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German Pages 76 [84] Year 1934
STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE D E R D E U T S C H E N LITERATUR 14
Stoff- und Motivgeschicht der deutschen Literatur Herausgegeben von
Paul Merker und Gerhard Lüdtke
14
BRIEGER
Kain und Abel
1
934
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen sehe Verlagshandlung / J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer / Karl J . Trübner / Veit & Comp.
Berlin und Leipzig
Kain und Abel in der deutschen Dichtung Von
A u g u s t e Brieger
1 9 3 4
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung / J. Guttentag, Verlagstuchhandlung Georg Reimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp.
Berlin und Leipzig
Printed in Germany
Archiv-Nummer 4515 34
Gedruckt bei Otto v. Holten GmbH., Berlin O 17
VORWORT Diese Arbeit will einen Beitrag
zur Psychologie
der Stoffgeschichte
geben, indem sie versucht, am Beispiel des Kain- und Abelstoffes die gegenseitige Bedingtheit von Stoff, Dichter und Umwelt aufzuzeigen. Da sich die Arbeit darauf konzentriert, werden die allgemeinen Gesichtspunkte der literaturgeschichtlichen Betrachtung nur insoweit herangezogen, wieweit sie als Einflußfaktoren berücksichtigt werden müssen. In dieser Form ist die Behandlung des Stoffes bis zum Ende des 18. Jhs durchgeführt worden; die in Frage kommenden Bearbeitungen des 19. und 20. Jhs sind nur in einem Gesamtüberblick zusammengefaßt worden und sollen später noch einmal gesondert untersucht werden. Da die Arbeit bereits im Jahre 1931 abgeschlossen wurde, ist die später erschienene Literatur zum Stoff und zu den Bearbeitungen nicht mehr berücksichtigt worden. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Merker, Breslau, meinen aufrichtigsten Dank für die liebenswürdige Förderung meiner Arbeit aussprechen und für die Anregungen dahken, die ich von anderer Seite empfangen habe. Auch den Bibliotheken Berlin, Breslau und München und dem Auskunftsbüro der deutschen Bibliotheken danke ich für ihre freundliche Unterstützung. Vor allem bin ich aber der Bürgerbibliothek in Luzern für ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft bei der Beschaffung und Durchsicht der von mir benutzten Hs verpflichtet.
INHALTSVERZEICHNIS Einführung
i
1. Kapitel. M i t t e l a l t e r I. Das religiöse Moment 1. Historisch 2. Dogmatisch 3. Präfigurativ
5 5 8 10
II. Das kirchenpolitische Moment und die Lösung vom ursprünglichen Stoff
15
2. Kapitel. H u m a n i s m u s und R e f o r m a t i o n I. Das religiöse Moment 1. Ubergangserscheinung 2. Die reformatorisch-polemische Wendung 3. Pädagogisches, polemisches und soziales Moment im Rahmen der Ständelegende a) Behandlungen der Legende b) Legende und biblischer Stoff II. Das pädagogische Moment
16 17 18 22 23 25 31
3. Kapitel. B a r o c k I. Das menschliche Moment 1. Im Bereiche der neuen Problematik 2. Im Bezirk des Erotischen II. Das religiöse Moment 1. Angelus Silesius 2. Jesuitendrama 4. Kapitel. A u f k l ä r u n g : C h r i s t i a n W e i s e
32 33 36 40 40 41 46
5. Kapitel. E m p f i n d s a m k e i t und S t u r m u n d D r a n g I. Streben nach Totalität und menschliches Moment II. Lösung des Dualismus von Stoff und Momenten in einer Einheit . . .
50 55
III. Konzentrierung der Problematik um Kain oder Abel
65
6. Kapitel. D i e S t o f f w a n d l u n g im 1 9 . und 2 0 . J a h r h u n d e r t im Umriß
66
EINFÜHRUNG I. Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wandlung des Kain- und Abelstoffes in der deutschen Dichtung zu verfolgen und die diesen Wandel beeinflussenden Kräfte der Geistesgeschichte aufzuzeigen. Der Stoff selbst ist in Genesis I V , i — 1 6 gegeben. Kain und Abel bringen Gott Opfer von den Früchten des Feldes und den Erstlingen der Herde dar. Abels Opfer wird von Gott angenommen, Kains abgelehnt. Danach tötet Kain den Bruder und wird daraufhin von Gott zur Rede gestellt, verdammt und gezeichnet. Der Stoff hat also zwei Zentren: Opfer und Brudermord, durch deren jeweilige Stellung in den literarischen Bearbeitungen die Struktur des Stoffes bestimmt wird. Aus der Tatsache dieses Doppelzentrums ergibt sich ein Dualismus des Stoffes. Demnach sind auch von den Einzelzügen seiner Struktur, die hier mit dem Terminus Momente bezeichnet werden, zwei als wesentlich abzulösen, die mit der jeweiligen Betonung des einen oder des anderen Zentrums zusammenfallen. Vom Religiösen ausgehend, wird das Opfer betont; ist es doch Grundbestandteil religiöser Vorstellungen und Kulte 1 und von dem Ziel der Erlösung getragen. Brudermord aber gehört ins Bereich des Menschlichen und wird mit dem Begriff der Schuld verknüpft. Er ist Urbestandteil des Mythos (Isis und Osiris 2 , Baldr und Hödr, Istar-Tammuz, die mythische Urform der Wolfdietrich-Ortnitsage u. a. 3 ); Urgut des Märchens, das wohl schon von der Bibel beeinflußt ist (Deutsches, Ägyptisches, Friesisches, Flämisches, Dänisches, Italienisches, Bosnisches Brudermärchen u. a. 4 ); Urgut der antiken Mythologie und Dramatik (Polyneikes und Eteokles, Atreus und Thyestes 5 , Nero und Britannicus) und Gut der neueren Dichtung (Klinger, Leisewitz, Alfieri, Schiller, Beaumont-Fletcher u. a. 6 ). Auf diese beiden Momente wirken in der Dichtung von außen geistesgeschichtliche Kräfte ein und spalten sie in sich oder wandeln sie in ganz neue Momente um. 1
Schuster, J . u. B. Holzammer: Handbuch z. bibl. Geschichte. Bd. i. 1925. S. 129 ff.; Gunkel 70; Wetzer
& Welte I X , 868 ff.; Freud, S.: Totem u. Tabu. Leipzig 1913. S. 127 ff., 140. * Rank, O : Psychoanalytische Beiträge z. Mythenforschung. Leipzig 1919. S. 370. ' Rank, O.: Das Inzestmotiv in Dichtung u. Sage. Leipzig 1926. S. 421, 423, 428. 4
Bolte-Polivka 528—56; Rank: Beiträge 355 ff.
' Bei Aeschylos, Euripides u. Seneca behandelt; vgl. Rank: Inzestmotiv 460 ff.; Landau, M.: Die feindlichen Brüder auf der Bühne in : Bühne u. Welt. J g . 9, S. 189—92; Landsberg, H.: Feindliche Brüder in: Das literar. Echo. J g 6. H. 12. S. 819—25. • Rank: Inzestmotiv 469 ff., 473 ff. Brieger, Kain- und Abelstoff
1
2
EINFÜHRUNG
Aus dem religiösen wird unter dem Einfluß der religiösen Gedankenkreise von Mittelalter und Reformation ein religiös-historisch, -dogmatisch, -präfigurativ oder -konfessionell-polemisch gewandtes Moment. In dem menschlichen offenbart sich der Ausbruch der Leidenschaften als Kampf zwischen Mensch und Gott oder Mensch und Mensch. Dazu kommt das Streben, das ungeheuere Geschehen am Anfang der Menschheitsgeschichte mit den menschlichen Urtrieben in Verbindung zu bringen, von wo aus das Erotische in den Stoff hineingetragen wird. Dieses erotische Moment wird von der wissenschaftlichen Analyse des Stoffes in der Psychoanalyse — abgesehen von einigen ähnlichen legendarischen E r klärungen — als „frühinfantile Rivalität" um den Besitz der Mutter und „Präödidipussituation" gedeutet 1 . Otto Rank, ein Schüler Freuds, behauptet, daß das biblische Geschehen aus dem Kampf um den Besitz von Mutter oder Schwester abgeleitet werden müsse, was in der biblischen Erzählung selbst nur durch Affektverschiebung verdunkelt sei. Handlung und Charaktere fordern das moralische Urteil heraus. Von diesem Ort aus werden religiöses und menschliches Moment moralisch und pädagogisch abgewandelt. Endlich wird noch der Versuch gemacht, das Geschehen auf eine soziale und politische Grundlage zu stellen. Daraus ergibt sich ein kirchenpolitisches und ein soziales und staatspolitisches Moment. Aus diesen Momenten setzt sich also die Struktur des Stoffes zusammen. Daneben dringen benachbarte Stoffkreise in den Stoff ein und mischen sich mit den bereits gekennzeichneten Momenten. Bei der Betrachtung des erotischen Momentes wurde bereits das Inzestmotiv deutlich. Aus der Idealisierung des anerkannten Opfernden und dem Motiv seines Todes ergibt sich eine Berührung mit dem Motiv des Märtyrers und des Erlösers. Die Kontrastwirkung durch den endgültig verdammten Sünder, den Gott ablehnt, nimmt das Motiv des Judas- und des Ahasverstoffes auf. Die Gegensätzlichkeit zweier Menschentypen wieder wird auf das Vater-Sohn-Motiv übertragen. Den Gegenpol hierzu bildet eine mythische Deutung der Auseinandersetzung zwischen den Brüdern, die von dem Motiv des Licht-Finsternis-Mythos abhängig ist. Nach diesen Gesetzen des Stoffes werden die literarischen Bearbeitungen untersucht, wobei die stilgeschichtlichen Elemente nur soweit berücksichtigt werden, wieweit sie an der Wandlung des Stoffes teilhaben. II. Als Grundlage dafür ist eine Ubersicht über die theologischen und legendarischen Auslegungen des biblischen Stoffes vorausgeschickt. 1
a. a. O. 422, 527.
EINFÜHRUNG
3
Da die Bibel selbst nur die Tatsachen und den Rohbau der Handlung gibt, eröffnet sie damit den weitesten Spielraum für die Bibelexegese und die Deutungen der nachbiblischen jüdischen, hellenistischen, christlichen und mohammedanischen Legende und Literatur. V o n diesen interessieren uns, der Struktur des Stoffes gemäß, nur diejenigen, die sich an Opfer und Mord und die Charaktere der Handelnden knüpfen. Die Auseinandersetzungen über Geburt und Alter, Ehe, Mordwerkzeug, Begräbnis Abels usf. sind unwesentlich 1 . Die äußere Verbindung zwischen dem Religiös-Göttlichen und dem Opfer wird durch das himmliche Feuer hergestellt 2 . Eine innere Verknüpfung wird durch die Charakterisierung von Opfer und Opferndem gewonnen. So wird das Opfer als erwählteste und in Gläubigkeit dargebrachte Gabe 3 geschildert, dessen Geber der vollkommen Gerechte 4 und absolut Gute 5 ist. Darin ist die Unschuld Abels beschlossen. Dieser wird durch seinen T o d zum Märtyrer gestempelt6 und sein Blut wird zum Symbol des größten Unrechts 7 . Sein Gegenpol, Kain, wird als habsüchtig, schlecht und ruchlos 8 , vollkommen böse 9 aufgefaßt. Demnach ist auch sein Opfer nur eine minderwertige 10 und pflichtgemäß dargebrachte G a b e 1 1 ; in höchster Steigerung des Bösen wird er zum Sohn des Satans selbst 12 . Mit dieser Konzentration auf das Opfer sind die Bedingungen für die Symbolisierung der christlichen Kirche 1 3 gegeben, die den Opfertod Jesu in dem Opfer Abels vorgebildet sieht 14 , wie sie ja überhaupt die Opfer des Alten Testaments I
Vgl. Aptowitzer Kap. I, II, V .
' Zuerst wird bei Theodotion die Annahme von Abels Opfer bei Gott durch Verbrennen versinnbildlicht. E r übersetzte Gen. 4 , 4 hebr. y
' 1 mit: und er verbrannte, und Gen. 4,5 hebr. n y t P R 1 ? mit: er verbrannte nicht.
(Theodotion war ein christl. Bibelübers. a. d. 9. Jh.). Von ihm übernehmen es über Hieronymus u. andere Kirchenväter die ma Theologie und über das Sefer-ha-Jaschar rabbinische Bibelerklärer des Ma (vgl. Aptowitzer 41 ff.). • J E . I, 3; I Joh. 3, 1 2 ; Matthäus 23, 35; Philo: Quästiones I, § 60 (letzteres zit. n. Aptowitzer 32, 140, Anm. 132). ' Hebr. 1 1 , 4; I Joh. 3 , 1 2 ; Clemens: Fragm. 54 (letzteres zit. n. Aptowitzer 132, Anm. 98): Tanchuma ed. Buber § 16; Flavius Josephus: Antiquitates Judaeorum. Paris 1555. i, 2. § 1. • Buch Henoch 23, 7 ; Testament Abrahams, Kap. 13 (zit. n. J E I, 49). 7
Matthäus 3, 35; Hebr. 1 1 , 4; I Joh. 3, 12.
• Hebr. 1 1 , 4; I Joh. 3, 12; J E I, 48/9.
• Philo: De Cherubim X X (zit. n. J E s. v. Cain). • Flavius Josephus a. a. O. 10
Tanchuma Bereschith 7 b ; Genesis Rabba 22, 3 (Midrasch Bereschith Rabba. Ed. Wünsche. Leipzig 1881.
S. 100); Philo: De sacrificiis Abelis et Caini. §§ 13,20 (Dtsch. v. Cohn. Breslau 1919. III, 235 f., 244 f.); Grünbaum, S.: Neue Beiträge z. semitischen Sagenkunde. 67 ff. II
s. Anm. 3 a. a. O.
11
Apokalypse Mosis 10, 3; so ist die Meinung der Archontiker u. der Gnostiker, Tertullians usf. (vgl.
Aptowitzer 20, 128. Anm. 92). " Heider V, 18; Springer, A : Die Quellen der Kunstdarstellungen im Ma in: Berichte über die Verhandlungen d. k. Sachs. Ges. d. Wissensch, zu Leipzig. Phil-Hist. 1879. Bd. 3 1 , 1 5 ; Weber, P . : Geistliches Schauspiel u. kirchl. Kunst. Stuttgart 1894, 1. " Heider a. a. O.; Wetzer & Welte I, s. v. Abel.
EINFÜHRUNG
4
mit Jesus in Verbindung zu bringen sucht 1 . Diese Präfiguration des Opfers wird dann auf die Person Abels übertragen, womit die Kirche seine Idealisierung und sittliche Vollkommenheit bei Philo aufnimmt2. Gleichzeitig erscheint Kain dadurch als Typus des Mörders und Verräters 3 und Vorbild für Judas 4 . Mit der Zentralstellung des Brudermordes wird die Frage nach den Motiven des Mordes aufgeworfen. Der einfachste Beweggrund, Mord als Folge des Opfers und Neid gegen den Begünstigten, ist aus der Bibel abzulesen5. Des weiteren sucht man eine psychologisch-kompliziertere Beziehung zu finden und erschließt aus der kurzen Andeutung der Bibel von einem Gespräch6 der Brüder einen Streit zwischen ihnen. Dieser geht bald um die Anerkennung oder Ablehnung einer göttlichen Gerechtigkeit und Vergeltung 7 , bald um die Sicherstellung eines freien Menschentums gegen die bedingungslose Unterwerfung des Menschen unter das Göttliche 8 ; bald um die Frau, die Schwester Kains oder Abels, die beide Brüder für sich begehren9. Diese Aufdeckung der Triebfedern charakterisiert auch die Charaktere der Handelnden. Abel wird als der menschlich und ethisch Überlegenere dargestellt. Kain dagegen erscheint als der gesetzlose Rebell, der einmal ohne Zeichen von Reue nur von der Härte des göttlichen Urteils betroffen ist 10 ; ein andermal Reue heuchelt 11 oder wirklich unter seiner Tat leidet 12 ; in wieder anderen Fällen mit seiner Flucht die göttliche Allmacht leugnet 13 oder, menschlicher gewertet, die Verbannung als Sühne empfindet 14 . Die Lehre der neueren Bibelkritik von der Divergenz zwischen dem Mörder und dem Städtegründer Kain und seine Wertung als Ahnherr eines Wüstenstammes 15 wird auf eine soziale Gegensätzlichkeit übertragen, welche die mannigfachsten Formen annimmt. 1
Heider a. a. O . ; Springer a. a. O . ; Wetzer & Welte I X , 888.
1
Aptowitzer 24.
• Midrasch Esther r. 1.
' Gunkel 73; Schuster-Holzammer a. a. O. 5 Vgl. Aptowitzer 121 u. Anm. 57; dieses Motiv wird dann im allgemeinen von den Kirchenvätern und dem Ma aufgenommen. • Gen. 4, 8.
' Aptowitzer 11 f.; Jonathan zu Gen. 4, 8.
' Philo: Quod de potiori insidiari soleat (Dtsch. v. Cohn. Breslau 1919, III, 286 ff.). • Gen. r. 22, 8 (Ed. Wünsche S. 103); Über die mannigfachen Abwandlungen dieser Legende vgl. Aptowitzer 20 f. " J E II s. v. Cain. 1 1 Sanhedrin 101 b. " Sanhedrin 3 7 b ; E J I, s. v. Abel in d. islamischen Literatur. " Gen. r. 22, 16 (Ed. Wünsche 106). 14 Anm. a. a. O. 15 Gunkel 72; J E II, s. v. Cain; Encyclopaedia Judaica I, s. v. Abel; Herzog-Hauck I X , s. v. Cain.
i. Kapitel MITTELALTER I. Das religiöse Moment Die mittelalterliche Dichtung kann aus ihrem religiösen Geist heraus selbstverständlich in diesem biblischen Stoff nur das objektiv-religiöse Moment und das Zentrum des Opfers erfassen1. Ohne jede Schwierigkeit gliedert sie den Stoff als sichtbare Folge des Sündenfalls in das dreiaktige Weltdrama2 ein (Paradies, Sündenfall mit Vertreibung, Erlösung durch Christus). Und dieses Weltdrama, das vom kirchlich-historischen Standpunkt aus Weltgeschichte, vom kirchlich-dogmatischen Gesichtspunkt aus Heilsgeschichte ist, baut sich dogmatisch auf den beiden Zentren, Schuld und Erlösung, auf, die auch im Stoff beschlossen liegen. So gesehen, geht der Stoff, in ein historisches und ein dogmatisches Moment aufgespalten, in die Geschichtsschreibung und Dichtung des Mittelalters ein3. i. Historisch. Hier wird der Stoff zunächst rein annalistisch, mit einigen Zufügungen, als bloße historische Tatsache aufgenommen. Am stärksten hält sich Rudolf von Ems in seiner Weltchronik* aus dem 13. Jahrhundert an den rein chronikalischen Bericht der biblischen Handlung und ihren bloßen Ausbau, ohne ihre Problematik zu sehen. Seine Wiedergabe wird nur durch die knappe Erwähnung der Gattin Kains (Calmana) und legendäre Ausschmückungen bereichert. (Lamechsage, Geschlechtsregister, Vermischung von Gottessöhnen und Menschentöchtern, Giganten.) Die Quelle für diese ist neben, aus dieser Zeit stammenden, Chroniken wohl Petrus Comestor5. Kurze Hinweise auf die Reinheit Abels, die 1
Stammler 6; Ehrismann: Der Geist der deutschen Dichtung im Ma. Leipzig 1925. S. 14.
• Klimke, K . : Das volkstümliche Paradiesspiel u. seine ma Grundlagen. Breslau 1902. 1 ff.; Heinzel, R . : Beschreibungen d. geistl. Schauspiels im deutschen Ma. Hamburg 1898. S. 23; Stammler 1 3 ; idem: Mystik 1 1 ; vgl. äuch die Geschichtsphilosophie Augustins bei E. Bernheim: Ma Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik u. Geschichtsschreibung. Tübingen 1918. T . 1. • Alle Bearbeitungen, die den Stoff nur als Vergleich oder Symbol erwähnen, werden hier übergangen. • Ed. G. Ehrismann. Berlin 1915 (Dtsch. Texte d. Ma. Bd. 20). ' Die Lamechsage geht, wenn auch in etwas veränderter Form, auf Jelamdenu zurück. (Abgedr. in Wertheimers „Ozar Midraschim". Jerusalem 1 9 1 3 , 1 , 7 . ) Vgl. weitere Angaben bei Aptowitzer 159. Anm. 243; Hieronymus erwähnt sie in: Epistola adDamasum 125 (Ginzberg, L . : DieHaggada bei den Kirchenvätern. Berlin 1900. 65 u. Anm. 4). Literarisch wird sie verwertet in den Coventry Plays, im Mistere de vieil Testament, in d. Sachs. Weltchronik, er 1235 (MGH. S. D C . II, 68) und in der österr. Chronik v. d. 95 Herrschaften, Ende d. 14. Jhs., Buch 1 (MGH. S. D C . V I , 6—7).
6
MITTELALTER
Gewinnsucht Kains, seine falsche Gabe und die Ablehnung seines Opfers als Motiv des Mordes sind hier nur Erläuterungen der Erzählung. In Jansen Enikels1 Chronik (13. Jh.) bemächtigt sich bereits der neu aufstrebende Geist des Bürgertums der Historie. Die lateinischen Quellen Honorius2 und Comestor werden zwar als Grundlage für die Schilderung des Bösen und seines Geschlechtes beibehalten. Aber der „neue Bürger" schiebt in der bedeutungsvollen Rolle Adams das didaktische Moment in den Vordergrund und malt einzelne Situationen mit Behagen aus. In die Ermahnung Adams an Kain und Abel schleicht sich eine schwankmäßige Warnung vor Weiberrat ein. Bei der Auseinandersetzung der Brüder nach dem Opfer werden Abels Empörung, seine „triuwe" und Kains „untriuwe" eingehend erörtert. Und der „Stadtherr" Kain unterwirft alle Stadtbewohner seinem Willen, indem er die Bürgertore sperren läßt. Wie bei Ems bleiben die Erweiterungen der Handlung an der Oberfläche. Nur wenn Enikel durch eine stärkere Betonung des Opfers die Gottesknechtschaft Abels heraushebt und seine hingebende Liebe der Auflehnung Kains gegen den überlegenen Willen des Bruders gegenüberstellt, zeigt er sich von der dogmatischen Problemstellung der Zeit (Lutwin) beeinflußt und berührt sich mit Jakob Twinger von Königshofen'der als einziger Chronist den inneren Zusammenhängen im Stoff selbst nachzugehen versucht und vom Annalistischen zum Pragmatischen vorstößt4. Twingers chronologische Einzelheiten stammen aus den üblichen Ausschmückungen (Alter der Söhne und ihrer Schwestern, Alter Adams bei dem Mord, Zeitdauer seiner Trauer6). Aber er erkennt bereits Opfer und Mord als die beiden Zentren des Stoffes, zwischen denen er eine Begründung und innere Verbindung herzustellen sucht. Durch eine vorhergehende Aufforderung Adams gewinnt das Opfer an Gewicht6. Die „krenkesten" Früchte und die „besten" Schafe sind die äußeren Ursachen für Ablehnung und Annahme des Opfers, welche durch die Rückführung auf den Geiz des Ackermanns und die Gerechtigkeit des Hirten im Charakter begründet werden. Da weiterhin dieses Opfer, durch dessen Aufnahme Haß und 1
Weltchronik Ed. Ph. Strauch. 1900. (MGH. S. D C . III).
• Honorius Augustodunensis: Imago mundi, Buch III (Migne. PL. 172. S. 165 ff.). • Chronik. (Chroniken d. dtsch. Städte v. 14—16. Jh. VIII). • Stammler: Mystik 8. 1
Quelle: Petrus Comestor: Historia scholastica 1172 od. 1173. Lugduni 1526. cap. 25, 26 u. weiter Vin-
centius. • Diese Einfügung findet sich auch in den engl, ehester Plays und geht wohl auf das französ. Mistüre de vieil Testament zurück. Vielleicht ist sie auch direkt aus Petrus Comestor: Genesis, cap. 26. col. 1077 übernommen: Creditur Adam in spiritu doeuisse filios, ut Offerent deeimas Deo et primitas. Die Opferaufforderung Adams ist schon in der Schatzhöhle und im christl. Adambuch eingeführt. (Dürrschmidt, H.: Die Sage von Kain in der ma. Literatur Englands. Bayreuth 1919. S. 15, 20, 33, 43, 99.)
DAS RELIGIÖSE MOMENT
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Neid Kains erregt werden, als Motiv der Tat gilt, wird die Verbindung zum Brudermord hergestellt und in der Weiterführung der Schicksale Kains wird die Konsequenz seines Handelns gezogen. Im Ubermaß seiner Sünde wird er zum Räuber und Mörder und zieht sein Geschlecht in seine Sünde herein. Als Verbrecher wider Gott kann er sich auch weiterhin nur auf seine eigenen Fähigkeiten stützen. Der Bau einer Stadt soll Schutz gegen die anderen sein, die er wegen seiner schlechten Taten fürchten muß; Handwerk und Kunst werden nicht um ihrer selbst willen, sondern aus Geldgier erfunden; mit der Ermordung Kains durch Lamech wird seine Sünde am eigenen Geschlecht gerächt. In seinem didaktischen Anklang entspricht Twinger dem Wirklichkeitssinn seiner Zeit; in seiner Charakterisierung Kains berührt er sich andeutungsweise mit dem Schweizer Dichter Ruff (16. Jh.), ohne dessen scharfer Zeichnung gleichzukommen. Ihre Gemeinsamkeiten sprechen vielmehr für die in den weiteren Ausführungen ausgesprochene Vermutung, daß auch Ruff auf den Antiquitates des Josephus fußt, die Twinger direkt als Quelle nennt1. Etwa 80 Jahre später sehen wir dann, wie sich das bei Enikel und Twinger nur angedeutete pädagogische Moment im Egerer Fronleichnamsspiel2 durchsetzt. Unter den Einflüssen des bürgerlichen Realismus und der beginnenden pädagogischen Reformbestrebungen des ausgehenden 15. Jhs. 3 bildet es im Rahmen des Religiös-Historischen den Stoff zwar nicht im einzelnen, aber in seiner Gesamtheit um. Dies wird an Vor- und Nachgeschichte des biblischen Geschehens veranschaulicht. Der Sachverhalt selbst wird noch ganz unproblematisch erfaßt. Durch die ausgebildete Form des Passionsspiels auf fester Bühne kann er bereits in dialogisierte Handlung umgesetzt werden. Seelische Affekte werden infolge der auf eine breit ausladende Massenwirkung und ausführliche Schilderung hinzielenden Tendenz des Hochmittelalters4 durch Erweiterungen ersetzt®. Der einzelne Vorgang bleibt unberührt, das Ganze ist eine Erziehungsfrage, die sich auf dem Verhältnis von Eltern und Kindern aufbaut. (Dabei ist die Gegenwartsschilderung der Vorgänge aus dem naiv-historischen Geist des Ma erwachsen.) 1
Twinger 240.
• Ed. G. Milchsack. Tübingen 1881; Weber 30; nach Creizenach I, 224 ist es eher als Passionsspiel zu bezeichnen. • Ehrismann: Geist 37, 40; Paulsen, F . : Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig 1919. S. 65. Gerade Eger stand diesen Bestrebungen als Heimatsort des Humanisten Kaspar Schlick und zahlreicher Scholaren, auch später durch eine blühende Lateinschule und pädagogische Bestrebungen ausgezeichnet, sicher nicht ganz fern. (Vgl. Nadler I, 202—206.) 4
Stammler 25; Ehrismann: Geist 37 ff.
* Beispielsweise fragt Kain Abel nach dem Grunde der Ablehnung, ohne daß eine Antwort erfolgt, die für die Tat bedeutungsvoll werden könnte. Eine ähnliche Unterredung haben die Chester Plays, Urbild dafür ist wohl das Mistere d'Adam. (Ungemach, H.: Die Quellen der 5 ersten Chester Plays. Erlangen 1890. S. 95.) Wechselwirkungen zwischen Deutschland und dem Ausland sind aber nicht nachzuweisen. (Creizenach 1,356.)
8
MITTELALTER
Adam entläßt seine Söhne mit pädagogischen Lehren ins Leben. Die Kinder werden in einen bürgerlichen Pflichtenkreis hineingestellt. Abels Opferaufforderung ist lobenswerte Erfüllung des väterlichen Befehls. Selbst Kain kennt die kindlichen Pflichten des Gehorsams und der Sorge für die alten Eltern. Die biblische Erzählung wird zum moralischen Exempel; Strafe wie Folgen aus Kains Tat zeigen dann, was Ungehorsam und Mißachtung der gegebenen pädagogischen Grundsätze nach sich ziehen. So wird die Auflehnung des ungeratenen Sohnes gegen die Eltern der Empörung Satans gegen den himmlischen Vater gleichgestellt1, wenn Kain, wie einst die Schlange (Satan), von nun an mit zur Erde geneigtem Gesicht einherkriechen muß. Und der Schuldige belastet sein ganzes Geschlecht mit dem Fluch der Schuld. Lamech, Kains Nachkomme, tötet den Stammvater versehentlich auf der Jagd und ermordet dann aus Verzweiflung seinen Sohn, der ihm das vermutliche Tier (Kain) als Schußziel gewiesen hat. Auf dem Stand der ersterwähnten Chronik des Rudolf von Ems stehen dann die Zerbster Fronleichnamspro^ession2 von 1507 und die Münchner Fronleichnamspro{essions von 1574. Der streng gewahrte Prozessionscharakter, der an Stelle der Handlung das lebende Bild und an Stelle des Spieltextes die Erklärung des Spielleiters setzt4, erlaubt nur die Wiedergabe des biblischen Sachverhaltes. Bisher wurde dieser übereinstimmend als „historisches" Geschehen aufgefaßt. Von jetzt ab sehen die Bearbeiter in ihm einen Ausdruck für die dogmatischen Strömungen der Zeit und arbeiten damit die Grundlagen des Stoffes — Schuld und Erlösung — heraus. 2. Dogmatisch. Diese heißen in der Wien-Milstäter Genesis5 aus dem 1 1 . Jh. Sünde und Gnade6 = ewige Seligkeit. Dadurch wird die sittliche Lebensaufgabe des Menschen in dem Versuch erblickt, durch Buße zur Gnade zu gelangen und dies auf unseren Stoff übertragen. Dahinter aber sieht der Augustinsche Geist des Mittelalters im Schicksal der ersten Brüder den Kampf des guten und des bösen Prinzips, Satan und Gott 7 . Dem Menschen wird nur die Entscheidung für eine der beiden Mächte zugeschoben, wie ja nach Augustin sein Handeln überhaupt nur „insofern frei ist, als der Wille selbst ein Vermögen des Sichentscheidens ist." 1
Im Egerer Spiel ist die Schlange=Sathanas. (V, 405 ff. 457 ff.) Ähnlich ist in der gnostischen Deutung
Kain ein Sohn des Teufels, was von dort in die talmudische Literatur und die mohammedanische Legende übergeht. (Aptowitzer Anm. 92. S. 128—130). Im Ma wird diese Sage häufig verwendet. (Singer 40. Anm. 5.) * Ed. Sintenis in: Haupts Ztschr. f. dtsch. Altertum II. 1842. • Holzman, Daniel: Münchener Fronleichnamsspiel 1574. Ed. v. PrantI in: Sitzungsber. d. phil.-phil. u. hist. Cl. d. K. B. Akad. d. Wissensch, zu München. III. J g 1873. • Creizenach I, 172, 189, 290; Weber 54; vgl. dazu den Text des Münchener Spiels 843 ff. ' Wiener Genesis. Ed. Hoffmann v. Fallersleben in: Fundgruben f. Gesch. dtsch. Sprache u. Lit. II, Breslau 1837; Genesis . . . n. d. Milstäter Hs. Ed. J . Diemer. I/II. Wien 1862. • Ehrismann: Geschichte 80. * Idem 86.
DAS RELIGIÖSE MOMENT
9
Nach Augustin hatte nämlich Gott Versuchung und Fall der ersten Menschen vom freien Selbstentscheid „liberum arbitrium" abhängig gemacht. Durch den schlechten Gebrauch des freien Willens entstand die Erbsünde und damit der Verlust des Anspruchs auf Erlösung und der absoluten Willensfreiheit. Der Mensch ist hinsichtlich der Erlösung von der Gnade Gottes abhängig und kann durch sein Handeln keinen Gnadenanspruch erringen. Dagegen kann er in seinen auf irdische Taten bezogenen Willensentscheidungen zwischen dem guten und dem bösen Prinzip wählen, wobei er allerdings immer durch die Erbsünde vorbelastet ist. An die Stelle der absoluten ist also die relative Willensfreiheit getreten.1
Darum ist der Teufel, der die Menschen aus Neid zur Sünde verführt 2 , der eigentliche Urheber des Mordes. Dem sichtbar Schuldigen, Kain, steht — wie 400 Jahre später bei Immessen — nur das Recht und die Freiheit zu, sich unter Anerkennung der göttlichen Gnade seiner Beeinflussung zu entziehen oder nach seinen Intentionen zu handeln. Kains Schuld liegt also in seinem Gehorsam dem bösen Prinzip gegenüber. Dieser wird durch seinen grimmigen Charakter erklärt, durch die geringe Gabe „Streu und Stroh" erläutert und durch den Mord aus Neid — dem Laster Satans — in seiner ganzen Ruchlosigkeit verdeutlicht. Da aber Kain letzten Endes durch seine nur relative Willensfreiheit nicht die volle Verantwortlichkeit für seine Tat trägt, wird ihm durch die Möglichkeit der Buße der Weg zur Rettung offen gehalten. Das Zeichen ist ihm Schutz, nicht Strafe; der Fluch ist nicht gegen ihn, sondern nur gegen die Erde gerichtet, die ihr Magdtum durch Abels Blut verloren hat3. Erst durch die Ablehnung der Buße wird Kain wirklich schuldig und verdammt. Damit schließt er sich endgültig von der Gnade=Erlösung aus, und jetzt wird seine Tat der Empörung Luzifers, er selbst Luzifer gleichgestellt. Wie dieser durch seinen Neid die Sünde schuf, bringt er durch seinen Mord Haß und Neid unter die Menschen. Seine Kinder werden zu Nachkommen Belials; aus ihrer Vermischung mit den Gottessöhnen entstehen die Giganten, durch deren Übeltaten die Sintflut herbeigerufen wird. Die üblichen Zusätze haben hier zwei ganz besondere Wendungen: das Realistische und das Phantastisch-Volkskundliche. Der Wirklichkeitssinn des Verfassers schwelgt in der Beschreibung von der Schwangerschaft der Frau, dem mühseligen Werken des Bauern Kain wie dem beschaulichen Schäferdasein Abels und zeigt eine große Vertrautheit des Autors mit dem Bauernleben des n . Jhs. Das Phantastisch-Ethnologische wieder zieht, aus dem abergläubischen Gefühl 1
Eisler, R . : Wörterbuch der philosoph. Begriffe. 4. A u f l . Berlin 1930. Bd. III, 574.
* Über den Teufel als Verführer der Menschen und der ersten Menschen insbesondere vgl. Dreyer, M . : Der Teufel in der deutschen Dichtung des Ma. Rostock 1884. S. 14, 29; Roskoff, G . : Geschichte des Teufels. Leipzig 1869.1, 2 3 1 ; Kelle, J . : Geschichte der dtsch. Literatur von der ältesten Zeit bis zur Mitte des 1 1 . Jhs. Berlin 1892—96. Bd. II, 1 1 2 , 1 3 7 ; Petrus Comestor: cap. 2 1 ; Augustin: De genesi ad literam X I , 436—37. ' Diese im Ma weit verbreitete Anschauung findet sich noch in: Vorauer Genesis 10, 25, 36; Kaiserchronik Ed. E.Schröder (MGH. S. D C . I, 1). S. 275/8, V . 9566—77; Wolfram v. Eschenbach: Parzival ed. Lachmann. Berlin 1869. 464, 21—26; Veterbuoch ed. Palm. 1 3 ; Anh. zu Berthold v. Regensburg: Der Scopf von dem lone. 15. Z F D A 40, 319 (n. Singer 382, Anm. 2).
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MITTELALTER
der Zeit heraus, Avitus 1 heran und schildert die entarteten Kinder Kains — die fremden Völkerschaften — mit Hundehäuptern, vier Füßen usf. Diese Zutaten sind jedoch nur zeitgeschichtlich interessant, ohne den Stoff selbst zu beeinflussen, der dann in der Abälardschen Richtung gestaltet wird. Diese Umbildung geschieht im Anegenge2 des 12. Jhs. Hier entscheidet nach Abälard weder die Tat selbst, die von der Trinität vorausbestimmt ist3, noch die Absicht des bösen Prinzips, sondern nur die innere Bereitschaft Kains zur Tat, d. h. die Zustimmung zur Sünde. Seine Schuld liegt in seiner inneren Stellungnahme zu Gott, die sich in der minderwertigen Gabe und in der Ablehnung von Buße und Reue ausdrückt. So kann er für seine Tat verantwortlich gemacht werden, und darum wird er mit der Aufnahme der Lamechsage zum Ausgangspunkt für neue Schuld im eigenen Geschlecht, worin der eigentliche Fluch der Schuld besteht. In diesen beiden Punkten liegt die grundsätzliche Abweichung von der WienMilstäter Genesis, mit der das Anegenge sonst im wesentlichen übereinstimmt. Kirchlich-volkstümlicher wird der Fluch gegen Kain in der Vorauer Genesis4 (12. Jh.) als Verlust der ewigen Seligkeit gedeutet. Das ist das stofflich einzig Bemerkenswerte an dieser Darstellung. 3. Präfigurativ. Neben der historischen und der dogmatischen Linie der Stoffgestaltung läuft eine dritte — die präfigurative —, die sich bis zu dem Mittel- und Gipfelpunkt der mittelalterlichen Heilsdramatik — Christus — vorwagt. Dieser Typus der Bearbeitungen nimmt Opfer, Person und Tod Abels als Vorbild für den Opfertod Christi5. Am einfachsten wird das in der Freiburger Passion6 von 1599 ausgedrückt, wo in dem Opferlamm eine Vordeutung auf Christus gesehen wird. Dies rückt mit dem Opferzentrum des Stoffes die Gestalt des opfernden Abels und seine Handlung als Glaubensbekenntnis in den Vordergrund. Alles übrige wird in einen kurzen Monolog Kains verwiesen, dessen Schuld ganz von selbst in der glaubenslosen Äußerlichkeit seines Opfers liegt. Dieselbe Präfiguration findet sich in Ezzos Gesang (11 J h . ) und in einer Passionspredigt aus den Predigtsammlungen des Honorius Augustodunensis, woraus die mittelalterlichen Kunstdarstellungen schöpften.7 Auf der nächsten Stufe der religiös-präfigurativen Ausdeutung des Stoffes steht ArnoldImmessens Sündenfall8 (2. Hälfte des 15. Jhs.). Hier wird Abels Opfer 1
Weller, A . : Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Berlin 1912. Diss. S. 55.
1
In: Gedichte d. 12. u. 13. Jhs. Ed. K. A. Hahn. Leipzig 1840.
4
Ed. J . Diemer in: Dtsch. Gedichte d. 1 1 . u. 12. Jhs. Wien 1849.
• Ehrismann: Geschichte 59.
• Belege hierfür s. o. S. 3, Anm. 14; Stammler 27; Hebr. 1 1 , 4; I. Joh. 3 , 1 2 ; Weber 3, 8 ff. • In: Ztschr. d. Gesellsch. f. Beförderung d. Geschichts-, Altertums- u. Volkskunde v. Freiburg. II, III 1874. ' Diemer: a. a. O. (Die 4 Evangelien) S. 327. Z. 1 0 — 1 1 ; Ehrismann: Geschichte II, 40 ff. weist Beeinflussungen und Übereinstimmungen zwischen Ezzo u. Honorius nach; Springer 16 u. Anm. 20; Wetzer & Welte I, 33; vgl. die Miniaturen in Enikels Weltchronik (MGH. S. D C . III. S. VII). • Ed. F. Krage. Heidelberg 1913.
DAS R E L I G I Ö S E M O M E N T
II
in dem Bericht Melchisedeks dem Meßopfer, d. h. der „Repräsentation" der Opferung Christi gleichgesetzt1. Eine ähnliche Beziehung — Abels Opfer neben Melchisedeks Opfer — geht aus dem Kanon der katholischen Kirche® in mittelalterliche Kunstdarstellungen über: i. Wiener Genesis des 5. Jhs. 2. Hohenlohekreuz im Kirchenschatz von St. Maria von Lyskirchen in Köln (12. Jh.). 3. rheinisches Emailkruzifix (12. Jh.) im Berliner Kunstgewerbemuseum'.
Darin liegt bereits eine Beziehung zum Dogmatischen, da ja diese Auffassung des Meßopfers ein Teil des kirchlichen Dogmas ist. Dieses Dogma wird durch die Zielsetzung des „Sündenfalls" — Lobpreisung der unbefleckten Empfängnis Mariae4, welche die Erlösung in sich schließt — auf den ganzen Kain -und Abelstoff ausgedehnt. Da aber der Weg zu diesem Ziel notwendig durch die Geschichte der Menschheit führt, in der sich der Kampf Satans gegen G ott bis zur Rettung durch Christus abspielt, wird auch das Religiös-Historische aufgenommen. Diese Vereinigung der drei Aufspaltungen des religiösen Momentes und der Stoffzentren: Opfer, Schuld, Erlösung, geschieht unter dem Einfluß dreier Kräfte: des Mariendogmas, der Augustinischen Theorie von Heilsgeschichte und Willensfreiheit, der sehr selbständig zusammenfassenden Persönlichkeit des Verfassers. Immessen ist einer der wenigen mittelalterlichen Dramendichter, deren Name uns bekannt ist, da er ihn in einem Akrostichon des Prologs angibt. Wie die meisten anderen Bearbeiter solcher Spiele ist er wahrscheinlich von Beruf Geistlicher, seinen Heimatsort setzen neuere Forschungen im Göttingisch-Grubenhagenschen an'.
Mit dem Mariendogma greift Immessen zu Gunsten der Franziskaner in ihren Streit mit den Dominikanern um die unbefleckte Empfängnis Mariae6 ein; mit der Übernahme der Augustinischen Dogmen führt er den Stoff auf die gleichen theologischen Grundlagen zurück, wie die Wien-Milstäter Genesis aus dem n . Jh. Auch bei Immessen wird der Kampf der Brüder zwischen Gott und Teufel ausgefochten. Luzifer erscheint in einer vorausgeschickten Teufelsszene 7 als Verführer Kains und eigentlicher Urheber des Mordes. Kain ist also nicht schuldig, weil er aus eigenem Antrieb gehandelt hat, sondern nur, insoweit er dem Bösen nachgegeben hat. Darum streicht I. die Warnung Gottes vor der Sünde, die bei 1
Gen. 1, 18 ff.; Hebr. 7. Melchisedek wird dort als Vorgänger Jesu aufgefaßt; Wetzer & Welte I X , 909;
Herzog-Hauck X I I , 670. • Wetzer & Welte I, 33. • 1. Melchisedek als Hohepriester steht am Altar oder kommt Abraham mit Brot undWein entgegen. Abel hält des Opfertier des Alten Bundes auf der anderen Seite des Altars empor. 2. Ecclesia als Bewahrerin des Kelchs sitzt zwischen Opfer Abels, Abrahams u. Melchisedeks. 3. In der Mitte das unbefleckte Opferlamm — Christus — zur Rechten Abel, links Melchisedek usf. (Weber 14). ' Stammler 37; Krage, F . : Einleitung zu „Immessen" 7 1 ; 1439 gibt das Baseler Konzil der Marienverehrung neue Anregungen. Hierbei zeigt sich eine starke zeitgenössische Bindung I's. (Nadler I, 287). ' Krage 50, 55; Hohnbaum, W . : Untersuchungen z. Wolfenbütteler Sündenfall. Marburg 1912. S. 69—76. • Stammler 37. • Uber die hilflose Teufelsdramatik des 16. Jhs. hinweg berührt sich I. hier mit den Persönlichkeitsaspekten und der dramatischen Dichtung des Barock. Eine Stoff- und geistesgeschichtlich äußerst interessante Tatsache.
12
MITTELALTER
Kains relativer Willensfreiheit nicht mehr am Platze ist, und wandelt den Fluch gegen Kain, wie die Genesis, in eine Verdammung des Erdreiches um, das mit dem empfangenen Blut sein Magdtum verloren hat. D a aber die Erde ihre Jungfräulichkeit durch Maria zurückgewinnt 1 , bedeutet dieser Wandel des Stoffes in einem Marienspiel, daß die unbefleckte Empfängnis Marias auch den Sünder Kain erlösen wird. D a r u m muß dessen Sünde erleichtert werden, und so schreibt I. Kain das Selbstbekenntnis seines Vergehens und seiner Verbannung zu. Beim weiteren Ausbau der Handlung wird deutlich, daß I. im Gegensatz zu der Wien-Milstäter Genesis das Dogmatische auch psychologisch zu unterbauen sucht. Entgegen ihrer harmlos sympathisierenden Darstellung des Bauern schildert I., wie Kains Natur der Versuchung erliegt, weil ihm als geizigen und hinterhältigen Bauersmann 2 nur am eigenen Vorteil gelegen ist. Er wahrt zwar die äußere F o r m des ersten Opfers, auf Grund seines Erstgeborenenrechts, weil er sich daraus Vorteile verspricht. Aber er opfert nur zu diesem Zweck „sunder minen scaden twar" 3 und drischt die Garbe vorher zu seiner eigenen Verwendung aus 4 . Ja, er geht so weit, daß er Gott die „upkloppte" Garbe als Geschenk „ful korns" 5 anbietet. D a ihm dann mit der Ablehnung des Opfers der erhoffte Nutzen entgeht, ist die Verbindung zum Mord als Akt des Neides gegen Abel gegeben. Dieser sehr realistischen und fast haßerfüllten Darstellung der Bauernnatur liegen vielleicht neben der Realistik des Verfassers bereits die ersten Andeutungen einer kirchen- und sozialpolitischen W e n d u n g des Stoffes zu Grunde. In der Zeit des Übergangs v o m Mittelalter zur Neuzeit tauchten auch in Deutschland in einer Epoche sozialer Gärung Vorstellungen von der gesellschaftlichen Wichtigkeit des gemeinen Mannes und Bestrebungen nach Gleichheit im V o l k e auf. U m 1476 führte diese soziale Gärung zur Auflehnung gegen Klerus und Adel, für A u f hebung von Zehnt und Zins* u.a.m. E s liegt also nahe, daß auch der Geistliche Immessen (er 1480) in diese Tagesfragen eingriff und hier seine Gegnerschaft gegen die sozialen Unruhen aussprach.
D u r c h den bereits gekennzeichneten Unterton des Kampfes zwischen Gott und Satan gewinnt andererseits das Motiv der Annahme des Opfers Abels, d. h. die Repräsentation der Opferung Christi — die Präfiguration — an Gewicht. Sie ist gleichsam eine Vordeutung auf den endgültigen Sieg Gottes und rückt das Zentrum des Opfers noch bewußter in den Vordergrund, als es schon das religiöse 1
D i e Erde ist die jungfräuliche Mutter Adams. D e r Vergleich mit Maria, der jungfräulichen Mutter Christi,
geht aus den Kirchenvätern in die ma Literatur über. Weitere Beispiele vgl. bei R . Köhler: D i e Erde als jungfräuliche Mutter Adams in: Germania V I I , 476—80. " Geiz und Neid werden Kain im Ma oft beigelegt. Beispiele dafür sind: Renner 6351 (Singer 392 f.), ö s t e r r . Chronik 6, Kaiserchronik 253, V . 9 3 1 2 — 2 , Lucidarius 34, V . 2 1 — 3 . (Ed. Heidlauf. Berlin 1 9 2 5 ) ; v g l . noch Dürrschmidt 52, 57, 99, 1 1 3 .
• Immessen 128. V . 1203.
• Hohnbaum spricht dabei von einem originellen Motiv des Verf. (86). Kain gibt aber bereits in der Milstäter Genesis seine Gabe „mit agenen und in dem stro" (24, 1 1 ) und in dem Anegenge „seine Garbe er uberdrosch" ( 1 0 , 1 0 ). V g l . dazu die oben nachgewiesene Abhängigkeit I.'s von der geistl. Epik. ' Immessen V . 1 2 1 7 , 1 3 2 2 .
• Kötzschke 174, 187.
D A S R E L I G I Ö S E MOMENT
!3
Moment an sich tut. Außerdem steht nach der Lehre Augustins dieses Meßopfer als sacriiicium des corpus Christi und Demonstration des Todes Christi in innerer Verbindung mit der Verpflichtung des Christen, sich selbst, seine Gedanken und Werke und sein ganzes Leben Gott als das wichtigste Opfer darzubringen1. Daraus ergibt sich eine Erweiterung des Stoffes in bezug auf den Opfernden — Abel — und dessen seelischer Situation beim Opfer selbst, das er in „rechter Ynnicheyt syner zele" (V. 1238) darbringt und das nur Vorstufe für das größere Opfer seines Lebens ist. An dem Punkt endet die Auseinandersetzung des Stoffes mit dem präfigurativen Moment und beginnt die Wesensgleichheit zwischen Abel und Christus. Diese letzte Stufe des Religiös-Präfigurativen war schon in Lutwins „Adam und Eva" aus dem 13. Jh. erreicht worden. Während Lutwin sonst nur auf der lateinischen Vita Adae et Evae fußt2, ist die Behandlung des Kain-und-Abel-Stoffes eine selbständige Arbeit des Verfassers, in der nur unwesentliche Zusätze auf die Vita zurückgehen. Die Gleichung Abel = Christus verschmilzt in Abels Tode die beiden Zentren Mord und Opfer zum Opfertode des Schuldlosen für die sündige Menschheit3. Noch wagt jedoch der Verfasser nicht, auch die erlösende Wirkung von Christi Tod auf Abel zu übertragen, und so ersetzt er diese durch die Hervorhebung des Märtyrertums, der Schuldlosigkeit und der reinen Seele. Daraus ergibt sich von selbst, daß diese Eigenschaften Christi an Abel erläutert werden. Diese Klarheit des Aufbaus wird nur einmal gestört, als Lutwin das reine Opfer Abels gleichzeitig als Zehent charakterisiert und dadurch das Erhaben-Religiöse zu einer praktischen Tagesfrage verwertet. Davon abgesehen, ist vom Märtyrertode des Schuldlosen die Brücke zu der Figur seines immer wieder erstehenden Vernichters Kain und dessen Verkörperung in Judas geschlagen. An dieser Stelle tritt zum ersten Mal die Verknüpfung mit dem Nachbarstoff — Judas — in Erscheinung. Der ewige Gegner Christi wird von Lutwin —- wie überhaupt im Mittelalter — durch „Untriuwe und Valscheit" charakterisiert; wie Judas geht auch Kain an der Treulosigkeit gegen den Herrn, der im Bruder verkörpert ist, zu Grunde. Der Mord muß also auf freiem Entschluß Kains beruhen. Der Rat des Teufels wird nur nebenbei gestreift und ist wohl auf den Einfluß anderer Werke und den überlieferten Kirchenglauben zurückzuführen. Und wie Judas ist auch Kain zu steter Einsamkeit und Aus1
Herzog-Hauck X I I , 678—80.
* Meyer in: Lutwins Adam und Eva. Hrsg. K. Hofmann u. W. Meyer. Tübingen 1881. 128 ff. 3
Die Präfiguration Tod Abels=Kreuzigung Christi wird auch erwähnt in einer französ. „Bible moralisée
des ms du X I I I . siècle par le comte de Laborde" Paris 1 9 1 1 . T . 1. (Ex. Univ.-Bibl. Breslau) und in einer summarischen Darstellung der typologischen Reihen a. d. 14. Jh. „Concordantiae veteris et novi testamenti" (Heider 21).
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MITTELALTER
stoßung aus der menschlichen Gemeinschaft verdammt. Der Sünder wider Abel und wider Christus bleibt ohne Gnade. Es spricht für einen feinen Instinkt des Verfassers, daß er gerade diese Stellen des entscheidenden Stoffwandels mit großer Sorgfalt ausgearbeitet hat. Der Wandel des Stoffes bei Lutwin ist hierdurch abgeschlossen, die übrigen Zusätze haben damit nichts mehr zu tun. Sie sind aus der Vita genommen und beschränken sich natürlich auf Kain, von Abel=Christus bleibt dies fern. Außer den legendären Ausschmückungen werden diese Erweiterungen, wie wir ja schon wiederholt sahen, zu einer pädagogischen Nutzbarmachung Adams verwandt. (Vgl. V. 1842—55, 1981—90.) Ohne diese Zutaten, die ja nur die Sicht auf die präfigurative Umbildung des Stoffes erschweren, offenbart sich diese in ihrer vollen Reinheit im Lu\erner Spiel von 1571 1 . Nur um dieser Präfiguration willen, die im Prolog des Hieronymus eindrucksvoll hervorgehoben wird, ist der Stoff von Interesse. Nur auf sie werden die geringen Änderungen an der biblischen Handlung, die sich auf Abels Opferaufforderung und seine Klagen um sein unschuldig vergossenes Blut beschränken, bezogen. Die sonst in den Dramen der Zeit übliche konfessionelle Polemik im Stoff selbst beschränkt sich, hier trotz der scharfen Gegensätze zwischen den katholischen Orten und den Zwinglianern, auf Andeutungen des Ablasses bei Abels Opfer und auf die Wendung gegen Luthers theologischen Determinismus2 in Gottes Warnung vor der Sünde. Die eigentliche polemische Wendung aber liegt eben in der nurreligiösen Deutung des Stoffes, so befremdend es zunächst auch klingen mag. Mit Absicht bewahrt die katholische Landschaft Luzern3, am Ende des 16. Jhs., Geist und Form der mittelalterlichen präfigurativen Mysterienspiele. Und mit der alten Form macht sie den alten Geist lebendig. Darum behält sie, ungeachtet der neuen Technik des Schuldramas, die Bühne des alten Mysterienspiels bei und sucht nur auf ihr durch äußersten Prunk und Streben nach schauspielerischer Illusion4 die Intensität der Wirkung zu steigern. Bezeichnenderweise lagen gerade die Aufführungen von 1583 und 1597, die ebenso wie die von 1545, 1560 und 1616 auch den KainAbel-Stoff behandelten, in den Händen des Stadtschreibers Renwart Cysats, der ein 1
Osterspiel von 1571. Ms 171 fol. d. Bürgerbibl. Luzern. Eine ähnliche Beziehung findet sich im Gedicht der Ava aus dem 12. Jh. „Vom Leben u. Leiden Jesu . . . " (Hoffmann V.Fallersleben: Fundgruben für Geschichte dtsch.Sprache u. Literatur. I, II. Breslau 1830—7.1, 176) und in einem mhd. Lehrgedicht aus dem letzten Jahrzehnt des 15.JI1S., das in derWolfenbüttler Hs. überliefert ist. (Kleinere mhd. Erz., Fabeln u. Lehrged. II. Die Wolfenbüttler Hs. Ed. K. Euling. Berlin 1908 in: Dtsch. Texte des Ma. Bd. 14). • Eisler III, 574 ff. • Nadler I, 298. * Vgl. R. Brandstetter: Die Luzerner Bühnen-Rodel in: Germania. Jg. 10. S. 206 f., 209; Cayn sol haben ein Hoven, die allso gerüst, das zu vörderst ein hole, darin blutt oder blutfarb sy (doch alles holzfarb und nünt ysenfarb). Abel sol vnder dem haar ein ysin beckelhüblin vff dem houpt haben für den hovenstreich. (Osterspils Denckrodel. Ao 1583. Ms 172 V. Bürgerbibliothek Luzern.)
D A S K I R C H E N P O L I T I S C H E MOMENT
äußerst geschickter Regisseur war und als Beherrscher des kleinen Staates und politischer Führer Massenwirkung zu berechnen verstand. Demnach ist also hier der Sinn des Stoffwandels vom Theatralischen aus zu erfassen; durch die Wirkung des Formalen sollen die Zuschauer zum TraditionellReligiösen zurückgeführt werden, das im Spiel selbst in reinster Form geboten, wird. II. Das kirchenpolitische Moment und die Lösung vom ursprünglichen Stoff Abseits von der bisher verfolgten Linie der stoffgeschichtlichen Entwicklung steht das Künzelsauer Fronleichnamsspiel (14J9)1. Zum erstenmal schaltet man den Stoff ohne Rücksicht auf die in ihm liegenden Zentren und Momente ausschließlich auf eine soziale Grundlage um. Damit halten wir an einem sehr wichtigen Punkte des stoffgeschichtlichen Weges. Wie später so oft, wird der Stoff nur Instrument für eine bestimmte zeit- oder geistesgeschichtliche Melodie. In unserem Falle legt die überlieferte Form des Spiels der religiös-historischen2 Behandlung des Stoffes eine gegenrevolutionäre Tendenz unter. Ihr allgemeines Ziel, die revolutionären Geister wieder in den Bann der alten Kirche zu ziehen und die Priesterschaft in ihrer Stellung zu befestigen3, heißt bei der Kain- und Abel-Handlung im besonderen: Gebet Opfer und Zehenten. Dreizehnmal wird diese sittliche und religiöse Pflicht eingeprägt. Der Spielanführer setzt sie als Moral der Handlung in der Einleitung auseinander; zwei Schlußansprachen Kains und Abels hämmern sie dem Zuschauer ein. Gott verspricht jenen Lohn und Seligkeit, die gerechten Zehent geben, und flucht Kayn und seinem Geschlecht, die „zehent vnd opffer nit geben recht"4. Also — gebet den Zehnten! Die zeitgeschichtlichen Bedingungen für diese kirchenpolitische Wendung des Stoffes liegen im Sozialen. Bereits in der „Reformation des Kaisers Sigmund" (er. 1438—39 entstanden) steht, unter anderen wirtschaftlichen und sozialen Forderungen, das Verlangen nach Abschaffung von Zöllen und Zehnten5. So erscheint ein Gegenschlag auf dem Wege des äußerst wirksamen und vielgesehenen Mysterienspiels sehr verständlich. Theologische und literarische Vorbilder ähnlicher Art konnte der Verfasser bei Petrus Comestor6 — dessen Historia ja eine Hauptsammeistätte für Kuriositäten der gelehrten Theologie war — im französischen Adamsspiel, in der lehrhaften Literatur des Ma und in den zeitgenössischen Towneley-Mysteries7 finden. 1
Ed. A. Schumann. Oehringen 1926.
1
Es handelt sich hier nach unserer Definition um eine solche, nicht, wie sonst allgemein behauptet wird, um
eine Präfiguration. • Mansholt, T . : Das Künzelsauer Fronleichnamsspiel. Marburg 1892. 35, 100—1. ' Künzelsauer Spiel 19. ' Gen. cap. 26. Col. 1077.
* Kötzschke 174, Anm.; Stammler: Mystik 244 f. ' Creizenach I, 195, 134, 288.
16
HUMANISMUS U N D R E F O R M A T I O N Nun ist aber nach Mansholt diese kirchenpolitische "Wendung die E i n f ü g u n g eines späteren Kompilators.
Demnach wäre die ursprüngliche Kain-Abel-Handlung, deren Entstehungszeit unbekannt ist, von ihr zu trennen Mansholts Annahme könnte besonders durch den letzten Monolog Kains, den er an den Anfang des Spieles setzen will, gestützt werden. Hier erklärt Kain, daß er Abel wegen seines Gehorsams gegen Gott getötet habe, wie er auch beim Mord selbst „has und n e y t " angibt. Gott und der Heiland hätten ihm seine Schuld verziehen, aber er habe sich selbst verdammt, als er, von „ T e u f e l s rett d u r c h k r o c h e n " d i e Größe seiner Schuld über Gottes Barmherzigkeit setzte". D e r Zehnte wird nicht erwähnt. Damit wäre der Stoff auf seine einfachste F o r m gebracht, an der nur die Verdammung um des Zweifels willen scholastisches G u t ist und die auf eine ziemlich frühe Entstehungszeit schließen läßt.
In die Außenbezirke des Stoffes gehören Höllenfahrtsszene und Kains in Verbindung barte Gedankenkreise zurück: Abel auf die tyrers, Kain auf die ewige Verdammung des
auch die Erwähnung Abels in der mit Judas. Beide gehen auf benachIdealisierung des christlichen MärSünders wider den Herrn.
Im Redentiner Osterspiel 1 begrüßt Abel als erster unschuldig Gestorbener die „ C l a r h e y t " , welche Christi Erscheinen v e r k ü n d i g t , — im Luzerner Osterspiel von 1 6 1 6 wird er in die Reihe der Altväter aufgenommen, die Christus nach der Erlösung aus der Hölle preisen. Ähnlich empfängt er Maria nach ihrer Himmelfahrt im Marienleben des Schweizers Wernher ( 1 3 8 2 ) ' . Dieser Gedanke geht vielleicht auf das Evangelium Nicodemi v o n Heinrich v . Hesler (Ende des 1 3 . J h s . ) ' zurück, in dem Abel mit Adam dem Erlöser der Verdammten lobsingt. Auch in der Apokalypse ( 1 4 . J h . ) sagt Hesler, daß Abel als erster Toter in der Hölle gewesen sei'. Im latein. Evangelium Nicodemi fehlt Abel. Die letzte Quelle dafür ist das Buch Henoch 2 3 , 7 , w o Abels Seele als Oberste der Märtyrerseelen in der Unterwelt um Rache fleht, bis Kains Same von der Erde vertilgt* ist. T o d Abels und Mord K a i n s = J u d a s Verrat findet sich im Altaraufsatz des Stiftes Klosterneuburg ( 1 2 . J h . ) , dem Speculum humanae salvationis ( 1 4 . J h . ) und der gleichzeitigen Biblia picturata'. V o n dort geht diese P r ä figuration
in die geistliche E p i k : Konrad von Helmsdorf: D e r Spiegel des menschlichen Heils ( A n f a n g des
14. Jhs.) und in das Oberammergauer Passionsspiel von 1 8 5 0 " ein.
2. Kapitel HUMANISMUS U N D REFORMATION I. Das religiöse Moment Ebenso wie im Mittelalter verschmilzt in Humanismus und Reformation der Stoff mit den wesentlichen geistigen Strömungen dieser Zeitspanne. Wieder ist es das religiöse Moment, das dem Kain-Abel-Stoff den Zugang zu den grundlegenden Schwingungen der Zeit vermittelt. Aber jetzt handelt es sich für die Reformation 1
Mansholt 72, 35, 10.
' Spiel 19, 2 1 . Diese Stelle deckt sich mit der Formung der russ. Nestorchronik aus dem 14. J h . , in der Satan ebenfalls in Kain hineinkriecht. (Litopis Nestora po Lavrentievskomu spicku. 1 3 7 7 geschr. 1872. russ. S. 87.) • Dies geht wohl auf Hieronymus: Epistola ad Damasum. cap. 125. zurück. (Aptowitzer 84, 169. A n m . 3 1 3 . ) 4
Ed. R . Froning (Das Drama d. Ma. T . 1).
' E d . Päpke & Hübner. Berlin 1920. (Dtsch. Texte d. Ma. Bd. 27.). • Ed. Helm. Tübingen 1902. V . 3630. • J E I, 49. 10
' Ed. Helm. Berlin 1907. (Dtsch. Texte d. Ma. B d . 8.)
Heider 1 1 , 2 1 , 75.
Helmsdorf ed. Lindquist. Berlin 1924. S. 27 (Dtsch. Texte d. Ma. 3 1 ) ; Oberammergau Urtext O . Weiß.
E d . Mausser. München 1910. 148, A n m . 7. 149, Anm. n . 150, Anm. 17.
DAS RELIGIÖSE MOMENT
17
nicht mehr um Einprägung oder Darlegung unangefochtener Glaubenssätze und überlieferter Weisheit, sondern um den Kampf einer neuen Religion um ihre Glaubenssätze und ihre Ethik, wie für den Humanismus um den Kampf für neue Erkenntnisse. Auch die ethisch-pädagogischen Bestrebungen der Reformatoren, die mit der erzieherischen Problemstellung der Humanisten1 zusammentreffen, sind religiös unterbaut2, und so können auch sie in den Wirkungsbereich des religiösen Momentes eingeschlossen werden. Dieses zerfällt danach in eine polemischkonfessionelle und eine moralisch-pädagogische Gruppe, die beide aus den wirtschaftlichen Erschütterungen der Zeit heraus soziale Elemente aufnehmen und ein neues soziales Moment des Stoffes herausbilden. Das alles geschieht zum größten Teil ohne Ehrfurcht vor dem biblischen Geschehen; der Stoff wird umgebogen, vergewaltigt, völlig neu geformt; er ist Werkzeug und Mittel für Tendenz und Beispiel und darum lebendiger Ausdruck seiner kämpfenden, stark rational unterbauten Zeit 3 . Formal und stilistisch übernehmen die Bearbeitungen zum Teil die neuen Errungenschaften des Humanismus: Akt- und Szenenteilung, Chor, neue Bühne unter Einfluß von Terenz und Seneca.4 1. Ubergangserscheinung. Bei der Übergangserscheinung Georg Macropedius5 treten diese neuen Gesichtspunkte noch vor der Tradition zurück. Stofflich ist M. noch ganz im Mittelalterlichen befangen, theatralisch gehört er der neuen Zeit an. Wenn er den Stoff in seinem Alterswerk „Adamus" 1552 auf Grund des Dogmas Schuld-Erlösung in die Heilsgeschichte Adam-Christus einreiht und Kain und Abel zu Prinzipien des absolut Bösen und des absolut Guten stilisiert, ist er mittelalterlich. Wenn er aber das biblische Geschehen als eine selbständige Handlung aufbaut, die sich von einer Exposition aus zu dem notwendigen und dramatisch wirksamen Zusammenprall dieser beiden Prinzipien, also Mord, Fluch und Verdammung Kains, steigert, ist er Humanist. Aus diesem Gefühl für das Dramatische heraus gestaltet M. nur diesen Teil der biblischen Erzählung in ziemlich engem Anschluß an die Vulgata; Opfer, Mordentschluß und Erlösungsversprechen Christi verweist er in den Bericht der Eltern und des Genius Adami, die als Zuschauer auftreten. In diesem Zurückdrängen der sichtbaren schauspielerischen Gestaltung, wie z. B. des Opfers durch die Berichtsform, wird der Einfluß des griechischen Dramas8 und des oratorischen Zwecks des Schuldramas7 deutlich. 1
Dittrich, P.: Plautus und Terenz in Pädagogik u. Schulwesen der dtsch. Humanisten. Diss. Leipzig 1915.
S. 7, 15. * Stammler: Mystik 348. ' Ibid 274, 348; Merker, P.: Reformation u. Literatur. Weimar 1918. S . 7 , 10. ' Creizenach III, 378, II, 91 ff.; Schmidt, P. Expeditus: Die Bühnenverhältnisse des dtsch. Schuldramas und seiner volkstümlichen Ableger im 17. Jh. Berlin 1903. S. 92, 156. ' Adamus. Ultraiecti 1552 (Ex. d. U-B. Göttingen). Creizenach II, 58; Goedeke II, 135. ' Creizenach II, 385. ' Schmidt 9, 19; vgl. die Personenangabe: personis dramatis seu diverbij. Brieger, Kain- und Abelstoff
2
HUMANISMUS U N D R E F O R M A T I O N
i8
Knappheit des Raumes (einfache Bühne der Schulkomödie1) und Gedrängtheit der Darstellung (Beschränktheit auf einen Akt) begünstigen diese neue Dramatik. Von diesem Ausgangspunkt aus erfaßt M. bereits das Aktive in Kain und dasPassive in Abel, aus welchen Attributen spätere Bearbeiter dann den Kampf der beiden Menschentypen überhaupt ableiten. Abels Reinheit des Wesens und die Gerechtigkeit seines Handelns werden nur berichtet, er selbst tritt ein einziges Mal in der Mordszene gegen den Sünder Kain auf. Zu leiden und zu dulden ist sein Amt, Kain aber handelt. Dieser entschließt sich zur Tat aus Haß gegen den bevorzugten Nebenbuhler und führt sie durch, ohne der Warnungen Gottes und des Bruders zu achten. Fluch und Verdammung beantwortet er mit dem Entschluß,, statt der verscherzten Seligkeit zeitliche Freude und irdische Wollust zu genießen. Der gläubige Katholik Macropedius will eigentlich schildern,wie auf dem Menschheitswege zur Erlösung das absolut Gute durch das absolut Böse vernichtet wird. Aber unversehens wird unter den Händen des humanistischen Dramatikers aus dem Prinzip des Bösen ein dramatisch konsequent durchgeführter Charakter, der bereits in sich die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung trägt. 2. Die reformatorisch-polemische Wendung. Als Freund Majors und Greffs, die bahnbrechend dem protestantischen geistlichen Drama neue Wege wiesen2, macht dann Valentin Voitht3 in seinem „Spilvon dem herlichen vrsprung; Betrübtem Fal.. vndewiger Freudt des Menschen" Magdeburg 1538 die Bühne zur Kanzel, von der er beim „gemeinen Mann"4 für den grundlegenden Hauptpunkt der lutherischen Dogmatik — Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium5 — wirbt. Dem Kämpfer für die Reformation geht es nur um Erhaltung und Verkündung der reinen Lehre. Ihre Reinheit glaubt er zu gewährleisten, wenn er sich bis ins kleinste an Luthers Gedankengänge, seine Bibelübersetzung und sogar die Erläuterungen zum Kain-Abel-Stoff im Genesiskommentar des Reformators hält. Die Vorlesung L.'s selbst, 1535—1545 gehalten, kann ihm allerdings wohl kaum zugänglich gewesen sein, da sie ab 1544 zum ersten Male im Druck erschien*. Vielleicht hat er aber Einsicht in handschriftliche Aufzeichnungen gehabt oder fußt auf den Predigten Luthers von 1527'. Eine Beeinflussung liegt sicher vor, da Voith nicht nur im Grundgedanken, sondern auch in wesentlichen Einzelheiten mit Luther übereinstimmt. Beide haben die 1
Creizenach II, 6; III, 378; Schmidt 123 ff., 107.
• Holstein, H.: Einleitung zu „Dramen von Ackermann u. Voith". Tübingen 1884,143 f.; Uhle, P . : Der D r a matiker u. Meistersänger V . Voith aus Chemnitz in: Jahrbuch d. Vereins f. Chemnitzer Gesch. J g . 9. 1895—7 S. 159—63; Creizenach III, 358, 354. • Ed. Holstein 1884. Geb. 1487 od. 88 in Chemnitz. 1507 studierte er in Wittenberg, lebte dann in Magdeburg. Mit 50 Jahren schrieb er, von Major u. Greff angeregt, sein erstes Drama. Gest. n. 1558 (Uhle a. a. O . ; Holstein a. a. O.). 4
Vgl. das Widmungsschreiben Voiths in der Erstausgabe des Spiels. Wittenberg. 1538 (Ex. d. Staats-
bibl. Berlin). ' Vgl. Creizenach III, 403 f. • Vgl. Luther, M.: Vorlesungen zu 1. Mose. Weimar 1 9 1 1 (Werke 42). 7
Luther, M.: In Genesin Declamationes. Weimar 1900. S. 121—47 (Werke. Bd. 24).
DAS RELIGIÖSE MOMENT
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betonte Liebe der Eltern zu Kain, sein Recht auf Opfer und Priestertum und den heuchlerischen Versöhnungsversuch Kains, der einige Tage nach der Ablehnung des Opfers liegt, ja selbst Äußerlichkeiten, wie das Zeichen des Zitterns und die Deutung des Namens Abel, gemein.
Mit diesen Mitteln ficht Voith für das Lutherische Dogma. Kain will durch Gesetzerfüllung den Menschen in ein Rechtsverhältnis zu Gott stellen. Für Abel aber ist die Erfüllung des göttlichen Gebotes durch Opfer und gottgefälliges Leben nur Voraussetzung für die allein entscheidende Tatsache der göttlichen Gnade, die mit der Annahme seines Opfers zu Gunsten des Evangeliums, d. h. hier der neuen Lehre, entscheidet. Mit diesem Ausgang des Opfers wird den lutherischen Forderungen Genüge getan. Die reformatorische Beweisführung ist abgeschlossen, und Mord und Verdammung schließen sich nur als notwendige Folge an. Dem widerspricht auch nicht die Gestalt Satans als Verführer Kains, da ihn ja Luther selbst als Widerpart Christi neben Gesetz, Tod und Sünde1 einführt und ihn damit selbstverständlich zum Gefährten des „menschenknechtenden Tyrannen" 2 Gesetz macht, dem sich Kain unterstellt. Aus dieser absoluten Konzentration auf den Gedanken und den Inhalt der Lehre ergibt sich nun, daß Voith doziert, ohne darzustellen. Fern von der Schaulust des Mittelalters, verständnislos gegenüber der inneren Straffung eines Humanisten wie Macropedius, stürzt er sich leidenschaftlich in das Werbungsmittel der Reformation — das Wort 3 . Monologe und Gespräche treten an die Stelle der Handlung4. Das kann an einem interessanten Vergleichspunkt mit RufF verdeutlicht werden. Wenn Voith von den sündigen Nachkommen Kains spricht, begnügt er sich mit der namentlichen Aufzählung in dem Bericht der Sünde; wenn RufF sie schildert, macht er aus ihnen lebendig gesehene Typen und notwendige Teile eines Baues. Dieser theatralischere Instinkt des Schweizers Jakob R u f f 5 versucht die von Voith dozierte Lehre näher an das Volk heranzubringen. Der Wundarzt RufF, der in dem kirchlichen Zentrum Zürich lebt und mit dem Züricher Stadt- und Bauernvolk in den Kampf gegen die katholischen Kantone zieht6, weiß, wie auf das Volk zu wirken ist und daß es leichter im Gewände des Altvertrauten für das Neue gewonnen werden kann. Wie die alten Mysterienspiele, erfaßt er die Freude des Volkes am Sehen, am Geschehenlassen und Wunderbaren. So entrollt er in einem überströmenden Dramenstil mittelalterlicher Herkunft, der mühsam durch die Einteilung in Akte gebändigt ist7, ein buntbewegtes Bild mit „breiter Moral, 1
Roskoff 369 ff.
* Herzog-Hauck VI, 633, 638, 640; Roskoff 369 ff.; vgl. Stammler: Mystik 326 über die gleiche Deutung bei der Parabel des verlorenen Sohnes. * Cysarz 24. 5
* Creizenach III, 355; Schmidt 9 1 ; Uhle 179; Holstein 152.
Adam und Heva. Ed. M. Kottinger. Quedlinburg 1848.
' Weller, E . : Das alte Volkstheater in der Schweiz. Frauenfeld 1863. S. 145; Nadler I, 305. ' Stammler: Mystik 319, 3 5 1 ; Creizenach III, 327, 335. 2*
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HUMANISMUS U N D
REFORMATION
breitem Detail und zahlreichen Rollen" 1 , ohne Resonanz für die straffe Handlungsführung des dem Volke fremden und unheimlichen Humanistendramas. Aus gleichem Grunde geht er auf die Quellen und stofflichen Ausweitungen des Ma. zurück und benutzt dessen Typus der Menschheitsgeschichte von Engelfall-Sintflut, wobei er den Schuld- und Erlösungsgedanken im Kain-Abel-Stoff auf den von Voith vertretenen Glaubenssatz umschaltet. Der Schweizer Volksmann gibt dem noch eine politisch-soziale Auseinandersetzung mit den Lastern der Zeit und der überfeinerten Stadtkultur 2 bei; der Theatraliker Ruff setzt das reformatorische Wort in Handlung um. Wirklichkeitsgetreu wird Kain in fröhlicher Tätigkeit auf dem Felde und in einem geordneten Familienleben mit Eltern und Frau gezeigt. Mit diesen Maßstäben des täglichen Lebens begegnet er auch dem Opfer, d. h. dem göttlichen Gebot. Gott ist reich, er arm, also ist es mit schlechtem Stroh getan. Mit diesem Opferwerk 3 ohne den Glauben und die opfernde Tat hat Kain für jetzt und immer verspielt. Nachdem er hier menschliches Tun über den Glauben an den Allmächtigen und Barmherzigen gesetzt hat, kann er sich auch weiterhin nur durch seine menschlichen Fähigkeiten behaupten und wird dadurch auf die Seite des Teufels getrieben. Ja, im Laufe des Schauspiels wird er sogar zum Teufelskind, zum Samen der Schlange selbst. Darum vernichtet er zunächst den Störenfried, der ihn durch seine andere Einstellung zu Gott zum Gottlosen stempelt und führt dann den Kampf gegen Gottes Reich mit den Waffen seines — des menschlichen Geistes — weiter. In mittelalterlichen Legenden findet Ruff die stofflichen Unterlagen für diesen Gedankengang: die geistig bedeutsamen Nachkommen des Sünders, die Stadt als Triumph menschlichen Könnens4 und Kampfansage an den Mächtigeren — Gott. Die menschliche Spannkraft muß sich bis zum äußersten anstrengen, da diesem Geschlecht die Gnade des Geistes und des Göttlichen versagt ist. Gewalt geht über Recht, und durch eine Vermischung der Geschlechter von Kainiten und Adamiten 5 besiegt das starke, seines Körpers bewußte Volk der Sünde die milde Frömmigkeit. Hier erweist sich Ruff unbewußt als Vorläufer von Sturm und Drang und Neuromantik: der sinnliche Kain gegen den Träumer Abel. Mit der Ausgestaltung dieses sündigen Geschlechtes bringt Ruff ein politisch soziales Moment hinein; hält er es doch für seine Aufgabe, die politischen und sozialen Mißstände seiner Heimat immer von neuem ans Licht zu ziehen und 1
Baechtold, J . : Geschichte d. dtsch. Literatur i. d. Schweiz. Frauenfeld 1892. S. 2 5 1 .
' V g l . Creizenach I I I , 3 3 7 ; Weller 159, 1 6 3 ; Nadler I, 304 über das Interesse der Schweizer Dichter an politischen und sozialen Fragen.
3
Luther: Z u 1. Mose. S. 186 ff.
' D a in Flavius Josephus: Antiquitates Judaeorum (deutsch). Straßburg 1 5 3 1 : Hedion, S . U l l a das Leben Kains in ähnlicher Weise geschildert wird, schöpft R u f f wahrscheinlich aus dieser sehr verbreiteten Ü b e r setzung des jüd. Historikers. • Über die theologischen Deutungen der Vermischung zwischen den Kainiten und Sethiten und den Einfluß Hanochs vgl. J E I, s. v. Kain in the rabbinic literature; Josephus a. a. O . Bl. V b f .
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DAS RELIGIÖSE MOMENT
dadurch zu bessern. Er malt mit grellen Farben. Die Kraft des Schweizer Volkes, das bodenständige und gesund-einfache Bauerntum, sei von der verderbten und überfeinerten Intelligenz des Bürgers und seiner geschwätzigen Prahlerei verdrängt worden. Pracht und Völlerei, Unzucht, Geiz und Wucher, Raub und List seien an der Tagesordnung, die Wollust zerbreche die heilige Ehe, wie Lamechs Beispiel zeige. Jeder Stand wolle über sich hinaus, der Bauer dem Handwerker, der Handwerker dem Bürger, der Bürger dem Adligen gleich werden. Als einziges Beispiel für die Art, in der R u f f jede Person seine Tendenz auseinandersetzen läßt, seien hier die Worte Calmanas, der Gattin Kains, angeführt: Vil lieber ich jetz stattlich bin, wil sittlich, höflich lieber laben. Dann mich ins Buwrenwerk ergäben, zuo dem ich ouch der meinung bin, sy werdind lieber burger syn, dann buwren blyben all ir tag.
(Vers 2962—67.)
Diese sozial-politische Verkommenheit infolge der einmal geschehenen Abkehr von den Lutherischen Glaubenssätzen zieht den Untergang der Menschheit nach sich (Sintflut). So gewinnt Ruff wieder den Anschluß an das konfessionell-polemische Moment des Stoffes, dessen positive Seite in Abel gezeigt wird. Das bedeutet Verdrängung des Irdischen und der menschlichen Selbstgerechtigkeit durch den Glauben an die Erlösung — die Gnade Gottes und sein Gebot. Es bleibt gleich, ob sich dies ausspricht im Glaubensopfer um Christi willen oder in der Anerkennung der Arbeit als Mittel gegen Üppigkeit und Ubermut, wie sie einst Gott den Menschen auferlegte 1 . Wer die Gnade hat, ist am Ziel. Noch bleibt ihm aber, gemäß den kämpferischen und pädagogischen Instinkten dieser bürgerlich-humanistisch-reformatorischen Zeit, die Aufgabe, diese Kenntnis — lies hier die neue Lehre — weiterzugeben. So suchen Abel und seine geistigen Nachkommen — die Kinder Seths — durch Bitten, Ermahnungen, reines Sterben, Betund Bußgänge in diesem Sinne zu wirken, dessen Bedeutsamkeit durch zahllose Wiederholungen der Grundgedanken — Glaube und Gnade — betont wird. Und als selbst diese Werbenden der Verführung der Bösen unterliegen, werden sie noch unbedingter zum Beispiel dafür, daß auch der reinste Mensch der göttlichen Gnade bedarf, die einzig und allein retten und freisprechen kann. So kommt auch dem Pädagogischen in diesem Spiele nur Dienst am Konfessionellen, keine Eigengeltung zu. Erst als der Stoff in schulmeisterliche und gelehrte Hände übergeht, tritt das Pädagogische, von Melanchthonschen und Lutherischen Worten getragen 2 , gleichberechtigt neben das konfessionell-polemische Moment des Stoffes, ohne sich jemals ganz von ihm zu lösen. 1
Fluch Gottes gegen Adam. Gen. 3, 1 7 — 1 9 .
' Die Erziehungsbestrebungen der Humanisten, Melan-
chthons u. Luthers setzen u. a. als Zweck der Komödie „Pietas erga parentes, coniugem et liberos", Erziehung zum Ehestand, Gehorsam der Kinder gegen die Eltern (Dittrich 7, 1 2 8 ) .
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HUMANISMUS U N D R E F O R M A T I O N
j . Pädagogisches, polemisches und soziales Moment im Rahmen der Ständelegende. Dazu gesellt sich noch das schon bei Ruff aufgetretene soziale Moment als Folge der ständischen, wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen der Reformationsjahre (Ritter- und Bauernschaften, Wiedertäufer und Bilderstürmer, langsame Grundlegung einer neuen bürgerlichen Gesellschaftsordnung1). Hierbei entscheiden sich die Verkünder des reformatorischen Gedankens einstimmig für die Autorität der bürgerlichen Ordnung; sei es auf Grund der Lutherischen Äußerungen darüber2, sei es, um die Vorwürfe einer mittelbaren oder unmittelbaren Schuld der Reformatoren am Bauernkrieg zu entkräften3. Als Ausdrucksform für die Zusammenfassung dieser drei Momente des Stoffes wird die „Legende von den ungleichen Kindern Evas'\ zu deren Vertretern Kain und Abel werden, gewählt. Sie stellt die biblische Handlung entweder in einen ganz neuen Zusammenhang oder löst sich überhaupt von ihr und behält nur die aus der Bibel abgeleitete Charakterisierung der Hauptgestalten Kain und Abel4 bei. Damit stehen wir wieder an einem äußerst wichtigen Punkt der stoffgeschichtlichen Entwicklung. Er zeigt einerseits, daß sich das Kain-Abel-Problem bereits zu einem so festen Begriff verdichtet hat, daß es auch ohne den ursprünglichen Stoff im geistigen Besitz der Masse verankert ist. Zum anderen aber beweist diese Wendung, daß die in unserem Stoff selbst liegenden Spannungsmomente so stark sind, daß die familiarisierende Betrachtungsweise unserer Bearbeiter — vielleicht ungewollt — versuchen mußte, ihn durch die Legende zu entlasten. Die Legende von dem Besuch Gottes bei dem ersten Elternpaar und die anschließende Verteilung der Stände an ihre Kinder, aus der die göttliche Einsetzung der bestehenden Ordnung abgeleitet wird, ist altes Volks- und Märchengut. Sie wird von dem Humanisten Baptista Mantuanus gegen Ende des Quattrocento in dichterische Form gekleidet* und durch die Übersetzung des Agricola und die Erzählung Melanchthons in dem Brief von 1539 von der deutschen Literatur übernommen". Melanchthon macht dann die Ständeverteilung von einer Prüfung der Kinder in den Hauptfragen der protestantischen Religion und der Lutherschen Glaubensartikel abhängig'. Damit fußt die Ständeverteilung auf Anerkennung der reformatorischen Lehren unter Betonung des pädagogischen Momentes. Abel, Seth, Kain und die Schwestern werden zu Vertretern der guten und der schlechten Kinder. Abel, der alles vollendet vorträgt, wird zum Priester; Seth, der Gottesfürchtige, wird 1
Gebhardt, B.: Handbuch d. dtsch. Geschichte. Stuttgart 1892. II, 19 f., 48 ff., 22 ff.
• Herzog-Hauck V I , 638. • Vgl. Kötzschke 187. Obwohl K . wirtschaftliche u. soziale Ursachen für den Bauernkrieg nachweist u. ihn weder als eine Folgeerscheinung der religiös-kirchlichen Reformation noch als eine Bewegung des „Widerstandes gegen die Unterdrückung der Reformation" erklärt, bestätigt auch er den Einfluß der „durch das A u f treten der Reformatoren verursachten Erregung" auf die Gedanken lind Forderungen der Bauern (185 ff.). ' Für die Entwicklung dieser Legende und die Zusammenstellung aller Bearbeitungen sei auf die Diss. von Joh. Winzer und die endgültige Zusammenfassung bei J . Bolte - G . Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Leipzig 1918, III, 308 ff. verwiesen. • Winzer 8 ff., 1 2 ; Bolte 320 f., 308 ff.; Michel, H.: Heinrich Knaust. Berlin 1903. S. 26. • Ad comitem Johannem de Weda epistola Philippus Melanchthon. Francofurti 1539. 23. Martii. (Ph. M . . . Opera . . ed. C. G . Bretschneider. III. Halle 1836 in: Corpus Reformatorum. Vol. 3.) ' Luther: Werke X X X , 1. Weimar 1910.
D A S RELIGIÖSE M O M E N T
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zum König; Kain, „der starre Empirist und skeptische Utilitarier" 1 , der die Lutherische Lehre ablehnt, an Gottes Gnade und ewiger Seligkeit zweifelt und Opfer und Gebet nur um des Nutzens willen anerkennt, wird zum Bauern und Diener der anderen. So hat Melanchthon zum ersten Male a l l e für die Folgezeit wesentlichen Momente zusammengefaßt und jene Formung geschaffen, die mit dem Gewicht seines Namens und seiner Persönlichkeit alle nachfolgenden Bearbeitungen direkt oder indirekt entscheidend bestimmt hat, so daß keine wesentlich über ihn hinausgewachsen ist.
a) Behandlungen der Legende. SixtBirck schließt sich in seinem einaktigen Drama „Eva" 1547 2 z. T . wörtlich an seine Vorlage Melanchthon an und ist somit stoffgeschichtlich belanglos. Durch seine Betonung der ernsten Gehaltes der Fabel und durch die straffere Form des neuen Schuldramas in jambischen Trimetern wird er der inneren Geschlossenheit der Melanchthonschen Fabel gerecht. Dagegen benutzt Nicolaus Selneccer in seiner latein. „Theophania" z von 1560 außer Melanchthon, den er selbst neben lateinischen und deutschen Komödien als Quelle angibt und den auch Winzer als alleinige Vorlage Selneccers annimmt4, unzweifelhaft auch das „Gespräch von der Schlangenverführung . . ." des Erasmus Alberus (Erstausg. 1541, neu hrsg. 1544 u. 1553 von Jacobi 5 ). Die Komödie von Hans Sachs, die ebenfalls den Dialog von Alberus heranzog und demgemäß auch an einzelnen Stellen inhaltlich mit Selneccer übereinstimmt, kann nicht — wie man vermutet' — in Frage kommen. Das Verhältnis der Erscheinungsjahre, Sachs 1553: Selnecer 15 60, wird hinfällig, da der letztere der Widmung zufolge sein Werk schon 8 Jahre vorher abgeschlossen hatte und sicher keine Umarbeitung auf Grund des Sachsschen Stückes vornahm'. Die Übereinstimmung mit Alberus aber ist bis in kleinste Einzelheiten nachzuweisen. Wie dieser setzt Selneccer mit der Klage Evas ein, die u. a. enthält: die Ausmalung der Schlangenverführung; die Tröstung der Eltern und Abels durch die Verheißung des Schlangentöters, welche Kain ablehnt; den Glauben der Mutter, in Kain den Schlangentöter zu sehen, und ihre Enttäuschung, als er sich als Freund der Schlange entpuppt. Bei Adams Trost und Klage entlehnt S. nicht die Worte des Alberus, aber seinen Gedankengang, wie beim Befehl an Abel, Kain herabzuholen, und bei der Schilderung des störrischen Benehmens Kains. Wieder fast wörtlich übersetzt er das verkehrte Vaterunser und das entsprechende Glaubensbekenntnis Kains, das wie die „sinnlose Antwort eines Schülers"' wirkt. Zum Beweis sei folgendes gegenübergestellt: Alberus
Selneccer
Ah Got von Himel, wie hab
Quam pessime de posteris
ichs so vbel ausgericht.
egi meis. Et de genere toto humano miserrima. Se-
Ah ich armes vnseliges Weib, wie hab ich meinen frumen
cucta Diaboli persuasioni-
Man vnd alle vnser Erben
bus . . .
so jemerlich verderbet. . . 1
Michel 27.
• In : Dramata sacra. Basel 1560 (Ex. d. Stadtbibl. Breslau). Winzer 5 1 — 3 ; Schöber, J . F. : Über die Quellen des Sixtus Birck. München. Diss. 1919. S. 3 1 . ' Wittenberg 1560 (Ex. d. Stadtbibl. Breslau.)
• Winzer 69
* Matthias, E. : Erasmus Alberus Gespräch von der Schlangenverführung . . . in : Zeitschrift f. dtsch. Philologie. 21. Halle 1889. S. 431.
• Bolte 318.
' Es heißt in der Widmung: Nec vero de forma & elaboratione multum disputo, cum a me scripta sit ante octennium & nunc ocium in hac mea difficili functione non sit corrigendi corrigenda, nec etiam propterea a me initio scripta sit, ut ederetur. Nunc cum literis suis flagitent multi studiosi editionem, permisi sane edi hanc Theophaniam. (Vorrede. Wittenberg 1560. Bl. A Illlb.)
' Matthias 430.
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HUMANISMUS U N D R E F O R M A T I O N Nu ist es wol war, dass vns
Haec scilicet promissio &
der liebe barmhertzige Got
solatium Mihi & Marito,
zugesagt hat, Des Weibs Sa-
Abelo & Setho filijs, Moe-
men sol der Schlangen den
sti adimit omne pectoris
kopff zutreten, Welcher Zu-
negotium. Nam talium Cain
sag mein lieber Adam, Ich
nihil tanti facit . . .
vnd mein liebes Abeichen vns in allem vnserm Trübsal trösten (Denn der leidige Cain das böse kind fragt nichts darnach) . . . Vater Himel unser, las vns
Pater coelis noster, nomen
dein reich geschehen, im Hi-
tuum fiat, regnum tuum. Vt
mel vnd Erden. Gib vns viel
in terra sie etiam coelis
brods, vnd alles vbel. Amen.
& multum panem mihi Des, & remitte aes alienum, damque omne malum nobis. Amen.
Auf Grund dieser beiden Quellen: Melanchthon-Alberus und noch über sie hinaus verschärft der lutherisch-orthodoxe Superintendent Selneccer 1 das polemische wie das pädagogische Moment und arbeitet ein neues humoristisches heraus. Um des Polemischen willen wird Kain, der Allesleugnende, zum Sklaven der Vernunft, der die Kraft des Opfers herabzieht und nur den Gott des Bauches und der Wollust anerkennt. Zum ersten Male in der Geschichte unserer Stoffes wird der Kampf gegen die Vernunft als Verführerin des Menschen geführt. Das Wirken eines Erasmus und Reuchlin und ihre Botschaft von der Unabhängigkeit der menschlichen Vernunft und der Wissenschaft mußten vorangegangen sein, um dem glaubenseifrigen Kämpfer die Gefahr des Teufels in der Gestalt des menschlichen Denkens zu zeigen. Ebenso bedeutsam scheint dem strengen Lutheraner die Gefahr Calvin, den er im Prädestinationsgedanken Esaus, des Gefährten Kains, verdammt. Eine weitere Aufgabe des neuen protestantischen Pfarrhauses ist es, für eheliche Moral und Kinderzucht in der Gemeinde zu sorgen. Darum räumt S. dem Verhältnis des liebenden und erziehenden Elternpaars einen großen Raum ein und ergeht sich in moralischen Erörterungen über die schwere Last schuldiger Menschen, schlechte Söhne, glückliche Ehen usw., wie er sie wohl häufig seinen Predigten zu Grunde legte. Das Humoristisch-Volkstümliche endlich verrät den Einfluß des Fastnachtsspiels. Wieder einmal wird an dieser ganz neuen Wendung des Stoffes deutlich, wie sich seine Bearbeiter allen zeitgeschichtlichen Strömungen anschmiegen und selbst ihm ganz wesensfremde Elemente aufnehmen, um seine Wirkungsmöglichkeiten zu steigern. In einem spöttischen Hin und Her wird das Herbeirufen Kains 1
Über ihn vgl. Goedeke II, 139; Creizenach II, 1 1 0 ; Winzer 63—73.
DAS RELIGIÖSE MOMENT
und der Kampf um sein Waschen zu Ehren Gottes zu einem Kleinkrieg zwischen ihm und den Seinen; Trink- und Rüpelszenen zwischen Kain und seinen Gefährten Ham und Esau preisen Spiel und Lebensgenuß; die Ausfälle gegen das weibliche Geschlecht sind altes Gut des Fastnachtspiels. Noch aber bleibt bei dem lateinischen Poeten Andeutung, was dann bei dem Meistersinger Sachs in ganz anderer Sphäre und auf ganz anderer Bühne grundlegend für den stofflichen Wandel wurde. Die Ubersetzung der Selneccerschen Theophania, die der Pfarrer Balthasar Schnurr137 Jahre später (1597) zu Nürnberg erscheinen ließ, interessiert nur, insoweit ihre geringen Änderungen typisch für das deutsche Schuldrama sind. Weitschweifigkeit (2300 < 4100Versen), Gebete statt Oden, Begünstigung der Moral an Stelle der Ständeverteilung und volkstümliche Sprache, dies alles werden wir in den deutschen Behandlungen unseres Stoffes finden. Die folgende Gegenüberstellung zeige am kleinen Beispiel den weiten Abstand zwischen Original und Ubersetzung: Volui me tandem impositis laboribus
Mein Alte hat mich wol zernagt
Quos iniungebat mater. Hos quisquis potest
Und für die harwürm hart geplagt.
Avertere et non avertit, stulte facit
Aber ich treht mich auß von ihr /
Sibi male consulens.
Denn sie wolt arbeit geben mir.
(III, 1. Kain beklagt sich über seine Mutter.)
Wer arbeit von sich schieben kan Und thuts nit / ist ein thöricht Mann. /
h) Legende und biblische Handlung. Sowie jedoch die Legende mit der eigentlichen Kain-Abel-Handlung verbunden wird, erweitern sich die Möglichkeiten der so entstehenden Stoffmasse. Ohne dies zu erkennen, sieht Hans Sachsens „ C o mödia"2 von 1553 nur die Legende und bleibt dem Pädagogischen und Humoristischen verhaftet, in dessen Bereich Sachs allerdings die „Tradition zu einem Meisterstück seines liebenswürdigen Humors" 3 umgestaltet. Beweis für dieses mangelhafte Verständnis ist, daß Sachs die Legende viermal in den verschiedensten Formen bearbeitet hat, ohne „die Empfindung, daß Stoff und Form in einem inneren Verhältnis zueinander stehen müssen" 4 . I m Meistergesang ( 1 5 4 6 ) ' und im Schwank ( 1 5 5 8 ) ' schließt er sich an die ursprüngliche F o r m der Erzählung bei Mantuanus-Agricola an, welche die Ständeverteilung auf Grund von Schönheit und Häßlichkeit der Kinder summarisch abtut. Im letzteren folgert er daraus, daß die niederen Stände nicht auf moralischer Minderwertigkeit beruhen, sondern ebenso wie die anderen notwendig und berechtigt sind. 1
E i n schön, lehr- und trostreich spil, darinnen von dem Zustand vnserer ersten Eltern . . . gehandelt wird.
Nürnberg 1597 (Ex. d. Staatsbibl. Berlin). Pfarrer zu Amishagen. V g l . die Widmung. 1
D i e ungeleichen Kinder E v e . Wittenberg 1553 (Ed. A . v . Keller. Tübingen 1870. Werke I).
• Creizenach II, 1 1 0 . 4
Merker, P . : Hans Sachs. Einl. Berlin 1927. S. 8, 1 8 ; Stammler: Mystik. 226.
' Werke, Ed. Keller.
• Werke, E d . Keller.
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HUMANISMUS U N D R E F O R M A T I O N
Aber in der Komödia 1 , die z.T. auf dem Spiel fußt 2 , muß er diese Stellungnahme seiner anderen Quelle Erasmus Alberus 3 opfern. Mit der fast wörtlichen Übernahme dieses Dialoges kommen Didaktik, moralische Qualifikation und lutherisches Bekenntnis wieder zu ihrem Recht. Die Ständeverteilung — die Alberus überhaupt übergangen hat — versinkt im Ubermaß des Erbaulichen und Belehrenden und in der summarischen Gruppenbildung der ursprünglichen Legendenform, die Sachs wieder aus dem Spiel übernommen hat. Aus diesen Gruppen der Guten und Bösen knetet Sachsens geschickte Hand die reizvollen und schalkhaften Typen seiner Fastnachtsspiele4. Wie Ruff und Selneccer erkennt er in den Bösen das geeignetere Material dafür. Weitgehender als der steifere lateinische „Poet" übernimmt er fast wörtlich jede mit ihnen in Zusammenhang stehende humoristische Szene des Alberus, wie den Streit zwischen Abel und Kain und dessen höhnisches Versteckspiel mit dem Vater. Darüber hinaus charakterisiert er Böse wie Gute in der Art der Fastnachtsrevue 5 durch erklärende Zusätze zu ihren der Bibel entliehenen Namen 6 . Um des szenischen Effektes halber stellt sich dann noch jeder der Bösen mit einer ausführlichen Selbstcharakteristik vor, in denen Sachs Laster und Menschen, die er im täglichen Leben um sich sah7, aufs amüsanteste kopiert. Entsprechend macht er aus der langweilig-erbaulichen Prüfung durch die Verteilung auf die Einzelnen ein lebendiges, rasches Frage- und Antwortspiel, bei dem die sinnlosen und verdrehten Antworten weniger unmoralisch als erheiternd wirken sollen. Auch Satan, den Sachs, nach mittelalterlichem Muster und Vorbild der Schuldramen 8 , als Verführer einschiebt, ist der spöttisch-heitere Gesell des Fastnachtspiels, im komischen Teufel des Mittelalters vorgebildet. Er zieht die bösen Kinder mit 1
In einer Hs der Münchener U.B. (Cod. Germ. 3635) werden in einer „khurtzen Anmeldung der frummen
u. bösen Kinder Adae" Teile aus Komödie u. Spiel zusammengefügt. Den aus dem Spiel genommenen Ständen sind genaue Vorschriften über die Kostümierung beigegeben. (Über Ausgabe und Aufführungen von Spiel u. Komödie vgl. Bolte 317.) • Ein spiel
wie Gott, der Herr, Adam vnd Eva ihre Kinder segnet. Wittenberg 1553 (Werke Ed.Keller 1 1 ) .
• Franz Schnorr v. Carolsfeld: Die ungleichen Kinder Evae in: Archiv f. Litgesch. 1884. XII, 177—84; Matthias 420. • Creizenach III, 425. • Mauermann, S.: Die Bühnenanweisungen im dtsch. Drama bis 1700. Berlin 1 9 1 1 . S. 45. • Diese Namen sollen z. T . aus den nicht erhaltenen „Freiberger Ludi solemnes" von 1 5 1 6 übernommen worden sein. Vgl. Andreas Moller: Theatrum Freibergense Chronicum. Freybergk 1653. Ander Buch. S. 162 ff. (Genaueres darüber in: Beytrag z. Gesch. d. dtsch. Theaters in: Morgenblatt f. gebildete Stände. Nr. 278 v. 19. 1 1 . 1908. S. 1109—10). Bolte III, 3 1 3 f. zweifelt neuerdings die Echtheit dieser Uberlieferung an. ' 300 Jahre später (1826) wird die Sachssche Satire modernisiert. J. D. Falk dichtet sie auf eine Zeitsatire gegen die süßliche Dichterei seiner Zeitgenossen, die heuchlerische Frömmigkeit der Orthodoxie und das Tam-Tam pädagogischer Prüfungen um. Besonders schlecht kommen Prediger und Lehrer weg, die um der staatlichen Gelder willen ihre Überzeugungen verraten und Jugend und Volk bewußt irreführen. Mit geringen inhaltlichen Umstellungen wird der Sachssche Gedankengang gerade in sein Gegenteil verkehrt. • Vgl. Voith, Knaust etc. Creizenach III, 387 f.
DAS RELIGIÖSE MOMENT
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lüsternen Versprechungen zu sich heran, reizt Kain mit seiner Zurücksetzung zum Mord und ladet ihn nach geschehener Tat mit ermunternden Worten in die Hölle ein: Kain thu dich an ein Baum hencken, oder inn ein wasser ertrencken, auf daß du kümbst der martter ab und ich an dir ein hellbrand hab! 1
Mit Ausnahme dieser Teufelsrolle hält sich Sachs in seiner, an die Legende angeschlossenen, biblischen Handlung streng an das Vorbild der Bibel, wie es ja auch ihrer Wertung als bloße Zugabe zum Wesentlichen — der Legende — entspricht. Eine rein äußere Verbindung zwischen Legende und Stoff wird durch die Worte des Alberus hergestellt: Gott: Abel, las dir den Cain befolhen s e i n . . . Cain: D u solt mirs war lieh halten, soltu mich leren2, die Sachs etwas ausbaut. Ein innerer Zusammenhang zwischen den Geschehnissen des 1. und des 2. Teiles wird nicht erkannt. Davon abgesehen, ist das äußere Gerüst der Handlung geschickt aufgebaut. Durch die Moralsentenzen des Herolds am Schluß vermeidet Sachs ein Schleppen und Verzögern der Handlung, wie es die langen moralischen Erörterungen bei Selneccer und die theologischen Auseinandersetzungen bei Stricker bewirken. Aus dem gleichen Gefühl für Theatralik sucht er die Bühnenwirkungen auszunutzen und das gesprochene Wort schon häufig durch Gebärde und Mimik zu ersetzen3. Beim Versteckspiel Kain-Adam verwendet er für Kain wohl den von Köster rekonstruierten Platz, auf dem dieser den Schauspielern verborgen, den Zuschauern aber sichtbar war; das Opfer wurde anscheinend mit kleinen Requisiten dargestellt4, und im erregenden Moment des Mordes arbeitet Satan mit stummen und darum wirksamen Gebärden. Bei Sachsens Nachahmer und skrupellosem Abschreiber Arnold Quting5 (Kinderiucht i5