteils­ kraft die Rede ist, und das einen entscheidenden Faktor für die Erweiterung des Geschmacksurteils darstellt, bedeutet nicht bloß »eine Lust an der Existenz« eines Gegenstandes, wie Kant schildert (5: 296). Diese Begriffserklärung in der dritten Kritik kann zu dem Missverständnis führen, das Vernunftinteresse am Schönen stelle nichts mehr als eine Empfänglichkeit des Subjekts hinsichtlich einer bereits abgeschlossenen Tätigkeit dar. Soweit dieses Interesse mit dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft zusammenhängt, soll es aber eine aktive Rolle spielen, um zu bestimmen, in welcher Weise das Bedürfnis befriedigt werden kann. Dieser Punkt sei betont, da es bezüglich des Bedürfnisses der rei­ nen praktischen Vernunft schließlich darauf ankommt, die Pflicht des In der Reflexion Nr. 550 bezieht Kant das Sinnesinteresse auf »Genuß«, das Ver­ nunftinteresse auf »Thätigkeit« (15: 239).

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1. Bedürfnis und Interesse bei der Erweiterung des Geschmacksurteils

höchsten Guts durch das Handeln auszuführen, wie gesehen wurde. Es wird die Ansicht vertreten, dass die Handlung aufgrund der konkreten Bestimmung der Erkenntniskräfte durch das intellektuelle Interesse am Schönen nichts anderes als der Sollens-Anspruch auf Zustim­ mung zu einem Geschmacksurteil ist. Inwiefern sich dieser Anspruch als Handlung für das Befördern des höchsten Guts betrachten lässt, wird in Kapitel V geklärt, wo zugleich auf die Frage eingegangen werden soll, welche Tätigkeiten von Erkenntniskräften durch dieses Interesse bestimmt werden, die letztlich zur Willensbestimmung für die Zustimmungsforderung führen sollen. Es wurde festgestellt, dass ein Interesse und der von ihm bestimmte Gebrauch der Erkenntniskräfte insofern Gültigkeit bean­ spruchen können, als sie in rationaler Weise mit den theoretischen Problemen bezüglich des Bedürfnisses der praktischen Vernunft umgehen. Denn dergleichen Bedürfnis und die Pflicht des höchs­ ten Guts sind einzig sowie nicht wählbar, sodass sie sich auf das wählbare Interesse und die wählbare Bestimmung des Gebrauchs der Erkenntniskräfte verlassen können. In dieser Hinsicht erlangen die konkreten Bestimmungen der Erkenntniskräfte, die in Kapitel V ausführlich besprochen werden, und der auf ihnen beruhende Zustim­ mungsanspruch eigene Gültigkeit, wenn sie sich als zum Bedürfnis der praktischen Vernunft beitragend erweisen. Auch wenn all diese Überlegungen angestellt worden sind, bleibt eines noch immer im Unklaren: Warum greift das Anliegen der reinen praktischen Vernunft in ein Geschmacksurteil ein, wenn eine Beurteilung der Schönheit nichts mit der praktischen Vernunft zu tun hat? Würde die Verknüpfung zwischen dem Bedürfnis der praktischen Vernunft und dem Geschmacksurteil keine ausreichende Geltung erlangen, könnte der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils nur als eine gekünstelte Forderung betrachtet werden, wobei der sichere Zusammenhang zwischen dem Anspruch und dem Bedürfnis allein nicht mehr hilft. Der nächste Abschnitt dieses Kapitels soll sich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei sei Verlass auf den Kanti­ schen Weltbegriff.

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse am Naturschönen

2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff Kant unterteilt den Begriff der Philosophie in die Philosophie nach dem Schulbegriff und die Philosophie nach dem Weltbegriff. Die Philosophie nach dem Schulbegriff ist nichts weiter als eine Wis­ senschaft. In Kantischem Ausdruck wird sie »nur als Wissenschaft gesucht« (KrV A 838 = B 866). Denn sie richtet sich als »System der Erkenntnis« (ibid.) ausschließlich auf »die logische Vollkommenheit der Erkenntnis« (ibid.). Sie benötigt »Geschicklichkeit« für einen »streng systematischen Zusammenhang« (9: 24), die »allen andern Wissenschaften systematische Einheit giebt« (ibid.). Die Philosophie nach dem Weltbegriff ist hingegen mehr als eine Wissenschaft. Kant sagt, dass dieser Begriff der Philosophie »auf die Nützlichkeit« geht (9: 24). Welche Nützlichkeit? Die Philosophie nach dem Weltbegriff richtet sich nach der Nützlichkeit von Erkenntnissen für den Endzweck. Sie ist, so Kant, »die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen« (9: 24; Hervorhebung der Verf.). Es geht folglich um »eine zweckmäßige Verbindung aller Erkenntnisse« hinsichtlich des Endzwecks (9: 25; Hervorhebung der Verf.).

2.1.1. Zweckbegriff bei der Philosophie nach dem Weltbegriff Anders als die zitierte Passage aus der Logik, die die Philosophie nach dem Weltbegriff auf den »Endzweck« bezieht, verwendet Kant in seinen Schriften verschiedene Ausdrücke für den Zweckbegriff, die bei der Philosophie nach dem Weltbegriff zentral ist. In der anderen Passage der Logik und in den Vorlesungen über Metaphysik

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

spricht Kant von »den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft« (9: 23; VM 3). Die Ausdrücke »höchste[] Zwecke[] der menschlichen Vernunft« (9: 25; VM 7) und »wesentliche[] Zwecke der menschlichen Vernunft« (KrV A 839 = B 867) stehen auch dafür. Formulierungen wie die »letzten« und die »höchsten« Zwecke lassen sich so verstehen, dass sie sich auf den Endzweck und die zu ihm gehörigen Zwecke beziehen, die sich innerhalb des hierarchischen Systems von Zwecken der menschlichen Vernunft im höheren Bereich befinden. Zu den »wesentlichen Zwecke[n] der menschlichen Vernunft« gibt Kant in der ersten Kritik die folgenden Erläuterungen: »Daher sind sie [sc. wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft] entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral« (KrV A 840 = B 868).

Dieser Passage lässt sich entnehmen, dass der Endzweck und die zu ihm notwendig gehörigen Unterzwecke im höheren Bereich des hier­ archischen Systems von Zwecken anzusiedeln sind. Hier beschreibt Kant den Endzweck der menschlichen Vernunft als die »ganze Bestim­ mung des Menschen«. Mit seiner zusätzlichen Erläuterung, dass die Philosophie über die ganze Bestimmung des Menschen Moral heiße, scheint Kant hier den Endzweck der menschlichen Vernunft und damit die ganze Bestimmung des Menschen auf die Sittlichkeit allein zu reduzieren. Dies scheint problematisch, da Kant in seinen verschie­ denen Schriften den Endzweck der Vernunft mit dem höchsten Gut gleichsetzt (20: 294; 5: 450; 5: 435; 8: 279) und die Sittlichkeit nur ein Bestandteil des höchsten Guts ist. Dies scheint auch nicht zur Bedeutung der Totalität bei dem Ausdruck »ganze« zu passen. Diesbezüglich macht Höffe darauf aufmerksam, dass Kant am Ende der Architektonik der reinen Vernunft, zu der auch die gerade zitierte Passage gehört, eine anscheinend gegensätzliche Aussage macht, d. h., dass Kant den »Hauptzweck« »des wissenschaftlichen gemeinen Wesens« in der »allgemeinen Glückseligkeit« sehe (KrV B 879; Höffe 2004, 312). Höffe legt diese »allgemeinen Glückselig­ keit« aufgrund der Bemerkung Kants (»die allgemeine Ordnung und Eintracht […] des wissenschaftlichen gemeinen Wesens«) so aus, dass sie »die im »Ideal des höchsten Guts« genannte »allgemeine Glückseligkeit« als Wirkung der von sittlichen Gesetzen bestimmten Freiheit« bedeutet (Höffe 2004, 312). Sie ist nichts anders als das

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2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff

kollektive Wohl, welches durch die kollektive Sittlichkeit des Men­ schen, d. h. durch die »allseitige Befolgung« der sittlichen Gebote jedes Menschen, erreicht werden kann und soll, und gerade darin liegt das höchste Gut (Höffe 2004, 313). In dieser Schlusspassage der Architektonik der reinen Vernunft ist eigentlich von der Rolle der theoretischen Metaphysik die Rede, die eine Entfernung von dem »Hauptzweck« vermeiden soll (KrV B 879). Hat sich dieser Hauptzweck als das höchste Gut erwiesen, so lässt sich sagen, dass Kant hier von der Verbindung der theoretischen und der praktischen Vernunft im höchsten Gut als Endzweck der Vernunft spricht (Höffe 2004, 313). Im gleichen Sinne kommt Höffe bezüglich der Interpretation der »ganzen Bestimmung« des Menschen zu dem Schluss: »Da der Mensch sowohl zum Wissen als auch zum Sollen, nicht zuletzt zum Hoffen bestimmt ist, liegt seine volle Bestimmung in deren Verbindung« (ibid.). Kants Aussage, der Endzweck, der im Mittelpunkt der Philosophie nach dem Weltbegriff steht, sei »kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen« (KrV A 840 = B 868), bedeutet schließlich, dass die Philosophie durch das ganze – sowohl das theoretische als auch das praktische – Vermögen des Menschen das höchste Gut befördern soll. Auch Kants Erläuterungen zum Verhältnis zwischen der Philoso­ phie und der Weisheit stellen sicher, dass sich die Philosophie nach dem Weltbegriff auf das höchste Gut als den Endzweck bezieht. In der Logik bezeichnet Kant die Philosophie nach dem Schul­ begriff als »Lehre der Geschicklichkeit« und die Philosophie nach dem Weltbegriff als »Lehre der Weisheit« (9: 24). Kant versteht unter der Weisheit die Beziehung des Menschen mit dem höchsten Gut. In der zweiten Kritik sagt er, dass »Weisheit, theoretisch betrachtet, die Erkenntniß des höchsten Guts und praktisch die Angemessenheit des Willens zum höchsten Gute bedeutet« (5: 130 f.). In der Verkündi­ gung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie äußert Kant über die Philosophie als »Weisheitsfor­ schung« (8: 417): »Weisheit aber ist die Zusammenstimmung des Willens zum Endzweck (dem höchsten Gut)« (8: 418). Das Ziel der Philosophie nach dem Weltbegriff liegt schließ­ lich darin, den Willen für das Verwirklichen des höchsten Guts zu bestimmen, d. h. das Verwirklichen zum subjektiven Grundsatz des Willens (Maxime) zu machen. Dies zeigt, inwiefern die Philosophie nach dem Weltbegriff mehr als eine Wissenschaft ist (vgl. KrV A 838 = B 866). Die Philosophie ist nicht bloß eine Wissenschaft, die

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

alle zweckmäßigen Beziehungen in theoretischer Hinsicht auf den Endzweck hin anordnet, sondern sie beabsichtigt das Verwirklichen des Endzwecks durch den Menschen. In diesem Sinne schreibt Kant auch dem Philosophen eine praktische Aufgabe zu.

2.1.2. Praktische Aufgabe des Philosophen nach dem Weltbegriff In den vorigen Kapiteln wurde besprochen, dass die Vernunft zur Realisierung bzw. Beförderung (5: 109; 5: 126) des höchsten Guts verpflichtet. Bei seiner Beschreibung dieser Pflicht spricht Kant immer vom Einsatz des Maximums der menschlichen Kräfte. Ich soll mich »nach allen meinen Kräften« (5: 142; Hervorhebung der Verf.; 5: 453), oder wir sollen uns »nach unserem größten Vermögen« (5: 144; Her­ vorhebung der Verf.) um das höchste Gut bemühen. Es ist »ein Gebot« der reinen praktischen Vernunft, »zu dessen Hervorbringung alles Mögliche beizutragen« (5: 119; Hervorhebung der Verf.). Ersichtlich ist, dass das Maximum der gesollten Anstrengungen sowohl ihre Größe als auch ihre Breite zu decken scheint: Man soll seine größten Bemühungen erbringen und zwar in allen möglichen Hinsichten. Es sei darauf geachtet, dass Kant die Bemühungen um das höchste Gut in der Praxis als Aufgabe des Philosophen ansieht. In dieser Aufgabe soll der Philosoph alle Erkenntnisse in allen Bereichen zweckmäßig für die wesentlichen Zwecke, d. h. für den Endzweck und die zu ihm gehörigen Zwecke, verwenden: »Der Mathematiker, der Naturkündiger, der Logiker sind, so vortreff­ lich die ersteren auch überhaupt im Vernunfterkenntnisse, die zweiten besonders im philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben mögen, doch nur Vernunftkünstler. Es gibt noch einen Lehrer im Ideal, der alle diese ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern. Diesen allein müßten wir den Philosophen nennen« (KrV A 840 = B 868).

Der Unterschied zwischen dem Vernunftkünstler, der nach dem Schulbegriff wissenschaftlich tätig ist, und dem Philosophen, der nach dem Weltbegriff philosophiert und von Kant als »Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« bezeichnet wird (KrV A 839 = B 867; 9: 24; VM 4), liegt darin, ob einer sich nur theoretisch interessiert oder seine theoretischen Fähigkeiten für die praktisch notwendigen Zwecke einsetzt. Ein Philosoph sieht in mathematischen, naturwis­

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2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff

senschaftlichen, logischen Erkenntnissen, die anscheinend an sich nichts mit der Moral zu tun haben, zweckmäßige Verhältnisse zum höchsten Gut ein und nutzt sie. Dafür braucht er das beständige Verhalten, bzw. die Maxime um des höchsten Guts willen, damit bei seiner Auseinandersetzung mit allerlei Erkenntnissen immer wieder darauf zurückgegriffen werden kann. Darauf weist Kants Erläuterung zur Philosophie als Weisheitslehre in der zweiten Kritik hin: »Diese Idee [sc. Idee des höchsten Guts] praktisch, d. i. für die Maxime unseres vernünftigen Verhaltens, hinreichend zu bestimmen, ist die Weisheitslehre« (5: 108; Hervorhebung der Verf.).

In der Logik macht Kant klar, dass es in der Philosophie nach dem Weltbegriff grundsätzlich um die Maxime geht: »Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, sofern man unter Maxime das innere Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht« (9: 24; Hervorhebung der Verf.).

Auch in den Vorlesungen über Metaphysik wiederholt sich die Bezeichnung der Philosophie als Wissenschaft der Maxime und dazu kommt noch die Betonung des Verhaltens. Beachtenswert ist, dass ein Philosoph nicht nur die richtungweisende Rolle bezüglich der Maxime des Menschen im Allgemeinen spielt, sondern sich auch um sein eigenes Verhalten kümmern soll: »Wenn wir das innere Princip der Wahl unter den verschiedenen Zwe­ cken Maxime nennen, so können wir sagen: die Philosophie ist eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft. Dann wird der Philosoph mehr nach seinem Betragen, als nach seiner Wissenschaft bezeichnet« (VM 5; Hervorhebung der Verf.).

Vorhin wurde erwähnt, dass Kant den Philosophen nach dem Weltbe­ griff »Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« nennt. Dieser Passage lässt sich entnehmen, was Kant unter der Gesetzgebung des Philoso­ phen versteht. Sie bedeutet die Bestimmung, was die höchste Maxime des Gebrauchs der Vernunft sein soll und damit, worauf sich der Gebrauch der Vernunft richten soll. Wichtig scheint hervorzuheben, dass auch der Philosoph insofern der Idee des höchsten Guts seine eigene Maxime anpassen soll, als auch er ein zum höchsten Gut ver­ pflichteter Mensch ist. In diesem Sinne sagt Kant, dass der Philosoph »nach seinem Betragen« bezeichnet wird. »Der praktische Philosoph

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

ist eigentlich Philosoph« (VM 4; 9: 24), ist wiederholte Aussage Kants und betont die Bedeutung sowohl seiner richtungweisenden Beschäf­ tigung mit der höchsten Maxime als auch seines eigenen Verhaltens. Die nötige Qualifikation für den Namen »Philosoph« ist in Wirk­ lichkeit schwer zu besitzen. Denn ein Philosoph muss sowohl über seine Wissenschaft als auch über vorbildliches Verhalten verfügen. Die wissenschaftlichen Kenntnisse sind sicherlich ein notwendiges Element für die Philosophie nach dem Schulbegriff (9: 24, VM 4). Aber sie sind auch für die Philosophie nach dem Weltbegriff erfor­ derlich. Kant sagt: »ohne Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden« (9: 25; VM 7). Und die Weisheit braucht die Wissenschaft: »Vom Epikur will man sagen, er habe Wissenschaft vernachlässigt, und nur desto mehr auf Weisheit gesehen. […] So viel ist aber gewiß, daß diese Behauptung falsch ist; denn Weisheit ohne Wissenschaft ist ein Schattenriß von einer Vollkommenheit« (VM 7; Hervorhebung der Verf.). Zu diesem Sachverhalt sagt Glatz: »In fundierungstheoretischer Perspektive ist die schulbegriffliche Philosophie die Grundlage und conditio sine qua non der Philosophie im Weltbegriff«, mit dem Zitieren aus Ende der zweiten Kritik: »Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheits­ lehre führt« (5: 163, Glatz 2001, 139). Zum gleichen Thema meint Fahrenbach, dass der Schulbegriff der Philosophie durch ihren Welt­ begriff nicht negiert wird. Er sagt: »Negiert wird lediglich die Verab­ solutierung der logisch-theoretischen Perspektive des Schulbegriffs zur umfassenden und höchsten Horizont- und Sinnbestimmung der Philosophie« (Fahrenbach 1992, 48). Deshalb ist ein Philosoph »Lehrer im Ideal65« und er lässt sich als ein »Urbild« ansehen (KrV A 839 = B 867), wie Kant an mehreren Stellen verdeutlicht: »Philosoph ist ein hoher Name, und heißt Kenner der Weisheit, dessen sich eigentlich Keiner anmaßen kann« (VM 6). »In solcher Bedeutung wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen, und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein« (KrV A 839 = B 867).

Bei Kant wird als das Ideal jene Idee bezeichnet, die in einem einzelnen Dinge (»in individuo«) dargestellt ist (KrV A 568 = B 596).

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2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff

Wichtig bleibt jedoch, dass dieses Urbild auch für einen üblichen Menschen nicht irrelevant ist. Denn jeder Mensch ist dazu verpflich­ tet, nach all seinen Kräften (d. h. jede seiner Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zweckmäßig nutzend) das höchste Gut zu beför­ dern bzw. zu realisieren und dafür eine diesem angemessene Maxime zu haben. In dieser Hinsicht sagt Kant, dass »die Idee aber seiner Gesetzgebung allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen wird« (KrV A 839 = B 867). Auch im Zusammenhang mit dem Interessenbegriff erläutert Kant die Allgemeingültigkeit dieser Idee: »Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert« (KrV A 840 = B 868 Anm.; Hervorhebung der Verf.).

Kants Betonung des Praktischen bei der Rolle der Philosophie und dessen Allgemeingültigkeit erweitern den Adressatenkreis des Begriffs der Philosophie von der Spezialistengruppe hin auf den ganzen Bereich der Menschheit.

2.1.3. Existenzielle Fragen des Menschen durch die Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung Dass die in der Wirklichkeit unerreichbare Idee der Philosophie nach dem Weltbegriff »jedermann notwendig interessiert« (KrV A 840 = B 868 Anm.) lässt sich dadurch verstehen, dass sich diese Philosophie mit den existenziellen Fragen des Menschen beschäftigt. Dies expliziert Fahrenbach wie folgt: »Die Philosophie nach dem Weltbegriff hat es – im Unterschied zu den Spezialproblemen, besonderen Fertigkeiten und Monopolen der Schulphilosophie und ihrer Experten – mit Fragen zu tun, die jedermann notwendig interessieren, weil und sofern sie die Selbst­ verständigung und Handlungsorientierung des Menschen als eines sinnlichen Vernunftwesens in der Welt betreffen, die letztlich auf die Frage nach dem in der Welt zu befördernden Endzweck der mensch­ lichen Vernunft und der Bestimmung des Menschen hinauslaufen« (Fahrenbach 1992, 45).

»[J]edermann«, der sich für die Idee der Philosophie nach dem Welt­ begriff interessiert, ist ein existenzielles Wesen, das zur Beförderung des höchsten Guts in seiner Lebenswelt bestimmt ist. Bei der Beför­ derung des höchsten Guts kommt es darauf an, wie der Mensch

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

seine Lebenswelt zweckmäßig nutzt. Dafür braucht er sowohl Welter­ kenntnis als auch Menschenerkenntnis, bzw. »Selbstverständigung«. In dieser Hinsicht sollen die Begriffe der Welt und des Menschen in der Philosophie nach dem Weltbegriff erläutert werden und ihre existenzielle Bedeutung zutage kommen.

a. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Welt« Die existenzielle Implikation des Kantischen Begriffs der Welt hin­ sichtlich der Philosophie nach dem Weltbegriff hat bei den Kant-Inter­ preten bereits Aufmerksamkeit erfahren. Fahrenbach, der sich von Kants kosmologischem Weltbegriff der »absoluten Totalität existie­ render Dinge« (KrV A 420 = B 448) unterscheidet, sagt Folgendes zu diesem Begriff: »er [sc. Kant] meint vielmehr ›Welt‹ in einem anthropologisch-prakti­ schen Sinn der Menschen- und Lebenswelt in ihrer allgemein-mensch­ lichen und immer auch gesellschaftlich-politischen, »weltbürgerli­ chen« Bedeutung« (Fahrenbach 1992, 44).

Bereits in der Einleitung haben wir darauf hingewiesen, dass Kant die Philosophie nach dem Weltbegriff auch mehrmals als Philosophie »in sensu cosmopolitico« (VM 4, 5), als Philosophie in »weltbürgerlicher Bedeutung« (9: 25), bezeichnet. Fahrenbach ist der Ansicht, dass Kant bei dieser Bezeichnung den Unterschied dieses existenziellen Weltbegriffs von dem kosmologischen vor Augen hat (Fahrenbach 1992, 44). Auch bei Heidegger, auf den Fahrenbach hinweist, begegnet eine entsprechende Beobachtung: »Der Weltbegriff […] bedeutet so im Kern die Totalität der Endlichkeit menschlichen Wesens. Von hier aus eröffnet sich der Einblick in die mögliche zweite, spezifisch existenzielle Bedeutung, die bei Kant dem Weltbegriff neben der »kosmologischen« zukommt« (Heidegger 1929, 33; Hervorhebung der Verf.).

Louden gibt ebenfalls Acht auf die unterschiedlichen Verwendungen vom Kantischen Weltbegriff und zitiert, in anthropologisch-prakti­ scher Verwendung hervorragend passend, aus Von den verschiedenen Racen der Menschen (Louden 2008, 520): »Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaf­

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2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff

fen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird« (2: 443).

Hier wird die Welt als »Schauplatz« der menschlichen Bestimmung expliziert und die Weltkenntnis macht die Philosophie nach dem Weltbegriff aus, indem sie zum zweckmäßigen Nutzen der Wissen­ schaften und Geschicklichkeiten für die menschliche Bestimmung eingesetzt wird, d. h. für die Beförderung des höchsten Guts in der Lebenswelt. Durch die Weltkenntnis bzw. die Philosophie nach dem Weltbegriff soll ein Mensch in die Welt eingeführt werden. Die Welt ist der konkrete Ort, an dem er lebt, wohnt und sich um den Endzweck seiner Vernunft bemüht. An diesem Ort ist er von den Mitmenschen und von der Natur umgeben und nutzt bei seinen Wechselwirkungen mit der Umgebung die Wissenschaften und Geschicklichkeiten zweckmäßig.

b. Existenzielle Bedeutung des Begriffs »Weltbürger« Der Ausdruck Weltbürger wird zumeist bezüglich politischer und rechtsphilosophischer Schriften Kants, wie etwa Zum Ewigen Frie­ den, diskutiert, wo die weltbürgerliche Vereinigung der Menschheit durch regulative Prinzipien erstrebt wird, die sich zum Stiften ewigen Friedens auf die öffentlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen Staaten beziehen. Diese politische und rechtsphilosophische Bedeu­ tung des Weltbürgers lässt sich jedoch ohne Weiteres auf den Begriff des Weltbürgers anwenden, von dem Kant bezüglich der Philosophie nach dem Weltbegriff Gebrauch macht. In den Vorlesungen über Metaphysik verwendet Kant, wie erwähnt, den Ausdruck »Philosophie in sensu cosmopolitico« für die Philosophie nach dem Weltbegriff (VM 4, 5). Außerdem bezeichnet er die Fragen seiner Philosophie als »Philosophie in dieser weltbürger­ lichen Bedeutung« (9: 25). Nach Kant befasst sich diese Philosophie mit folgenden Fragen (ibid.): Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Kant betont, dass »sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (ibid.). Die letzte Frage nach dem Menschen ist das eigentliche Thema der Philosophie nach dem Weltbegriff, denn sie ist, so Kant, »das nöthigste aber auch das schwerste, um das sich aber der Philodox nicht bekümmert« (ibid.).

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

»Philodox« ist eine andere Bezeichnung von »Vernunftkünstler«, der sich bloß mit der Philosophie nach dem Schulbegriff beschäftigt (9: 24). Hieraus lässt sich entweder entnehmen, dass die Philosophie nach dem Weltbegriff nicht nur die Lebenswelt des Menschen, son­ dern auch den Menschen selbst thematisiert, oder, dass das Gewicht bei dieser Philosophie eher auf den Menschen als auf die Welt gelegt wird. Und das Letztere lässt sich anhand von Kants Texten belegen, in denen der Kantische Begriff »Weltbürger« im Mittelpunkt steht. Vorhin wurde anhand jener Passage aus Von den verschiedenen Racen der Menschen erkannt, dass die »Weltkenntnis« wesentlich zur Philosophie nach dem Weltbegriff gehört. Zu Beginn der Anthropo­ logie in pragmatischer Hinsicht betrachtet Kant die Menschenkennt­ nis, im Sinne einer Erkenntnis über den Menschen, als grundlegenden Teil der Weltkenntnis (7: 119). Die Begriffe »Weltkenntnis« bzw. »Menschenkenntnis« sind nicht auf den Sinn der Philosophie nach dem Weltbegriff beschränkt. Denn Kant spricht von der Unterteilung der Anthropologie als systematischer Lehre der Menschenkenntnis in die physiologische und pragmatische (ibid.) und nur die letztere befähigt zur Weltkenntnis im Sinne der Philosophie nach dem Welt­ begriff: »Eine solche Anthropologie, als Weltkenntniß […] betrachtet, wird eigentlich alsdann noch nicht pragmatisch genannt, wenn sie ein ausgebreitetes Erkenntniß der Sachen in der Welt, z. B. der Thiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern und Klimaten, sondern wenn sie Erkenntniß des Menschen als Weltbürgers enthält« (7: 120).

Es wird deutlich, wie Kant die pragmatische Anthropologie auf die Erkenntnis des Menschen als eines Weltbürgers bezieht. Um den Begriff Weltbürger näher zu betrachten, soll der folgenden Pas­ sage Kants Verständnis pragmatischer Menschenkenntnis entnom­ men werden: »Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (7: 119).

Diese Passage lässt erkennen, dass das freie Handeln ein wichtiges Merkmal eines Weltbürgers darstellt. Außerdem scheint es hier um die Selbstbestimmung des Menschen zu einem selbst gesetzten Zweck zu gehen.

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2.1. Die Philosophie nach dem Weltbegriff

Wenn die Passage aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht das selbsttätige (autonome) Handeln des Weltbürgers her­ vorhebt, so bezieht sich eine nachfolgend zitierte Passage aus der Vorlesung Metaphysik der Sitten (Vigilantius) auf seine moralischpraktische Einstellung gegenüber der Natur bzw. der Welt. Ihr zufolge ist ein »Cosmopolit« jemand, der »die Natur um sich her in praktischer Rücksicht zur Ausübung seines Wohlwollens gegen dieselbe betrachtet« (27.2: 673).66

Der Weltbürger zeigt ein bezüglich seines »Wohlwollens« zweckmä­ ßiges Verständnis der Natur. Dabei ist die »Natur um sich her« nichts anderes als all die Verhältnisse in seinem Leben, bzw. all die Bedingungen der Existenz, im oben genannten Ausdruck Kants: »Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich […] die Welt« (2: 443). Sein »Wohlwollen« lässt sich als Wille zum Nutzen der Natur oder der Welt für die höheren bzw. wesentlichen Zwecke verstehen, die auf den Endzweck der Vernunft konvergieren. Dieses Wohlwollen ist kein privates oder bloß subjektives, sondern es betrifft alle Menschen, die die gleiche Bestimmung haben. In diesem Sinne meint Höffe: »֦Kos­ mopolitisch« heißt […], wer dem […] Gemeinwohl der Menschheit dient« (Höffe 2007, 187). Zusammenfassend gesagt zeichnet sich der Begriff Weltbürger in diesem Zusammenhang durch das Verhältnis des freien und sich seiner Bestimmung bewussten Menschen zu seiner Lebenswelt aus. Diese Implikation des Weltbürgers zeigt sich in einer Notiz des Opus postumum Kants, und zwar in einer ganz kompakten Form: »der Mensch als (Cosmopolita) Person (moralisches Wesen)[,] sich seiner Freyheit bewuste Sinnenwesen (Weltbewohner)[,] das vernünf­ tige Sinnenwesen in der Welt« (21: 31; Kommas von der Verf. hinzuge­ fügt).67

Jetzt können wir sagen, dass Kant unter dem Weltbürger den sich sei­ ner moralischen Bestimmung bewussten, frei handelnden Menschen versteht, der in der Welt wohnt und selbst mit sinnlichen Bedingun­ gen verbunden ist, was nichts mit »politischen Institutionen« zu tun hat (Höffe 2007, 186), wie in Kants politischen und rechtsphiloso­ Diese und die auf die nächste Fußnote bezogenen Passagen erschlossen sich durch Höffes Aufsätze über Kants Kosmopolitismus (u. a. 2007, 186; 2012, 61). 67 Siehe die unmittelbar vorangehende Fußnote.

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

phischen Schriften angedeutet wird, sondern nichts anderes als das existenzielle Merkmal des Menschen ist. Vorhin wurde gesehen, dass sich der Philosoph nach dem Welt­ begriff durch seine Maxime und sein Verhalten auszeichnet, die auf den Endzweck ausgerichtet sind. Dergleichen Maxime und Verhal­ ten sehen so aus, dass er im Bewusstsein seiner eigenen Freiheit und Bestimmung seine Lebenswelt in zweckmäßiger Weise erfasst und nutzt. In dieser Hinsicht lässt sich verstehen, warum Kant die Philosophie nach dem Weltbegriff gelegentlich auch als weltbürger­ lich bezeichnet. Fordert die Philosophie nach dem Weltbegriff bzw. in weltbür­ gerlicher Bedeutung den zweckmäßigen Gebrauch aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten, so lässt sich auch in dieser Hinsicht verste­ hen, warum sich ein reines Geschmacksurteil, welches an sich mit einem Vernunftzweck nichts zu tun hat, auf den Zusammenhang mit dem höchsten Gut erweitert. Es gibt in Kants Texten über die Erwei­ terung tatsächlich nicht wenige Belege dafür, dass Kant in seiner Geschmackstheorie die Idee der Philosophie nach dem Weltbegriff vor Augen hat. Dies soll zuerst hinsichtlich des intellektuellen Interesses am Naturschönen in § 42 der Kritik der Urteilskraft gezeigt werden und im neuen Kapitel wird behandelt, dass die weltbürgerliche Absicht dem ästhetischen Sollens-Anspruch zugrunde liegt.

2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen in § 42 der Kritik der Urteilskraft Obzwar unser Hauptanliegen letztendlich den Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils betrifft, liefert der § 42, in dem der SollensAnspruch nicht erwähnt wird, ein gutes Beispiel für eine in weltbür­ gerlicher Hinsicht erfolgende Erweiterung des Geschmacksurteils. Und das Subjekt dieses intellektuellen Interesses erweist sich als einem Zweck folgend, der sich dem Endzweck der Vernunft, d. h. dem höchsten Gut, unterordnet.

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2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen

2.2.1. Orientierung an der Idee des höchsten Guts In Kapitel III wurde ausführlich besprochen, dass sich das Subjekt eines intellektuellen Interesses an der Naturschönheit, welches mit einem reinen Geschmacksurteil verknüpft wird, an der Idee des höchs­ ten Guts orientiert: Kant schreibt, dass sich die Vernunft bei dieser Art von Interesse für die »objektive Realität« der »Ideen« interessiert (5: 300), und es wurde geklärt, dass die »Ideen« sich auf das höchste Gut als den Endzweck der Vernunft beziehen. Der Gedanke, »[d]aß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat« (5: 299), d. h., dass die Natur die »Übereinstimmung ihrer Pro­ dukte zu unserem, von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen« (5: 300) zeigt, trifft sich mit der erhöhten Wahrscheinlichkeit der Vorstellung, dass die natürliche Lebenswelt im Grunde menschen­ freundlich, ferner für den menschlichen Endzweck, das höchste Gut, günstig beschaffen ist. Nachdem sichergestellt wurde, dass sich das Subjekt des intel­ lektuellen Interesses wie auch der weltbürgerliche Philosoph auf das höchste Gut richtet, soll jetzt geprüft werden, ob es auch sein diesbezügliches gründliches Verhalten hat.

2.2.2. Geläutertes und gründliches Denkverhalten zur Willensbestimmung Ein reines Geschmacksurteil ist an sich von allem Interesse frei. Wenn das Subjekt eines reinen Geschmacksurteils dieses Urteil mit dem höchsten Gut verbindet, das prima facie in keinem Zusammenhang mit dem reinen Geschmacksurteil bzw. mit dessen reinem Wohlgefal­ len steht, zeigt dieses Subjekt eine bestimmte Betrachtungsweise bzw. Denkrichtung bezüglich seiner Erfahrungen. Vorhin wurde gesagt, dass sich der Philosoph nach dem Welt­ begriff durch seine Maxime und sein Verhalten auszeichnet, wovon beides zur praktischen Umsetzung des Endzwecks der Vernunft bei­ trägt. Um diese Maxime bzw. dieses Verhalten zu zeigen, muss man die Denkungsart haben und verwenden, durch die sich jede Erkenntnis und jede Geschicklichkeit bezüglich ihrer Zweckmäßigkeit bzw. Nützlichkeit für den Endzweck prüfen lassen. Für einen Philosophen mit solcher Denkungsart macht die ästhe­ tische Erfahrung mit der Natur keine Ausnahme. Auch wenn nicht

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

jeder auf ihren Zusammenhang mit dem Endzweck aufmerksam wird, hält er an seiner Denkungsart fest. Und auch derjenige, der ein intel­ lektuelles Interesse an der Naturschönheit hat, tut dies. Zu diesem Punkt sagt Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft: »Allein erstlich ist dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vor­ züglich empfänglich ist« (5: 301).

Obzwar Kant hier nur vom »Guten« – nicht vom höchsten Gut – spricht, lässt sich anhand der bisherigen Diskussionen schlussfolgern, dass Kant hier das höchste Gut als den Endzweck der Vernunft in Betracht nimmt. Durch diese Passage bestätigt Kant, dass das intellek­ tuelle Interesse am Schönen mit der Idee der Philosophie nach dem Weltbegriff zusammenhängt. Außerdem scheint dieses Interesse am Schönen aus dem Interesse an der Philosophie nach dem Weltbegriff (KrV A 840 = B 868 Anm.) zu folgen. Das letztere Interesse könnte jeder haben, da jeder dazu verpflichtet ist, nach allen Kräften das höchste Gut zu befördern, und da die Denkungsart der Philosophen »allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen wird« (KrV A 839 = B 867). Jedoch scheint ein allgemeines Interesse an der Idee der Philoso­ phie nach dem Weltbegriff allein nicht hinreichend, um sich bei der Begegnung mit der Naturschönheit dafür zu interessieren. Ansonsten wäre ein intellektuelles Interesse am Naturschönen doch »gemein« (vgl. die gerade zitierte Passage von 5: 301). Man muss bereits die passende Denkungsart in sich haben, wie die eben zitierte Passage besagt, damit jenes Interesse im konkreten Fall der Naturschönheit aktualisiert wird. Diese Denkungsart beschreibt Kant als »geläuterte[] und gründliche[] Denkungsart aller Menschen […], die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben« (5: 299). Das sittliche Gefühl lässt einen an seine Pflicht denken und motiviert ihn zur zweckmäßigen Interpreta­ tion der Naturschönheit. In der Bereitschaft des kultivierten, sittlichen Gefühls wird keine einzige Interpretationsmöglichkeit der zweckmä­ ßigen Lebenswelt verpasst. Daher lässt sich seine Denkungsart als »geläutert« und »gründlich« betrachten. Der Philosoph erwirbt seinen Namen nur durch seine Maxime und sein Verhalten, denn, wie gesehen wurde, ein praktischer Philo­ soph ist der eigentliche Philosoph (VM 4, 9: 24). Das Praktische des Philosophen beschränkt sich nicht auf eine aktive Handlungsmaß­

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2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen

nahme für die Realisierung des höchsten Guts, sondern dazu zählt auch die praktische Einstellung bzw. Betrachtungsweise. Wie zudem besprochen wurde, ist der Weltbürger jemand, der »die Natur um sich her in praktischer Rücksicht zur Ausübung seines Wohlwollens gegen dieselbe betrachtet« (27.2: 673). Das intellektuelle Interesse am Naturschönen lässt sich als derartige Betrachtung zur Ausübung eines Wohlwollens, d. h. des höchsten Guts, ansehen. Ferner weist Kant darauf hin, dass dieses Interesse über die bloße praktische Einstellung bzw. Betrachtung hinaus zuletzt zur passenden Willensbestimmung führt. Zu Beginn des § 41 thematisiert Kant die Möglichkeit der Verbindung eines reinen Geschmacksurteils mit einem Interesse. Da ein reines Geschmacksurteil an sich von jedem Interesse frei ist, muss diese Verbindung durch etwas vermittelt wer­ den. Dazu sagt Kant: »Diese Verbindung wird aber immer nur indirect sein können, d. i. der Geschmack muß allererst mit etwas anderem verbunden vorgestellt werden, um mit dem Wohlgefallen der bloßen Reflexion über einen Gegenstand noch eine Lust an der Existenz desselben (als worin alles Interesse besteht) verknüpfen zu können« (5: 296; Hervorhebung der Verf.).

Da Kant in §§ 41 f. vom empirischen und intellektuellen Interesse spricht, legt er auch zwei Möglichkeiten von diesem etwas anderen vor: »Dieses Andere kann nun etwas Empirisches sein, nämlich eine Nei­ gung, die der menschlichen Natur eigen ist; oder etwas Intellectuelles als Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können« (ibid.).

Die Neigung kann nur der Grund eines empirischen Interesses sein, folglich trifft das andere, »etwas Intellectuelles«, auf das hier ver­ folgte Anliegen zu: Das intellektuelle Interesse lässt sich durch die »Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können«, an ein reines Geschmacksurteil verknüpfen. Ein intellek­ tuelles Interesse an der Naturschönheit setzt also die Eigenschaft der Willensbestimmung voraus. In dieser Hinsicht ist die Lust an der Existenz der schönen Natur keine Endstelle der Erweiterung des Geschmacksurteils, sondern sie führt zur Handlung durch eine konkrete Willensbestimmung. Es wird im weiteren Lauf der Untersu­ chung die Ansicht vertreten und diskutiert, eine infrage kommende Handlung nach dem intellektuellen Interesse am Schönen ist der

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

Sollens-Anspruch auf die Zustimmung zu einem Geschmacksurteil. In dem Sinne lässt sich das Subjekt des intellektuellen Interesses als jemand betrachten, welcher einen Aspekt des Weltbürgers bzw. des Philosophen nach dem Weltbegriff dadurch verkörpert, sich in der geläuterten und gründlichen Denkungsart praktisch um den End­ zweck zu bemühen, oder sich zumindest in solcher Einstellung dafür bereit zu machen.

2.2.3. Wert nach der »Wahl« des Erlebnisses der Naturschönheit Nach Kant ist der »Philosoph« ein »hoher Name« (VM 6), auf den eigentlich niemand wirklichen Anspruch erheben kann. Dem hohen Namen liegen die Maxime und das Betragen als Kriterien der Namensgebung zugrunde: »Wenn wir das innere Princip der Wahl unter den verschiedenen Zwe­ cken Maxime nennen, so können wir sagen: die Philosophie ist eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Ver­ nunft. Dann wird der Philosoph mehr nach seinem Betragen, als nach seiner Wissenschaft bezeichnet« (VM 5; Hervorhebung der Verf.).

Das innere Prinzip der Auswahlentscheidung für einen Zweck ist die Maxime und die Maxime zeigt sich im Betragen bzw. Verhalten. Anhand eines Verhaltens kann man vermuten und zugleich beurtei­ len, ob jemand weltbürgerlichen Maximen folgt oder nicht. Dem Philosophen einen hohen Namen zuzuschreiben, und zwar aufgrund seines Betragens, verweist auf Kants Ansicht hinsichtlich der Wert­ schätzung eines Menschen. Das Verhalten eines Menschen lässt sich daher als ein Grund der Wertschätzung betrachten. Die Wertschätzung eines Menschen aufgrund seines Verhaltens lässt sich auch in der Diskussion über das intellektuelle Interesse in § 42 der Kritik der Urteilskraft beobachten. Kant zufolge zeigt das Subjekt, das anhand der Naturschönheit ein intellektuelles Interesse hat und in solch einer geläuterten und gründlichen Denkungsart ver­ bleibt, die ständige Präferenz für die Naturschönheit vor der Kunst­ schönheit. Sein Verhalten bzw. sein Handeln, worin er »sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet« (5: 299) oder »sich zum Schönen der Natur wendet« (5: 300), wird hochgeschätzt: »[…] so werden wir diese seine Wahl [für die Beschauung der Natur] selber mit Hochachtung betrachten« (5: 300; Hervorhebung der Verf.).

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2.2. Weltbürgerliche Merkmale beim intellektuellen Interesse am Naturschönen

Doch ist seine Wahl weder zufällig noch zwecklos. Das Subjekt richtet sich in diesem Verhalten auf einen Zweck, der es der Hochachtung wert, d. h. wertvoll, macht. Dieser Zweck ist der Endzweck der Ver­ nunft, das höchste Gut. Das Subjekt dieses intellektuellen Interesses denkt an die Mög­ lichkeit der für seinen Zweck günstig beschaffen Lebenswelt und handelt, um sich in die Gelegenheit zu versetzen, die solche Gedanken aktiviert. Das ähnelt dem Philosophen nach dem Weltbegriff, indem es eine zweckmäßige Verbindung seiner Kenntnis bzw. seiner Erfahrung mit dem Endzweck herausstellt und sich um solche Gelegenheit tatsächlich bemüht. Von diesen zwei Tätigkeiten des Subjekts des intellektuellen Interesses sorgt nicht die zweckmäßige Denkungsart, sondern die aktive Maßnahme (das Handeln) für die Gelegenheit der Aktualisie­ rung jener Denkungsart, welche Kant in § 42 mit dem Ausdruck »Hochachtung« versieht und dadurch für wertvoll hält (5: 300). Es ist zwar ersichtlich, dass das aktive Sich-Wenden zum Schönen der Natur nur bei der bereits vorhandenen Fähigkeit für die Denkungsart bedeutsam ist. Aber Kant betont doch die Wichtigkeit des Akts, sich selbst in jene Gelegenheit einer Aktivierung der Denkungsart zu ver­ setzen. Mit anderen Worten lässt sich dies auch als Betonung der Wichtigkeit davon verstehen, das aktive Selbstdenken auch selbst zu erleben. Es wird die Ansicht vertreten, dass das Selbsterleben des zweck­ mäßigen Denkens bei Kant deshalb wichtig ist, weil es beim Problem der Pflicht des höchsten Guts als des Endzwecks der Vernunft schließ­ lich um die Selbstmotivation geht. Um sich zur Ausführung dieser Pflicht zu motivieren, muss man selbst denken und urteilen können, dass jene Ausführung nicht unmöglich sei. Es ist nun ein Geschmacksurteil über die Naturschönheit, wel­ ches solch einem Erlebnis des zweckmäßigen Denkens Anlass gibt. Unter der Berücksichtigung des Kantischen Begriffs der Autonomie des Geschmacks, wonach ein Geschmacksurteil jederzeit auf eigenem Erlebnis mit dem schönen Objekt und dem dabei entstehenden Gefühl der Lust oder Unlust gründen soll (5: 281 f.), muss man zunächst selbst ein Geschmacksurteil fällen und selbst etwas schön finden, um zum weiteren Gedankengang über die zweckmäßige Beziehung dieses Urteils auf den Endzweck, im hier verwendeten Terminus, zur Erwei­ terung des Geschmacksurteils, fortzuschreiten.

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2. Philosophie nach dem Weltbegriff und das intellektuelle Interesse

Im nächsten Kapitel wird besprochen, wie der Sollens-Anspruch auf die Zustimmung zu einem Geschmacksurteil in dieser Hinsicht eine Möglichkeit der eigenen Berechtigung findet und er sich an die Wertschätzung des Menschen knüpfen lässt. Nach Kant ist »der praktische Philosoph« und damit der welt­ bürgerliche Philosoph »der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Bei­ spiel« (9: 24). Er kann das »Beispiel« auch vom Außen von sich beschaffen, aber auch aus dem Inneren seiner selbst68 oder sein eige­ nes Verhalten zum Beispiel geben. Das Subjekt, das in Begegnung mit der schönen Natur an den Endzweck seiner Vernunft denkt und sich zu dessen Realisierung motiviert, kann sowohl selbst die Rolle sol­ chen Beispiels spielen als auch eine Möglichkeit des Verhaltens des Philosophen zeigen. Auch der Sollens-Anspruch des Geschmacksur­ teils, das in Kapitel V thematisiert werden soll, lässt sich in weltbür­ gerlicher Absicht verstehen. Das Subjekt jenes Anspruches weist einen Aspekt des weltbürgerlichen Philosophen auf, genauso wie jenes in § 42 der dritten Kritik beschriebene Subjekt, das sich für das Erlebnis der schönen Natur entscheidet.

Höffe bringt den stoischen Weisen, den Kant als ein Ideal nennt (KrV B 596 f.), in Zusammenhang mit dem weltbürgerlichen Begriff der Philosophie (Höffe 2012, 61 f.).

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V. Weltbürgerliche Absicht beim Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

1.1. Sollens-Anspruch als eine Handlung aus dem intellektuellen Interesse Neben dem Sich-Wenden zur Beschauung der Naturschönheit, das Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft schildert, lässt sich noch eine weitere Handlung in Kants Geschmackstheorie beobachten, zu wel­ cher das intellektuell interessierte Subjekt des Geschmacksurteils gelangt: Das ist der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils. Der Zusammenhang dieses Sollens-Anspruchs mit dem intel­ lektuellen Interesse wurde bisher mehrmals thematisiert. In der Dis­ kussion in 3. von Kapitel I über den Perspektivenwechsel vom Phä­ nomenalen zum Übersinnlichen bei der Erweiterung des Geschmacksurteils, die in § 57 der dritten Kritik ausgeführt worden ist und schließlich in den Sollens-Anspruch auf die Zustimmung mündet, wurde die Ansicht vertreten, dass der Perspektivenwechsel durch das intellektuelle Interesse des Subjekts des Geschmacksurteils erfolgt. Dort wurde auch gesehen, dass Kant selbst zum Ende des § 40 auf den Zusammenhang zwischen einem intellektuellen Inter­ esse bezüglich des Geschmacksurteils einerseits und dem Anspruch auf die pflichtartige Zustimmung andererseits hindeutet. Außerdem hat der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils den starken Hand­ lungscharakter, wie in 1.1 von Kapitel III gesehen wurde, sodass dieser aufgrund der durch das intellektuelle Interesse geförderten Willens­ bestimmung als Handlung gelten kann. Der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils scheint in der Tat eine wichtigere Handlung als das Sich-Wenden zur Naturschönheit zu sein. Denn Kants Diskussion über das Letztere lässt sich außerhalb von § 42 der dritten Kritik nicht beobachten, wohingegen der SollensAnspruch an vielen Stellen als wichtiges Thema behandelt wird. Warum führt ein intellektuelles Interesse zu den verschiedenen Arten von Handlung? Es hat den gleichen Grund, wie in 1. von Kapitel

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

IV besprochen wurde: Abhängig von dem bestimmten Zweck, auf den sich ein Interesse richtet, können sich verschiedene Maximen ergeben, die zu verschiedenen Handlungen führen. Wenngleich das Sich-Wenden zur Natur und der Sollens-Anspruch gemeinsam auf den Endzweck orientiert sind, richtet sich das erstere auf die Selbstmo­ tivation zur Pflichtausführung und das letztere auf etwas, was sich auf die Teilnahme nicht nur eines Subjekts, sondern auch von anderen bezieht, welches noch näher erklärt wird. Aber es ist auch möglich, dass sich ein Subjekt zugleich für beide oder auch für andere Zwecke interessiert, wenn sie nur dem Endzweck unterzuordnen sind. Wie in 3. von Kapitel I gesehen wurde, besteht die Erweiterung des Geschmacksurteils bzw. die »erweiterte Beziehung der Vorstel­ lung« (5: 339) auf der objektiven und auf der subjektiven Seite. Der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils kann auch beiderseits anknüpfen. Auch in der bisherigen Diskussion zum Zusammenhang des Sollens-Anspruchs mit dem intellektuellen Interesse zeigen sich beide Arten von Sollens-Anspruch (Das erwähnte Interesse im letzten Absatz des § 40 bezieht sich auf die Erweiterung auf subjektiver Seite und das in § 42 auf jene der objektiven Seite). Es soll untersucht werden, inwiefern sich der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils, der entweder auf der objektiven oder auf der subjektiven Erweiterung der Vorstellung gründet, als eine zum höchsten Gut beitragende, weltbürgerliche Handlung betrachten lässt und wie er in dieser Hinsicht seine Berechtigung findet. Bevor darauf eingegangen wird, lässt sich bemerken, dass sich der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils schließlich auf das Prob­ lem der kollektiven Sittlichkeit des Menschen69 bezieht, und zwar unabhängig davon, ob er auf der objektiven oder auf der subjektiven Erweiterung der Vorstellung gründet. Denn man fordert durch den Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils immer von den anderen, am eigenen Urteil teilzunehmen. Dies unterscheidet sich von der in 2.2 des letzten Kapitels besprochenen Handlung, sich für das Natur­ erlebnis zu entscheiden. Und zwar darin, dass der Sollens-Anspruch sich nicht auf den Anspruch-Erheber beschränkt, sondern auf alle anderen richtet.

69 Mit dem Begriff der kollektiven Sittlichkeit des Menschen beschäftigte sich insbe­ sondere Kapitel III.

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1.2. Der hinsichtlich der objektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

1.2. Der hinsichtlich der objektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch Der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils, der auf der Erweite­ rung der Vorstellung des Objekts beruht, lässt sich auf die Aufmerk­ samkeit auf die zufällige Zusammenstimmung zwischen Natur und Erkenntnisvermögen zurückführen. Durch die Aufmerksamkeit wird das Subjekt zu dem erweiterten Gedanken hinüber geleitet. Anhand der Vorstellung der Natur als Objekt außerhalb von uns denkt das Subjekt an das übersinnliche Substrat, das der Erscheinung der zufälli­ gen Zusammenstimmung zugrunde liegt. Denn die zufällige Zusam­ menstimmung zwischen der Natur, die nicht der Mensch herstellt, und dem menschlichen Erkenntnisvermögen deutet die Möglichkeit der Übereinstimmung des übersinnlichen Substrats hinter der Natur mit dem Endzweck der menschlichen Vernunft an. Bei solcher Aufmerksamkeit auf die Zusammenstimmung kann man sich entweder um die eigenen weiteren persönlichen Erleb­ nisse bemühen oder auch von den anderen das Fällen eines reinen Geschmacksurteils gleichsam erzwingen, auf welchem die Erweite­ rung aufbaut. Beim gelungenen letzteren Fall, wenn also andere Men­ schen dem Sollens-Anspruch eines Subjekts nachkommen und selbst ein reines Geschmacksurteil fällen, könnten einige sittlich Kultivierte unter ihnen genauso wie der Anspruch-Erheber die Erweiterung über die reine Schönheitsbeurteilung hinaus erleben. Dabei bekommen sie alle die Gelegenheit, sich zum höchsten Guten zu motivieren, indem sie sich der Natur als Ort der möglichen Verwirklichung des höchsten Guts bewusst werden. Und je mehr solcher Fälle sich ergeben, desto vollständiger wird die kollektive Sittlichkeit des Menschen in dem Sinne, dass immer mehr Menschen sich durch die Selbstmotivation um das höchste Gut bemühen. Diejenigen, die sittlich nicht besonders kultiviert sind, würden jedoch nicht zu solcher Selbstmotivation gelangen, auch wenn sie selbst eine reine Schönheitsbeurteilung ausübten. Und ihretwegen würde die kollektive Sittlichkeit des Menschen daher unvollständig bleiben. Jedoch liegt dies außerhalb des Könnens des Anspruch-Erhe­ bers, denn er ist für die Nicht-Kultiviertheit der anderen nicht verant­ wortlich. Zu beachten ist, dass er durch seine Forderung gegenüber den anderen tatsächlich versucht und sich bemüht hat, zur kollektiven Sittlichkeit beizutragen. Dabei hat er »ein höchstes auch durch unsere [d. h. seine] Mitwirkung mögliches Gut in der Welt« (8: 279; Hervor­

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

hebung der Verf.) gefördert und versucht, das höchste Gut »nach allen meinen [d. h. seinen] Kräften zu befördern« (5: 142; Hervorhebung der Verf.). Wegen des unterschiedlichen sittlichen Niveaus der Individuen bestehen also zwei Möglichkeiten der Einhelligkeit unter den Men­ schen, die durch das Geschmacksurteil erreicht werden könnte: (1) Alle Menschen stimmen anhand eines reinen Geschmacksurteils überein; (2) Alle Menschen sind sich in der Selbstmotivation und Bemühung um das höchste Gut einig. In der weltbürgerlichen Absicht, wo sich alles um des höchsten Guts willen in die Zweck­ verbindung setzen lässt, wird die zweite Einhelligkeit bevorzugt. Jedoch lässt sich solch ein Niveau in der Wirklichkeit nicht bei jedem Menschen erwarten, wie auch Kant meint. Ist dann die erste Einhelligkeit allein sinnlos für eine Beförde­ rung des höchsten Guts? Ist dieser Fall für das höchste Gut irrele­ vant, indem diese Form von Einhelligkeit der Menschen auf dem Niveau des reinen Geschmacksurteils verbliebe und sie nicht das die Selbstmotivation ermöglichende Bewusstsein erlangten? Im Schluss von 1.3.2 soll gezeigt werden, dass die Möglichkeit der Einhelligkeit der Menschen selbst bereits ausreichend ist, um die interessierte Aufmerksamkeit der Vernunft auf sich zu ziehen, auch wenn nicht alle von ihnen moralisch sind. Folglich ist die Einhelligkeit auf dem Niveau des reinen Geschmacksurteils für das höchste Gut doch relevant.

1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch 1.3.1. Das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls Wie bereits in 3.3 des Kapitels I zitiert und in 3.4 desselben bespro­ chen wurde, betont Kant im letzten Absatz des § 40 der Kritik der Urteilskraft, dass ein Vernunftinteresse nicht nur in objektiver, son­ dern auch in subjektiver Hinsicht möglich ist, und zwar in der Form des Interesses an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls beim Geschmacksurteil (5: 296). Derselbe Absatz lässt erkennen, dass die­ ses Vernunftinteresse dem ästhetischen Sollens-Anspruch zugrunde liegt, wie ebenfalls festgestellt wurde. In § 42, wo er das Vernunftinteresse in objektiver Hinsicht beim Geschmacksurteil intensiv erörtert, thematisiert Kant den ästheti­

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1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

schen Sollens-Anspruch nicht. Hinsichtlich des Sollens-Anspruchs ist das Vernunftinteresse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls sehr wichtig. Obzwar Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft mit der Über­ schrift »Von dem intellektuellen Interesse am Schönen« seine Dis­ kussion über das Vernunftinteresse auf jenes in objektiver Hinsicht einschränkt, gibt es noch Stellen neben jenem letzten Absatz des § 40, in denen Äußerungen zu dem Vernunftinteresse bzw. zu der Lust an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls gemacht werden. Diese Stellen sollen besprochen werden, um dieses Vernunftinteresse an die Diskussion über die Erweiterung des Geschmacksurteils und seinen Sollens-Anspruch zu knüpfen. In § 69 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bringt Kant zum klaren Ausdruck, dass beim Geschmacksurteil nicht nur die Lust beim reinen Geschmacksurteil als »Bewußtsein der bloß forma­ len Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntnißkräfte des Subjects bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird« (5: 222), sondern auch die Lust an der allgemeinen Mitteilbarkeit jener Lust ins Spiel hervorgebracht wird: »Der Geschmack (gleichsam als formaler Sinn) geht auf Mittheilung seines Gefühls der Lust oder Unlust an Andere und enthält eine Empfänglichkeit, durch diese Mittheilung selbst mit Lust afficirt, ein Wohlgefallen (complacentia) daran gemeinschaftlich mit Anderen (gesellschaftlich) zu empfinden.« (7: 244; Hervorhebung der Verf.).

Das »Gefühl der Lust oder Unlust« bezieht sich auf das Gefühl beim reinen Geschmacksurteil und die als Nächstes kursiv markierte »Lust« und das »Wohlgefallen« gehören zur Lust an der allgemeinen Mitteilbarkeit jenes Gefühls. Dazu äußert Brandt: »Es gibt also für die philosophische Analyse eine doppelte Lust, die des solitär gedachten und die des sozial gedachten Subjekts. Bei dem ersteren wird das absichtsfreie Spiel der Erkenntniskräfte mit dem Gefühl der Lust empfunden, das die Grundlage des Schönheitsurteils ist. Die Allgemeinheit ermöglicht die Einstimmung im sensus commu­ nis mit anderen Subjekten, und auch diese Einstimmung erzeugt ein Wohlgefallen« (Brandt 1999, 361; Hervorhebung der Verf.).

Der Unterschied zwischen dieser »doppelten Lust« lässt sich verste­ hen anhand der Unterscheidung zwischen der kontemplativen und der praktischen Lust, die Kant in der Metaphysik der Sitten trifft (6: 212). Die praktische Lust unterteilt sich wieder in zwei Arten, von denen die

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

zweite Lust – in Brandts Ausdruck »die des sozial gedachten Subjekts« – zur »intellectuelle[n] Lust« gehört, wobei die Verknüpfung der Lust mit dem Begehrungsvermögen erfolgt, indem »die Lust nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann« (ibid.). Denn die zweite Lust, d. h. das »Wohlgefallen an der Überein­ stimmung der Lust des Subjects mit dem Gefühl jedes Anderen« (7: 244), entsteht laut Kant »nach einem allgemeinen Gesetz, welches aus der allgemeinen Gesetzgebung des Fühlenden, mithin aus der Vernunft entspringen muß« (ibid.). Dies besagt, dass die zweite Lust nicht bloß eine sinnliche »Empfänglichkeit« ist, sondern mit einer Art Vernunftnotwendigkeit verbunden ist. Welche Vernunftnotwendigkeit besteht hier? Kant spricht hier von der »Nothwendigkeit (dieses Wohlgefallens)«und damit der Notwendigkeit der zweiten Lust. Dazu sagt Kant: »[…] die Wahl nach diesem Wohlgefallen steht der Form nach unter dem Prinzip der Pflicht« (7: 244).

Bemerkenswert ist dabei, dass nicht die Übereinstimmung der ersten Lust zwischen den Subjekten, sondern das aktive Fühlen des Wohl­ gefallens an dieser Übereinstimmung notwendig und pflichtartig gefor­ dert wird. Dies bedeutet auch, dass das nach der Gesetzgebung der Vernunft bewusste Begehren der Übereinstimmung gleichsam als Pflicht gefordert wird. Es ist schließlich das Vernunftinteresse an der Übereinstimmung zwischen den Subjekten anhand eines Geschmacksurteils, das sich gemäß dem »Prinzip der Pflicht« (7: 244) als notwendig erklärt.70 Der § 69 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht unterscheidet sich von anderen Passagen, die die Überein­ stimmung zwischen Subjekten durch den Geschmack thematisieren, im folgenden Punkt: Während Kant in diesen Passagen durch den Anspruch auf die allgemeine Zustimmung zu einem Geschmacksur­ teil die Notwendigkeit der Übereinstimmung zwischen den Subjekten selbst zuspricht, schreitet er in § 69 der Anthropologie in pragmati­ scher Hinsicht ein Stück voran und hält das Vernunftinteresse gerade an dieser Übereinstimmung für notwendig und allgemeingültig. Damit ist hier von der Einhelligkeit der Subjekte durch das erweiterte Denn Kant definiert den Begriff des Interesses so, dass »die Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu sein geurtheilt wird, Interesse heißt« (6: 212). 70

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1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

Geschmacksurteil die Rede, nicht von der Einhelligkeit durch das reine Geschmacksurteil. Kant bezieht in § 69 der Anthropologie in pragmatischer Hin­ sicht den Geschmack auf die »äußere« Beförderung der Moralität. Dies ist nicht leicht zu verstehen, da Kant hierbei die zweite Lust aus der Gesetzgebung der Vernunft und dem Prinzip der Pflicht erklärt. Zur äußeren Beförderung der Moralität durch den Geschmack äußert Kant: »Den Menschen für seine gesellschaftliche Lage gesittet zu machen, will zwar nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich gut (moralisch) zu bilden, aber bereitet doch durch die Bestrebung in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden) dazu vor« (7: 244).

Nach dieser Passage qualifiziert einen im gesellschaftlichen Sinne gesitteten Menschen »die Bestrebung […,] anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden)«. Sicherlich grenzt sich ein solcher Mensch von dem Subjekt der Gesetzgebung aus dem Prinzip der Vernunft a priori bei der zweiten Lust ab. Jener ähnelt vielmehr dem Subjekt des empirischen Interesses der Geselligkeit. In dieser Hinsicht sollte der »Geschmack«, der hier die »Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität« enthält, nicht als der Geschmack im erweiterten Sinne, sondern auf der Ebene des reinen Geschmacksur­ teils verstanden werden. Denn die Subjekte, die auf dieser Ebene zur Einhelligkeit gelangen, sind nicht immer diejenigen, die aus der Gesetzgebung der Vernunft die »Wahl« nach der zweiten Lust treffen. Es gibt eine Stelle, an der Kant auf das äußere Verhältnis des Geschmacks zur Vernunftnotwendigkeit hinweist. Sie ist zu finden im letzten Absatz des § 22 der dritten Kritik, der bereits mehrfach bespro­ chen wurde. Dort ist von dem Gemeinsinn im zweiten Sinne als der »Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen« die Rede, welcher das Geschmacksurteil so bestimmt, dass »ein Geschmacksurtheil mit seiner Zumuthung einer allgemeinen Beistimmung in der That nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sollen, d. i. die objective Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern, nur die Möglichkeit hierin einträchtig zu werden bedeute, und das Geschmacksurtheil nur von Anwendung dieses Princips ein Beispiel aufstelle« (5: 240).

Hier wird die »Zumuthung einer allgemeinen Beistimmung«, d. h. der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils, als »eine Vernunftfor­

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

derung […], eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen« beschrieben. Dies deutet auf die Ansicht hin, die Übereinstimmung oder den Konsens unter den Subjekten über die Schönheitsbeurtei­ lung als »Einhelligkeit der Sinnesart« zu betrachten. Die Einhelligkeit der Sinnesart bedeutet die Übereinstimmung zwischen Subjekten im Gefühl, da der Sollens-Anspruch in der oben zitierten Passage als »die objective Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern« formuliert wird (5: 240; Hervorhebung der Verf.). Es wird die Ansicht vertreten, dass die »Ein­ helligkeit der Sinnesart« hier das äußere Verhältnis des Konsenses anhand des Geschmacks zur Förderung des höchsten Guts anzeigt. Es fragt sich, inwiefern diese Übereinstimmung als Einhellig­ keit der »Sinnesart« charakterisiert wird und welches äußerliche Verhältnis zur Vernunftnotwendigkeit sie hat. Dafür braucht es den Kantischen Begriff der Sinnesart.

1.3.2. Einhelligkeit der Sinnesart und ihr äußerliches Verhältnis zur Sittlichkeit a. Empirischer Charakter, intelligibler Charakter In der Kritik der reinen Vernunft wird die »Sinnesart« als Wech­ selbegriff des empirischen Charakters verwendet. Der empirische Charakter ist »eine gewisse Kausalität seiner Vernunft« (KrV A 549 = B 577) als die Art und Weise, wie die transzendentale Freiheit in der Sinnenwelt erscheint. Dem empirischen Charakter, der sich vom intel­ ligiblen Charakter unterscheidet, liegt die existenzielle Bedingung des Menschen zugrunde: Der Mensch unterliegt der Bedingung, dass er in der transzendentalen Freiheit der reinen praktischen Vernunft zwar über die Spontaneität verfügt, unabhängig von jeder sinnlichen Bedingung mit einer Handlung zu beginnen, dass die Verwirklichung dieser Freiheit aber lediglich unter den sinnlichen Bedingungen erfol­ gen kann. Der empirische Charakter ist freilich vom intelligiblen Charakter abhängig. Der empirische Charakter »ist wiederum im intelligibelen Charakter (der Denkungsart) bestimmt« (KrV A 551 = B 579). In dieser zitierten Passage ist sowohl darauf zu achten, dass Kant den intelligiblen Charakter mit der Denkungsart gleichsetzt, als auch darauf, dass der empirische Charakter in diesem Verhältnis des

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1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

Bestimmt-Werdens den intelligiblen Charakter in einer gewissen Weise vertritt. Die Vertretung des intelligiblen durch den empirischen Charakter ist deshalb zwingend, weil man den intelligiblen Charakter niemals unmittelbar erkennt, sondern sich nur durch die Erscheinun­ gen auf ihn beziehen kann. Dazu sagt Kant: »Die letztere [sc. Denkungsart] kennen wir aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnes­ art (empirischen Charakter) unmittelbar zu erkennen geben« (KrV A 551 = B 579).

Folglich wird man bei einer Evaluation der Sittlichkeit einer mensch­ lichen Handlung dazu gezwungen, nach der Regel, gemäß derer der empirische Charakter seine »Wirkungen in der Erscheinung […] zeigt«, die dahinter liegende Maxime abzuleiten und diese zu beurtei­ len (KrV A 549 = B 577). In dieser Hinsicht äußert Kant: »Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden« (KrV A 551 = B 579 Anm.). Trotzdem sind moralische Beurteilungen der folgenden Eingeschränktheit ausgesetzt: »Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der blo­ ßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten« (KrV A 551 = B 579 Anm).

In diesem Sinne bleibt uns die »eigentliche Moralität der Handlung«, »selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen« (ibid.). Unabhängig von dieser Verborgenheit der eigentlichen Sittlich­ keit einer Handlung besteht die Sittlichkeit sicher in der Reinheit der Maxime, lediglich aus der Pflicht zu handeln, bzw. darin, lediglich die Pflicht zum obersten Grund einer Maxime zu machen. Diese Reinheit wird nicht durch die Pflichtmäßigkeit der Handlung garantiert. Denn man kann jederzeit aus dem »Prinzip der Glückseligkeit« oder aus seiner pflichtmäßigen Gewohnheit eine pflichtmäßige Handlung tun (6: 47). Die Art von Tugend in diesem Kontext nennt Kant virtus phenomenon, bzw. »Tugend der Legalität nach als ihrem empirischen Charakter« (ibid.). Eine tugendhafte Handlung dieses Typs ist nicht ohne Weiteres die der eigentlichen Sittlichkeit, obwohl sie die Erschei­ nung der Pflichtmäßigkeit hat, wenn sie ihrem empirischen Charakter gemäß betrachtet wird. Die eigentliche Sittlichkeit geht mit der virtus noumenon zusam­ men. Sie muss »tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter« sein (6:

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

47), wobei es nicht auf die Sinnesart, sondern auf die Denkungsart ankommt. Hier stellt sich die Frage, welchen moralischen Sinn dann die Einhelligkeit der Sinnesart durch ein Geschmacksurteil besitzt, wenn die Sinnesart bloß scheinbar eine Beziehung zur eigentlichen Sittlichkeit hat?

b. Beitrag der Einhelligkeit der Menschen hinsichtlich der äußerlichen Tugend zu der dem höchsten Gut förderlichen Gesellschaft Beim Schildern der Einstimmung zwischen Menschen durch den Geschmack in § 22 der Kritik der Urteilskraft spricht Kant von der »Einhelligkeit der Sinnesart« und dem »Zusammenfließen des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besonderen« (5: 241). Wie durch ihren Gegensatz zur Denkungsart ersichtlich wird, erfasst der Begriff der Sinnesart in Kants allgemeinen Begriffsverwendungen »die nicht begriffliche und nicht-objektive Dimension der Erfahrung« (O’Connor 2015, 2110). Es ließe sich fragen, warum Kant auf die Ein­ helligkeit durch das Geschmacksurteil achtet, wenn die Subsumtion der logischen Urteilskraft für ein begriffliches Erkenntnisurteil hin­ sichtlich der Einhelligkeit zwischen Menschen vorteilhafter ist als die der ästhetischen Urteilskraft, sie damit »nicht so oft und leicht« feh­ lerhaft wie die der ästhetischen Urteilskraft ist (5: 291), sodass die Realisierung der Einhelligkeit anhand eines Erkenntnisurteils viel leichter ist als die anhand eines Geschmacksurteils. Käme es bloß auf irgendeine Einhelligkeit zwischen den Menschen an, so wäre die Ein­ trächtigkeit anhand eines begrifflichen Erkenntnisurteils eine gewiss­ heitsstiftende Wahl verglichen zu jener anhand des reinen ästheti­ schen Urteils erzielten. Während die Einhelligkeit durch eine begriffliche Erkenntnis keinen Berührungspunkt mit der Sittlichkeit bzw. den höheren Zwe­ cken der Vernunft hat, deutet Kant bezüglich der Einhelligkeit anhand des Gefühls beim Geschmacksurteil auf einen solchen mit den letz­ teren Zwecken mehrmals hin. In seinen Erläuterungen zu dem reinen Geschmacksurteil äußert Kant, dass das Prinzip des reinen Geschmacksurteils ein bestimmter Gemütszustand ist, das sich als ein spezifisches Verhältnis zwischen der Einbildungskraft und dem Ver­ stand verstehen lässt (5: 217 f.; 5: 238). Dieser Gemütszustand kenn­ zeichnet sich dadurch aus, dass er lediglich durch das Gefühl bewusst wird (5: 218 f.; 5: 239). In diesem Sinne formuliert Kant in § 9 der

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Kritik der Urteilskraft die Lust an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls, die er im letzten Absatz des § 40 der dritten Kritik und in § 69 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht beschreibt, auch als die Lust daran, »seinen Gemüthszustand […] mittheilen zu kön­ nen« (5: 218; Hervorhebung der Verf.).71 Dieser Gemütszustand ist zwar an sich von allem Praktischen befreit. Kant macht aber auf die Ähnlichkeit zwischen diesem Gemütszustand und der moralischen Gesinnung aufmerksam, nach­ dem er die Deduktion erledigt, insbesondere in § 42 und § 59 der drit­ ten Kritik. Dabei weist Kant darauf hin, dass die zwei Gemütszustände analogisch zu betrachten sind. Der in § 42 vorgelegte Analogiepunkt hat mit dem in § 59 als Zweites vorgelegten Punkt gemein, dass den beiden Gemütszustän­ den kein Interesse – mit Kants beliebtem Ausdruck – »vorhergeht« (5: 354; vgl. 5: 216) und ihnen damit kein Interesse zugrunde liegt (5: 300; 5: 354). Gerade durch diesen Punkt lassen sich auch die anderen Punkte der Analogie in § 59 verstehen. Weil beide Gemütszustände auf keinem Begriff des Wohlgefallens gründen, ist das Wohlgefallen in beiden Gemütszuständen vom Charakter der Unmittelbarkeit (der erste Analogiepunkt). Da die Gemütszustände auf kein (beliebiges) Interesse angewiesen sind, haben die mit ihnen verbundenen Urteile keinen beliebigen, sondern allgemeinen Grund (der vierte Analogie­ punkt). Außerdem zeigen sie gemeinsam die Freiheit des Subjekts, d. h. die Fähigkeit, etwas nicht aus einem äußerlichen Grund, sondern aus der eigenen Spontaneität bzw. der Autonomie anzufangen, und zugleich doch noch die Gesetzmäßigkeit (der dritte Analogiepunkt). Wie lässt sich dann aufgrund derartiger Analogie zwischen dem Gemütszustand des reinen Geschmacksurteils und dem der morali­ schen Gesinnung Kants Aussage verstehen, dass die Einhelligkeit der Sinnesart durch ein Geschmacksurteil erreichbar sei? Die Ähnlich­ keit zwischen beiden in den verschiedenen Hinsichten ermöglicht die Ansicht, dass der Gemütszustand des reinen Geschmacksurteils 71 An dieser Stelle des § 9 der dritten Kritik stellt sich Kant die Aufgabe, diese Lust in einer Weise zu erörtern, die weder empirisch noch psychologisch ist. Zu beachten ist, dass Kant das Aufgreifen dieser Aufgabe aufschiebt »bis zur Beantwortung derjenigen: ob und wie ästhetische Urtheile a priori möglich sind« (5: 218), d. h. hinter die Deduk­ tion der Geschmacksurteile, die die §§ 30–38 deckt. In dieser Hinsicht scheint die Aufgabe in § 40 und § 42 ausgeführt zu werden, wo die von der Lust beim reinen Geschmacksurteil zu unterscheidende Lust in der intellektuellen Hinsicht diskutiert wird.

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wenigstens hinsichtlich der Äußerlichkeit der moralischen Gesinnung ähnlich ist, obwohl er gar nicht »aus Pflicht« besteht. Kant äußert in seiner Geschmackstheorie zudem wiederholt, dass der Gemütszu­ stand des reinen Geschmacksurteils unabsichtlich, durch ein freies und spontanes Spiel der Erkenntniskräfte, entsteht. Diesen Gemüts­ zustand hält Kant für die fundamentale subjektive Bedingung des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt, die bei jedem Menschen vor­ ausgesetzt werden kann. Die Äußerlichkeit der moralischen Gesin­ nung kommt bei einem Geschmacksurteil völlig natürlich und ohne irgendeinen Zwang vor. Und dies gilt dennoch für jeden Menschen. Schließlich scheint Kant durch seine Betonung der Einhellig­ keit der Sinnesart auf die Möglichkeit der Einhelligkeit zwischen Menschen hinsichtlich der Äußerlichkeit des Gemütszustandes bzw. der äußerlichen Ähnlichkeit mit dem moralischen Gemütszustand aufmerksam zu machen. Nun stellt sich die Frage: Welchen Sinn hat diese Möglichkeit, wenn sie sich bloß auf die Äußerlichkeit der Moralität bezieht? Was die Ausführung des höchsten Guts in der Sinnenwelt angeht, kann die Einhelligkeit der Menschen deshalb wichtig sein, weil sie dann einem individuellen Menschen zur Erreichung seines moralischen Zwecks verhilft, wenn die Einhelligkeit auf eine sittliche Richtung orientiert ist und folglich die gesellschaftliche Grundlage den gewünschten Erfolg des sittlichen Zwecks ermöglicht. Bei einer Einhelligkeit der Menschen in der Äußerlichkeit der Sittlichkeit kann man jedoch niemals wissen, ob ihre Maximen wirklich sittlich sind, ob ihre Gesinnungen auch dem intelligiblen Charakter nach tugendhaft sind. Nur ein göttlicher Verstand kann dies durchschauen. Für den Menschen, der innerhalb seiner Fähigkeit nach der Ausführung seines sittlichen Zwecks strebt, ist schließlich die Äußerlichkeit der Sittlich­ keit wichtig, da die dem empirischen Charakter nach pflichtmäßigen Handlungen sicherlich die erfolgreiche Realisierung seines Zwecks fördern könnten. Gemäß der transzendentalen Idee der moralischen Welt sind alle deren Mitglieder sittlich, d. h. tugendhaft dem intelligiblen Charakter nach und sie würden für die bloße Äußerlichkeit der Sittlichkeit bzw. die mögliche Einhelligkeit in dieser Hinsicht kein Interesse hervorbringen. Aber die Vernunft eines Weltbürgers, der unter den existenziellen Bedingungen alle Erkenntnisse für die Selbstmotiva­ tion zur Ausführung des höchsten Guts benutzen will, interessiert die Möglichkeit der Einhelligkeit doch, wenn sie auch nur in Hinsicht

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auf die äußerliche Tugend besteht. Würde solche Einhelligkeit hin­ sichtlich der äußerlichen Tugend in dieser Welt realisiert, würden die Hindernisse verhütet, die im gesellschaftlichen Kontext durch pflichtwidrige Handlungen einem sittlichen Zweck des Individuums angetan werden können. Unter diesen Umständen lässt sich das Interesse an der allgemei­ nen Mitteilbarkeit als das weltbürgerliche Interesse an der Vorstellung der möglichen Einhelligkeit der Menschen hinsichtlich der äußeren Tugend betrachten. Dass ein Subjekt selbst auf »eine Spur […] oder einen Wink« der günstigen Bedingungen zum höchsten Guts reagiert, wurde bezüglich des intellektuellen Interesses an der Existenz des Naturschönen beob­ achtet (5: 300). Auch wenn ein reines Geschmacksurteil nichts mehr als »eine Spur […] oder einen Wink« der Möglichkeit der Einhellig­ keit der Menschen hinsichtlich des empirischen Charakters zeigt, darf das reine Geschmacksurteil als kein beliebiger Fall angesehen werden, den man zur Selbstmotivation zum höchsten Gut bloß eigen­ willig interpretierte. Beim intellektuellen Interesse vertritt das reine Geschmacksurteil sowohl hinsichtlich der objektiven als auch der subjektiven Seite einen spezifischen, aber zugleich allgemeingültigen Aspekt des Menschen, in dem er ohne Zwang in den insofern allge­ meinsten Gemütszustand eintritt, als Kant dessen subjektives Prinzip zur fundamentalen Bedingung der Erkenntnis überhaupt erklärt. Fungiert das reine Geschmacksurteil hinsichtlich der objektiven Seite des intellektuellen Interesses als allgemeiner Anhaltspunkt der Menschheit, mit dem die Übereinstimmung der Natur die günstige Beschaffenheit der Welt zum höchsten Gut andeutet, lässt es sich hinsichtlich der subjektiven Seite des intellektuellen Interesses als Hinweis auf die allgemeine Anlage des Menschen für die gewünschte Sinnesart interpretieren, die bloß bei der Gelegenheit zur Kontem­ plation über einen bestimmten Gegenstand auf natürliche Weise aktiviert wird. Wegen dieser Repräsentativität des reinen Geschmacks­ urteils für die Menschheit lässt sich ein reines Geschmacksurteil als das glückliche Beispiel betrachten, in dem auf die Lösungen der Probleme hinsichtlich der Ausführung des höchsten Guts (das objektive Prob­ lem der Natur einerseits und das subjektive Problem der kollektiven Sittlichkeit des Menschen andererseits) hingedeutet wird. In dieser Hinsicht ist von der exemplarischen Notwendigkeit die Rede, die wir besprechen wollen.

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Exkurs: Die konstitutive und unmittelbare Förderung des höchsten Guts durch die Kultivierung der Sinnesart Bevor auf die exemplarische Notwendigkeit eingegangen wird, sollen die andere Bedeutung der Sinnesart in Kants praktisch-pragmatischer Anthropologie und das Verhältnis des Geschmacksurteils zu dieser Bedeutung der Sinnesart besprochen werden. Diese Bedeutung der Sinnesart ist in der Religionsschrift zu erkennen. Kant vertritt dort die Ansicht, dass man durch die Verfeinerung der Sinnesart nicht nur gesittet, sondern auch »gut« werde. Ihre Verfeinerung dient in wesentlicher Weise der Förderung des sittlichen Werdegangs des Menschen. Dieses Thema sei dem Exkurs beigeordnet, da dieses sich vom eigentlich bearbeiteten Thema der theoretischen Annahme aufgrund eines intellektuellen Interesses und der darauf gründenden Selbstmo­ tivation unterscheidet. In der Religionsschrift72 stellt Kant die Frage, wie man »ein guter Mensch« werden kann (6: 47). Dies ist laut Kant nur durch die Verbindung der zwei Elemente möglich, die da lauten: »die Revolution für die Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart« (6: 47). Er sagt weiter: »Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er so fern dem Princip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subject; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch« (6: 47 f.).

Das kontinuierliche Wirken und Werden, welches die Revolution oder Umkehrung der Denkungsart nachhaltig macht, ist die Aufgabe hinsichtlich der Sinnesart. Hier lässt sich neben der Annahme des 72 Die hier durchgeführte Übertragung der Sinnesart-Theorie in der Religionsschrift auf die dritte Kritik könnte man für unbillig halten, da die Religionsschrift zwischen 1793 und 1794 und damit drei bis vier Jahre später als die dritte Kritik erschienen ist. Jedoch vertritt Kant bereits vor dem Erscheinen der dritten Kritik die Ansicht, dass sich zur moralischen Bildung des Menschen die Denkungsart und die Sinnesart gegenseitig ergänzen sollen. Im Brief an Marcus Herz, datiert auf den 11. Mai 1781, schreibt Kant: »man kan es nicht erwarten daß die Denkungsart aufeinmal in ein bisher ganz unge­ wohntes Gleis geleitet werde sondern es gehört Zeit dazu um sie zuvor in ihrem alten Gange nach und nach aufzuhalten und sie endlich durch allmählige Eindrücke in die entgegengesetzte Richtung zu bringen« (Brief 166; abgedruckt in 10: 268).

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Bösen in der menschlichen Natur noch eine wichtige Ansicht feststel­ len, die die Religionsschrift von den anderen ethischen Schriften unterscheidet: Die Ansicht, dass die Umkehrung des Prinzips und der Denkungsart vom Bösen allein nicht ausreicht. Um ein guter Mensch zu werden, muss man sich nach der Ansicht der Religions­ schrift in die Richtung, zu der man durch die Umkehrung gelangt, »über Gewöhnungs- und Belehrungsprozesse in und mit der Zeit« verfeinern (Forschner 2011, 83). Die »allmählige Reform aber für die Sinnesart« (6: 47) bedeutet derartige Prozesse. Jetzt soll gefragt werden, in welchem Verhältnis ein Geschmacks­ urteil zu dieser Bedeutung der Sinnesart steht. Dafür wird wiederum die Religionsschrift konsultiert, in der Kant als Kriterium der sitt­ lichen Beurteilung der Menschen die »Oberhand« angibt, die die Menschen »über Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen« (6: 48). Die Oberhand über die Sinnlichkeit ist eine der notwendigen Bedingungen für die sittliche Maximensetzung: Man muss also alle sinnlichen Nei­ gungen überwinden, um sich völlig dem Sittengesetz zu unterwerfen. Hierdurch gewinnt die Maxime ihre Allgemeingültigkeit. In der Kritik der Urteilskraft betont Kant die Ähnlichkeit zwi­ schen der moralischen Gesinnung und dem Gemütszustand eines reinen Geschmacksurteils, wie auch in 1.3.2 dieses Kapitels gesehen wurde. Obwohl ein Geschmacksurteil ein empirisches Urteil ist, welches nur durch das unmittelbare Erlebnis des sinnlichen Gegen­ standes möglich ist, muss man jedes Mitspielen von Neigungen bzw. Sinnenreizen ausschließen, um ein reines Geschmacksurteil zu treffen. Der große Unterschied liegt darin, dass beim Geschmacksur­ teil kein gewaltsamer Abbruch gegenüber den Neigungen (5: 73) erfolgt, um von ihnen abzusehen. Der allgemeingültige Gemütszu­ stand kommt in natürlicher Weise zustande und kann weiter mit einem intellektuellen (moralischen) Interesse verbunden werden. In dieser Hinsicht äußert Kant: »Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er […] sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen finden lehrt. « (5: 354; Hervorhebung der Verf.).

Der kursiv hervorgehobene letzte Teil der zitierten Passage scheint darauf abzuzielen, dass die »Oberhand über Sinnlichkeit« durch das Geschmacksurteil geübt und kultiviert werde.

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An anderer Stelle in der dritten Kritik schreibt Kant eine solche Funktion bezüglich der Oberhand über die Sinnlichkeit hingegen der schönen Kunst und den Wissenschaften zu, wobei man ruhig »schöne Kunst und Wissenschaften« durch »Geschmack« ersetzen darf: »Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mittheilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenngleich den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll« (5: 433; Hervorhebung der Verf.).

Die Erfahrungen mit der Kunst, mit den Wissenschaften, genauso wie das Erlebnis des Geschmacksurteils (über die Naturschönheit), kultivieren den Menschen demnach, gewöhnen ihn an die »Oberhand über Sinnlichkeit« und verfeinern seine Sinnesart, sodass er seine sittlichen Maximen leichter realisieren kann. Der ästhetische Sollens-Anspruch lässt sich auch durch diese Funktion des Geschmacksurteils unterstützen. Denn die Zustimmung zum reinen Geschmacksurteil anderer heißt, dass das Subjekt selbst gleiche Schönheitsbeurteilung durchlebt und zugleich die Oberhand über seine Sinnlichkeit übt. Die gerade zitierte Passage lässt jedoch auch erkennen, dass sich diese Funktion des Geschmacksurteils von der auf dem intellek­ tuellen Interesse beruhenden Annahme einer Bedingung für die Rea­ lisierungsmöglichkeit des höchsten Guts unterscheiden lässt. Diese Annahme ist zur Selbstmotivation theoretisch ausgedacht geworden. Sie ist aus einem regulativen Prinzip abgeleitet, indem sie eine »der Ausübung immanente und […] der menschlichen Absicht angemes­ sene« Funktion ausführt (5: 403). Dahingegen ist die Rolle des Geschmacksurteils, die in diesem Exkurs thematisiert wird, eher kon­ stitutiv. Denn hier geht es um eine substanzielle Rahmenbedingung für die sittlich-gute Charakterbildung des Menschen. Die Unterscheidung lässt sich auch hinsichtlich der Unterschei­ dung zwischen »unmittelbar« und »mittelbar« treffen. Die Kultivie­ rung durch Geschmacksurteile in diesem Sinne richtet sich auf die unmittelbare Förderung des höchsten Guts. Dahingegen fördert jene theoretische Annahme das höchste Gut mittelbar, d. h. über die Selbstmotivation zur Ausführungsbereitschaft des höchsten Guts. Hieraus lässt sich wiederum entnehmen, dass die konstitutiv und unmittelbar das höchste Gut fördernde Kultivierung der Sinnesart

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nicht mit dem Bedürfnis der praktischen Vernunft zusammenhängt, welches aus der Skepsis über die Verwirklichungsmöglichkeit des höchsten Guts entsteht. Und dazu zeigt sich, dass sie trotzdem im zweckmäßigen Verhältnis zur Förderung des höchsten Guts steht. Hinsichtlich des letzteren Punkts gewinnt sie das weltbürgerliche Merkmal und daher berechtigt sie zum Gegenstand der Forderung zu werden. Dieser weltbürgerliche Aspekt leuchtet zudem ein, wenn bedacht wird, dass die Sinnesart die raumzeitliche Verwirklichung der Den­ kungsart ist. Die Denkungsart, die einmal die Revolution erfahren hat, muss für ihre nachhaltige Wirkung durch die Sinnesart unter­ stützt werden. In weltbürgerlicher Hinsicht würde jene Denkungsart laut Wimmer ansonsten »in den Entscheidungsbereich des Alltags, in den konkreten leiblich-sinnlich-sozialen Vollzug«, nicht integriert (Wimmer 2004, 381; Hervorhebung der Verf.). Wie die kursiv her­ vorgehobene Formulierung Wimmers andeutet, wurden die existenzi­ ellen Bedingungen des Menschen hinsichtlich der Verwirklichung des moralischen Zwecks demnach berücksichtigt. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass auch Kants Hervorhebung der Sinnesart bezüglich der konstitutiven und unmittelbaren Förderung zur Perspektive eines Weltbürgers bzw. eines Philosophen nach dem Weltbegriff gehört.

1.3.3. Die exemplarische Notwendigkeit und der ästhetische Sollens-Anspruch a. Praktische Notwendigkeit mit hypothetischem Charakter Oben wurde gesehen, dass ein reines Geschmacksurteil durch seine Repräsentativität für die Menschheit an exemplarischer Bedeutung für die Ausführungsmöglichkeit des höchsten Guts gewinnt. Hier­ durch lässt sich jedoch noch nicht erklären, warum die Zustimmung zu einem reinen Geschmacksurteil als Beispiel notwendig gefordert werden kann. Diese exemplarische Notwendigkeit wurde bereits eini­ germaßen ausführlich besprochen, als in 2.3.2 des zweiten Kapitels die Interpretation von Rind überprüft wurde. Wie dort gesagt wurde, thematisiert Kant im Vierten Moment des Schönen den Sollens-Cha­ rakter des Zustimmungsanspruchs und erklärt ihn als exemplarische Notwendigkeit. Der Sollens-Anspruch stützt sich auf die autoritäre Notwendigkeit »einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben

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kann« (5: 237), deren Beispiel das reine Geschmacksurteil ist. Diese »Regel« wird in dieser Interpretation als letztendlich auf die Pflicht des höchsten Guts bezogen eingestuft. Eine Pflicht impliziert selbst die Notwendigkeit einer Handlung (4: 400; 6: 481 f.). Zu beachten ist, dass auch der Zustimmungsan­ spruch zu einem reinen Geschmacksurteil, dem die exemplarische Notwendigkeit zugeschrieben wird, solche praktische Notwendigkeit (Brandt 1989, 180) hat, die eine Handlung gebietet, wobei Imperative bzw. das Sollen der Notwendigkeit Ausdruck verleihen. Zwar bedeu­ tet die »Handlung« hier keine auf moralischer Selbstbestimmung beruhende Handlung. Aber das aktive Wirken der Erkenntniskräfte, die hier als Handlung bezeichnet werden, setzt »das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung« (KrV A 205 = B 250) voraus, genauso die moralische Handlung. Wenn hier der Begriff praktische Notwendigkeit verwendet wird, bedeutet das »praktische« zunächst diese Kausalität aus dem Subjekt. Kant verbindet mit diesem Anspruch die Forderung, »dem vor­ liegenden Gegenstande Beifall [zu] geben und ihn gleichfalls für schön [zu] erklären« (5: 237), d. h. nicht nur sich selbst die Gele­ genheit einer Schönheitsbeurteilung zu geben, sondern auch eigene Zustimmung auszudrücken. Jedoch variiert der detaillierte Inhalt des Sollens-Anspruchs oder der Pflicht, wie bisher gesehen wurde, leicht zwischen der reinen Schönheitsbeurteilung des Gegenstands einerseits und darüber hinaus der Erweiterung der Vorstellung in objektiver oder subjektiver Hinsicht andererseits. In jedem Fall kann man dennoch den Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils als die praktische Notwendigkeit betrachten. Nun stellt sich die Frage, ob Kant, der in § 18 der dritten Kritik den Begriff der exemplarischen Notwendigkeit zum ersten Mal ein­ führt, diese dabei auch klar von der praktischen Notwendigkeit unter­ scheidet. Die Antwort darauf soll den Unterschied zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Sollen behandeln und ergänzt daher das zweite Kapitel, in dem das ästhetische Sollen zum Haupt­ thema gemacht wurde, wobei aber eher dessen Gemeinsamkeit mit dem moralischen Sollen untersucht worden ist als der Unterschied zwischen beiden. Die einschlägige Passage aus § 18 lautet: »Diese Nothwendigkeit nun ist […] nicht eine praktische, wo durch Begriffe eines reinen Vernunftwillens, welcher freihandelnden Wesen zur Regel dient, dieses Wohlgefallen die nothwendige Folge eines

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1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

objectiven Gesetzes ist und nichts anders bedeutet, als daß man schlechterdings (ohne weitere Absicht) auf gewisse Art handeln solle« (5: 236 f.).

Die in dieser Passage beschriebene praktische Notwendigkeit scheint, auf die Notwendigkeit des Kategorischen Imperatives hinzudeuten. Denn es geht hier um das kausale Verhältnis des Gesetzes zu der Handlung, die aus einem objektiven praktischen Gesetz unmittelbar und notwendig gefolgert wird. Diese Art der praktischen Notwendig­ keit trifft allerdings nicht auf die exemplarische Notwendigkeit der Zustimmung zu einem Geschmacksurteil zu. Denn dieser Zustim­ mungsanspruch besteht in einer komplexen Struktur und einem subjektiven Element und ist daher keine unmittelbare Folge aus dem objektiven Gesetz. Diese Komplexität und Subjektivität hängen damit zusammen, dass der Zustimmungsanspruch selbst, dem die exemplarische Notwendigkeit zugeschrieben wird, niemals schlecht­ hin notwendig sein kann. Darauf soll eingegangen werden. Um seine eigene Notwendigkeit beanspruchen zu können, braucht der Zustimmungsanspruch des Geschmacksurteils eine Stütze von außen: Die exemplarische Notwendigkeit ist die Notwen­ digkeit eines Mittels »zu höheren Zwecken in uns«, wenn Kants For­ mulierung aus § 22 der Kritik der Urteilskraft verwendet wird (5: 240). In dieser Hinsicht hat sie einen hypothetischen Charakter. Wich­ tig ist, dass, auch wenn sie sich zuletzt auf die Notwendigkeit der Pflicht des höchsten Guts und damit auf die schlechthin notwendige Pflicht des höchsten Guts stützt, zwischen beiden kein objektiv not­ wendiges Verhältnis besteht. Dies soll in zwei Hinsichten erläutert werden. (1) Wie in 1. des Kapitels IV gesehen wurde, wird bei der Art und Weise der Befriedigung des Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft nach dem jeweiligen Interesse des betroffenen Subjekts differenziert, obwohl das Bedürfnis einzig ist. Sofern sich die Vernunft für die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils interessiert, richtet sie sich unter verschiedenen möglichen Standpunkten auf die kollektive Sittlichkeit des Menschen. Welcher Standpunkt unter vielen schließlich eingenommen wird, hängt von der Entscheidung und der Auswahl des Subjekts ab und es besteht keine objektive Not­ wendigkeit. Was den hypothetischen Charakter der exemplarischen Not­ wendigkeit angeht, bezieht man das Geschmacksurteil auf einen Zweck, dessen Ausführungsmöglichkeit es exemplifiziert. Wegen der

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Subjektivität der Entscheidung für diesen Zweck lässt er sich nicht weiter bestimmen, als Kant ihn mit den »höheren Zwecken in uns« beschreibt (5: 240). »Höhere Zwecke« bedeuten die Zwecke, die man dem höchsten Gut als dem Endzweck der Vernunft unterordnet und von den beliebigen Zwecken der menschlichen Neigung unterschei­ det. Näher werden sie im Voraus nicht bestimmt. In dieser Hinsicht schildert Kant den höheren Zweck, der sich im hypothetischen Ver­ hältnis zum Geschmacksurteil befindet, als eine »allgemeine[] Regel, die man nicht angeben kann« (5: 237; Hervorhebung der Verf.). (2) Auch nachdem ein höherer Zweck unter vielen nach dem Interesse des Subjekts ausgewählt worden ist, lassen sich weder eine objektive Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Mittel (Geschmacksurteil) und dem ausgewählten Zweck erwarten noch eine in theoretischer Hinsicht notwendige Ableitung des Mittels von dem Zweck. Dergleichen lockere Verbindung zwischen der theoretischen Annahme und dem Zweck darf jedoch nicht so verstanden werden, dass die Verbindung unbedeutend wäre. Die Lockerheit trifft auch auf das in der zweiten Kritik thematisierte Postulat zu. Kant meint, das Postulat der Existenz Gottes sei die »einzige« theoretisch mögliche Annahme, wenn man sich einmal für die mora­ lische Richtung entschieden hat (5: 145). Jedoch impliziert die Ein­ zigkeit keine objektive Notwendigkeit, sondern bloß das, was der menschlichen Vernunft nach den subjektiven, zufälligen Bedingun­ gen des Menschen übrig bleibt. Dazu schreibt Kant: »Allein die Art, wie wir uns diese Möglichkeit vorstellen sollen, ob nach allgemeinen Naturgesetzen ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber, oder nur unter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunft objectiv nicht entscheiden. Hier tritt nun eine subjective Bedingung der Vernunft ein: die einzige ihr theoretisch mögliche, zugleich der Moralität (die unter einem objectiven Gesetze der Ver­ nunft steht) allein zuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstim­ mung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts zu denken« (5: 145; Hervorhebung der Verf.).

Dies lässt sich so lesen, dass sich die menschliche Vernunft in der subjektiven Bedingung befindet, wo sie mit den allgemeinen Naturgesetzen nichts anfangen kann und, ohne einen moralischen

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Urheber vorauszusetzen, keine Annahme in apriorischer Hinsicht73 treffen kann, die die Selbstmotivation zur Ausführung der Pflicht des höchsten Guts fördert. Das Dasein Gottes wird trotz der lockeren Verbindung zur Idee des höchsten Guts zu Recht postuliert, denn dieses Postulat dient ihr auf jeden Fall zur Selbstmotivation zu dessen Ausführung, weiterhin zur wirklichen Handlung. Im gleichen Sinne sagt Kant an einer Stelle der Metaphysik der Sitten, die Pflicht liege nicht in der Annahme der Ausführbarkeit des Endzwecks, sondern im Handeln nach der Idee des Zwecks: »Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urtheil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben) giebts keine Verbindlichkeit; sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, […], das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt.« (6: 354; Hervorhebung der Verf.).

Worauf es beim Postulat Gottes ankommt, ist also nicht die theore­ tische Annahme der Existenz Gottes selbst, sondern das praktische Handeln nach der Idee des höchsten Guts, das ein gläubiger Mensch unter dieser Annahme durchführt. Im Falle des Geschmacksurteils kann das »Handeln« der Akt des Forderns von Zustimmung zu einem Geschmacksurteil oder die Zustimmung selbst sein. In dieser Hinsicht muss die Notwendigkeit beim Sollens-Anspruch als praktische Not­ wendigkeit mit hypothetischem Charakter verstanden werden, indem das, was durch die praktische Notwendigkeit genötigt wird, im hypo­ thetischen Verhältnis zur absoluten Notwendigkeit des Endzwecks der Vernunft steht. Die praktische Notwendigkeit des Sollens-Anspruchs beim Geschmacksurteil ist daher keine des Kategorischen Imperati­ ves, sondern die Notwendigkeit, die sich in hypothetischer Weise auf die praktische Notwendigkeit des höchsten Guts stützt. Es sei auch darauf hingewiesen, dass dergleichen praktische Not­ wendigkeit beim ästhetischen Sollens-Anspruch in weltbürgerlicher Hinsicht erkannt werden kann. Wie in 2.1 des Kapitels IV gesehen wurde, meint Kant, dass nur ein praktischer Philosoph, der seine Phi­ losophie durch sein Verhalten, sein Handeln, verkörpert, auch der eigentliche Philosoph ist (9: 24). Dies besagt, dass das Selbst-Handeln 73 Wenn das Postulat Gottes, das eine deduktive Annahme in apriorischer Hinsicht ist, keine objektive Notwendigkeit hat, ist ersichtlich, dass die Annahme hinsichtlich des Geschmacksurteils, als eine induktive, aposteriorische, bloß eine lockere Bezie­ hung zum Endzweck aufweist.

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die wesentliche Tugendhaftigkeit des weltbürgerlichen Philosophen ist. Der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils zeigt diese Tugendhaf­ tigkeit des Anspruch-Erhebers. Dies ist die Einsicht, die sich nicht entdecken lässt, wenn man den Anspruch des Geschmacksurteils als keine praktische Notwendigkeit versteht, wie die Inaugenschein­ nahme des § 18 der dritten Kritik vermittelte.

b. Exemplarische Struktur im Hypothetischen Gegen Ende des § 8 der Kritik der Urteilskraft sagt Kant: »[…] wenn man den Gegenstand alsdann schön nennt, glaubt man eine allgemeine Stimme für sich zu haben und macht Anspruch auf den Beitritt von jedermann, da hingegen jede Privatempfindung nur für den Betrachtenden allein und sein Wohlgefallen entscheiden würde. Hier ist nun zu sehen, daß in dem Urtheile des Geschmacks nichts postulirt wird, als eine solche allgemeine Stimme in Ansehung des Wohlgefallens ohne Vermittelung der Begriffe; mithin die Möglichkeit eines ästhetischen Urtheils, welches zugleich als für jedermann gültig betrachtet werden könne. Das Geschmacksurtheil selbst postulirt nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, thun); es sinnt nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen es die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet. Die allgemeine Stimme ist also nur eine Idee (worauf sie beruhe, wird hier noch nicht untersucht)« (5: 216).

Die zitierte Stelle gibt folgende Punkte zu erkennen: (1) Was im Geschmacksurteil »postulirt« wird, ist die »allgemeine Stimme«; (2) Der Zustimmungsanspruch stützt sich auf die »allgemeine Stimme«, indem die Zustimmung als ein Fall der Regel betrachtet wird, wobei die allgemeine Stimme als Regel fungiert. Obwohl Kant hier die Idee der allgemeinen Stimme unbestimmt lässt, wird erkenntlich, »worauf sie beruhe«: Diese Idee beruht auf dem höchsten Gut. Die allgemeine Stimme als Annahme bezüglich der Ausführungsmöglichkeit des höchsten Guts dient zur theoreti­ schen Unterstützung der Handlung, die man zu dessen Ausführung unternehmen kann. Die hier »postulierte« allgemeine Stimme lässt sich als Idee der Einträchtigkeit der Menschen verstehen und die Einträchtigkeit der Menschen durch ein Geschmacksurteil lässt sich als ein »Fall« dieser Idee betrachten. Mit anderen Worten wird beim

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1.3. Der hinsichtlich der subjektiven Seite behauptete Sollens-Anspruch

Geschmacksurteil postuliert: Die Möglichkeit zu der Einträchtigkeit des Menschen, deren Vorstellung zur Selbstmotivation für die Aus­ führung des höchsten Guts dienen kann, wird durch die allgemeine Mitteilbarkeit bzw. die mögliche Einträchtigkeit zwischen den Urtei­ lenden über die Schönheit exemplifiziert. Es muss darauf geachtet werden, dass die Exemplarität in diese hypothetische Struktur bezüglich des Sollens-Anspruchs beim Geschmacksurteil eingebettet ist. Wie die oben zitierte Passage zeigt, wird die »Einstimmung«74 als ein »Fall« oder – wie es in § 18 der drit­ ten Kritik steht – »Beispiel« (5: 237) der Regel betrachtet und hier­ durch von jedem Urteilenden gefordert. Der Anspruch auf die Zustim­ mung stützt sich auf den hypothetischen Zusammenhang zwischen dieser Zustimmung und dem höchsten Gut, wobei das zweckmäßige Verhältnis zwischen einer allgemeinen Regel und der Idee des höchs­ ten Guts besteht und sich die Zustimmung als ein diese Regel befrie­ digendes Beispiel betrachten lässt. Bemerkenswert scheint bei dieser hypothetischen Struktur die Richtung des Gedankengangs. Diese Richtung ist die der reflek­ tierenden Urteilskraft, die vom Besonderen zum Allgemeinen. Ein Subjekt mit dem weltbürgerlichen Interesse reflektiert sein eigenes reines Geschmacksurteil in Hinsicht auf den Zusammenhang mit dem höchsten Gut erst dann, wenn es bei der Sachlage um sein Geschmacksurteil herum »eine Spur […] oder einen Wink« (5: 300) von dessen Ausführungsmöglichkeit feststellt. Beim Postulat Gottes herrscht die umgekehrte Richtung vom Allgemeinen zum Besonderen. Eine mögliche Handlung zur Ausführung des höchsten Guts unter diesem Postulat lässt sich eher als Folgerung aus der Annahme der vom moralischen Urheber geschaffenen Welt vorstellen. Die Frage, ob man bei der reinen Schönheitsbeurteilung verbleibt oder über sie hinausgeht, und die Frage, was für ein Allgemeines gesucht, damit ein Zusammenhang zwischen ihm und der Schön­ heitsbeurteilung hergestellt wird, hängen völlig vom subjektiven Interesse ab. Außerdem steht die Idee des höchsten Guts gänzlich 74 Anders als hier sagt Kant an anderen Stellen, dass das Geschmacksurteil selbst (nicht die »Einstimmung« zu ihm) »ein Beispiel einer allgemeinen Regel« ist (5: 237; auch 5: 239). Die Differenz lässt sich entweder so verstehen, dass das Urtei­ len beim Geschmacksurteil selbst eine dem Bewusstsein des Zusammenhangs des Geschmacksurteils mit der Idee des höchsten Guts vorangestellte Handlung ist, oder so, dass Kant mit dem »Geschmacksurteil« nicht nur ein Geschmacksurteil selbst, sondern auch dessen Anspruch auf die Zustimmung meint.

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

außerhalb eines reinen Geschmacksurteils, da es von jedem Interesse befreit ist. In dieser Hinsicht ist der Gedankengang bei der Erweite­ rung des Geschmacksurteils der subjektiven Beschränktheit ausge­ setzt. Kants Bewusstsein der Beschränktheit widerspiegelt sich in den Ausdrücken mit der negativen Konnotation, wie ansinnen und zumu­ ten, die Kant beim Beschreiben des Sollens-Anspruchs eines Geschmacksurteils häufiger verwendet. In der oben zitierten Passage aus § 8 der dritten Kritik verwendet er »ansinnen«. Jedoch wird der ästhetische Sollens-Anspruch durch seinen sub­ jektiven Grund nicht abgewertet. Denn der Zweck, aufgrund dessen das Subjekt den hypothetischen Zusammenhang herstellt, ist der Endzweck der Vernunft und er ist mit der Pflicht des Menschen verbunden. Denn sein subjektives, weltbürgerliches Interesse bezieht sich darauf, »was jedermann nothwendig interessirt« (KrV A 840 = B 868 Anm.). Durch den hypothetischen Bezug auf die Idee des Endzwecks erhebt sich die subjektive Gültigkeit des Anspruchs eines Geschmacksurteils zum Status von objektiver Gültigkeit. Dieser Gedanke lässt sich am besten in der Überschrift des § 22 feststellen: »Die Nothwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die in einem Geschmacksurtheil gedacht wird, ist eine subjective Nothwendigkeit, die unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objectiv vorgestellt wird« (5: 239).

In § 22 beschreibt Kant den Gemeinsinn als etwas, »von dessen Urtheil ich mein Geschmacksurtheil hier als ein Beispiel angebe und weswegen ich ihm exemplarische Gültigkeit beilege« (5: 239). Der Gemeinsinn gilt als »Regel«, unter die ein besonderer Fall als Beispiel subsumiert wird, auf die sich die Gültigkeit des Zustimmungsan­ spruchs stützt. Hier verwendet Kant den »Gemeinsinn« im gleichen Sinne wie die »allgemeine Stimme«, die bereits in § 8 der dritten Kritik gesehen wurde. Die allgemeine Stimme formuliert Kant in § 22 als »eine jedermann nothwendige Idee […], was die Einhelligkeit ver­ schiedener Urtheilende[n] betrifft« (5: 239). Die »Voraussetzung eines Gemeinsinns« heißt dann die Annahme, dass die allgemeine Mitteilbarkeit eines Geschmacksurteils die Möglichkeit der Einhel­ ligkeit der Menschen andeutet, die in subjektiver Hinsicht das höchste Gut fördern könnte. Sofern der Zustimmungsanspruch unter dieser Annahme erhoben wird, findet er seine Berechtigung. In diesem Sinne sagt Kant in der oben zitierten Passage, dass die subjektive Notwen­

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1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht

digkeit beim Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils »unter der Voraussetzung eines Gemeinsinns als objectiv vorgestellt wird«. Im gleichen Sinne beschreibt Kant den Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils als »die objective Nothwendigkeit des Zusammen­ fließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern« (Hervorhebung der Verf.). Die Passage aus § 22 der Kritik der Urteils­ kraft, wo die Beschreibung steht, legt die hypothetische und exempla­ rische Beziehung des ästhetischen Sollens-Anspruchs auf einen höheren Vernunftzweck in kompakter Sprache dar: »[…], so daß ein Geschmacksurtheil mit seiner Zumuthung einer allgemeinen Beistimmung in der That nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sollen, d. i. die objective Nothwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besondern, nur die Möglich­ keit hierin einträchtig zu werden bedeute, und das Geschmacksurtheil nur von Anwendung dieses Princips ein Beispiel aufstelle« (5: 240).

1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht Bisher wurde der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils in zwei Hinsichten – sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht – diskutiert. Dieser Anspruch ist unmittelbar mit der Erweiterung des Geschmacksurteils verbunden, die durch das intellektuelle Interesse ausgelöst wird und sich letztendlich auf das höchste Gut richtet. Diese Diskussionen ergänzen und vertiefen der Abschnitt 3. des ersten Kapitels, wo die Aussage Kants aus § 57 der dritten Kritik themati­ sierte, dass »ohne Zweifel im Geschmacksurteile eine erweiterte Bezie­ hung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts) enthal­ ten« ist, welcher ein »Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen« zugrunde liegt (5: 339; Hervorhebung der Verf.). Wichtig ist hier die Behauptung Kants, dass der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils auf diesem Vernunftbegriff gründet: »Denn nähme man eine solche Rücksicht [auf den Vernunftbegriff des Übersinnlichen] nicht an, so wäre der Anspruch des Geschmacks­ urtheils auf allgemeine Gültigkeit nicht zu retten« (5: 340).

Dies ist die Behauptung, die die Diskrepanz zwischen der Ana­ lytik und der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft bezüglich der

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

Rechtfertigung des Zustimmungsanspruchs eines Geschmacksurteils verursacht, wie bereits in der Einleitung dieser Untersuchung gese­ hen wurde. Nach den Überlegungen zur Erweiterung des Geschmacksur­ teils und deren Bezug auf das höchste Gut soll der weltbürgerliche Zusammenhang dieser Behauptung Kants in der Diskussion über die Antinomie des Geschmacks herausgestellt werden.

1.4.1. Streit über den Geschmack als Sollens-Anspruch in weltbürgerlicher Absicht In der Antinomielehre des Geschmacks erreicht Kant durch die Unter­ scheidung zwischen dem bestimmten Verstandesbegriff und dem unbestimmten Vernunftbegriff die Einheit der Dialektik in seinen drei Kritiken. Unter den zwei Arten von Begriff legt Kant das Gewicht auf den Vernunftbegriff. Kant betont, dass man über den Geschmack streitet, und dies ist dadurch möglich, dass ein Geschmacksurteil auf einem Vernunftbegriff gründet. In der Antinomielehre ist Kants Gedanke ersichtlich, dass das Streiten über den Geschmack einen Anspruch auf »die nothwendige Einstimmung anderer« zum Ausdruck bringt (5: 339). Es wird die Ansicht vertreten, dass mit diesem Anspruch nichts anderes als jener Sollens-Anspruch gemeint ist, der sich auf die exemplarische und hypothetische Struktur stützt. Dieser Anspruch unterscheidet sich von dem in der Deduktion gerechtfertigten Anspruch. Dies lässt sich zunächst bezüglich der Begrifflichkeit begründen, die im Mittelpunkt der exemplarischen und hypothetischen Struktur steht. Die Tatsache, dass die Antinomielehre des Geschmacks den Zustimmungsanspruch des Geschmacksurteils mit dessen Bezug auf einen Begriff zu begründen versucht, zeigt den Unterschied zu dem in der Deduktion behandelten Anspruch. Denn die Deduktion zählt die Reinheit des Urteils, d. h. das Ungemischt-Sein mit dem Begriff, zu einer der zwei Bedingungen, die ein Schönheitsurteil erfüllen soll, damit sich sein Anspruch rechtfertigen lässt: »Das Urtheil habe bloß auf dieses Verhältniß (mithin die formale Bedingung der Urtheilskraft) Rücksicht genommen und sei rein, d. i. weder mit Begriffen vom Object noch Empfindungen als Bestim­ mungsgründen, vermengt« (5: 290).

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1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht

Nicht nur hier, sondern auch an vielen Stellen der Analytik betont Kant, dass ein Geschmacksurteil keineswegs einen Begriff des Ver­ standes als Bestimmungsgrund haben kann. Dies ist nur richtig, wenn man die Diskussion über den Geschmack auf eine bloße Schönheits­ beurteilung, d. h. ein reines Geschmacksurteil und dessen Anspruch, begrenzt. In solch einem Fall ist ein Geschmacksurteil mit keinem Interesse verbunden: »Schön ist das, was in der bloßen Beurtheilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse« (5: 267).

Wenn aber der Urteilende diese Ebene übersteigt und die Erweiterung erlebt, mischt sich ein Interesse der Vernunft ein und ein Geschmacks­ urteil ist nicht mehr rein, wie gesehen wurde. Kants wiederholte Betonung in der Antinomielehre, dass dieser Anspruch auf einem Vernunftbegriff gründet, bedeutet, dass dieser Anspruch die Ebene der Beurteilung eines Sinnesobjekts durch Ver­ stand und Einbildungskraft transzendiert. Dahin gehend sagt Kant zu dem Sollens-Anspruch, wie bereits in den vorherigen Kapiteln auseinandergesetzt wurde: »Das Sollen im ästhetischen Urtheile wird also selbst nach allen Datis, die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgespro­ chen« (5: 237).

Anders als dies wird das Rechtfertigungsobjekt der Deduktion als der Anspruch beschrieben, der sich auf die allgemeingültigen formalen Bedingungen der Urteilskraft und ihr Verhältnis zu einer Vorstel­ lung stützt, wobei das Transzendieren über die Sinnenwelt hinaus nicht erfolgt. Es soll erkannt werden, warum die Begrifflichkeit auf der intel­ lektuellen Ebene für den Zustimmungsanspruch benötigt wird, wenn beachtet wird, dass Kant in der Antinomielehre den Zustimmungsan­ spruch als Streiten schildert: »[Ü]ber den Geschmack läßt sich streiten« (5: 338).

Dazu sagt Kant: »worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein, untereinander übereinzukommen« (5: 338).

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

Nach Kant stimmt das Streiten mit dem Disputieren darin überein, dass beide »der Urtheile Einhelligkeit […] hervorzubringen suchen«, unterscheidet sich aber darin, dass hinsichtlich des Streitens – anders als hinsichtlich des Disputierens – durch bestimmte Begriffe nichts beweisbar ist. Dass man durch das Streiten nach der Einhelligkeit der Urteile sucht, obwohl jene nicht durch Beweise erreicht werden kann, liegt daran, dass die Notwendigkeit solcher Einhelligkeit und die Hoffnung, sie zu erzielen, trotzdem bestehen. Das Interesse, das der Notwendigkeit und der Hoffnung zugrunde liegt, richtet sich auf einen Zweck der Vernunft, welcher sich durch die Deduktion nicht erhellt. Und ohne Begrifflichkeit lässt sich ein Zweck nicht vorstellen. Bei der Erweiterung des Geschmacksurteils ohne Begrifflichkeit hat man weder eine Regel, wofür das Geschmacksurteil ein Beispiel ist, noch einen Zweck, auf den man die Erweiterung richtet. Aufgrund dieser Überlegungen darf angenommen werden, dass es auch in der Antinomielehre des Geschmacks um jenen SollensAnspruch des Geschmacksurteils geht, der sich, was die Einhelligkeit der Menschen angeht, auf weltbürgerliche Weise verstehen lässt. Unter Rekurs auf die bisherigen Untersuchungen lässt sich der Zweck als Grund der notwendigen Einhelligkeit der Urteile nicht als irgend­ ein beliebiger Zweck, sondern als ein Endzweck der Vernunft, das höchste Gut, bestimmen. Außerdem lässt sich auch die Unbestimmt­ heit des Vernunftbegriffs, auf dem der Zustimmungsanspruch des Geschmacksurteils gründet, in dieser weltbürgerlichen Hinsicht ver­ stehen. In den nächsten Abschnitten soll darauf eingegangen werden.

1.4.2. Unbestimmtheit des Vernunftbegriffs und Übergang von der Natur zur Freiheit Der Antinomielehre Kants zufolge ist das Beweisen des Anspruchs des Geschmacks durch einen bestimmten Begriff des Verstandes unmöglich, jedoch ist das Streiten über den Geschmack, das sich auf einen unbestimmten Begriff der Vernunft stützt, erlaubt. Was soll unter dem »unbestimmten« Begriff verstanden werden? Kant bezeichnet diesen unbestimmten Begriff als Vernunftbe­ griff des Übersinnlichen. In theoretischer Hinsicht bedeutet die Unbe­ stimmbarkeit dieses Begriffs, dass keine Anschauung ihm entspricht und sich aus diesem Begriff keine Erkenntnis ergibt. Aber je nach ein­ genommener Perspektive hat der Begriff des Übersinnlichen unter­

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1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht

schiedliche Ebenen bezüglich seiner Bestimmung, wie im letzten Kapitel der Einleitung in die dritte Kritik steht: »Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erschei­ nung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben, aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urtheils­ kraft verschafft durch ihr Princip a priori der Beurtheilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derselben ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen. Die Vernunft aber giebt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urtheilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« (5: 196; Hervorhebung im Original).

Hier sind drei Arten der Bestimmungsweise des Übersinnlichen erwähnt. Welche von ihnen trifft auf den Fall des Sollens-Anspruchs des Geschmacksurteils zu? Ist es die Bestimmungsweise durch den Verstand, wobei das Übersinnliche »gänzlich unbestimmt« bleibt? Nein. Denn wo dem übersinnlichen Substrat nichts mehr als seine »Anzeige« in der Erscheinung der Natur zugeteilt wird, lässt sich keine Notwendigkeit der Einhelligkeit der Urteile verstehen, auf die sich der Sollens-Anspruch richtet. Wenn das Übersinnliche gar nicht bestimmt ist, lässt sich aufgrund dieses Übersinnlichen weder ein Zweck noch eine praktische Notwendigkeit setzen. Was ist mit der Bestimmungsweise durch die Urteilskraft? Der zitierten Passage zufolge bekommt das Übersinnliche dadurch »Bestimmbarkeit«. Dies sei mit der Bestimmungsweise durch den Verstand verglichen. Die gänzliche Unbestimmtheit des Übersinnli­ chen auf der Ebene des Verstandes bedeutet nicht, dass dieses zwar bestimmbar, aber noch nicht bestimmt worden sei. In der Hinsicht des Verstandes ist das Übersinnliche gänzlich unerkennbar und folglich in erkenntnistheoretischer Hinsicht grundsätzlich unbestimmbar, da es keine Materie hat, mit der ein Prädikat verglichen werden könnte (KrV A 571 = B 599). Diesbezüglich sei beachtet, dass Kant die Bestimmungsweise durch die Urteilskraft als »Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen« (Hervorhebung der Verf.) schildert. Diese Bestimmbar­ keit unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der Bestimmbarkeit der Materie, aus der sich eine sinnliche Erkenntnis durch die Synthesis zwischen dieser Materie und einem Prädikat ergibt (KrV A 226 = B 322). Soweit die Tätigkeit der Urteilskraft in der zitierten Passage

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

jedoch auf die Beurteilung der Natur nach den besonderen Gesetzen bezogen ist, kann diese Bestimmbarkeit durch die Urteilskraft keine sein, die sich von der Sinnlichkeit völlig trennen kann. Welcher Unterschied besteht dann zwischen der Bestimmung eines sinnlichen Gegenstandes auf der Verstandesebene und der »Bestimmbarkeit [der Natur nach den besonderen Gesetzen] durch das intellectuelle Vermögen«? Beim Letzteren wird eine komplexe intellektuelle Reflexion der Urteilskraft erfolgen, die eine Beziehung zwischen dem sinnlich Gegebenen und seinem übersinnlichen Substrat herstellt. Im konkreten Fall aus der zitierten Passage, wo es um die besonderen Naturgesetze geht, wird die Natur anhand der besonderen Gesetze, die durch die allgemeinen Gesetze des Verstandes nicht erklärbar sind, mithilfe der Annahme des Prinzips der Zweckmäßig­ keit der Natur als für die menschliche Erkenntnisabsicht günstig beschaffen betrachtet. Dieser Prozess ist eine komplexe Reflexion, in der man auf die ansonsten nicht begreifbare Mannigfaltigkeit der Natur das Prinzip der Zweckmäßigkeit anwendet, um sich in der Naturforschung überhaupt zu orientieren, und tatsächlich feststellt, dass sich die Natur nach diesem Prinzip erforschen lässt. Nach Kants Ansicht liegt solch einer zweckmäßigen Beschaffenheit der Natur ihr übersinnliches Substrat zugrunde. Gerade in diesem Sinne wird das übersinnliche Substrat bestimmbar, scheint Kant zu meinen. Im Falle des Sollens-Anspruchs des Geschmacks sieht es ähnlich aus. Man stellt anhand eines Geschmacksurteils die Zweckmäßigkeit der Natur sowohl »außer uns« als auch »in uns« – sowohl in objektiver als auch subjektiver Hinsicht – fest und bezieht sie auf das übersinn­ liche Substrat der Natur in den zwei Hinsichten, das den Endzweck der Vernunft in der Natur möglich machen könnte. Daher kann man Kants Aussage in § 57 so verstehen, dass die erweiterte Beziehung der Vorstellung vom Phänomenalen zum Noumenalen erfolgt (5: 399 f.). Die bei der Erweiterung der Vorstellung festgestellte Zweckmäßigkeit liefert die Interpretationsmöglichkeit, dass das übersinnliche Substrat hinter der Sachlage bei einem Geschmacksurteil die Hoffnung auf die Ausführungsmöglichkeit des höchsten Guts bewirkt. Deshalb ließe sich auch sagen, dass durch diese Erweiterung der Vorstellung beim Geschmacksurteil dem übersinnlichen Substrat dessen »Bestimm­ barkeit durch das intellectuelle Vermögen« verschafft wird. Brandt weist darauf hin, dass drei Bestimmungsweisen des Über­ sinnlichen in der oben zitierten Passage aus der Einleitung später in

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1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht

der Dialektik als »drei Ideen […] des Übersinnlichen« umformuliert werden (Brandt 2008, 57): »[…] so zeigen sich drei Ideen: erstlich des Übersinnlichen überhaupt ohne weitere Bestimmung als Substrats der Natur; zweitens eben desselben, als Princips der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnißvermögen; drittens eben desselben, als Princips der Zwecke der Freiheit und Princips der Übereinstimmung derselben mit jener im Sittlichen« (5: 346).

Hinsichtlich der Bestimmungsweise durch die Urteilskraft setzt Kant hier die Idee des Übersinnlichen mit der Idee des Prinzips der Zweck­ mäßigkeit der Natur für das Erkenntnisvermögen gleich. Hierdurch macht die Bestimmung des Übersinnlichen einen weiteren Schritt dahin gehend, als es auf der Verstandesebene »ohne weitere Bestim­ mung als Substrats der Natur« besteht. Es sei darauf geachtet, dass die Urteilskraft in dieser Struktur der Trichotomie die vermittelnde Funktion zwischen dem Verstand und der Vernunft ausführt, wie die oben zitierte Passage aus § IX der Einleitung in die dritte Kritik klar macht: »[…] und so macht die Urtheilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« (5: 196).

Es ist sehr wichtig, dass Kant, obzwar es in § IX der Einleitung um das Problem des Endzwecks der Vernunft, d. h. des höchsten Guts, geht, gar nicht von den Postulaten Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele spricht. Auch Brandt stellt dies fest und betont, dass Kant in der dritten Kritik das Problem des höchsten Guts »neu […] formuliert«, indem Kant in der dritten Kritik verdeutlicht, »daß der Endzweck »in der Sinnenwelt« (196, 1) existieren soll, ja, »allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann« (196, 10 f.)« (Brandt 2008, 56 f.). Brandt sagt dazu: »Die Urteilskraft hat ihre Funktion demnach in der Ästhetik und Teleologie darin, daß die Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkennt­ nisvermögen die Kompatibilität der Natur mit dem rein moralischen Begriff des höchsten Gutes in der Welt aufweist« (Brandt 2008, 57).

Die Ästhetik hat mit der Teleologie gemein, dass die Tätigkeit des intellektuellen Vermögens aus der Richtung des Besonderen hin zum Allgemeinen reicht. Die Beschaffenheit der sinnlichen Natur, der das Subjekt in der Wirklichkeit begegnet, dient dabei als Ausgangspunkt der intellektuellen Reflexion, obzwar diese Reflexion über die Grenze

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

der Sinnlichkeit hinausgeht. Die wirkliche Natur wird in Hinsicht auf das Übersinnliche, auf den Endzweck der Vernunft, interpretiert und in subjektiver Weise bestimmt, sodass sie »die Kompatibilität der Natur mit dem rein moralischen Begriff des höchsten Gutes in der Welt aufweist«. Es sei darauf hingewiesen, dass man erst nach dem Auseinandersetzen mit der Erweiterung des Geschmacksurteils durch ein intellektuelles Interesse diesen »Übergang« von der Natur hin zur Freiheit in der Ästhetik versteht. Mit der Theorie des reinen Geschmacksurteils allein lässt sich der Übergang nicht begreifen. Wie in den vorigen Kapiteln besprochen wurde, bestimmen die Postulate des Gottes und der Unsterblichkeit der Seele das Übersinn­ liche, das nicht nur der äußerlichen Natur, sondern auch dem Subjekt zugrunde liegt, und zwar in kategorischer Weise, d. h. nicht von der sinnlichen Natur als Gegenstand der Erfahrung ausgehend, sondern von dem Begriff des Sollens ausgehend. Diese Bestimmung ist nichts anderes als die Bestimmung des Übersinnlichen durch die praktische Vernunft, die in der vorhin zitierten Passage aus § IX der Einleitung in die dritte Kritik steht. Die kategorische Bestimmung durch die praktische Vernunft und die Bestimmbarkeit durch die Urteilskraft teilen die Eigenschaft, dass beide den Begriff der Zweckmäßigkeit als Prinzip der Bestimmungsweise verwenden (20: 245). Jedoch unter­ scheidet sich die erste Bestimmung von letzterer Bestimmbarkeit, da erstere keine Brücke zwischen dem Sein der Natur und dem Sollen der Freiheit schlagen kann, indem sie die sinnliche Beschaffenheit in der Wirklichkeit der Natur gar nicht berücksichtigt. Auch Kants verschiedene Formulierungen für den Vernunftbe­ griff des Übersinnlichen zeigen, dass die Unbestimmtheit dieses Begriffs nicht mit der Unbestimmtheit des Übersinnlichen auf der Ebene des Verstandes gleichgesetzt werden darf. Darunter sind For­ mulierungen, die sowohl die subjektive als auch die objektive Hinsicht des Übersinnlichen berücksichtigen, wie »der bloße reine Vernunftbe­ griff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande (und auch dem urtheilenden Subjekte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt« (5: 340). Es gibt auch Formulierungen, die sich eher auf die subjektive Seite richten, wie die »Begriffe von demjenigen […], was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann« (ibid.) oder auch »die unbestimmte Idee des Übersinn­ lichen in uns« (5: 341). An einer anderen Stelle wird derselbe Begriff als »Begriffe (eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweck­ mäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft« (5: 340) wiedergegeben.

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1.4. Antinomie des Geschmacks in weltbürgerlicher Hinsicht

Verstünde man die »Unbestimmtheit« des Begriffs des Über­ sinnlichen bloß hinsichtlich der Bestimmung des Verstandes oder erkannte man den Bezug auf den Endzweck nicht, der sowohl auf subjektiver als auch auf objektiver Seite erreicht werden soll, wären die verschiedenen Formulierungen nur irreführend. Sie erhalten erst in Hinsicht auf die Zweckmäßigkeit für den Endzweck ein systemati­ sches Verständnis. Schließlich lässt sich Kants Formulierung »unbestimmt« für den Vernunftbegriff des Übersinnlichen in der Antinomielehre so verste­ hen, dass Kant hierdurch bloß einen Kontrast zu dem bestimmten Verstandesbegriff herstellen will, auf den das Disputieren gründen könnte. Sofern man aufgrund des »unbestimmten« Begriffs über den Geschmack »streiten« kann, darf der Begriff nicht gänzlich »unbe­ stimmt« bleiben. In Hinsicht auf die Erweiterung des Geschmacksur­ teils in weltbürgerlicher Absicht ist der Begriff des Übersinnlichen durch das subjektive Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für den Endzweck der menschlichen Vernunft »bestimmbar«, indem das übersinnliche Substrat hinter der zweckmäßigen Natur als Grund der möglichen Vereinigung der Natur und der Freiheit angesehen wird (5: 353). In der bisherigen Diskussion der Erweiterung des Geschmacksurteils ist die komplexe Reflexion des Subjekts über diese Verhältnisse erläutert geworden. Hierdurch wurde auch auf die in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung gestellte Frage nach dem Problem des Übergangs von der Natur zur Freiheit durch das Geschmacksurteil geantwortet.

1.4.3. Das als bestimmbar interpretierte Übersinnliche und das ästhetische Sollen Wie in 1.3.2 dieses Kapitels anhand der Passagen aus § 8 und § 22 der Kritik der Urteilskraft besprochen wurde, wird der Zustimmungsan­ spruch des Geschmacksurteils dadurch eine quasi-objektive Gültig­ keit gewinnen, dass er sich durch die hypothetische Struktur der Reflexion in den Zusammenhang mit dem höchsten Gut versetzt. In § 57 der Kritik der Urteilskraft deutet Kant auf seine Ansicht hin, dass der ästhetische Sollens-Anspruch auf dem Begriff des als bestimmbar interpretierten Übersinnlichen gründet. Hierdurch lässt sich noch einmal die hypothetische Struktur des ästhetischen SollensAnspruchs herausstellen. Darauf soll eingegangen werden.

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

An einer Stelle der Antinomielehre des Geschmacks schildert Kant jenen Begriff, auf dem der Zustimmungsanspruch basiert, als Begriff des Grundes der »subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft«: »das Geschmacksurtheil gründet sich auf einem Begriffe (eines Grun­ des überhaupt von der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft), aus dem aber nichts in Ansehung des Objects erkannt und bewiesen werden kann, weil er an sich unbestimmbar und zum Erkenntniß untauglich ist« (5: 340).

Hier bezieht sich Kant gleichzeitig auf zwei Ebenen der Bestimmung des übersinnlichen Substrats, einmal auf die Ebene des Verstandes (Unbestimmbarkeit und Unerkennbarkeit), einmal auf die Ebene der Urteilskraft (Überbrückung zwischen der Natur und der Freiheit durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur). Im anschließenden Satz scheint Kant sich jedoch für die letztere entschieden zu haben. Denn wird das Übersinnliche bloß als unbestimmt angesehen, kann man auf dessen Begriff gestützt niemals die allgemeine Gültigkeit des Geschmacksurteils behaupten, welches Kant hier doch tut: »es [sc. das Geschmacksurteil] bekommt aber durch eben denselben [sc. den Begriff des Übersinnlichen] doch zugleich Gültigkeit für jedermann (bei jedem zwar als einzelnes, die Anschauung unmittelbar begleitendes Urtheil): weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als das übersinnliche Sub­ strat der Menschheit angesehen werden kann« (ibid.; Hervorhebung der Verf.).

Hier verwendet Kant den Ausdruck: »bekommen«. Kants Aussage, dass der Zustimmungsanspruch des Geschmacksurteils durch seinen Bezug auf jenen Vernunftbegriff »Gültigkeit für jedermann« »bekommt«, zeigt eine veränderte Einstellung. Denn Kant behauptet vor der Dialektik, dass der Anspruchserheber des Geschmacks die Zustimmung zu seinem Geschmacksurteil ansinnt, oder zumutet. Diese Veränderung erinnert an den Gedanken Kants in § 22 der Kritik der Urteilskraft, dass das Geschmacksurteil durch die subjektive Bestimmung der Verhältnisse zwischen der Natur und dem Endzweck – anstatt die subjektive – die objektive Notwendigkeit beanspruchen kann (5: 239). Zur gerade zitierten Passage aus § 57 gibt es noch mehr anzu­ merken. Anders als zuvor schildert Kant den infrage kommenden Begriff des Übersinnlichen als »das übersinnliche Substrat der

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1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes

Menschheit« anstatt des übersinnlichen »Grundes überhaupt von der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft«. Jenes liegt dem Subjekt zugrunde und dieser ist der übersinnliche Grund des Objekts, d. h. der Grund der Natur außer uns, der die Einstimmung zwischen dem Objekt und dem Subjekt ermöglicht. Diese Diskrepanz zwischen den zweifachen Ausdrücken lässt sich verstehen, wenn an die zweifache Richtung der Erweiterung des Geschmacksurteils erin­ nert wird, die Kant als »eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts)« begreift (5: 339). Obzwar es sich hinter der Parallele mit den Dialektiken der vor­ hergehenden Kritiken hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen versteckt, lässt sich feststellen, dass der Begriff des als bestimmbar interpretierten Übersinnlichen für den ästhetischen Sollens-Anspruch eine wichtige Rolle spielt. Außer­ dem ist Kants Gedanke der hypothetischen Struktur des ästhetischen Sollens durch einen Rekurs auf jenen Begriff sichtbar. Nachdem nun bekannt ist, dass das Subjekt der Erweiterung des Geschmacksurteils bei der Interpretation des Begriffs vom übersinnli­ chen Substrat das Problem der Kluft zwischen der Natur und der Frei­ heit vor Augen hat und seine eigene Reflexion auf die Interpretation bezieht, lässt sich dabei sein weltbürgerliches Verhalten herausstellen. Denn seine Überlegung über das zweckmäßige Verhältnis seiner Umge­ bung für den Endzweck und seine Handlung um der Einträchtigkeit der Menschen willen zeigen die Merkmale eines weltbürgerlichen Philo­ sophen.

1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes in weltbürgerlicher Absicht Wie aus den bisherigen Untersuchungen zutage trat, gründet die Gül­ tigkeit des Sollens-Anspruches eines Geschmacksurteils auf der hypothetischen Struktur der Reflexion, die durch die Annahme des zweckmäßigen Verhältnisses der durch die Zustimmung zustande zu bringenden Einhelligkeit der Menschen für den Endzweck dem Anspruch seine Gültigkeit zuspricht. In dieser Annahme spielt der Begriff eine wichtige Rolle, aufgrund dessen das subjektive Interesse des Subjekts sich als zweckmäßig bestimmen lässt. Als solchen Begriff erwähnt Kant verschiedene Varianten wie die Idee der allgemeinen Stimme (§ 8), »eine jedermann nothwendige Idee […], was die Ein­

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

helligkeit verschiedener Urtheilenden betrifft« (§ 22), den Begriff vom »Gemeinsinn« (§ 22) und die verschiedenen Formulierungen des Ver­ nunftbegriffs vom Übersinnlichen in der Antinomielehre. Von ihnen verwandelt sich der Begriff »Gemeinsinn« in § 40 der Kritik der Urteilskraft wieder in den Ausdruck »sensus communis«. Da Kant in § 40 auf das hypothetische Moment des sensus communis hinweist, soll darauf eingegangen werden. Obwohl sensus communis die lateinische Bezeichnung für den Gemeinsinn ist, liefert Kant hierzu leicht differenzierte Aussagen. Wie gesehen wurde verweist der Gemeinsinn (im zweiten Sinne) auf die konkreten, intersubjektiven Bemühungen um die Annäherung zum Ideal des menschlichen Kollektivs durch die Einhelligkeit der Urteilenden anhand eines Geschmacksurteils. Demgegenüber wird sensus communis als das Vermögen beschrieben, mit dem man sein eigenes Urteil in regulativer Weise überprüft, um »ein Urtheil […], welches zur allgemeinen Regel dienen soll« (5: 294), zu gewinnen. Die Tätigkeit des sensus communis erfolgt auf der individuellen, abstrakten Ebene. Sie wird als ein abstraktes Gedankenexperiment geschildert, das eigene Urteil »an die gesamte Menschenvernunft« zu halten, indem man es »an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält« (5: 293), oder »sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert« (5: 294). Die »bloß mögliche[n] Urtheile« von anderen bestehen lediglich als abstrakte Vorstellung im eigenen Gedanken und dieses Experiment findet ohne Interaktion mit anderen statt. Von dieser individuellen Dimension kann man durch die Abstraktion zur »all­ gemeinen Regel« gelangen, indem man »das, was in dem Vorstel­ lungszustande Materie, d. i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstel­ lung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat« (5: 294). Dies erin­ nert an die Betonung der formalen Bedingungen der Urteilskraft in § 38 der Deduktion, sodass der Anschein entsteht, Kant spreche in § 40 von dem Gemeinsinn nicht im zweiten, sondern im ersten Sinne, dessen Begriff die Erweiterung des Geschmacks nicht berücksichtigt. In dieser Hinsicht könnte man die Einführung des traditionelllen Begriffs »sensus communis« in § 40 auch als Kants Versuch betrachten, die zweierlei Begriffsverwendungen Kants von »Gemeinsinn« zu ver­ einigen.

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1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes

Nach den Erläuterungen zum sensus communis liefert Kant Aus­ sagen, die für die Interpretation der Erweiterung des Geschmacksur­ teils in weltbürgerlicher Hinsicht sehr wichtig sind. Sie beziehen sich auf die drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes: »1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart« (5: 294).

Davon soll zunächst auf die zweite Maxime eingegangen werden, die Kant auch »Maxime […] der Urtheilskraft« nennt (5: 295). Wie in der soeben zitierten Passage steht, ist die zweite Maxime nach Kant die der »erweiterten […] Denkungsart«. Was meint Kant hier mit der Erweiterung? Welche Denkungsart wird erweitert? Man sieht leicht, dass Kant die Formulierungen zu jenem Gedankenexpe­ riment des sensus communis wiederholt, wenn er zur zweiten Maxime des gemeinen Menschenverstandes sagt, dass man »an der Stelle jedes anderen« denkt (5: 294), oder »sich in den Standpunkt anderer versetzt« (5: 295). Kant scheint bloß das zu wiederholen, was er zum sensus communis bereits gesagt hat. Beim näheren Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass Kant hier einen neuen Inhalt hinzufügt, nämlich das Moment der Zweckmäßig­ keit: »Allein hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart, einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie ein­ geklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt« (5: 295; Hervor­ hebung der Verf.).

In dieser Passage stellt sich heraus, dass die Einnahme des allgemei­ nen Standpunkts und die regulative Überprüfung des eigenen Urteils das Moment der Zweckmäßigkeit enthalten. Obzwar Kant hier nicht von einem bestimmten Zweck spricht, ist ersichtlich, dass der zweck­ mäßige Gebrauch des Erkenntnisvermögens durch die Maxime der Urteilskraft mit der Beobachtung der Erweiterung des Geschmacksur­ teils konvergiert. Hier ist nämlich Kants Ansicht zu ersehen, dass man

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

das angeborene Erkenntnisvermögen zweckmäßig gebrauchen und in dieser Hinsicht dessen Umfang überschreiten soll. Somit bedeutet die »erweiterte Denkungsart« in § 40 nicht bloß die quantitative Ausdehnung hinsichtlich der intersubjektiven Dimension, sondern die Erweiterung des Standpunkts bzw. der Per­ spektive des Subjekts, genauso wie es bezüglich der »erweiterten Beziehung der Vorstellung« aus § 57 der Fall ist. Damit lässt sich sagen, dass die Erweiterung des Geschmacksurteils auf die zweite Maxime des gemeinen Menschenverstandes zugreift, indem der Ver­ stand und die Einbildungskraft als »Vermögen des Erkenntnisses« (5: 295) für den Endzweck zweckmäßig gebraucht werden. Folglich lässt sich weiter Folgendes sagen: Obzwar bei Kants Erläuterungen zum sensus communis obskur bleibt, wo zwischen dem Gemeinsinn im ersten Sinne und dem im zweiten Sinne der sensus communis genau steht, spricht Kant wenigstens bezüglich der zweiten Maxime des gemeinen Menschenverstandes von dem Vermögen, das sich vom primären Gebrauch des Erkenntnisvermögens absetzt und über ihn hinausgeht. Dieses Vermögen ist die Urteilskraft, die in weltbürgerlicher Absicht in Kraft tritt. Denn das Vermögen der »zweck­ mäßige[n] Verbindung aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zur Einheit« und der »Einsicht in die Übereinstimmung derselben mit den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft« ist das erforderliche Merkmal des weltbürgerlichen Philosophen, wie in einem vorigen Kapitel gesehen wurde (9: 25). Wie die bisherigen Überlegungen zeigen, besteht der ganze Prozess der Erweiterung des Geschmacksurteils aus einem komplexen Gebrauch des gesamten Erkenntnisvermögens des Menschen. Er schließt neben jener zweckmäßigen Tätigkeit der Urteilskraft das Grundvermögen für die Erkenntnis überhaupt ein und die Vernunft als Vermögen, sich nach dem eigenen Interesse einen höheren Zweck zu setzen, der sich ihrem Endzweck unterordnet. Demnach lässt sich versuchen, alle drei Maximen des Menschenverstandes, die Kant jeweils dem Verstand, der Urteilskraft und der Vernunft zugehörig erklärt, hinsichtlich der Erweiterung des Geschmacksurteils zu inter­ pretieren, und zwar in weltbürgerlicher Absicht: (1) Die erste Maxime charakterisiert Kant mit einem Wort als »Selbstdenken« (5: 294). Sie ist die »Maxime einer niemals passiven« Vernunft, d. h. niemals heteronom (ibid.). Das weltbürgerliche Sub­ jekt der Erweiterung des Geschmacksurteils lässt sich als Vertreter dieser Maxime betrachten. Denn sein subjektives Prinzip ist ein Pro­

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1.5. Sensus communis und die Maximen des gemeinen Menschenverstandes

dukt seines Selbstdenkens zum Herausfinden seiner eigenen Lösung nach seinem eigenen Interesse. Ein weltbürgerliches Subjekt ist hin­ sichtlich des Denkens insofern niemals passiv, als es hinsichtlich des rein ästhetischen Schönheitserlebnisses eine Möglichkeit der Verknüpfung mit der Beförderung des höchsten Guts herausfindet und der »allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann« (5: 237), durch die eigene Interpretation dieser Regel die subjektive Bestimm­ barkeit verleiht. (2) Die zweite Maxime bezieht sich auf das Vermögen, den Gebrauch des Grundvermögens der menschlichen Erkenntnis hin­ sichtlich der höheren Zwecke zweckmäßig zu erweitern, wie bereits besprochen wurde. (3) Zur dritten Maxime des gemeinen Menschenverstandes sagt Kant: »Die dritte Maxime, nämlich die der consequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen und kann auch nur durch die Verbindung bei­ der ersten und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben erreicht werden« (5: 295).

Nach dieser Aussage scheint Kant mit der »consequenten Denkungs­ art« vielmehr die Beharrlichkeit bei der Praxis von Denkungsart als die logische Folgerichtigkeit zu meinen. Denn das Selbstdenken und der zweckmäßige Gebrauch des Erkenntnisvermögens, die in Verbindung die Praxis der dritten Maxime beeinflussen, haben in der Tat nichts mit der logischen Folgerichtigkeit zu tun. Die dritte Maxime lässt sich durch das gründliche Verhalten des weltbürgerlichen Sub­ jekts veranschaulichen, das an jeder möglichen Gelegenheit das für das höchste Gut zweckmäßige Verhältnis herausstellt und sich durch den Einsatz seines gesamten Erkenntnisvermögens um seine Beför­ derung bemüht. In dieser Hinsicht erinnert die Formulierung der »consequenten Denkungsart« an die der »geläuterten und gründlichen Denkungsart aller Menschen […], die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben«, womit Kant das Verhalten des Subjekts beschreibt, das am Schönen ein intellektuelles Interesse nimmt (Hervorhebung der Verf.; 5: 299). Mit dem gemeinen Menschenverstand meint Kant im Prinzip den gewöhnlichen, natürlichen und unkultivierten Normal- bzw. Jedermannsverstand (Nehring 2015, 1520 f.). Nach seinen Erläute­ rungen der drei Maximen in § 40 der Kritik der Urteilskraft über­ steigt jedoch der gemeine Menschenverstand – besonders bezüglich

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1. Sollens-Anspruch und das intellektuelle Interesse

der zweiten, dritten Maxime – das Niveau des natürlichen Vermö­ gens. Es wird die Ansicht vertreten, dass Kant mit dieser Ausführung von drei Maximen nicht zu meinen scheint, dass jeder über diese Maximen verfügt, sondern in weltbürgerlicher Absicht verfügen sollte.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

In der Dialektik gibt es außer dem § 57 eine weitere Stelle, wo die Antinomie des Geschmacks behandelt wird und an der von dem Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils die Rede ist. In § 59 schließt diese Aussage über diesen Anspruch an die berühmte Sym­ bol-These an: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung […]« (5: 353; Hervorhebung der Verf.).

Wie im zweiten Kapitel interpretiert wurde, geht es hier um einen Sollens-Anspruch, nicht um einen Anspruch auf dem Niveau eines reinen Geschmacksurteils. In 1. des vorliegenden Kapitels wurde herausgestellt, dass sich der Sollens-Anspruch des Geschmacksurteils im Kontext der Antinomie­ lehre des Geschmacks auf die Bestimmbarkeit des übersinnlichen Substrats in weltbürgerlicher Absicht stützt. Jetzt soll überprüft werden, ob sich diese Aussage über den Sollens-Anspruch auch im Zusammenhang mit der Symbol-These in der gleichen Hinsicht verstehen lässt.

2.1. Das weltbürgerliche Interesse in Kants Darlegung der Symbol-Theorie Es wird die Ansicht vertreten, dass man in Kants Darlegung der Sym­ bol-Theorie in § 59 das weltbürgerliche Interesse erkennen kann, das bereits bezüglich der Erweiterung des Geschmacksurteils beobachtet wurde.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

2.1.1. Interesse an der objektiven Realität eines Vernunftbegriffs in praktischer Absicht In den ersten vier Absätzen des § 59 betont Kant, dass eine symboli­ sche Darstellung »eine Art der intuitiven« Vorstellungsarten (5: 351; Hervorhebung der Verf.) ist, die einem Vernunftbegriff, dem »nie eine Anschauung direct correspondieren kann« (5: 353), eine »objective Realität« (5: 351) verleiht. Obzwar Kant bereits im ersten Absatz betont, dass die objektive Realität der Vernunftbegriffe »zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben« darzutun, »etwas Unmögliches« ist (ibid.), müssen manche Vernunftbegriffe doch ihre sinnlichen Gegenstücke finden, und zwar in praktischer Absicht. In diesem Fall müssen sie auf indirekte Weise in der Sinnlichkeit darge­ stellt werden. Und die indirekten Darstellungen der Begriffe bezeich­ net Kant als symbolisch. Bereits zu diesem Punkt lässt sich feststellen, dass die Kantische Symbol-Theorie einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die Erweiterung des Geschmacksurteils wählt, indem es in beiden Fällen um das Bedürfnis nach der objektiven Realität der Vernunftbegriffe geht (vgl. 5: 300). Kant deutet darauf hin, dass sich die symbolische Vorstellungsart als eine praktische Bestimmung von dem ansehen lässt, »was die Idee […] für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll« (5: 353: Hervorhebung der Verf.). Auch die gerade zitierten Beschreibungen Kants konvergieren mit der sub­ jektiven und zweckmäßigen Bestimmungsweise des Übersinnlichen durch die Urteilskraft, die bei der Erweiterung des Geschmacksurteils stattfindet, wie in 1.4.3 dieses Kapitels besprochen wurde.

2.1.2. Struktur des Fortschreitens vom Besonderen zum Allgemeinen Kant expliziert im vierten Absatz des § 59, auf welche Weise die sym­ bolische Darstellung als indirekte Vorstellungsart zustande kommt. Dafür muss »ein doppeltes Geschäft« der Urteilskraft erfolgen (5: 352), welches darin besteht, »erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden« (ibid.).

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2.1. Das weltbürgerliche Interesse in Kants Darlegung der Symbol-Theorie

Auch bei dieser zweistufigen Struktur lässt sich jenes Merkmal beobachten, das bei der Erweiterung des Geschmacksurteils begegnet. Die Struktur zeigt das Fortschreiten vom Besonderen zum Allgemei­ nen, wobei man bereits bei der Stufe des Besonderen – im Voraus – auf das Allgemeine Rücksicht nimmt. Die erste Stufe bezieht sich auf einen einzelnen Gegenstand der sinnlichen Anschauung und einen Begriff, der sich auf den Gegenstand anwenden lässt. Dieser Begriff wirkt auf der zweiten Stufe in verknüpfender Funktion zwischen diesem Gegenstand der Anschauung und dem »ganz andern Gegenstand«, indem dieser Begriff die »Regel der Reflexion über Anschauung« liefert bzw. er selbst der Regel zugrunde liegt. Daher muss das Allgemeine, d. h. ein Vernunftbegriff, den Kant hier »einen ganz andern Gegenstand« nennt, bereits auf der ersten Stufe berück­ sichtigt werden.75 Dies zeigt die Konvergenz mit der Erweiterung des Geschmacksurteils, die von der sinnlichen Anschauung des schönen Gegenstandes ausgeht, jedoch das Bewusstsein für das Problem des höchsten Guts bzw. das kultivierte moralische Gefühl, voraussetzt. Es bleibt aber fraglich, warum Kant in seinem Explizieren der Symbol-Theorie lediglich die Richtung vom Besonderen zum Allge­ meinen schildert. Wenn bedacht wird, dass es bei der symbolischen Darstellung um die objektive Realität eines Vernunftbegriffs geht, muss die Richtung vom Allgemeinen zum Besonderen auch möglich sein. Bei dem Kantischen Beispiel des despotischen Staates könnte man doch mit dem begrifflichen Merkmal desselben Begriffs anfan­ gen, um einen sinnlichen Gegenstand herauszufinden, auf den das Merkmal angewandt werden kann. Dies soll in der Weise interpretiert werden, dass sich Kants Präsentation der Symbol-Theorie in § 59 letztendlich auf ihre Anwendung auf den Geschmack orientiert, der dort ab dem fünften Absatz thematisiert wird. Die Richtung vom Besonderen zum Allgemeinen bei der Erwei­ terung des Geschmacksurteils entspricht auch dem existentiellen Das Allgemeine ist kein Gegenstand, sondern ein Begriff. Deshalb ist merkwürdig, dass Kant das hier als »einen ganz andern Gegenstand« bezeichnet. Nuyen äußert zu diesem Punkt: »It is pretty clear that Kant meant to say here ֦quite another concept rather than quite another object. There is just one object involved, not two« (Nuyen 1989, 98). Es sei aber eine andere Meinung vertreten. Sofern sich annehmen lässt, dass Kant diese Formel der Symbolisierung vorlegt, um letztendlich die These »das Schöne ist das Symbol des Sittlich=guten« zu erläutern, soll das Sittlich-Gute das höchste Gut als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft heißen. Darauf wird in 2.2.2 eingegangen. 75

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Weltbegriff Kants, der vorher besprochen wurde: Das Besondere in meiner »Welt, davon ich ein Theil bin« (4: 357), dem ich in seiner Wirklichkeit begegne, zeigt mir, wie meine existentiellen Umstände konkret aussehen. In dieser Hinsicht reflektiert ein Weltbürger das Besondere auf die Verwirklichungsmöglichkeit des Endzwecks in seiner Welt hin.

2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten? Auch wenn die Vermutung möglich scheint, dass Kants Darlegung der Symbol-These in § 59 der Kritik der Urteilskraft das weltbürgerliche Interesse zum Ausdruck bringt, das auch in der Erweiterung des Geschmacksurteils beobachtet wird, lässt sich diese Vermutung nicht ohne Weiteres bestätigen wegen der textlichen Uneindeutigkeit des § 59. Die Uneindeutigkeit entsteht daraus, dass Kant in der Über­ schrift des § 59 und im 5. Absatz des Hauptteils jeweils unterschied­ lich bestimmt, was durch das Schöne symbolisiert wird. Hier stellt sich die Frage, ob die »Schönheit« das »Symbol der Sittlichkeit« ist oder »das Schöne« »das Symbol des Sittlich=guten«.

2.2.1. Der Fall eines Symbols der Sittlichkeit In der Überschrift des § 59 der Kritik der Urteilskraft steht: »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«. Unter der »Sittlichkeit« ver­ steht Kant die Eigenschaft von Handlungen oder der Gesinnung der handelnden Person, die in der »Übereinstimmung […] der Maxime der Handlung mit dem Gesetze« besteht (6: 225). Da es um die Maxime bzw. die Gesinnung einer Person geht, unterscheidet sich die Sittlichkeit von der Legalität des äußerlich pflichtmäßigen Handelns: Kants Ansicht nach ist die Sittlichkeit »der moralische Werth, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d. i. blos um des Gesetzes willen, geschehe« (5: 81; Hervorhebung der Verf.). Der Bestimmungsgrund eines sittlichen Willens kann daher lediglich das Gesetz sein. Bezüglich des symbolischen Verhältnisses zwischen diesem Begriff der Sittlichkeit und dem der Schönheit führt Kant im 6. Absatz des § 59 die Analogie in Hinsicht auf vier gemeinsame Punkte zwi­ schen beiden aus (5: 353 f.). Aus den vier Punkten lässt sich leicht

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

entnehmen, dass es hier um den Vergleich zwischen dem Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil, genauer, zwischen dem Gemütszustand beim reinen Geschmacksurteil und dem »durch moralisch Urtheile bewirkten Gemütszustande[]« (5: 354) geht. Da es beim Begriff der Sittlichkeit um die Gesinnung geht, scheint die Analogie zwischen Gemütszuständen des Urteilenden zur Bestim­ mung der »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« gut zu passen (Her­ vorhebung der Verf.). Es lässt sich jedoch eine Reihe von Gründen anführen, warum diese Analogie oder diese Bestimmung der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit nicht ganz zufrieden stellen. Erstens lässt sich, wenn man aus der Analogie zwischen dem Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil eine symbolische Beziehung herstellt, das symbolische Verhältnis so bestimmen: Das Geschmacksurteil ist das Symbol des moralischen Urteils. Wie bereits gesehen wurde, kommt eine symbolische Beziehung zustande zwi­ schen einem Gegenstand der Anschauung und einer Vernunftidee. Jedoch ist ein Geschmacksurteil kein Gegenstand der Anschauung und ein moralisches Urteil ist keine Vernunftidee. Folglich passt diese Analogie nicht zu der Grundstruktur der Symbolisierung, die eine Vernunftidee mit einem Gegenstand der Anschauung verknüpft (vgl. Munzel 1995, 321 Anm.). Zweitens lässt sich, wenn an das Interesse Kants an der objektiven Realität der zu symbolisierenden Vernunftidee gedacht wird, das sich in Kants Darlegung der Symbol-Theorie beobachten lässt, dem Sittlichkeitsbegriff kein Status der Idee zuschreiben, die durch einen Gegenstand der Anschauung symbolisiert werden soll. Denn die Sittlichkeit ist ein Begriff, der keine praktische Notwendigkeit hat, dass seine objektive Realität auch nur indirekt in der Sinnlichkeit dargestellt werden soll. Wie vorher besprochen wurde, ist das mora­ lische Gesetz bzw. dessen Bewusstsein bei Kant »ein Factum der reinen Vernunft« (5: 31; 5: 47; 5: 55). Das Gesetz ist nach Kant die »ratio cognoscendi der Freiheit« (5: 4). Die Freiheit, sich dem Gesetz unterzuordnen, liegt der Sittlichkeit des Menschen zugrunde. In dieser Konstellation der praktischen Begriffe bedarf der Begriff der Sittlichkeit keiner Gelegenheit, durch eine indirekte Darstellung eine praktische Bestätigung seiner objektiven Realität zu erhalten – wie Kants assertorische Aussage besagt, dass »die Sittlichkeit, in Anse­ hung deren wir von der Naturmitwirkung frei sind, seiner Möglichkeit nach a priori feststeht und dogmatisch gewiß ist« (5: 453).

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Aus diesen Überlegungen heraus scheint der Begriff der Sitt­ lichkeit nicht geeignet für das, was durch das Schöne symbolisiert werden soll.

2.2.2. Der Fall vom Symbol des Sittlich-Guten und das Symbolisieren desselben durch das Schöne Wie auch bei der »Sittlichkeit« der Fall, wird das Sittlich-Gute bei Kant öfter verwendet, um den Wert einer Handlung oder eines Handelnden zu bezeichnen, der in der ausschließlichen Beziehung der Willensbe­ stimmung auf das Gesetz der reinen praktischen Vernunft besteht.76 Zum Beispiel ist der gute Wille, mit dessen Erläuterung die Grund­ legung der Metaphysik der Sitten beginnt, »ohne Einschränkung … gut«, oder »schlechthin gut«, oder »an sich gut«, d. h. sittlich gut (Edwards 2015, 983 f.). Dabei ist zu beachten, dass der gute Wille den Status des Sittlich-Guten gewinnt, »nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend­ eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen« (4: 394). In diesem Begriffsverständnis ist jedoch keine Beziehung auf einen Zweck oder das Objekt enthalten, welches durch die Vorstellung des Zwecks produziert werden soll. In der Tat wird der Begriff des Objekts jedoch an vielen Stellen der ethischen Schriften Kants als notwendiger Begriff für die Hand­ lungstheorie anerkannt: Kant nennt das Gute »einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs=[…]vermögens« (5: 58; Hervorhebung der Verf.). Dennoch wird die Vorstellung des Gegenstandes oft durch die Betonung davon außer Acht gelassen, dass eine Handlung nicht durch ihren Erfolg (die erfolgreiche Hervorbringung des gewollten Objekts), sondern durch »die Willensbestimmung […] durchs Gesetz allein« (5: 68 f.) sittlich oder sittlich gut wird. Dahingegen zeigt Kant in den späteren Schriften wiederholt den Standpunkt, der sich auf den Sinn der Handlung hinsichtlich des Gegenstandes als ihrer Wirkung in der Sinnenwelt bezieht. In der Religionsschrift sagt er: »Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung 76 An einer Stelle des Kant-Korpus setzt Kant »sittlich gut« mit »moralisch« gleich (7: 244), wobei Letzteres wiederum die lateinische Variante von »sittlich« ist.

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme« (6: 5; Hervorhebung der Verf.).

In seiner Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis meint Kant, dass das Interesse an der sinnvollen Wirkung unserer Handlungen nicht nur natürlich, sondern auch eine Verpflichtung ist: »[…] und über das [sc. Beachtung des Gesetzes] noch die Pflicht hinzukommt, nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältniß (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existire« (8: 279 Anm.).

Aufgrund dieser Pflicht muss sich ein Wille »noch über die Beobach­ tung der formalen Gesetze zu Hervorbringung eines Objects (das höchste Gut) erweitern[]« (ibid.). Diese Pflicht zeigt den von der Grundlegung der Metaphysik der Sitten geänderten Standpunkt für den guten Willen: Ein (sittlich) guter Wille muss nicht nur sich unmittelbar durch das Gesetz bestimmen, sondern sich auch darum bemühen, durch seine Handlung die wirkliche Welt für den Endzweck zweckmäßig zu gestalten. Damit ergibt sich auch bezüglich des Begriffs vom Sittlich-Guten eine Änderung: Er wird die Dimension der Materialität des Gegenstandes erhalten.77 Der § 42 der Kritik der Urteilskraft liefert ein gutes Beispiel der Begriffsverwendung des Sittlich-Guten, der im materialistischen Kontext erscheint. Den 7. Absatz des § 42, in dem Kant das intellek­ tuelle Interesse am Naturschönen als Interesse an der »objective[n] 77 In der Typik der reinen praktischen Vernunft sagt Kant, dass »das sittlich Gute etwas dem Objecte nach Übersinnliches« ist (5: 68; Hervorhebung der Verf.), obwohl er dort ausdrücklich sagt, dass das sittlich Gute in der Sinnenwelt »in concreto dargestellt werden soll« (ibid.). Die hiesige Bestimmung des sittlich Guten als übersinnliches Objekt hängt mit der völlig rationalistischen Lösung Kants für die Typik zusammen, die »von der sinnlichen Natur nichts weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für sich denken kann, d. i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnliche nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt« (5: 71). In der Typik reduziert Kant die Wirklichkeit einschließlich der Materialität in der Sinnenwelt lediglich auf die formale Gesetzlichkeit, obwohl es hier um die praktische Urteilskraft, also die Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen im praktischen Bereich, geht. In diesem Sinne sagt Pieper: »Das Kapitel über die Typik hat gezeigt, daß Kant die praktische Urteilskraft zwischen der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft ansiedelt: Sie »schematisiert« ohne Einbildungskraft, und sie »reflektiert« ohne das Prinzip der Zweckmäßigkeit« (Pieper 2002, 131).

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Realität« der praktischen Ideen expliziert, schließt Kant mit folgenden Sätzen ab: »Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur nimmt, kann es nur sofern an dem­ selben nehmen, als er vorher schon sein Interesse am Sittlich=Guten wohlgegründet hat. Wen also die Schönheit der Natur unmittelbar interessirt, bei dem hat man Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischen Gesinnung zu vermuthen« (5: 300 f.; Hervorhebung der Verf.).

Hier meint Kant, dass ein begründetes Interesse am Sittlich-Guten und die moralische Anlage jemanden für das Naturschöne interes­ sieren. Dieses intellektuelle Interesse am Naturschönen lässt sich unserer Interpretation zufolge dem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft unterordnen und bezieht sich auf die Verwirklichungsmög­ lichkeit des höchsten Guts in der Natur. In diesem Zusammenhang lässt sich in der Diskussion über das Sittlich-Gute bzw. die morali­ sche Gesinnung der materialistische Aspekt, d. h. die Existenz eines Gegenstandes, nicht ausschließen, welcher durch die moralische Wil­ lensbestimmung in der Sinnenwelt realisiert werden soll. Nun sei die Ansicht vertreten, dass Kants Auswahl des Terminus vom Sittlich-Guten im 5. Absatz des § 59 der Kritik der Urteilskraft auf der Notwendigkeit der Verwirklichung des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft beruht. Denn die Urteilskraft, die die symboli­ sche Beziehung zwischen dem Schönen und dem Sittlich-Guten her­ stellt, so Kant im 5. Absatz, sieht auf das Übersinnliche hinaus, hin­ sichtlich dessen die Möglichkeit der Einheit zwischen der Natur und der Freiheit gesucht wird (5: 353). Die Möglichkeit der Einheit besteht – so scheint Kant hier zu sagen – bei der symbolischen Darstellung des Sittlich-Guten durch das Schöne, und zwar in zweierlei Hinsich­ ten, d. h. in objektiver und subjektiver Hinsicht: »In diesem Vermögen sieht sich die Urtheilskraft […] sowohl wegen dieser innern Möglichkeit im Subjecte, als wegen der äußern Möglich­ keit einer damit übereinstimmenden Natur auf etwas im Subjecte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird« (5: 353).

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

An dieser Stelle soll versucht werden, mit Rücksicht auf diese zwei verschiedenen Hinsichten die Struktur der Symbolisierung des Sitt­ lich-Guten durch das Schöne zu erläutern. Wie in einem vorigen Abschnitt (2.1.2) gesehen wurde, führt die Urteilskraft bei der Symbolisierung »ein doppeltes Geschäft« aus: »erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschau­ ung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden« (5: 352). Wie in 2.1.2 beobachtet wurde, bedeutet diese Reihenfolge das Fortschreiten vom Besonderen zum Allgemeinen, genauso wie bei der Erweiterung des Geschmacks­ urteils. Dabei wird die »Regel der Reflexion über Anschauung« in der zweiten Stufe durch den Begriff einigermaßen vorbestimmt, indem dieser Begriff der Regel zugrunde liegt. Wie vorhin gesehen wurde, interessiert sich jemand, der »vorher schon sein Interesse am Sittlich=Guten wohlgegründet hat« (5: 300), für die Übereinstimmung der Natur mit dem Erkenntnisvermögen. Im vorliegenden Abschnitt wurde dieses Sittlich-Gute als das höchste Gut interpretiert. Folglich lässt sich der »Begriff« in der ersten Stufe als weltbürgerliches Interesse an der Realisierungsmöglichkeit des höchsten Guts bzw. der diesbezüglichen Zweckmäßigkeit verstehen. Aufgrund dieses Begriffs fokussiert sich das zweite »Geschäft« der Urteilskraft auf die Ähnlichkeit zwischen dem Schönen und dem höchsten Gut in Hinsicht auf eine mögliche »Regel der Reflexion«. Dabei achtet die Urteilskraft auf die Möglichkeit der zweifachen Reflexionsregeln, die den zweifachen Problemen zum Realisieren des höchsten Guts entsprechen: Erstens ist die äußere Natur, wo der Endzweck der Vernunft realisiert werden soll, nicht in der Gewalt des Einzelnen; zweitens liegt auch die Sittlichkeit der Mitmenschen, die für die Realisierung des Endzwecks entscheidend ist, nicht in der Gewalt des Einzelnen (vgl. 2.2.3. des Kapitels III). Unter diesen Umständen muss der Fall des Schönen für die Förderer des höchsten Guts vielversprechend wirken, denn Kant erachtet das Prinzip eines reinen Geschmacksurteils als fundamentale subjektive Bedingung der menschlichen Erkenntnis, sodass einerseits die Einhelligkeit der Menschen durch den Geschmack vorstellbar ist und andererseits das interesselose Wohlgefallen dabei als Hinweis auf die mit dem Fundamentalen des menschlichen Gemütsvermögens zusammenstimmende Natur interpretiert wird. In dieser Hinsicht lie­ fert der Fall des Schönen ein hoffnungsvolles Beispiel gegenüber den

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Verhinderungspunkten bezüglich der Realisierung des höchsten Guts. Denn die fundamentale Erkenntnisbedingung der Menschen reprä­ sentiert das menschliche Gemüt, welches sich selbst den Endzweck der Vernunft setzt, und die schöne Natur vertritt die ganze Natur, in der der menschliche Zweck realisiert werden soll. In diesem Sinne bringt die Symbol-These die exemplarische Struktur der Erweiterung des Geschmacksurteils noch einmal zutage: Die Existenz des schönen Dings in der Welt zeigt durch ihre zweifachen Möglichkeitsbedingun­ gen ein Beispiel bzw. einen Fall zugleich der Einstimmung zwischen der Natur und dem menschlichen Erkenntnisvermögen einerseits und der Einträchtigkeit der Menschen andererseits. Folglich lässt sich sagen, dass die Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten nicht nur die die Analogie der Regel bildende Struktur der Möglichkeitsbedingung des Gegenstandes der reinen Vernunft herausstellt, sondern auch dem Begriff des Gegen­ standes die Möglichkeit der benötigten objektiven Realität verleiht.

2.2.3. Über den Begriff des Schönen in der These »das Schöne ist das Symbol des Sittlich=guten« und dessen weltbürgerliche Bedeutung In Kants Ausführung der Analogie zwischen zweierlei Gemütszu­ ständen und die darauf zu gründende Bestimmung des symbolischen Verhältnisses zwischen der Schönheit und der Sittlichkeit ist gleich­ gültig, ob das »Schöne« das Naturschöne oder das Kunstschöne sei. Denn es geht in dieser Ausführung der Analogie um ein reines Geschmacksurteil, auf dessen Stufe kein Unterschied zwischen bei­ dem besteht. Jedoch entsteht ein Unterschied zwischen ihnen, wenn das reine Geschmacksurteil die Erweiterung erlebt und ein Interesse der Vernunft einmischt, wie Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft ausführlich erörtert. Schließt die These im 5. Absatz des § 59 der dritten Kritik, die die Ebene eines reinen Geschmacksurteils bereits verlassen hat, den Fall des Kunstschönen ein oder aus? Kann auch das Kunstschöne ein Sym­ bol des Sittlich-Guten sein so wie das Naturschöne? Ist es etwa nicht das Versehen Kants, dass er in dieser These »das Schöne« nicht auf das Naturschöne begrenzt hat? Es wird die Ansicht vertreten, dass auch das Kunstschöne einen Fall von Einstimmung zwischen der äußer­ lichen Natur und dem menschlichen Erkenntnisvermögen zeigt, jedoch

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

in einer leicht veränderten Form, und dass es in dieser Hinsicht als Symbol des Sittlich-Guten fungieren kann. Der Unterschied zwischen dem Naturschönen und dem Kunst­ schönen liegt darin, so Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft, dass lediglich das Naturschöne das unmittelbare Interesse der Vernunft an der Existenz des schönen Gegenstandes erregt, während das Kunst­ schöne immer ein mittelbares Interesse hervorruft, welches nur durch den der Kunst zugrunde liegenden Zweck möglich ist (5: 301). Obwohl Kant hier den Gegensatz zwischen dem Natur- und dem Kunstschönen um die Differenz zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Interesse kreisen lässt, lässt sich die Differenz aus anderer Perspektive betrachten, und zwar bezüglich der Art des jewei­ ligen Zwecks. Was das Interesse am Kunstschönen mittelbar macht, ist der Bezug eines Kunstwerks auf den ihm zugrunde liegenden Zweck. Beim mittelbaren Interesse an einem Kunstwerk spielt notwendi­ gerweise der Gedanke an den Zweck und die Zweckmäßigkeit des Kunstwerks zu dem Zweck mit. Auch in Hinsicht auf das unmittelbare Interesse an der Existenz der schönen Natur nimmt man einen Zweck – die Realisierung der Bestimmung des Menschen bzw. den Endzweck der Vernunft – und die entsprechende Zweckmäßigkeit der Natur an. Jedoch hat dieser Zweck einen qualitativen Unterschied zu jenem Zweck des Kunstwerks. Der Endzweck ist der höchste aller moralischen Zwecke, die »zugleich (d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind« (6: 385) und jeweils »einen ihm correspondirenden kategori­ schen Imperativ« (ibid.) haben. Dahingegen zählt jener Zweck des Kunstwerks zu den Zwecken, die keinen Pflichtbegriff enthalten und jeweils einem hypothetischen Imperativ entsprechen können (4: 425). Dies zeigt, dass sich die Unmittelbarkeit und die Mittelbarkeit des Interesses auf die jeweilige Stufe beziehen, zu der der jeweilige Zweck gehört. Trotz des Unterschiedes hinsichtlich der Stufe der Zwecke ver­ anschaulicht das Verhältnis des künstlichen Zwecks zu einem Kunst­ werk das Verhältnis des Zwecks der Schöpfung der Natur zu einem schönen Naturding sehr gut. Man kann auch beim schönen Naturding genauso wie beim schönen Kunstwerk einen Zweck annehmen, mit dem ein dem Menschen unbekannter Verstand (die höchste Ursache der Natur) die Naturschönheit bzw. darüber hinaus die Natur als das teleologische Ganze (vgl. Düsing 1968, 130) gestaltet haben könnte.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Die Denkweise der induktiven Verallgemeinerung bezüglich der Naturschönheit formuliert Kant in § 67 der Kritik der Urteilskraft: »Auch Schönheit der Natur, d. i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spiele unserer Erkenntnißvermögen in der Auffassung und Beurtheilung ihrer Erscheinung, kann auf die Art als objective Zweck­ mäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden: wenn einmal die teleologische Beur­ theilung derselben durch die Naturzwecke, welche uns die organisirten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur uns berechtigt hat« (5: 380).

Diese induktive Denkweise liegt auch jenem Gedanken des § 42 zugrunde, dass die Naturschönheit dem Menschen »eine Spur […] oder einen Wink« der Zweckmäßigkeit der Natur als Ganzes zeige (5: 300). Trotz der Unvollkommenheit des induktiven Schließens inter­ essiert die bloße »Spur« die Vernunft. Denn die Natur ist gegenüber dem Menschen heterogen, indem die Natur kein Produkt der mensch­ lichen Tätigkeit und deshalb »nicht in unserer Gewalt« (5: 119) liegt, sodass die erfolgreiche Realisierung des menschlichen Endzwecks in der Natur nicht garantiert wird. Der Gedanke, »[d]aß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat« (5: 299), auf dem das unmittelbare Interesse der Vernunft basiert, ist nichts anderes als die menschliche Aufmerksamkeit auf die zufällige Einstimmung zwischen den hetero­ genen Elementen, d. h. der Natur und dem Menschen, die sich durch das Bedürfnis der praktischen Vernunft bezüglich des höchsten Guts nachvollziehen lässt. Dahingegen fehlt der Schönheit eines Kunstwerkes die Span­ nung der Heterogenität, was das Verhältnis zwischen dem Urheber des Produktes und seinem Rezipienten angeht. In dieser Hinsicht hat sie anscheinend nichts mit dem Motivieren zur Pflicht des höchsten Guts zu tun. Es soll dennoch die Ansicht vertreten werden, dass das Produkt der schönen Kunst selbst eine erfolgreiche Auflösung der Spannung zwischen den heterogenen Elementen, d. h. der Natur und dem Menschen, zeigt. Es geht hier nicht um das Verhältnis zwischen dem Urheber des Produktes und seinem Rezipienten, sondern um das dem Subjekt immanente Verhältnis zwischen dem Urheber des Zwecks und dessen Produkt. Also ist der Fall eines Kunstwerks demnach ein anderes bedeutsames Beispiel bezüglich des Problems des höchsten Guts. Darauf soll jetzt eingegangen werden. Bei Kants Erläuterungen zu dem Vorzug des Naturschönen vor dem Kunstschönen wird die Einstimmung des Naturschönen als

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

Produkt seines Urhebers mit menschlichem Erkenntnisvermögen als ein Zeichen davon betrachtet, dass der Zweck der Schöpfung als des teleologischen Ganzen dem menschlichen Zweck bzw. der menschlichen Bestimmung entspreche. In dieser Betrachtungsweise ist die Annahme vorausgesetzt, dass der Urheber des Naturschönen mit solch einem Zweck widerstandlos sein Produkt hergestellt habe, da er der Urheber der ganzen Natur ist. Deshalb nimmt man an, dass die Eigenschaft des Naturschönen in seiner Existenz unmittelbar den Zweck seines Schöpfers widerspiegelt. Dahingegen ist es um den Urheber eines Kunstschönen anders bestellt. Ein Künstler, mit anderen Worten ein Genie, muss seinen Zweck in der Natur, deren Schöpfer er nicht ist, verwirklichen. In seiner Kunsttheorie betont Kant deshalb, dass ein Künstler die »Geschicklichkeit des Menschen« notwendig braucht, sie die Technik bzw. ein »praktisches […] Vermögen« zum Verwirklichen seines Zwecks in der Natur ist (5: 303). Dieses Vermögen ist erforderlich, um die abstrakte Vorstellung des Zwecks zu realisieren, und wird von der Theorie bzw. von der Wissenschaft unterschieden, wie »die Feldmeßkunst von der Geometrie« (ibid.). Bei dieser Begriffsverwen­ dung Kants versteht sich die Geschicklichkeit als das Vermögen, die relevanten Kenntnisse in die Praxis umzusetzen, wie Kants Bei­ spiel besagt: »Camper beschreibt sehr genau, wie der beste Schuh beschaffen sein müßte, aber er konnte gewiß keinen machen« (5: 304).

Diese Betonung der Geschicklichkeit bei Kants Erläuterungen über die Kunst hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Kunst in der Natur realisiert werden soll und deshalb den technischen Umgang mit der Natur gemäß den Naturgesetzen erfordert: »Alles Praktische, was nach Naturgesetzen möglich sein soll (die eigentliche Beschäftigung der Kunst), hängt seiner Vorschrift nach gänzlich von der Theorie der Natur ab« (6: 217).

Kants Betonung der Geschicklichkeit bei der Kunstproduktion lässt den pragmatischen Charakter der Kunst erkennen. Die Idee davon, was produziert werden soll, die Vorstellung des Zwecks, darf »nicht bloß für die Schule« bestehen, sondern es muss »für das Leben brauchbar werden« (2: 443). Wenn es sich so verhält, erhebt sich die materiale Natur als ein wichtiger Faktor für die erfolgreiche Realisierung des Zwecks der

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Kunst. Es ist aber nicht selbstverständlich, dass die Natur dem menschlichen Zweck entgegenkommt, sodass seine Realisierung in der Natur erfolgreich verlaufen kann. Die Kunst ist nach Kants Definition ohnehin »die Hervorbringung durch Freiheit« (5: 303). Außerdem weist Kant darauf hin, dass die Kunst ihre Regel aus dem übersinnlichen Substrat des Subjekts erhält, das bei der Kunst neben der Hervorbringung eines Kunstwerkes auf die Zusammenstimmung aller subjektiven Vermögen abzielt, wie gleich besprochen wird. Diese Umstände könnten so betrachtet werden, dass auch hier die Heterogenität zwischen dem übersinnlichen Zweck und der Sinnlichkeit herrscht, in der dieser Zweck realisiert werden soll. Auf die Regel der Kunst, die aus dem übersinnlichen Subjekt herkommt, soll jetzt eingegangen werden. Um ein Kunstwerk herzustellen, braucht man eine Regel, mit der man den Zweck treffend realisieren kann. Dabei ist die Regel mit dem Zweck unzertrennlich verbunden. Beim Erläutern seiner Kunsttheorie formuliert Kant dieses Verhältnis so: »Um aber einen Zweck ins Werk zu richten, dazu werden bestimmte Regeln erfordert, von denen man sich nicht frei sprechen darf« (5: 310).

In § 10 der Kritik der Urteilskraft, wo Kant auf den Zweckbegriff ein­ geht, beschreibt er den »nach Zwecken« verfahrenden Willen als »Willen, der sie [sc. seine Produkte] nach der Vorstellung einer gewis­ sen Regel so an[]ordnet« (5: 220; Hervorhebung der Verf.). Beach­ tenswert ist, dass die Regel für ein Kunstwerk laut Kant durch die Natur im Subjekt gegeben ist. Dies weist zunächst darauf, dass diese Regel nicht in einem objektiven Begriff gedacht werden kann. Ansonsten könnte ein Kunstwerk durch das Lernen der Regel oder Nachahmen zustande kommen, welches nicht der Fall ist (5: 308 f.). Noch dazu bemerkt Kant bezüglich dieser »Natur im Subjekt« in der Dialektik, Dass die der Kunst Regeln gebende Natur im Subjekt »das übersinnliche Substrat aller seiner Vermögen« sei (5: 344). Ergänzend sieht Kant dieses als »das, auf welches in Beziehung alle unsere Erkenntnißvermögen zusammenstimmend zu machen, der letzte durch das Intelligible unserer Natur gegebene Zweck ist« (ibid.; Hervorhebung der Verf.). Hiermit bringt Kant hinsichtlich der Kunst einen Zweck höherer Ordnung zutage, der sich von dem »überlegte[n] Zweck der Kunst (der Hervorbringung des Schönen)« (5: 344), d. h. von dem bei jenem mittelbaren Interesse infrage kommenden Zweck zwar abhebt, aber sich ihm überordnen lässt.

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

Es sei nun darauf geachtet, dass hierdurch die äußerliche Natur, auf deren Ebene ein Kunstwerk hergestellt wird, und ein intelligibler Zweck vereinheitlicht werden. Denn ein Kunstwerk wird nach der Regel »angeordnet« (5: 220), die von dem intelligiblen Subjekt her­ rührt, das auf die Zusammenstimmung aller Erkenntnisvermögen abzielt. Daher lässt sich ein Kunstwerk als das Objekt betrachten, anhand dessen alle Vermögen eines Subjekts zusammenstimmen, welche nicht nur den Verstand und die Einbildungskraft im freien Spiel, sondern auch die intelligible regelgebende Fähigkeit und noch dazu die Geschicklichkeit umfassen, die um der wirklichen Herstel­ lung eines Produktes willen mit dem Stoff der Natur nach den Naturgesetzen verfahren. In diesem Sinne kann ein Kunstwerk die erfolgreiche Verwirklichung eines Zwecks des intelligiblen Subjekts in der Sinnenwelt veranschaulichen.78 Dass die Kunst nicht bloß mit dem Zweck der Hervorbringung eines Objekts, sondern auch mit einem anderen Zweck der höhe­ ren Ordnung verbunden ist, und zwar dem durch das intelligible Subjekt auferlegten Zweck, führt bei der bisherigen Konstellation des unmittelbaren und des mittelbaren Interesses eine Veränderung herbei. Denn nun lässt sich auch das Kunstschöne auf den Zweck beziehen, der nicht mehr bloß einem hypothetischen, sondern einem quasi-kategorischen Imperativ entspricht (vgl. 6: 385), indem das Kunstschöne durch ihn eine »unbedingte[]« Zweckmäßigkeit (5: 344) gewinnt und »jedermann gefallen zu müssen rechtmäßigen Anspruch machen soll« (ibid.). Anhand Kants Aussage, dass ein Kunstwerk dem intelligiblen Zweck entspricht, alle Erkenntnisvermögen eines Subjekts in Bezie­ hung auf ihr übersinnliches Substrat zusammenzubringen, lässt sich der Vereinigungspunkt der Erweiterung des Geschmacksurteils und der Kunsttheorie herausfinden. Denn es geht bei beiden Fällen um die Realisierung des durch das intelligible Ich auferlegten Zwecks in der Sinnenwelt. Obzwar der Zweck der zweiten Ordnung bei der Kunst nicht an sich selbst ein Zweck der Pflicht ist, so ist dennoch er 78 Auch Munzel interpretiert die Symbol-These in § 59 derart, dass das Kunstwerk das Sittlich-Gute veranschaulicht (Munzel 1995). Ihre Interpretation unterscheidet sich von der hier vorgebrachten jedoch darin, dass sie dem Naturschönen eine solche Funktion nicht zuschreibt, und zudem darin, dass sie das durch das Schöne symboli­ sierte Sittlich-Gute als moralischen Charakter bloß in uns definiert (Munzel 1995, 326). Hierdurch lässt sie die Materialität des Kunstschönen und des Sittlich-Guten außer Acht.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

mit den Zwecken der Pflicht darin vergleichbar, dass er ebenfalls aus der reinen Spontaneität des Subjekts (d. h. aus dem übersinnlichen Substrat aller Vermögen) zum autonomen Herausfinden der nötigen Regel stammt. Dass die Zusammenstimmung aller Erkenntnisvermö­ gen bei der Kunst als »der letzte, durch das Intelligibele unserer Natur gegebene Zweck« beschrieben ist (5: 344), zeigt den besonderen Status dieses Zwecks. Außerdem wohnt beiden Arten von Zweck die gemeinsame Aufgabe inne, den jeweiligen Zweck in der Sinnenwelt zu verwirk­ lichen. Es kommt in beiden Fällen auf die Vereinigung der Natur und der Freiheit an, bzw. auf die Vereinigung des Sinnlichen und des Übersinnlichen, und zwar aufgrund des gemeinsamen übersinn­ lichen Substrats. Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich annehmen, dass ein weltbürgerliches Subjekt nicht nur an der Existenz des Naturschö­ nen, sondern auch an der Existenz des Kunstschönen gleichartiges Interesse nehmen wird. Denn beiderlei Existenzen deuten auf die Möglichkeit der Vereinigung der Freiheit mit der Natur hin und diese Deutung ist für die Motivation zur Förderung des höchsten Guts zweckmäßig. Die zufällige Einstimmung zwischen den heterogenen Elementen, d. h. der Natur und der Freiheit bei einem Kunstwerk, lässt sich genauso bei einem Naturschönen als Hinweis auf die Möglichkeit der Glückseligkeit betrachten. Dieser gemeinsame Punkt lässt sich folglich als Erweiterung der Vorstellung des Objekts interpretieren (5: 340). Schließlich lässt sich sagen, dass sowohl das Naturschöne als auch das Kunstschöne in dieser objektiven Hinsicht gemeinsam imstande dazu sind, das Sittlich-Gute, d. h.das höchste Gut, zu sym­ bolisieren. Vor dem Übergang zum nächsten Abschnitt sei auf die Diskussio­ nen im ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung zurückgegrif­ fen, wo eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Heterogenität erfolgte. Dort wurde herausgestellt, dass ein Geschmacksurteil sich durch die Heterogenität zwischen dem urteilenden Subjekt und dem beurteilten Objekt auszeichnet (im Gegensatz zu einem Erkenntnis­ urteil) und dass diese Heterogenität dessen Deduktion notwendig macht (im Gegensatz zu einem Urteil über das Erhabene). Konsta­ tiert wurde auch, dass es Kant dennoch nicht gelingt, in seiner Deduktion das Problem der Heterogenität richtig anzuschneiden. Hier beschränkt sich der Begriff der Heterogenität nicht bloß auf das Verhältnis zwischen dem Subjekt und einem Naturobjekt, sondern es

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2.2. Symbol der Sittlichkeit oder des Sittlich-Guten?

trifft auf das allgemeine Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt in einem Geschmacksurteil zu. Dabei soll darauf geachtet werden, dass Kants Vorstellung vom Umfang dieses heterogenen Verhältnisses in der Kritik der Urteils­ kraft nicht eindeutig festgelegt ist. Im Deduktionskapitel beschränkt sich Kant zwar zunächst in § 30 auf die Geschmacksurteile über die »Gegenstände der Natur« (5: 279) oder die »Urtheile über die Schön­ heit der Naturdinge« (5: 280). Jedoch ist diese Begrenzung in den darauf kommenden Paragrafen verschwunden und es ist bloß von dem Geschmacksurteil die Rede, ohne zwischen dem Natur- und dem Kunstschönen zu unterscheiden. Auch in § 42 trifft Kant eine strikte Unterscheidung zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschö­ nen, aber in § 59 thematisiert er anstatt der Unterscheidung bloß »das Schöne«. So scheinen zwei unterschiedliche Blickwinkel auf die Natur als Gegenstand eines Urteils innerhalb der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zu koexistieren: (1) Beim ersten Blickwinkel unterscheiden sich die Naturdinge, die keine Artefakte sind, von den Kunstwerken. Dieser stimmt mit dem Standpunkt der Kritik der teleologischen Urteilskraft überein, die sich als Naturphilosophie mit den durch Verstandesgesetze allein nicht fassbaren Naturwesen wie die organisierten Wesen beschäftigt. Solche spezifischen Wesen kennzeichnet eine Beschaffenheit, die nur unter der Voraussetzung von Zwecken erfasst werden kann, welche aber »nicht die unsrigen sind« (5: 359; Hervorhebung der Verf.). Die Natur, die kein Artefakt ist, liegt als Werk der fremden Zwecke »nicht in unserer Gewalt« (5: 119). Nach diesem Blickwinkel hängt die erfolgreiche Realisierung des höchsten Guts von jener Natur ab. (2) Dahingegen scheint sich der zweite Blickwinkel auf den all­ gemeinen Naturbegriff Kants zu beziehen, nach dem die Natur viel größeren Umfang erhält. Die Natur ist demzufolge der »Inbegriff[] der Gegenstände der Sinne« (5: 359), bzw. »die Existenz der Dinge unter Gesetzen« (5: 43), wobei nicht relevant ist, ob etwas ein Artefakt ist oder nicht. Außerdem entspricht auch dieser Begriff der Natur dem Weltbegriff in der weltbürgerlichen Hinsicht. Wenn an die exis­ tenzielle Bedingung des Menschen gedacht wird, scheint ersichtlich, dass die Lebenswelt des Menschen, die Welt als der »Schauplatz seiner Bestimmung« (2: 443), sowohl aus Naturdingen als auch aus Artefakten besteht.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Schließlich lassen sich nicht nur der erste, sondern auch der zweite Blickwinkel in der gleichen, weltbürgerlichen Absicht verste­ hen. Auch dieses Verständnis unterstützt unser Fazit, dass sowohl das Naturschöne als auch das Kunstschöne als Symbol des Sittlich-Guten fungieren kann.

2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These und Wert des weltbürgerlichen Subjekts Nach der Auseinandersetzung mit Kants These der Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten ist es an der Zeit, den Sollens-Anspruch des Geschmacks in diesem Kontext zu erläutern. Dafür soll zunächst auf die vorigen Diskussionen über den Sollens-Anspruch im vorliegenden Kapitel zurückgeblickt werden. Der ästhetische Sollens-Anspruch stützt sich auf die Notwendigkeit der Pflicht des höchsten Guts. Dabei wird hypothetisch ein Zusam­ menhang zwischen der Zustimmung zu einem Geschmacksurteil und der Realisierung des höchsten Guts hergestellt. Kant bestimmt diesen Zusammenhang auch inhaltlich: Die Zustimmung lässt sich als Beispiel der Möglichkeit der Realisierung betrachten. Dieser hypothetische und exemplarische Zusammenhang hat einen subjek­ tiven Grund, der sich aus den subjektiven theoretischen Annahmen der Urteilskraft aus dem subjektiven Interesse ergibt. Der Zustim­ mungsanspruch erlangt jedoch Anspruch auf die Gültigkeit bzw. Notwendigkeit, indem die subjektiven Tätigkeiten der Urteilskraft auf die Befolgung der notwendigen Pflicht bezüglich des Endzwecks der Vernunft hinauslaufen. Denn »das Handeln nach der Idee jenes Zwecks« ist dem Subjekt, wie gesehen wurde, als Pflicht auferlegt (6: 354) und das Erheben des Zustimmungsanspruchs bezüglich eines Geschmacksurteils lässt sich als eine solche Handlung betrachten.

2.3.1. Berechtigung des Sollens-Anspruchs aufgrund des symbolischen Verhältnisses und Notwendigkeit des erweiterten Reflexionsgangs Anschließend an jene berühmte These in § 59 der Kritik der Urteils­ kraft weist Kant auf den Zustimmungsanspruch des Geschmacksur­ teils hin:

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2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These

»Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft schätzt« (3: 353; Hervorhebung der Verf.).

Aus dem hervorgehobenen Satzteil lässt sich entnehmen, dass hier zweierlei Ansprüche hervortreten. Erstens der »Anspruch auf jedes andern Beistimmung« bei einem Geschmacksurteil, der sich in dieser »Rücksicht« auf das symbolische Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Sittlich-Guten erhebt. Zweitens der Anspruch auf das Inter­ pretieren des Sachverhalts eines Geschmacksurteils in Hinsicht auf das symbolische Verhältnis. Diese Ansprüche sollen hinsichtlich ihrer Berechtigungsmöglichkeiten nacheinander geprüft werden. Der erste Anspruch ist der Zustimmungsanspruch eines Geschmacksurteils, der in dieser vorliegenden Untersuchung sehr oft thematisiert wurde. Jedoch scheint Kant dieses Thema in einem neuen Kontext anzuschneiden, dem er Exklusivität zuschreibt. Denn Kant sagt in der oben zitierten Passage: »nur in dieser Rücksicht [auf das symbolische Verhältnis] […] gefällt es mit einem Anspruch auf jedes andern Beistimmung« (3: 353; Hervorhebung der Verf.). Wie lässt sich diese Aussage Kants verstehen? Wie in 2.2.2 des vorliegenden Kapitels besprochen wurde, lässt sich das Schöne insofern als das Symbol des Sittlich-Guten verstehen, als die objektive und die subjektive Bedingung, die beim Sachverhalt des Schönen bzw. eines Geschmacksurteils jeweils erfüllt wird, in Hin­ sicht auf die Regel der Reflexion den Bedingungen der Verwirklichung des höchsten Guts analogisch sind. Das Beachten dieser formalen Ähnlichkeit verhilft zum Verständ­ nis des zu symbolisierenden Begriffs selbst. Dies kann von der objek­ tiven Realität des Begriffs unabhängig geschehen. Wenn z. B. ein despotischer Staat durch eine Handmühle symbolisiert wird, lässt sich die Bedeutung des Begriffs eines despotischen Staats durch seine Veranschaulichung besser verstehen, wobei die objektive Realität desselben Begriffs nicht fraglich ist. Der Begriff des höchsten Guts steht jedoch hinsichtlich der objektiven Realität in einem anderen Verhältnis. Wie bereits gesehen wurde, ist das Problem der objektiven Realität des höchsten Guts als

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

des Endzwecks der Vernunft bei Kant für die praktische Bestimmung des Menschen sehr wichtig. In dieser Hinsicht ist die Ähnlichkeit der »Regel der Reflexion« zwischen dem Schönen und dem Sittlich-Guten (dem höchsten Gut) nicht mehr bloß formal. Das Beachten der Tatsache, dass das Schöne existiert und die Menschen angesichts der Schönheit in natürlicher Weise einträchtig werden können, macht »den zweckmäßigen Gebrauch derselben« (5: 353) möglich. Dadurch wird das Subjekt zur Förderung des Verwirklichung des höchsten Guts motiviert und der Begriff des höchsten Guts erwirbt die objektive Realität in praktischer Hinsicht. Hier lässt sich das Schöne als Beispiel der Möglichkeit des höchsten Guts in der Sinnenwelt betrachten. Dieser Reflexionsgang bei der Bestimmung des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten stimmt mit dem bisher besprochenen Reflexionsgang bei der Erweiterung des Geschmacksurteils darin überein, dass beide Fälle gemeinsam das Geschmacksurteil auf den Begriff des höchsten Guts beziehen und als ein Beispiel der Realisie­ rungsmöglichkeit des höchsten Guts betrachten. Damit ist ihnen der hypothetische und exemplarische Charakter gemein. In diesem Sinne lässt sich Kants Verknüpfung des Zustimmungs­ anspruchs eines Geschmacksurteils mit seinem symbolischen Ver­ hältnis zum Sittlich-Guten verstehen. Ein Geschmacksurteil liefert die Gelegenheit für dergleichen erweiterten Reflexionsgang und auch wenn man nicht genügend kultiviert ist, ermöglicht es einem die Teilnahme an der Einträchtigkeit der Sinnesart mit den Mitmenschen. In dieser Hinsicht wird von jedem die Teilnahme an der ästhetischen Erfahrung durch ein Geschmacksurteil gefordert und der allgemeine Zustimmungsanspruch findet seine Berechtigung. Auch Kants Verwendung des Ausdrucks der Exklusivität (»nur in dieser Rücksicht«) lässt sich nachvollziehen. Es scheint der hinsichtlich der Pflicht des höchsten Guts erweiterte Reflexionsgang im Allgemeinen zu sein, dem die Exklusivität zugeschrieben werden sollte. Wie im vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung ausführlich bespro­ chen wurde, gibt es je nach Interesse des Subjekts verschiedene Weisen für das Befriedigen eines einzigen Bedürfnisses der reinen praktischen Vernunft. Man muss diesen erweiterten Reflexionsgang nicht auf ein symbolisches Verhältnis einschränken. Dies ist nichts mehr als eine Möglichkeit. Folglich sei angenommen, dass es hier nicht ausschließlich um das symbolische Verhältnis, sondern um eine hinsichtlich des Bedürfnisses der praktischen Vernunft erweiterte Reflexion im Allgemeinen geht.

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2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These

Jetzt soll der zweite Anspruch erläutert werden, der den kursiv hervorgehobenen Satzteil des § 59 in der folgenden, erneut zitierten Passage entnehmen lässt: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung« (5: 353; Hervorhe­ bung der Verf.).

Den bisherigen Überlegungen gemäß ist die »Beziehung«, auf die hier Rücksicht genommen wird, nicht auf das symbolische Verhältnis zwischen dem Schönen und dem Sittlich-Guten zu beschränken. Mit dieser Beziehung meint Kant eine durch das weltbürgerliche Interesse erweiterte Reflexion der Urteilskraft hinsichtlich eines Geschmacks­ urteils. Der hervorgehobenen Stelle zufolge wird diese erweiterte Reflexion »andern als Pflicht zu[ge]muthet«. Auf diese Behauptung soll jetzt eingegangen werden. Wie in der vorliegenden Untersuchung beobachtet wurde, knüpft Kant mehrmals mit dem Begriff »Pflicht« an die Ansprüche des Geschmacks an. In § 40 der Kritik der Urteilskraft äußert Kant, dass »das Gefühl im Geschmacksurtheile gleichsam als Pflicht jedermann zugemuthet werde« (5: 296). In § 69 der Anthropologie in pragma­ tischer Hinsicht sagt er: »die Wahl nach diesem Wohlgefallen [an der Übereinstimmung unter den Menschen bezüglich eines Geschmacks­ urteils] steht der Form nach unter dem Prinzip der Pflicht« (7: 244). Wie Kants Ausdrucksweise mit »gleichsam« (5: 296), »zumuthet« (5: 353), »der Form nach« (7: 244) besagt, will Kant diese Ansprüche nicht buchstäblich als Pflicht bestimmen. Trotzdem will er zum Aus­ druck bringen, dass sie über die Gültigkeit verfügen, die mit der Gül­ tigkeit der Pflicht vergleichbar ist. Damit ein Anspruch als Pflicht bestimmt werden kann, muss er einen unbedingten Zweck, nicht ein bedingtes Mittel, gebieten (6: 385). Durch die Ansprüche des Geschmacks wird jedoch eine Reflexion der Urteilskraft gefordert, die als Mittel zum Endzweck der Vernunft in subjektiver Weise ausgedacht worden ist. Sie verknüpft sich in einer hypothetischen Beziehung mit dem Endzweck, dessen Förderung eine Pflicht ist. Dass eine subjektive Annahme um der Förderung des Endzwecks willen selbst zu keiner Verbindlichkeit fähig ist, äußert Kant in einer bereits in einem vorigen Abschnitt zitierten Passage aus der Metaphysik der Sitten:

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

»Es versteht sich von selbst: daß nicht das Annehmen (suppositio) der Ausführbarkeit jenes Zwecks, welches ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urtheil ist, hier zur Pflicht gemacht werde, denn dazu (etwas zu glauben) giebts keine Verbindlichkeit; sondern das Handeln nach der Idee jenes Zwecks, […], das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt« (6: 354; Hervorhebung der Verf.).

Auch wenn die Annahme als erweiterte Reflexion »ein bloß theore­ tisches und dazu noch problematisches Urtheil« (ibid.) ist, sollten doch ihre subjektive Gültigkeit anerkannt werden. Wie im vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung herausgestellt wurde, wird ein subjektiver Grund in Kraft gesetzt, wo kein objektiver Grund ver­ fügbar ist (6: 354 und 8: 137). Wenn die Förderung des höchsten Guts als Pflicht geboten ist, trotzdem deren Problem als das Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft ausharrt und keine objektive Lösung für dies gegeben ist: Hier ist folglich genau der Ort, an dem ein subjek­ tiver Grund zum Ausdenken einer Lösung bzw. zum Entscheiden für eine unter mehreren möglichen Lösungen eine maßgebende Rolle spielen muss. Ein erweiterter Reflexionsgang beim Geschmack ist nichts anderes als eine Auswirkung aus solch subjektivem Grund, die durch die Notwendigkeit der Pflicht gesteuert und angetrieben ist. In dieser Hinsicht scheint Kant im 5. Absatz des § 59 diesen Reflexions­ gang geschildert zu haben als »Beziehung […], die auch jedermann anderen als Pflicht zumuthet« (5: 353).

2.3.2. Wert der Maxime in weltbürgerlicher Hinsicht Im 5. Absatz des § 59 ist auf einen Begriff hinzuweisen, der zum gerechten Einschätzen der spezifischen Gültigkeit der Ansprüche des Geschmacks dienen kann: Der Begriff »Werth«. Die betreffende Pas­ sage wird erneut zitiert: »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich=Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist und anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft schätzt« (5: 353; Hervorhebung der Verf.).

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2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These

In 5. des zweiten Kapitels wurde diese Erwähnung Kants vom Wert nach einer Maxime besprochen und es wurde auf das Folgende hingewiesen: Diese Maxime ist von der Maxime bei der rein ästheti­ schen Einstellung abzugrenzen, und zugleich von der Maxime der spekulativen Vernunft sowie von der Handlungsmaxime, sodass der spezifische Charakter der betreffenden Maxime selbst herausgestellt werden sollte. Und es ist durch die bisherige Untersuchung gelungen, den Cha­ rakter dieser Maxime herauszufinden. Jetzt steht fest, dass sich diese Maxime auf die durch das Sittengesetz auferlegte Pflicht der Beförde­ rung der Verwirklichung des höchsten Guts nach allen Kräften richtet und auf das mit der Verwirklichungsmöglichkeit zusammenhängende Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft. Und dass diese Maxime sich auf die erweiterte Tätigkeit der Urteilskraft des Subjekts der Schönheitsbeurteilung bezieht, das die jenem Bedürfnis entgegen­ kommende Interpretationsmöglichkeit des Schönen erblickt und sich aufgrund derer für eigene Bemühungen um das höchste Gut moti­ viert. Diese Maxime lässt sich in der allgemeinsten Form formulieren wie folgt: »In allen Hinsichten des Lebens nach einem Hinweis auf die Verwirklichungsmöglichkeit des höchsten Guts suchen«. Diese Maxime lässt sich bezüglich der Annahmen des vorhin besprochenen exemplarischen bzw. symbolischen Verhältnisses konkretisieren. Ist die betreffende Maxime bestimmt, so sollen Überlegungen zu dem Wert dieser Maxime folgen. In Kapitel II wurde hinsichtlich des Vergleichs des Sollens mit dem Werden gesehen, dass von der Zurech­ nungsfähigkeit nur hinsichtlich des Sollens gesprochen werden kann. Die Zurechnung ist hier im positiven Fall die Anerkennung gegenüber dem Subjekt, das das Gesetz trotz der Möglichkeit, von ihm abzu­ weichen, zu seiner eigenen Maxime macht. Sie ist zu sehen als die Zuordnung des Guten und des Bösen einer Maxime bzw. einer Hand­ lung zu deren Urheber. Auch in der Passage aus § 59 der Kritik der Urteilskraft geht es um die Wertschätzung von Menschen »nach [ihrer] Maxime« (5: 353). In dieser Hinsicht wird die Ansicht vertre­ ten, dass die Überprüfung dieser Maxime gerade bezüglich der Abwei­ chungsmöglichkeit beim Verstehen dieses Wertes hilfreich ist. Obwohl die Eigentümlichkeit der Abweichungsmöglichkeit auch auf das Sollen des Geschmacksurteils zutrifft, sollten die Abweichung hier nicht bloß als Fehlverhalten oder Unfolgsamkeit betrachtet wer­ den. Die Abweichung ist in diesem Fall eine Nicht-Erweiterung des Geschmacksurteils oder das Nicht-Hinausgehen über die Stufe eines

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

reinen Geschmacksurteils. Dies ist an sich nicht zu tadeln. Denn die Herausstellung der Verwirklichungsmöglichkeit des höchsten Guts am Schönen ist subjektiv und hängt von einem subjektiven Interesse ab, sodass man schwer sagen kann, das Subjekt der Nicht-Erweite­ rung des Geschmacksurteils gehorche nicht dem Sittengesetz bzw. der Pflicht. Hinsichtlich der Nicht-Abweichung kann man andererseits sagen, dass das Subjekt der Erweiterung des Geschmacksurteils einem gehobenen Anspruch entgegenkommt, der schwieriger zu befriedigen ist als der Anspruch des moralischen Gesetzes in den normalen Fällen. Nach Kant kann jeder mit dem gesunden bzw. gemeinen Menschenverstand mit Sicherheit beurteilen, welche Handlung dem Moralgesetz entspricht oder von ihm abweicht. Denn »alle sittliche Begriffe[, die man für die Beurteilung braucht, haben] völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung […] und dieses zwar in der gemeinsten Menschenvernunft« (4: 411). Was die Maximensetzung angeht, wird die für die Moral eigentümliche Sicherheit auch hier bewahrt, indem »in der Moral alle Regeln in concreto gegeben werden [können]« (9: 79). Dahingegen fordert die Erweiterung des Geschmacksurteils die Kultiviertheit, die das Niveau des gemeinen Menschenverstandes übersteigt. Zwischen dem Schönen und dem höchsten Gut besteht kein objektives Verhältnis. Um das Schöne mit dem höchsten Gut zu synthetisieren, muss das Subjekt die komplexe und teilweise auch ori­ ginäre Tätigkeit durchleben, indem es die in abstracto gegebene Pflicht der Beförderung des höchsten Guts nach allen Kräften aufgrund des eigenen subjektiven Interesses konkretisiert. Die Erfüllung dieser Pflicht beinhaltet zweierlei anspruchsvolle Ausführungen, die einen natürlichen und unkultivierten Normalver­ stand überfordern: Erstens ist sie mit der höchsten Empfänglichkeit für die Zweckmäßigkeit hinsichtlich des höchsten Guts ausgestattet, nach einem eventuellen Zusammenhang zwischen den alltäglichen Erfahrungen und der Realisierungsmöglichkeit des höchsten Guts zu suchen; zweitens damit, den gespürten Zusammenhang in einer theoretischen Annahme zu konkretisieren. Diese zwei Ausführungen beinhalten die zwei Elemente, die ein Philosoph nach dem Weltbegriff benötigt, und sie beziehen sich sinngemäß darauf: Sie bedeuten die theoretische Fähigkeit, einerseits einen systematischen Zusammenhang zwischen Erkenntnissen her­ zustellen, und andererseits diesen Zusammenhang für das höchste

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2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These

Gut zweckmäßig zu nutzen, wie in 2. des vierten Kapitels gesehen wurde (KrV A 840 = B 868; 9: 25; VM 7). In dieser Hinsicht lässt sich die positive Wertschätzung gegenüber dem Subjekt der Erweiterung des Geschmacks und seiner Maxime verstehen. Denn jeder Mensch, der zur Beförderung des höchsten Guts nach allen Kräften verpflichtet ist, soll sich diesem Ideal annähern, obwohl ein solcher Philosoph ein in der Wirklichkeit kaum zu erreichendes »Ideal« ist (KrV A 839 = B 867; siehe auch VM 6). Und diese Annäherung wird hochgeschätzt. Wie vorhin gesehen wurde, hat Kant in § 42 der Kritik der Urteilskraft die Maxime der Erweiterung des Geschmacksurteils als »geläuterte[] und gründliche[] Denkungsart aller Menschen […], die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben« (5: 299), dargestellt. Dabei ist Kant auf die Anstrengungen des Subjekts nach der maximalen Erfül­ lung der Pflicht des höchsten Guts aufmerksam. In 2.1.3 des vierten Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass das Maximum der gesollten Anstrengungen nach dem Transzendenz-Begriff nicht nur die Größe bzw. Intensität der Anstrengungen, sondern auch ihre Breite betrifft. Was letztere angeht, so soll man eigene Anstrengungen in allen mög­ lichen Hinsichten einsetzen. Wird dies auf den Fall der Erweiterung des Geschmacksurteils angewendet, lässt sich das Verhalten des Sub­ jekts, dass es auch in Hinsicht auf die Geschmackssache das weltbür­ gerliche Interesse aktiviert und zu einer theoretischen Annahme gelangt, als Geläutert-Sein und Gründlichkeit solcher Anstrengungen interpretieren. Es wird die Ansicht vertreten, dass es im 5. Absatz des § 59 auch eine weitere Stelle gibt, die eine solche Vorstellung des Maximums zu implizieren scheint. Der Stelle zufolge ergibt sich mit jener Wert­ schätzung anderer nach der Maxime zugleich das Bewusstsein einer »Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke« (5: 353). Das zweite Kapitel führte zu der Interpretation, dass es bei dieser Veredlung und Erhebung nicht um ein reines Geschmacksurteil, sondern um dessen Erweiterung geht. Diese Interpretation wurde dadurch begründet, dass Kants Ver­ wendung der Begriffe Veredlung, Erhebung oder ähnlichen sich jeder­ zeit auf die Würdigkeit einer Person aufgrund der Ausführung der Pflichten beziehen. Eine Stelle aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten besagt, dass wir »eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt« (4: 440; Hervorhebung der Verf.). Was das Wort »alle« anbelangt, wird man sogleich durch die Vorstellung des Maximums bzw. der Vollständig­

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

keit dieses Worts gestört, wenn man diesen Satz von Kant wörtlich in die Praxis umsetzen will. Denn es scheint unbegreiflich, ob ein Mensch alle seine Pflichten vollständig erfüllt oder nicht. Wie kann man sich davon überzeugen, wenn doch oft die Fähigkeit fehlt zur Unterscheidung zwischen einer bloß pflichtmäßigen Handlung und einer Handlung aus Pflicht? Auch scheint ungewiss, ob ein Mensch überhaupt dazu in der Lage ist, alle seine Pflichten zu erfüllen. Die Vollständigkeit, die in der zitierten Passage aus der Grund­ legung der Metaphysik der Sitten durch das Wort »alle« gefordert wird, erinnert wieder an den Transzendenz-Begriff des höchsten Guts und damit an den Gedanken, dass das durch die Pflicht des höchsten Guts verlangte Maximum zwar nicht ganz zu erreichen ist, dass aber die Anstrengungen zur Annäherung an ein Maximum trotzdem Pflicht sind. Aufgrund der angestellten Überlegungen lässt sich annehmen, dass die Anstrengungen bei der Annäherung an das Maximum bei der Erfüllung der Pflichten – von der erfolgreichen Erreichung des Maximums unabhängig – Wert an sich selbst und damit ein Grund der Würdigkeit sind. Deshalb lassen sich die »Veredlung und Erhebung« und der »Werth« (5: 353) als die Anerkennung des Verhaltens des Subjekts des erweiterten Geschmacksurteils verstehen, mit dem es sich am meisten und in allen möglichen Hinsichten für das Befördern des höchsten Guts anstrengt. Diese Anstrengungen des Subjekts unterstreichen seine freiwil­ lige Bereitschaft, in der es seine alltägliche Erfahrung in den Kontext der Pflicht bzw. der moralischen Bestimmung des Menschen stellt, hinsichtlich der Verwirklichungsmöglichkeit des höchsten Guts über­ prüft und sich das komplexe theoretische Verfahren vornimmt. Kant erkennt in der Tat in der Freiwilligkeit des Subjekts bezüglich der Pflicht des höchsten Guts den moralischen Wert. In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik behan­ delt Kant den dreifachen Vernunftglauben (an Gottes Dasein, die Unsterblichkeit der Seele, die Freiheit), der zur Motivation zur Beför­ derung des höchsten Guts beitragen kann. Dieser Vernunftglaube hat laut Kant moralischen Wert, der darin besteht, dass er eine »freywillig[e]« (20: 299) Geistestätigkeit in moralischer Intention ist (20: 298). Kant betont dabei, dass er keine Befolgung eines Imperativs »crede«, sondern ein freiwilliges »Credo« ist (20: 298).

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2.3. Sollens-Anspruch in Hinsicht auf die Symbol-These

»[D]ieses Credo, sage ich, ist ein freyes Fürwahrhalten, ohne welches es auch keinen moralischen Wert haben würde« (20: 298; Hervorhebung im Original).

Die freiwillige Erklärung des »Ich glaube« zeigt sich auch bei der Erweiterung des Geschmacksurteils, und zwar durch den SollensAnspruch auf die Zustimmung. Denn diesem Anspruch liegt eine freiwillige Annahme der Realisierungsmöglichkeit des höchsten Guts zugrunde. Die Tätigkeiten des Subjekts der Erweiterung des Geschmacks setzen aber die Freiwilligkeit im höheren Grad voraus, nicht zuletzt, weil der Übergang von der Erfahrung des Schönen zur Pflicht des höchsten Guts bzw. die Synthesis zwischen beiden schon einen größeren Sprung als jenen bedeutet, den es bei dem dreifachen Vernunftglauben gibt. Dies sind sehr bewusst erlebte und absicht­ lich durchgeführte Mentalaktivitäten, die die gegebenen sinnlichen Bedingungen eines reinen Geschmacksurteils übersteigen. Außerdem fordert dies eine größere Kultivierung und größere Anstrengungen hinsichtlich der Maximensetzung als zum Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz der vorhin besprochenen üblichen Fälle. Folglich ist die Maxime der Erweiterung des Geschmacksurteils ihrem kultivierten Subjekt, das die Anstrengungen und die kom­ plexen Tätigkeiten selbst ausführt, zugerechnet und lässt es einen besonderen Wert erhalten. Kant hebt im Gemüt des Subjekts der Erweiterung des Geschmacksurteils die »geläuterte[] und gründli­ che[] Denkungsart« hervor (5: 299). Die Idee, worauf das Geläu­ tert-Sein und die Gründlichkeit sich richten, ist die des höchsten Guts als des Endzwecks der Vernunft. Dieses Verhalten, mit dem man sich im höchsten Grad nach der Verwirklichung(smöglichkeit) des Endzwecks anstrengt und alle Kräfte und alle Erkenntnisse im zweckmäßigen Zusammenhang verwendet, ist das Verhalten eines Phi­ losophen nach dem Weltbegriff bzw. das weltbürgerliche Verhalten. Die Wertschätzung gegenüber diesem Verhalten drückt Kant auch als »Hochachtung« aus (5: 300). Kant schreibt diesen maximenbezogenen Wert dem Subjekt der Erweiterung des Geschmacksurteils zu, das die erweiterten und zweckmäßigen Tätigkeiten der Urteilskraft ausführt. Kants eigener Hinweis auf diesen Wert lässt sich als Anerkennung und Hervorhe­ bung der Wichtigkeit dieser Maxime in weltbürgerlicher Absicht verste­ hen.

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2. Sollens-Anspruch und Kants Symbol-These über die Schönheit

Die Wichtigkeit einer solchen Maxime in weltbürgerlicher Absicht zeigt sich dadurch, dass es hier um »anderer Werth« geht, den man »nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft schätzt« (5: 353). Das Kriterium bei der Beurteilung der Ähnlichkeit kennt nichts anderes als meine Maxime. Außerdem werde ich auf die Maxime anderer durch deren Beobachtung aufmerksam, inwiefern auch die anderen einen Sollens-Anspruch erheben, genauso wie ich es tue. Obzwar ich ihre Maxime nur vermuten kann, verhilft mir meine Annahme, dass auch die anderen sich in weltbürgerlicher Absicht anstrengen, zu größerer Motivation zur Beförderung des höchsten Guts. Denn dadurch nähert sich die Gemeinschaft der Menschen dem Ideal des höchsten Guts.79

In gleicher Hinsicht lässt sich jetzt auch Kants Ausdruck der Natürlichkeit erklären. Wird die vorhin zitierte Passage teilweise erneut zitiert, heißt es: »[…] auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumuthet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung« (5: 353; Hervorhebung der Verf.). Es lässt sich kaum als eine »jedermann natürlich[e]« Aufgabe betrachten, den Sachverhalt des Schönen als Symbol des höchsten Guts zu interpretieren. Es sieht vielmehr »allzu künstlich« (5: 294) aus. Trotzdem lässt sich diese Aussage nachvollziehen, wenn an die Allgemein­ gültigkeit der Pflicht bzw. des weltbürgerlichen Interesses gedacht wird. Das Problem des höchsten Guts ist das, »was jedermann notwendig interessiert« (KrV A 840 = B 868 Anm.; Hervorhebung der Verf.). Das weltbürgerliche Interesse hat, ließe sich sagen, »seine Grundlage in der menschlichen Natur« (5: 265), obzwar das Aktivieren dieser allgemeinen Grundlage »einige Cultur« braucht (5: 266), genauso wie bei der Zustimmung zu einem Urteil über das Erhabene. 79

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3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks

Vorhin wurde der Sollens-Anspruch des Geschmacks in Bezug auf die Symbol-These betrachtet. Im 5. Absatz des § 59 der Kritik der Urteils­ kraft, der mit der berühmten Symbol-These beginnt, bringt Kant den Kern der systematischen Bedeutung des Geschmacksurteils dabei in sehr komprimierter Form zum Ausdruck. Obwohl der Absatz bereits sehr ausführlich erörtert wurde, blieb ein Satzteil bisher unbemerkt, der die ersten Zeilen des dritten Satzes belegt: »In diesem Vermögen sieht sich die Urtheilskraft nicht, wie sonst in empirischer Beurtheilung einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen: sie giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens thut« (5: 353; Hervorhebung der Verf.).

In dieser Passage ist von der Selbstgesetzgebung der Urteilskraft bei der Erweiterung des Geschmacksurteils die Rede, wobei erst die Sym­ bol-These vertreten werden kann und der Sollens-Anspruch erhoben wird. Selbstgesetzgebung nennt Kant im Allgemeinen Autonomie (vgl. 4: 431, 5: 33, 29: 629). An dieser Stelle gegen Ende der vorliegen­ den Untersuchung lässt sich ohne Schwierigkeiten verstehen, welche Gesetze sich die Urteilskraft im genannten Kontext gibt: Es sind die Reflexionsregeln für die Maximen, anhand derer sich das Subjekt zur Ausführung der Pflicht motivieren kann. Dabei zeichnet sich die Autonomie der Urteilskraft durch die Freiwilligkeit aus. Wie bisher mehrmals betont wurde, sind die Maxi­ men selbst insofern von keiner Notwendigkeit, als sie durch ein subjektives Interesse von der eigenen Entscheidung des Subjekts abhängen. Diese Gesetzgebung bedarf jedoch umso mehr der Frei­ willigkeit des Subjekts. Denn man ist nicht dazu verpflichtet, sich von der eigenen Schönheitsbeurteilung ausgehend die komplizierten Reflexionsregeln für die Förderung des Endzwecks auszudenken (vgl. 6: 354). Dies ist lediglich ein freiwilliger Versuch, durch den man seiner Pflicht über das höchste Gut gerecht wird. In dieser Hinsicht

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3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks

kommt einem weltbürgerlicher Wert zu, wie im vorigen Abschnitt gesehen wurde. Jetzt lässt sich auch sagen, dass diese Autonomie der Urteilskraft einen weltbürgerlichen Aspekt zeigt. Noch dazu hat die Urteilskraft hier viel größeren Bewegungs­ raum in der Gesetzgebung als ihn der Verstand und die Vernunft haben, da letztere mit den Erfahrungsgesetzen bzw. mit dem Katego­ rischen Imperativ eng verbunden sind. Dahingegen berechtigt sich die Gesetzgebung der Urteilskraft nur durch ihre Befriedigungsfähigkeit des Bedürfnisses der praktischen Vernunft, und zwar in jeder subjektiv möglichen Weise. Der Begriff der »Heautonomie«, mit der Kant die Subjektivität der Gesetzgebung durch die Urteilskraft bei der Naturforschung hervorhebt (5: 185, 20: 225), gilt hier genauso. Der Bewegungsraum der subjektiven Gesetzgebung hier ist in der Tat noch größer als jener bei der Naturforschung, wo die gegebenen empi­ rischen Naturgesetze als objektiver Faktor eine Rolle spielen. Wie vorhin gesehen wurde, hängt dies mit der Verschiedenheit von den möglichen Lösungen zusammen, unter denen das Subjekt freiwillig auswählt. Freiwillige Entscheidungen mit solch großem Bewegungs­ raum zeichnen die große Freiheit der menschlichen Erkenntniskräfte aus, die sich nur in diesem besonderen Fall entfalten kann. So erschließt sich die neue Dimension der Freiheit, die im erwei­ terten Bereich des Geschmacks durch das Hinausgehen über die Dimension des »freien« Spiels zwischen Einbildungskraft und Ver­ stand erreicht werden kann. Kant hat die Freiheit des Spiels zwi­ schen Erkenntniskräften hauptsächlich im negativen Sinne bestimmt: Sie besteht dabei in der Emanzipation von der Bestimmung durch Begriffe, in der Abgrenzung des Schönen von den anderen Bereichen (des Angenehmen und des Guten) und folglich in der Interesselosig­ keit. Dahingegen muss die Freiheit einer neuen Dimension positiv bestimmt werden, wie Kant die Gesetzgebung des Geschmacks in die­ ser neuen Dimension mit der praktischen Gesetzgebung vergleicht: »sie [sc. die Urteilskraft im erweiterten Geschmacksurteil] giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermö­ gens thut« (5: 353).

Freilich lässt die Freiheit in jenem besonderen Spiel der Erkenntnis­ kräfte sich durch jene negativen Bestimmungen nicht erschöpfen. Gerade hier entsteht die Begriffsverwendung der Autonomie in der Analytik. Dem Gefühl der Lust, durch das man sich des freien Spiels

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3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks

bewusst wird, schreibt Kant den Status des Prinzips des reinen Geschmacksurteils zu, mit dem man im positiven Sinne bestimmen können muss, ob etwas schön ist. In dieser Dimension bedeutet die Schönheitsbeurteilung durch das eigene Gefühl (d. h. nicht die Beur­ teilung nach fremden Bestimmungen) selbst die Autonomie, auf der der Allgemeinheitsanspruch des reinen Geschmacksurteils gründet: »Wenn nun diese Allgemeingültigkeit sich nicht auf Stimmensamm­ lung und Herumfragen bei andern wegen ihrer Art zu empfinden gründen, sondern gleichsam auf einer Autonomie des über das Gefühl der Lust (an der gegebenen Vorstellung) urtheilenden Subjects, d. i. auf seinem eigenen Geschmacke, beruhen, gleichwohl aber doch auch nicht von Begriffen abgeleitet werden soll« (5: 281; Hervorhebung der Verf.).

Dieselben Verhältnisse werden in der unveröffentlichten Version der Einleitung in die dritte Kritik so expliziert, dass es sich bei der Schönheitsbeurteilung durch das Gefühl ursprünglich um den Bestimmungsgrund nach der Regel der Urteilskraft als des a priori gesetzgebenden, oberen Erkenntnisvermögens handelt: »so macht es auch Anspruch darauf, daß sein Bestimmungsgrund nicht blos im Gefühle der Lust und Unlust für sich allein, sondern zugleich in einer Regel der oberen Erkenntnißvermögen, und namentlich hier in der der Urtheilskraft, liegen müsse, die also in Ansehung der Bedingungen der Reflexion a priori gesetzgebend ist und Autonomie beweiset« (20: 225; Hervorhebung der Verf.).

Die genannte Regel der Urteilskraft ist nichts anderes als die formale Zweckmäßigkeit, wie in einem vorigen Kapitel gesehen wurde. Diese Art von Zweckmäßigkeit gehört zu den »eigenthümliche[n] Princi­ pien a priori« der Urteilskraft (20: 202), welche die reale Zweckmä­ ßigkeit der teleologischen Urteilskraft nicht sein kann (vgl. 5: 193). Die systematische Bedeutsamkeit eines reinen Geschmacksurteils liegt darin, die formale Zweckmäßigkeit als das Prinzip der Urteils­ kraft durch das intuitive Bewusstsein als Reflexionslust zu bestätigen. Wird jedoch an das systematische Projekt Kants gedacht, den Übergang von der Natur zur Freiheit durch das der Urteilskraft eigene Prinzip zu zeigen, darf die Tätigkeit der Urteilskraft nicht in der Dimension eines reinen Geschmacksurteils verbleiben. Dass die Urteilskraft um des gewünschten Übergangs willen dem übersinnli­ chen Substrat der Natur eine Bestimmbarkeit verleihen muss (5: 196), wurde in der vorliegenden Untersuchung ausführlich erörtert. Dafür bedarf die Urteilskraft einer schöpferischen Gesetzgebung durch die

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3. Weltbürgerliche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks

Freiheit der neuen Dimension, auf die gerade die im 5. Absatz des § 59 beschriebene Gesetzgebung der Urteilskraft sich bezieht (vgl. 5: 353). Eine Aufmerksamkeit für die Autonomie der Urteilskraft im Bereich des erweiterten Geschmacks, die für den Übergang von der Natur zur Freiheit erforderlich ist, lässt sich jedoch in der Kant-Lite­ ratur nach bisheriger Erkenntnis nicht beobachten. Die meisten KantInterpreten schränken die Autonomie des Geschmacks auf seine Abgrenzung von nichtästhetischen Faktoren ein, die vor allem in §§ 2‒5 beschrieben ist (vgl. Rivera de Rosales 2008, 87). Die in der Einleitung der vorliegenden Untersuchung erwähnte und verbreitet vorfindliche Ansicht, dass Kant mit der Dialektik die Autonomie des Geschmacks beschädige, die er selbst in der Analytik gepflegt hat, beruht auf einer solchen Einschränkung. Falls doch auf die Verbindung zwischen der Autonomie des Geschmacks und dem übersinnlichen Substrat hingewiesen wird, bleibt ebenfalls ungeklärt, wie sich diese Autonomie zu jener Autonomie beim reinen Geschmacksurteil ver­ hält, die den Bestimmungsgrund des Urteils bloß im freien Spiel der Erkenntniskräfte begründet (Recki 2008, 204 f.). Unter der Über­ schrift »Autonomie des Geschmacks« sind im neuen Kant-Lexikon viele Seitenzahlen hinsichtlich der Autonomie des Geschmacks auf­ geführt, jedoch fehlt dabei die Angabe zu der Stelle im 5. Absatz des § 59 der Kritik der Urteilskaft (Fricke 2015, 205 f.), an der Kant auf die Autonomie des Geschmacks im erweiterten und systematisch unentbehrlichen Sinne hinweist. Nur wenn eine solche Bedeutung der Autonomie des Geschmacks anerkannt wird, werden sowohl der Übergang von der Natur zur Freiheit durch den Geschmack als auch der weltbürgerliche Aspekt des Geschmacks im vollen Sinne verständlich.

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