Juristische Grundlagenforschung: Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosopie (IVR) vom 23.–25. September 2004 in Kiel 3515086404, 9783515086400

Aus dem Inhalt Horst Eidenmüller : Der homo oeconomicus und das Schuldrecht. Herausforderungen durch Behavioural Law and

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German Pages 251 [253] Year 2005

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Inhalt
Vorwort
I. Zivilrecht
1. Horst Eidenmüller: Der homo oeconomicus und das Schuldrecht. Herausforderungen durch Behavioural Law and Economics
2. Nils Jansen: Theoriebildung in der europäischen Privatrechtsdogmatik
3. Katja Langenbucher: Recht und Zeit. Eine Untersuchung zur Wirkung von Rechtsprechungsänderungen im Privatrecht
4. Christiane Wendehorst: Rechtsobjekte
II. Strafrecht
1. Armin Engländer: Der Begriff der freien Überzeugung in § 261 StPO im Lichte der Erkenntnistheorie
2. Andreas Hoyer: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement der Rechtfertigungsgründe
3. Joachim Renzikowski: Normentheorie und Strafrechtsdogmatik
4. Frank Saliger: Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung
III. Öffentliches Recht
1. Karl-Eberhard Hain: Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt? Eine rechtsphilosophische und methodologische Kritik
2. Dirk Heckmann: Das Paradoxon von individueller Freiheit und öffentlicher Sicherheit. Elemente einer Theorie komplementärer Risikoverteilung in Raum und Zeit
3. Stefan Huster: Sozialstaat oder soziale Gerechtigkeit? Zum Spannungsverhältnis von politischer Philosophie und Verfassungsrecht am Beispiel der Altersrationierung im Gesundheitswesen
4. Mattias Kumm: Liberale Gerechtigkeitstheorien und die Struktur der Grundrechte
5. Jan-Reinard Sieckmann: Der Begriff der Enteignung
Autoren
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Juristische Grundlagenforschung: Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosopie (IVR) vom 23.–25. September 2004 in Kiel
 3515086404, 9783515086400

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Robert Alexy (Hrsg.)

Juristische Grundlagenforschung Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosopie (IVR) vom 23. bis 25. September 2004 in Kiel

ARSP Beiheft Nr. 104 Franz Steiner Verlag

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Juristische Grundlagenforschung

ARSPBEIHEFT 104

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Archives de Philosophie duDroit et de Philosophie Sociale Archives for Philosophy of Law andSocial Philosophy Archivo

deFilosofía Jurídica y Social

Juristische Grundlagenforschung

Tagung derDeutschen Sektion der Internationalen Vereinigung fürRechts- und Sozialphilosophie (IVR) vom23. bis25. September 2004 in Kiel

Herausgegeben von ROBERT ALEXY

Franz Steiner Verlag Stuttgart

2005

Bibliographische Information derDeutschen Bibliothek DieDeutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind imInternet über abrufbar.

ISBN 3-515-08640-4

ISO 9706

Jede Verwertung desWerkes außerhalb der Grenzen desUrheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Diesgilt insbesondere fürÜbersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung odervergleichbare Verfahren sowie fürdieSpeicherung inDatenverarbeitungsanlagen. © 2005 byFranz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart. Gedruckt aufalterungsbeständigem Papier. Druck: Printservcice Decker Printed in Germany

&Bokor, München.

Inhalt

7

Vorwort

I.

1. 2.

3. 4.

Zivilrecht Horst Eidenmüller

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht. Behavioural LawandEconomics Nils Jansen Theoriebildung

indereuropäischen

Katja Langenbucher Recht undZeit. Eine Untersuchung änderungen imPrivatrecht

Herausforderungen durch

13

29

Privatrechtsdogmatik

zurWirkung vonRechtsprechungs-

Christiane Wendehorst Rechtsobjekte

55 71

II. Strafrecht

1.

2.

Armin Engländer

DerBegriff theorie

derfreien Überzeugung in§ 261 StPO imLichte derErkenntnis-

Andreas Hoyer DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz gründe

als Strukturelement derRechtfertigungs-

3. Joachim Renzikowski Normentheorie undStrafrechtsdogmatik 4. Frank Saliger Rechtsphilosophische Probleme derRechtsbeugung

85

99 115 138

III. Öffentliches Recht

1.

2.

3.

Karl-Eberhard Hain Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt? Eine rechtsphilosophische methodologische Kritik

und

157

DirkHeckmann

DasParadoxon vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit. Elemente einer Theorie komplementärer Risikoverteilung inRaumundZeit

183

Stefan Huster Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit? ZumSpannungsverhältnis von politischer Philosophie undVerfassungsrecht amBeispiel derAltersrationierung imGesundheitswesen

202

6

4.

Inhalt

Mattias Kumm Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

218

5. Jan-Reinard Sieckmann DerBegriff derEnteignung

235

Autoren

251

Vorwort

Inallen Disziplinen gibt es, wie imDenken überhaupt, Begriffe undSätze, deren Verwerfung dasGesamtsystem mehrändern würde, als dieVerabschiedung anderer Begriffe oderSätze dies täte. DasisteinKriterium dafür, daßerstere grundlegender oderfundamentaler sindalsletztere. Wiederholt angewandt, führt dies Kriterium zuden grundlegendsten oderfundamentalsten Begriffen undSätzen. Diese sinddiewahren Grundbegriffe undGrundsätze einer Disziplin oder, wennwiralle disziplinären und sonstigen Grenzen überschreiten, die Grundbegriffe undGrundsätze des Denkens überhaupt. Grundlagenforschung zielt aufsolche Grundbegriffe undGrundsätze. Damit steht sievorzweiProblemen. Daserste läßtsichindieFrage fassen, obes überhaupt wahre oderwirkliche Grundbegriffe undGrundsätze derverschiedenen Disziplinen gibtoder obnicht vielmehr alles sich mehroderweniger mischt undje nach Perspektive oder Frage injeweils anderem Lichte erscheint. Träfe letzteres zu,verböte sichschon der bloße Gedanke anso etwas wieeine anGrundbegriffen undGrundsätzen orientierte Grundlagenforschung. Möglich wäreallein derdirekte undvonvornherein nachimmer neuen Differenzierungen fragende Zugriff aufdieVielfalt desKonkreten. Wennes unter dieser Voraussetzung Grundlagenforschung geben könnte, dann nurals Erkenntnis ihrer Unmöglichkeit. Daszweite Problem entsteht, wennmandieerste Frage positiv beantwortet, also die Möglichkeit einer echten Grundlagenforschung einräumt. Es resultiert daraus, daßaus derMöglichkeit derGrundlagenforschung noch nicht ihre Nützlichkeit folgt. Es könnte sein, daß juristische Grundlagenforschung als reine Wissenschaft möglich ist, daßabergerade ihre reine Wissenschaftlichkeit sie zurpraktischen Nutzlosigkeit verdammt. DieProbleme derMöglichkeit undderNützlichkeit derGrundlagenforschung könnennundurchaus abstrakt erörtert werden. Daswäre, wennmandieDinge zuspitzen will, gleichsam eine Metagrundlagenforschung. DerimSeptember 2004 veranstaltete Kieler Kongreß derDeutschen Sektion derInternationalen Vereinigung fürRechts- und Sozialphilosophie zumThema „ Juristische Grundlagenforschung“ist einen anderen Weggegangen. Mankönnte ihndenWegder„praktischen“ oder„ angewandten Grundnennen. Diesen Wegschlägt ein,werüberGrundlagenforschung nicht lagenforschung“ nurspricht, sondern sie betreibt unddadurch zeigt, daßsie nicht nurmöglich, sondern auchnützlich ist. Diederangewandten Grundlagenforschung eigene NähezurPraxis zeigt sichdarin, daßdiedreizehn Vorträge dendreiklassischen Säulen derRechtswissenschaft zugeordnet sind, undzwardemZivilrecht unddemStrafrecht jeweils vierund demÖffentlichen Recht fünf. DerBand beginnt gemäß demHerkommen mitdem Zivilrecht, gehtdannzumStrafrecht überundschließt mitdemÖffentlichen Recht. In denBlöcken waltet dasAlphabet. ImZivilrecht wendet sich Horst Eidenmüller denProblemen des ökonomischen Verhaltensmodells zu.SowieRecht ohneAdressaten nicht möglich ist, sokannRecht ohneeinBildseiner Adressaten nicht adäquat erfaßt werden. DieReichweite derIdee derrational choice isteine derGrundfragen derTheorie derAdressaten des Rechts. Eidenmüller zeigt dies andenKonsequenzen, dieihre Beantwortung imSchuldrecht hat. Nils Jansen befaßt sich mitderTheoriebildung indereuropäischen Privatrechtsdogmatik. Es geht umdie Frage, obundwiesich inUneinheitlichem Gemeinsames finden undobundinwelchem Maßesichausalledem Einheit bilden läßt. Einsolches

im Bereich grundlegender Wertungen ist eine der Hauptabsichten derjuristischen Grundlagenforschung. DieOrientierung amHaftungsrecht illustriert diepraktische Relevanz. Katja Langenbuchererörtert dasVerhältnis von

Streben nach System gerade

8

Vorwort

Recht undZeit, einThema, demdieFundamentalität aufderStirn steht. Es wirddas Problem desVertrauensschutzes beiRechtsprechungsänderungen aufgegriffen. Hierbeigehtes umdiefundamentale Kollision zwischen demGebot dermateriell richtigen Entscheidung unddemPrinzip des Vertrauensschutzes. Diesystematische Analyse solcher fundamentaler Spannungslagen ist eine derHauptaufgaben derjuristischen Grundlagenforschung. Christiane Wendehorst widmet sich demBegriff des Rechtsobjekts. Dieser Begriff ist neben demdes Rechtssubjekts einer derfundamentalsten Begriffe derRechtswissenschaft, wassichdarin zeigt, daßvonseiner Bestimmung der Charakter ganzer Rechtsgebiete, ja des Rechtssystems insgesamt, wesentlich abhängt. Denkt man an die Rolle, die die Begriffe des Objekts und des Subjekts ganz allgemein imDenken spielen, so kanndaskaumüberraschen. Inderstrafrechtlichen Abteilung analysiert Armin Engländer denBegriff derfreien Überzeugung in§ 261StPO. DerBegriff derÜberzeugung istengmitdenBegriffen der Wahrheit undderBegründung verbunden. Vorallem aberläßtersowohl einesubjektive

oderpersönliche alsaucheine objektive oderintersubjektive Deutung zu.DieInterpretation eines Gesetzesbegriffs führt so unmittelbar zu Grundfragen der Philosophie. Andreas Hoyer behandelt denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement der Rechtfertigungsgründe. Dabei wirddieklassische Frage desVerhältnisses derRechtfertigungsgründe zurTatbestandsmäßigkeit mitdervorallem inderGrundrechtsdogmatik normtheoretisch entfalteten Figur desVerhältnismäßigkeitsgrundsatzes verbunden.DieHerstellung derartiger systematischer Verknüpfungen, diewievonselbst indie Tiefe des Gegenstandes führen, ist eines derHauptziele juristischer Grundlagenforschung. DerBeitrag Joachim Renzikowskis ist aufdasVerhältnis vonNormentheorie undStrafrechtsdogmatik konzentriert. Eine besondere Rolle spielt dabei dieIdee, statt mitdemBegriff desRechtsguts mitdemdessubjektiven Rechts zuarbeiten. Dasisteine klassische Problematik des grundbegrifflichen Rahmens, die zuzahlreichen praktischen Konsequenzen führt. Diejuristische Grundlagenforschung hat hier noch ein weites Feldvorsich. Frank Saligers Thema sinddierechtsphilosophischen Probleme derRechtsbeugung. Siesindvielfältig undtief. Sosetzt eine wohlbegründete KonzeptionderRechtsbeugung eine akzeptable Theorie derRechtsanwendung voraus. Wer nicht sagen kann, wases bedeutet, das Recht anzuwenden, kannkaumerklären, was es heißt, das Recht zubrechen. Dieser methodologischen Dimension isteine genuin rechtsphilosophische hinzuzufügen. Umsagen zu können, was Rechtsbeugung ist, mußmanwissen, was Recht ist. Der Begriff des Rechts aber ist derjuristische Grundbegriff schlechthin. Gäbe manihnauf, verlöre dieJurisprudenz die Kraft, ihren Gegenstand als solchen unddamit auchsich selbst zuerfassen. Inderöffentlichrechtlichen Abteilung diskutiert Karl-Eberhard HaindieFrage, ob mandie grundrechtliche Freiheit vonvornherein unter einen Friedlichkeitsvorbehalt stellen sollte, sodaßUnfriedliches garnicht erstindieSchutzbereiche derGrundrechte fällt, oderobdieUnfriedlichkeit nicht besser derSeite derSchranken derGrundrechte zuzuordnen ist, so daßdas Spiel vonGrund undGegengrund sich entfalten kann. Es handelt sich hier umeingrundrechtsdogmatisches Fundamentalproblem, das ohne methodologische undrechtsphilosophische Reflexion kaumeine Hoffnung aufLösung hat.DirkHeckmann gehtunter demTitel „ DasParadoxon vonindividueller Freiheit und öffentlicher Sicherheit“ Grundfragen derPolizeirechtstheorie nach. Dasewige Problem des richtigen Ausgleichs vonFreiheit undSicherheit wirdaufzahlreiche aktuelle und zumTeilhöchst umstrittene Fragen bezogen. Eszeigt sich, daßjuristische Grundlagenforschung keinesfalls nureine Sache stiller Reflexion undsubtiler Dispute ist. Gerade wopolitische Emotionen kochen, sindKlarheit derGrundbegriffe undErkennbarkeit der Grundprinzipien vonbesonderem Wert. Stefan Huster untersucht das Verhältnis von

Vorwort

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Sozialstaat undsozialer Gerechtigkeit amBeispiel derAltersrationierung imGesundheitssystem. Während beizahlreichen Grundlagenfragen dasanalytisch orientierte Grundbegriffliche imVordergrund steht, dominiert hierdasnormativ ausgerichtete Grundsätzliche, welches ohne Moralphilosophie undpolitische Philosophie nurunzureichend behandelt werden kann. Daszeigt, wieweitdiejuristische Grundlagenforschung reicht. Mattias Kummverfolgt die Frage, obdie Prinzipientheorie als allgemeine juristische Strukturtheorie derGrundrechte inliberal-demokratischen Verfassungsstaaten taugt. Strukturtheoretische Fragen sindalssolche analytische Fragen. Ihre Einbettung inden Kontext desliberalen Verfassungsstaats macht aberdeutlich, daßdasAnalytische mit demNormativen unddemFaktischen zuverknüpfen ist, wennes zueiner adäquaten umfassenden Theorie kommen soll. Grundlagenforschung mußdaher, worauf Ralf Dreier unübertrefflich hingewiesen hat, integrativ sein. Dasschließt Spezialisierungen auchmethodologischer Artnicht aus, solange nurdasGanze nicht ausdemBlick fällt. Jan-Reinard Sieckmanns Untersuchung des Begriffs der Enteignung entfaltet das Instrumentarium deranalytischen Rechtstheorie amBeispiel eines praktisch höchst bedeutsamen Gegenstandes. DerBeitrag läßterkennen, wasdiejuristische Grundlagenforschung gewinnen kann, wennsie sich derreichen Mittel derformalen Analyse bedient. Analyse istsicher nicht alles. Ohnesie aberbliebe derZugriff aufdieRealität plump unddie Synthese hilflos. Faßt manzusammen, so kann mansagen, daß die dreizehn Beiträge in ihrer Gesamtheit bestätigen, daßjuristische Grundlagenforschung möglich undnützlich ist. Vielleicht aberläßtsichnochmehrals bloß Möglichkeit undNützlichkeit – wasansich schon viel ist–aus ihnen ziehen, nämlich Notwendigkeit. Juristische Grundlagenforschung wäre notwendig, wennohne sie das, wasdieJurisprudenz zurWissenschaft macht, nicht erreichbar wäre. Jurisprudenz alsWissenschaft istandenPrinzipien der Klarheit, derTiefe undderEinheit orientiert, diedurch das Ideal derRichtigkeit überwölbt werden. Ohne Grundlagenforschung droht Unübersichtlichkeit andieStelle der Klarheit, Zerfaserung andiederTiefe undInkohärenz andiederEinheit zutreten. Die Richtigkeit hätte es ineinem solchen Durcheinander schwer. Weran Richtigkeit interessiert ist, kanndeshalb nurwünschen, daßdieGrundlagenforschung gedeiht. DerHoffnung, daßdieser Banddazubeiträgt, daßes mitderjuristischen Grundlagenforschung inDeutschland vorangeht, füge ichmeinen Dankanalle hinzu, diezur Organisation derTagung beigetragen haben. Anerster Stelle istmeine Sekretärin, Frau Andrea Neisius zu nennen. Ohne ihrunermüdliches undideenreiches Engagement hätte die Tagung kaum stattfinden können. Sie wardie eigentliche Organisatorin. Hervorheben möchte ichdesweiteren denhöchst aktiven Einsatz meiner Mitarbeiter Privatdozent Dr.Martin Borowski, Johannes Badenhop, Carsten Bäcker undTobias Umland. Kiel, imJuni 2005

Robert Alexy

I. Zivilrecht

Horst Eidenmüller*

Derhomo oeconomicus unddas Schuldrecht Herausforderungen durch Behavioral LawandEconomics** I. Grundlagenforschung imSchuldrecht Dasdeutsche unddaseuropäische Schuldrecht sindinBewegung. NachJahrzehnten eherpunktueller Gesetzesänderungen hatdaszweite BuchdesBGBmitWirkung zum 1.1.2002 eine inweiten Teilen neue Gestalt erhalten. Auslöser derReform warbekanntermaßen dieRichtlinie derEUüberdenVerbrauchsgüterkauf,1 undaus Brüssel Eurokommt auchdieInitiative füreinnochgrößeres Reformwerk: DasProjekt eines „ pean Civil Code“ steht aufderrechtspolitischen Tagesordnung.2 Indessen Zentrum liegt

ein europäisches Schuldrechtsgesetzbuch.

juristische Grundlagenforschung im Zusammenhang „ ? Welches sind die Aufgaben der Rechtswissenschaft? Offensichtlich Schuldrecht“ kannsie sich indiesen Umbruchszeiten nicht aufdieArbeit amgeltenden Recht beschränken. Gefordert ist vielmehr eine wissenschaftliche Beratung von Gesetzgebungsgremien bzw. die Entwicklung vonpotentiell umsetzbaren Regelwerken. Die (europäische) Rechtswissenschaft hatdiese Herausforderung angenommen: Indiversen Kommissionen bzw. Gruppen werden die Grundlagen eines europäischen Schuldrechts erarbeitet.3 Indemfolgenden Beitrag werde ich drei Thesen vertreten undbegründen. Erstens: Juristische Grundlagenforschung imsoeben beschriebenen Sinne ist aufein positives Modell menschlichen Verhaltens angewiesen, umdieFolgen rechtlicher Regeln abschätzen undimLichte (vorgegebener) gesetzgeberischer Zielvorstellungen bewerten zukönnen. Zweitens: Dasökonomische Konstrukt eines homooeconomicus ist imAusgangspunkt nach wievordas leistungsfähigste derartige Modell. Drittens: Dieses Modell bedarf allerdings derModifikation, umneueren Erkenntnissen der kognitionspsychologischen Forschung Rechnung zutragen. Veranschaulichen werde ich diese dritte These anhand ausgewählter schuldrechtlicher Problemstellungen.4

Was bedeutet in diesem

*

Lehrstuhl fürBürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches

undInternationales Unternehmensrecht

anderLudwig-Maximilians-Universität zuMünchen ** Überarbeitete undumNachweise ergänzte Fassung desVortrages, denicham24.9.2004 aufeiner

vonRobert Alexy ausgerichteten Tagung derDeutschen Sektion derInternationalen Vereinigung für Rechts- undSozialphilosophie inKielgehalten habe. DieVortragsform wurde weitgehend beibehalJuristische Grundlagenforschung“ . DerVortrag wurde bereits inder ten. DieTagung trugdenTitel „

1

2 3

4

Juristenzeitung veröffentlicht. Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments unddes Rates vom25.5.1999 zubestimmten Aspekten desVerbrauchsgüterkaufs undderGarantien fürVerbrauchsgüter, ABI.L171v.7.7.1999,

12 ff. Vgl. vorallem die Mitteilung der Kommission

Ein an das Europäische Parlament undden Rat „ einAktionsplan“ v. 12.2.2003, KOM(2003) 68 endg. kohärentes europäisches Vertragsrecht – Für einen Überblick über die Kommissionen bzw. Gruppen vgl. http://www.uni-koeln.de/jur-fak/ instipr/eurprivr/arbeitsgruppen.htm. Zudenbesonders einflussreichen Principles ofEuropean Contract Lawder Lando-Kommission vgl. etwa Reinhard Zimmermann, Die Principles of European Contract Lawals Ausdruck undGegenstand Europäischer Rechtswissenschaft, Zentrum fürEuropäisches Wirtschaftsrecht der Universität Bonn, Vorträge undBerichte Nr. 138, 2003. FürdenBereich des Gesellschafts- undKapitalmarktrechts vgl. Holger Fleischer, Behavioral Law andEconomics imGesellschafts- undKapitalmarktrecht –einWerkstattbericht, in:Wirtschafts- und

14

Horst Eidenmüller

Hierliegt einSchwerpunkt meiner Überlegungen. DerBeitrag schließt miteinem Aus-

auf die normativen Implikationen einer stark verhaltenstheoretisch fundierten, ökonomischen Rechtstheorie (Behavioral LawandEconomics). blick

II.Notwendigkeit eines positiven Verhaltensmodells Rechtliche Regeln haben unterschiedliche Funktionen: Sie eröffnen Handlungsmöglichkeiten, sie wollen durch veränderte Handlungsbedingungen bestimmte Ziele erreichen, sie transportieren aber auch Werte. Jedenfalls die beiden zuerst genannten Funktionen setzen implizit Annahmen über menschliches Verhalten voraus. So basiert etwadieEinräumung vonVertragsfreiheit imSchuldrecht (vgl. § 311Abs. 1 BGB) aufderAnnahme, dass wirwillens undinderLagesind, unsere Privatrechtsverhältnisse eigenverantwortlich zugestalten. UndwennderGesetzgeber beispielsweise den Verkäufer einer Sache für deren Mangelhaftigkeit haften lässt (§§ 434 ff. BGB), dann gehtes ihmnicht nurumKompensation beiVorliegen eines Mangels. Angestrebt wird vielmehr zumindest auch, dass diese Haftung dasVerkäuferverhalten allgemein indie gewünschte Richtung –die Lieferung einer mangelfreien Kaufsache –lenken wird. Unabhängig davon, welches konkrete Zielmiteiner bestimmten Regelung angestrebt wird, lassen sich die Realfolgen dieser Regelung5 nuraufderGrundlage eines positiven Verhaltensmodells ermitteln. Das bedeutet zunächst, dass eine wissenschaftliche Beratung von Gesetzgebungsgremien bzw.dieEntwicklung vonpotentiell umsetzbaren Regelwerken imHinblick auf deren Steuerungswirkung ohne Annahmen über menschliches Verhalten unmöglich ist.6 Dasbedeutet aberauch, dass eine teleologisch ausgerichtete Rechtsanwendung und-fortbildung, welche den gesetzgeberischen Plan imEinzelfall „ zu Ende denkt“ , auf entsprechende Annahmen ebenfalls zurückgreifen muss, sofern dieser Planaufbestimmte Realfolgen inderRechtswirklichkeit zielt.

III. Derhomo oeconomicus

als positives Verhaltensmodell derÖkonomik

Ein eigenständiges

positives Verhaltensmodell hat die Rechtswissenschaft bisher Wenninnerhalb derJurisprudenz vom„ Menschenbild“ die Rede ist, etwa inEntscheidungen des BVerfG zum„ Menschenbild des Grundgesetzes“ ,7dann ist damit eine normative Vorstellung verbunden: der Mensch, wie ihn das Recht zeichnet, undnicht der,denwirinderRealität vorfinden. Versteht manRechtswissenschaft als Normwissenschaft, dannistdies nicht weiter überraschend; sieht maninihr nicht entwickelt.

imSpannungsfeld vonPrivatautonomie, Wettbewerb undRegulierung, Festschrift für zum70. Geburtstag, A.Fuchs/H.-P. Schwintowski/D. Zimmer (Hg.), 2004, 575ff. Genauer gesagt geht es umdieso genannten Adaptionsfolgen, also die Folgen aufgrund derverPrivatrecht

5 6

7

Ulrich Immenga

haltensbeeinflussenden Wirkung rechtlicher Regeln. ZurBegriffsbildung vgl. Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, 137 ff. Je stärker wireine rechtspolitische Rolle Vgl. auch Christoph Engel, RabelsZ 67 (2003), 406, 408:„ annehmen, desto mehrkönnen unsdieModelle derSozialwissenschaften helfen.“ DieNützlichkeit dieser Modelle zeigt sich indes auchdann, wennsich dieJurisprudenz aufeine wissenschaftliche Beratung vonGesetzgebungsgremien beschränkt –Rechtspolitik imSinne vonnormativen Zielvorgaben istnicht ihre Aufgabe. Vgl. stellv. BVerfGE 4, 7, 15 f.; BVerfGE 41,29, 50; BVerfG NJW2003, 3111, 3113. Dazu Dietmar von der Pfordten 58 Zeitschrift für philosophische Forschung 321, 339 ff. (2004).

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

15

(auch) eine Realwissenschaft,8 dannliegt indemFehlen eines eigenständigen positivenVerhaltensmodells einbemerkenswerter Verzicht. Indiese Lücke istvoreinigen Jahrzehnten zuerst indenUSAundmitVerzögerung dannauch inDeutschland dieökonomische Theorie gestoßen.9 Ihrbewährtes Analyseinstrument, dasrational undeigennützig handelnde Individuum, wurde einer ErmittlungderRealfolgen vonRechtsnormen zugrunde gelegt. Eine neue Forschungsdisziplin, dieökonomische Analyse desRechts, entstand. Jedenfalls fürdieUSAkannman inzwischen bilanzieren, dass dieÜbertragung des rational choice-Ansatzes aufrechtliche Fragestellungen diejuristische Forschungslandschaft klardominiert. Wasgenau aberbedeutet rational choice mitBlick aufentsprechende Fragestellungen? DieModellspezifikationen innerhalb derÖkonomik variieren.10 Zumeist werdendrei Aspekte genannt: Einrational handelnder Akteur verfügt erstens über ein vollständiges, nicht-widersprüchliches, transitives undstabiles Präferenzsystem. Rationales Verhalten spiegelt sich zunächst einmal also inbestimmten formalen Anforderungen andieeigenen Präferenzen. Zweitens werden andiese Präferenzen aber

auch gewisse inhaltliche Anforderungen gestellt. Insbesondere wird zumeist angenommen, dass einentsprechender Akteur nicht altruistisch handelt (keine interdependenten Nutzenfunktionen).11 Drittens schließlich impliziert rationales Verhalten eininstrumentell bzw. technologisch vernünftiges Vorgehen: die Aufnahme undkorrekte Verarbeitung aller relevanter Informationen unddieWahlderjenigen Handlungsalternative, diebeieiner Zweck/Mittel-Relation –gegeben dieeigenen Präferenzen –am vorteilhaftesten ist. Derso beschriebene homooeconomicus istnicht einrealexistierendes Individuum.Es handelt sich vielmehr umeinabstrahierendes Konstrukt, das Prognosezweckendient. Freilich nimmt es fürsich inAnspruch, dieKonturen realen Individualverhaltens imWesentlichen zutreffend abzubilden. Diesen Anspruch muss es auch sonst wären dieaufseiner Basis abgeleiteten Prognosen nämlich regelmäerheben – ßigfalsch. Davon kann indes zumindest imGrundsatz keine Rede sein: Derhomo

oeconomicus hat der ökonomischen Theorie einen gesicherten Bestand an nichtfalsifizierten Hypothesen über Marktentwicklungen beschert. Ferner ist zukonstatieren, dass sich das ökonomische Verhaltensmodell auch undgerade imHinblick auf –Fragestellunalso nicht imklassischen Sinne „marktlicher“ dieAnalyse rechtlicher – genals besonders fruchtbar erwiesen hat. Nicht zuletzt das Recht selbst scheint zumindest imGrundsatz vondiesem Modell auszugehen. Verhaltenssteuerung durch rechtliche Anreize bzw. Sanktionen lässt sich anders garnicht sinnvoll denken: Die abschreckende Wirkung etwavonzivil- oderstrafrechtlichen Sanktionen setzt voraus, dass wirrational handeln unddass erwartete Kosten unseren Entscheidungskalkül

beeinflussen.

8 Ausführlich Horst Eidenmüller, JZ 1999, 53. 9 Der Pionier in den USAist sicherlich Richard A. Posner, Economic

Analysis of Law, 6. Aufl. 2002. Dieselbe Rolle inDeutschland spielen Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott,Lehrbuch derökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2004. 10 Ausführlich undanschaulich dazu Russell B. Korobin/Thomas S. Ulen 88 Cal. L. Rev. 1051, 1061 ff.

(2000).

11 Russell B. Korobin/Thomas S. Ulen 88 Cal. L. Rev. 1051, 1064 ff. (2000) sprechen insoweit vonder self-interest version derrational choice-Modelle. Diese Version dominiert dieökonomische Analyse des Rechts. Sie hateine größere prognostische Kraft als andere Versionen, istaberauch leichter falsifizierbar.

16

Horst Eidenmüller

IV.Die Kritik amhomo oeconomicus Gleichwohl list die Kritik amrational choice-Ansatz alt. Formuliert wurde sie zunächst vorallem vonHerbert Simon, derdemvollkommen rational handelnden Akteur der ökonomischen Modellwelt sein Konzept eines nureingeschränkt rationalen Verhaltens (bounded rationality) entgegensetzte.12 Innerhalb der Institutionenökonomik – wenn auch nicht in der klassischen mikroökonomischen Theorie –hat sich dieses Konzept mittlerweile durchgesetzt.13 Allerdings warundist Simons Kritik wenig spezifisch, thematisiert also keine konkreten Einzelabweichungen vondemModell vollstän-

diger Rationalität, undihrfehlt auch die empirische Fundierung.14

1. Rationalitätsdefizite unduneigennütziges

Verhalten

Genau diese Schwächen haben die Kognitionspsychologie unddie experimentelle Ökonomik indenletzten dreiJahrzehnten zubeseitigen versucht. Bahnbrechende Erkenntnisse auf diesen Gebieten verdanken wirvorallem Daniel Kahneman, Amos Tversky, Richard Thaler undVernon Smith.15 Ihre Arbeiten unddiejenigen anderer Forscher stellen denhomo oeconomicus als Analyseinstrument aufder Basis einer Vielzahl empirisch nachgewiesener Einzeleffekte inFrage.

a) Rationalitätsdefizite beiInformationsaufnahme und-verarbeitung Die meisten dieser Effekte betreffen die bereits erwähnte Annahme technologisch bzw.instrumentell vernünftigen Vorgehens. Entgegen dieser Annahme verhält es sich offenbar nicht so, dass reale Akteure ineiner konkreten Entscheidungssituation alle

relevanten Informationen korrekt aufnehmen undverarbeiten unddiejenige Handlungsalternative wählen, die beieiner Zweck/Mittel-Relation imLichte ihrer eigenen Präferenzen amvorteilhaftesten ist. wieSimon dies schon beschrieb –unsere Fähigkeit Eingeschränkt istzunächst – zurkorrekten Informationsaufnahme. Wirnehmen die Realität nurselektiv wahrund tendieren dazu, Informationen, dieunseren Interessen, Wünschen oderGlaubenssätzen zuwiderlaufen unddamit kognitive Dissonanzen auslösen würden, zu ignorieren.16 Wergerade einKfzeiner bestimmten Marke gekauft hat, wirdvorallem positive Testberichte über sein Auto aufmerksam studieren, negative dagegen tendenziell nicht oder nurflüchtig zurKenntnis nehmen. Darüber hinaus orientieren wirunsvor zurHand“sind (availability bias)17 undwenden allem an Informationen, die gerade „ Daumenregeln an, die uns imEinzelfall möglicherweise eher indie Irre führen. Geschieht ein Unfall, so erscheint uns seine ex ante-Wahrscheinlichkeit imRückblick höher, als sie es aufderGrundlage derobjektiv vorhandenen Daten tatsächlich war 12 Vgl. Herbert A. Simon 69 Q. J. Econ. 99 (1955). 13 Vgl. stellv. Oliver E. Williamson 19 J. of Econ. Lit. 1537, 1545 (1981). 14 Ein„Mehr“ anempirischer Forschung mahnt zuRecht auch Reinhard Selten JITE 146 (1990), 649, 651 an. 15 Daniel Kahneman undVernon L.Smith erhielten imJahre 2002 denNobelpreis fürWirtschaftswissenschaften. Amos Tversky war1996 vorverstorben. 16 Grdlg. LeonFestinger, ATheory ofCognitive Dissonance, 1957. 17 Vgl. Amos Tversky/Daniel Kahneman 5 Cogn. Psychol. 207 (1973).

17

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

(hindsight bias).18 Das kann beispielsweise dazuführen, dass Richter eine Haftung vorschnell bejahen, weil sie von einem zu rigiden Fahrlässigkeitsmaßstab (§ 276 BGB)ausgehen. Wirfiltern Informationen ferner aufgrund einer eigennützigen Disposition (self-serving bias)19 oderdeswegen, weilwirunsere eigene Leistungsfähigkeit zuoptimistisch einschätzen (over-confidence bias).20 Fragt manzweiLebenspartner, welchen prozentualen Anteil der Haushaltsarbeit sie erbringen, so wird die Summe regelmäßig weitüber100% liegen.2196% derProfessoren glauben, überdurchschnittkannunsetwa daÜberoptimismus“ lichgute Professoren zusein.22 Entsprechender „ zuverleiten, Gefahren zuunterschätzen odervoreilig Verpflichtungen einzugehen, die wirspäter dannnicht einhalten können. Beschränkt istaber nicht nurunsere Fähigkeit zurkorrekten Informationsaufnahme. Defizite bestehen auch imBereich der Informationsverarbeitung. DerGrenznutzen zusätzlicher Informationen sinkt aus diesem Grund nicht nur, er wird ab einer bestimmten Informationsmenge sogar negativ.23 Mitanderen Worten: Ein Mehr an Informationen überlastet uns undführt irgendwann nicht zu besseren, sondern zu schlechteren Entscheidungen, weilwirnicht mehrinderLage sind, derInformationsflut Herrzuwerden.

b) Rationalitätsdefizite imEntscheidungsverhalten Auchunser Entscheidungsverhalten selbst entspricht nicht denAnforderungen strikter Rationalität. Hätten wireinkonsistentes, nicht-widersprüchliches Präferenzsystem, so würde beispielsweise

dieBewertung eines bestimmten Gutes

nicht davon abhängen,

obwires besitzen.24 Indes ist genau dies offenbar derFall. Es gibt so genannte Be-

sitzeffekte (endowment effects).25 Ein Theaterbesucher ist einerseits nicht bereit, seine für40 Euro erworbene Karte aufdemSchwarzmarkt für100 Eurozuverkaufen. Er würde andererseits aber niemals auch nurannähernd diese Summe für eine entsprechende Karte ausgeben wollen. Entgegen derökonomischen Logik sind Indifferenzkurven also nicht reversibel, tatsächliche Kosten undOpportunitätskosten werdenvonunsnicht gleichgesetzt. Erklären lässt sich dieses Verhalten mittels desZusammenwirkens dreier Faktoren.26 Erstens sind Veränderungen eines bestimmten status quo (Gewinne oder 18 Vgl. Baruch Fischoff 1 J. Exp. Psychol.: Hum. Percep. Perf. 288 (1975). 19 Vgl. Dale T. Miller/Michael Ross 82 Psychol. Bull. 213 (1975). 20 Vgl. Baruch Fischoff/Paul Slovic/Sarah Lichtenstein 3 J. Exp. Psychol.: Hum. Percep. Perf. 552 (1977).

21 Vgl. Cass R. Sunstein 64 U. Chi. L. Rev. 1175, 1182 (1997). 22 Vgl. Heinrich Wottawa in einem Interview mitSpiegel Online (http://www.spiegel.de/unispiegel/ jobundberuf/0,1518,311471,00.html): „ Nacheiner mirnurmündlich mitgeteilten Untersuchung glau-

ben96 Prozent derProfessoren, überdurchschnittlich gute Professoren zusein.“ 23 Vgl. Jacob Jacoby/Donald E. Speller/Carol A. Kohn 11 J. of Market. Res. 63 (1974). Information overload führt aber natürlich nicht nurzuDefiziten beiderInformationsverarbeitung, sondern auch

zusolchen beiderInformationsaufnahme. 24 Dasgilt vorbehaltlich derExistenz vonEinkommenseffekten, diejedoch regelmäßig

allenfalls

bei

sehr hochwertigen Gütern praktisch relevant werden, vgl. Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl. 1998, 118 ff. m.w.N. 25 Vgl. Richard H. Thaler 1 J. of Econ. Behav. &Org. 39, 44 (1980); Daniel Kahneman/Jack L. Knetsch/ Richard H. Thaler 5 J. of Econ. Persp. 193, 194 ff. (1991). 26 Vgl. Daniel Kahneman/Jack L. Knetsch/Richard H. Thaler 98 J. of Pol. Econ. 1325, 1342 ff. (1990); Daniel Kahneman/Jack L. Knetsch/Richard H. Thaler 5 J. of Econ. Persp. 193, 197 ff., 199 ff. (1991).

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Horst Eidenmüller

Verluste) fürunsoffenbar wichtigere Nutzenträger als Endzustände. Zweitens scheuen wirVerluste (Verlustaversion). Wasals Verlust undwasals Gewinn wahrgenommenwird, hängt drittens schließlich davon ab,wieeinbestimmtes Entscheidungsproblemformuliert wird(framing-Effekte). FürdenBesitzer einer Theaterkarte erscheint deren Aufgabe als Verlust, ihr Erwerb für den Nicht-Besitzer demgegenüber als Gewinn. DieExistenz vonBesitzeffekten stellt dasCoase-Theorem unddamit dieGrundlage der ökonomischen Analyse des Rechts in Frage. Wenn die Bewertung einer bestimmten Rechtsposition vonderen Allokation abhängt, dann bedeutet dies, dass Verhandlungen aufMärkten auch beiNicht-Existenz vonTransaktionskosten keineswegs zwingend zueinem invarianten Ergebnis führen werden. DieAnfangsallokation einer Rechtsposition determiniert vielmehr möglicherweise dieEndallokation. Darauf wirdzurückzukommen sein. Irrationales Entscheidungsverhalten äußert sich nicht nurinBesitzeffekten. Auch diesogenannte sunkcost-fallacy27 gehört hierher: Entgegen derjedem Kreditsachbearbeiter geläufigen Regel, dass mangutes Gelddemschlechten nicht hinterherwerfen soll, beeinflussen versunkene Kosten unsere Handlungen. DieArbeit andemvorJahrenbegonnenen Buchwirdmühsam fortgesetzt, damit sichdieakkumulierten großen Anstrengungen doch noch lohnen –auch wenn keine Aussichten auf einen guten Abschluss bestehen undAlternativprojekte jetzt schneller undmitgrößerem Erfolg realisiert werden könnten. Schließlich drücken sich inunserem Entscheidungsverhalten auchzeitlich inkonsistente Präferenzen aus–entgegen derökonomischen Annahme derPräferenzstabilität. Wirdiskontieren die Zukunft umso stärker, je näher sie rückt. Technisch gesprochen: Unsere Diskontierungsfunktionen haben eine hyberbolische Struktur.28 Aus heutiger Sicht fassen wirbeispielsweise denEntschluss, imnächsten Jahr etwas für unsere Altersvorsorge zutun. Istdas nächste Jahrjedoch da,verschieben wirunser Projekt umeinweiteres Jahr usw.29

c) Uneigennütziges

Verhalten

Neben Rationalitätsdefiziten bei Informationsaufnahme und-verarbeitung sowie im Entscheidungsverhalten sind es vorallem empirisch dokumentierte Abweichungen vonder Eigennutzannahme, die den homo oeconomicus als Analyseinstrument in Frage stellen. Statt ausschließlich unseren Nutzen zumehren, lassen wiruns mehr oderweniger stark auchvonAltruismus, Fairnessgesichtspunkten oderanderen sozialen Normen leiten, undbisweilen sindwirzudem gehässig. Besonders schön zeigt dies eine Vielzahl vonExperimenten mitdemberühmten Ultimatum-Spiel.30 Stellen Sie sich vor, Sie müssten einer beliebig ausgewählten anderen Person einen Vorschlag machen, wieein Geschenk von100 Euro zwischen Ihnen beiden aufgeteilt werden soll. Akzeptiert diese Person denVorschlag, gilt der vonIhnen angebotene Aufteilungsmodus. Lehnt sie ab, geht das Geschenk aneine gemeinnützige Einrichtung. Wasschlagen Sie vor? Ökonomische Logik diktiert Ihnen 27 Vgl. hierzu etwa Christine Jolls/Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler 50 Stan. L. Rev. 1471, 1482 f., 1492 f. (1998). 28 Vgl. David Laibson 112 Q. J. Econ. 443 (1997). 29 Vgl. Andreas Engert ZfA35 (2004), 311, 312 ff. 30 Vgl. dazuetwa Werner Güth/Rolf Schmittberger/Bernd Schwarze 3 J. of Econ. Behav. &Org. 367 (1982).

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Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

Mitspieler und99 Euro fürsich selbst. IhrMitspieler sollte dieses Angebot annehmen –1 Euro istschließlich besser als kein Euro. Tatsächlich liegen dieAngebote beidiesem Spiel indes zumeist imBereich von30 bis 50 Euro. Geringere Beträge werden mehrheitlich abgelehnt31 –sie erscheinen unfair, undIhrMitspieler verzichtet möglicherweise aufvielGeld, umSie fürIhrVerhalten zu bestrafen (spite). DieRelevanz vonFairnessgesichtspunkten inindividuellen Bewertungskalkülen verdeutlicht ferner die reichhaltige Forschung zu demvielleicht berühmtesten Spiel der Spieltheorie, demGefangenendilemma.32 Nicht-kooperatives Verhalten ist hier bekanntlich eine dominante Strategie. Gleichwohl kooperieren dieBeteiligten ineiner ähnlich gelagerten Spielsituation, undzwar nicht nurin den Anfangsrunden einer iterativ durchgeführten Spielserie, sondern auchamEnde einer entsprechenden Serie, ja sie kooperieren teilweise sogar dann, wenn nureine einzige Runde gespielt wird.33 AufderBasis derEigennutzannahme lässt sich dies nicht plausibel erklären. Kooperatives Verhalten erscheint vielmehr als eine Norm, diewiraus intrinsischen – Gründen befolgen. nicht instrumentellen – Das Ultimatum-Spiel und das Gefangenendilemma machen dabei allerdings deutlich, dass die Relevanz von Fairnessgesichtspunkten keineswegs immer zu (inKonflikt- bzw.Verhandlungssituationen) führt. Obes zudiesem „ mehrKooperation“ Ergebnis kommt, hängt vielmehr vondenindividuellen Dispositionen derBeteiligten unddemInhalt dermaßgeblichen Gesichtspunkte imEinzelfall ab, istalso inhohem

einAngebot voneinem Euro fürIhren

Maße kontextgebunden.

2. Konsequenzen fürdieökonomische

Theorie

Welche Konsequenzen ergeben sich nunaus denhier nurausschnittsweise dargestellten, empirisch fundierten Effekten für das ökonomische Verhaltensmodell und– allgemeiner –die ökonomische Theorie? Die Antwort auf diese Frage ist lebhaft umstritten.

a) Stabilität und Relevanz der Effekte

derökonomischen Analyse des Rechts begegneten denneuen Erkenntnissen zunächst mitgroßer Skepsis. AusLaborexperimenten mit Studenten, so hieß es, könne nicht aufdas Verhalten vonrealen Marktteilnehmern geschlossen werden. Etwaige Rationalitätsdefizite beidiesen würden jedenfalls durch weilnicht „ erfolgLerneffekte oderdadurch eliminiert, dass diebetroffenen Akteure – –vondeneinschlägigen Märkten verschwänden.34 Selbst beidauerhafter Präreich“ Viele Ökonomen bzw.Vertreter

31

32 33

34

Genau gesagt liegt dieWahrscheinlichkeit, dass Vorschläge abgelehnt werden, diederGegenseite weniger als 1/5 gewähren, zwischen 0,4 und0,6. Vgl. Ernst Fehr/Klaus Schmidt, Theories of Evidence andEconomic Applications, Institute forEmpirical Research in Fairness andReciprocity – University ofZurich, Working Paper No.75, abrufbar unter http://www.iew.unizh.ch/wp/ Economics – iewwp075.pdf m.w.N. Vgl.zudiesem etwa Shaun P. Hargreaves Heap/Yanis Varoufakis, GameTheory, 1995, 146ff. Vgl. Robyn M. Dawes/Richard Thaler 2 J. of Econ. Persp. 187, 188 ff. (1988). Die Experimente betrafen dieNachfrage nachöffentlichen Gütern. Auchhieristes fürjeden Spieler eine dominante Strategie, nicht zukooperieren, also nichts zurFinanzierung des öffentlichen Gutes beizutragen, obwohl auch sie/er es gerne haben möchte (free rider-Effekt). Vgl. etwa Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1570 f. (1998).

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Horst Eidenmüller

senz bestimmter irrationaler Phänomene beeinflussten diese ökonomische Prognosenjedenfalls dannnicht, wennsie nicht beiderMehrheit derbetroffenen Marktteilnehmer aufträten odersichjedenfalls gegenseitig neutralisierten.35 Keines dieser Argumente kannvollständig überzeugen. Dieempirische Basis für diehierdiskutierten Phänomene istgesichert, auchimMarktumfeld undunter Berücksichtigung vonLerneffekten: Unsere Möglichkeiten der„ zurRationaSelbsterziehung“ lität sind offenbar begrenzt.36 Auch ist es nicht richtig, dass rationalitätsschwache Akteure zwingend vomMarkt verdrängt werden: DasmagfürUnternehmen gelten, die sich nachhaltig vomZiel derGewinnmaximierung verabschieden, nicht aber fürnatürliche Personen, diealsVerbraucher bestimmte Geschäfte praktisch tätigen müssen –vomBrötchenkauf biszumErwerb vonVersicherungspolicen. Gerade hierliegt aber

einwesentliches Anwendungsfeld derökonomischen Analyse desRechts. Schließlich kannes imEinzelfall zwarzutreffen, dass Rationalitätsdefizite ökonomische Prognosen nicht tangieren, wennsie nurwenige Personen betreffen, sich gegenseitig neutralisieren oder aber durch professionelle Akteure ausgenutzt werden können. Man denke etwa andie Preisbildung aufdenKapitalmärkten, sofern die Einschätzungen der Marktteilnehmer symmetrisch umeinen effizienten Mittelwert verteilt sind oder aber Intermediäre mitüberlegener Rationalität undüberlegenem Wissen denKurs in Richtung des effizienten Wertes treiben. Selbst aufKapitalmärkten aber gibt es irrationales Herdenverhalten.37 DieHoffnung aufdieprognostische Irrelevanz vonRationalitätsdefiziten ist also immer dann unbegründet, wenndiese Defizite systematisch auftreten undbeiallen relevanten Akteuren indieselbe Richtung weisen. Dasaber ist bei den hier diskutierten Phänomenen häufig der Fall. Gerade imHinblick auf die Steuerungswirkung vonRechtsnormen kommt es nämlich darauf an,wiesich dievon denjeweiligen Normen Betroffenen verhalten.38 Betroffen aber ist oft nurein kleiner Ausschnitt derGesamtbevölkerung, unddieser wirdmöglicherweise auchnursituativ erfasst –so etwa beiHaustürgeschäften undihren Folgen. b) Ökonomische Erklärungen Lassen sichStabilität undRelevanz derdiskutierten Effekte fürdenRegelfall demnach kaumbestreiten, so stellt sich dochdieFrage, obdiese nicht vielleicht jedenfalls teilweise mitdenMitteln derökonomischen Theorie erklärt werden können. Mitanderen Worten: Nicht alles, was irrational erscheint, ist es auch zwingend. So entspricht es etwa der Rationalitätsannahme, den eigenen Informationsstand nur so lange zu

verbessern, wiederGrenznutzen

derInformationssuche dieGrenzkosten

übersteigt.

Auch der Rückgriff auf bestimmte Daumenregeln kann sich als ökonomischer Umgang mitUnsicherheit erweisen.39 Insbesondere Richard Posner hat versucht, vermeintliche Irrationalitäten auf

. Wergerne Hummer esse, damit abersofort aufhöre, diese Weise zu„ rationalisieren“ nachdem er gesehen habe, wie seine Speise aus demBassin ins kochendheiße

Vgl. etwa Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1556 f. (1998). Vgl. Daniel A. Farber 68 U. Chi. L. Rev. 279, 292 f. (2001). Vgl. allgemein Andrei Shleifer, Inefficient Markets, 2000. Ebenso Russell B. Korobin/Thomas S. Ulen 88 Cal. L. Rev. 1051, 1072 (2000): „ To be useful for legal policy, behavioral theories need to predict (with reasonable success) the likely responses to legal rules of the particular classes of actors to whomthe rules are geared, whether or notthe responses ofother classes ofactors would likely be identical.“ 39 Vgl. Mark Kelman 50 Stan. L. Rev. 1577, 1584 (1998).

35 36 37 38

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

21

Dampfbad befördert werde, unterliege nicht zwingend einer irrationalen availability heuristic indemSinne, dass er die neuerlangte Information unverhältnismäßig stark gewichte. Der Betreffende habe vielmehr möglicherweise einfach Präferenzen für zwei verschiedene Arten von Gütern –Hummer sei eben nicht gleich Hummer.40 Besitzeffekte erklärt Posnervor allem mittels einer Kombination ausevolutionsbiologigegeben, wer scher Entwicklung (inprähistorischer Zeit habe es nur„ Besitzrechte“ seinen Besitz verlor, sei im Nachteil gewesen), rationalen Präferenzanpassungen (manlernt zuschätzen, wasmanhat)unddemFehlen naher Substitute.41 Auchfürdie Ergebnisse beim Ultimatum-Spiel greift Posner auf die Evolutionsbiologie zurück: The offer of the penny would signal to the respondent the proposer’s belief that the „ respondent holds a lowsupposai ofhisownworth, thatheisgrateful forscraps, thathe accepts being ill-used, that he has nopride, nosense of honor. This weak-spirited creature is just the type whoina prepolitical, vengeance-based society would have been stamped on byhis aggressive neighbors and, thus deprived of his resources, 42 have left few offspring.“ Dasmagvielleicht sosein, möchte manPosnerzurufen, aberderRückgriff aufdie Evolutionsbiologie hilft uns allenfalls zu verstehen, warum wirheute bisweilen ein Verhalten an denTag legen, das früher einmal rational gewesen sein mag, es inausheuzwischen abernicht mehrist. Unberührt bleibt dieTatsache, dass wiruns– bisweilen offenbar irrational verhalten. Willmandasökonomische Verhaltiger Sicht – retten“ , dannmuss manökonomisch argumentieren. Insoweit ist Posner tensmodell „ zunächst darin zuzustimmen, dass es imEinzelfall plausible ökonomische Erklärungenfürvermeintliche Irrationalitäten geben kann. Beurteilen lässt sich daszumeinen immer nuraufderBasis eines empirisch präzisen Bildes aller messbaren undpotentiellrelevanten Faktoren undzumanderen imLichte dertheoretischen Überzeugungskraft des jeweiligen Erklärungsansatzes. Deshalb ist etwa Posners Deutung von Besitzeffekten wenig stichhaltig. Dennrationale Präferenzanpassungen unddas Fehlen naher Substitute lassen sich durch ein geeignetes Versuchsdesign empirisch Gewöhausschließen: Es gibt instant endowment effects,43 also Besitzeffekte ohne „ , undes gibt sie auch aufMärkten mitleicht ersetzbaren Gütern.44 Aus nungsphase“ adhoctheoretischer Sicht problematisch sindvorallem empirisch nicht überprüfbare „ Reparaturen“ amökonomischen Verhaltensmodell. Dazugehört etwa dieAnnahme, Präferenzen hätten sich plötzlich geändert oderes bestünden –wieindemHummerBeispiel –Präferenzen fürunterschiedliche Güter.45 Aufdiese Weise wird die prognostische Kraft desökonomischen Modells massiv geschwächt. Eine überzeugende Deutung aller hier diskutierten Effekte imRahmen eines konventionellen ökonomischen Ansatzes istjedenfalls, das kannfestgehalten werden, nicht möglich.

40 Vgl. Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1553 f. (1998). 41 Vgl. Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1565 ff. (1998). Daneben mageine Rolle spielen, dass mansichindieNutzung bestimmter Güter „ (Lesen derBedienungsanleitung etc.) undso einarbeitet“ Transaktionskosten spart. Damit lassen sich allerdings instant endowment effects nicht erklären, vgl. dazusogleich imText. 42 Vgl. Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1564 (1998). 43 Vgl. Daniel Kahneman/Jack L. Knetsch/Richard H. Thaler 98 J. of Pol. Econ. 1325, 1342 (1990). 44 Dieinstant endowment effects beiDaniel Kahneman/Jack L.Knetsch/Richard H.Thaler 98J. ofPol. Econ. 1325 (1990) betrafen etwa preiswerte (einige US-$) coffee mugs. 45 Krit. insoweit auch Daniel A. Farber 68 U. Chi. L. Rev. 279, 293 ff. (2001).

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Horst Eidenmüller

c) Anpassung desökonomischen

Verhaltensmodells

Dieökonomische Theorie steht damit vorderHerausforderung, denhomooeconomicusimLichte stabiler undrelevanter Rationalitätsdefizite, diesystemimmanent bisher nicht erklärbar sind, zurekonstruieren. Zweifellos gehtdiese Anpassungsaufgabe mit einem Verlust an Simplizität undGeneralität des ökonomischen Verhaltensmodells einher: Dienotwendige Metamorphose des homooeconomicus macht ihnmenschlicher. Sie macht ihndamit aberauchkomplizierter. Indes sollte diese Entwicklung nicht miteiner „Enttheoretisierung“des ökonomischen Ansatzes gleichgesetzt werden.46 Keineswegs geht es darum, dieverwirrende Vielfalt menschlichen Verhaltens gewissermaßen einfach staunend zurKenntnis zunehmen. Ausökonomischer Sicht muss das Ziel vielmehr nach wievordarin liegen, die entsprechenden Effekte zumeinen empirisch undtheoretisch zuerfassen (Unter welchen Umständen undmitwelcher Intensität werden sie ausgelöst?) undzumanderen aufderBasis eines reformulierten Verhaltensmodells aussagekräftige undpotentiell falsifizierbare ökonomische Hypothesen zuentwickeln. Das ist durchaus möglich. So haben Kahneman undTversky beispielsweise die Theorie des Erwartungsnutzens nicht einfach aufgegeben. Sie haben sie vielmehr durch einen neuen entscheidungstheoretischen Ansatz, dieprospect theory, ersetzt.47

Richtig ist allerdings, dass dieerforderliche Anpassung des ökonomischen Verhaltensmodells zuweniger weit reichenden, also spezielleren Theorien (Mikrotheoriklassischen“homo oeconomicus en) führen wird, als sie auf der Grundlage des „ möglich waren.

V.Einzelne schuldrechtliche Fragestellungen imLichte eines ökonomischen Verhaltensmodells

reformulierten

Genau daran arbeitet dieneue Forschungsrichtung derbereits zuBeginn dieses Beitrages erwähnten Behavioral Lawand Economics. ImFolgenden werde ich deren Forschungsprogramm an einzelnen schuldrechtlichen Fragestellungen illustrieren. ObBehavioral LawandEconomics eine Zukunft hat, muss sichandenAntworten auf entsprechende Fragestellungen erweisen. Eine auch nurannähernde Vollständigkeit derAnalyse strebe ichhiernaturgemäß nicht an.

1. Informationspflichten

Zueinem wesentlichen Gegenstand derschuldrechtlichen

Forschung hatsich inden letzten Jahren vorallem die Phase voreinem etwaigen Vertragsschluss entwickelt. Aufnationaler wieeuropäischer Ebene ist das so genannte „Informationsmodell“in aller Munde: Verbraucherschutz sollvorrangig durch denAusgleich vonInformationsdefiziten verwirklicht werden, umso insbesondere aufdastendenziell interventionistische Instrument einer Inhaltskontrolle (weitgehend) verzichten zukönnen.48 ImZuge

46 So aber Richard A. Posner 50 Stan. L. Rev. 1551, 1558 ff. (1998). 47 Daniel Kahneman/Amos Tversky 47 Econometrica 263 (1979). 48 Vgl.etwa Franz Bydlinski AcP204 (2004), 309, 360ff., sowie dieWürdigung vonStefan Grundmann, DieDurchsicht derMaßnahmen zeigt, dass fast Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999, 197f.: „ immer neben eherpunktuell eingesetzten Verbots- undGebotsregeln auchweitgehend flächendeckende Transparenzregeln stehen, dieeine informierte Entscheidung unddamit letztlich Privatautonomie fördern sollen.“

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

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derVerwirklichung dieses Regulierungsansatzes ist es inzwischen jedoch zueiner solchen Fülle vonInformationspflichten gekommen, dass mansichzusehends fragen muss, obdiese dieEntscheidungsqualität des Informierten, undsei eraucheinmündiger Verbraucher imSinne derRechtsprechung des EuGH,49 wirklich nochverbessern. Allein der Umfang der BGB-Informationspflichten-Verordnung macht deutlich, konsequentere“Umsetzung des Informationsmodells letztlich zu dass die immer „ dessen Scheitern führen wird. Möglicherweise isthierundinvielen anderen Bereichen derPunkt eines information overload mitderFolge verschlechterter Verbraucherentscheidungen bereits erreicht. Dabei gibt es durchaus Alternativen jenseits derInhaltskontrolle vonVerträgen. So kannderGesetzgeber beispielsweise durch behutsame Maßnahmen dieEntstehungvonInformationsmärkten unterstützen, aufdenen Informationsintermediäre die notwendige Ausgleichsfunktion übernehmen (Förderung vonVerbraucherzentralen etc.). Vorallem abersollte inZukunft einbesonderes Augenmerk aufdiePräsentation derzugewährenden Informationen gerichtet werden. Wennes beispielsweise richtig ist, dass wirverlustavers sind unddass lebhafte undpersonalisierte Informationen besser wahrgenommen werden als statistische Erkenntnisse (availability heuristic), ungleich wirksamer als derHinRauchen kannSie töten“ dannistetwadieBotschaft „ weis aufStudien, nach denen Nichtraucher imVergleich zuRauchern eine umX % erhöhte Lebenserwartung besitzen. Kognitionspsychologie undMarketing-Forschung können insofern vielzureffektiven Erreichung gesetzgeberischer Ziele beitragen.

2. Widerrufsrechte Die hinsichtlich der Funktion und Effektivität von Informationspflichten relevanten Erkenntnisse derKognitionspsychologie lassen sichauchfüreine Analyse vonWiderrufsrechten fruchtbar machen. Unser Zivilrecht kennt eine große Zahlentsprechender Rechte, dietypischerweise dem„ Vertragspartner dieBefugnis geben, schwächeren“ seine auf den Abschluss eines bestimmten Vertrages gerichtete Willenserklärung binnen eines bestimmten Zeitraums zuwiderrufen (vgl. etwa §§ 312, 312 d,355, 495 BGB, 8 Abs. 4 VVG). DemWiderrufsberechtigten soll damit die Möglichkeit gegeben werden, seine Vertragsentscheidung nochmals inRuhe zuüberdenken undgegebenenfalls zukorrigieren (cooling off-period). Jedenfalls dort, woUmstands- oderZeitmomente eine privatautonome Entscheidungsfindung regelmäßig erschweren, erscheint durch eine entsprechende Befugnis vielgewonnen. Wurde jemand beispielsweise anderHaustür „ undzueiner unbedachten Unterschrift verleitet, überrumpelt“ reichen 14Tage sicherlich aus, umsich sorgfältig Gedanken darüber zumachen, ob manamso geschlossenen Vertrag tatsächlich festhalten möchte. ImLichte derbereits diskutierten Erkenntnisse zurReduktion kognitiver Dissonanzen, zuBesitzeffekten undzuversunkenen Kosten (sunk costs) fällt die Bewertung demgegenüber deutlich weniger optimistisch aus: Wirtendieren dazu, eingerade für Gelderworbenes Gutauchdannzubehalten, wenndies nicht nutzenmaximierend ist. Die praktischen Erfahrungen mitWiderrufsrechten bestätigen diese Skepsis: Nur ganzwenige Verträge werden tatsächlich widerrufen. So wurden etwafürHaustürge1,8 % festgestellt.50 Vordiesem Hintergrund schäfte einmal Widerrufsquoten von0,8– 49 Vgl. stellv. EuGH, Urt.v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 (GutSpringenheide), Slg. 1998, I-04657 Rn.31, 37. Weitere Nachweise bei R. Streinz/Brigitta Lurger, EUV/EGV, 2003, Art. 153 EGV Rn. 12. 50 Vgl. BT-Drucks. 10/2876 v. 15.2.1985, 7 f. (1,8 % aller Bestellungen werden bei vertraglich einge-

räumtem Lösungsrecht rückgängig gemacht). Michael Lehmann GRUR 1974, 133, 140 (nach Angaben desArbeitskreises „ betrage dieRücktrittsquote 0,8 %). Gutberaten –zuHause gekauft e.V.“

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Horst Eidenmüller

liegt die Schlussfolgerung nahe, dass eine effektive Unterstützung privatautonomer Entscheidungsfindung andere (oder jedenfalls zusätzliche) Wege gehen muss. Zumindest zuerwägen isteine rechtskonstruktive Ausgestaltung desVertragsschlusses bei entsprechenden Geschäften derart, dass diese nurwirksam werden, wenn der Widerrufsberechtigte“sie innerhalb von14 Tagen bestätigt. Demsubjektiven Ein„ druck, das Geschäft sei bereits perfekt, unddendurch diesen Eindruck ausgelösten

psychologischen Mechanismen ließe sichso entgegenwirken.

3. Verhandlungsunterstützung Einen zentralen Stellenwert innerhalb des schuldrechtlichen Forschungsprogramms der Behavioral Lawand Economics besitzen ferner Verhandlungshindernisse und deren Beseitigung. Wirhatten bereits gesehen, dass beispielsweise Besitzeffekte einen effizienzfördernden Austausch auf Märkten verhindern unddamit das CoaseTheorem infragestellen können. Auch zugroßer Optimismus, die sunk cost fallacy oderaber Verlustaversion führen möglicherweise dazu, dass Verhandlungen scheitern, obwohl es allseits vorteilhafte Lösungsmöglichkeiten gibt. Wiesollte das Recht aufentsprechende Kooperationsdefizite reagieren?

a) Simulierung vonVerhandlungsergebnissen Eine Möglichkeit besteht darin, (hypothetische) erwünschte Verhandlungsergebnisse durch dispositive Rechtsnormen zusimulieren. Derneue § 275 Abs. 2 BGBgewährt demSchuldner einer Leistung beispielsweise das Recht, diese zuverweigern, soweit ... einen Aufwand erfordert, derunter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältsie „ nisses undderGebote vonTreuundGlauben ineinem groben Missverhältnis zudem Leistungsinteresse des Gläubigers steht.“ Ausökonomischer Sicht würde mansagen: DerLeistungsaustausch ist krass ineffizient (geworden), da die Kosten denNutzen weitübersteigen.51 Handelten die Beteiligten indieser Situation beiAbwesenheit vonTransaktionskosten wiehomines oeconomici, dannwürden sie das Verpflichtungsverhältnis ohne weiteres freiwillig auflösen: Es gibt einen Kooperationsgewinn inHöhe derDifferenz vonLeistungskosten undLeistungsnutzen zuverteilen. Schuldner undGläubiger würdeneine Abstandszahlung irgendwo imBereich zwischen beiden Werten vereinbaren –wogenau, hinge vonihrem jeweiligen Verhandlungsgeschick ab. ImErgebnis stündenbeide damit jedenfalls besser alsbeieiner Erbringung derLeistung. Indes steht zu befürchten, dass kognitive oderstrategische Verhandlungshindernisse dazuführen, dass das erwünschte Resultat inderRealität möglicherweise verfehlt wird. Diedispositive Normdes§ 275 Abs.2 BGBstellt sicher, dass dies nicht geschieht. Insofern istdie Normallerdings sehr schuldnerfreundlich, ermöglicht sie diesem dochzumindestbeinicht zuvertretenden Leistungshindernissen einen Ausstieg ausdemVertrag gegen eine Abstandszahlung von„Null“ .

51 Vgl. Horst Eidenmüller JURA2001, 824, 832. Ebenso jetzt MünchKommBGB/Wolfgang Ernst, Bd. 2 a, 4. Aufl. 2003, § 275 Rn.74.ZurGeschichte derVorschrift vgl.vorallem Claus-Wilhelm Canaris JZ 2001, 499, 501 ff.

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b)Abbau vonVerhandlungsbarrieren Eine andere Möglichkeit, Kooperationsdefiziten zu begegnen, liegt imAbbau von Verhandlungsbarrieren –je geringer diese sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich kooperative, effizienzfördernde Lösungen durch Verhandlungen einstellen. Betrachten wirbeispielsweise einmal Vergleichsverhandlungen imVorfeld einer möglichengerichtlichen Auseinandersetzung. Hätten dieBeteiligten eine übereinstimmende Einschätzung hinsichtlich der Prozessaussichten, würden sie sich sofort einigen können. Sämtliche Prozesskosten ließen sichsparen, also einerheblicher Kooperationsgewinn realisieren. Ungerechtfertigter Optimismus, dieWahrnehmung eines Vergleichs als Verlust (relativ zudemangestrebten Ziel) und/oder das Gefühl, dass sich die in den Konflikt bereits investierten Ressourcen doch irgendwie gelohnt haben müssen, führen gleichwohl häufig zumScheitern vonVergleichsverhandlungen.52 Zwarkönnen die Konfliktbeteiligten Instrumente einsetzen, die ihnen helfen, etwaige Rationalitätsdefizite zu kompensieren (debiasing strategies). Dazu gehören etwasogenannte Prozessrisikoanalysen.53 Indes sinddieMöglichkeiten derSelbsterziehung zurRationalität, wiewirbereits gesehen hatten, offenbar begrenzt –sonst würde beispielsweise von entsprechenden Analysen häufiger Gebrauch gemacht. DasRecht kannhierhelfen, dieVerschleuderung vonKooperationsgewinnen zuverhindern, indem es etwa die Mediation oder andere Formen deraußergerichtlichen vonderAufklärung überentsprechende StreitbeilegungsKonfliktbeilegung fördert – formen bis hinmöglicherweise zueiner Pflicht, sich ihrer voreiner Klageerhebung zu bedienen.54

4. Inhaltskontrolle Weitaus heikler als eine juristische Verhandlungsunterstützung durch dispositive Vorschriften oderaberdurch denAbbau vonVerhandlungshindernissen sindEingriffe in die Vertragsfreiheit mittels zwingenden Rechts. Aus ökonomischer Sicht sind zwingende Rechtsnormen grundsätzlich suspekt, beschränken sie dochdenRaumfür privatautonome Gestaltungen unddamit prima facie auchdieMöglichkeiten effizienzfördernden Austauschs. Natürlich kann es Fälle geben, in denen diese Vermutung widerlegt ist. Mandenke etwa andieKontrolle vonAllgemeinen Geschäftsbedingungen(§§ 305 ff. BGB), dieauchausökonomischer Sicht aufgrund derrationalen (nicht irrationalen!) Ignoranz derKlauselgegner unddesdadurch ausgelösten Mechanismus der adversen Selektion gerechtfertigt ist.55 Ähnliches gilt dann, wenn Verträge mit negativen externen Effekten fürDritte verbunden sind. Davon abgesehen scheinen zwingende Rechtsnormen jedoch regelmäßig aufeine illegitime paternalistische Intervention hinauszulaufen. Ausführlich Horst Eidenmüller, in:Mediation inderAnwaltspraxis, M.Henssler/L. Koch(Hg.), 2. Aufl. 2004, § 2 Rn. 3 ff. m.w.N. 53 Vgl. Horst Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5 ff. 54 § 15a EGZPO gibt den Ländern die Möglichkeit, bei bestimmten Streitigkeiten –zudiesen gehören vermögensrechtliche Konflikte miteinem Streitwert nicht überEuro750–vorKlageerhebung einen

52

55

obligatorischen Güteversuch vorzuschreiben. DieVorschrift ist aus vielen Gründen zukritisieren, unter anderem deshalb, weil derGüteversuch bei einem imMahnverfahren geltend gemachten Anspruch nicht vorgeschrieben ist (§ 15a Abs. 2 Ziff. 5 EGZPO). Grundlegend zuradversen Selektion George A.Akerlof 84 Q.J. Econ. 488 (1970). ZurRelevanz dieses Mechanismus fürdiejuristische AGB-Kontrolle vgl.etwa MünchKommBGB/Jürgen Basedow (Anm. 51), Vor § 305 Rn. 4 ff.; Michael Adams BB 1989, 781; Hein Kötz JuS 2003, 209.

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Horst Eidenmüller

Indes muss insoweit zwischen zwei verschiedenen Formen des Paternalismus differenziert werden: einem harten Paternalismus, derzumZielhat, individuelle Präferenzen zuverändern, undeinem weichen, demes darum geht, denMarktteilnehmern zu helfen, präferenzkonforme Entscheidungen zutreffen.56 Wenn undsoweit Rationalitätsdefizite dazuführen, dass wirunsselbst schädigen, erscheint einSchutz durch zwingende Rechtsnormen gerechtfertigt.57 Solche Rationalitätsdefizite können nach dembereits Ausgeführten tatsächlich bestehen. Besonders bedeutsam sind insoweit unser empirisch dokumentierter Überoptimismus hinsichtlich unserer eigenen Leistungsfähigkeit sowie die Unterschätzung von Risiken, insbesondere bei

zukunftsbezogenen Entscheidungen. Dafür gibt es eine Vielzahl vonBeispielen mitschuldrechtlicher Relevanz. Man denke etwaandieNichtigkeit vonVerträgen überdaseigene zukünftige Vermögen (§ 311b Abs. 2 BGB) sowie an die Inhaltskontrolle vonVertragsstrafeversprechen (§§ 309 Nr. 6, 343 BGB), Schadenspauschalierungen (§§ 309 Nr. 5, 242 BGB) oder Buchwertklauseln beiderAbfindung vonGesellschaftern.58 Inallen Fällen gehtes um Vereinbarungen, deren Akzeptanz bei den Beteiligten eine Antizipation undBewertung zukünftiger Ereignisse voraussetzt: dereigenen Fähigkeit zurVertragserfüllung bzw.derWahrscheinlichkeit desAusscheidens auseiner Gesellschaft undderBedürftigkeit indiesem Fall. Wennes zutrifft, dass wirimHinblick aufunsere eigene Leistungsfähigkeit tendenziell zuoptimistisch sind, undwenn es ferner zutrifft, dass wir zukünftige Ereignisse mitKosten/Nutzen-Wirkungen nicht nurstark, sondern sogar hyperbolisch diskontieren, dann wird man einer entsprechenden Inhaltskontrolle durchaus aufgeschlossen begegnen können, undzwarauchaußerhalb des Bereichs Allgemeiner Geschäftsbedingungen.59

VI.Normative Implikationen vonBehavioral LawandEconomics Diebisherige Diskussion hat, so hoffe ich, gezeigt, dass Behavioral LawandEconomics einneues Licht aufalte juristische Fragestellungen zuwerfen vermag, auchund gerade imSchuldrecht. Es lohnt sich, die normativen Implikationen dieser jungen Disziplin abschließend nochetwas differenzierter sind nämlich durchaus vielschichtig.

1. Fundierung gesetzgeberischer

zubetrachten.

Diese Implikationen

Entscheidungen

Derunmittelbare

Nutzen einer ökonomischen Rechtstheorie aufderBasis eines die Erkenntnisse der Kognitionspsychologie berücksichtigenden Verhaltensmodells liegt darin, dass gesetzgeberische Entscheidungen aufeiner fundierteren Basis getroffen werden können. Wenn empirisch abgesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, wie

56 Vgl. insoweit Cass R. Sunstein/Richard H. Thaler, Libertarian Paternalism is notan Oxymoron (erscheint demnächst in:U.Chi.L.Rev.), http://www.ssrn.com/abstract_id=405940. Vgl.auchHorst

Eidenmüller (Anm. 24), 374 ff. 57 Ebenso wohl Christoph Engel, RabelsZ 67 (2003), 406, 409 f. 58 Vgl. etwa BGHNJW 1985, 192, 193; NJW 1989, 2685, 2686. 59 Vgl. Jeffrey J. Rachlinski, 85 Cornell L. Rev. 739, 747 f., 758, 760 ff. (2000) (für pauschalierten Schadensersatz –krit. insoweit allerdings Robert A.Hillman, 85 Cornell L. Rev. 717 ff. (2000): Aus Überoptimismus folge nicht zwingend die Ineffizienz einer Schadenspauschalierung); Holger Fleischer (Anm. 4), 581 f. (für Buchwertklauseln).

27

Derhomooeconomicus unddas Schuldrecht

Menschen in konkreten Situationen auf Rechtsnormen reagieren, dann kann ganz unabhängig vonderjeweils verfolgten gesetzgeberischen Zielsetzung prognostiziert werden, obundinwelchem Umfang dieses ZielimEinzelfall erreicht werden wirdbzw. welche –möglicherweise höchst unerwünschten –Nebenwirkungen auftreten werden. Offensichtliche gesetzgeberische Fehlschläge lassen sich sovermeiden.

2. Kontrafaktisches

Festhalten

amstrikten Rationalitätsmodell?

Bei diesem Ansatz wird reales

menschliches Verhalten allerdings gewissermaßen

eins zueins als Grundlage derRechtspolitik herangezogen. DieFrage liegt nahe, ob

nicht unter Umständen kontrafaktisch ein bestimmtes Verhaltensmodell normativ vorgeben sollte, insbesondere: obnicht unter bestimmten Voraussetzungen kontrafaktisch amstrikten Rationalitätsmodell derÖkonomik –mitAusnahme allerfestgehalten werden sollte. ZuBeginn dieses Beitrages dings des Eigennutzaxioms – habe ichdavon gesprochen, dass rechtliche Regeln nicht nurHandlungsmöglichkeiteneröffnen undHandlungsbedingungen verändern, sondern auchWerte transportieren. Darauf istjetzt zurückzukommen. Würde die gesamte Rechtspolitik am real existierenden Individuum mit allen seinen Rationalitätsdefiziten ausgerichtet, dann ließen sich zwar gesetzgeberische Fehlschläge, die aufirrigen Verhaltensannahmen aufbauen, vermeiden. Das Recht täte in diesem Fall aber auch nichts dafür, diese Rationalitätsdefizite abzubauen. Anders gewendet: Es würde sich aufsie einrichten, sie reflektieren unddamit auch stabilisieren. Wennwirselbstbestimmtes, rationales menschliches Verhalten normativ für ein erstrebenswertes Ziel halten, dann tun wirmöglicherweise gut daran, die Rechtsordnung gewissermaßen aufeinem überschießenden Rationalitätsfundament zuerrichten.60 Nurdannbesteht fürunsalle dieChance, Fehler zumachen undaus diesen zulernen. Werimmer beschützt wird, derwirdzwareinbehütetes, aber kein würdevolles Leben führen, wieJohn Stuart Milldies eindrucksvoll dargelegt hat.61 Natürlich muss insoweit situationsspezifisch differenziert werden: Je gravierender die Konsequenzen von Fehlentscheidungen im Einzelfall sind, desto leichter ist rechtlicher Schutz begründbar. Besteht also beispielsweise einhohes Risiko erheblicher physischer Schäden oder lebenslanger, die eigene Handlungsfreiheit extrem reduzierender finanzieller Verbindlichkeiten, dann liegt juristische Protektion gegen Rationalitätsdefizite nahe. Anders verhält es sich bei geringfügigen Risiken. Das macht Abwägungsentscheidungen unentbehrlich, aberdies ist innerhalb derRechtswissenschaft nichts Ungewöhnliches undein methodisch tief durchdrungenes Gebiet.62

das Recht

3. Beeinflussung des Effizienzkalküls durch das Recht Eineweitere normative Implikation vonBehavioral LawandEconomics betrifft schließlich denBewertungsmaßstab, mitdemdieökonomische Analyse arbeitet: denEffizi60 DieErziehung derMenschen zumEigennutz gehört dazuallerdings einige Passagen vorher imText.

nicht.

Daserklärt denEinschub

61 John Stuart Mill, OnLiberty, in:J. S. Mill, OnLiberty andUtilitarianism, 1993 (Erstausgabe 1871), 69,

126. 62 Vgl. stellv. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1986, 78 ff. undpassim.

28

Horst Eidenmüller

enzkalkül. Die Frage, ob Recht effizient sein sollte undwie sich dieses Postulat möglicherweise philosophisch begründen lässt, hat bekanntlich zunächst inden 80er Jahren desletzten Jahrhunderts indenUSAunddannzuBeginn der90erJahre auch in Deutschland füreine lebhafte Diskussion gesorgt.63 Inzwischen ist insoweit eine deutliche Beruhigung eingetreten. Ichhatte bereits erwähnt, dass dieökonomische Analyse des Rechts die juristische Forschungslandschaft jedenfalls in den USA inzwischen klardominiert. Behavioral LawandEconomics setzt nunabernicht nureinFragezeichen hinter das traditionelle ökonomische Verhaltensmodell des vollkommen rational undeigennützig handelnden Individuums. Auchderökonomische Effizienzkalkül als normative Grundlage derökonomischen Analyse des Rechts gerät ins Wanken: Wenndie Bewertung einer bestimmten Rechtsposition imEinzelfall aufgrund vonBesitzeffekten davon abhängt, obmandiese Position innehat odernicht, dannistdamit nicht nurder Invarianzthese des Coase-Theorems die Grundlage entzogen. Es lässt sich hier unabhängig vonderjeweiligen Rechtslage auch nicht mehrsagen, welches dieeffiziente Allokation ist. Mitanderen Worten: Was als effizient erscheint, ist in dieser Situation eine Funktion des Rechts –derökonomische Kalkül liegt demjuristischen dannalso nicht voraus, es verhält sichvielmehr umgekehrt. WerdemImperialismus derÖkonomik schon immer skeptisch gegenüberstand, derwirddiese Erkenntis positiv aufnehmen, ist mitihrdochoffenbar einRückgewinn verloren geglaubter rechtswissenschaftlicher Autonomie verbunden. Allerdings sollte mandiesen Effekt auch nicht überschätzen: Genauso wenig, wie wirständig als irrationale Wesen durchs Leben irren, verliert der ökonomische Effizienzkalkül als normativer Maßstab durch kognitionspsychologische Effekte völlig seine Brauchbarkeit. Er misst vielleicht nicht mehr millimetergenau, aber er misst für die meisten juristischen Zwecke immer noch genau genug. Zweifellos richtig ist indes, dass Behavioral LawandEconomics nicht nurdenhomooeconomicus menschlicher, sondern rechtsnäher“gemacht hat. DerAkzeptanz auch den ökonomischen Effizienzkalkül „ dieser Forschungsrichtung unter Juristen kann dies, so ist zu hoffen, nurförderlich

sein.

63 Vgl. insoweit stellv. Horst Eidenmüller (Anm. 24), Teil3 miteiner Vielzahl weiterer Nachweise.

Nils

Jansen*

Theoriebildung

indereuropäischen Privatrechtsdogmatik

Daseuropäische Privatrecht hatimLaufe derletzten zehnJahre erheblich anDynamik gewonnen: Mittlerweile istdemFacheine Reihe vonLehrstühlen gewidmet, undes ist zumGegenstand einer Vielzahl vonLehrbüchern bzw. handbuchartigen Darstellungen1undauchvonspezialisierten Zeitschriften geworden.2 ImFolgenden solldaher der Frage nachgegangen werden, was unter einer Dogmen- bzw. Theoriebildung im europäischen Privatrecht zuverstehen ist,undwelche methodischen Zielvorgaben und Maßstäbe dafür gelten. Einsolches Vorhaben istfreilich nicht ganz leicht. Zumeinen juristischen Dogmas“ bzw.eines „ sindnämlich dieBegriffe einer „ juristischen Theorie“ europäischen Privatrechts“ unklar; zumanderen steht überhaupt dieVorstellung eines „ im Streit. Die Untersuchung muss damit grundlegende Fragen zumjuristischen Rechtsbegriff undzurjuristischen Theoriebildung aufwerfen.

I. DerRechtsbegriff dereuropäischen Privatrechtswissenschaft DerBegriff des europäischen Privatrechts bildet denGegenstand einer Kontroverse zwischen engen, ausschließlich normbezogenen Ansätzen, die allein Normen als Elemente des Rechts anerkennen, undweiteren Ansätzen, die zusätzlich Wissenselemente indenBegriff des Rechts inkludieren. DaderStreit auch vonsubjektiven Erkenntnisinteressen seiner Protagonisten geprägt ist, könnte manihnprima vista als irrelevant abtun. Indes isteinklarer Begriff deseuropäischen Privatrechts fürdasVerständnis dereuropäischen Privatrechtsdogmatik unverzichtbar; zudem kanner Erhellendes zurFrage des Begriffs des Rechts beitragen. Nachderengen normbezogenen Auffassung istdaseuropäische Recht identisch mitderSumme derPrivatrechtssätze derEuropäischen Union. Genauer handelt es sich umdie privatrechtlichen Regeln des Primärrechts, die privatrechtlichen Aussagen einzelner Richtlinien undVerordnungen, die privatrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie das Richterrecht aufdieser Grundlage.3 Füreinen solchen Ansatz *

1

2 3

Lehrstuhl fürDeutsches

undEuropäisches Privatrecht, Römisches Recht undPrivatrechtsgeschich-

te anderHeinrich-Heine-Universität zuDüsseldorf

wardie monographische Darstellung Ernst Rabels zum„Recht des Warenkaufs“ (1936). Ausderheutigen Literatur, diesich ihrem Gegenstand freilich aus ganz unterschiedlichen Richtungen nähert, insbesondere HeinKötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd.I, 1996; Christian von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, 2 Bde., 1996/1999; Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, 2. Aufl. 2003; Peter Schlechtriem, Restitution undBereicherungsausgleich inEuropa, 2 Bde., 2000/2001. Spezifisch zumRecht derEuropäischen Union KarlRiesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, 2003; Wolfgang Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003. Eine Darstellung aufderGrundlage des römisch-gemeinen Rechts findet sich bei Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 2 Bde., 1985/1989; Reinhard Zimmermann, TheLawofObligations. RomanFoundations oftheCivilian Tradition, paperback ed. 1996. ZumGanzen AxelFlessner, Juristische Methoden undeuropäisches Privatrecht, JZ 2002, 14. Stefan Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1999, 7 f.; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht (Anm. 1),30 ff.; vgl.auchPeter-Christian Müller-Graff, Privatrecht undeuropäisches Gemeinschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, 27 ff. Fraglich ist dabei insbesondere, ob die privatrechtliche Richtlinie oder das privatrechtlich umgesetzte bzw. privatrechtlich umzusetzende nationale Recht als europäisches Privatrecht gelten soll. Dasisthierabernicht vonInteresse. Grundlegend

30

Nils Jansen

spricht prima vista, dass er sich ohne weiteres mitdemRechtsbegriff dermodernen Rechtstheorie vereinbaren lässt, diedasRecht mitdenineiner Gesellschaft geltenden Rechtsnormen identifiziert.4 Recht ist danach die Summe derNormen, die aufgrund eines staatlichen Anwendungsbefehls denRichter binden. DerGegenstand dereuropäischen Privatrechtswissenschaft reicht freilich zumeist Rechtslehre“ überdasGemeinschaftsprivatrecht hinaus.5 Nicht anders alsdiefrühere „ bzw. Rechtstheorie6 formuliert sie Sätze, deren Anwendungsbereich nicht auf eine spezifische Rechtsordnung beschränkt ist. IhrGegenstand istdasPrivatrecht Europas imSinne einer wissenschaftlich lehr- unddarstellbaren Menge vonKategorien und Grundbegriffen, Regeln undGrundsätzen desPrivatrechts, wiees deneinzelnen europäischen Rechtsordnungen zugrunde liegt.7 Das Gemeinschaftsprivatrecht ist eine zentrale Säule dieses europäischen Privatrechts,8 kanndieses schon aufgrund seines fragmentarischen Charakters jedoch nicht allein tragen. Nicht zuletzt deshalb bezieht dieeuropäische Rechtswissenschaft sichdaneben insbesondere auchaufdieeinzelneneuropäischen Rechtsordnungen,9 wobei dieAnnahme, dass sichaufdieser Grundlage möglicherweise gemeinsame Grundsätze darstellen lassen, durchaus nicht unplausibel ist. Denndienationalen Rechtsordnungen haben sichjeweils aufderGrundlage des ius commune entwickelt, einem europäischen Diskurs, der die einzelnen kontinentalen Rechtsordnungen ebenso miteinander intellektuell verbunden hat wie das common lawmitkontinentalem Rechtsdenken.10 Dabei haben internationale Forschergruppen11 bereits seit den80erJahren versucht, das europäische Privatrecht in der Form von restatements12 zu reformulieren. Die daraus resultierenden quasi-

4 5

Statt aller Robert Alexy, Begriff undGeltung des Rechts, 2. Aufl., 1994 m.w.N. Vordiesem gemeinsamen Hintergrund sind danndie Kriterien zurQualifikation vonNormen als Recht einerseits unddieFrage nachdemGeltungsgrund des Rechts andererseits streitig. Hierzu undzumFolgenden Jansen, Konturen eines europäischen Schadensrechts, JZ 2005, 160 f. m.w.N.

6 Dazu Ralf Dreier, ZurTheoriebildung in derJurisprudenz, in: FS Helmut W. Krawietz (Hg.), 1978, 103, 106, 129 f.

Schelsky,

F. Kaulbach/

Kötz, Vertragsrecht I (Anm. 1), vf.; Reinhard Zimmermann, Savignys Vermächtnis, 1998, 18 ff., 28 ff.; ders., Roman Law,Contemporary Law,European Law,2001, 107ff. 8 Jürgen Basedow, Anforderungen an eine europäische Zivilrechtsdogmatik, in: Rechtsgeschichte undPrivatrechtsdogmatik, R.Zimmermann u.a. (Hg.), 1999, 79, 81 ff. miteiner zutreffenden Kritik an einer europäischen Privatrechtswissenschaft unter Ausblendung des Gemeinschaftsprivat-

7

rechts.

9 AxelFlessner, JZ 2002, 15; Kötz, Vertragsrecht I (Anm. 1), vf. 10 Reinhard Zimmermann, Die Principles of European Contract Lawals Ausdruck undGegenstand Vielfalt imRahmen ... übergreifender intellektueller Europäischer Rechtswissenschaft, 2003, 17f. („ Einheit“ ); ders., Dereuropäische Charakter desenglischen Rechts, ZEuP 1993, 4, 8 ff., 34 ff., 43 ff.; Raoul C. vanCaenegem, European Lawinthe Past andthe Future. Unity andDiversity overTwo Milennia, 2002, 1 ff., 13ff., 22 ff. Siehe auch Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im17. und18.Jahrhundert, lusCommune 3 (1970), 64 ff.; w.N.beiJansen, Schadensrecht 11

12

(Anm.

5), 161.

Einen Überblick über die verschiedenen europäischen Forschergruppen undNetzwerke bietet Wolfgang Wurmnest, Common Core, Grundregeln, Kodifikationsentwürfe, Acquis-Grundsätze – Ansätze internationaler Wissenschaftlergruppen zur Privatrechtsvereinheitlichung in Europa, ZEuP2003, 714 ff. Neben denimFolgenden genannten Gruppen ist insbesondere nochdie Study Group on a European Civil Code hervorzuheben, die einen Vorentwurf für ein Europäisches Zivilgesetzbuch formulieren möchte; dazu Christian v.Bar, DieStudy Group ona European Civil Code, in: FS Dieter Henrich, P. Gottwald u.a. (Hg.), 2000, 1 ff. Umgenuine restatements imSinne deramerikanischen Diskussion (dazu Thomas Schindler, Die Restatements undihre Bedeutung fürdas amerikanische Privatrecht, ZEuP 1998, 277ff.) handelt es sich dabei freilich nicht, weiles aufgrund des Bezugs aufdivergierende Kodifikationen an der

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

31

autoritativen, rechtsordnungsübergreifenden Regelwerke, insbesondere diePrinciples ofEuropean Contract Law13 unddiePrinciples ofEuropean Tort Law,14 bilden heute die dritte Gruppe vonQuellen des europäischen Privatrechts. Insgesamt wirddamit also eineVielzahl unterschiedlicher Normsysteme miteinem je unterschiedlichen Geltungsanspruch zumGegenstand einer einheitlichen integrativen Rechtswissenschaft. artpour Mancher mageine derartige Rechtswissenschaft als einakademisches l’ artabtun, demeingeltungsfreier Rechtsbegriff15 zugrunde liege.16 Indes wäreeinsoll’ ches Verständnis verfehlt: Das europäische Privatrecht soll seinem Anspruch nach gerade nicht ein„ ideales“Recht sein, auf dessen Ingeltungsetzung die beteiligten Wissenschaftler hoffen.17 Vielmehr handelt es sichumeine Darstellung desinEuropa tatsächlich geltenden Rechts; dass in den einzelnen Rechtsordnungen in einem hinreichenden Maßegleiches Recht gilt, daseinen Anknüpfungspunkt füreine einheitliche, übergreifende Rechtswissenschaft bietet, istdabei vorausgesetzt (undgegebenenfalls nachzuweisen). Umgekehrt sinddieeinzelnen nationalen Privatrechte unddas Recht derEuropäischen Union beieinem solchen Verständnis jeweils einkonkret in Geltung gesetzter Ausdruck dieses gemeineuropäischen Privatrechts. Zumindest indirekt bzw.mittelbar istderRechtsbegriff einer derartigen europäischen Privatrechtswissenschaft aufNormen geltenden Rechts bezogen.

1. Rechtsnorm undjuristischer Lehrsatz Rechtstheoretisch setzt ein derartiger Ansatz allerdings voraus, dass anerkannte dogmatische Erklärungen rechtlicher Zusammenhänge (juristische Lehrsätze) überhaupt einElement des Rechts bilden. Dennes gehtja gerade nicht umdieDarstellung eines konkreten Normsystems, sondern umdieverbindenden dogmatischen Struktureneiner Vielzahl positiver Rechtsordnungen. Dabei erschöpft die Rechtsdogmatik18 sich freilich ganz allgemein nicht inderDarstellung undauslegenden Präzisierung zumindest theoretisch vorausgesetzten Annahme eines einheitlichen Rechts fehlt: Ole Lando, European Contract Law,Am.J.Comp.L. 31 (1983), 653, 657; Ernst A.Kramer, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung, JBI. 1988, 477, 484; Ralf Michaels, Privatautonomie undPrivatkodifikation. ZuAnwendbarkeit undGeltung allgemeiner Vertragsrechtsprinzipien, RabelsZ 62 (1998), 580,

585 ff. 13 Ole Lando, Hugh Beale, Principles of European Contract Law, Part I/II, 2000 (übersetzt: Christian v.Bar, Reinhard Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, 2002); OleLando, Eric Clive, André Prüm, Reinhard Zimmermann, Principles ofEuropean Contract Law,Part III,2003. derEuropean Group 14 ZEuP 2004, 427 ff.; dazuHelmut Koziol, Die„Principles ofEuropean Tort Law“ on Tort Law, ZEuP 2004, 234 ff. 15 ZurUnterscheidung geltungsfreier undnicht geltungsfreier Rechtsbegriffe Alexy, Begriff undGeltung des Rechts (Anm. 4), 44 ff. m.w.N. 16 Indiese Richtung indes Kötz, Vertragsrecht I (Anm. 1), vi. 17 Anders liegt es beiderStudy-Group (Anm. 11), die sich umdie Vorbereitung eines Europäischen Zivilgesetzbuchs bemüht. Aberdazu ist es noch zufrüh; näher Jansen, Binnenmarkt, Privatrecht undeuropäische Identität, 2004, 3 ff., 81 ff. 18 DerBegriff der Dogmatik wird heute uneinheitlich verwendet; vgl. etwa Josef Esser, Dogmatik zwischen Theorie undPraxis, in:FS Ludwig Raiser, F. Bauru.a. (Hg.), 1974, 517, 533f.; Dieter de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, in: Dogmatik undMethode, FS Josef Esser, R. Dubischar u.a. (Hg.), 1975, 85, 90 ff.; Robert Alexy, Theorie derjuristischen Argumentation, 3. Aufl., 1996, 307ff. m.w.N. Hierwirddeshalb vomweniger missverständlichen Konzept desjuristifasst eine Menge anerkannter juristischer Lehrsätze Dogmatik“ schen Lehrsatzes ausgegangen. „ zusammen; juristische Theorien (unten 57 ff.) sindwissenschaftliche Hypothesen bzw.Vorschläge derartiger Lehrsätze.

32

Nils Jansen

geschriebener Normen.19 ImVordergrund steht zumeinen dierekonstruktive Formulierungallgemeiner Rechtsgrundsätze,20 zumanderen dieanalytische undsynthetische Darstellung normativer Zusammenhänge, dieüberdieBehauptung einer Normhinausgehen, gleichwohl aberzumindest mittelbar aufRechtsnormen bezogen sindunddiese ineiner typischerweise generalisierenden Formjuristisch erklären.21 Wennderartige Lehrsätze einElement desRechts bilden, sobesteht dieses alsonicht nurausNormen, sondern auchausirreduzibel deskriptiven Sätzen. Konkret könnten etwaderSatz„ Das subjektive Recht ist durch seine Ausschlussfunktion undseinen Zuweisungsgehalt

gekennzeichnet“ 22oderdieLehre vonder„Zweispurigkeit desHaftungsrechts“ 23alsein möglicherweise auchdeseuropäischen –Rechts gelten. Bestandteil desdeutschen – Einesolche Annahme istindes nicht ganzunproblematisch. Dennderartige juristische Lehrsätze sind zumindest partiell deskriptiv, also wahrheitsfähig; sie können mithin falsch sein. Demgegenüber sindNormen ausschließlich präskriptiv; siekönnen alsonur gelten oderauchnicht. Juristische Lehrsätze sindeinGegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Normen einGegenstand derRechtssetzung und-anerkennung. Lehrsätze .24Beides scheint nicht zusamDenkzwänge“ erzeugen keine Handlungs-, sondern „

menzupassen. Dieses Nebeneinander vondeskriptivem Richtigkeits- undnormativem Geltungsanspruch hat die (juristische) Dogmatik als eine anwendungsorientierte, praktische Wissenschaft25 seitjeher geprägt: Nicht anders als inderMedizin, inderderBegriff der Dogmatik übrigens geprägt worden ist,26 geht es inderRechtswissenschaft umpraktisch handlungsleitende Sätze. Allerdings besteht das Ziel der Rechtsdogmatik nicht in deroriginären Begründung vonRechtsnormen, sondern in derrekonstruktiven Beschreibung eines Bestands vongesetzlichen oder richterrechtlichen Normen. Juristische Lehrsätze sollen damit wahrheitsfähig sein; zugleich sollen sie allerdings auch neuejuristische Schlüsse ermöglichen.27 Diedaraus resultierende Spannung lässt sich

19 Zumsemantischen Normbegriff statt aller Robert Alexy, Theorie derGrundrechte, 3. Aufl. 1996, 42 ff.Juristische Lehrsätze bestehen typischerweise nicht inderBehauptung einer Norm, sondern in derBeschreibung teleologischer Zusammenhänge oder begrifflicher Festlegungen, deren Bedeu-

tung sich nicht aufdieBeschreibung einer Summe vonNormen reduzieren lässt. Verständnis der regulae iuris in D.50,17 bereits etwa Ulrich Zasius, In primam partem digestorum paratitla (Opera omnia, Lyon1550, Bd.I),zuD.1,3,7 (legis virtus): „ omnes iuris regulae ... dogmaticae ... sunt, docent, erudiunt, dant regulas“ . 21 Anschaulich Esser, Dogmatik zwischen Theorie undPraxis (Anm. 18), 533f. 22 Vgl. Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, 373 ff.; w.N.beiJansen, DieStruktur desHaftungsrechts. Geschichte, Theorie undDogmatik außervertraglicher Ansprüche aufSchadensersatz, 2003, 476. 23 Josef Esser, Die Zweispurigkeit unseres Haftungsrechts, JZ 1953, 129 ff.; ders., Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 2. Aufl. 1969, 69 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2 (Anm. 22), 354, 607. 24 Vgl. Ulrich Meyer-Cording, KannderJurist heute nochDogmatiker sein?, 1973, 15undöfter; Esser,

20 Fürein solches

Dogmatik zwischen Theorie

undPraxis

(Anm.

25 Alexy, Grundrechte (Anm. 19), 26 f. 26 Dienegative Konnotation desjuristischen

18), 532 f. undöfter.

Dogmenbegriffs aufgrund

derVerbindung mittheologi-

schen Dogmen beruht also aufeinem falschen Vorverständnis. Ausführlich undgrundlegend zur

27

Begriffsentwicklung Maximilian Herberger, Dogmatik. ZurGeschichte vonBegriff undMethode in Medizin undJurisprudenz, 1981, passim. Vgl. bereits Azo,Summa iniuscivile, Lyon1574, prooemium adsummam institutionum (vorl.1.1): die dogmata des Institutionenlehrbuchs Justinians formulierten ein fürdie Gesetzesanwendung unverzichtbares Wissen; sie bildeten beiderGesetzesanwendung denAusgangspunkt regelmäßigerSchlußfolgerungen. Siehe auchZasius, Inprimam partem digestorum (Anm. 20), zuD.1,3,17 (scire leges): „ . Heute besonders klarZenon Bankowski, exquadoctrina infererimus conclusiones“

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

33

freilich prozedural auflösen, soweit dieArgumentationsregel gilt, dass dieVerwendung eines Lehrsatzes beiderEntscheidungsfindung berechtigt ist,sofern derSatzüberzeugendbegründet oderineiner qualifizierten Formanerkannt28 ist. DieRechtstheorie des20. Jahrhunderts hatdieRechtsdogmatik unddamit wissenschaftliche Lehrsätze bei der Formulierung des Begriffs des Rechts weitgehend29 ausgeblendet.30 Zwarwirddas Recht normalerweise nicht aufstaatliche Gesetze reduziert, sondern schließt Gewohnheits- undRichterrecht mitein.31 Dochunterscheidet sichbeides strukturell nicht vonstaatlichen Gesetzen: Einrichterliches Urteil lässt sich ohneweiteres alsderautoritative Ausspruch einer Normverstehen unddamit ineinen

ausschließlich normbezogenen Rechtsbegriff einfügen. Lehrsätze waren demgegenüberbiszuletzt keinThema desRechtsbegriffs mehr;32 erstjüngst, interessanterweise ausvergleichender bzw.europäischer Perspektive, scheint sich daszuändern.33 Robert S. Summers, Jerzy Wróblewski, On Method and Methodology, in: Interpreting Statutes, D.N.MacCormick/R.S. Summers (Hg.), 1991, 9, 19f. Esser hat aufdieser vonderArbeit „ mitdiesem Arbeit amjuristischen Instrumentarium dogmatischer Prägung“ Linie die„ unterschieden: Dogmatik zwischen Theorie undPraxis (Anm. 18), 518; siehe auch Instrumentarium“ Claus-Wilhelm Canaris, Funktion, Struktur undFalsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, 377, 378: juristischer Theorien; Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 308, 313 f. produktives Element“ „ m.w.N. herrschenden Hier liegt die argumentationstheoretische undinstitutionelle Bedeutung der sog. „ ; dazunochunten S. 48 f. Meinung“ Siehe aber Thomas Drosdeck, Dieherrschende Meinung –Autorität als Rechtsquelle, 1989, 89 ff., 119ff. undöfter, imRekurs aufsoziologische Literatur, insbesondere Niklas Luhmann, Rechtssy-

D. Neil MacCormick,

28 29

stem und Rechtsdogmatik, 1974, 15 ff.

Die 30 Dies gilt insbesondere für Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 72 ff., 196ff.: „ (74); Herbert Rechtswissenschaft hatdas Recht –gleichsam vonaußen her–... zubeschreiben“ L.A. Hart, TheConcept ofLaw,2. Aufl. 1994, besonders 91 ff.Ferner Alexy, Begriff undGeltung des Rechts (Anm. 4); ders., Grundrechte (Anm. 19), 24; hier wird die „ empirische Dimension“der

Rechtsdogmatik ausschließlich aufGesetze undRichterrecht, nicht aber aufanerkannte dogmatische Lehrsätze bezogen. Zwarhatdiejuristische Argumentation imRahmen derBeschreibung des Rechts als eines Systems vonProzeduren einen unverzichtbaren Platz, undindiesem ZusammendieRede (ders., DieIdee einer hangistauchvonder„Bindung anGesetz, Präjudiz undDogmatik“ prozeduralen Theorie derjuristischen Argumentation, in:Rechtstheorie, Beiheft 2, 1981, 177, 187). Docherläutert Alexy dabei weder das Konzept derDogmatik noch seine Bindungswirkung näher. Siehe schließlich insbesondere auchFranz Bydlinski, Juristische Methodenlehre undRechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, 183ff., 300ff., 317ff., dessen gezielt mit Blick auf die Dogmatik formulierter, nichtpositivistischer, „ wertbezogener“Rechtsbegriff zwar fundamentale Rechtsgrundsätze, nicht aberjuristische Lehrsätze miteinschließt. 31 Kelsen, Rechtslehre (Anm. 30), 242 ff.; Hart, Concept of Law (Anm. 30), 96 f., 141 ff., 272 ff.

(Postscript).

32 Vgl.repräsentativ DirkLooschelders,

33

Wolfgang Roth, Juristische Methodik imProzeß derRechtsanwendung, 1996, passim, die davon ausgehen, dass der Richter ausschließlich an Gesetz und Gewohnheitsrecht gebunden sei, soweit nicht ausnahmsweise ein Vertrauen auf eine ständige forschende Rechtsprechung Schutz verdiene. Die juristische Dogmatik ist dabei kein Thema, „ Tätigkeit“ strikt vonderRechtsanwendung getrennt (vgl. etwaS. 116ff.). Nurscheinbar anders Eike v.Savigny, DieRolle derDogmatik –wissenschaftstheoretisch gesehen, in:Juristische Dogmatik undWissenschaftstheorie, ders. (Hg.), 1976, 100, 107, dessen Begriff derDogmatik nurnormative Aussagen enthält, dieauchGegenstand vonRichterrecht seinkönnten; vgl.dens., Methodologie der Dogmatik, a.a.O., 8 f. Vgl. Mark vanHoecke, Mark Warrington, Legal Cultures, Legal Paradigms andLegal Doctrine: Towards a New Model for Comparative Law, IntCompLQ 47 (1998), 495, 521 ff. Claus-Wilhelm im Canaris, DieStellung der„ UNIDROIT Principles“ undder„Principles ofEuropean Contract Law“ System derRechtsquellen, in:Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung unddeutsches Recht, J. Basedow (Hg.), 2000, 5, 9 ff., deranerkannte rechtliche Argumente undRechtsprinzipien sowie außergesetzliche Rechtsinstitute, wie (seinerzeit) die Lehre vonderGeschäftsgrundlage oder die

34

Nils Jansen

Diese Verkürzung des Rechtsbegriffs verwundert nicht nurdeshalb, weil die Verbindung präskriptiver unddeskriptiver Aussagen indenDigesten überJahrhunderte Juristenrecht“ als selbstverständlich galt34 unddie historische Schule im„ sogar den Kerndes Rechts gesehen hatte.35 Auchheute gilt derrichtige Umgang mitdogmatischen Lehrsätzen als eine Voraussetzung korrekter juristischer Argumentation;36 gekennzeichnet, „ Franz Wieacker hatsie geradezu als „ Regeln“ dieunabhängig vom Gesetz allgemeine Anerkennung undBefolgung beanspruchen“ .37Vorallem lässt sich dasgeltende Privatrecht abergarnicht zutreffend beschreiben, ohne aufdogmatisch formulierte, technische Begriffe, wiedas„ subjektive Recht“ oderdas„ , Rechtsgeschäft“ Abstraktionsgrundsatz“ bzw.aufallgemein anerkannte Lehren, wieden„ oderdieLehre vonden„Verkehrspflichten“ , zurekurrieren,38 nurausnahmsweise, wiein§ 903 BGB, Eingang indas Gesetz gefunden.39 Derrichterliche Richhaben derartige „ Dogmen“ tigkeitsanspruch beruht angesichts alldessen auchheute nicht nuraufeiner korrekten Anwendung des Gesetzes, sondern auch auf der richtigen Anwendung juristischen Wissens.40 Erbezieht sich damit auch aufdenrichtigen Umgang mitrechtlichen Argumenten undaufdeskriptiv formulierte juristische Lehrsätze. EineThese vom„ Todder 41wirddemnicht gerecht. Meine erste These lautet daher: Dogmatik“ nichtpositiven Rechtsbegriff“mit Rechtsgewinnungsquellen“in einen „ culpa in contrahendo, als „ einschließen will, allerdings dabei leider aufdenStatus derDogmatik bzw.derjuristischen Lehrsätze nicht eingeht. Nochweiter Aleksander Peczenik, Grundlagen derjuristischen Argumentation, 1983, 57 ff., dessen Rechtsbegriff freilich ebenfalls aufNormen reduziert ist: a.a.O., 30. DervonCanaris zugrundegelegte Rechtsbegriff warfreilich auchzuvor nicht ganz klar: WennRechtssysteme nicht aus Normen, sondern aus Rechtsprinzipien bestehen sollen, die einzelne Normen verknüpfen (Systemdenken undSystembegriff inderJurisprudenz, 2. Aufl., 1983, 27, 41 ff., 48 f.), so wird(mir) nicht ganzdeutlich, obdasSystem Teildes Rechts oderseiner davon zutrennenden (wissenschaftlichen) Beschreibung ist; vgl. kritisch auch Susanne Bracker, Kohärenz undjuristische Interpretation, 2000, 96 ff., 98. 34 Zasius, In primam partem digestorum (Anm. 20), zu D.1,3,7 (legis virtus); vgl. noch Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung derPandecten nach Hellfeld –einCommentar fürmeine Zuhörer, Bd.1, Erlangen 1790, 50 ff., 52 (Glück wollte seine Zeit allerdings nuran die Normen im engeren Sinne, nicht andiedogmatischen Sätze des römischen Rechts gebunden sehen); Nikolaus Falck, Juristische Encyclopädie, R. v. Jhering (Hg.), 5. Aufl., Leipzig 1851, 4 (§ 1): „ Unter Recht verstehen wireinen Inbegriff vonGrundsätzen, Vorschriften undRegeln ...“ . 35 Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin 1840, Bd. I, 45 ff., 50 ff.; Georg Friedrich Puchta, Cursus derInstitutionen, A.Rudorff (Hg.), Bd.I,5. Aufl., Leipzig 1856, 35 ff. (§ 15). Siehe auch noch Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1891, Bd. I, 59 ff. (§ 24). 36 Josef Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP172 (1972), 97, 104; Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 334, 366; Thomas Schlapp, Theoriestrukturen undRechtsdogmatik, 1989, 54; UweDiederichsen, AufdemWegzurRechtsdogmatik, in:Rechtsgeschichte undPrivatrechtsdogmatik (Anm. 8), 65, 66 ff. 37 Zurpraktischen Leistung derRechtsdogmatik, in:FS Hans-Georg Gadamer, D.Henrich u.a. (Hg.), Bd.II,1970, 311, 319; ähnlich Alexy, DieIdee einer prozeduralen Theorie derjuristischen Argumen-

tation (Anm.

30), 177.

38 Vgl. zumenglischen 39

Recht Geoffrey Samuel, English Private Law: OldandNewThinking inthe Taxonomy Debate, OJLSt. 24 (2004), 335, 342 ff. DerAntrag, § 903 BGBzustreichen, weilimGesetz fürLehrsätze kein Platz sei, wurde abgelehnt: Kommissionsbericht, 4, in:Benno Mugdan, Diegesammten Materialien zumBürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1899, Bd. III, 997. Im 18. Jahrhundert galt es demgegenüber nochals einZielkunstgerechter Gesetzgebung, denerforderlichen dogmatischen Rahmen festzuschreiben: Johann Georg Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, Frankfurt a.M. 1789, 161,

338 ff.

. Manche 40 Josef Esser, AcP172 (1972), 99: „Kunstfehler“

Richter entscheiden bekanntlich nicht

derGrundlage desGesetzes, sondern allein mitHilfe des Palandts.

41 Meyer-Cording, Dogmatiker

(Anm.

24), 32 ff.

auf

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

35

(1) Einadäquater Rechtsbegriff schließt indenBegriff des Rechts auch wissenschaftlich erklärende, deskriptive Sätze überNormen undnormative Zusammenhänge mitein(juristische Lehrsätze). Miteinem solchen weiten Rechtsbegriff wirddasRecht alseinInbegriff präskriptiver unddeskriptiver Sätze verstanden. Dabei bildet eine derartige Inkorporation von Elementen, die über die Normen des positiven Rechts hinausgehen, grundsätzlich keine Besonderheit.42 Sie ist lediglich dieKonsequenz eines prozeduralen Rechtsbegriffs, derinderjuristischen Argumentation einzentrales Element des Rechts sieht.43 Dennbeieinem solchen Verständnis müssen auchdievonRechts wegen verbindlichen Argumente unddamit auch Lehrsätze zu einem Bestandteil des Rechts werden. Allerdings geht es hier nicht umdas Positivismusproblem einer Ergänzung des positiven Rechts umPrinzipien deröffentlichen Moral, sondern umspezifisch rechtliche, juristische Lehrsätze, die sich durchaus als ein Bestandteil des positiven Rechts verstehen lassen.44 Derstärkste mögliche Einwand gegen diese Inklusion vonWissenselementen in denBegriff des Rechts besteht ineinem Reduzierbarkeitsnachweis. Juristische Lehrsätze wären danach unselbständige Bestandteile einzelner odermehrerer Normen und würden nuraus pragmatischen Gründen abstrakt diskutiert.45 Bei Wortgebrauchsregeln, die häufig als Beispiel dogmatischer Lehrsätze angeführt werden,46 wäre ein solcher Einwand auchdurchaus plausibel. Anders liegt es jedoch beiderjuristischen , Zweispurigkeit desHaftungsrechts“ Kategorienbildung, beiStrukturaussagen, wieder„ RechtsgeundbeiderFormulierung kategorienbildender Elementarbegriffe, wiedem„ . Derartige Begriffe tauchen weder unmittelbar nochmittelbar beiderFormulieschäft“ rungeinzelner Normen auf;sie sindjedoch fürdasVerständnis des Rechts undfürdie Frage derRelevanz undderZulässigkeit konkreter normativer Argumente vonzentraler Bedeutung. Eine Reduktionsthese istdeshalb unplausibel undjedenfalls bislang nicht belegt.47

Hierkann offen bleiben, ob Lehrsätze ein notwendiges Element des Rechts bilEs genügt darauf hinzuweisen, dass keine westliche Rechtsordnung ohne

den.48

42 ZurFrage derInkorporationskriterien unten S. 48 f. 43 Alexy, Begriff undGeltung des Rechts (Anm. 4), 117ff.; allerdings 44

45 46

47

48

bezieht Alexy sich dabei auf rechtliche bzw. moralische Prinzipien, also aufdeontisch formulierbare Normen. Siehe aber auch dens., DieIdee einer prozeduralen Theorie derjuristischen Argumentation, dazuobenAnm.30. Für Canaris, Principles (Anm. 33), 10 ff., ist die Inklusion rechtlicher Argumente in das Recht demgegenüber Ausdruck eines nichtpositiven Rechtsbegriffs. Aberdas vermischt inunglücklicher Weise zweiProblemkreise: zumeinen dieklassische Frage desVerhältnisses vonRecht undMoral, zumanderen dieadäquate Beschreibung des Rechts, wiees inderalltäglichen juristischen Argumentation zugrundegelegt wird, ohne dass sich moralische Geltungsprobleme stellen. Einsolches Verständnis findet sich etwa bei Eike v.Savigny; siehe obenAnm.32. Eike v.Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus, Jb. für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 97, 98; vgl. auch Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 316. Zutreffend die Einschränkung bei Claus-Wilhelm Canaris, Theorienrezeption undTheorienstruktur, in: FS Kitagawa, 1992, 59, 76. Vgl. kritisch auch Schlapp, Theoriestrukturen (Anm. 36), 61. Vgl. Hoecke/Warrington, IntCompLQ 47 (1998), 522 ff.; Canaris, Theorierenzeption undTheorienelementaren Gerechstruktur (Anm. 46), 61 ff., 63:aufgrund epistemischer Gründe undwegen des„ tigkeitsgebots“ des Gleichheitsgrundsatzes sei „(ein gewisses Minimum von) Theorie fürdie Entscheidung vonRechtsfällen unerläßlich“ . Ähnlich Robert Alexy, Juristische Begründung, System undKohärenz, in: Rechtsdogmatik undpraktische Vernunft, in: Rechtsdogmatik undpraktische Eine juristische BegrünVernunft, Symposion Wieacker, O.Behrends u.a. (Hg.), 1990, 95, 106: „ dung, diesich nicht einmal implizit aufeinSystem bezieht, ... wird ... elementaren Anforderungen . derGerechtigkeit nicht gerecht“

36

Nils Jansen

derartige rechtsdogmatische Elemente auskommt.49 Privatrecht istinEuropa nicht nur eine Summe vonRechtsnormen, sondern ebenso einCorpus überlieferten kulturellen Wissens.50 Gegenüber anderen praktischen Argumenten, etwaderöffentlichen Moral, haben juristische Lehrsätze aufgrund ihres technischen Bezugs aufeinodermehrere Rechtssysteme einen spezifischen Status, derihnen einbesonderes argumentatives Gewicht verleiht. Dass sie trotz ihres autoritativen Charakters als deskriptive Sätze unter demVorbehalt besserer Erkenntnis stehen undals normative Aussagen im praktischen Diskurs revidiert werden können, versteht sichvonselbst.51 Alsrechtliche Argumente gelten sie ja nicht ratione imperii, sondern imperio rationis.

2. Nationales

Recht undeuropäische Lehre

DerGedanke eines europäischen Privatrechts setzt darüber hinaus voraus, dass dogmatische Argumente auchdanneinen berücksichtigungsfähigen Bestandteil eines Rechtssystems bilden können, wenn sie nicht spezifisch fürdieses Rechtssystem formuliert worden sind. Diessteht freilich querzumtraditionellen Begriff derjuristischen Dogmatik, dienachallgemeinem Verständnis aufeine konkrete, positive Rechtsordnungbezogen seinsoll;52 zugleich verschwimmen damit dieidentitätsstiftenden Grenzen einzelner Rechtsordnungen. Gleichwohl haben führende Zivilrechtslehrer, wie Canaris, europäische Lehren mittlerweile indenargumentativen Fundus ihrer „ Rechtsgewinnungsquellen“mit einbezogen undziehen daraus weitreichende Schlüsse.53 Aucheuropäische Gerichte, insbesondere derEuGH,54 aberauchdasHouse ofLords55 49 Vgl. aus jeweils ganz unterschiedlicher Perspektive Bankowski u.a., OnMethod (Anm. 27), 19f.; Robert S. Summers, Michele Taruffo, Interpretation and Comparative Analysis, in: Interpreting

50 51 52

53

54

55

Statutes (Anm. 27), 461, 465 ff.; Konrad Zweigert, HeinKötz, Einführung indie Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, 95 ff., 145 ff., 262 ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1972, 504 ff.; H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 2000, 132 ff., 226 ff.; Basedow, Europäische Zivilrechtsdogmatik (Anm. 8), 84 ff.; zum(amerikanischen) common lawauch Josef Esser, Grundsatz undNorminderrichterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, 190ff., 197 ff. Vgl.auchZimmermann, Principles (Anm. 10), 18:vomGesetzgeber vorausgesetzte Lehrbuchsätze. Wieacker, Praktische Leistung (Anm. 37), 320 ff.; Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 324 f.; Schlapp, Theoriestrukturen (Anm. 36), 21 ff., jeweils m.w.N. zurvon Missverständnissen geprägten früheren Diskussion. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, 229; Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 306 ff.; R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 123; Canaris, Theorierenzeption undTheorienstruktur (Anm. 46), 75; Diederichsen, Rechtsdogmatik (Anm. 36), 66. Füreinen weiterenBegriff siehe Esser, Dogmatik zwischen Theorie undPraxis (Anm. 18), 519. Canaris, Principles (Anm. 33), 13 ff., 29 ff. mitdemVorschlag einer vertraglichen Gewinnhaftung in Anlehnung an Art.2.16 S. 2 der UNIDROIT-Principles (Gleiches gilt nach demgleichlautenden Art. 2: 302 S. 2 PECL). Insbesondere giltdas, soweit dasGemeinschaftsprivatrecht, etwa inArt.288 IIEGV,auf„ allgemeine Rechtsgrundsätze“verweist, „ diedenRechtsordnungen derMitgliedstaaten gemeinsam sind“ ; dazu Wurmnest, Europäisches Haftungsrecht (Anm. 1), 15ff. m.w.N. Siehe insbesondere Fairchild v Glenhaven Funeral Services [2003] 1 AC,32 ff. (H.L.). Dort haben die Lordrichter sich u.a. auf Texte von Julian und Ulpian, auf Lehrbücher zumeuropäischen Privatrecht (v. Bar, Deliktsrecht [Anm. 1]bzw. Walter VanGerven u.a., Cases, Materials andText on National, Supranational andInternational Tort Law,2000), aberauchz.B. aufdenPalandt bezogen; ausführlicher Jens M.Scherpe, Ausnahmen vomErfordernis eines strikten Kausalitätsnachweises imenglischen Deliktsrecht, ZEuP2004, 164, 167ff. Ähnlich hatbereits LordGoffin White v Jones argumentiert: [1995] 2 AC240, 254 f., 262 ff. (H.L.); dazu Reinhard Zimmermann, Erbfolge und Schadensersatz bei Anwaltsverschulden, ZEuP 1996, 672, 675 ff.

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

37

undführende Richter des BGH,56 beziehen sich inderTatindieser Weise auffremde Lehren bzw.aufdieneuen europäischen Regelwerke;57 beiMenschenrechtsfragen ist ein solcher Ansatz mittlerweile sogar eine verbreitete internationale Praxis.58 Dies entkoppelt das Recht einweiteres Stück vomstaatlichen Anwendungsbefehl. Aller-

dings sindallgemeine praktische Argumente injeder Rechtsordnung unverzichtbar,59 unddas Recht wirdaufdiese Weise lediglich gegenüber einer weiteren Klasse besonders ausgewiesener, juristischer Argumente geöffnet. Obdaseuropäische Privatrecht aufdiese Weise tatsächlich allgemeine Anerkennungfinden wird, ist eine derzeit noch offene Frage; insbesondere imVertragsrecht letztlich eherrechts- undwisspricht vieles dafür. Hiersolles freilich nicht umdiese – senschaftspolitische –Frage als solche gehen, sondern allein umeine Beschreibung derrechtstheoretischen Voraussetzungen eines solchen Ansatzes. Dafür gilt es festzuhalten, dass derweite Rechtsbegriff eines europäischen Privatrechts sichjedenfalls nicht grundsätzlich vomheute allgemein vorausgesetzten Rechtsbegriff unterscheidet. Meine zweite These lautet daher:

(2) Die europäische Privatrechtswissenschaft formuliert allgemeine juristische Lehrsätze, dienicht aufeine spezifische Rechtsordnung bezogen sind. Dies setzt dieInklusion vonWissenselementen indenBegriff des Rechts voraus, diefreilich keine Besonderheit des europäischen Privatrechts bedeutet. II.Juristische Theorien undeuropäisches Privatrecht

DerBegriff einer juristischen Theorie wirdüblicherweise inAnlehnung andenTheoriebegriff der Wissenschaftstheorie formuliert.60 Demnach bilden juristische Theorien ein geordnetes Ganzes bzw.eine Menge vonSätzen, dienachbestimmten –auchpragmatischen –Kriterien aufeinen bestimmten Anwendungsbereich bezogen ist.61 Intergewisse Allgemeinheit“ essant können Theorien dabei nurdannsein, wennsie eine „ aufweisen.62 Primär hermeneutische „ Theorien oderdogmatische Vorinterpretative“ 56 Walter Odersky, Harmonisierende Auslegung undeuropäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1 ff. 57 DazuZimmermann, Principles (Anm. 10), 48 ff. m.w.N. 58 Anne-Marie Slaughter, ANewWorld Order, 2004, 65 ff. m.w.N. 59 Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 346 ff., 354 ff.: Recht als „Sonderfall“des allgemeinen praktischen Diskurses.

60 R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 113 f., 120 ff.; Schlapp, Theoriestrukturen (Anm. 36), 14 ff., 122 ff.; Canaris, JZ 1993, 379 ff. 61 Zudemhiervorausgesetzten „strukturalistischen“Konzept wissenschaftlicher Theoriebildung (das strukturalistischen“ mitden„ Theorien derfranzösischen Philologie undPhilosophie freilich nichts zu tunhat)insbesondere Wolfgang Stegmüller, Probleme undResultate derWissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.II, Theorie und Erfahren, Teilbd. 3, Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973, 19 ff.; Wolfgang Balzer, C. Ulises Moulines, Joseph D. Sneed, AnArchitectonic forScience. TheStructuralist Program, 1987. DieGrundgedanken formuliert klar C. Ulises Moulines, Structuralism: The Basic Ideas, in: Structuralist Theory of Science. Focal Issues, New Results, W.Balzer, C.U. Moulines (Hg.), 1996, 1 ff. Siehe ferner die übrigen Beiträge indiesem Sammelband sowie noch unten Anm.98. Auch in derjuristischen Theoriediskussion wird dieser strukturalistische Ansatz jetzt ganz überwiegend zugrundegelegt: Schlapp, Theoriestrukturen (Anm. 36), 122 ff.; Canaris, Theorierenzeption und Theorienstruktur (Anm. 46), 66 ff.; ders., JZ 1993, 379 f. 62 Immanuel Kant, ÜberdenGemeinspruch: DasmaginderTheorie richtig sein, taugt abernicht fürdie Praxis, Berlinische Monatsschrift 1793, 201 (Immanuel Kant. Werke, Bd.6, W.Weischedel (Hg.), 1964, 127); vgl. auch Karl Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, 39; Franz v. Kutschera, Wissenschaftstheorie I, 1972, 252 f., jeweils zuempirischen Theorien.

38

Nils Jansen

schläge einzelner Normen63 sollen imFolgenden folglich ausgeblendet bleiben; sie gehören vielmehr insVorfeld dereigentlichen Theoriebildung.64 Juristische Theorien stellen begründete Hypothesen überjuristische Lehrsätze auf; sie lassen sichfolglich nicht als quasi-empirische Theorien zurBeschreibung der tatsächlichen Prozeduren undEntscheidungen einer vorfindlichen Rechtsordnung verstehen.65 Denn damit müssten sie ihren argumentativ anwendungsbezogenen, also auchhandlungsleitenden, Charakter verlieren.66 Vonreinempirischen, soziologischen Theorien unterscheiden siesichalsodurch ihren Anwendungsbereich.67 Sie sindnicht aufraum-zeitliche Sachverhalte (etwa empirisch beobachtbare Entscheidungen von intendierten Anwendungen“ sindvielmehr bestimmte rechtGerichten) bezogen; ihre „ liche Problemlösungen68 bzw.dierechtlich vorgegebenen Entscheidungen konkreter Fallkonstellationen.69 Normative Elemente, insbesondere die Formulierung vonWertungen, sindinjuristischen Theorien daher unverzichtbar.70 Alles inallem haben juristische Theorien damit zumeist einen „ mehrdimensionalen“ , integrativen Charakter.71 Einerseits beschreiben sie was gilt, analysieren rechtliche Begriffe undformulieren rechtliche Regeln bzw.Rechtsgrundsätze; andererseits fassen sie diese teleologisch zusammen undordnen sieteleologisch ineinen größeren Zusammenhang ein.Juristische Theorien verbinden alsodeskriptive undanalytische mitnormativen Aussagen.72

1. Applikative undkonstruktive

Theorien

FürdasVerständnis unddieBeurteilung

unterschiedlicher juristischer Theorien bietet

essichnunan,applikativ-exegetische undkonstruktive Theorien alseinidealtypisches Gegensatzpaar zuunterscheiden.73 Applikative Theorien setzen autoritative Vorgaben

vordemHintergrund eines weitgehend feststehenden

normativ-dogmatischen Rah-

63 Füreine Typologie

R. Dreier,

unterschiedlicher juristischer Theoriearten

Theoriebildung (Anm.

6),

106 ff. 64 Vgl. auch R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 128f.; auch dieWissenschaftstheorie istja vonder Intuition geleitet, „ dass echte Gesetze stets Verknüpfungsgesetze sind“ ; Stegmüller, Wissenschafts-

61), 23. Canaris scheint demgegenüber auch interpretative Aussagen alsjuristische Theorien verstehen zuwollen (vgl. JZ 1993, 378, Fn.9),dochverlangt auch Canaris stets eine einzelner juristischer Sachverhalte (a.a.O., 377 f.). Diebloße Interpretasystematische Erklärung“ „ tionerklärt jedoch nicht systematisch; allenfalls verwendet sie dasSystem fürdasVerständnis einer theorie II/3 (Anm.

individuellen Norm.

Erkenntnis undRecht. DieJurisprudenz imLichte des Kritizismus, Jb. für Rechtssoziologie undRechtstheorie 2 (1972), 80, 88 ff. So zu Recht E. v.Savigny, Jurisprudenz imSchatten des Empirismus (Anm. 46), 97 ff., 104 ff.; siehe auchAlexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 314. Alsonicht durch ihre Methode; dies betonen dieVertreter eines einheitlichen Theoriebegriffs fürdie Naturwissenschaften undRechtsdogmatik; siehe, nachR. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6),passim, insbesondere diestrukturalistischen Darstellungen vonSchlapp undCanaris (oben Anm.61). So Canaris, Theorierenzeption undTheorienstruktur (Anm. 46), 66 ff.; ders., JZ 1993, 379f. Anschaulich Schlapp, Theoriestrukturen (Anm. 36), 61 f., 123 ff., 141 ff. paradigmatiCanaris, JZ 1993, 383: Canaris rechnet dieFormulierung vonWertungen sogar zum„ einer Theorie. schen Kern“ Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 313 ff.; R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 124. Zum Begriff einer integrativen Theorie Alexy, Grundrechte (Anm. 19), 27 ff.; Delf Buchwald, DerBegriff derrationalen juristischen Begründung, 1990, 63ff. Statt aller Alexy, Grundrechte (Anm. 19), 22 ff. TiefistderBrunnen derVergangenheit“ . Funktion, Methode undAusgangspunkt Vgl.auchJansen, „ historischer Fragestellungen inderPrivatrechtsdogmatik, demnächst inderZNR27 (2005), V.

65 So aber Hans Albert, 66

67

68

69

70

71 72 73

Theoriebildung

indereuropäischen

39

Privatrechtsdogmatik

mensum.Typischerweise handelt es sichumTheorien, dievordemHintergrund eines bestimmten Rechtssystems formuliert werden, dessen juristische Begrifflichkeit und Struktur sie nicht inFrage stellen, sondern lediglich präzisieren bzw. aufbislang un-

gelöste Probleme anwenden. Häufig istdieBegründung derartiger Theorien folglich zu erheblichen Teilen deduktiv oderbegrifflich; Beispiele sindimHaftungsrecht dieLehren 74oderdieLehre vonden„Verkehrspflichten“.75 vom„ Verhaltens-“ bzw.„ Erfolgsunrecht“ Jeweils gehtes einerseits umeinadäquates Verständnis desvorgegebenen begrifflichen Rahmens derUnrechtshaftung, andererseits umAntworten aufbestimmte Zurechnungsprobleme hinsichtlich mittelbarer Handlungsfolgen. DieVorteile einer derartigapplikativen Jurisprudenz liegen aufderHand: Sie sichert dieStabilität eines Systems unddamit die Verlässlichkeit des Rechts. Wotraditionelle Kategorien an ihre Grenzen stoßen, tendieren Juristen daher regelmäßig dazu, sichpragmatisch zuakko, indenen dieHaftung modieren. EinBeispiel bilden diesogenannten „ Verfolgungsfälle“ eines Untersuchungsgefangenen gegenüber demverfolgenden Polizisten bejaht wird, obgleich die Flucht demUntersuchungsgefangenen nach demnemo tenetur-Grundsatz erlaubt ist undderPolizist sich eigenverantwortlich zurVerfolgung entschließt.76 DieFrage nachderRechtswidrigkeit wirdhierzumeist einfach ausgespart. Eine konstruktive Jurisprudenz formuliert ihreTheorien demgegenüber ohneeinen vergleichbaren vorausgesetzten begrifflich-systematischen Rahmen. IhrGegenstand sindeinzelne, gedanklich unverbundene Rechtsnormen, also etwa fragmentierte gesetzliche Vorschriften77 undjudikative Entscheidungen. Entsprechend geht eine konstruktive Jurisprudenz typischerweise induktiv vor, wobei das einen Rückgriff aufbewährte Rechtsgedanken oder anerkannte Wertungen nicht ausschließt: Sie bildet Fallgruppen, möglicherweise auch neue Kategorien undBegriffe, undsie macht die Wertungen explizit, die ihrer Begriffs- undKategorienbildung zugrunde liegen. Wo geltendes Recht sichimRahmen traditioneller Begriffe nicht adäquat beschreiben lässt, schlägt sie alternative Konzepte vor. Besonders bekannte Beispiele derartiger konstruktiver Theorien hatdiehistorische Rechtsschule entwickelt. MitTheorien, wieder derLehre vomRechtsgeschäft,78 oderderAbstraktion desdinglichen Rechtsgeschäfts von einer kausalen Obligation79 bzw. der Vertretungsmacht vomentsprechenden Grundgeschäft,80 hat sie sich umeine Erklärung undSystematisierung des in den römischen Quellen überlieferten Rechts bemüht, ohne dafür aufeinen vorfindlichen begrifflich-systematischen Rahmen zurückgreifen zukönnen. Konstruktive undapplikative Theorien sind Idealtypen undkommen als solche in derWirklichkeit nurselten vor. Diemeisten Theorien sindweder reinkonstruktiv noch rein applikativ. Eingelungenes Beispiel einer konstruktiv-applikativen Theorie bildet Trennungslehre“des Bereicherungsrechts, die innerhalb des –insoweit etwa die „ Systems desBGBmittels induktiver Argumente dieLeistungs- undEingriffsoffenen –

74 Jansen, Haftungsrecht

(Anm. 22), 416 ff. m.w.N. 75 Dazu Detlef Kleindiek, Deliktshaftung undjuristische Person, 1997, 48 ff., 56 ff.; Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 394 ff. m.w.N. 76 BGHZ 132, 164, 172 ff. Vgl. Hein Kötz, Gerhard Wagner, Deliktsrecht, 9. Aufl. 2001, Rn. 162; Staudinger/Schiemann, 13. Bearb. 1998, § 249, Rn. 50. 77 Einen solchen Befund bietet nicht nureine Zusammenschau derPrivatrechtsnormen dereinzelnen nationalen Rechtsordnungen, sondern insbesondere auch das Sekundärrecht derEuropäischen

78

Union. HKK/M. Schermaier,

2003, vor§ 104, Rn. 1 ff.

79 Jansen, Binnenmarkt (Anm. 17), 52 f. 80 ZurFormulierung dieser Theorie durch Jhering undLaband: Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 49), 431 f.

Kötz, Vertragsrecht

I (Anm. 1), 334 f.;

40

Nils Jansen

kondiktion

alsgrundsätzlich verschiedene

Anspruchstypen herausgearbeitet hat.81 Es

wäre entsprechend verkürzt, derheutigen Rechtsdogmatik eine rein applikativ-exegetische Methode zuunterstellen oderdieTypen konstruktiver undapplikativer Juris-

prudenz mitder(häufig zumal irreführenden)82 Unterscheidung fallrechtlicher undsystematisch kodifizierter Rechtsordnungen zuparallelisieren: Auchimcommon lawfindensich durchaus dogmatisch verfestigte Annahmen, dievonRechtsprechung und Lehre applikativ umgesetzt werden –Beispiele sind imVertragsrecht das Erfordernis einer consideration83 oder Irrtumsregeln, wiedas Erfordernis einer misrepresentation bzw.eines common mistake;84 imaußervertraglichen Haftungsrecht gehören hierher derAusnahmecharakter einer Haftung ohne Verschulden85 oderderGrundsatz, dass primäre Vermögensschäden nicht zuersetzen seien.86 Häufig erweisen kodifizierte Systeme sich zudem als zueng undwerden dann typischerweise vonderRechtsprechung undLehre imWegeeiner induktiven, konstruktiven Theoriebildung ergänzt. Sohatdiefranzösische Doktrin einen Grundsatz d’ équité, quidéfend des’enrichir audétriment d’autrui erst im19.Jahrhundert als verallgemeinernde Ergänzung neben einzelnen, speziell kodifizierten Kondiktionstatbeständen anerkannt.87 Indeneuropäischen Rechtsordnungen finden sichimmer wieder derartige ergänzend konstruktive Lehren, die darauf abzielen, tatsächliche oder scheinbare Gerechtigkeitslücken eines tradierten Systems zuschließen. Einberüchtigtes Beispiel ,88dochgehört hierher fast das gesamte fehlwardieLehre vom„ faktischen Vertrag“ verhaltensunabhängige außervertragliche Haftungsrecht, alsodie„ Gefährdungs-“ und Aufopferungshaftung in Deutschland bzw. die gardien-Haftung in Frankreich für faits des choses;89’auch die deutsche Vertrauenshaftung90 bildet ein Beispiel konstruktiver Theoriebildung. Häufig werden derartige Theorien gedanklich unverbunden neben die tradierten Systemkategorien gestellt.91 DerPreis einer derartigen Rechtsfortbildung besteht danndarin, dass dastraditionelle System seiner zentralen Aufgabe, dasRecht

81 82

83 84

85

Walter Wilburg, Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, 1934, 5 ff., 27 ff.; Ernst v.Caemmerer, Bereicherung undunerlaubte Handlung, in: FS Ernst Rabel, H.Dölle u.a. (Hg.), Bd. I, 1954, 333 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2 (Anm. 22), 129 f. Reinhard Zimmermann, NilsJansen, Quieta movere. Interpretative Change ina Codified System, in: The Lawof Obligations, GS Fleming, P. Cane/J. Stapleton (Hg.), 1998, 285 ff. 107; David Ibbetson, A Historical Introduction to the Vgl. etwa Kötz, Vertragsrecht I (Anm. 1), 86– Lawof Obligations, 1999, 204 ff., 237 ff. Kötz, a.a.O., 263 f., 284 ff., 288 ff. m.w.N. Zurirrationalen Begrenzung der strikten Haftung für things which escape from one’s land nach Rylands v Fletcher [1861– 1872] AllER, 1 ff., 12; John G. Fleming, The LawofTorts, 9. Aufl. 1998, 377 f.; siehe auch Tony Weir, The Staggering March of Negligence, GS Fleming (Anm. 82), 102,

104, 107 f. 86 Vgl. Fleming, Torts (Anm. 85), 193 ff.; Basil S. Markesinis, Simon F. Deakin, Tort Law,4. Aufl. 1999, 88 ff., jeweils m.w.N. 87 Courde Cassation, Recueil Sirey 1893, prem. part., 281, 283; dazu Schlechtriem, Restitution und Bereicherungsausgleich I (Anm. 1), 4 ff.; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung (Anm. 49), 547 ff.; Coing, Privatrecht II (Anm. 1), 500 f., jeweils m.w.N. 88 Dazustatt aller HKK/M. Schermaier, 2003, vor§ 104, Rn.6 m.w.N. 89 Ausführlicher Jansen, Binnenmarkt (Anm. 17), 33 ff.

90 KurtBallerstedt, ZurHaftung fürculpa incontrahendo beiGeschäftsabschluß durch Stellvertreter, AcP151 (1950/51), 501 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, DieVertrauenshaftung imdeutschen Privat-

recht, 1971, 532 ff.; ders., Schutzgesetze –Verkehrspflichten –Schutzpflichten, in: 2. FS Larenz, 1983, 27, 93 ff.; ders., DieVertrauenshaftung imLichte derRechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus derWissenschaft, C.-W. Canaris u.a. (Hg.),

2000, 129, 175 ff. 91 Vgl. Larenz, Methodenlehre

(Anm.

52), 228 f.; kritisch auch Esser, AcP 172 (1972), 109 ff. undöfter.

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

41

zuorganisieren undvollständig abzubilden, nicht mehrgerecht werden kann. Wenn sichaufdiese Weise gesetzliche bzw.traditionell überlieferte juristische Begriffs- und

Kategorienbildungen als teleologisch unzutreffend erweisen, werden rekonstruktive Theorien erforderlich, die alternative Lehrsätze zur Beschreibung des geltenden Rechts formulieren.92

2. Europäisches

Privatrecht

Dies ist nuninsbesondere auch für Theorien des europäischen Privatrechts von besonderer Bedeutung. Denndieeinzelnen Privatrechtsordnungen verfügen zwarüber weite Bereiche übergleiche juristische Kategorien undGrundbegriffe, dieimGemeinen Recht aufderGrundlage derrömischen Quellen formuliert worden sind. SeitdemEnde des18.Jahrhunderts hatdieRechtsentwicklung jedoch imRahmen isolierter, nationalerDiskurse stattgefunden; unddie einzelnen Rechtsordnungen sind dabei ineinem erheblichen Maße Sonderwege gegangen. Insgesamt bietet daseuropäische Privatrecht daher einkomplexes BildvonÄhnlichkeiten undUnterschieden; eine einheitliche bzw.anerkannte europäische Privatrechtsdogmatik gibtes heute nicht mehr(bzw. noch nicht).93 Angesichts dessen lautet meine dritte These:

(3) Applikative Theorien des europäischen

Privatrechts sind einstweilen nicht möglich. Die europäische Privatrechtswissenschaft formuliert konstruktive bzw. rekonstruktive Theorien, die einzelne Elemente des Rechts in ihrem jeweiligen Zusammenhang erklären undmiteinander verbinden.

DieAufgabe dereuropäischen Privatrechtsdogmatik besteht also zunächst darin, einzelne Bestandteile deseuropäischen Privatrechts indemSinne zusystematisieren, dass sie als teleologisch zusammengehörige Bestandteile eines jeweils größeren, nicht mehrals die System“ rationalen Ganzen verständlich werden.94 Dabei bedeutet „ Herstellung vonKohärenz imSinne eines durch Begründungsrelationen verbundenen Ganzen vonAussagen;95 derGedanke eines demAnspruch nach vollständigen und lückenlosen, geschlossenen Systems96 istdamit nicht verbunden. Wiesichderartige – Teil- oderGesamtsysteme konkret formulieren lassen, sollte man kleine odergroße – nicht abstrakt zuerörtern versuchen.97 Stets wirdaberzunächst eininduktives Vorgehenunerlässlich sein, dasdenaktuellen Bestand des Privatrechts inEuropa ermittelt. Aufdieser Grundlage giltes dannineinem zweiten Schritt, übergreifende –möglicher92 Siehe als Beispiele Ralf Michaels, 93

94

95

Sachzuordnung durch Kaufvertrag, 2002; vgl. auch Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), besonders 545 ff. Jansen, Binnenmarkt (Anm. 17), 23 ff., 31 ff., 40 ff., 48 ff. Vgl. Bankowski u.a., On Method (Anm. 27), 19 f.; Basedow, Europäische Zivilrechtsdogmatik

(Anm. 8), 85 ff., 89. Ausführlich zu einem solchen Konzept

96ff.; ders., Aleksander

Peczenik,

Rationality, Ratio Juris 1990,

von Kohärenz: Alexy, System undKohärenz (Anm. 48), TheConcept of Coherence andits Significance forDiscursive

130 ff.

96 Die Begriffe des geschlossenen bzw. offenen Systems gehen offenbar auf Fritz Schulz zurück: Geschichte derrömischen Rechtswissenschaft, 1961, 83 f.; dieheutige Dogmatik versteht denBegriff zumeist ineiner schwächeren Bedeutung derEntwicklungsoffenheit: Canaris, Systemdenken (Anm.

33), 61 ff.

(Anm.

8), 92 ff.

97 Füreinen konkreten Vorschlag siehe etwa Jansen, JZ 2005 162 ff. Vgl. auch Wurmnest, Europäisches Haftungsrecht (Anm. 1); dazu ZEuP2004, 441ff. Zu spezifischen Schwierigkeiten des Systemdenkens im Gemeinschaftsprivatrechts Basedow, Europäische Zivilrechtsdogmatik

42

Nils Jansen

weise neuartige –Gedanken zu formulieren. Diese sollen einzelne Elemente des europäischen Privatrechts schlüssig ineinem größeren Zusammenhang undinihren wechselseitigen Begründungsrelationen erklären, wobei dies durchaus auchdieRevisioneinzelner Ausgangspunkte erforderlich machen kann.98 Erstdiese übergreifenden Gedanken bieten danneinen Ausgangspunkt fürkünftige applikativ-deduktive Begründungen.99

Es liegt aufderHand, dass derZwang zueiner derartigen konstruktiven Theoriebildung daseuropäische Privatrecht einstweilen miterheblichen Unsicherheiten belasten muss.100 Zugleich eröffnet erdereuropäischen Privatrechtswissenschaft freilich ein immenses Innovationspotential. Angesichts derweithin zu beobachtenden Verkrustungen desPrivatrechts istdaseineeinmalige Chance, vonderauchdienationalen Rechtsordnungen profitieren können.

3. Mängel juristischer Theorien WiejedeTheorie unterliegen auchjuristische Theorien einer Reihe vonAnforderungen, diefürihre wissenschaftliche Akzeptabilität entscheidend sind. Selbstverständlich ist etwa, dass eine Theorie nurdannbrauchbar sein kann, wennsie leistungsfähig, also informativ undnicht tautologisch ist.101 Vonbesonderer Bedeutung sindhierzunächst Kriterien, vondenen nicht nurderErklärungswert, sondern dieGültigkeit einer Theorie abhängt. Vorallem sinddasdieErfordernisse derPrüfbarkeit undKonsistenz, diebei

juristischen Theorien jeweils erhebliche Probleme aufwerfen.

a) Falsifikation undPrüfbarkeit Das Kriterium der Prüfbarkeit gilt verbreitet als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit überhaupt: Hypothesen, die nicht prüfbar sind, dürften demnach gar nicht den Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Theorie zuformulieren.102 Wie sich eine juristische Theorie prüfen, alsoeinem intersubjektiv nachvollziehbaren Richtigkeitstest unterziehen lässt, ist angesichts ihres mehrdimensionalen Charakters freilich alles andere als klar.103 RechtsBegriffliche Aussagen juristischer Theorien, wie etwa derjuristische „ , beruhen häufig auf einer kaufrechtliche Fehlerbegriff“ widrigkeitsbegriff“oder der „ Auslegung entsprechender Begriffe in einem Gesetz; die Überprüfung betrifft dann 98 Vgl.die–freilich aufdieöffentliche Moral bezogenen –überaus hilfreichen methodischen Hinweise zumGedanken eines reflective equilibrium beiJohnRawls, ATheory ofJustice, rev.ed.1999, 41 ff. miteinem instruktiven Hinweis aufdiegrammatikalische Theoriebildung inderSprachtheorie. Diese hatja ihrerseits immer wieder als einModell juristischer Dogmatik gegolten: Herberger, Dogmatik (Anm.

26), 37 f., 74 ff., 119, 257 f. m.w.N.; heute Bankowski u.a., OnMethod (Anm. 27), 20. Umso ist es, dass auch die strukturalistische Wissenschaftstheorie aufRawls’Ansatz zu-

interessanter rückgreift,

umihrTheorieverständnis zuerklären:

Stegmüller, Wissenschaftstheorie II/3 (Anm.

333 ff.

61),

99 EinGegensatz zwischen induktivem unddeduktivem Denken (vgl. Wieacker, Praktische Leistung [Anm. 37], 323 ff., 332 f.), ist inderRechtsdogmatik also allenfalls füreine historische Kennzeich100 101 102 103

nungunterschiedlicher Ansätze undSchulen passend. Axel Flessner, JZ 2002, 21.

R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 117 f.; Canaris, JZ 1993, 384. R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 117; Canaris, JZ 1993, 384. R. Dreier, Theoriebildung (Anm. 6), 123 f.

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indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

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einer bestimmten Auslegung, diehier Richtigkeit“ allein diehermeneutische Frage der„ nicht dasThema seinsoll. Begriffliche Aussagen können aberauchunabhängig vonder Auslegung einzelner Normen sein. Entweder handelt es sich dann umkonstruktive, definitorische Vorschläge einer bestimmten Begriffsverwendung oderaberumAussagenüberlogische Beziehungen zwischen bestimmten Begriffen oderSätzen. Imersten Fallisteine genuine wissenschaftliche Überprüfung weder möglich nocherforderlich. DennWortgebrauchsregeln können nurmehroderweniger hilfreich bzw.adäquat, nicht aber falsch sein. Beispielsweise lässt sich bezweifeln, ob die grob schematische EntVerluste zur Beschreibung der norgegensetzung „ immaterieller“ materieller“und„ mativen Sachfragen des Schadensrechts Nützliches beiträgt und die komplexen Falsch“ bzw. widerlegt ist eine derartige BeSachprobleme nicht eher kaschiert.104 „ griffsbildung damit jedoch nicht. Überprüfbar sinddemgegenüber Behauptungen begrifflicher Zusammenhänge in , woUnrecht undUnglück“ juristischen Theorien. Beispiele bilden dieAntithese von„ nach Schäden, die nicht das Resultat rechtswidrigen Verhaltens sind, als Unglück gelten undnicht indenpersönlichen Verantwortungsbereich desSchädigers fallen können,105 oderdiedamit verbundene Annahme, dassderGesetzgeber mitderStatuierung vonHaftungsverpflichtungen zugleich privatrechtliche Verhaltensgebote aufstelle.106 Derartige Behauptungen sindeiner logischen Kontrolle zugänglich. So istdieNegation ; undHaftungspflichten imGlück“ „ , dieNegation von„Unglück“ Recht“ „ von„Unrecht“ plizieren Verhaltensgebote nurdann, wenndernormative Satz gilt, dass rechtmäßiges Verhalten stets haftungsfrei bleibe. Diebegrifflichen Behauptungen stehen hieralsofür verfestigte normative Annahmen, die durch die deskriptiv-logische Terminologie nur verdeckt werden.107 DieFunktion einer rationalen, analytischen Rechtsdogmatik und derlogischen Analyse derjuristischen Argumentationen108 besteht darin, derartig latente Wertungen bzw. unausgesprochene Prämissen offenzulegen unddamit diskutierbar zumachen. Überprüft wirddamit freilich nurdieSchlüssigkeit logischer Verknüpfungen; es kannjederzeit möglich sein, fürlatente Wertungen undnicht offengelegte Prämissen eine Begründung nachzuschieben. Eine einfache inhaltliche Überprüfung würde zweitens diesystematische Prüfung einer Theorie gewährleisten, die nach derVereinbarkeit einer Theorie mitdenanerSätzen eines Rechtssystems fragt.109 Allernormativen unddeskriptiven – kannten – dings kann eine solche Prüfung nurdann stattfinden, wenn bereits ein System von Lehrsätzen anerkannt ist,dasdenRahmen füreine entsprechende applikative Theorie bietet. Soweit es sichumeine konstruktive oderrekonstruktive Theorie handelt, isteine derartige Überprüfung vonvornherein ausgeschlossen. Wenneine Theorie beispielsweise die Dinglichkeit eines Rechts von seiner Absolutheit (im Sinne einer Wirkung gegenüber jedermann) unterscheidet, umdietatsächliche Vielfalt juristischer Phänomeneangemessen abzubilden, sowirddasnicht durch diegegenwärtig vorausgesetz171. 104 Jansen, JZ 2005, 163– 105 Rudolf v. Jhering, Das Schuldmoment im Römischen Privatrecht, Giessen 1867, 6, 41; Esser, Gefährdungshaftung (Anm. 23), S. v, 1 ff.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2 (Anm. 22), 354.

106 Motive, in: Mugdan, Materialien (Anm. 39), Bd. II, 405; Protokolle, a.a.O., 1072 ff., 1073: die Vordie Rechtskreise derEinzelnen, innerhalb derer schriften des Deliktsrechts seien dazubestimmt, „

sie ihre individuelle zen“ .

Freiheit entfalten

undihre Interessen verfolgen dürfen, voneinander abzugren-

107 Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 10 ff., 563 ff. 108 Robert Alexy, Dielogische Analyse juristischer Entscheidungen, in:ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 13 ff. 109 Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 322 ff.

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Nils Jansen

tesystematische

Gleichsetzung dinglicher undabsoluter Rechte widerlegt.110 Erforderlichwärevielmehr einArgument, warum diegegenwärtige Lehre gegenüber demAlternativvorschlag trotz dergeäußerten Kritik vorzugswürdig ist. Esliegt aufderHand, dass indergegenwärtigen europäischen Privatrechtsdogmatik eine systematische Formder Theorieprüfung zumeist nicht möglich ist. Einedritte, besonders effektive FormderÜberprüfung vonTheorien besteht inder Falsifikation, alsoindemNachweis derUnvereinbarkeit mitPrüfsätzen: Einefalsifizierte Theorie ist jedenfalls fürden konkreten Anwendungsbereich111 widerlegt. Auch bei juristischen Theorien erscheint dieFalsifikation deshalb vonjeher112 besonders attraktiv.113 Entscheidend istdaher dieFrage nachgeeigneten Prüfsätzen. Dabei steht von vornherein fest, dass Prüfsätze möglichst unabhängig gewonnen undihrerseits intersubjektiv akzeptiert seinmüssen. Gerechtigkeits- oderBilligkeitsbehauptungen taugen dazujedenfalls nicht,114 weilsie zuunsicher sind, als dass sie als vorläufig akzeptabel undallgemein akzeptiert gelten könnten.115 Canaris hatdeshalb vorgeschlagen, autoritative rechtliche Problemlösungen, also

gesetzliche Vorgaben undanerkanntes Richter- undGewohnheitsrecht, als Prüfsätze einejuristische Lehre darfnicht heranzuziehen.116 Sosehrdasprima vista einleuchtet – so sehr erweist es sich beieinem imWiderspruch zumgeltenden Recht stehen117 – zweiten Blick als problematisch. Dennrechtliche Probleme existieren nicht als unabhängige, objektive Sachverhalte, sondern werden durch juristische Theorien mitkonstituiert.118 Es kommt deshalb durchaus vor,dass eine rechtliche Vorgabe bekannt ist,ohnedass klarwäre, aufwelches rechtliche Problem siesichbezieht. DerGedanke 110 So indes Hans-Josef Wieling, ZSS (germ.) 120 (2003), 480, 486 ff.

111 Indieser Beschränkung des Erklärungsanspruchs unddamit der Falsifizierbarkeit wissenschaftlicherTheorien aufeinen bestimmten „intendierten Anwendungsbereich“liegt das spezifische Kennzeichen der insoweit pragmatischen, modernen strukturalistischen Wissenschaftstheorie (oben Anm. 61).

112 Zu Paulus D.50,17,1 undder Einordnung in die antike wissenschaftstheoretische Diskussion Herberger, Dogmatik (Anm. 26), 73. Bereits Azohatindenregulae iuris falsifizierbare (undzumeist falsche) Generalisierungen gesehen: Apparatus magnus zu D.50,17,1, bei Erich Genzmer, Gli Apparati diAzzone al Digestum Novum 50,17,1, Annali distoria didiritto 1 (1957), 7, 10f. Später hat etwa Gottfried Wilhelm Leibniz (ineinem unveröffentlichten Text zu Vigelius) juristische Lehrsätze als induktive, falsifizierbare Theorien verstanden: cumergo talis regula inductione constet ... perdit après les manuscrits de la officium suum velunaincontrarium instantia producta (Textes inédits d’ Bibliothèque provinciale de Hanovre, Bd. II, G. Grua [Hg.], 1948, 646 f.); Leibniz bezieht sich dabei zwar unmittelbar auf regulae iuris, doch meint er damit jeden allgemeinen Satz über das Recht

(regulam esse propositionem quandam universalem). 113 Aleksander Peczenik, Empirical Foundations of Legal Dogmatics, Études de Logique Juridique 3 (1968), 32 ff.; Eike v.Savigny, Übereinstimmende Merkmale inderStruktur strafrechtsdogmatischer undempirischer Argumentation, in:Juristische Dogmatik (Anm. 32), 120, 130ff.; Canaris, JZ 1993, 385 ff.; zustimmend Ernst A.Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, 123. 114 SozuRecht Christian Schefold, Normative Falsifikation als dieneue „naturrechtliche“Methode der Jurisprudenz, ARSP Suppl. I, Part 4 (1983), 81 ff. gegen E. v. Savigny (eben Anm. 113). Festsetzungen“Popper, Logik der For115 ZurDeutung empirischer Basissätze als konventionelle „ schung (Anm. 62), 71. 116 Canaris, Theorierenzeption undTheorienstruktur (Anm. 46), 81; ders., JZ 1993, 386 ff. 117 Insoweit zustimmend Looschelders/Roth, Juristische Methodik (Anm. 32), 117 f. m.w.N. 118 Juristische Normen lassen sichadäquat nuralsAntworten aufeine bestimmte Frage verstehen, die formuliert. Derartige Fragen sindabertypischerweise nicht ausjuristische Problem“ dasjeweilige „ seine“ drücklich mitgenannt, sondern implizit vorausgesetzt. DerAnwender einer Normträgt dabei „ Probleme andiejeweilige Normheran, undimmer wieder müssen Juristen auch neue Fragen mit beantworten. DieFolge isteingeradezu klassisches hermeneutidenalten normativen „Antworten“ sches Problem (statt aller Hans-Georg Gadamer, Wahrheit undMethode, 6. Aufl. 1990, 375 ff.; Emil

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einer Falsifikation macht dann keinen Sinn. Beispielsweise hängt die Frage, obder Verkäufer demEigentümer nach§ 816 I 1 BGBdenerlangten Kaufpreis oderdenWert derveräußerten Sache schuldet, unmittelbar davon ab, ob mandas Problem des § 816 BGB inderFrage sieht, unter welchen Voraussetzungen derAusgleich einer Vermögensminderung stattfinden soll,119 oderobmanseinen Zweck tatsächlich alsdie (neidische) Abschöpfung bestimmter Vorteile versteht.120 Nunkann innerhalb einer Rechtsordnung zumeist ein gemeinsames Problemverständnis vorausgesetzt werden; mitdiesem Vorbehalt bieten Problemlösungen hier inderTateinakzeptables Falsifikationskriterium. Einevollständige Überprüfung einer juristischen Theorie istaufdieser Grundlage freilich schon deshalb nicht möglich, weil juristische Theorien nurdanninteressant sind, wennsiesichnicht inderBeschreibung geltender Normen erschöpfen, sondern produktive Lösungen füroffene Fragen bieten. Denndaspositive Recht bietet nicht aufjede Frage eine (richtige) Antwort;121 juristische Theorien sollen derartige Lücken schließen. Sie sind folglich imRückgriff auf rechtliche Problemlösungen nureingeschränkt falsifizierbar. Fürdaseuropäische Recht stellen sichweitergehende Probleme: Hierkanneine geteilte Problemsicht nämlich nicht ingleicher Weise vorausgesetzt werden; vielmehr muss die europäische Privatrechtswissenschaft sich heute insbesondere auch um adäquate, verbindliche Problembeschreibungen bemühen.122 So ist es aus europäischer Perspektive eine offene Frage, ob das Bereicherungsrecht derAbschöpfung ungerechtfertigter Vorteile oderdemAusgleich vonVermögensminderungen dienen soll:123 fürEingriffsfälle giltaußerhalb Deutschlands eine Entreicherung weitgehend als Anspruchsvoraussetzung.124 UndwasimHaftungsrecht ausdeutscher Perspektive als eine Frage der(zumeist quasivertraglichen) Verpflichtung zumErsatz primärer Vermögensschäden erscheint, istfüreinen Franzosen zumeist eindeliktsrechtliches Problem des Verschuldens, der Kausalität oder des Schadens.125 Angesichts dessen sind Problemlösungen zuvoraussetzungsreich, als dass sie aufeuropäischer Ebene ein brauchbares Falsifizierungskriterium bieten könnten. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, 2003, 104 ff. m.w.N.): DieAntwort – eine bestimmte Norm–isterstdannverstanden, wenndieFrage verstanden ist, aufdiedieAntwort sich gedanklich bezieht, doch kanngerade offen sein, worin überhaupt die Frage besteht. Derjuristische Streit überdas richtige Verständnis einer Normwirddamit zumStreit überdieadäquate juristische Problemdeutung. 119 Grundlegend fürdie pandektistische Lehre v.Savigny, System (Anm. 35), Bd.V, 526f. Ebenso danndieGesetzgeber desBGB(Motive, in:Mugdan, Materialien [Anm. 39], Bd.II,463 f.; Protokolle, a.a.O., 1169 ff.) undauch die Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGZ 71, 358, 360 f. [1909]; RG, LZ1917, Sp.921f.)sowie dieLehre: Gottlieb Planck, Bürgerliches Gesetzbuch nebst Einführungsgesetz, 1./2. Aufl. 1900, § 812, Anm.1 b; PaulOertmann, Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Buch, Recht der Schuldverhältnisse, 3./4. Aufl. 1910, Vor§§ 812 ff., Anm. 2 b. W.N. bei HKK/Jansen, 2006,

253, 255, Rn. 62. §§ 249–

120 So die heute ganz herrschende Lehre, die–zumindest imallgemeinen Bereicherungsrecht –auf das Erfordernis einer Entreicherung verzichtet; statt aller Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2 (Anm. 22), 128; Reinhard Zimmermann, Unjust Enrichment –The Modern Civilian Approach, OJLSt. 15 (1995), 403 f.

121 Vgl. Nils Jansen, Ralf Michaels, DieAuslegung undFortbildung

(2003), 3, 11 f. m.w.N. zur Diskussion. 122 Vgl.ausführlicher auchJansen, Binnenmarkt (Anm. 17), 67 ff. 123 Ausführlicher Jansen, Binnenmarkt (Anm. 17), 45 ff. m.w.N.

ausländischen Rechts,

ZZP116

124 Schlechtriem, Restitution undBereicherungsausgleich (Anm. 1), Bd.I,4 ff., Bd.II,276 f. 125 Gerhard Wagner, Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, in:Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, R.Zimmermann (Hg.), 2003, 189, 224 ff.; VanGerven, Tort Law(Anm. 55), 76 ff.; Jean Carbonnier, Droit Civil IV:les obligations, 21. Aufl., 1988, vorRn. 199ff.

46

NilsJansen

Als Alternative bietet sich nurder Rückgriff auf (normative) Entscheidungsvor-

gaben hypothetischer Fälle an,wiesie sichbeieinem vonjeglicher Dogmatik abstrahierenden, quasi-empirischen Rechtsvergleich darbieten.126 Dann müsste der Satz gelten, dass eine einheitliche Rechtslage in den einzelnen europäischen Rechtsordnungen verbindliches europäisches Recht begründet. Indes fehlt füreinen solchen Satzjede autoritative Grundlage –einheitliches Recht bietet keine zwingende Gewähr

inhaltlicher Richtigkeit oderVerbindlichkeit, sondern nureineAkzeptabilitätsvermutung. Zudem würde aucheinsolcher Satzkeine hinreichende Prüfbarkeit gewährleisten, weil dienationalen Entscheidungen konkreter Fälle nicht selten divergieren.127 Meine vierte These lautet daher:

(4)Theorien zumeuropäischen

Privatrecht sindweder systematisch überprüfbar noch imRückgriff auf Basissätze falsifizierbar.

Freilich setzt die europäische Privatrechtswissenschaft einheitliche europäische Grundsätze unddie Möglichkeit gemeinsamer juristischer Lehrsätze voraus. Sie bezieht sichdazuaufeine Reihe vonRechtsquellen, wiesieimEinzelnen obenerläutert sind:128 Europäisches Privatrecht ist nicht einneues Naturrecht. Wenndiese europäischen Rechtsquellen nunalsargumentativ autoritativ, wennauchnicht alsverbindliche Anordnungen gelten, so bedeutet das, dass eine Abweichung vomdeskriptiv festgestellten, einheitlichen europäischen Recht denNachweis überzeugender, überwiegenderGründe voraussetzt. Dabei lässt eine solche Regel sich sogar noch erweitern: Spezifisch begründungsbedürftig ist bereits dieAbweichung voneiner herrschenden Entscheidungspraxis oderLehre inEuropa. Methodisch zwingt daszueiner deutlicherenTrennung derdeskriptiven Beschreibung desfaktischen Rechtszustands vonder eigentlichen Formulierung undBegründung einer juristischen Theorie des europäischen Privatrechts, als das innerhalb nationaler Rechtsordnungen üblich ist.129 Erforderlich ist also jeweils eine detaillierte Bestandsaufnahme derEntscheidungspraxis europäischer Gerichte undderdafür gebotenen juristischen Erklärungen sowie der übrigen europäischen Rechtsquellen.130 Rudolf B. Schlesinger, TheCommon Core ofLegal Systems. AnEmerging Subject of Comparative Study, in: XXth Century Comparative andConflicts Law–Legal Essays inHonor of Hessel E. Yntema, K.H. Nadelmann u.a. (Hg.), 1961, 65, 73 ff.: „ ; Mauro Bussani, factual method“ UgoMattei, TheCommon Core Approach to European Private Law,Columbia Journal ofEuropean Law3 (1997/98), 339, 343 ff.; für eine Einführung Mauro Bussani, Current Trends in European Comparative Law: The Common Core Approach, Hastings Int’ l &Comp. L. Rev. 21 (1998), 785, 789 ff.; vgl. auch OleLando, The Common Core of European Private Lawandthe Principles of European Private Law, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 21 (1998), 809, 814 ff. Für einen kritischen Gesamtüberblick zu derartigen Common Core-Projekten Ralf Michaels, Common Core? Ill, MS

126 Grundlegend

2002 (demnächst imERPL).

127 Zimmermann, Principles (Anm. 10), 18. 128 Oben S. 30 f. 129 Innerhalb einer nationalen Rechtsordnung wirft eine solche Trennung erhebliche Schwierigkeiten auf, weil die (deskriptive) Ermittlung dessen, wasgilt, immer auch argumentativ erfolgt (Jansen, Michaels, ZZP116 (2003), 10. Imeuropäischen Recht fällt diese Trennung leichter, weildie Deskription sichvonvornherein aufunterschiedliche Rechtskomplexe bezieht. 130 ZuRecht kritisiert Zimmermann deshalb dasAvant Projet eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs derAcademia dei Giusprivatisti Europei (Code Européen des Contrats: Avant-project, Giuseppe Gandolfi [Hg.], 2000), das sich primär auf den italienischen Codice Civile undden vonHarvey McGregorim Auftrag derenglischen LawCommission erarbeiteten, inEngland freilich niepublizierten Contract Code stützt, als rechtsvergleichend nur unzulänglich abgesichert: Zimmermann, Principles (Anm. 10), 11f.; ders. Der„ Codice Gandolfi“ als Modell eines einheitlichen Vertragsrechts fürEuropa? –Überlegungen zurRegelung derAufrechnung (Art. 132), in:FS ErikJayme, P.Mansel u.a. (Hg.), Bd. II, 2004, 1401, 1403 ff.

Theoriebildung

indereuropäischen

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Nurdiedeskriptive Bestandsaufnahme, diedereigentlichen juristischen Theorie freilich vorgelagert ist, lässt sichdabei genuin falsifizieren. Eine Theorie deseuropäischen Privatrechts kannalsonicht indemanspruchsvollen Sinnprüfbar sein, dassjede ihrer Aussagen einem intersubjektiv verbindlichen Richtigkeitstest ausgesetzt werden könnte. Freilich unterscheidet sie dasnurgraduell vonTheorien zumnationalen Recht; es bildet einen Ausdruck derTatsache, dass die juristische Argumentation als ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses nurbesonders ausgewiesene Argumente, keine festen Gewissheiten zuproduzieren vermag.131 Immerhin lässt sich auch imeuropäischen Privatrecht einMindestmaß anwissenschaftlicher Prüfbarkeit juristischer Theorien durch dieBeachtung derebenerläuterten methodischen Grundregeln gewährleisten, die normativ Vorgaben fürdie Formulierung einer juristischen Theorie aufstellen. Ichfasse das inmeiner fünften These zusammen: (5.1) DieFormulierung einer juristischen Theorie des europäischen Privatrechts muss voneiner deskriptiven Darstellung des faktischen Rechtszustands anhand derQuellen des europäischen Privatrechts ausgehen. (5.2) Jede Abweichung vondeminEuropa vorherrschenden Rechtszustand oder einer herrschenden Lehre ist spezifisch zubegründen; erforderlich istdazumindestens

einpraktisches

Argument.

b) Konsistenz undteleologische

Kohärenz

DieKonsistenz bildet eine elementare Anforderung fürdieFormulierung wissenschaftlicher Theorien: Ein System vonAussagen, das Widersprüche enthält, kann nicht zutreffen. Konsistenz imSinne derlogischen Widerspruchsfreiheit einzelner Sätze ist fürjuristische Theorien freilich zuwenig. Darüber hinaus giltfürjuristische Theorien als normative Aussagen das Ideal der „ wertungsmäßigen Folgerichtigkeit undinneren Einheit“ ,132kurz: derintegrity des Rechts.133 Dieses teleologische Kohärenzpostulat konsistenter Wertungen beruht zumeinen auf dem elementaren Gerechtigkeitsgedanken formaler Gleichheit, zumanderen bildet es eine Voraussetzung für die Verständlichkeit unddamit fürdieVorhersehbarkeit undVerlässlichkeit einer GesamtheitvonNormen. Hierbraucht das imEinzelnen nicht weiter ausgeführt zuwerden.134 Wichtig ist allein, dass Wertungswidersprüche aufinkonsistenten, aberverbindlichen normativen Vorgaben beruhen können; sie lassen sichdannimRahmen einer juristischen Theorie nicht gänzlich beseitigen.135 Dass einejuristische Theorie einen Wertungswiderspruch enthält, bedeutet also nochnicht, dass sie nicht zutrifft. Immerhin bildet das Postulat konsistenter Wertungen aber einen fundamentalen Grundsatz jeder Rechtsordnung. Jede Entscheidung, die auf inkonsistenten Wertungen beruht, muss diese deshalb offenlegen undeinen Grund dafür bieten, warum eine inkonsistente Entscheidung unabweisbar ist. Eswardeshalb beispielsweise unglücklich, dass derBGHdenNotstand als einen deliktsrechtlichen Entschuldigungsgrund anerkannt hat, ohne auch nur offenzulegen, dass einvergleichbarer, durch höherrangige Interessen sogar gerechtfertigter Eingriff nach § 904 S. 2 BGB ausgleichspflichtig wäre.136 Argumentation (Anm. 18), 324 f. m.w.N. 132 Canaris, Systemdenken (Anm. 33), 16 ff. . 133 Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986, 94 ff., 164 ff., 167: „ commitment to consistency“ 134 Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, 1998, 300 ff. m.w.N.; umfassend Bracker, Kohärenz (Anm. 33), besonders 166 ff., 219 ff. 135 Dworkin, Law’s Empire (Anm. 133), 178 ff. 136 BGHZ 127, 195, 208 ff.

131 Statt aller Alexy, Juristische

48

NilsJansen

Prima vista scheint sich das Problem inkonsistenter Wertungen auf der Ebene europäischer Privatrechtsdogmatik schon wegen derVielzahl autoritativer Texte zu verschärfen. Widersprüche zeigen sichbereits innerhalb desunverbunden entstandenenSekundärrechts derEuropäischen Union,137 erst recht aberbeieinem Blick aufdie Gesamtheit derübrigen Quellen. Indes kanndasWertungsinkonsistenzen nurbegrenzt rechtfertigen.138 Denn nur beim europäischen Sekundärrecht handelt es sich um verbindliche Anordnungen; gerade hier ist aber oft zweifelhaft, inwieweit einzelne Rechtsakte übergreifende Wertungen ausdrücken.139 Damit entfällt aber derHauptgrund fürrechtliche Wertungsinkonsistenzen. Eine Theorie zumeuropäischen Privatrecht, die widersprüchliche Wertungen enthält, kann deshalb nurausnahmsweise zutreffen. Auchhierlässt diePrüfbarkeit einer juristischen Theorie sichabernicht durch einen objektiven Test, sondern nurmittels weiterer Begründungsregeln gewährleisten, diediebereits obengenannten ergänzen:

(5.3) Wertungswidersprüche sindoffenzulegen. (5.4) Jeder Wertungswiderspruch ist mitmindestens einem Argument den, dassichaufautoritative Vorgaben beziehen muss.

zubegrün-

4. Gültigkeit undVerbindlichkeit juristischer Lehren Obenwurde deutlich, dass juristische Lehrsätze einkonstitutives Element des Rechts bilden. Nunhatsichgezeigt, dassjuristische Theorien, alsowissenschaftliche Hypothesen derartiger Lehren, nureingeschränkt überprüfbar sind, wobei das fürdie nicht applikativen und deshalb inhaltlich kaum überprüfbaren Theorien zum europäischen Privatrecht ineinem besonderen Maßegilt. DieFrage nachderGültigkeit einer Theorie liegt deshalb aufderHand, wobei dermehrdimensionale, deskriptiv-analytisch-norma-

tive Charakter juristischer Theorien eine einfache Antwort ausschließt. Aufdereinen Seite istfestzuhalten, dass eine Theorie inakzeptabel ist, soweit sie sich imRahmen einer möglichen Prüfung als fehlerhaft erweist. Das ist dann der Fall, wenn sie inkonsistent ist,einfalsches bzw.unzutreffendes Bilddeseuropäischen Rechtszustands zeichnet (5.1), oder Wertungswidersprüche nicht offenlegt (5.3). Als inakzeptabel sollten überdies Theorien gelten, diegegen dieRegeln (5.2) oder(5.4) verstoßen, also keine Begründung fürdie Abweichung vomüberwiegenden Rechtszustand oderfür einen Wertungswiderspruch bieten; freilich lassen derartige Mängel sichimNachhinein beheben. ImÜbrigen müssen juristische Theorien sich impraktischen Diskurs bewähren. Soweit sie gegenüber dempositiven Recht zusätzliche normative Aussagen treffen, kannihre Gültigkeit nämlich nurvomKonsens derBeteiligten innerhalb einer Rechtsgemeinschaft bzw.voneiner akzeptierten autoritativen Anerkennung abhängen.140 In dieser Transformation juristischer Theorien inanerkannte dogmatische Lehrsätze liegt dieinstitutionelle Funktion autoritativer Elemente imjuristischen Diskurs, wiedersog. .141 Dass ein konsentierter dogmatischer Rahmen fürdas „ herrschenden Meinung“ 137 Siehe nurdieMitteilung derKommission andenRatunddasEuropäische

Parlament

zumEuropäi-

schen Privatrecht vom 11. 7. 2001: KOM(2001) 398 endg.; abgedruckt in der ZEuP 2001, 963 ff. 138 Vgl.auchJansen, Gerechtigkeit (Anm. 134), 304 zuInkonsistenzen deröffentlichen Moral. 139 Basedow, Europäische Zivilrechtsdogmatik (Anm. 8), 82 f. m.w.N. 140 Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 321ff.; Diederichsen, Rechtsdogmatik (Anm. 36), 66 ff. 141 Esser, Dogmatik zwischen Theorie undPraxis (Anm. 18), 534 f.; ausführlich Drosdeck, Autorität als Rechtsquelle (Anm. 29), 78 ff., 89 ff., 99 ff., 111 ff., 134 ff.

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

49

europäische Privatrecht bislang nicht existiert, eine applikative Theoriebildung also nochnicht möglich ist,sollte dieWissenschaft dabei freilich nicht alsHindernis, sondern alsAufforderung begreifen: Auchdietradierten grundlegenden Lehrsätze zumnationalen Recht sindja zumeist das Produkt konstruktiver wissenschaftlicher Arbeit gewesen.142 Dabei können derartige Konsense sich innerhalb einer institutionalisierten Rechtswissenschaft bisweilen überaus schnell einstellen; einbemerkenswertes jüngeresBeispiel bilden diePrinciples ofEuropean Contract LawderLando-Kommission, die mittlerweile weithin als autoritativ gelten,143 obgleich dererste Teilerst 1995, derdritte 2003 erschienen ist.144

5. Vorzüge juristischer Theorien Bislang ging es umAnforderungen anjuristische Theorien, diedie Möglichkeit einer (eingeschränkten) Prüfbarkeit gewährleisten. Theorien, die diesen Anforderungen nicht genügen, können nicht akzeptabel sein. Bei derjuristischen Theoriebildung kommt es abernicht allein aufdietheoretische Richtigkeit undBeachtung entsprechenderformaler Gültigkeitserfordernisse an.Juristische Theorien sindpragmatische Werkzeuge;145 sie können fürihreZwecke mehroderweniger geeignet sein. Gerade fürdas europäische Privatrecht, das derzeit theoretisch unterbestimmt ist, also derkonstruktiven Theoriebildung einweites Feld bietet, liegt es deshalb nahe, auch nach Eigenschaften zufragen, dieTheorien gegenüber anderen als vorzugswürdig ausweisen. Daeine Liste möglicher pragmatischer Vorzüge freilich grundsätzlich unbegrenzt ist, sollen hier nurdrei besonders wichtige hervorgehoben werden, die ichinmeiner sechsten These zusammenfasse:146

(6) Konstruktive

juristische Theorien sollen denErfordernissen derWertungsanTatbestandsbildung sowie der historischen Anknüpfungsfähigkeit genügen.

gemessenheit,

derklaren undeinfachen

Dabei besagt das Kriterium derWertungsangemessenheit zumeinen, dass eine juristische Theorie imstande sein sollte, die ihrzugrunde liegenden Wertungen überhaupt anzusprechen, zumanderen, dass dievonderTheorie formulierten Argumente, Regeln undFallgruppen nachMöglichkeit diezugrunde liegenden Wertungen adäquat abbilden. Potentiell gegenläufig dazuverhält sichdasKriterium derklaren Tatbestandsbildung: WenndasRecht nureinkomplexes System vonArgumenten, keine subsumtionsfähigen Normen mitklarformulierten Tatbeständen bietet, kannes seiner fundamentalen Befriedungsfunktion nicht genügen. Ceteris paribus sindeinfache Theorien gegenüber komplizierten vorzugswürdig. Daswürde es selbst dannausschließen, das europäische Privatrecht als ein System abzuwägender Prinzipien147 darzustellen, wenndaseine zutreffende Beschreibung seiner Wertungsstruktur wäre.148 Derverbrei-

142 Basedow,

Europäische Zivilrechtsdogmatik (Anm.

8), 89 f. miteinem nachdrücklichen

Plädoyer für

eine europäische Privatrechtsdogmatik. Rechtsgewinnungsquelle“. 143 Vgl. nur Canaris, Principles (Anm. 33), 13 ff., 29 ff.: „ 144 ZumGanzen ausführlich Zimmermann, Principles (Anm. 10), besonders 5 ff.m.w.N. 145 Wieacker, Praktische Leistung (Anm. 37), 311 ff. 146 Ausführlicher Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 547 ff. 147 ZurUnterscheidung vonRegeln undPrinzipien bzw.Regel- undPrinzipiensystemen Alexy, Grundrechte (Anm. 19), 71 ff.; Jan-Reinard Sieckmann, Regelmodelle undPrinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990, 52 ff.; Jansen, Gerechtigkeit (Anm. 134), 75 ff. m.w.N. 148 Dazu noch sogleich S. 52 ff.

50

Nils Jansen

in dieser Weise als ein vollständig bewegliches System149 zukonzeptualisieren,150 istdeshalb entgegenzutreten. Zwarkann es auchimPrivatrecht einGebot derWertungsangemessenheit bilden, derAbwägung gegenläufiger bzw. sich gegenseitig ergänzender Argumente strukturell Raum zu bieten; einBeispiel bietet dieFrage derHaftungsmaßstäbe imSchadensersatzrecht.151 Mittels derAngabe abwägungsfähiger Prinzipien allein lässt sichjedoch nichts verbindlich beschreiben, weil je nach der Gewichtung der Prinzipien alles möglich bleibt: Aussagen über die Gewichte der Prinzipien, insbesondere durch die regelförmige exemplarische Vorgabe vonAbwägungsergebnissen, sind jedenfalls fürdie Praxis unverzichtbar.152 Das Kriterium derhistorischen Anknüpfungsfähigkeit besagt schließlich, dass eine juristische Theorie, soweit möglich, anüberlieferte Konzepte undDenkkategorien anknüpfen sollte.153 Dies beruht nicht nurdarauf, dass Systembrüche zumeist mitmassivenpraktischen Schwierigkeiten verbunden sind, sondern vorallem auchdarauf, dass diemeisten europäischen Rechtsordnungen heute neben möglicherweise störenden Elementen durchaus Hilfreiches enthalten, das mannicht voreilig über Bordwerfen sollte. Fürapplikative Theorien isteinsolches Erfordernis überflüssig, dadiese ohnehin im begrifflichen Rahmen akzeptierter juristischer Lehren und Systeme formuliert werden. Fürkonstruktive Theorien zumeuropäischen Privatrecht verdient das Erfordernis jedoch schon deshalb eine besondere Erwähnung, weildie Study Group ona European Civil Codeoffenbar vondergegenteiligen Annahme ausgeht, dass rechtsordnungsübergreifende Theorien nach Möglichkeit aufdie Verwendung überlieferter Begriffe verzichten sollten. Sie willdamit möglichen Missverständnissen vorbeugen, dieauseinem nationalen Vorverständnis resultieren könnten.154 InderTatwerden die Juristen Europas europäische Rechtstexte vorerst wie selbstverständlich durch die Brille ihres nationalen Rechts lesen; dies würde sich nurdann ändern, wenndiejuristische Ausbildung nicht länger vonnationalen Rechtstexten ausginge. Diese hermeneutische Trivialität ist indes unabhängig vondergewählten Terminologie undkonzeptuellen Struktur neuer Theorien: Juristen werden garnicht anders können, als das gemeineuropäische Recht – jedenfalls zunächst – ausihrer nationalen Perspektive zu verstehen: Unabhängig davon, obdieeuropäischen Rechtstexte Begriffe wieVerschulden, faute, fault oder Rechtswidrigkeit bzw. Gefahr, Halter oder gardien enthalten, werden Franzosen, Deutsche undEngländer zunächst das darin suchen, wassie zu Hause inihren Begriffen geregelt sehen. Missverständnisse werden deshalb unverteten Tendenz, das europäische Privatrecht

Walter Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, 26 ff.; ders., Entwicklung eines beweglichen System imbürgerlichen Recht, 1951. Füreine Konkretisierung deswenig klaren, oftunspezifisch verwendeten Konzepts Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 594 ff. m.w.N. Helmut Koziol, Rechtswidrigkeit, Bewegliches System und Rechtsangleichung, JBI.1998, 619 ff.; Flessner, JZ 2002, 14ff.Diesem Ansatz folgen jetzt auchdiePrinciples ofEuropean TortLaw(oben Anm.14) undwohlauch die Vorschläge der Study Group on a European Civil Code (Anm. 11): Koziol, ZEuP2004, 236 m.w.N.; Christian v.Bar, Konturen des Deliktsrechtskonzepts derStudy Group ona European Civil Code –EinWerkstattbericht, ZEuP 2001, 515, 518. Füreine ausführlichere Kritik Jansen, TheState ofArtoftheEuropean LawofTorts, in:East &WestinEuropean Tort LawPerspective, M. Bussani (Hg.), 2006, II.1. Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 619 ff. A.a.O., 602 ff. A.a.O., 549 f. Vgl. etwa v. Bar, Die Study Group (Anm. 11), 8; ders., ZEuP 2001, 520; John W.G. Blackie, Tort/ Delict intheWorkofthe European Civil Code Project ofthe Study Group ona European Civil Code, in: Europäisches Deliktsrecht (Anm. 125), 133ff., 137f. Siehe insbesondere auch dieimInternet veröffentlichten konkreten Vorschläge derStudy Group.

149 Grundlegend 150

151 152 153 154

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

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meidbar sein; sie lassen sichnicht durch einen radikalen Bruch beseitigen, sondern nur dadurch dass die intellektuellen Verbindungen zwischen demnationalen unddem europäischen Recht ebenso deutlich werden wiedieUnterschiede imEinzelnen. Freilich bedeutet das Postulat derhistorischen Anknüpfungsfähigkeit nicht, dass an tradierten Lehrsätzen oder Konzepten umjeden Preis festzuhalten sei. Wertungsinadäquates sollte nicht tradiert werden. Beispielsweise lässt sich imHaftungsrecht bzw.iniuria imRahmen eines zeigen, dass daszentrale Konzept der„ Rechtswidrigkeit“ Rechtsinstituts geprägt worden ist,dasvomheutigen Deliktsrecht funktional fundamenist talverschieden war.155 ImLaufe derwiederholten „Wandlungen desHaftungsrechts“ das Konzept disfunktional geworden, (nur) auspragmatischen Gründen aberniemals ernsthaft inFrage gestellt worden.156 Heute verdeckt es dieWertungen, diehaftungsrechtliche Entscheidungen tatsächlich steuern.157 Imeuropäischen Privatrecht sollte es deshalb nicht mehrdenPlatz haben, derihmetwaimdeutschen Recht heute zukommt.

III. Privatrechtsdogmatik

als juristische Strukturtheorie

Juristische Theorien dienen derbegrifflich-systematischen Durchdringung desRechts.158 Wasdas konkret bedeutet, wirdinsbesondere angesichts derprimären Entlastungsfunktion juristischer Lehrsätze deutlich.159 Siesollen denRechtsunterricht unddierichterliche Entscheidungsbegründung rationalisieren, strukturieren unddadurch vereinfachen. Sie leisten dies durch die Explikation undOffenlegung von Begründungszusammenhängen, also durch eine Systembildung im oben erläuterten schwachen Sinn;160 dadurch machen sie abstrakte Wertungen operationabel. Es liegt auf der Hand, dass der Gegenstand der europäischen Privatrechtswissenschaft dabei nicht inderKonkretisierung individueller, inihrer konkreten Form kontingenter Normen bestehen kann. Vielmehr geht es umdie Offenlegung undExplikation grundlegender Regeln undWertungen, diedeneinzelnen Rechtsordnungen Europas als gemeinsamer Bestand zugrunde liegen. Entsprechend formulieren die weitgehend anerkannten Regelwerke zumeuropäischen Vertragsrecht zwarRegeln im herkömmlichen Verständnis; dieirreführende Bezeichnung alsscheinbar unbestimmte beruht also aufUnderstatement.161 Andererseits sind diese Regeln aber Principles“ „ sie bieten weiten RaumfürdieBerücksichtigung von typischerweise offen formuliert – vernünftigen“ Parteien ausgerichtet163 undfordern den TreuundGlauben,162 sindan„ Entscheidungen auf.164 Dierichterliche Entscheidung wird Richter zu„ angemessenen“ 155 Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 189 ff. 156 Reinhard Zimmermann, Wegezueinem europäischen Haftungsrecht, in:Europäisches Deliktsrecht (Anm. 125), 19, 29 f. 157 Jansen, AufdemWegzueinem europäischen Haftungsrecht, ZEuP2001, 30, 55 ff. 158 Ralf Dreier, Rechtstheorie undRechtsgeschichte, in: Rechtsdogmatik undpraktische Vernunft (Anm. 48), 22; Alexy, Grundrechte (Anm. 19), 23. 159 Esser, AcP 172 (1972), 103 ff., 113 ff.; ders., Dogmatik zwischen Theorie und Praxis (Anm. 18), 522 ff.; Alexy, Juristische Argumentation (Anm. 18), 329 ff.; Diederichsen, Rechtsdogmatik (Anm. 36), 67, jeweils m.w.N. 160 Oben S. 41 f. 161 Michaels, RabelsZ 62 (1998), 586; Zimmermann, Principles (Anm. 10), 8, 21 ff. 162 Art. 2: 301 PECL; ferner Art. 3: 201 III, 4: 103 I (a) (ii), 4: 107, 4: 109 II, 4: 110, 4: 118, 5: 102 (g), 6: 102 (c). 163 Vgl. etwa Art. 2: 102, 2: 104 I, 2: 105 IV,2: 202 III(c), 3: 201 III, 3: 206, 4: 105 III,5: 101 III, 6: 101 I, 6: 111 II, 8: 108 I PECL. 164 Vgl. etwa Art. 2: 208 III(c), 4: 105 III,4: 109, 4: 113 I,4: 116, 6: 104 ff., 6: 111 III, 8: 105 II,8: 106 III, 9: 101 II (b), 9: 102, 9: 201, 9: 303 PECL.

52

Nils Jansen

damit nicht allein durch dieVorgabe vonEntscheidungsergebnissen, sondern vorallem auchdurch prozedurale Begründungsvorgaben gesteuert. Eine derartige Konzentration auf dogmatische Grundgedanken sollte entspre-

chend auch außerhalb dervertragsrechtlichen Regelwerke gelten. Obdiezulässige Höheeiner Unebenheit aufeinem öffentlichen Trottoir 2,7oder3,4cmbeträgt, lässt sich beispielsweise aus der Perspektive europäischen Privatrechts kaum abschließend beantworten. Welche Sorgfalt haftungsrechtlich zumutbar istundwieweiteinVertrauen indieSicherheit öffentlicher Wege geschützt wird, hängt vielmehr primär vonkonkreten, regional möglicherweise unterschiedlichen Wertungen ab.165 Auseuropäischer Perspektive kannes deshalb nurumdieFrage gehen, welche Gründe bzw.Arten von Gründen fürdie Lösung eines entsprechenden Falls heranzuziehen sind, undwiesie sich aufeinander beziehen. Denn hinsichtlich der Bewertung konkret einschlägiger Argumente kanninEuropa keine Einigkeit vorausgesetzt werden; soweit dabei divergierende rechts- undgesellschaftspolitische Überzeugungen berührt sind, scheint es augenscheinlich istdasetwa bei auchüberaus schwierig, Einigkeit herbeizuführen166 – derFrage nach der Reichweite verschuldensunabhängiger Haftungstatbestände.167 Hinsichtlich derFrage, welche Arten vonArgumenten als relevant gelten undwiesie sich aufeinander beziehen, dürfte ein Konsens demgegenüber wesentlich leichter herbeizuführen sein, sofern diese Fragen inEuropa nicht ohnehin einheitlich beantwortetwerden. Juristische Theorien –dies istmeine letzte These –sollten sichdeshalb auf Aussagen überdieteleologischen Zusammenhänge gemeineuropäischer Wertungen konzentrieren; sie sollten das europäische Privatrecht auf der Ebene juristischer Wertungsstrukturen suchen.

(7)DieAufgabe dereuropäischen Privatrechtswissenschaft besteht inderbegrifflich undsystematisch adäquaten Beschreibung gemeineuropäischer Wertungen sowie inihrer argumentativen undteleologischen Verknüpfung. DerGegenstand der europäischen Privatrechtsdogmatik sind damit die Wertungsstrukturen des europäischen Privatrechts.

Ein Beispiel

Wasdas imEinzelnen bedeutet, lässt sich ambesten anhand eines Beispiels skizzieren. So bietet das europäische Haftungsrecht heute prima vista ein ausgesprochen disparates Bild: Zwarfinden sich überall Regeln, dieeinen Schädiger haftbar machen, sofern er denSchaden eines anderen verschuldet hat. ImEinzelnen bestehen indes gravierende Unterschiede. Zumeinen betreffen diese dieHaftung fürprimäre Vermögensschäden, die vonden romanischen Rechtsordnungen grundsätzlich bejaht, in Deutschland undimcommon lawgrundsätzlich abgelehnt wird. Zumanderen ist die Frage derGefährdungshaftung offen: Während imfranzösischen Recht hiereine Generalklausel fürsämtliche faits deschoses gilt, dasdeutsche Recht aufderGrundlage einer (mittlerweile durchaus langen) Liste spezieller Tatbestände geregelt ist,zeigt sich 165 Vgl.etwa Christian v.Bar, Karlsruher Forum 2003, 65 ff.

166 Vgl. Koziol, ZEuP 2004, 251 f. Auch die Study Group (Anm. 11) hat sich bis vorkurzem außerstande gesehen, sich auf Grundsätze einer fehlverhaltensunabhängigen Haftung zueinigen; vgl. v.Bar, ZEuP 2001, 527; Blackie, Tort/Delict (Anm. 154), 133 144 f. 167 Hier lässt sich zeigen, dass die haftungsrechtlichen Entscheidungen stark vonfundamentalen gesellschaftlichen Wertungen geprägt sind: Während sich imenglischen Haftungsrecht eine liberale,freiheitsbetonende Grundhaltung zeigt, sindinFrankreich dieWerte derégalité undfraternité von gleicher Bedeutung; näher Jansen, ZEuP 2001, 36 ff. m.w.N.

Theoriebildung

indereuropäischen

Privatrechtsdogmatik

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das englische Recht auch hier überaus restriktiv und regelt sogar Verkehrsunfälle auf

derGrundlage desVerschuldensgrundsatzes. Beieinem zweiten Blick lässt sichhinter dieser uneinheitlichen Fassade freilich eine gemeinsame Grundwertung identifizieren.168 Überall istdieprivate Haftung nämlich am Gedanken derausgleichenden Gerechtigkeit ausgerichtet; imHaftungsrecht gilt also einstarker prinzipieller Vorrang deriustitia commutativa vorderiustitia distributiva: Der persönlich verantwortliche Schädiger hatfürdenSchaden einzustehen; entgegen einer gelegentlichen Forderung undeiner angeblichen Praxis amerikanischer Gerichte sind die Vermögensverhältnisse undder Bestand einer Versicherung für Haftungsentscheidungen irrelevant.169 Dabei giltdiese Ausrichtung anderausgleichenden Gerech-

tigkeit auch fürdie Gefährdungshaftung: DerAutofahrer haftet nicht als bloße Versicherung seines Unfallopfers –dann wäre der primäre Ausgleich inter partes sinnlos, sondern weilerfürdenSchaden persönlich verantwortlich ist.170 Hiersieht daszwardie herrschende deutsche Lehre anders, seitEsserdie Trennung desDeliktsrechts vonder Gefährdungshaftung mitderUnterscheidung deriustitia commutativa vonderiustitia distributiva parallelisiert hat.171 Jedoch istdaseinMissverständnis, daszumeinen auf

derunbefriedigenden Systembildung desdeutschen Privatrechts, zumanderen aufder Tatsache beruht, dass diedistributiven Wertungen imDeliktsrecht selbstverständlich sind, inderGefährdungshaftung abereine umstrittene Antwort aufgravierende soziale Probleme gebildet hatten.172 InderTatbietet dieausgleichende Gerechtigkeit keine abschließende Antwort auf Fragen desHaftungsrechts. Vielmehr sindzusätzliche distributive Entscheidungen zu treffen, welche Interessen haftungsrechtlichen Schutz genießen undwieweitdiehaftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen reicht. Derartige Zuweisungsentscheidungen haben einen distributiven Charakter; es gehtumdieVerteilung vonGütern (haftungsrechtliche Schutzpositionen) undLasten (die Reichweite derhaftungsrechtlichen Verantwortlichkeit) unter sämtlichen Bürgern einer Gesellschaft als potentielle Unfallopfer oderSchädiger. Allediese Verteilungsentscheidungen zielen aufdenAusgleich zwischen einem Unfallopfer undseinem Schädiger; es lässt sich daher feststellen, dass dieausgleichende Gerechtigkeit imHaftungsrecht zugleich denBezugspunkt undRahmen fürdistributive Entscheidungen bildet. Eine solche Strukturanalyse imRückgriff aufrechtsphilosophische Grundbegriffe vermag zwareiniges zumVerständnis des Haftungsrechts beizutragen, es macht die konkret problematischen Wertungen, insbesondere die erforderlichen distributiven Entscheidungen, aber noch nicht operabel. Dazubedarf es zunächst einer systematisch-teleologischen Ordnung: Esistzuklären, welche Argumente inwelchem Zusammenhang relevant bzw.zulässig sindundwiesiesichaufeinander beziehen. Hierergibt einvergleichender Befund, dass überdieFrage, welche Argumente imHaftungsrecht einschlägig sind, weithin Einigkeit besteht, unddass es sich umeine Vielzahl vonteils

168 Vgl. auch G. Wagner,

Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts (Anm. 125), 199 ff. und passim. 135. 169 ZumGanzen Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 122– 170 Ausdiesem Grund ist auch beiderGefährdungshaftung überall inEuropa auch Schmerzensgeld geschuldet; vgl. W.V.Horton Rogers, Comparative Report, in:Damages forNon-Pecuniary Loss ina Comparative Perspective, ders. (Hg.), 2001, 245, Rn. 10; Bernhard A.Koch, Helmut Koziol, Vergleichende Analyse, in:Compensation forPersonal Injury ina Comparative Perspective, dies. (Hg.), 2003, 364, Rn. 53; Jansen, Tagespolitik, Wertungswandel undRechtsdogmatik, JZ 2002, 964, 967. 171 Esser, Gefährdungshaftung (Anm. 23), 69 ff.; ders., JZ 1953, 129 ff.

172 Jansen, JZ 2002, 966 f.

54

NilsJansen

gegen-, teils gleichläufigen Argumenten handelt.173 Es bietet sich deshalb an, das zukonzipieren, wie Bewegliches System“ europäische Haftungsrecht imAnsatz alsein„ dasdieEuropean Group onTortLawinderTatvorgeschlagen hat.174 Freilich giltes – daswurde bereits obendeutlich –zufragen, wieweitdieWertungsstrukturen tatsächlich beweglich sind. Dazu lässt sich zeigen, dass die Frage, welche Interessen haftungsrechtlichen Schutz genießen sollen, grundsätzlich unabhängig vonArgumenten beantwortet werden kann, diedie Reichweite derhaftungsrechtlichen Verantwortlichkeit, also dieFrage desHaftungsmaßstabs, betreffen. NurfürdieFrage derHaftungsmaßstäbe bedarf es eines beweglichen Teilsystems.175 Die Frage der haftungsrechtlichen Schutzpositionen lässt sich demgegenüber ohne den Rückgriff auf ein bewegliches Abwägungssystem beschreiben: Geschützt sind zumeinen individuell zugewiesene Rechtsgüter (subjektive Rechte)176 undrechtsgeschäftlich begründete Schutzpositionen,177 zumanderen das Vertrauen indenSchutz haftungsrechtlicher Verbotsgesetze.178 Dieses –imdogmatischen Ansatz deutsche –Modell ist in der Sache auch dort plausibel, wodie nationale Dogmatik prima vista einanderes Bild bietet.179 Die Darstellung des europäischen Haftungsrechts ineinem vollständig beweglichen System verstößt also nicht nurgegen dasPostulat derklaren Tatbestandsbildung, sondern auchgegen das Postulat derWertungsangemessenheit.180

IV. Schluss Diese Beschreibung haftungsrechtlicher Schutzpositionen durch denoffenen Verweis einerseits bzw.„ absolute subjektive Rechte“ auf„individuell zugewiesene Rechtsgüter“ undaufhaftungsrechtliche Schutzgesetze andererseits kanninsoweit als unbefriedigenderscheinen, alssie keine abschließende, einheitliche Antwort aufdieFrage einer Haftungsverpflichtung erlaubt: DerBestand an Schutzgesetzen divergiert zwischen einzelnen Rechtsordnungen ebenso wiedieFrage, welche Rechtsgüter demEinzelnen alsseine absoluten Rechte zugewiesen sindundwieweitVertrauen inrechtsgeschäftliches Verhalten honoriert wird. Indes isteinesolche offene Beschreibung geradezu ein Kennzeichen undeine Stärke des europäischen Privatrechts: Sie ermöglicht es Wertungsstrukturen offenzulegen, ohne zuprätendieren, dass Wertungen einheitlich erfolgen müssten. Wenn es zutrifft, dass Wertungsstrukturen –anders als konkrete imeuropäischen Privatrecht inderTateinheitlich erfolgen, soeröffnet das Wertungen – Perspektiven immensen juristischen Erkenntnisfortschritts.

173 v. Bar, Deliktsrecht II (Anm. 1), Rn. 224 ff., 313 ff. und öfter; Jansen, European Law of Torts (Anm. 150), I.2.d. 174 Oben Anm. 150. 175 Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 572 ff., 596 ff. 176 Jansen, Duties andRights inNegligence. AComparative andHistorical Perspective onthe European Lawof Torts, OJLSt. 24 (2004), 443 ff. 177 Auchrechtsgeschäftlich begründete Vertrauenstatbestände, dieimdeutschen Recht typischerweise imRückgriff aufdiesog.„Vertrauenshaftung“bzw.dieculpa incontrahendo erfaßt werden, lassen sich in dieser Weise dogmatisch präzise konzeptualisieren; genauer Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 528 ff. 178 Jansen, Haftungsrecht (Anm. 22), 496 ff. 179 Jansen, European Lawof Torts (Anm. 150), II.2.a; OJLSt. 24 (2004), 453 ff., 461 ff. 180 So auch Reinhard Zimmermann, Principles ofEuropean Contract LawandPrinciples ofEuropean Tort Law:Comparison andPoints ofContact, in:European Tort Law2003, H.Koziol, B. Steininger, 2004, 2, 10, Anm. 48.

Katja Langenbucher*

Recht undZeit Eine Untersuchung zurWirkung vonRechtsprechungsänderungen imPrivatrecht** Unter der Überschrift „ sind indenletzten zehn Jahren ganz unterRecht undZeit“ schiedliche Dinge unternommen worden. DasSpektrum reicht vonderGrundlegung einer Theorie derZeitlichkeit des positiven Rechts1, überkritische Anmerkungen zur Zeitgebundenheit des Rechts2 bis zurUntersuchung des Rechtswidrigwerdens von Normen3 oder der Abgrenzung der Technik des „ prospective overruling“vom„ not 4imenglischen Recht. Mannähert sichdemThema deshalb ambesten durch following“ Eingrenzung. DasVerhältnis vonRecht undZeit lässt sichaufwenigstens dreiEbenen untersuchen: Einer rechtsphilosophischen, einer methodologischen und einer materiellrechtlichen Ebene. Dieamweitesten ausgreifende Frage stellt dieRechtsphilosophie, wenndortdie eigene Zeitlichkeit desRechts erforscht werden soll.5 Hierbei gehtes vorallem umdas Problem, obdieZeitalseine objektive Gegebenheit begriffen werden kann, anwelcher sich das Recht auszurichten hat. Diese Annahme ist angesichts des subjektiven Zeitbewusstseins unddessen Potential, selbst zeitkonstituierend zuwirken, injüngerer Zeitzweifelhaft geworden. Umgekehrt hatdieAufwertung desZeitbewusstseins zuder weiteren Frage geführt, wiemansich die Koordination unterschiedlicher subjektiver Zeiten vorzustellen hat. Diesen Fragenkomplex werden wirinderFolge ausklammern müssen. Stattdessen darfichIhren Blick aufeine methodologische Variante des Problems vonRecht undZeit lenken, die überdies Gelegenheit zueinigen Ausflügen in das materielle Recht bieten wird. Wirwollen davon ausgehen, dass einRechtsanwender dieFrage zubeantworten hat,wieeinbestimmter Sachverhalt nachMaßgabe rechtlicher Normen zubehandeln ist. DerMaßstab seiner Entscheidung istdasderzeit geltende Recht unddamit gegenwartsorientiert. Diese Gegenwartsorientierung gerät inUnordnung, wennseinEntscheidungsparameter verändert wird. Daskommt vor,wennderzeit geltendes Recht darauf abzielt, indieVergangenheit zurückzuwirken oderwennnochnicht geltendes Recht für sich eine Vorwirkung inAnspruch nimmt. Das zuletzt genannte Vorwirkungs-Problem ist im Kern eine Frage nach der Abgrenzung legislativer undjudikativer Kompetenzen. Zuentscheiden istnämlich, ob

für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels-, Gesellschafts- und * Professur Bankrecht, Direktorin des Instituts fürHandels- undWirtschaftsrecht anderPhilipps-Universität zu Marburg

** DieVortragsform wurde

beibehalten, Fussnoten

anwenigen Stellen ergänzt.

1

Kirste, Die Zeitlichkeit

2 3 4

So derUntertitel desWerkes vonWinkler, Zeit undRecht, 1995.

5

des positiven Rechts unddie Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins,

1998.

DasRechtswidrigwerden vonNormen, 1996. Tur,TimeandLaw,22 Oxford Journal ofLegal Studies (2002), S. 463; hochaktuell House ofLords, National Westminster Bank u. Spectrum Plus Limited, http://www.parliament.the-stationeryoffice.co.uk/pa/ld200506/ldjudgmt/jd050630/nat-1.htm, gesichtet am3. August 2005. Baumeister,

Kirste

(Anm.1),

S. 15.

56

Katja Langenbucher

Gerichte

sichaufzwarerlassene, aber nochnicht inKraft getretene Gesetze oderin abernochnicht umgesetzte Richtlinien derEUstützen dürfen –oder

Kraft getretene,

garmüssen.6 Beidemzuerst genannten Rückwirkungs-Problem gehtesvorallem umVertrauensschutz.7 Wirdgeltendes Recht verändert, so istdasunproblematisch, soweit künftige Sachverhalte hierdurch geregelt werden sollen. Betrifft die Normhingegen auch der Vergangenheit zuzurechnende Tatbestände, entsteht bekanntlich dieFrage, wieweit hierdurch schutzwürdiges Vertrauen derBürger aufdiebislang geltende Regelung beeinträchtigt wird. Muss manvoneiner Beeinträchtigung ausgehen, kanndieinAussicht genommene Neuregelung ganz verfassungswidrig sein oder Übergangsregelungen erforderlich machen. Dasgeht nicht nurdenGesetzgeber an.Ändert sichdieRechtsprechung, können auchschutzwürdige Belange vonBürgern betroffen sein, diesich aufdiebislang für zutreffend gehaltene Interpretation verlassen haben. Obaus diesem Grund eine in Aussicht genommene Rechtsprechungsänderung verfassungswidrig sein kann und ob richterliche Übergangsregelungen überhaupt zulässig sind, wird seit langer Zeit heftig diskutiert. Besondere Aktualität hatdiese Diskussion durch eine kürzlich erfolgte Rechtspreeine derspektakulärsten richterlichen chungsänderung des BGHerfahren, die als „ 8bezeichnet worden ist. DieRede ist Rechtsfortbildungen seit Inkrafttreten des BGB“ vonderAnerkennung derRechtsfähigkeit derGesellschaft bürgerlichen Rechts, aus welcher der BGHdie persönliche und unbeschränkte akzessorische Haftung der Gesellschafter fürdieVerbindlichkeiten derGesellschaft abgeleitet hat.Vonbesonderemmethodischen Interesse istdabei, dass derBGHineinigen Fällen zudemheftig umstrittenen Instrument der richterlichen Übergangsregelung gegriffen hat. Es liegt deshalb fürunseren heutigen Vortrag nahe, aus denvielfältigen methodologischen Aspekten des Verhältnisses vonRecht undZeit die Frage herauszugreifen, wiedie Wirkung vonRechtsprechungsänderungen auf inderVergangenheit liegende Sachverhalte zubeurteilen ist.

I. Das Problem Lassen Sie michdenProblemkreis anhand zweier Fallbeispiele illustrieren. EinRechtsanwalt ist imJahre 1998 ineine als Gesellschaft bürgerlichen Rechts organisierte Anwaltssozietät eingetreten.9 Vor seinem Eintritt wareine gesetzliche Verbindlichkeit der Sozietät gegenüber einer Mandantin entstanden. Nach seinem Eintreten nahmdieMandantin denneueingetretenen Anwalt persönlich aufZahlung in

6

7

8 9

in: Beiträge fürClaus-Wilhelm Canaris, Hager/Hey/Koller/Langenbucher/ Neuner/Petersen/Singer (Hg.), S. 83 ff. Siehe Hess, Intertemporales Privatrecht, 1998, S. 290ff.; Vonkilch, DasIntertemporale Privatrecht, 1999, S. 336ff.DasGleichbehandlungsproblem sollhierausgeblendet werden, vgl.hierzu Langenbucher, Entwicklung undAuslegung vonRichterrecht, S. 106 ff.; die Kritik vonBydlinski in: Festschrift 50 Jahre BGH, Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hg.), 2000, S. 24, Anm.42 hieran übersieht m.E.,dass sichausdemGleichbehandlungsgrundsatz nurentnehmen lässt, dass Alt- undNeufall gleich, d. h. nacheiner einheitlichen Maxime, zubehandeln sind. Obdies dieMaxime desAltfalles oderdes Neufalles ist, lässt sich demGleichbehandlungsgrundsatz –entgegen gerade nicht entnehmen. Ausanderen Gründen ablehnend auchKähler, Strukturen und Bydlinski – Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004, S. 285 ff. Canaris, ZGR 2004, S. 69, 70. Angelehnt an BGH, ZIP 2003, S. 889 = NJW2003, S. 1803. Hierzu kürzlich Neuner

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Recht undZeit

desneuineine Gesellschaft Eintretenden findet sichfür die oHGin§ 130 HGB. Fürdie Gesellschaft bürgerlichen Rechts hatte die Rechtsprechung eineanaloge Anwendung dieser Vorschrift bislang ausdrücklich abgelehnt. Wer ineineGbReintrat, musste folglich weder Nachforschungen überetwaige Verbindlichkeiten dieser Gesellschaft anstellen nocheinhieraus sichergebendes Risiko beiden Verhandlungen über seinen Eintritt berücksichtigen. DerBGHhat diesen Fall zum Anlass genommen, seine bisherige Haltung zuändern undeine Haftung desneuineine GbReintretenden Gesellschafters zubejahen. Gleichwohl verurteilte dasGericht den 10 beklagten Anwalt nicht, sondern nahman, „ Erwägungen des Vertrauensschutzes“ stünden derAnwendung derneuen Rechtsprechungslinie imkonkreten Fallentgegen. Inunserem zweiten Fallbeispiel begehrt einklagender Verbraucherverein voneiner . Combisparverträgen“ Sparkasse dieUnterlassung einer AGB-Klausel insogenannten „ Dortwarzulesen: „ DieSparkasse zahlt amEnde eines Kalenderjahres denimJah11.Die resverlauf durch Aushang bekannt gegebenen ZinsfürdasCombisparguthaben“ Formulierung derweitverbreiteten Klausel orientiert sich aneiner seit gut20 Jahren feststehenden Rechtsprechung des BGH. Dieser hatte die Formulierung einer einschränkenden Interpretation unterzogen undangenommen, dieZinsgestaltung habe sich andenVeränderungen derRefinanzierungskonditionen auszurichten. Indieser Anspruch. Einesolche Haftung

Auslegung wardie Klausel bislang das Gericht für unzulässig.13

fürzulässig gehalten worden.12 Nunmehr hielt sie

Dass es beiderFrage, wiesich eine Rechtsprechungsänderung aufinderVergangenheit liegende Sachverhalte auswirkt, vorrangig umdieKollision vonVertrauensschutz undverbesserter Rechtserkenntnis geht, liegt nahe.14 Das Problem ist aber einer nochweitergehenden Abschichtung zugänglich. Zunächst müssen wirunsdarüber vergewissern, ob ein Vertrauen des Bürgers auf Gerichtsurteile überhaupt schutzwürdig ist. Dashängt mitderFrage zusammen, obinvestiertes Vertrauen schon der Zulässigkeit einer Rechtsprechungsänderung entgegenstehen kann. Trifft das jedenfalls nicht in allen Fällen zu, geht es weiter darum, ob sich Leitlinien für die Berücksichtigung vonVertrauen beiRechtsprechungsänderungen angeben lassen.

II. DieSchutzwürdigkeit vonVertrauen auf Gerichtsurteile

EinGerichtsurteil istverfassungsrechtlich betrachtet einHandeln derdritten Gewalt mit Außenwirkung. Diese betrifft zunächst nurdie Prozessparteien, beiVeröffentlichung desUrteils dannsämtliche Rechtssubjekte. Ganzunabhängig vonderFrage, wiesich durch Gerichtsurteile entstehendes Richterrecht rechtstheoretisch einordnen lässt, stellt sich derRechtsverkehr aufdie Konkretisierung undFortbildung geschriebener Normen durch dieRechtsprechung ein. Dasliegt schon daran, dass sich inderPraxis eine weitgehende Konstanz höchstrichterlicher Entscheidungen beobachten lässt. schlägt sichineiner Zunächst nochkonturenloses Vertrauen auf„ dieRechtsprechung“ 10 11 12

13

14

Diese Wendung findet sich auch inBGHZ150, S. 1 (Haftungsbeschränkung fürGesellschafter der als GbRorganisierten geschlossenen Immobilienfonds). BGH, NJW2004, S. 1588. Seit BGHZ 97, S. 212. Genauer: Diebisherige Rechtsprechungslinie bezog sichaufderartige Klauseln inKreditverträgen. Jedenfalls die Übertragung dieser Rechtsprechung aufdie Verzinsung vonPassiveinlagen wollte dasGericht nicht vornehmen. Buchner in: Gedächnisschrift für Rolf Dietz, Hueck/Richardi (Hg.), 1973, S. 175, 178 ff.

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Katja Langenbucher

Fülle einzelner Vertrauenstatbestände nieder. Diese reichen vondemsorgfältig die höchstrichterliche Praxis studierenden Rechtskundigen über Rechtsberatung durch Anwälte, Vereine oderauchFormularbücher, biszuVeröffentlichungen außerhalb der Fachpresse oderauchdemNiederschlag derRechtsprechung intypischen Verkehrsgewohnheiten. Das letztere magetwa fürunseren Rechtsanwalt zutreffen, dervor Eintritt indie Sozietät keine Erkundigungen über deren etwaige Altverbindlichkeiten eingezogen hatte, nicht weilerdieRechtsprechung zurRechtsnatur derGbRaufmerksamverfolgt hätte, sondern weileinderartiges Vorgehen bislang unüblich war. Aufdenersten Blick istderSchutz dieses Vertrauens nachArt.20Abs.3 GGeine Selbstverständlichkeit.15 Beinäherem Hinsehen gilt es allerdings allerlei Gegenargumente auszuräumen, vondenen wiruns heute besonders auf einen immer wieder erhobenen Einwand konzentrieren wollen:16 Immerhin, so wird vorgebracht, ist der Richterverfassungsrechtlich verpflichtet, beiseiner Entscheidung diemateriellrechtlich17 als ambesten begründbar erkannte Lösung durchzusetzen. Das ist gemeint, wenn gelegentlich vereinfachend vorgetragen wird, ein Richter, derVertrauensschutz für vergangene Gerichtsurteile gewähre, treffe eine „ unrichtige“ Entscheidung.18

1. DasArgument vonder„unrichtigen

Entscheidung“

Wirwollen den Gedankengang dieser Autoren noch etwas deutlicher machen. Ein

Gericht möge eine Änderung seiner Rechtsprechung inAussicht genommen haben. Die Gründe, welche die bisherige Linie getragen haben, sind durch Argumente widerlegbar, dieeine erheblich besser vertretbare Lösung stützen. Damit istmethodologisch gesprochen zunächst einmal derWegfüreineneuemateriellrechtliche BeurteilungdesSachverhalts geebnet.19 Dieneue materiellrechtliche Beurteilung bezeichnen . richtige Entscheidung“ diese Kritiker als die „ ist in dieser Terminologie folglich ein Gerichtsurteil, welches unter BeUnrichtig“ „ rufung aufdieBindung desRichters anArt.20Abs. 3 GGunddiedamit einhergehende Verpflichtung, schutzwürdiges Vertrauen zu honorieren, die verbesserte Rechtserkenntnis aufdemGebiet des materiellen Rechts garnicht odernochnicht durchsetzt –wiederBGHimFalle unseres auseiner Altverbindlichkeit inAnspruch genommenen Rechtsanwalts. Wereinsolches Vorgehen als „unrichtig“bezeichnet, vertritt einen unbedingten Vorrang des materiellen Rechts. Kein Vertrauenstatbestand, so muss argumentiert werden, legitimiert es, eine Rechtsprechungsänderung gar nicht odererst zukünftig durchzuführen. Indieser starken FormwirddasArgument selten formuliert. Esließe sichdurch den Hinweis widerlegen, dass sichnicht ausschließen lässt, dass einVertrauenstatbestand vonganz besonderem Gewicht einer Rechtsprechungsänderung, dienurebenso gut vertretbar ist, wiediebislang eingeschlagene Linie, entgegensteht. 15 Vgl. Lecheler, WM1994, S. 2049; Lerche/v. Pestalozza, Beilage 14/1986 zu BB 1986, S. 16. 16 Vgl.zuweiteren Argumenten Langenbucher, JZ 2003, S. 1133 ff.

17 18

19

verfassungsrechtlich“ verwendet. Imgleichen Dieser Terminus wirdimfolgenden als Gegensatz zu„ von„ einfachgesetzlich“ materiellrechtlich“ Sinne könnte manstatt von„ sprechen. Bydlinski, JBI 2001, S. 2, 8, 14 f.; ders. (Anm. 7), S. 3, 52 f.; Kähler (Anm. 7), S. 74; Larenz/Canaris, Methodenlehre derRechtswissenschaft, 1995, S. 260. Vgl. z. B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre S. 507 f.; ders., SAE 1994, S. 96; Langenbucher (Anm.

7), S. 126 f.

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Recht undZeit

Inschwächerer Formkommt dasArgument vorallem inzweiVarianten vor.Manche möchten denunbedingten Vorrang desmateriellen Rechts ausdemGewaltenteilungsgrundsatz herleiten.20 Dieser verpflichte denRichter aufdieEntscheidung vonEinzelfällen undgestatte keine Aufstellung genereller Regeln. EinRichter, dererst fürdie Zukunft eine Rechtsprechungsänderung ankündigt, handelt hiernach verfassungswidrig. Vertrauen ist statt dessen imRahmen des Vorrangs des materiellen Rechts zu berücksichtigen. Das führt fürdas Zivilrecht dazu, dass Instrumente, wiedie ergänzende Vertragsauslegung, derRechtsmissbrauch oderdieKorrektur vonEntscheidungenaufderBasis des § 242 BGBzurAnwendung gelangen.21 Andere nehmen an, der Schutz von Vertrauen sei vermutlich schon dadurch abschließend gewürdigt, dass imRahmen vonInstituten wiederRechtsscheinhaftung Vertrauen Berücksichtigung finde. Endgültig „ soll derVertrauensschutz verbraucht“ jedenfalls aus folgendem Grund sein:22 Beidermethodologischen Frage, wannvon einer Rechtsprechung wieder abgewichen werden darf, führe derVertrauensschutz dazu, dass Richter nurdannvonPräjudizien abweichen dürfen, wenndieneue Lösung erheblich besser vertretbar sei.Wäresienurebenso gutodergarschlechter vertretbar, sei derRichter andas Präjudiz gebunden undzwarwegen des Vertrauensschutzes. DarfderRichter nachdieser Theorie vondersubsidiären Verbindlichkeit vonPräjudizien aber abweichen, so wirdargumentiert, könne nunmehr derAspekt des Vertrauensschutzes nicht erneut zumEinsatz kommen undrichterliches Übergangsrecht legitimieren. Statt dessen sei auf das bereits erwähnte materiellrechtliche Instrumentarium zurückzugreifen.23

2. Liegt einVerstoß gegen dierichterliche

Verpflichtung

zurEntscheidung vonEinzel-

fällen vor?

Dieverfassungsrechtliche Verpflichtung desRichters aufdieEntscheidung vonEinzelfällen steht richterlichem Übergangsrecht, wiees derBGHinunserer Rechtsanwaltsentscheidung geschaffen hat, nicht entgegen. Das macht folgendes Gedankenexperiment deutlich. DerBGHhätte seine Entscheidung, soweit sie denRechtsanwalt betrifft, auch so begründen können: Derklagende Gläubiger hält eine Haftung des beklagten Anwalts fürgerechtfertigt. Dasmagmateriellrechtlich zutreffen. DasGericht muss hierüber abernicht weiter befinden, denndasVertrauen aufdievergangene, in dieandere Richtung zielende Rechtsprechung schließt dieHaftung desAnwalts aus. DieKlage istdaher abzuweisen. Hältmanobiter dicta fürzulässig, hätte derBGHnoch einsolches anfügen können, umfürdieZukunft eine andere Entscheidung inAussicht zustellen. Ineiner späteren Entscheidung, diewiederum einen späteren Einzelfall betroffen hätte, wäre sodann folgendes Urteil ergangen: Der klagende Gläubiger hält eine Haftung desbeklagten Anwalts fürgerechtfertigt. Dastrifft materiellrechtlich zu.Durch unser obiter dictum ist etwaiges Vertrauen auf die in derVergangenheit etablierte 20 Kähler (Anm. 7), S. 292; Picker, JZ 1984, S. 153 ff.; Zimmermann/Jansen in:The Lawof Obligations, Essays inCelebration ofJohn Fleming, Cane/Stapleton (Hg.), 1998, S. 285, 305 ff.; s. a. Lord Devlin, Modern LawReview 1976, S. 1, 11. 21 Zimmermann/Jansen (Anm. 20), S. 285, 305 ff.; „vertrauensschützende Normen“individualisiert Kähler (Anm. 7), S. 294 ff.; hierzu demnächst Langenbucher, FS Horn, 2006. 22 Bydlinski (Anm.18), S. 2, 15; ders. (Anm 7), S. 54. 23 Bydlinski (Anm.18), S. 2, 14 f.; ders. (Anm.7), S. 3, 52 f.

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Katja Langenbucher

Rechtsprechung durchlöchert worden. Jetzt wird demKläger der materiellrechtlich überzeugend begründbare Anspruch zugesprochen. Wasbeweist das? Es geht nicht umdieVerpflichtung des Richters zurkorrekten materiellrechtlichen Entscheidung vonEinzelfällen. Dieser Verpflichtung kanndurch dieSeparierung derbeiden Entscheidungen ohne weiteres nachgekommen werden. Vielwichtiger ist die Frage, obes überhaupt zulässig ist, eine (nur) materiellrechtlich richtige Entscheidung unter Rückgriff aufdasverfassungsrechtliche Gebot, Vertrauensschutz aufGerichtsurteile zuhonorieren, inbestimmten Fallkonstellationen zurückzustellen.24

3. Wieweitreicht dasverfassungsrechtliche

Vertrauensschutzgebot?

Hiersetzt diezweite Argumentationslinie an,diemeint, Erwägungen desVertrauens. Dasverlangt nach verbrauchen“ schutzes müssten sich durch mehrmaligen Einsatz „ sorgfältiger Differenzierung. Soweit Institute des Privatrechts wie etwa die Rechtsscheinhaftung Vertrauen berücksichtigen, geht es umeinen anderen Problemkreis. Dort fragt man, ob ein Rechtsschein- oderebenVertrauenstatbestand, deneine Partei zurechenbar gesetzt hat, ihre Inanspruchnahme durch die andere Partei legitimiert. Schulbeispiel ist die Vollmachtsurkunde, mitwelcher derangeblich Bevollmächtigte nochnachWiderruf der Vollmacht Geschäfte tätigt. DerinRede stehende Vertrauenstatbestand stammt von einer Partei, dieandere Partei durfte sich aufdiesen Tatbestand verlassen. DasVertrauen aufGerichtsurteile lässt sich indiese Kategorien nicht einordnen: Gerichtliche Entscheidungen stellen bereits keinen voneiner Parteigesetzten Vertrauenstatbestand dar. DieFrage, obeine Präjudizienreihe demRisikobereich einer Partei zurechenbar ist oderobdieandere Partei –wegen derzurechenbaren Setzung dieses Ver-trauenstatbestandes –hierauf vertrauen durfte, führt indie Irre.25 ZumKerndesProblems führt hingegen dieweitere Erwägung, dieGewährung von Vertrauensschutz seijedenfalls dadurch verbraucht, dass bereits beiderFrage, obvon vergangenen Gerichtsurteilen überhaupt abgewichen werden dürfe, dasVertrauen der Rechtssubjekte aufPräjudizien gewürdigt werde. Werso argumentiert, hatdenunbedingten Vorrang desmateriellen Rechts bereits einStück weitaufgegeben. Jedenfalls fürdieSituation mehrerer vertretbarer Lösungen wirdja akzeptiert, dass das verfassungsrechtliche Gebot, Vertrauen nicht zuenttäuschen, zurBeibehaltung eines einmal eingeschlagenen Lösungswegs zwingen kann. Eine Rechtsprechungsänderung sollin diesem Bereich sogar überhaupt nicht zulässig sein. Damit lässt sich ein erstes Ergebnis festhalten: Gerichtsurteile sind unmittelbar verfassungsgebundenes Handeln derdritten Gewalt. Alssolches sind sie an Art. 20 Abs. 3 GG gebunden und mit der Verpflichtung belastet, investiertem Vertrauen Rechnung zutragen. undder Es istbereits deutlich geworden, dass dieTerminologie vonder„richtigen“ Entscheidung nicht hinreichend präzise ist.26 Werdiese Begriffe verwen„ unrichtigen“ 24 In diese Richtung auch Robbers, JZ 1998, S. 481, 487.

25 Vgl. Canaris, SAE 1972, S. 22, 23: Bei privatrechtlichem Vertrauensschutz geht es nicht um Vertrauen aufdiebisherige Rechtsprechung, sondern umVertrauen aufdieGültigkeit des Rechtsgeschäfts (solange es imfraglichen Prozess umeine solches geht). ZuBemühungen, denVertrauensschutz fürGerichtsurteile gleichwohl unter privatrechtliche Kategorien zusubsumieren siehe Bydlinski (Anm. 18), S. 2, 6. (Anm. 25), S.

26 Vgl. schon Canaris

22, 23.

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Recht undZeit

Entscheidung einUrteil, welches dieausschließlich nach det, meint mitder„richtigen“ Entscheidung sind materiellem Recht richtige Lösung durchsetzt. Mitder„ unrichtigen“ alle diejenigen Urteile angesprochen, welche dem in Einzelfällen schutzwürdigen Vertrauen aufvergangene Präjudizien Rechnung tragen. Daslässt sichschon deshalb nicht als „ Urteil etikettieren, weiles sich beiderVerfassung umeine zuunrichtiges“

lässige Rechtsgewinnungsquelle handelt.27

III. DieKollision zwischen demprima facie-Vorrang des materiellen Rechts und demVertrauensschutzgebot

Wirgelangen somit zuderweiteren Frage, obsichLeitlinien fürdieKollision desGebots, die materiell richtige Entscheidung zutreffen, mitdemGebot, Vertrauensschutz zu gewähren, aufstellen lassen.

1. DieInterpretation

beider Gebote

als Optimierungsgebote

Hierher gehört das Argument, Erwägungen des Vertrauensschutzes seien dadurch verbraucht“ , dass mitihrer Hilfe eine gewisse Verbindlichkeit vonPräjudizien endgültig „ etabliert werde. AufderGrundlage desVertrauensschutzgebots, soargumentiert diese Ansicht, seianvertretbaren Vorentscheidungen festzuhalten.28 Wieengoderweitman Vorentscheidung fasst, bestimmt dieStärke oderSchwävertretbaren“ denBegriff der„ chedieser Interpretation desVertrauensschutzgebots. Fasst mandenBegriff ganzeng, so handelt es sichumeine schwache Interpretation: Sie besagt, dass einem Präjudiz nurindereinigermaßen theoretischen Situation des völligen Gleichstands materiellrechtlicher Argumente zufolgen ist. Überwiegt eineinziger Aspekt, istdieabweichende Entscheidung besser vertretbar undVertrauensschutz damit hinfällig.29 Fasst manden Begriff der„ vertretbaren“ Vorentscheidung weit, so kommt manzueiner starken Interpretation desVertrauensschutzgebots sehrstark. Siegehtdanndavon aus,dasverfassungsrechtliche Gebot zwinge diedritte Gewalt aneinem Präjudiz solange festzuhalten, bis es nicht mehrvertretbar –mithin offenkundig unhaltbar –geworden ist. Gegen diezuletzt genannte starke Interpretation spricht, dass hierdurch dieVersteinerung vonRichterrecht bewirkt würde.30 DemGebot, Vertrauen aufvergangene Gerichtsurteile zurespektieren, wirddasgegenläufige Vertrauen aufeine FortentwicklungderRechtsprechung hinzunochbesser begründbaren Entscheidungen vollstän-

dig geopfert. Gegen die schwache Interpretation lässt sich dieser Einwand umkehren: Das Vertrauensschutzgebot wirdreduziert aufdasGebot, aneinem Präjudiz festzuhalten, wennsichkeineinziges Argument finden lässt, warum eine abweichende Entscheidung besservertretbarwäre. Außerhalb dieser sehrengen Konstellation kämedemVertrauensschutzgebot keine Bedeutung zu,es wäre„ . verbraucht“

27

Hiergegen verfängt auchderVerweis Bydlinskis (Anm. 7), S. 53 f. auf§ 7 ABGBnicht, es handelt sich hierbei imGegenteil umeine petitio principii: Geht es umdie Frage, ob sich ein Fall unter Rückgriff aufdie einfachgesetzlichen Normen entscheiden lässt, kann mannicht aufeine Regel verweisen, dieanordnet, dass, wenndies möglich ist, auchso zuverfahren sei. 28 Bydlinski (Anm. 18), S. 2, 14 f.; ders. (Anm. 7), S. 3, 52 f. 29 So wohl Bydlinski (Anm. 18), S. 2, 5 Anm. 9. 30 Statt aller: BVerfGE 18, S. 224, 240 f.

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Katja Langenbucher

a) Vertrauensschutz als Optimierungsgebot

Andieser Position ist zweierlei bemerkenswert. So wirdeinerseits Vertrauensschutz immerhin als Postulat anerkannt. Daszeigt sich besonders deutlich darin, dass auch diese Meinung demRichter empfiehlt, Vertrauensschutz mitHilfe des Instrumentariumsdes materiellen Rechts zugewähren. Andererseits wirddieVerwirklichung von Vertrauensschutz aufeine einzige denkbare Formreduziert, wennangenommen wird, dieses Gebot „ sich imRahmen derEntscheidung überdieZulässigkeit verbrauche“ Anwendung dieses erneute“ einer Rechtsprechungsänderung als solcher undjede „ Prinzips stelle

eine inkonsistente Argumentation dar.31

Diescheinbare Inkonsistenz inderArgumentation beruht darauf, dass zweiFra-

gestellungen nicht ausreichend separiert werden. Es geht erstens umdiemethodologische wieverfassungsrechtliche Frage, wann Gerichte ihre Rechtsprechung ändern dürfen. HierwirddasVertrauensschutzgebot im als SchlagRegelfall ergeben, dass einGericht voneinem Präjudiz abweichen darf– worte ausderDiskussion hierzu seierneut aufdiesonst drohende Versteinerung des Richterrechts unddiemangelnde Bindung durch Richterrecht imkontinentalen Rechtssystem verwiesen.32 Nuringanzbesonders liegenden Ausnahmefällen kanndiedritte Gewalt einmal verpflichtet sein, aufDauer an–nochvertretbaren –Präjudizien trotz zwischenzeitlich verbesserter Rechtserkenntnis festzuhalten, weil ein Vertrauenstatbestand vonüberragender Bedeutung vorliegt. Zweitens ist zuentscheiden, ob Vertrauen, welches sich auf Präjudizien richtet, auchdannrespektiert werden muss, wenneine Rechtsprechungsänderung imGrundsatz zulässig ist. Diese Frage istmitderersten nicht identisch. DieAbschichtung der beiden Fragen folgt vielmehr ganzzwanglos ausdernormtheoretischen Struktur des Vertrauensschutzgebots als Optimierungsgebot. Optimierungsgebote sind–anders als Regeln –bekanntlich nicht eindimensional nurentweder anwendbar oder eben nicht, sondern einem MehroderWeniger inderVerwirklichung zugänglich.33 Ausder unterschiedlichen Intensität, mitwelcher einsolches Gebot betroffen sein kann, ergeben sich Abweichungen imVerwirklichungsgrad. Daslässt sich andreiSzenarien zeigen, diesich nacheiner Isolierung nurdesVertrauensschutzgebots ergeben: IstdasGebot besonders intensiv betroffen, folgt hieraus, dassdieRechtsprechung dauerhaft aneiner bestimmten Präjudizienreihe festzuhalten hat. Auseiner mäßigen Beeinträchtigung desVertrauensschutzgebots ergibt sich, dass dieRechtsprechung zwarinsgesamt aufgegeben werden kann, zunächst allerdings der durch diese entstandene Vertrauenstatbestand zuzerstören ist. Überdenmethodischen Weghierzu werden wirunsweiter unten Gedanken machen müssen. Auseiner ganzgeringen Beeinträchtigung istabzuleiten, dass dieRechtsprechung sofort geändert werden kann, ohne deminvestierten Vertrauen überhaupt Rechnung zutragen. Diese Abwägung wird komplexer, sobald manweitere Optimierungsgebote mit einbezieht. Hierist insbesondere das Gebot, diemateriellrechtlich richtige Entscheidung durchzusetzen zunennen; hinzu kann derSchutz vonGrundrechten oderdas Interesse anderstimmigen Fortentwicklung derRechtsordnung treten. DieKomplexität derAbwägung, diesichnacheigenen Regeln vollzieht,34 ändert allerdings nichts daran, 31

32

33

34

Bydlinski (Anm.

7), S. 54.

Näher zurPosition derVerf. Langenbucher (Anm. 7), S. 105ff. Statt aller: Alexy, Theorie der Grundrechte, 1. Aufl. 1986, S. 71 ff. ZurRationalität vonAbwägungsvorgängen Alexy in: Gedächtnisschrift Jickeli/Kreutz/Reuter (Hg.), 2003, S. 771 ff.

fürJürgen Sonnenschein,

63

Recht undZeit

dass weiterhin diese dreiEntscheidungsvarianten bestehen. Werdavon ausgeht, dass

ein Vertrauenstatbestand einer Rechtsprechungsänderung insgesamt entgegenstehen kann, derkann nicht vernünftig bestreiten, dass als Minus hierzu eine Recht-

sprechungsänderung erst zukünftig zulässig sein kann. Damit können wireinzweites Ergebnis festhalten: DieVerpflichtung derdritten Gewalt, investiertem Vertrauen Rechnung zutragen, stellt normtheoretisch einOptimierungsgebot dar.Daraus folgt, dass diese Verpflichtung einer Abwägung zugänglich ist undinunterschiedlichem Maßverwirklicht werden kann. Dieäußeren Enden des Spektrums stellen dabei dieNichtverwirklichung, dasheißt Rechtsprechungsänderung ohne Vertrauensschutz, unddie Vollverwirklichung, also Ablehnung jeder Rechtsprechungsänderung, dar. Dazwischen liegen Formen derteilweisen Verwirklichung

dieses Gebots.

b) Derprima

facie-Vorrang

desmateriellen Rechts als Optimierungsgebot

Bevor wirunsdenFormen derteilweisen Verwirklichung desVertrauensschutzgebots widmen, wollen wireinen Blick aufdasgegenläufige Gebot, dieVerwirklichung der(nur) nach materiellem Recht richtigen Lösung, werfen. Es lohnt sich zunächst die Hervorhebung desNormalfalles: Dieser liegt inderDurchsetzung dermateriellrechtlich besser begründbaren Lösung; ananderer Stelle habeichdabei voneinem prima facie-Vorrang des materiellen Rechts gesprochen35. Damit istzweierlei gemeint: Erstens: Wersich auf einen infolge verbesserter Rechtserkenntnis gegebenen Anspruch beruft, hatnicht erstzubegründen, warum erihndurchgesetzt sehen will. Die Argumentationslast trägt vielmehr, wereinvondermateriellen Rechtslage abweichendesUrteil verlangt. Ermusszeigen, dass Art.20 Abs. 3 GGderDurchsetzung desmateriellrechtlich besser begründbaren Anspruchs Grenzen setzt. Zweitens: Das Gebot, die materiellrechtlich36 als besser begründbar erkannte Entscheidung durchzusetzen, lässt sich als Optimierungsgebot begreifen. FürdenVorrang der(nur) nachmateriellem Recht zutreffenden Lösung lässt sich anführen, dass dieDurchsetzung derbesser begründbaren Entscheidung dieoriginäre Aufgabe derdritten Gewalt ist. Bei derKorrektur vondurch schlechter begründbare Entscheidungen entstandenen Erwartungen handelt es sich demgegenüber bildlich gesprochen umReparaturarbeiten, denen notwendig eine nachgeordnete Funktion zukommt. Demist insbesondere entgegengehalten worden, dass jedenfalls, wenn eine Rechtsprechungsänderung sichaufeinen Wertewandel zurückführen lasse, dieser erst werde. Es sei daher dieZukunftsvollzogen“ mitderVerkündung derEntscheidung „ wirkung geänderter Rechtsprechung der Normalfall, die unmittelbare Entscheidung aufgrund derverbesserten Erkenntnis derAusnahmefall.37 InderSache gehtes dieser Ansicht umVertrauensschutz fürdenjenigen, dersich voneinem Wertewandel überrascht fühlt. Dasistzwarlegitim, dasbesondere Gewicht eines entstandenen Vertrauenstatbestandes muss allerdings injedem Einzelfall argumentativ hergeleitet werden um sichgegenüber demprima facie Vorrang desmateriellen Rechts durchzusetzen. : Ross, The Right and the Good, 1930, Langenbucher (Anm. 16), S. 1134 f.; zumBegriff „prima facie“ S. 19 ff., 28 ff. 36 Vgl. Anm. 17. 37 Lieb in: Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, Schilken/Becker-Eberhard/Gerhardt (Hg.), 1997, S. 381, 390ff.; fürprospektive Anwendung neuer Regeln als Regelfall auch: Knittel, ZumProblem derRückwirkung beieiner Änderung derRechtsprechung, 1965, S. 50ff.; Probst, DieÄnderung der Rechtsprechung, 1993, S. 722 ff. 35

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Katja Langenbucher

DerCharakter dieses Gebots als Optimierungsgebot überrascht aufdenersten Blick. Optimierungsgebote zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass etwas relativ aufdie rechtlichen undtatsächlichen Möglichkeiten inmöglichst hohem Maße realisiert werden soll.38 Sie sind deshalb inunterschiedlichem Ausmaß realisierbar unddamit auchskalierbar. Mankönnte meinen, dass das Gebot, diezutreffende materiellrechtliche Entscheidung zutreffen, eine Regel undebenkeinPrinzip darstellt. Beinäherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass das Gebot, die zutreffende materiellrechtliche Entscheidung zutreffen, nicht –wieeine Regel –entweder verwirklicht werden kann odernicht. Statt dessen lassen sichbesser undschlechter vertretbare Entscheidungen unterscheiden, welche dervollständigen Verwirklichung dieses Gebots näher oder weniger nahe kommen. Das lässt sich anhand deroben dargestellten Szenarien39, nunmehr unter dem Blickwinkel des Gebots vomVorrang des materiellen Rechts, illustrieren: Wirkönnen unsvorstellen, dass dasVertrauensschutzgebot dasFesthalten andereinmal eingeschlagenen Rechtsprechungslinie fordert, das Gebot vomVorrang des materiellen Rechts hingegen dieAbkehr vondieser Linie. Überwiegt dasVertrauensschutzgebot vollständig, bleibt es dauerhaft bei der bisherigen Rechtsprechung, solange diese überhaupt einemateriell richtige Lösung, dasheißt wenigstens vertretbar ist.Überwiegt dasGebot desVorrangs des materiellen Rechts vollständig, so wirddieneue Rechtsprechung unmittelbar umgesetzt. Kommt beiden Geboten ungefähr gleich viel Gewicht zu,so sindunterschiedliche Lösungen denkbar. Es kanndasVertrauensschutzgebot durch einmateriellrechtliches Instrument, mandenke an§ 242BGB,berücksichtigt werden. Es kann demVertrauensschutzgebot auch durch ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung füreine gewisse ZeitGenüge getan werden.

2. DieTechniken fürdieKollision beider Gebote Damit rückt die Frage indenMittelpunkt, welche Formeine Entscheidung annehmen kann, welche sowohl dasVertrauensschutzgebot alsauchdenVorrang desmateriellen Rechts berücksichtigt.40 Wirwollen dreidenkbare Entscheidungsvarianten herausgreifen: DieAufnahme vonrelativierenden obiter dicta, dieEntscheidung nachderneuen Rechtsprechung unter Abmilderung ihrer Konsequenzen anhand desmateriellrechtlichen Instrumentariums unddieRechtsprechungsänderung mitWirkung erstfürdieZukunft.

a) Obiter dicta Obiter dicta sind ein weithin anerkanntes Mittel zur Zerstörung von Vertrauenstatbeständen, welche aufderGrundlage einer feststehenden Rechtsprechung entstandensind.41 Diese Einmütigkeit überrascht zunächst, denneinobiter dictum isteines der deutlichsten Indizien dafür, dass sichRichter nicht aufdieihnen angesonnene Rolle der Entscheidung nurvonEinzelfällen beschränken lassen. Legitimieren lassen sichderartige Hinweise nur durch die Respektierung des Vertrauensschutzgebots: Sind 38 Alexy (Anm. 33), S. 75. 39 S. o. unter III 1 a. 40 Hierzu auch Vonkilch (Anm. 7), S. 37 ff. 41 Statt aller Bydlinski (Anm. 18), S. 2, 19. Zuanderen extraprozessualen Ankündigungen Kähler (Anm. 7), S. 73.

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Recht undZeit

Zweifel aneiner bestimmten Rechtsprechung entstanden, wenngleich diese nicht unmittelbar entscheidungserheblich ist, kannmittels eines richterlichen „ Warnhinweises“ versucht werden, wenigstens fürdieZukunft hierauf gerichtetes Vertrauen zuzerstören. Diese Technik hat das Defizit störender Unverbindlichkeit. Das obiter dictum schafft biszuseiner endgültigen Klärung Rechtsunsicherheit. Es istja weder klar, ob dieangezweifelte Rechtsprechung tatsächlich aufgegeben werden wirdnoch inwelchem Umfang undmitwelcher Neuausrichtung dies geplant ist. Alszwingende Voraussetzung derVerwirklichung vonVertrauensschutz beiRechtsprechungsänderungen eignen sichobiter dicta schon deshalb nicht, weiles vonzahlreichen Zufällen abhängt, obdie Rechtsprechung rechtzeitig Gelegenheit hierzu hatte.

b) Instrumente desmateriellen

Rechts

zurVerwirklichung vonVertrauensschutz

Wenden wiruns der Verwirklichung vonVertrauensschutz auf der Grundlage des materiellen Rechts zu.Diese nimmt ganzunterschiedliche Formen an,je nachderArt der betroffenen Interessen. Beispielhaft seien fürden Bereich des Zivilrechts42 die Annahme eines Verbotsirrtums genannt, derEinwand rechtsmissbräuchlichen VerhaltenszuLasten desjenigen, dersichaufdiegeänderte Rechtsprechung berufen möchte, die ergänzende Vertragsauslegung, derWegfall derGeschäftsgrundlage, die KündigungvonDauerschuldverhältnissen43 oderdiefreihändige Korrektur des Ergebnisses nach § 242 BGB44. Diese Instrumente können fürsich die Vorzugswürdigkeit des milderen Mittels beanspruchen. Wodie geänderte Rechtsprechung sich tatsächlich als Störung der Geschäftsgrundlage oder als beachtlicher Verbotsirrtum einordnen lässt, ist dieser Wegsachnäher undhäufig systematisch überzeugender alsderunmittelbare Rückgriff auf Verfassungsrecht, der die weiter unten zu behandelnde Rechtsprechung mit Wirkung erstfürdieZukunft legitimieren kann. Alsexklusiv zulässiges Mittel derWahrungvonVertrauensschutz taugt dieses Instrumentarium allerdings seltener als es auf denersten Blick scheinen mag. Dasliegt zumeinen daran, dass häufig bereits dieStruktur derProzessbeteiligung einer materiell gerechten Lösung Hindernisse bereitet. Inunserem Beispielsfall desin eine Sozietät eintretenden Rechtsanwalts könnte manzwardessen Inanspruchnahme fürdenverals unzulässige Rechtsausübung ablehnen, wennmanhierein„Einfallstor“ fassungsrechtlichen Vertrauensschutz öffnen wollte. Dogmatisch vielüberzeugender wäre es freilich, dieAbhilfe ineiner Neuordnung derRegressproblematik zusuchen: Hätten dieBeteiligten dieneue Rechtsprechung antizipiert, sohätte sichderAnwalt bei seinem Eintritt eine Freistellung vonAltschulden versprechen lassen. Nunsindaberdie übrigen Gesellschafter garnicht amProzess desGläubigers gegen deneintretenden Anwalt beteiligt gewesen. Vertrauensschutz könnte daher nurdurch einen weiteren Prozess erreicht werden. Zumanderen magdieses Beispiel bereits Beleg genug fürdie Gefahr sein, das mittelbaren Vertrauensschutz“ geramateriellrechtliche Instrumentarium durch diesen „

42 43 44

Umfassender Probst (Anm. 37), S. 722ff.; fürdasStrafrecht: Tae-Young HaBelastende Rechtsprechungsänderungen durch dieStrafgerichte unter demGesichtspunkt derpositiven Generalprävention, 1996. Vgl. z. B. LG Frankfurt, MDR2002, S. 913. Zualledem Bydlinski (Anm. 18), S. 22; Canaris (Anm. 25), S. 22, 23; Medicus, NJW1995, S. 2577 ff.; Vonkilch (Anm. 7), S. 321ff.; Zimmermann/Jansen (Anm. 20), S. 309f.; demnächst Langenbucher,

FS Horn, 2006.

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Katja Langenbucher

deseines originären Gehalts zuentleeren.45 Ganzhäufig wirdnämlich eine Änderung derRechtsprechung nicht dieeigenständigen tatbestandlichen Voraussetzungen dieserInstrumente erfüllen, sodass dieGewährung vonVertrauensschutz inGestalt einer Scheinbegründung daherzukommen hätte.

c) Rechtsprechung mitWirkung fürdieZukunft Vonbesonderem Interesse ist daher, ob eine Rechtsprechung mitWirkung fürdie Zukunft einzulässiges Mittel zurGewährung vonVertrauensschutz darstellt. Dasweiter oben angeführte Argument, diese Judikate verletzten denGewaltenteilungsgrundsatz, können wirjetzt endgültig entkräften. DieEntscheidung des Richters, dereine Rechtsprechungsänderung zwarverkündet, denkonkret anstehenden

Fall gleichwohl noch den alten Regeln unterwirft, lässt sich nicht als „ unrichtig“bezeichnen. Das Gerichtsurteil ist vielmehr dann richtig, wenn erstens die besseren Gründe fürdie Rechtsprechungsänderung sprechen undzweitens derentstandene Vertrauenstatbestand so bedeutsam ist, dass Art. 20 Abs. 3 GGderAusübung des materiellen Rechts Schranken setzt. Indieser Konstellation legitimiert Art.20Abs.3 GG dieEntscheidung zulasten derjenigen Partei, welche dieveränderte Rechtsprechung an sich begünstigt. Wenig Überzeugungskraft hatauch einanderer gelegentlich vorgebrachter Einwand. Rechtsprechung mitWirkung fürdie Zukunft soll hiernach besonders unbillig sein, weil gerade demjenigen Kläger, welcher die Änderung der Rechtsprechung erstritten hat,diese nicht zugute komme. Hierdurch gehederAnreiz fürsolche Prozesse verloren, welche aufeine Änderung derRechtsprechung zielen, wasinderFolge den Gerichten die Gelegenheit rauben müsste, Richterrecht fortzuentwickeln. Dagegen spricht schon, dass es sichbeidenFällen derRechtsprechung nurmitZukunftswirkung umAusnahmetatbestände handelt. Im Normalfall gilt der prima facie-Vorrang des materiellen Rechts, welcher den Kläger begünstigt. Allein in der Möglichkeit einer solchen Vertrauensschutzentscheidung dürfte nochkeinHindernis fürProzesse liegen, welche eine Rechtsprechungsänderung ermöglichen.46 Hinzu kommt, dass es keineswegs notwendig derKläger sein muss, dereine Rechtsprechungsänderung erstrebt. Ebenso hochistdieWahrscheinlichkeit, dass derKläger imVertrauen aufdiebislang fürrichtig gehaltene Rechtsprechung prozessiert undüberraschend demBeklagten die neue Rechtserkenntnis zugute kommt. Fürdenjenigen Kläger, derdenAnlassfall füreine Rechtsprechungsänderung geboten hat undgleichwohl noch nach der ehemaligen Rechtsprechung behandelt wird, magdie Entscheidung unbillig erscheinen. Inder Bekümmerung hierüber darf man freilich nicht übersehen, dass es fürihnkeinen Unterschied macht, ob ihmdieverbesserte Rechtserkenntnis unter unmittelbarem Rückgriff auf Vertrauensschutzerwägungen vorenthalten oder ob ihmder Weg dorthin –wie dies die weiter oben durch einemateriellrechtliche Einrede versperrt wird. dargestellte Meinung vorschlägt – Bevor wirzuunserem letzten Abschnitt kommen, lohnt es sich, eindrittes Ergebnis festzuhalten: BeiRechtsprechungsänderungen gilteinprima facie-Vorrang desmateriellen Rechts. Werhiervon abweichen möchte, trägt die Argumentationslast. Steht allerdings fest, dass einVertrauenstatbestand vonhinreichendem Gewicht entstanden ist, muss diesem beider Entscheidung über eine Rechtsprechungsänderung Rech45 Diese Gefahr sieht auch Bydlinski (Anm. 18), S. 22 f. 46 Ähnlich Vonkilch (Anm 7), S. 381 f.

Recht undZeit

67

nunggetragen werden. Dasistinmanchen Konstellationen mitdenInstrumenten des

materiellen Rechts möglich undals milderes Mittel auchvorzugswürdig. Gelingt das nicht, bietet Art.20Abs. 3 GGeineausreichende Legitimation füreine Rechtsprechungsänderung mitWirkung erst fürdieZukunft.

3. DieBestimmung des Gewichts des Vertrauensschutzgebots Offen istbislang geblieben, obsichnochweiter konkretisieren lässt, wanneinVertrauenstatbestand vonhinreichendem Gewicht ist, umdie Durchsetzung derverbesserten Rechtserkenntnis aufzuschieben. Das wirft Fragen nach der Art der Vertrauensinvestition undnachderSchutzwürdigkeit dervertrauenden Partei auf.

a) DerVertrauenstatbestand Wirwollen unszunächst denVertrauenstatbestand näher ansehen. FürdieErmittlung desGewichts desVertrauenstatbestandes sindverschiedene Faktoren ausschlagge-

bend. Eine unangefochtene jahrelang immer wieder bestätigte höchstrichterliche Rechtsprechung bildet sicher einen besonders starken Vertrauenstatbestand. Umgekehrt sind literarischer Kritik ausgesetzte, möglicherweise durch obiter dicta bereits relativierte Präjudizien nurein schwacher Vertrauensträger.47 Das überrascht nicht. Naheliegend istauch, dassbewusstes Vertrauen aufeine Rechtsprechung, etwaindem eine vertragliche Gestaltung hieran ausgerichtet wird, zunächst einmal schutzwürdig ist. Anders als gelegentlich angenommen wird, scheidet auchimdeliktischen Bereich eine Vertrauensinvestition nicht vonvornherein aus. Rechtsprechung aufdemGebiete desDeliktsrechts kannsichdurch denAbschluss vonVersicherungen gegebenenfalls auch in derVereinbarung vonRückgriffsmodalitäten bei anderen Verantwortlichen manifestieren. Eine Vertrauensinvestition imweiteren Sinne liegt schließlich in der Hinnahme derverkehrsüblichen Prämiengestaltung vonVersicherungen, welche sich ihrerseits aufbestimmte Rechtsprechungslinien zurückführen lässt. Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob stets eine konkrete Vertrauensinvestition aufdiefrühere Rechtsprechung zufordern ist. Schutzwürdig wäre hiernach nurderjenige, der sein Verhalten bewusst an Gerichtsurteilen ausgerichtet, etwa umfassenden Rechtsrat eingeholt unddiesen sodann inFormvonVertragsklauseln, den Abschluss von Versicherungen und dergleichen umgesetzt hat.48 Für diese Position lässt sichaufdenersten Blick eine Parallele zurGewährung vonVertrauensschutz imPrivatrecht anführen, wenndort eine Vertrauenshaftung nurbeieiner konkreten Vertrauensinvestition inBetracht kommt. Dieabstrakte Entstehung eines Vertrauenstatbestandes, ohnedieMöglichkeit, diesen Tatbestand demRisikobereich des Prozessgegners zuzuweisen, genügt nicht, umdenProzessgegner aus Vertrauenshaftung inAnspruch zunehmen. Beinäherem Hinsehen führt diese Parallele zumPrivatrecht allerdings nicht weiter. Wirhaben schon weiter oben bemerkt, dass es fürden Schutz vonVertrauen auf Gerichtsurteile nicht darauf ankommen kann, derartige Urteile demRisikobereich einer Partei zuzuordnen. Statt dessen haben wirgesagt, dass mitderVeröffentlichung eines Gerichtsurteils vielfältige Formen vonVertrauensinvestitionen entstehen. Dabei ließen

47 ZudenEinzelheiten Langenbucher (Anm. 7), S. 126ff. 48 Indiese Richtung z. B. Lerche/v. Pestalozza (Anm. 15), S. 17.

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sich konkrete Bezugnahmen auf Rechtsprechung ebenso als Vertrauensinvestition begreifen, wieeinverkehrstypisches Verhalten, dasseinen Grund ineiner bestimmten Rechtsprechungslinie hatte. Sinddiese Ausprägungen aufdieRechtsprechung, mithin das Handeln einer Staatsgewalt, zurückführbar, so sindsie zunächst einmal als Vertrauenstatbestand zuberücksichtigen. Hierfür spricht auch, dass dieBezugnahme auf eine abstrakte Vertrauensinvestition eine einheitliche unddamit rechtssichere Entscheidung überdieAnwendung einer geänderten Rechtsprechung ermöglicht, ohne dass in jedem Einzelfall eine konkrete Vertrauensinvestition nachzuweisen wäre. Deshalb konnte

derBGHoffen lassen, obderRechtsanwalt inunserem schon mehr-

fachinBezug genommenen Fallbeispiel dieEntscheidungen desGerichts zurRechtsnatur derGesellschaft bürgerlichen Rechts mitInteresse verfolgt odersichbeiseinem Eintritt indie Sozietät schlicht aufVerkehrsusancen verlassen hatte, wonach keine Erkundigungen überAltverbindlichkeiten anzustellen waren.

b) DieIntensität derBeeinträchtigung Kann für diejenige Prozesspartei, welche durch die Rechtsprechungsänderung in einem rechtlich geschützten Interesse benachteiligt würde, von einer Vertrauensinvestition ausgegangen werden, geht es sodann darum, obsich Richtwerte fürdie notwendige Intensität derBeeinträchtigung angeben lassen. WersichalsKläger darauf verlassen hat, die Rechtsprechung aufseiner Seite zuhaben, wirdbeieiner fürihn nachteiligen Rechtsprechungsänderung inseinem Vertrauen ebenso enttäuscht wie derjenige, deralsBeklagter meinte, nicht zuhaften. Dasistdienotwendige Folge eines nicht auf Präjudizienbindung angelegten Rechtssystems undfür den Enttäuschten zunächst einmal hinzunehmen. IndemMaße, indemsein Vertrauen enttäuscht wird, wird demAnspruch des Prozessgegners, das als materiell richtig erkannte Recht durchzusetzen, Rechnung getragen.49 Hierin manifestiert sichderprima facie-Vorrang des materiellen Rechts. Werbehauptet, die Durchsetzung der materiell verbesserten Rechtserkenntnis verletze die Verfassung, trägt hierfür die Argumentationslast. Er muss nachweisen, dass dieAnwendung dervonderRechtsprechung nunmehr als zutreffend erkannten Lösung fürihneine unzumutbare Härte darstellen würde.50 Dafür isterforderlich, dass es sichumeinen besonders gewichtigen Vertrauenstatbestand handelt, dessen Nichtberücksichtigung ganz zentrale rechtlich geschützte Interessen des Vertrauenden verletzen würde. Istdemaufdiealte Rechtsprechung Vertrauenden dieser Nachweis gelungen, ist weiter zuentscheiden, obdieNichtanwendung derneuen Rechtsprechung fürdennach derneuen Rechtsprechung Begünstigten noch erträglich ist. ImRahmen dieser Abwägung kann das allgemeine Gebot, eine materielle Rechtsposition durchzusetzen, nicht mehrberücksichtigt werden: Diesem Gebot istdurch denprima facie-Vorrang des materiellen Rechts bereits Genüge getan. Unerträglich kanndieNichtanwendung verbesserter Rechtserkenntnis beispielsweise dannsein, wennesumeine rechtlich bisher geduldete, nunmehr abermissbilligte Vertragsgestaltung geht: Indiesem Bereich treten bewusste Vertrauensinvestitionen aufGerichtsurteile gehäuft auf, etwa weil die Verwender allgemeiner Geschäftsbedingungen diese an die Grenze des nach der Rechtsprechung noch zulässigen führen. Wird diese Grenze durch eine Recht49 So zuRecht Zimmermann/Jansen

(Anm.

20), S. 310.

50 So beispielsweise auch BGHNJW 1996, S. 1467, 1470 undZimmermann/Jansen (Anm. 20), S. 310

. „ unacceptable hardship“

Recht

undZeit

69

sprechungsänderung verschoben, kann sich hieraus wegen dermassenhaften Verwendung derbetreffenden Klausel durchaus eine unzumutbare Härte fürdenVerwender ergeben.51 Dieser unzumutbaren Härte kann der Vertragspartner des Verwenders wiederum entgegenhalten, dass dermitderneuen Rechtsprechung intendierte Schutz gerade deren sofortige Durchsetzung erfordert.

IV.Zwei Fallstudien Lassen Sie michdiese Abwägung anhand unserer Fallbeispiele nocheinmal zusammenfassen. ImFalle des inAnspruch genommenen Rechtsanwalts hatsich derBGHkurzerhand auf „ Erwägungen des Vertrauensschutzes“berufen. Eine Herleitung dieses Ergebnisses fehlt. DenAnforderungen an ein begründetes Gerichtsurteil hätte man etwawiefolgt Rechnung tragen können: ImAnschluss andieLegitimation derRechtsprechungsänderung, bei dersich derBGHauf eine überzeugendere dogmatische Erfassung derGesellschaft bürgerlichen Rechts beruft,52 wäre die Überprüfung von investiertem Vertrauen zubehandeln gewesen. AufdieUntersuchung einer konkreten Vertrauensinvestition durfte dasGericht verzichten, soweit immerhin nachweisbar war, dass sich die Rechtsprechung inverbreiteten Verkehrsgewohnheiten niedergeschlagenhatte, welche auchdenFalldesvertrauenden Rechtsanwalts betreffen. Fürdas Gewicht desVertrauenstatbestandes lässt sichweiter anführen, dass es sichumeine viele Jahre lang unangefochtene Rechtsprechung handelte, deren Aufweichung erst ganz kürzlich begonnen hatte. Besonders störend wirkt sichdas Begründungsdefizit desGerichts beiderFrage aus,obdiesofortige Anwendung dergeänderten Rechtsprechung zentrale Interessen desVertrauenden verletzen würde. GingdasGericht hieroffensichtlich implizit vonder Verletzung solcher Interessen aus, ist invergleichbaren Konstellationen, welche die persönliche Haftung des in ein neues dogmatisches Kleid gesteckten GbR-Gesellschafters betrafen, einVertrauenstatbestand nicht einmal angesprochen worden.53 FürdenNachweis schutzwürdigen Vertrauens, unddamit fürdieWiderlegung des prima facie-Vorrangs desmateriellen Rechts, wäreetwazuzeigen gewesen, dass eine potentiell existenzbedrohende Haftung zubefürchten war,vonwelcher sich derHaftende inkeiner Formfreizeichnen konnte.54 Selbst aufderBasis derbereits begonnenenNeuorientierung derRechtsprechung zurGbRwarkeineswegs ausgemacht, dass auch § 130 HGB, eine Norm mit durchaus unklarem telos, analog auf die GbR anzuwenden war.55 Diedrohende Beeinträchtigung derArt.9 Abs. 1 undArt. 12Abs. 1 GGdurch diese Rechtsprechung kommt hinzu.56 Ist die Beeinträchtigung zentraler Interessen desVertrauenden etabliert, istdieNichtanwendung derneuen Rechtsprechung inunserem Beispielsfall fürdenProzessgegner nocherträglich: Lehnt maneine Haftung deseintretenden Gesellschafters fürAltverbindlichkeiten ab,bedeutet dies für denGläubiger nur,dass eraufeine zusätzliche Sicherung verzichten muss, mitderer bislang garnicht rechnen durfte. Immerhin warderneuEintretenden nureiner unter drei 51 52 53 54

55

Vgl. Lerche/v. Pestalozza (Anm. 15), S. 14. Das wird freilich bestritten, vgl. insb. Canaris (Anm. 8), S. 69 ff. Z. B. BGH, ZIP 2003, S. 664. Vgl. Canaris (Anm. 8), S. 69, 114. Canaris (Anm. 8), S. 69, 114, 115; Dauner-Lieb in:Festschrift fürPeter Ulmer, Habersack/Hommel-

hoff/Hüffer/K.Schmidt (Hg.), 2003, S. 81, 85. 56 Canaris (Anm. 8), S. 69, 115.

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Katja Langenbucher

Beklagten gewesen.57 Nachalledem wardieNichtanwendung dergeänderten Rechtsprechung imFalle desneuineine Sozietät eintretenden Rechtsanwalts imErgebnis zulässig, inderBegründung defizitär. Ähnlich verhält es sich mitderneuen Beurteilung derZinsanpassungsklausel.58 DasGericht folgte hierdemprima facie-Vorrang desmateriellen Rechts. Eine Bezugnahme aufVertrauensschutzerwägungen findet sichinderEntscheidung mithin nurin einer Andeutung. Dasistmethodologisch zulässig, wennderVertrauende seiner Argumentationslast nicht inhinreichender FormGenüge tunkonnte. Umdenprima facieVorrang zuerschüttern, wäre zunächst eingewichtiger Vertrauenstatbestand zuetablieren gewesen. Füreinen solchen spricht, dass diefastwortgleich invielen allgemeinenGeschäftsbedingungen enthaltene Klausel bislang nicht beanstandet worden war. Vermutlich istsogar voneiner konkreten Vertrauensinvestition auszugehen, dabeider Formulierung allgemeiner Geschäftsbedingungen die einschlägige Rechtsprechung recherchiert unddie Klausel hieran ausgerichtet wird. Reduziert wird das Gewicht dieses Vertrauenstatbestandes allerdings dadurch –undhierauf bezieht sich die , dass die etablierte Rechtsprechung starker literarischer Andeutung des Gerichts – Kritik ausgesetzt warundüberdies nicht inEinklang mitanderen Präjudizien stand. Schon ausdiesem Grund lässt sicheinhinreichender Vertrauenstatbestand ablehnen, so dass es beimprima facie-Vorrang des materiellen Rechts bleibt. Derbesseren Illustration halber wollen wirunterstellen, es habe sich umeine gänzlich unangefochtene Rechtsprechung gehandelt, deren Änderung fürdieBeteiligtenüberraschend kam.Voneinem gewichtigen Vertrauenstatbestand wäreindiesem Fallauszugehen. Fürdieweitere Frage, obzentrale Interessen desVertrauenden betroffen werden, lässt sichimmerhin aufdiemassenweise Verwendung dieser Klauseln verweisen. Dieveränderte Beurteilung einer AGB-Klausel kannzueiner FlutvonKlagenführen unddamit potentiell existenzbedrohend fürdas betroffene Unternehmen wirken. Diesem Argument lässt sichentgegenhalten, dass dieFormulierung allgemeinerGeschäftsbedingungen aufderBasis derderzeitigen Rechtsprechung einfürdas Unternehmen erkennbares Risikopotential birgt. WersichanderGrenze desebennoch Zulässigen bewegt, kannsichnurmitsehrguten Gründen aufeine unbillige Vertrauensenttäuschung berufen, wenndiese Grenze verschärft wird. Hinzu tritt dieFrage, obeine Rechtsprechungsänderung mitWirkung erstfürdieZukunft fürdienachneuer Erkenntnis obsiegenden Bankkunden noch erträglich gewesen wäre. Immerhin dient die Rechtsprechung gerade deren Schutz vorsie übervorteilenden Klauseln. Wendete mandieRechtsprechung erstfürdieZukunft an,würde dieser Schutz seiner Effektivität beraubt undzwarauszweiGründen: Zumeinen ginge imkonkreten Falldereigentlich geschuldete Zinsgewinn verloren. Zumanderen würde sichfürdieVerwender allgemeinerGeschäftsbedingungen die Chance risikoloser Spekulation eröffnen. Werdavon ausgehen kann, dass eineveränderte Beurteilung allgemeiner Geschäftsbedingungen stets mitWirkung fürdieZukunft greift, wirdsichwenig Mühegeben, zuausgewogenen Klauseln zugelangen. Diesofortige Entscheidung des Falles aufderBasis dergeänderten Rechtsprechung warausallen diesen Gründen überzeugend. Gestatten Sie mirnocheinviertes undletztes Ergebnis festzuhalten: BeiderBeurteilung, obeinhinreichender Vertrauenstatbestand derVerwirklichung dermateriell richtigen Lösung Schranken setzt, isteinbesonders gewichtiger Vertrauenstatbestand erforderlich. Hinzu treten muss die Beeinträchtigung zentraler rechtlich geschützter Interessen des Vertrauenden. Zuletzt muss die Nichtanwendung derverbesserten Rechtserkenntnis fürdenProzessgegner nochzumutbar sein.

57

(Nur)

imRevisionsverfahren

waren dieBeklagten

58 Vgl. hierzu Habersack, WM2001, S. 753, 761.

zu1 undzu3 nicht mehrbeteiligt.

Christiane Wendehorst*

Rechtsobjekte Einberühmter Freiburger Rechtsgelehrter sollseine Studenten inmündlichen Prüfungengerne gefragt haben, wassie dennsähen, wennsie aufdenTurmdes Freiburger Münsters stiegen undnachunten blickten. Dierichtige Antwort, aufdieerwartungsgemäßkaumjemand kam,lautete: Rechtssubjekte undRechtsobjekte. WardieAntwort aufdiese, inlokal unterschiedlichen Versionen kursierende Scherzfrage wirklich richtig? Indemeinen Sinne jedenfalls, dennzweifellos sieht manvondiesem Punkt aus viele Rechtssubjekte –hauptsächlich Menschen, aber auch die Niederlassungen juristischer Personen undrechtsfähiger Personengesellschaften –undauch viele

Rechtsobjekte, hauptsächlich Sachen. Aber ist damit das, was man sieht, wirklich erschöpft? SinddennErscheinungen wiefreie Luft, fließendes Wasser indenKanälen unddieEnergie dersüdbadischen Sonne, wieDienstleistungen, dieindemgeschäftigenTreiben erbracht, undwieInformationen, dieausgetauscht werden, wirklich den Rechtsobjekten zuzurechnen? Da unsere Gesellschaft gerne plakativ als „ Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft“betitelt wird und derartige Wirtschaftsgüter denWaren schon lange denRangstreitig machen, ja denRangvielleicht sogar schon abgelaufen haben, möchte manes spontan annehmen. EinBlick insjüngst mehrfach modernisierte Bürgerliche Gesetzbuch verrät von Solchem freilich nichts: In den Grundbegriffen desAllgemeinen Teils findet sichausschließlich eine nähere Regelung derSachen undTiere (§§ 90–103 BGB), unddas Dritte Buch istganz demSachenrecht gewidmet.1 Sind Sachen imdeutschen Recht etwa die einzigen Rechtsobjekte, oder sindsie zumindest soanders undsovielwichtiger als andere Rechtsobjekte, dass sie eine derart herausgehobene Behandlung verdienen?

I. Hintergrund: DieVerengung des Sachbegriffs Schon dieFrage macht freilich nurSinnvordemHintergrund desengen Sachbegriffs, fürdensich dieVäter des Bürgerlichen Gesetzbuchs letztendlich entschieden haben unddersichaufkörperliche Gegenstände beschränkt (§90BGB), d.h.aufPhänomene, die als Materie darstellbar, imRaume abgegrenzt undvonMenschen beherrschbar sind. Zwarkommt das Gesetz nicht ohne gewisse Inkonsistenzen aus, weil sich in wiein§ 119Abs.2 – dochderweite Sachbegriff eingeschlichen hat manchen Normen – undweilmanche Institute des Sachenrechts –genauer derNießbrauch (§ 1068) und dasPfandrecht (§ 1273) –auchanRechten begründet werden können. Grundsätzlich zieht sich derenge Sachbegriff jedoch durch diegesamte Kodifikation unddurch das deutsche Zivilrecht ganz allgemein.2

Lehrstuhl fürBürgerliches Recht, Medizinrecht, Internationales Privatrecht

1

2

anderGeorg-August-Universität zuGöttingen Kritisch Franz Wieacker, AcP148 (1943), 57, 58; Thomas

undRechtsvergleichung

Rüfner, in:Historisch-kritischer Kommentar zumBGB, M.Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann (Hg.), Band I, 2003, §§ 90–103 BGB Rn. 2; Christoph Becker, in:Juristische Prüfungen undVorlesungen inEuropa. Einpraktischer Vergleich am Beispiel des Rechtsobjekts, A. Wacke/Chr. Baldus (Hg.), 2002, S. 49, 53. Rechtsvergleichend Franz Wieacker, AcP 148 (1943), 57, 58 f.; Andreas Wacke, in: Juristische Prüfungen undVorlesungen inEuropa. Einpraktischer Vergleich amBeispiel desRechtsobjekts, Wacke/Chr. Baldus (Hg.), 2002, S. 23 ff.; Peter Bydlinski, AcP 198 (1998), 287, 290 f.

A.

72

Christiane Wendehorst

Dieser enge Sachbegriff ist alles andere als selbstverständlich, wardoch der römischrechtliche Begriff derresvonbeachtlicher Weite3 undgingen zahlreiche europäische Kodifikationen des 18. und19. Jahrhunderts voneiner Quasi-Gleichsetzung vonSache undRechtsobjekt aus,4 dieübrigens bisheute etwain§ 285desösterreichischen ABGB5 oder –im Begriff des bien –in Art. 516 ff. des französischen Code civil6 fortlebt. Eine solche Gleichsetzung ist natürlich nurmöglich, wenn die Existenz unkörperlicher Sachen anerkannt wird. So waretwa nochindenAugen vonGierkes die Sache „ einräumlich begrenztes Stück deräußeren Güterwelt inderTotalität seiner zur rechtlichen Beherrschung geeigneten Beziehungen“ undspeziell eine unkörperliche ideell begrenzte Ausschnitt ausdenzurrechtlichen Beherrschung geeigneSache der„ .7Dasermöglichte dieEinbeziehung nicht nur tenBeziehungen zuräußeren Güterwelt“ von Rechten undSachgesamtheiten, sondern auch von Erfindungen undGeisteswerken,8 ja sogar vonDienstleistungen.9 DieVerengung des Sachbegriffs aufkörperliche Dinge lässt sich schon beiKant nachverfolgen,10 undinsbesondere vonSavigny hatmitseiner Kritik amweiten Sachbegriff11 dieweitere Rechtsentwicklung inDeutschland geprägt. Mitdieser Verengung desSachbegriffs, diefürsichgesehen ehereineterminologische Frage wäre, gingaber faktisch dieeinleitend konstatierte Verengung derSichtweise einher. Dieendgültige Entscheidung desBGBgegen soetwas wieunkörperliche Sachen bedeutete alsonicht nureine Veränderung des begrifflichen Abstraktionsniveaus, sondern zugleich eine Ausblendung aller nicht körperlichen Rechtsobjekte ausderweiteren Betrachtung. Die allgemeinere Frage, wasdenneigentlich einRechtsobjekt imGegensatz zuanderen rechtlichen Phänomenen ausmacht undwelche dogmatischen Konsequenzen andie Qualifizierung als Rechtsobjekt geknüpft sind, geriet indenHintergrund. Daran hatsich

3 4

5

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11

bei Gaius –Vorstufe einer Systembildung in der res“ Hierzu statt vieler Christoph Becker, Die „ Kodifikation?, 1999. 3: Vgl. etwa das preußische Allgemeine Landrecht von 1794, I, 2, §§ 1– § 1. Sache überhaupt heißt imSinne des Gesetzes alles, wasderGegenstand eines Rechts oder „ einer Verbindlichkeit sein kann. § 2. Auchdie Handlungen des Menschen, ingleichen ihre Rechte, insofern dieselben denGegenstand eines anderen Rechts ausmachen, sind unter derallgemeinen Benennung vonSachen begriffen. § 3. Imengeren Sinne wirdSache nurdasjenige genannt, wasentweder vonNatur oderdurch die Übereinkunft der Menschen eine Selbständigkeit hat, vermöge deren es derGegenstand eines dauernden Rechts sein kann.“ § 285 ABGB: Alles wasvonderPerson unterschieden ist undzumGebrauch derMenschen dient, wird imrechtlichen Sinne eine Sache genannt. Rechtsvergleichend zumdeutschen Sachbegriff etwa Herbert Hill, DerSachbegriff imdeutschen undösterreichischen Zivilrecht, 1940. Näher Murad Ferid/Hans Jürgen Sonnenberger, DasFranzöische Zivilrecht, Band2, 2. Aufl. 1986, Rn. 3 A 32 ff. Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Band I, 1895, § 31 I, S. 270. Ernst Immanuel Bekker, System des heutigen Pandektenrechts, BandI, 1886, § 20, 63; § 70, 288; Ernst Zitelmann, Internationales Privatrecht, BandI, 1897, S. 50 f.; Bernhard Windscheid/Theodor Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, Band 1, 8. Aufl. 1900, § 137; Otto v. Gierke (Anm. 7), S. 272.

Immanuel Kant, Metaphysik derSitten, Erster Teil, Metaphysische Anfangsgründe derRechtslehre, 1798, Einleitung IV(Akademie-Ausgabe, Band 6, S. 223): „ Einjedes Objekt derfreien Willkür, welches selbst derFreiheit ermangelt, heißt daher Sache (res corporalis).“ Friedrich Carlv.Savigny, VomBeruf unserer ZeitfürGesetzgebung undRechtswissenschaft, 1814,

S. 99 f.

73

Rechtsobjekte

–voneiner durch

Sohm12 ausgelösten Debatte13 Anfang des 20. Jahrhunderts und bis einer Diskussion überdieRechtsqualität desUnternehmens13a einmal abgesehen – heute nicht vielgeändert. Dieeherbeiläufig gemachten Äußerungen zumRechtsobjekt, diesich beiAutoren derGegenwart finden lassen, offenbaren freilich einfrappierend

breites Meinungsspektrum.14

II.Auswahl zeitgenössischer Begriffskonzepte

1. Natürliche

Auffassung

Eine gleichsam natürliche Auffassung vomRechtsobjekt, diesichbisheute gerne auf Wieacker15 beruft, bezeichnet als Rechtsobjekte alle Objekte dernatürlichen Welt, die vermögenswert sind undindividualisiert werden können16 bzw. die demMenschen nutzbar sind17 bzw.dievomMenschen beherrschbar sindundihmvonderRechtsordnungzugeordnet werden.18 Teilweise wirddiese Deutung auchals „ materiale BestimdesObjektbegriffs bezeichnet.19 Nacheinem solchen Verständnis istes mühemung“ los möglich, etwa Erwerbsaussichten undKontingente20 oder Daten undInformationen21 indenObjektbegriff miteinzubeziehen, ohne dass aufrechtliche Kategorien wie die der dinglichen oder schuldrechtlichen Form der Zuordnung Bezug genommen werden müsste. Ebenaus diesem Grunde istdienatürliche Auffassung vomRechtsobjekt aberauchnicht geeignet, alsFundament weiterer rechtlicher Schlussfolgerungen zudienen.

2. Klassische

Auffassung

Als beinahe klassisch scheint sich die Einteilung der Rechtsobjekte in die körperlichen Sachen einerseits unddieunkörperlichen Rechte andererseits22 zuerweisen.23 Dasist

12

Rudolph Sohm, DerGegenstand, 1905; ders., Vermögensrecht, Gegenstand, Verfügung, ArchBürgR 28 (1906), 173 ff.; ders., Noch einmal der Gegenstand, Iherings Jahrb. 53 (1908), 373 ff. 13 Vgl.nuretwadieReaktionen vonJulius Binder, DerGegenstand, ZHR59,S. 1ff.; ders., Vermögensrecht undGegenstand, ArchBürgR 31, 322; J. W.Hedemann, DieLehre vondenRechtsgegenständen, ArchBürgR 31, 322 ff.; Ernst Immanuel Bekker, Grundbegriffe des Rechts undMißgriffe der

13a 14

15

Gesetzgebung, 1910; Gerhart Husserl, DerRechtsgegenstand. Rechtslogische Studien zueiner Theorie des Eigentums, 1933, S. 179. Hierzu etwa Fritz Brecher, DasUnternehmen als Rechtsgegenstand, 1953. Guter, aber keinesfalls erschöpfender Überblick bei Hermann Dilcher, in: J. von Staudingers 103, 13. Bearb. 1995, Rn.3 ff.; Thomas Rüfner Kommentar zumBürgerlichen Gesetzbuch, §§ 21–

(Anm. 1), Rn. 10 ff. Franz Wieacker, AcP148 (1943), 57, 65. DerAutor erkennt danach als Rechtsobjekte an: Grundstücke, Sachen, beherrschte Naturkräfte, Rechte undandere Gegenstände wieGeisteswerke, Er-

werbsaussichten

undKontingente.

16 Jochen Marly (Anm. 24), § 90 Rn.2; Jörg Fritzsche, in:H.G.Bamberger/H. Bürgerlichen Gesetzbuch, Band1, 2003, § 90 Rn.4

Roth, Kommentar zum

17 So –unter Bezugnahme auf § 285 ABGB –Andreas Wacke (Anm. 2), S. 30 f. 18 Bernd Rüthers/Astrid Stadler, Allgemeiner Teildes BGB, 13.Aufl. 2003, § 11 Rn.1; Lutz Michalski, in: Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, Band I, 11. Aufl. 2004, Vor § 90 BGB Rn. 2; ähnlich, aber bereits mitsehrvielmehrrechtlichem Gehalt, Hans Brox, Allgemeiner Teildes BGB,27. Aufl. 2003 (jedes Gut,aufdassichdierechtliche Herrschaftsmacht erstrecken kann). 19 SovonHermann Dilcher (Anm. 14), Rn.4. 20 Franz Wieacker, AcP 148 (1943), 57, 65. 21 Jochen Marly (Anm. 24), § 90 Rn.2. 22 DieUnterscheidung zwischen res corporales undres incorporales gehtzurück aufdenklassischen

74

Christiane Wendehorst

zwarvordergründig nureine Klassifikation, undkeine Definition. Sie impliziert aber, dass es außer Sachen undRechte jedenfalls keine anderen Rechtsobjekte gibt, und wirdüberdies vonvielen Verfassern mitdemGrundverständnis vorgetragen, Rechtsobjekt sei alles, wasentweder Sache ist oder Recht. Als Rechte werden vorallem Forderungen, Immaterialgüterrechte undsonstige Vermögensrechte genannt.24 In letzter Konsequenz muss daswohlheißen, dass auchdasEigentum undbeschränkte dingliche Rechte an Sachen unter die Rechte zufassen sind unddamit –prinzipiell gleichrangig neben denSachen selbst –als Rechtsobjekte fungieren, während die meisten Autoren diese Aussage zuvermeiden wissen. Rechtsobjekte

Sachen u.ä.

(= körperliche

Rechte Rechtsobjekte)

insbesondere:







Grundstücke bewegliche Sachen Tiere

(= unkörperliche Rechtsobjekte) insbesondere: Forderungen • dingliche Rechte





Immaterialgüterrechte

Dieklassische Zweiteilung wirdgelegentlich umdieeine oderandere Gruppe von Phänomenen ergänzt, etwa umEnergien,25 umdas Unternehmen26 oder umSachgesamtheiten undVermögen.27 ZudenSachen einerseits unddenRechten andererseits kommen als tertium ohnehin streng genommen nochdieTiere hinzu, wobei man diese fürdieZwecke dervorliegenden Untersuchung getrost auchwieder denSachen zuschlagen kann, dafürsie dieVorschriften überSachen entsprechend gelten.28 DieUnterteilung derRechtsobjekte inSachen undRechte hatetwas frappierend Plausibles ansich, undvermag beinäherem Hinsehen doch nurbedingt zuüberzeugen.Zwarergibt siesichzwangsläufig, wennmandieKörperlichkeit oderUnkörperlichkeit

des potenziellen Objekts zumtragenden Unterscheidungsmerkmal erhebt. Dieses Merkmal istjedoch ehertrivial undfüreinetiefere Analyse nicht weiterführend. Vielmehr sprechen gegen die klassische Auffassung verschiedene, wieichmeine stichhaltige

Argumente:

Was zunächst die konsequente

Extremform dieser Auffassung betrifft, wonach

Sachen unddiean ihnen bestehenden dinglichen Rechte prinzipiell gleichrangig als

23

24

25 26 27 28

Juristen Gaius (Gai. inst. 2, 12– 14); zudessen Sachbegriff umfassend Christoph Becker (Anm. 3); vgl. auch Tiziana Chiusi, in: Festschrift Mayer-Maly, M. Schermayer (Hg.), 2002, S. 101 ff. Motive III, S. 32 f.; Dieter Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 8. Aufl. 2002, Rn. 22 f.; Karl Heinz Schwab/Hanns Prütting, Sachenrecht, 31. Aufl. 2003, Rn.2, 6; Hans-Martin Pawlowski, Allgemeiner Teildes BGB, 7. Aufl., Rn.278; Helmut Heinrichs, in:Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 64. Aufl. 2005, Überblick vor§ 90 BGB Rn. 2; Lutz Michalski (Anm. 18), vor§ 90 BGB Rn. 3; Othmar Jauernig, in: Bürgerliches Gesetzbuch, O.Jauernig (Hg.), 11. Aufl. 2004, vor§ 90 BGB Rn. 1; Heinrich Dörner,

in:Handkommentar zumBGB, 3. Aufl. 2003, § 90 BGBRn.1. Helmut Heinrichs (Anm. 23), Überblick vor§ 90 BGBRn.2; Othmar Jauernig (Anm. 23), vor§ 90 BGB Rn. 1; Heinrich Dörner (Anm. 23), § 90 BGB Rn. 1; Georg Holch, in: Münchener Kommentar zumBGB, Band 1, 4. Aufl., 2001, § 90 BGB Rn. 5 f.; ähnlich Jochen Marly, in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Band 1, 13. Aufl., 2000, § 90 Rn. 2. Georg Holch (Anm. 24), § 90 BGB Rn. 4 ff.; Jochen Marly (Anm. 24), § 90 Rn. 2. Hans-Martin Pawlowski (Anm. 23), Rn. 297 f. Karl Heinz Schwab/Hanns Prütting (Anm. 23), Rn. 2, 6. Begriffskosmetik“spricht daher Dieter Medicus (Anm. 22), Rn. 1178a. Vgl. § 90a S. 3 BGB; von„

Rechtsobjekte

75

Rechtsobjekte fungieren, so bewirkt sie eine ungute Doppelung: Hinter jeder nicht herrenlosen Sache sinddamit mindestens zweiRechtsobjekte zuerblicken, nämlich die Sache unddas Sacheigentum, möglicherweise aber noch mehr, nämlich imFall der Existenz beschränkter dinglicher Rechte. Sache unddingliches Recht stehen abernicht aufgleicher Stufe. Esgibtnicht Rechte anSachen unddaneben Rechte andenander Sache bestehenden dinglichen Rechten, sondern diedinglichen Rechte entsprechen selbst denanderSache bestehenden absoluten Herrschaftsrechten. Dieklassische Auffassung bewirkt abernicht nureine ungute Verdoppelung oder garVervielfachung derRechtsobjekte: Damit allein könnte manvielleicht leben, denn immerhin wären doch alle Rechtsobjekte erfasst. Letzteres ist aber bei näherem Hinsehen gerade nicht der Fall. Schon geistige Werke als Gegenstände geistigen unddamit als Pendant zuSachen alsGegenständen desSacheigentums Eigentums – –sindals solche offenkundig weder Sache noch Recht undfallen demgemäß durch die Maschen der Definition, obgleich sie doch ebenso offenkundig Objekte absoluter Herrschaftsrechte sind, nämlich derImmaterialgüterrechte. Ohne dass manvertiefen müsste, obnicht auchEnergie, Daten usw.Objekte absoluter Herrschaftsrechte sein können, deutet dasdarauf hin,dass dieUnterteilung derRechtsobjekte inSachen und Rechte unvollständig ist undschon deswegen nicht als Ansatzpunkt einer Definition taugt.

3. DasModell vonKarlLarenz Die Unvollständigkeit des Denkens inSachen undRechten unddie Notwendigkeit, auch Phänomene wie Geisteswerke, Erfindungen oder Namen miteinzubeziehen, wurde insbesondere vonKarlLarenz erkannt. Gleichermaßen erkannt wurde einBedürfnis, dieBeziehung zwischen Sache undSacheigentum usw.adäquat zuerfassen. Larenzhat diesdadurch zubewerkstelligen versucht, dass erzwischen Rechtsobjekten imengeren Sinn–denRechtsgegenständen erster Ordnung –undVerfügungsobjekten

–denRechtsgegenständen

zweiter Ordnung –unterschied:29 Sachen, Erfindungen usw. stellen danach Rechtsgegenstände erster Ordnung dar, während das Sacheigentum, dasPatentrecht usw.Rechtsgegenstände zweiter Ordnung sind. Aberauch Forderungen undVertragsverhältnisse werden –mit demArgument, dass sie ab-

getreten oderübertragen werden können – grundsätzlich zudenVerfügungsobjekten, d.h. den Rechtsgegenständen zweiter Ordnung gezählt.30 Soweit Forderungen und andere übertragbare Vermögensrechte als Gegenstand eines Nießbrauchs (§ 1068 Abs. 1 BGB)oderPfandrechts (§ 1273 Abs. 1 BGB)inBetracht kommen, werden sie freilich wiederum denRechtsgegenständen erster Ordnung zugewiesen.31

29 Soerstmalig KarlLarenz, Allgemeiner Teildesdeutschen Bürgerlichen Rechts, 1.Aufl. 1967, § 22 I, S. 285f.; demGrundsatz nachaufrecht erhalten bis KarlLarenz/Manfred Wolf, Allgemeiner Teildes Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, § 20 Rn. 1 ff. 30 Karl Larenz/Manfred WolfaaO. (Anm. 29), Rn. 1. 31 Karl Larenz/Manfred WolfaaO. (Anm. 29), Rn. 6, 88 ff.

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Christiane Wendehorst

Rechtsgegenstände Rechtsobjekte i.e.S.

(= Rechtsgegenstände erster Ordnung) insbesondere:

• Sachen • Geisteswerke, Erfindungen u.a. • (Ausprägungen der) Persönlichkeit • Forderungen (beiBelastung) • andere übertragbare Vermögensrechte (bei Belastung)

Verfügungsobjekte (= Rechtsgegenstände zweiter Ordnung) insbesondere:

• dingliche Rechte



Immaterialgüterrechte

• Persönlichkeitsrechte • Forderungen (bei Übertragung) • Vertragsverhältnisse (bei Übertragung)

Gegenüber derklassischen Auffassung bringt dasLarenz’ sche Modell einiges an Erkenntnisgewinn. Insbesondere schult es denBlick dafür, dass auchüberSachen und Tiere hinaus somanches Phänomen, dasalssolches unabhängig vonderRechtsordnungexistiert, wieetwadieErfindung, alsRechtsobjekt inBetracht kommt. Eshatauch einen Weggefunden, das Verhältnis zwischen Sache undSacheigentum, zwischen WerkundUrheberrecht, zwischen Erfindung undPatentrecht zuerfassen. Dennoch bleibt es als Modell einer Reihe vonEinwänden ausgesetzt. DieEinwände betreffen v.a. dieStellung vonForderungen undanderen übertragbaren Vermögensrechten, dieimModell sowohl als Rechtsobjekte imengeren Sinnals auch als Verfügungsobjekte erscheinen, je nachdem, ob sie als Gegenstand eines Nießbrauchs oderPfandrechts oderaberalsGegenstand einer Übertragung fungieren. Forderungen u.a. tragen damit letztlich Doppelcharakter, unddieMengen derRechtsobjekte imengeren Sinn undderVerfügungsobjekte sind nicht disjunkt. Nungibt es zwarkeinen allgemeinen Grundsatz, wonach Klassifizierungen stets undimmer überschneidungsfrei zu halten seien. DerCharme des Modells, derdarin besteht, dass Rechtsobjekte imengeren SinnundVerfügungsobjekte aufeinander bezogen sind, wie eben Sache undSacheigentum aufeinander bezogen sind, gehtaberverloren. Insbesondere derGedanke vonRechtsgegenständen unterschiedlicher Ordnungen verliert anBerechtigung. Was an heuristischem Wert verbleibt, ist die präzise Angabe des Verfügungsobjekts, das nach Larenz teilweise vomzugehörigen Rechtsobjekt verschieden, teilweise aberauchmitihmverschmilzt. Nunmages zweifellos voneinigem Erkenntnisentgegen demallgemeinen Sprachgebrauch –inWahrheit nicht wertsein, dass man– über die Sache verfügt, sondern über das Sacheigentum.32 Bei näherem Hinsehen fällt allerdings auchauf,dass dieexakte Identität desVerfügungsobjekts vielfach unscharf undgelegentlich sogar nureine Frage terminologischer Übereinkunft ist. So istes etwa keinesfalls evident, dass manüberdieForderung selbst verfügt, undnicht etwaüberdie Gläubigerstellung bzw. die Inhaberschaft an derForderung (näher s.u. III. 3.). AuchdievonLarenz implizit zugrunde gelegte Annahme, dass Rechte undRechtsverhältnisse vonvorneherein nurals Rechtsgegenstände zweiter Ordnung inBetracht kämen, bedarf derHinterfragung. Durch sie wirdverschleiert, dass sichquerdurch die Rechte hindurch eintiefer Graben zieht zwischen solchen, diesich, wiebeschränkt dingliche Rechte oderImmaterialgüterrechte, aufeinen außerhalb ihrer selbst liegendenGegenstand beziehen, etwa aufeine Sache odereine geistige Schöpfung, und solchen Rechten, die das nicht tun, wieetwa schuldrechtliche Forderungen. So ge-

32 KarlLarenz/Manfred WolfaaO. (Anm. 29), Rn.6.

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Rechtsobjekte

sehen stehen Forderungen trotz ihrer Unkörperlichkeit denSachen weitaus näher als dinglichen Rechten usw.undsollten auchinderselben Kategorie erscheinen. Nurbeiläufig seibemerkt, dass dieLarenz’sche Theorie eine Reihe weiterer Ungereimtheiten aufweist. Dazugehört zumeinen dieQualifizierung derPersönlichkeit als solcher, d.h. nicht nur einzelner verselbständigter und kommerziell verwertbarer

Aspekte der Persönlichkeit, als Objekt des Persönlichkeitsrechts:33 Die Beziehung zwischen einem Menschen als Träger des Persönlichkeitsrechts undseiner Persönlichkeit istganzsicher eine qualitativ ganzandere als dieBeziehung zwischen einem Menschen undeiner Sache. Dazugehört ebenso dieBehauptung, dieRechtsobjekte imengeren Sinn existierten auch außerhalb derRechtsordnung undunabhängig davon, ob sie vonderRechtsordnung als solche anerkannt werden, während die Verfügungsobjekte als Rechte oder Rechtsverhältnisse außerhalb der Rechtsordnung undenkbar seien.34 Diese Aussage istoffenkundig unrichtig, wennLarenz inbestimmtenKontexten auchForderungen undandere übertragbare Vermögensrechte zuden Rechtsobjekten zählt. Diezuletzt genannten Ungereimtheiten derLarenz’schen Konzeption hatManfred Wolfinzwischen korrigiert.35 Demnahe liegenden Einwand, dass Forderungen –anders alsetwadingliche Rechte oderImmaterialgüterrechte –nicht aufeinen außerhalb ihrer selbst liegenden Gegenstand bezogen sind, unddass deshalb ihre Bezeichnung als Rechtsgegenstände zweiter Ordnung verfehlt sei,36 versucht erdadurch zubegegnen, dass er die Rede vonden Rechtsgegenständen erster undzweiter Ordnung aufgibt, ja denBegriff des Rechtsgegenstands als Oberbegriff ganz vermeidet, und stattdessen nurnochvonRechtsobjekten imengeren Sinneinerseits undVerfügungsobjekten andererseits spricht.37 AndemvonLarenz entworfenen Modell ansich, insbesondere anderGrenzziehung zwischen beiden Kategorien, ändert dasfreilich nicht viel.

4. Moderne

Auffassung

Auch Mathias Habersack baut auf Larenz auf, ohne die Rede von den Rechtsgegenständen erster undzweiter Ordnung zuübernehmen, korrigiert dessen Theorie aberineinem weiteren wesentlichen Punkt: Soweit eine Forderung odereinanderes Recht Gegenstand eines Nießbrauchs oderPfandrechts wird, solldies keine dinglich wirkende Belastung desRechts bedeuten, sondern eine Abspaltung undVerselbständigung von bestimmten Befugnissen des Vollrechtsinhabers. Mit dieser Deutung

entfällt automatisch das Bedürfnis, Forderungen undandere „ belastbare“ Rechte insoweit denRechtsobjekten zuzuordnen, d.h. sie stellen sich ausschließlich als Verfügungsobjekte dar.38 Damit wirdes erstmals ohne inneren Widerspruch möglich, als Rechtsobjekte nurnochPhänomene anzuerkennen, die(auch) außerhalb derRechts-

33 KarlLarenz/Manfred WolfaaO. (Anm. 29), Rn.87. DieAussage 34

35

36 37 38

krankt zudem anderwechselnden Terminologie, wonach einmal die Persönlichkeit, das andere Maldas Persönlichkeitsrecht als Rechtsobjekt inBetracht komme. Karl Larenz/Manfred WolfaaO. (Anm. 29), Rn. 96. Vgl.KarlLarenz/Manfred Wolf, Allgemeiner TeildesBürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 20 Rn.87 (bzgl. derPersönlichkeitsrechte); diealte Rn.96 (bzgl. derExistenz derRechtsobjekte außerhalb derRechtsordnung) istschlicht gestrichen, obgleich inRn. 1 nochdarauf verwiesen wird. Mathias Habersack, Examensrepetitorium Sachenrecht, 3. Aufl. 2003, Rn.6 (Anm. 13). KarlLarenz/Manfred Wolf(Anm. 43), Rn.1 ff. Mathias Habersack (Anm. 36), Rn. 10 ff.

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Christiane Wendehorst

ordnung existieren,39 wohingegen Verfügungsobjekte nisse ihre Existenz nurRechtssätzen verdanken.40 Rechtsobjekte

als Rechte undRechtsverhält-

Verfügungsobjekte

imeinzelnen:

insbesondere:

• Sachen



Geisteswerke, Erfindungen u.a. • Verbände

Dieses Habersack’sche Modell steht









dingliche Rechte Immaterialgüterrechte Mitgliedschaftsrechte

Forderungen

in frappierendem

Widerspruch

zurklassi-

schen Auffassung, weil nichts mehr vondem, was die klassische Auffassung als unkörperliches Rechtsobjekt betrachtet, noch als Rechtsobjekt qualifiziert wird. Damit

wirddieAnzahl derals Rechtsobjekt zuqualifizierenden Phänomene drastisch reduziert, undes istauchnicht unmittelbar ersichtlich, wasnachdieser Lösung dennaußer Sachen (undTieren) undgeistigen Schöpfungen –gegebenenfalls auchVerbänden41 –nochinBetracht kommen könnte. DerKatalog dermöglichen Rechtsobjekte scheint insoweit mindestens vorläufig abgeschlossen zusein.42 Derbesondere konzeptionelle Charme desModells scheint mirinseiner Kohärenz undin derklaren Trennung zwischen Erscheinungen derLebenswelt undRechtsprodukten zuliegen. Einen inneren Grund, weshalb nicht auchmanche Rechtsprodukte ihrerseits Gegenstand absoluter Herrschaftsrechte seinsollen, erkenne ichallerdings nicht. Angesichts derTatsache, dass es auchbeidenRechtssubjekten natürliche und juristische Personen gibt, scheint es mirvielmehr sogar sehr plausibel, dass sich die Rechtsordnung Objekte absoluter Herrschaftsrechte auchselbst erschaffen, d.h.nicht nur„natürliche Objekte“ , sondern auch„ juristische Objekte“ anerkennen kann. III. Eigene Stellungnahme

DieetwavonHabersack formulierte, dasLarenz’sche Modell weiterentwickelnde Auffassung vomObjektbegriff scheint mirkonzeptionell diemeisten Stärken zubesitzen, undsie solldaher denAusgangspunkt derfolgenden Überlegungen bilden. Inwesentlichen Punkten dürfte sie jedoch zumodifizieren sein. 1. Rechtsobjekte als Objekte absoluter Herrschaftsrechte

Dass ein Rechtsobjekt etwas ist, wasObjekt eines Rechts sein kann, ist gleichsam DenAusgangspunkt jeder Debatte hataberdieKlarstellung zubilden,wiegenau dieBeziehung zwischen Recht undObjekt beschaffen sein muss, um voneinem Rechtsobjekt sprechen zukönnen, denndasistfürdieKonkretisierung des begriffsimmanent.

Kreises

derRechtsobjekte

entscheidend.

39 Mathias Habersack (Anm. 36), Rn.6. 40 Mathias Habersack (Anm. 36), Rn. 13. 41 So zumindest Mathias Habersack, Die Mitgliedschaft –subjektives und‚sonstiges‘Recht (1996), S. 142ff. Diese Deutung wirdinders. (Anm. 36) allerdings nicht mehrerwähnt. 42 Bei Mathias Habersack (Anm. 41), S. 99, 144 wirdvielmehr deutlich, dass derAutor denBezug auf einen externen Gegenstand

–außer gegebenenfalls beiderMitgliedschaft –nurbeidenSachen-

undImmaterialgüterrechten sieht.

Rechtsobjekte

79

imSinne von„Inhalt“oder „Bezugspunkt“imweitesten Objekt“ Verstünde man„ Sinn, würde derBegriff inseinen Konturen unscharf undletztlich inhaltsleer. So wäre eswenig weiter führend, etwadieFreiheit als Objekt vonFreiheitsrechten, dieGleich-

heitalsObjekt vonGleichheitsrechten oderdieGestaltung alsObjekt vonGestaltungsrechten zubezeichnen. Schon weniger fernliegend wäre es, etwadasvomSchuldner einer Forderung zuverlangende Tun, Dulden oder Unterlassen als Objekt des Forderungsrechts zubezeichnen, oderdieKaufsache als Objekt des Leistungsrechts des ). Gegen solche Begriffsbildungen lassen sichkaumprinziLeistungsobjekt“ Käufers („ pielle Einwände vorbringen, solange sie nicht Anspruch aufeinMehranheuristischem oderpraktischem Werterheben, als ihnen tatsächlich zukommt. FürdiehiervorliegendeFragestellung sindsie allerdings nicht brauchbar, weildiese Fragestellung amParadigma vonSache undSacheigentum ausgerichtet ist. Das Sacheigentum stellt sich aberinseinem Verhältnis zurSache alsabsolutes Herrschaftsrecht dar,weshalb auch ausgesprochen oderunausgesprochen Einigkeit darüber besteht, dass mitdemRecht, bezeichnet wird, nureinabsolutes Herrschaftsrecht Rechtsobjekt“ dessen Objekt als„

gemeint sein kann.43 Absolute Herrschaftsrechte zeichnen sich dadurch aus, dass sie einem Inhaber zugewiesen sind, derihren Gegenstand ingrundsätzlich umfassender Weise nutzen undandere vonseiner Nutzung ausschließen kann, sowie inderRegel auchdadurch, dass derInhaber übersie verfügen kann. Gewisse Einschränkungen hinsichtlich einzelner dergenannten Aspekte, etwa derVerfügbarkeit beiunübertragbaren Rechten, sindhinzunehmen. Ausgenommen sindfreilich absolute Rechte, beidenen es sichaus

übergeordneten Wertungsgesichtspunkten heraus bereits verbietet, sie als SubjektObjekt-Beziehung zudeuten, wieinsbesondere beiPersönlichkeitsrechten undFamilienrechten sowie beiRechtsgütern wiederGesundheit oderderkörperlichen Integrität.

2. Schlüsselrolle des Herrschaftsrechts

Bei der Diskussion des Objektbegriffs seit Larenz scheint die Betonung auf der

Dichotomie vonRechtsobjekt undVerfügungsobjekt zuliegen, als gelte es zuförderst, beide Typen vonObjekten gegeneinander abzugrenzen. Damit wirdverschleiert, dass sichhinter demVerfügungsobjekt nichts anderes verbirgt alseinabsolutes Herrschaftsrecht unddass Rechtsobjekt undabsolutes Herrschaftsrecht aufeinander bezogen sind, ja, einander wechselseitig bedingen: Woeinabsolutes Herrschaftsrecht existiert,

musses aucheinen Gegenstand geben, aufdensichdieHerrschaft bezieht, undwo es ein–als Gegenstand absoluter Herrschaftsrechte definiertes –Rechtsobjekt gibt, musses auch(mindestens) einsolches Herrschaftsrecht geben. Nicht dieAbgrenzung zwischen beidem sollte also imVordergrund stehen, sondern die Suche nach dem jeweils zugehörigen Gegenstück. Obgleich sich Rechtsobjekt undabsolutes Herrschaftsrecht wechselseitig bedingen, kommt doch dem absoluten Herrschaftsrecht die Schlüsselrolle zu. Denn der unendlichen Menge denkbarer, körperlicher oder unkörperlicher Phänomene stehen nurvergleichsweise wenige Typen absoluter Herrschaftsrechte gegenüber, dienicht perse bestehen, sondern derAnerkennung undAusformung durch dieRechtsordnung bedürfen. Es ist also das Herrschaftsrecht, das –sobald es vonderRechtsordnung ausderunendlichen Menge vonPhänomenen eine bestimmte Gruppe anerkannt wird–

43 Statt aller Karl Larenz/Manfred Wolf (Anm. 35), § 20 Rn. 4; Claus-Wilhelm Canaris, Festschrift Flume, H. H. Jakobs u.a. (Hg.), 1978, S. 371, 373.

80

Christiane Wendehorst

alspotenziellen Gegenstand heraushebt unddamit zumRechtsobjekt macht, nicht aber umgekehrt.

Rechtsobjekte

absolute Herrschaftsrechte

insbesondere:

• Sachen undTiere • Geisteswerke, Erfindungen u.a. • Forderungen • Verbände

• ...

...

insbesondere:

• dingliche Rechte • Immaterialgüterrechte • „Inhaberschaften“ • Mitgliedschaftsrechte

Damit aber entfällt auch jede Berechtigung, den Kreis der Rechtsobjekte von vorneherein aufErscheinungen derrealen Lebenswelt unter Ausschluss insbesondere vonRechten zubeschränken.44 DenndieRechtsordnung hates inderHand, auchabsolute Herrschaftsrechte anzuerkennen, deren Gegenstand einRecht ist.

3. Rechte als Rechtsobjekte Dass es Sinnmacht, Herrschaftsrechte anRechten anzuerkennen, welche danndas demRecht zugeordnete Verfügungsobjekt bilden, wirddeutlich amBeispiel derForderung. Derentscheidende Unterschied zwischen Rechtsobjekten undVerfügungsobjekten istdarin zusehen, dass Verfügungsobjekte durch Verfügungen inihrem Inhalt verändert, übertragen oderaufgehoben werden,45 während Rechtsobjekte als solche vonVerfügungen unberührt bleiben. Legtmandies zugrunde, dürfte dieDeutung, wonach es sich beispielsweise beieiner Forderung (auch bzw. primär) umein Rechtsobjekt imengeren Sinnhandelt, dieattraktivere sein. Dennauchwenn„ dieForderung“ übertragen oder miteinem Nießbrauch oder Pfandrecht belastet wird, bleibt die Forderung dochals durch Schuldner, Gläubiger, Inhalt undEntstehungsgrund eindeutig individualisierter Gegenstand erhalten: Tritt Gseine Forderung gegen S aufRückzahlungeines Darlehens (§ 488 Abs. 1 Satz 2), dieauseinem am24. September 2004 in Kielzwischen G undS geschlossenen Darlehensvertrag resultiert, anDab, bleibt die nunmehr demDzustehende Forderung letztlich dochdiealte, wasauseiner Vielzahl vonBestimmungen der§§ 404 ff. ersichtlich wird. Zwar ist G eindeutig nicht mehr Gläubiger indemSinne, dass erzumEinzug derForderung berechtigt wäre, aberdoch zumindest nochinsoweit, alses zurIndividualisierung derForderung, zurErmittlung der gegen sie bestehenden Einreden usw. erforderlich ist. Wirddie Forderung miteinem Nießbrauch oder Pfandrecht „ , magsich das als Abspaltung bestimmter Bebelastet“ fugnisse desVollrechtsinhabers darstellen.46 Dasbestätigt aberehernochdieThese, dass es gleichsam losgelöst vonder Forderung selbst etwas demSacheigentum Vergleichbares geben muss, vondemmaneinzelne Befugnisse abspalten kann: AnandieStelle derursprünglichen ForSpalt-Forderungen“ derenfalls müssten ja zwei„ derung treten, d.h. diese müsste aufhören, als solche zu existieren –ein nicht undenkbares, aberwenig plausibles Ergebnis. (Anm. 23), Rn. 22 f. , vgl. statt aller Helmut Heinrichs (Anm. Verfügung“ Verständnis von „

44 Zutreffend Dieter Medicus

45 So das allgemeine 46

Überblick vor § 104, Rn. 16. Mathias Habersack (Anm. 36), Rn. 10.

23),

Rechtsobjekte

81

DasdemSacheigentum vergleichbare absolute Herrschaftsrecht an derFordeanderForderung genannt rung, überdas verfügt wird, kannschlicht „ Inhaberschaft“ werden. So gesehen würde sich die Abtretung als Übertragung der Inhaberschaft darstellen, unddieBelastung alsAbspaltung undgesonderte Übertragung bestimmter, normalerweise demInhaber vorbehaltener Befugnisse. Dafür, dass es einsolches, von derForderung selbst zuunterscheidendes absolutes Herrschaftsrecht anderForderung gibt, spricht auch bereits, dass die Forderung als Vermögensbestandteil ihrem Inhaber mitWirkung auchgegen Dritte zugeordnet ist,wasübrigens inderverfassungsrechtlichen Diskussion umArt. 14 GGganz außer Frage steht,47 aber sich auch in anderen Kontexten zeigt. DerGedanke eines derschuldrechtlichen Forderung gleichsamvorgelagerten absoluten Herrschaftsrechts istübrigens alles andere als neuund wurde vorallem imKontext desDeliktsschutzes nach§ 823Abs.1wiederholt geäußert. Inhaberschaft“ anderForderung istletztlich identisch mitdervon Diehiergesehene „ ForderungsLarenz48 undanderen49 imAnschluss an ältere Autoren50 gesehenen „ , welcher-freilich entgegen derausschließlich pragmatisch argumentiezuständigkeit“ renden Gegenmeinung51 –gegen unbefugte Eingriffe Deliktsschutz zukommen sollte, nicht ganz identisch dagegen mitdervorallem vonCanaris52 geäußerten Auffassung, derDeliktsschutz bzw.die„Verdinglichung“gelte demrelativen Recht selbst. DieAnerkennung absoluter Herrschaftsrechte anderForderung bedeutet freilich nicht, dassjedem Recht einabsolutes Herrschaftsrecht zugeordnet wäre. Zunächst ist nicht jede Rechtsposition derart verselbständigt, dass sie eigenständiger Gegenstand eines Herrschaftsrechts seinkann, wieja auchnicht jedes körperliche Phänomen eine sonderrechtsfähige Sache darstellt. Daher stellen etwa unselbständige Gestaltungsrechte, wieWiderrufs- oderRücktrittsrechte, keine Rechtsobjekte dar.Sodann wäredie InhaberAnerkennung von Herrschaftsrechten an Herrschaftsrechten –etwa: der„ schaft amEigentum“ einesinnlose Verdoppelung absolut wirkender Rechtspositionen, – derweder einentsprechender praktischer Gewinn nocheinErkenntniswert gegenüber stünde. Insbesondere beschränkte dingliche Rechte stellen sichrichtiger Ansicht nach als dingliche Belastungen derSache selbst dar,53 undnicht etwa als Belastungen des Eigentums, wenngleich es dasEigentum ist,vondembestimmte Befugnisse abgespaltenwerden. Soweit sicheinNießbrauch (§ 1068) odereinPfandrecht (§ 1273) aufein Recht beziehen, handelt es sichumAbspaltungen bestimmter Befugnisse vombetreffenden Herrschaftsrecht, also beispielsweise vomPatentrecht odervonderInhaberschaft aneiner Forderung.54 47 ZumSchutz privatrechtlicher

Rechtspositionen vgl. nurBVerfGE 68, 193, 222; 83, 201, 208 f. 48 Karl Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Allgemeiner Teil, 1. Aufl. 1953, § 2 II, § 29 III; Besonderer Teil, 1. Aufl. 1956, § 66 1 a); zuletzt ders., Schuldrecht II, 12. Auflage, S. 604 f. 49 Vgl.etwa Ernst v.Caemmerer, in:Festschrift fürRabel (1954), BandI,S. 333, 355; Fritz Fabricius, AcP 160 (1961), 273, 303 f.; Hans Stoll AcP 162 (1963), 203, 212; mit Einschränkungen Manfred Löwisch, Der Deliktsschutz relativer Rechte (1970), S. 81. 50 Otto Bähr, Iherings Jahrb. 1 (1857), 351ff. (Eigentum anderForderung); PaulOertmann, Iherings Jahrb. 66 (1916), 159 ff.; Franz Leonhard, Besonderes Schuldrecht, 1931, § 303. 51 Gerhard Otte, JZ 1969, 253, 255 ff.; im Ansatz auch Wolfgang Mincke, JZ 1984, 862, 864 (wenngleich aufanderem Wege denDeliktsschutz begründend); Gerhard Dulckheit, DieVerdinglichung obligatorischer Rechte, 1951, S. 18. 52 Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Auflage (1994), S. 398 (Anm. 93). 53 Vgl. auch den Wortlaut von §§ 936 Abs. 1 S. 1, 1018, 1030 Abs. 1, 1090 Abs. 1, 1094 Abs. 1, 1105 Abs. 1, 1113 Abs. 1, 1191 Abs. 1, 1204 Abs. 1 BGB. 54 Anders freilich konsequenterweise diehM,diedieForderung selbst als Verfügungsobjekt ansieht, vgl. nuretwa Jürgen F. Baur/Rolf Stürner, Sachenrecht, 17. Aufl. 1999, § 60 Rn. 3, § 62 Rn. 1; Mathias Habersack (Anm. 36), Rn. 12: Nießbrauch undPfandrecht anderForderung sinddanach einrelatives Recht, dassichals Abspaltung vonderForderung selbst darstellt.

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Christiane Wendehorst

IV.Schlussfolgerung Die Frage nach dem, was ein Rechtsobjekt ausmacht, gehört zuden klassischen Fragestellungen der Privatrechtswissenschaft. Die Antworten, die darauf gegeben worden sind undgegenwärtig gegeben werden, weichen infrappierender Weise voneinander ab,ja widersprechen einander sogar inzentralen Punkten. Fast alle derzeit vertretenen Begriffskonzepte zeichnen sichallerdings dadurch aus,dassviele wichtige Güter des modernen Wirtschaftsverkehrs, wie Dienstleistungen, Informationen oder Gewinnchancen, nicht vertreten sind. Obdieherrschende Dogmatik derRechtsobjekte ausdiesem Grund neuüberdacht undder Katalog anerkannter Rechtsobjekte erweitert werden muss, ist nach hier vertretener Auffassung jedenfalls dann, wenn mandenBegriff des Rechtsobjekts in einem technischen, amParadigma derSache orientierten Sinn verwenden möchte, allein eine Frage derIdentifizierung zugehöriger absoluter Herrschaftsrechte. Zwarist derKatalog derHerrschaftsrechte –demvielfach postulierten Prinzip des numerus clausus55 zumTrotz –nicht vonvorneherein abgeschlossen. Obeinabsolutes Herrschaftsrecht jeweils tatsächlich existiert, richtet sichabernicht nachderwirtschaftlichen Bedeutung desbetreffenden Phänomens, sondern danach, obvonderRechtsordnung hinreichend viele typische Merkmale eines solchen Herrschaftsrechts anerkannt werden. DieAnalyse, worin diese Merkmale genau bestehen, welche Rolle dabei Grundrechten zukommt undwelche Güter des modernen Wirtschaftsverkehrs sich dementsprechend bereits indenKreis deranerkannten Rechtsobjekte eingereiht haben, würde freilich denRahmen dieses Beitrags sprengen undmuss einer umfassenderen Untersuchung vorbehalten bleiben.

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Statt vieler

KarlLarenz/Manfred Wolf(Anm. 43), § 15 Rn.11f.

II. Strafrecht

Armin Engländer*

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261 StPO imLichte der Erkenntnistheorie

I. Einleitung Nach § 244 Abs. 2 StPO bezweckt die strafprozessuale Beweisaufnahme die „Erfor. Überdas Ergebnis dieser Bemühungen entscheidet gemäß § schung derWahrheit“ 261StPOdasGericht nachseiner freien, ausdemInbegriff derVerhandlung geschöpftenÜberzeugung. § 261StPObildet damit neben § 244Abs.2 StPOdiezweite zentrale Normdes strafprozessualen Beweisrechts. Trotz odervielleicht auchgerade wegen dieser zentralen Stellung wirdjedoch nachwievordarüber gestritten, wasgenau unter demBegriff derfreien Überzeugung zuverstehen ist. Inderfolgenden Abhandlung soll untersucht werden, ob die Erkenntnistheorie einen Beitrag zurKlärung leisten kann. Hierzu müssen zunächst zwei Problembereiche unterschieden werden. Zumeinen stellt sich die Frage nach derStruktur vonÜberzeugungen, d.h. nach densie kennzeichnenden Merkmalen undEigenschaften. Zumanderen bedarf derUntersuchung, ob undggf. welche Anforderungen bestehen hinsichtlich derRechtfertigung richterlicherÜberzeugungen. Diestrafprozessuale Diskussion kreist vorwiegend umdieMaßstäbe der richterlichen Beweiswürdigung1 unddamit umdas Problem der Rechtfertigungsbedingungen. Angemessen beantwortet werden kann diese Frage aber erst dann, wenngeklärt ist,wasdenneigentlich einegerichtliche Überzeugung imSinne des § 261StPOausmacht. Zunächst mussdaher dieStruktur vonÜberzeugungen herausgearbeitet werden.

II. DieStruktur vonrichterlichen Überzeugungen Überzeugungen sind intentionale Zustände. Alssolche verfügen sie übereinen propositionalen Gehalt undeinen intentionalen Modus.2 Derpropositionale Gehalt eines intentionalen Zustands besteht in einem bestimmten Sachverhalt, derdurch einen 3 Der dass derAngeklagte das Opfer erwürgt hat.“ Dass-Satz ausgedrückt wird–z.B., „ intentionale Modus kennzeichnet hingegen eine spezifische Einstellung desSubjekts zudemjeweiligen propositionalen Gehalt. So kannbeispielsweise eine Person glauben, befürchten oderwünschen, dass derAngeklagte dasOpfer erwürgt hat. Injedem dieser Fälle bleibt derpropositionale Gehalt derselbe –nämlich, dass derAngeklagte dasOpfer erwürgt hat – , aberdieintentionalen Modiunterscheiden sichvoneinander. Welches istnunderintentionale Modus einer richterlichen Überzeugung imSinne des§ 261StPO? ZweiAuffassungen werden hierzu imWesentlichen vertreten. Einer Meinung zufolge besteht derintentionale Modus imFür-wahr-Halten derProposition;

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Assistent von Professor Dr. Michael Hettinger, * Wissenschaftlicher Strafprozessrecht anderJohannes-Gutenberg-Universität zuMainz

Lehrstuhl

für Strafrecht und

Knapper Überblick bei Gerhard Herdegen, Strafrichterliche Aufklärungspflicht und Beweiswürdigung, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 3513, S. 3514 ff. Vgl.John R. Searle, Geist, Sprache undGesellschaft, 2001, S. 120ff. Teilweise wirddie Annahme vonPropositionen als Gehalt intentionaler Zustände abgelehnt und stattdessen allein aufdenjeweiligen Dass-Satz abgestellt. So z.B. Willard V.O. Quine, Unterwegs zurWahrheit, 1995, S. 94 ff.

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Armin Engländer

dieandere Meinung begreift ihnhingegen alseinFür-bewiesen-Halten. Herrschend ist dieerste Ansicht.4 ZurBegründung verweisen dieVertreter derh.M.auf§ 244 Abs.2 StPO, der–wiebereits erwähnt –die Erforschung derWahrheit zumZiel derstrafprozessualen Beweisaufnahme macht. DasFür-wahr-Halten wirddabei aufderGrundlage eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs und einer realistischen Weltsicht verstanden.5 Nach demkorrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist eine Proposition genau dannwahr, wennsiedenTatsachen entspricht.6 Dierealistische Weltsicht besagt, dass diese Tatsachen, also die „ Wahrmacher“einer Proposition, grundsätzlich unabhängig vonunseren mentalen odersprachlichen Repräsentationen vonihnen bestehen.7 Eine Proposition fürwahrzuhalten, bedeutet demnach anzunehmen, dass dervorgestellte Sachverhalt in einer bewusstseins- undbeschreibungsunabhängigen Weise tatsächlich derFall ist.8 Gerade Autoren, diesichumeine Berücksichtigung erkenntnistheoretischer Überlegungen bemühen, propagieren allerdings vorwiegend die zweite Auffassung, der zufolge derintentionale Modus derrichterlichen Überzeugung imFür-bewiesen-Halten derProposition besteht. MitdemFür-bewiesen-Halten istdabei nicht etwadieAnnahmegemeint, dass die Proposition ineinem korrespondenztheoretischen Sinne wahr undzusätzlich gemäß bestimmten Beweiskriterien gerechtfertigt ist. Vielmehr wird damit ein Glaube an die beweismäßige Rechtfertigung der Proposition ohne korrespondenztheoretische Wahrheit undWirklichkeitsbezug bezeichnet. Besonders deutlich kommt dies etwa beiRainer Paulus zumAusdruck. Nach Paulus richtet sich die richterliche Überzeugung allein aufeine „ . Werde rechtsrichtige Aussagenverifikation“ derinihrangenommene Sachverhalt durch Gründe rechtlich bewiesen, treffe siedaher 9Ganz auch dann zu, „ wenn sie nicht übereinstimmt mitontologischer Wirklichkeit.“ ähnlich spricht auch Gerhard Herdegen davon, derRichter brauche keinWahrheitsweilseine Intention nurimEinklang mitdemangemessenen Beweismaß bewusstsein, „ stehen“ müsse.10 EinFür-wahr-Halten ineinem korrespondenztheoretischen Sinnsoll

4 Vgl. nurUlrich Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 4. Aufl. 2002, Rn. 89; Walter Gollwitzer, in: LöweRosenberg, StPO, 25. Aufl. 2000, § 261 Rn. 7; Claus Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 15 Rn.13; Ellen Schlüchter, in:Systematischer Kommentar, StPO, § 261 Rn.53;Armin Schoreit, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl. 2003, § 261 Rn. 2; Carl-Friedrich Stuckenberg, in: KMR, StPO, § 261 Rn. 20 jeweils m.w.N. 5 Korrespondenztheorie derWahrheit undRealismus werden zwarhäufig gemeinsam vertreten, bedingen einander allerdings nicht. Vgl.dazuMichael Devitt, Realism andTruth, 2. Aufl. 1991, S. 39 ff. 6 Vgl. dazu Devitt (Anm. 5), 26 ff.; Alan Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft undSkeptizismus, 1993, S. 251 ff.; Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 2. Aufl. 1994, S. 332 ff.; John Searle, Die Konstruktion dergesellschaftlichen Wirklichkeit, 1997, S. 207 ff.; zurstrafprozessualen Diskussion vgl. Frauke Stamp, DieWahrheit imStrafverfahren, 1998, S. 33 ff. 7 Grundlegend HansAlbert, Kritik derreinen Erkenntnislehre, 1987, S. 43ff.; Devitt (Anm. 5),S. 13ff.; Winfried Franzen, Totgesagte leben länger, in:Forum fürPhilosophie BadHomburg (Hg.), RealismusundAntirealismus, 1992, S. 20ff.; Musgrave (Anm. 6),S. 280ff.; Searle (Anm. 6),S. 159ff.;aus demstrafprozessualen Schrifttum KarlHeinz Gössel, Ermittlung oderHerstellung vonWahrheit im Strafprozeß?, 2000, S. 9 ff. Einen Überblick über die Diskussion bietet M. Willaschek (Hg.), Realismus, 2000. 8 Dies bedarf der Präzisierung insofern, als das Bestehen mentaler undsprachlicher Tatsachen selbstverständlich vonderExistenz eines Bewusstseins bzw.einer Sprache abhängig ist.Aberauch hiergilt, dass diese mentalen undsprachlichen Tatsachen unabhängig sindvondenmentalen bzw. sprachlichen Repräsentationen, diewirunsvonihnen machen. 9 Rainer Paulus, Prozessuale Wahrheit undRevision, in: M.Seebode (Hg.), Festschrift fürGünter Spendel, 1992, 687, S. 697. 10 Gerhard Herdegen, Diestrafprozessualen Beweiswürdigungstheorien des Bundesgerichtshofs, in: U. Ebert u.a. (Hg.), Festschrift für Ernst-Walter Hanack, 1999, 311, S. 312.

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261 StPO

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alsodemzufolge fürdasBestehen einer gerichtlichen Überzeugung nicht erforderlich sein.11 AmBeispiel: Umüberzeugt davon zusein, dass derAngeklagte das Opfer erwürgt hat, mussderRichter nachobiger Auffassung nurannehmen, dass dieser Sach-

verhalt gemäß denKriterien des strafprozessualen Beweisrechts als bewiesen gilt, nicht hingegen auch, dass erineinem realistischen Sinne tatsächlich derFallist. Gegenüber demFür-wahr-Halten handelt es sich beimFür-bewiesen-Halten somit nicht umeinMehr, sondern umeinaliud. Hieraus werden dannzumTeilweitreichende Konsequenzen etwa fürRevision undmaterielle Rechtskraft gezogen.12 Wiebegründen nundieVertreter dieser –aufdenersten Blick kontraintuitiven – Position ihren Standpunkt? ImWesentlichen lassen sichfünfArgumente identifizieren, die hier als das skeptizistische Argument, das Argument der Unerforschlichkeit der Korrespondenz, das Argument derempirischen Basis, das verifikationistische Argumentunddas Verstehensargument bezeichnet werden sollen.13 Dasskeptizistische Argument stellt philosophiegeschichtlich denbekanntesten undmeist diskutierten Einwand gegen denRealismus dar.14 Inderstrafprozessualen Diskussion wirdes beispielsweise von Walter Grasnick vertreten.15 Es besagt, dass eine bewusstseins- undbeschreibungsunabhängige Wirklichkeit prinzipiell nicht Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein könne, weilwirhier über kein Kriterium verfügten, das uns eine sichere Unterscheidung zutreffender vonbloß scheinbarer Erfassung derRealität ermögliche. Wirseien also niemals inderLage zuwissen, wann unsere Annahmen übereine solche Wirklichkeit wahrsind undwannwiruns irren. Menschliche Erkenntnis beziehe sichdeshalb immer nuraufdieWeltunserer Ideen, Sinnesdaten oderErscheinungen unddamit aufbewusstseins- undsprachabhängige Entitäten.16 Grundlage dieses Einwands bildet dieAnnahme, echtes Wissen setze Gewissheit, d.h. Zweifelsfreiheit voraus. Nunist allerdings eine solche Gewissheit grundsätzlich nicht zuerreichen, dajedes Streben nachihrineinnicht lösbares Begründungsproblem führt, für das Hans Albert die treffende Bezeichnung des Münchhausen-Trilemmas geprägt hat.DasMünchhausen-Trilemma besteht darin, dassjeder Versuch einer zweifelsfreien Begründung notwendigerweise entweder ineinem infiniten Regress, ineinem logischen Zirkel oder in einem willkürlichen Abbruch des Begründungsverfahrens

11 Voneinigen Befürwortern dieser Ansicht wirddabei amBegriff derWahrheit festgehalten, dieser allerdings in einem epistemischen Sinne definiert. DerKlarheit wegen soll hier stattdessen zur

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Kennzeichnung einer solchen Auffassung einheitlich vonBeweisbarkeit gesprochen werden. Einen knappen Überblick über die epistemischen Wahrheitstheorien bietet Peter Baumann, Erkenntnistheorie, 2002, S. 173 ff. Vgl. Paulus (Anm. 9), 696, S. 710 ff. Teilweise beruht dieAblehnung vonKorrespondenztheorie derWahrheit undRealismus allerdings allein aufrelativ leicht zudurchschauenden Verwechslungen. So begründet etwa Klaus Volkseine Auffassung, dieWirklichkeit stelle eine menschliche Konstruktion dar,mitdemArgument, wenneine plausibel genug sei, hielten wirsie fürwahrunddieeinzelnen Fakten damit fürwirklich. Aus Story“ „ denUmständen, unter denen wiretwas fürwirklich halten, folgt aber natürlich nicht, wannetwas wirklich ist. So jedoch Klaus Volk, Diverse Wahrheiten, in: A. Eser u.a. (Hg.), Festschrift für Hannskarl Salger, 1995, 411, S. 412 ff. Kurzer Überblick beiBaumann (Anm. 11), S. 19ff. Walter Grasnick, Wahres überdieWahrheit –auch imStrafprozeß, in:J. Wolter (Hg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv fürStrafrecht, 1993, 55, S. 69. Teilweise wird auf der Grundlage dieser Argumentation die Existenz einer bewusstseins- und sprachunabhängigen Welt bestritten, teilweise nurihre Erkennbarkeit. Erstere Auffassung vertritt etwa George Berkeley, Eine Abhandlung überdiePrinzipien dermenschlichen Erkenntnis, 1957, §§ 1 ff.; letztere Immanuel Kant, Prolegomena zueiner jeden künftigen Metaphysik, dieals Wissenschaft wirdauftreten können, Werkausgabe Bd.5: Schriften zurMetaphysik undLogik, 1968, A62f.

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Armin Engländer

endet.17 Gibtmandeshalb dasGewissheitsideal aufundakzeptiert, dassjedes Wissen konjekturalen Charakter hat unddeshalb fallibel ist,18 wird demskeptizistischen Argument derBoden entzogen.19 Zwarkönnen wiruns niemals sicher sein, ob unsere Annahmen überdie Realität tatsächlich zutreffen. Auchdie Beobachtungen, anhand derer wirdiese Annahmen überprüfen, können sich alsfalsch erweisen. Aberdasbedeutet nicht, dass der Mensch prinzipiell keine Anhaltspunkte zurBeurteilung der Wahrheit seiner Theorien besitzt. DieThese eines radikalen Skeptizismus, derzufolge wirunsineinem permanenten Irrtum überdiebewusstseins- undsprachunabhängige Weltbefinden könnten, erscheint jedenfalls aufderGrundlage evolutionstheoretischer Überlegungen wenig plausibel. DennnachderEvolutionstheorie wäreeinOrganismus, dessen Sinnessystem beständig falsche Auskünfte überseine Umwelt gäbe, schlicht nicht überlebensfähig.20 Dasskeptizistische Argument erscheint daher nicht geeignet, dieAnnahme derExistenz undErkennbarkeit einer vomerkennenden Subjekt unabhängigen Wirklichkeit zuwiderlegen. Verwandt mitdemskeptizistischen Einwand istdasArgument derUnerforschlichkeit derKorrespondenz. Es wirdebenfalls vonGrasnick vorgebracht. Erführt gegen die Annahme einer Korrespondenzbeziehung an,es seiprinzipiell nicht möglich, Aussagen bzw.Überzeugungen miteiner alsunabhängig angenommenen Wirklichkeit zuvergleichen.21 Hinter dieser Behauptung steht offenbar dievonverschiedenen Kritikern der Korrespondenztheorie geteilte Auffassung, eine Prüfung vonAussagen bzw.Überzeugungen anhand derRealität verlange dieEinnahme eines sprach- bzw.bewusstseinsexternen Standpunktes, vondemausderVergleich vorgenommen werde. Dasseiaber nicht möglich, dajede Prüfung notwendigerweise innerhalb unseres sprachlichen bzw. kognitiven Repräsentationssystems stattfinde. Aussagen bzw. Überzeugungen würdendaher nicht anhand einer beschreibungs- undbewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit, sondern immer nuranhand weiterer Aussagen bzw.Überzeugungen geprüft.22 Wasistdazuzusagen? Estrifft zu,dassjede sprachliche bzw.kognitive Repräsentation derWirklichkeit durch einerkennendes Subjekt innerhalb des Repräsentationssystems dieses Subjekts stattfindet. Deshalb erfolgt selbstverständlich auchjede Repräsentation derBeziehung zwischen densprachlichen bzw.kognitiven Repräsentationendeserkennenden Subjekts einerseits undderdurch sierepräsentierten Wirklichkeit andererseits innerhalb unseres sprachlichen bzw.kognitiven Repräsentationssystems. Mitanderen Worten: Umdie Frage zubeantworten, obeine Aussage bzw. ÜberzeugungmitderRealität übereinstimmt, müssen wirunswiederum unseres Repräsentationssystems bedienen. Insoweit können wirtatsächlich keinen sprach- bzw.bewusstseinsexternen Standpunkt einnehmen. Dasbedeutet abernicht, dass sichunsere Sätze und Bewusstseinszustände immer nuraufandere Sätze undBewusstseinszustände beziehen. AusderNotwendigkeit, dass derMensch als erkennendes Subjekt sich seines Repräsentationssystems bedienen muss, folgt nicht, dassermitdiesem Repräsentations-

17 Ausführlich dazu Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 13 ff. Charakter desWissens vgl. Musgrave (Anm. 6), S. 280ff.; Popper (Anm. 6), S. 1 ff.

18 Zumkonjekturalen

19 DenZusammenhang vonGewissheitsstreben undAnti-Realismus betonen Albert (Anm. 7),S. 48f., undSearle (Anm. 6), S. 177f. 20 Zurevolutionstheoretischen Begründung desRealismus vgl.Musgrave (Anm. 6),S. 290ff.; Gerhard 21

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Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 7. Aufl. 1998, S. 102 ff. Grasnick (Anm. 15), 66, S. 68 f. Vgl. z.B. Karl-Otto Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, 1998, S. 90 ff.

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261 StPO

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system keinen Zugang zurWirklichkeit hatunddeshalb seine Aussagen undÜberzeu-

gungen nicht anderRealität überprüfen kann.23 Betrachten wirals nächstes das Argument derempirischen Basis, das vonHerdegen insFeldgeführt wird. Danach istdieErzielung wahrer Aussagen überdieWirklichkeit imStrafverfahren deshalb unmöglich, weilderGehalt derSachverhaltsannahmendes Gerichts immer überdenGehalt dersie rechtfertigenden Wahrnehmungen hinausgehe. Folglich könne es nurumdie Feststellung von Wahrscheinlichkeiten gehen.24 Gegen dieses Argument lässt sichallerdings einwenden, dass es– ebenso wiedas unterstellt, dieSuche nachWahrheit erfordere zugleich das skeptizistische Argument – Streben nachGewissheit. AusderTatsache, dass wirüberkeinsicheres Kriterium zur Beurteilung derWahrheit verfügen –nicht nurweil derGehalt derSachverhaltsannahmen überdenGehalt dersiestützenden Beobachtungen hinausgeht, sondern auch , folgt abernicht, dass Wahrheit weildieBeobachtungen selbst theoriegeladen sind25 – als Erkenntnisziel ausscheidet. Begründet wirdhierdurch wiederum nurdieprinzipielle Fehlbarkeit desBemühens, dieRealität, bzw.bestimmte Aspekte vonihr,zutreffend zu erfassen undzubeschreiben. Sprachphilosophische Bedenken gegen die korrespondenztheoretisch-realistische Auffassung macht das verifikationistische Argument geltend. Seine Grundlage bildet diesog.Verifikationstheorie derBedeutung. Ihrzufolge sollderSinneines Satzes nurdurch Angabe des Verfahrens seiner Bewahrheitung bestimmbar sein.26 Mitanderen Worten: UmeineAussage zuverstehen, mussmannachdieser Theorie ihreVerifikationsbedingungen kennen. Paulus folgert hieraus nun,dieBedeutung einer RechtsAussage könne deshalb nuranhand ihrer Richtigkeitskriterien bestimmt werden. Unter einer Rechts-Aussage versteht erdabei auchdieSachverhaltsfeststellungen desGerichts.27 DieVerifikationsbedingungen selbst sollen nach Paulus allerdings nicht berechtspragmatisch wertenden“ weisbar sein, sondern dasResultat einer „ Entscheidung darstellen.28 Es istnunnicht möglich, dieimEinzelnen sehr komplexe Verifikationstheorie der Bedeutung sowie denGebrauch, den Paulus vonihrmacht, hier umfassend zu erörtern.29 NurzweiEinwände sollen daher geltend gemacht werden. DieVerifikationstheorie derBedeutung unterstellt, dass bestimmte Sätze durch eine als rein passive Gegebenen“verstandene Wahrnehmung zumindest theoretisch Registration des „ unmittelbar verifizierbar sind. Eine solche Verifikation istaberentgegen dieser Annahmeprinzipiell nicht möglich, weilzumeinen auchBeobachtungen niemals theoriefrei, sondern theoriegeladen sind, undzumanderen dieBeobachtungssätze, indenen die Beobachtungen ausgedrückt werden, notwendig theoretische Begriffe enthalten. Jede

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Ebenso Musgrave (Anm. 6), 268 f., S. 280 ff.; Searle (Anm. 6), S. 178ff.Vgl.auch Ulfrid Neumann, Wahrheit imRecht, 2004, S. 15. Herdegen (Anm. 10), 313, S. 326 f. Vgl. dazu Albert (Anm. 7), S. 51 ff. Vgl. Michael Dummett, Wahrheit, 1982, S. 7 ff.; Moritz Schlick, Meaning andverification, The Philosophical Review 1936, S. 339; Ernst Tugendhat, Vorlesungen zurEinführung indiesprachanalytische Philosophie, 1976, S. 246 ff. Paulus (Anm. 9), S. 697. Paulus, in: KMR, StPO, § 244 Rn. 21. ZurAnalyse undKritik der Verifikationstheorie der Bedeutung in der aktuellsten, von Dummett vertretenen Version vgl. Devitt (Anm. 5), S. 259 ff.; Louise Röska-Hardy, Realismus unddas bedeutungstheoretische Argument vonMichael Dummett, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Realismus undAntirealismus, 1992, S. 149.

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undihre sprachliche Darstellung transzendiert daher das „ Gegebedas Verstehen einer Aussage nuntatsächlich die Kenntnis ihrer Verifikationsbedingungen voraussetzen, so Michael Devitttreffend, „ wewould understand 31 nothing.“ Zudem erscheint auchdiePaulussche Anwendung derVerifikationstheorie problematisch. Paulus glaubt offenbar, aufeine empiristische Fundierung verzichten zukönnen, indem er die Verifikationsbedingungen der von ihmso bezeichneten RechtsAussagen einfach als Ergebnis einer kontingenten Entscheidung begreift. Für die Annahme einer verifikationistischen Bedeutungskonstitution istaberdieVerknüpfung vonBeobachtungssätzen mitspezifischen Wahrnehmungen zentral. Wiehingegen eineverifikationistische Bedeutungsbestimmung aufderGrundlage offenbar mehroder weniger freiwählbarer Richtigkeitskriterien, dieinihrem Status unbestimmt sind, möglichseinsoll, bleibt völlig unklar. Auchdasverifikationistische Argument vermag daher Wahrnehmung

.30Würde ne“

zuüberzeugen. Einen weiteren Einwand gegen diekorrespondenztheoretisch-realistische Auffassung, der hier als Verstehensargument bezeichnet werden soll, propagiert ErnstJoachim Lampe. Ihmzufolge beschreiben dieTatbestände vonNormen keine Tatsachenderphysischen oderpsychischen Realität. Vielmehr enthielten sie Interpretationeneiner metaphysischen Rechts-Realität. Wasinihnen gemeint sei, könne deshalb nicht als wahrerkannt, sondern nurhermeneutisch verstanden werden. Dabei ist zu beachten, dass nach Lampe nicht nurdie Bedeutung des Normtextes Gegenstand dieses besonderen hermeneutischen Verfahrens seinsoll, sondern auchdieObjekte, Eigenschaften undZustände, aufdiederNormtext sich bezieht.32 Was ist vondiesem Argument zu halten? Zutreffend ist, dass Normen keine Tatsachenaussagen darstellen. Sie besagen nicht, dass einbestimmter Sachverhalt tatsächlich derFallist. Allerdings verbieten, gebieten odererlauben sie einmenschliches Verhalten, wennderimTatbestand bezeichnete Sachverhalt derFall ist. Dass Normen keine Tatsachen beschreiben, bedeutet deshalb entgegen Lampe nicht, dass sie sichnicht aufsolche Tatsachen beziehen. Nichts anderes folgt auchausderInterpretationsbedürftigkeit vonNormtexten. DieKlärung, welchen Sachverhalt einTatbestand bezeichnet, bedarf inderTatmeistens einer Interpretation, beiderauchhermeneutische Methoden zurAnwendung gelangen. Das tatsächliche Bestehen dieses Sachverhalts wirdhierdurch aber nicht zurFrage irgendeiner seltsamen, nurhermeneutisch verstehbaren metaphysischen Rechts-Realität, sondern bemisst sich ganz einfach nach unserer natürlichen oder sozialen Wirklichkeit. Es ist damit auch der normalen menschlichen Erkenntnis zugänglich undkann in wahren Aussagen beschrieben werden.33 Zusammenfassend kannsomit festgehalten werden, dassdieEinwände gegen die korrespondenztheoretisch-realistische Auffassung nicht zu überzeugen vermögen. Derintentionale Modus derrichterlichen Überzeugung imSinne des§261StPObesteht nicht imFür-bewiesen-Halten, sondern imFür-wahr-Halten eines Sachverhaltes. nicht

30 Vgl. Albert (Anm. 7), S. 51 ff.; Karl R. Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 60 ff. Differenzierend zumtheoretischen Gehalt vonBeobachtungssätzen Quine (Anm. 3), S. 8 ff. 31 Devitt (o. Fußn. 5), S. 277. 32 Vgl.Ernst-Joachim Lampe, Richterliche Überzeugung, in:O.F. Freiherr vonGamm(Hg.), Festschrift fürGerd Pfeiffer, 1988, 353, S. 359 ff. 33 ImHintergrund vonLampes Verstehensargument steht wohldie Gadamersche Auffassung vom hermeneutischen Verstehen als überlegener Artdes Erkennens. ZurKritik vgl. Hans Albert, Kritik derreinen Hermeneutik, 1994, S. 36 ff.

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261StPO

III. DieRechtfertigung

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vonrichterlichen Überzeugungen

Nachdem die Struktur von richterlichen Überzeugungen herausgearbeitet wurde, sollen nunihre Rechtfertigungsbedingungen erörtert werden. Es geht also umdie Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Richter berechtigt bzw. verpflichtet ist, einen Sachverhalt fürwahrzuhalten.34 ZweiPunkte sinddabei unstreitig: Zumeinen bisaufwenige, hierzuvernachlässigende Ausnahmen wieden§ 190StGB besteht – –keine Bindung desGerichts angesetzliche Beweismaßregeln, wiesie etwaderalte Inquisitionsprozess kannte. DasistderKernderin§ 261StPOstatuierten Freiheit der Beweiswürdigung.35 Zumanderen kannnicht verlangt werden, dass dieWahrheit der Sachverhaltsannahmen des Gerichts als objektiv gewiss bzw.zweifelsfrei feststehen muss. Wiebereits dargelegt, ist es aufgrund derprinzipiellen Fallibilität unserer Erkenntnis nicht möglich, eine solche Gewissheit zuerzielen. Ganzindiesem Sinne stellt Ein‚absolut sicheres Wissen‘–demgegenüber dasVorliegen etwaauchdasRGfest: „ eines gegenteiligen Tatbestandes ‚absolut ausgeschlossen‘wäre –istdermenschli36 chen Erkenntnis beiihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen.“ Nachwelchen Kriterien bestimmt sichnunaberdieBerechtigung eines Für-wahrHaltens? Auchzudieser Frage werden zweigrundsätzliche Auffassungen vertreten. Derersten Ansicht zufolge kommt es aufdiepersönliche Gewissheit des Richters an. Sie bezieht sichdamit also aufeinsubjektives Kriterium. DieGegenmeinung plädiert hingegen für intersubjektive oder objektive Kriterien. Zumeist stellen ihre Vertreter hierbei aufeinen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad ab, teilweise ziehen sie aber auch andere Gesichtspunkte wieetwa die allgemeine Lebenserfahrung heran. Verstärkt werden schließlich inzwischen subjektive undobjektive bzw. intersubjektive Kriterien miteinander kombiniert.

1.Subjektive

Rechtfertigung

Untersuchen wirzunächst diepersönliche Gewissheit als subjektives Kriterium. Nach derh.M.stellt es entweder eine hinreichende oderzumindest eine notwendige Bedingungdar, dass derRichter dieWahrheit seiner Sachverhaltsannahme persönlich für gewiss hält.37 So führt der BGHineiner nach wievorbedeutsamen Entscheidung aus: FürdieVerurteilung istes notwendig aberauchgenügend, daßderSachverhalt fürden „ 38 zweifelsfrei feststeht; diese persönliche Gewißheit istallein entscheidend.“ Zubeachten ist, dass es sich bei dieser persönlichen Gewissheit nicht umdie subjektive Annahme einer objektiven Gewissheit handeln soll. Wieschon erwähnt, ist Tatrichter

34

Teilweise wirddieRechtfertigbarkeit desFür-wahr-Haltens auchals Merkmal desÜberzeugungsbegriffs aufgefasst. So z.B. vonImmanuel Kant, Kritik derreinen Vernunft, Werkausgabe Bd.4, 1968,

B 848.

dazuGünter Jerouschek, Wiefrei istdiefreie Beweiswürdigung, Goltdammer’s Archiv freien Beweiswürdigung“ fürStrafrecht 1992, S. 493; Wilfried Küper, Historische Bemerkungen zur„ imStrafprozess, in:K. Wasserburg/W. Haddenhorst, Festschrift fürKarlPeters, 1984, S. 23. 36 RGSt 61, 202, S. 206. 37 Vgl. Werner Beulke, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2004, Rn. 490; Eisenberg (Anm. 4) Rn. 89; Gerhard „ Freiheit“ Fezer, Tatrichterlicher Erkenntnisprozess – derBeweiswürdigung, Strafverteidiger 1995, 95, S. 99; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg (Anm. 4), § 261 Rn. 7; Ernst-Walter Hanack, Maßstäbe undGrenzen richterlicher Überzeugungsbildung imStrafprozeß, Juristische Schulung 1977, 727, S. 728f.; Roxin (Anm. 4), § 15 Rn.13; Schlüchter, in:Systematischer Kommentar (Anm. 4), § 261 Rn. 53; Schoreit, in:Karlsruher Kommentar (Anm. 4),§ 261 Rn.2; Stuckenberg, in:KMR(Anm. 4), § 261

35

Ausführlich

Rn. 20.

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dieprinzipielle Nichterreichbarkeit objektiver Gewissheit

unstreitig undwirdauchvon Auffassung –erkenntnistheoretisch insoweit ohneweiteres eingeräumt. Wiederum derBGH:„ aufgeklärt – DerBegriff derÜberzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhalts nicht aus; vielmehr gehört es gerade zuihrem Wesen, daßsie sehr häufig demobjektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt. DennimBereich dervomTatrichter zuwürdigendenTatsachen istdermenschlichen Erkenntnis beiihrer Unvollkommenheit einabsolut sicheres Wissen überdenTathergang ... verschlossen.“ 39 Zwar berücksichtigen die gegenwärtigen Befürworter der subjektivistischen Auffassung zurVermeidung vonWillkürentscheidungen mittlerweile auchverstärkt objekdie persönliche Getive Kriterien. Sie halten also –anders als früher noch der BGH40 – wissheit nicht mehr füreine hinreichende, sondern nurnoch füreine notwendige Bedingung, undvertreten damit einen Kombinationsansatz. Verlangt wirddieWahrung bestimmter Rationalitätsstandards, soetwadieEinhaltung derRegeln derLogik unddie Berücksichtigung gefestigter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie vermehrt aucheine zumindest hohe Wahrscheinlichkeit desZutreffens dergerichtlichen Sachverhaltsannahme.41 Ferner soll der Richter seine subjektive Gewissheit dann nicht mehrverneinen dürfen, wennkonkrete bzw.vernünftige Zweifel nicht mehrmöglich sind.42 Entscheidend bzw.mitentscheidend bleibt abernachdieser Ansicht gleichwohl einpersönliches Gewissheitserlebnis desRichters, dassichjedenfalls nicht aufeinen Maßstab objektiver Nichtbezweifelbarkeit bezieht. Welche Argumente lassen sich nunfürein solches Kriterium der persönlichen Gewissheit anführen? DreiGründe sindes vorallem, dieseine Vertreter geltend machen. Sie sollen imFolgenden als Begriffsargument, Argument derpersönlichen Verantwortung undIntuitionsargument bezeichnet werden. Daserste Argument beansprucht, einen begrifflichen Zusammenhang zwischen Überzeugung undsubjektiver Gewissheit nachzuweisen. Ausgangspunkt istdieThese, dassanhand objektiver Kriterien immer nurbestimmte Wahrscheinlichkeitsfeststellungen begründet werden könnten. EinFür-wahr-Halten seiabermehrbzw.etwas anderes als dieAnnahme bloßer Wahrscheinlichkeiten. Es müsse hierdassubjektive Gefühl der Zweifelsfreiheit hinzutreten. Erst beiVorliegen dieser persönlichen Gewissheit werde auseiner bloßen Vermutung eine Überzeugung.43 DasFür-wahr-Halten impliziert also nachdiesem Verständnis einFür-gewiss-Halten, d.h.: ist dastatsächliche Bestehen eines Sachverhaltes fürden Richter nicht subjektiv zweifelsfrei, hält er ihn–recht verstanden –auch nicht fürwahr undist somit nicht überzeugt i.S. des § 261 StPO. Diese begriffliche Argumentation istjedoch alles andere alsplausibel. Estrifft nicht zu,dass maneine Proposition nurdannals wahransieht, wennmanzugleich diese Wahrheit fürgewiss hält.44 DieAuffassung, dass einvorgestellter Sachverhalt tatsäch-

den Vertretern der subjektivistischen

38 BGHGA 1954, S. 152. 39 BGHSt 10, 208, S. 209. 40 Vgl. BGHSt 10, 208, S. 209. Mittlerweile hält auch der BGHdie Einhaltung bestimmter objektiver Rationalitätsstandards fürnotwendig. Vgl. etwa BGHNJW 1988, S. 3273; NStZ 1990, S. 402. 41 Vgl. Eisenberg (Anm. 4) Rn.91; Fezer (Anm. 37), S. 99; Gollwitzer, in:Löwe-Rosenberg (Anm. 4),§ 261 Rn. 13; Hanack (Anm. 37), S. 729 f. jeweils m.w.N. 42 Vgl. Gollwitzer, in:Löwe-Rosenberg (Anm. 4), § 261 Rn.8; Schlüchter, in:Systematischer Kommentar(Anm. 4), § 261 Rn.53 f.; Stuckenberg, in:KMR(Anm. 4), § 261 Rn.23 jeweils m.w.N. 43 So z.B. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg (Anm. 4), § 261 Rn. 9; Hanack (Anm. 37), S. 728; Stuckenberg, in: KMR(Anm. 4), § 261 Rn. 24. 44 So auch Albert (Anm. 17), S. 225 f. Füreine graduelle Auffassung vonÜberzeugungen plädiert Baumann (Anm. 11), S. 125 ff.

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261 StPO

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lici derFall ist, beinhaltet in keiner Weise eine weitere Annahme des erkennenden Subjekts, eskönne sichhierbei nicht geirrt haben. AufderGrundlage eines konsequen-

bereitet es keine Schwierigkeiten, eine Proposition fürwahrzuhalten undsichzugleich derFehlbarkeit dieser Überzeugung bewusst zusein. Akzeptiert man denkonjekturalen Charakter allen menschlichen Wissens –wieesja auchdieVertreter , erscheint es vielmehr geradezu widersprüchdersubjektivistischen Auffassung tun– lich, einerseits zu verlangen, der Richter müsse seine Sachverhaltsannahmen als gewiss ansehen, obwohl erandererseits, sofern ersichüberdiemenschliche Erkenntnisfähigkeit keine Illusionen macht, die Nichterreichbarkeit einer solchen Gewissheit

tenFallibilismus

durchschaut.45 Zusätzlich zumBegriffsargument willErnst-Walter Hanack die Notwendigkeit der subjektiven Gewissheit auchmitderpersönlichen Verantwortung desRichters begründen. Ihmzufolge erfüllt dasGewissheitskriterium eine wichtige sachliche Sicherungsfunktion, diees fürdie Beweiswürdigung unverzichtbar mache. Es „ bringt zumAusdruck, daßderRichter fürdenSpruch eine Verantwortung trägt, dieihmalshöchstpersönliche Verantwortung auferlegt ist, unddiedarum verlangt, daßermitseiner ganzen 46 Person undPersönlichkeit hinter derEntscheidung steht.“ DemArgument derpersönlichen Verantwortung liegt dieAnnahme zugrunde, die Forderung nach einer –objektiv nicht begründbaren –subjektiven Gewissheit führe dazu, dass das Gericht seiner Verantwortung inbesonderem Maße Rechnung trage. Diese Unterstellung wird jedoch nirgends näher fundiert. Sie erscheint auch sehr zweifelhaft. Es ist nämlich nicht ersichtlich, aus welchem Grund das Streben nach einem erkenntnistheoretisch nicht zurechtfertigenden Gewissheitserlebnis geeignet seinsoll, dasGericht etwazubesonders sorgfältigen Sachverhaltsfeststellungen anzuhalten. Zueinem gewissenhaften Umgang desRichters mitseiner persönlichen Verantwortung fürdievonihmzutreffenden Tatsachenannahmen dürfte ganzimGegenteil eherdasWissen umdieFehlbarkeit seiner Annahmen beitragen, als einletztlich irrationales Evidenzerlebnis.47 Umeineweitere Rechtfertigung desGewissheitskriteriums hatsichkürzlich Helmut Frister mitdemhierso bezeichneten Intuitionsargument bemüht. Frister zufolge stellt die persönliche Gewissheit das Ergebnis eines intuitiven Erkenntnisprozesses dar. Unter einer intuitiven Erkenntnis versteht erdabei Wahrnehmungen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen, diedaserkennende Subjekt begrifflich nicht oderzumindest nicht vollständig explizieren könne. Genau eine solche nicht-begriffliche Erkenntnis sei im strafprozessualen Beweisverfahren vonzentraler Bedeutung. Sowohl die Wahrnehmungdes Beweismaterials inderHauptverhandlung als auchdiedaraus gezogenen Schlüsse entzögen sicheiner vollständigen begrifflichen Erfassung undberuhten deshalb zwingend aufIntuition.48 Ausdiesem Grund soll die persönliche Gewissheit des Richters für die Schuldfeststellung sowohl notwendig als auch hinreichend sein. Hiergegen kannnachFrister auchnicht eingewendet werden, dass einerkenntnistheoretisch aufgeklärter Richter doch umdie Fallibilität seiner Annahmen wisse. Die

45 46

47

Ähnlich auch die Kritik vonAndreas Hoyer, DerKonflikt zwischen richterlicher Beweiswürdigungs, Zeitschrift fürdiegesamte Strafrechtswissenschaft 1993, indubio proreo“ freiheit unddemPrinzip „ 523, S. 533; a.A. offenbar Stamp (Anm. 6), S. 168 f. Hanack (Anm. 37), S. 729. Gewissheit“und ZurKritik amArgument derpersönlichen Verantwortung vgl. auch Ulrich Stein, „ imStrafverfahren, in:J. Wolter (Hg.), ZurTheorie undSystematik desStrafpro„ Wahrscheinlichkeit“

zeßrechts, 1995, 233, S. 256 f.

48 Vgl.Helmut Frister, Diepersönliche

Gewissheit

als Verurteilungsvoraussetzung imStrafprozeß, in:

E. Samson (Hg.), Festschrift für Gerald Grünwald, 1999, 169, S. 176 ff.

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Armin Engländer

„ indieFehlbarkeit jeder Erkenntnis hindere denMenschen nämlich abstrakte Einsicht“ nicht daran, beiderBeurteilung eines konkreten Falles Gewissheit zuerlangen. Auch wenndies widersprüchlich sei, handele es sichdabei dochumein„ reales psychologisches Phänomen“ , andasbeiderBestimmung derstrafprozessualen Verurteilungsvoraussetzungen angeknüpft werden dürfe.49 Nunmages richtig sein, dass beiderBildung vonÜberzeugungen auch solche Faktoren eine Rolle spielen können, diedaserkennende Subjekt nicht explizit anzugebenfähig ist. Jemand gelangt beispielsweise zuderAuffassung, dass einSatz grammatikalisch falsch gebildet wurde, ohne inderLage zusein, denGrund hierfür zubenennen, weilerderentsprechenden grammatikalischen Regel zwarfolgen, siejedoch wieFrister nicht formulieren kann. Dass aberdiestrafprozessuale Beweiswürdigung – grundsätzlich dieFormintuitiver Erkenntnis annehmen soll, dieallenoffenbar meint – falls nachträglich inbeschränktem Umfang begrifflich reflektierbar ist,dürfte kaumhaltbarsein. Richter sind zumeist sehr wohlinderLage, anzugeben, aufgrund welcher Beobachtungen undErfahrungssätze siedasBestehen eines bestimmten Sachverhaltes erschließen. Selbst wennmanabereinmal dieBedeutung intuitiver Erkenntnis für die Überzeugungsbildung akzeptiert, folgt daraus zudem keine Begründung des Gewissheitskriteriums. Zwar mag es sich umein reales psychologisches Phänomen handeln, dass manche Menschen denEindruck haben, ihre intuitiven Einsichten seien gewiss. Dieses Faktum besagt aber selbstverständlich nichts überdie Berechtigung einer solchen Annahme. Gesteht manzu,dass aucheine nicht-begriffliche Erkenntnis fehlbar ist, gibt es keinen Grund, einer objektiv nicht zu rechtfertigenden Gewissheitsintuition rechtfertigende Wirkung zuzusprechen.50 Eine persönliche Gewissheit desRichters istdaher keingeeignetes Kriterium zurLegitimation desFür-wahr-Haltens

eines Sachverhaltes.

2. Objektive bzw.intersubjektive

Rechtfertigung

Taugt diepersönliche Gewissheit nicht als Rechtfertigungskriterium vonrichterlichen Überzeugungen, istdieBerechtigung eines Für-wahr-Haltens allein mittels objektiver bzw. intersubjektiver Kriterien zu bestimmen. Inderstrafprozessualen Kommentarliteratur liest manhierzu, dieBeweiswürdigung müsse denVoraussetzungen „ rationalerArgumentation“ entsprechen. Erforderlich seieine „ bzw.„ hohe“ anSicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ , dass dieSachverhaltsannahme mitderWirklichkeit überausreichendes MaßanSichereinstimme. Es genüge einnachderLebenserfahrung „ , demgegenüber „vernünftige“bzw.„konkrete Zweifel“ nicht mehraufkämen. „ heit“ Abstrakte“ , „philosophische“bzw.„reintheoretische Zweifel“hingegen hätten unberücksichtigt zubleiben. Eine „ werde nicht verlangt.51 mathematische Gewissheit“ Unmittelbar anwendungsgeeignet sind die meisten dieser Gesichtspunkte alleroder„Unvernünftigkeit“vonZweifeln beispielsweise Vernünftigkeit“ dings nicht. Die„ bemisst sich ihrerseits nach denRechtfertigungsbedingungen richterlicher Überzeugungen, undvermag diesen Maßstab daher selbst nicht zu bilden. Auchwas unter 49 A.a.O., S. 183 f. 50 ZurKritik anderFristerschen Argumentation vgl.auchGeorg Freund, DieTatfrage als Rechtsfrage, in: A. Eser (Hg.), Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, 2001, S. 409. 51 Vgl. Eisenberg (Anm. 4) Rn. 91; Lutz Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 47. Aufl. 2004, § 261 Rn. 2; GerdPfeiffer, Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2002, § 261 Rn.1 f; Schlüchter, in:Systematischer Kommentar (Anm. 4), § 261 Rn. 53; Schoreit, in: Karlsruher Kommentar (Anm. 4), § 261 Rn.4; Stuckenberg, in: KMR(Anm. 4), § 261 Rn. 25 ff.

DerBegriff der freien Überzeugung in § 261 StPO

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anSicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“verstanden wirdundauf bzw.„ hoher“ „ welche Weise sieerzielt werden kann, bleibt häufig offen. Es istdaher erforderlich, die Struktur vonSachverhaltsfeststellungen näher zuuntersuchen. ZweiWege sind zur Begründung einer Sachverhaltsannahme prinzipiell denkbar. Einerseits istes möglich, die in Frage stehende Annahme durch eine unmittelbare Eigenbeobachtung des Gerichts zubestätigen.52 Allerdings kommt diese FormderRechtfertigung nurinden seltensten Fällen inBetracht. Andererseits kanndieSachverhaltsannahme ausIndizien,53 die das Gericht durch Eigenbeobachtung feststellt, undErfahrungssätzen, d.h. generalisierten empirischen Behauptungen, erschlossen werden.54 Beieinem solchen Erschließen vonSachverhaltsannahmen sind nunzwei Aspekte klärungsbedürftig, zumeinen dieAnwendung derErfahrungssätze, zumanderen ihre Gültigkeit. Betrachten wirzunächst dieAnwendung derErfahrungssätze. DieBefürworter des Kriteriums derhohen Wahrscheinlichkeit propagieren hiereininduktives Vorgehen. So führt etwa Herdegen aus, dieSachverhaltsannahmen desGerichts seien inderRegel dasResultat vonsubstanziellen, d.h. induktiven Schlüssen, beidenen derGehalt der Konklusion jenen derPrämissen überschreite. Einreindeduktives Schlussfolgern, bei demdie Konklusion zwingend aus den Prämissen folgt, sei mangels zureichender Ausgangsdaten in den meisten Fällen nicht möglich.55 Das Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit verlange nun,dass derbeidiesem induktiven Folgern verwendete Erfahrungssatz derKonklusion einen hohen Bewiesenheitsgrad vermittle.56 Diehierzugrunde liegende Ideesollaneinem einfachen Beispiel erläutert werden: AusdemVorliegen eines Indizes „ I“ unddemprobabilistischen Erfahrungssatz „wenn –formalisi I, dannS miteiner Wahrscheinlichkeit von0,99“ ert: p (S, I) = 0,99 –wird

das Bestehen des Sachverhaltes „ S“gefolgert, demmandann einen Bevon0,99 zuordnet. Auchwenndieses Verfahren aufdenersten Blick intuitiv plausibel erscheint, beruht S“folgt nicht aus den es jedoch auf einem inkorrekten Schluss. Die Konklusion „ wennI,dannS“ . Prämissen. Korrekt wäre derSchluss nur,hieße derErfahrungssatz „ DieBerufung aufein induktives Schließen verschleiert nur, dass die Logik gehaltserweiternde Schlüsse nicht kennt. Auchderletzte prominente Versuch, eine induktive wieseinVerfasser Rudolf Carnap später selbst eingeräumt Logik zuentwickeln,57 ist– nicht Schlüsse“ nicht geglückt. Solange aberGültigkeitsbedingungen induktiver „ hat58 – angebbar sind, vermittelt die Rede vonSchlussregeln, diederDeduktion nahe kominduktiv

wiesenheitsgrad

52

53

Dabei ist allerdings –wieschon hervorgehoben –zubeachten, dass auch Beobachtungen bereits theoriegeladen sind. Vgl.dazuAlbert (Anm. 7), S. 51 ff. DerBegriff des Indizes wirdhierineinem weiten Sinne verstanden, so dass erauchdenZeugenbeweis umfasst. Vgl.dazuRolfBender/Armin Nack, Tatsachenfeststellung vorGericht, 2. Aufl. 1995,

Rn. 383.

54 DieMöglichkeit, inbestimmten Fällen ausIndizien mittels Sprachregeln oderRechtsregeln Schlussfolgerungen zu ziehen, soll hier außer Betracht bleiben. Vgl. dazu Hans-Joachim Koch/Helmut

55

56 57

Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 279 ff. Teilweise wirdsogar behauptet, aufvergangene oder künftige Vorgänge derRealität könne ausschließlich induktiv geschlossen werden. So etwa Stuckenberg, in: KMR(Anm. 4), § 261 Rn. 17. Diese Auffassung dürfte allerdings aufeinem Missverständnis derhypothetisch-deduktiven Methodeberuhen. Klärend zusolchen Fehlinterpretationen Maximilian Herberger/Dieter Simon, Wissenschaftstheorie fürJuristen, 1980, S. 364f. Grundlegend zurhypothetisch-deduktiven Methode Carl Gustav Hempel, Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, 1977. Vgl. Herdegen (Anm. 1), S. 3516; ders. (Anm. 10), S. 326 ff. Rudolf Carnap, Induktive Logik undWahrscheinlichkeit, 1959. Hierauf beruft sich z.B. auch Hoyer (Anm.

45), S. 546 ff.

58 Vgl. Rudolf Carnap,

Logical Foundations

ofPropability, 2. Aufl. 1967, S. 457 f.

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Armin Engländer

mende Folgerungen ermöglichten,59 allenfalls eine Scheinrationalität. Mittels einer inkorrekten Folgerung lässt sicheinbestimmter Bewiesenheitsgrad rational nicht begründen.Dieineinem probabilistischen Erfahrungssatz ausgedrückte Häufigkeitsverteilung bestimmter Ereignisse ermöglicht damit keinen Schluss aufdenBewiesenheitsgrad einer Sachverhaltsannahme.60 Somit verbleibt nurdie hypothetisch-deduktive Methode des Erschließens. Hier muss sich diezubestätigende Sachverhaltsannahme aus denIndizien unddenErfahrungssätzen deduktiv ableiten lassen. Dasbereitet keine besonderen Schwierigkeiten, solange hierfür deterministische Erfahrungssätze zur Verfügung stehen, d.h. solche, dieeinen ausnahmslosen Zusammenhang derForm„ (i s) wennI dannS“ behaupten. Probleme entstehen hingegen dann, wennaufprobabilistische Erfahrungssätze zurückgegriffen werden soll. Zumeinen kannhierimmer nuraufdieWahrscheinlichkeit desBestehens eines Sachverhaltes geschlossen werden. So kannmanetwa nurableiten, dass p (S, I) = 0,99“unddemVorliegen von„ I“ aus demErfahrungssatz „ miteiner Wahrscheinlichkeit von0,99 besteht.61 Welcher GradanWahrscheinlich„ S“ ausdenPrämissen nicht folgende – Annahme destatsächlichen keitausreicht, umdie– Bestehens eines Sachverhaltes zurechtfertigen, istnunkeine erkenntnistheoretische, sondern eine normative Frage, dieanhand des geltenden Rechts zubeantworten ist. Dabei gehtes entscheidend auchumeine Klärung, welches Risiko einer Fehlentscheidung zuLasten eines Angeklagten noch vertretbar erscheint. DieAusarbeitung der hierfür maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte ist bislang allerdings allenfalls für Teilbereiche geleistet.62 Zumanderen steht dieVerwendung probabilistischer Erfahrungssätze vorHindersog. nissen, wennmehrere statistische Systematisierungen miteinander konkurrieren – Mehrdeutigkeitsproblem63 –oder wenn die Ergebnisse von Wahrscheinlichkeitsschlüssen inweitere statistische Systematisierungen eingesetzt werden sollen –sog. Kettenschlussproblem.64 Diese Schwierigkeiten führen dazu, dass dieAnwendungsmöglichkeiten fürprobabilistische Erfahrungssätze erheblich geringer sind, alsgemein angenommen wird.65 FürdieRechtfertigung einer Überzeugung stellt dieKorrektheit derSchlussfolgerung eine notwendige Bedingung dar,daanderenfalls dieinFrage stehende Sachverhaltsannahme schlicht ohne jede rationale Begründung bleibt. Ausdiesem Grund ist das Gericht beiderBeweiswürdigung andieGesetze derLogik gebunden.66 Allerdings ist

59 So Herdegen (Anm. 10), S. 328. Welcher Artdiese

60 61

62 63

64

65

Regeln seinsollen undwiemansicheine solche

deduktionsähnliche Folgerung vorzustellen hat, darüber schweigt sich Herdegen dennauchaus. Ausführlich dazuJoachim Schulz, Sachverhaltsfeststellung undBeweistheorie, 1992, S. 301ff. Dies darf nicht verwechselt werden mitdemoben diskutierten induktiven „ aufeinen Schließen“ Bewiesenheitsgrad. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Unterstellt, es gilt der Erfahrungssatz, dass die Infektion miteinem bestimmten Virus in99 von100 Fällen zumTodführt, undbeiAist eine solche Virusinfektion festgestellt. Dannisthiermit bewiesen, dass Amiteiner Wahrscheinlichkeit von 99 % sterben wird. Es istaber nicht zu99 % bewiesen, dass Asterben wird. Überlegungen dazu etwa bei Georg Freund, Normative Probleme der „ , Tatsachenfeststellung“ 1987; Hoyer (Anm. 45); Stein (Anm. 47). Vgl. dazu Koch/Rüßmann (Anm. 54), S. 303 ff. Dieses Kettenschlussproblem wirdhäufig schlicht übersehen; so etwa vonBender/Nack (Anm. 53), Rn.432, dieeinfach dieMultiplikationsregel anwenden wollen. Zudendamit verbundenen Schwierigkeiten vgl. Koch/Rüßmann (Anm. 54), S. 300 ff. Teilweise lassen sich die Probleme des Schließens mitprobabilistischen Erfahrungssätzen allerdings umgehen miteinem Alternativenausschlussverfahren. Vgl.dazuFreund (Anm. 62), S. 22 ff. So die allg.M.;66vgl. nurBGHSt 29, 18, S. 20; Beulke (Anm. 37), Rn. 491; Eisenberg (Anm. 4) Rn. 102; Armin Engländer, Strafprozessrecht, 2004, Rn.24; Meyer-Goßner (Anm. 51), § 261 Rn.2.

DerBegriff derfreien Überzeugung in§ 261StPO

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eine korrekte Ableitung nicht zugleich auchschon hinreichend. Verbürgt wirdhierdurch nämlich nurderWahrheitstransfer vondenPrämissen aufdie Konklusion, wenndie Prämissen wahrsind, nicht hingegen auch, dass sie wahrsind. DieBestätigung einer

Sachverhaltsannahme durch Erschließen setzt daher voraus, dass zumeinen die Eigenbeobachtungen desGerichts tatsächlich zutreffen, undzumanderen dieverwendeten Erfahrungssätze gültig sind. Wie lässt sich nundie Gültigkeit derErfahrungssätze bestimmen? Nicht gefordert wie werden kann, dass ihre Gültigkeit gewiss sein muss, daeine solche Gewissheit – grundsätzlich nicht erzielbar ist.Ausdiesem Grund dürfen Zweifel, die obendargelegt – sichallein ausderallgemeinen Fehlbarkeit dermenschlichen Erkenntnis speisen, eine Verurteilung nicht hindern. Erfahrungssätze sindnicht verifizierbar.67 Abersie können geprüft undfalsifiziert werden.68 Das gilt auch fürprobabilistische Erfahrungssätze, selbst wennsich das Prüfungsverfahren hier komplizierter darstellt.69 Zunächst wird mandeshalb verlangen dürfen, dass derverwendete Erfahrungssatz bislang nicht widerlegt worden ist. Dasallein genügt abernicht. Erforderlich erscheint ferner, dass er zudem tatsächlich kritisch geprüft wurde. Diese Prüfung braucht selbstverständlich nicht vomGericht selbst vorgenommen worden zusein; es darf sich hieraufdiejeweiligen Fachwissenschaften verlassen. Hateine solche wissenschaftliche Überprüfungeines Erfahrungssatzes stattgefunden undbesteht eine konsentierte Auffassung überseine –bisherige –Bewährung, istdasGericht daran prinzipiell auchgebunden.70 Dennwendet derRichter einen solchen wissenschaftlich begründeten Erfahrungssatz nicht an, unterstellt er damit implizit eine Falsifikation, ohne dass diese tatsächlich erfolgt wäre. Bei nicht wissenschaftlich überprüften Erfahrungssätzen müssen sich diese bislang zumindest lebenspraktisch bewährt haben. Ferner dürfen sie nicht im Widerspruch stehen zuwissenschaftlich gefestigten Erfahrungssätzen. Schließlich ist zuverlangen, dass derRichter sich mitdengegen ihre Gültigkeit sprechenden Gesichtspunkten sorgfältig auseinandersetzt. Besondere Probleme bestehen dann, wennmehrere geprüfte, bislang nochnicht falsifizierte Erfahrungssätze miteinander konkurrieren, bei denen nurder eine den Schluss auf die zu rechtfertigende Sachverhaltsannahme ermöglicht, der andere hingegen nicht. Teilweise wirdfüreinen solchen Fallpropagiert, derRichter dürfe sich entscheiden, welcher Auffassung erfolgen wolle.71 Nachanderer Ansicht mussernach demin-dubio-Grundsatz diefürdenAngeklagten günstigere Variante unterstellen.72 Eine Lösung kann hier darin bestehen, nach der Erklärungskraft undTiefe der Erfahrungssätze zudifferenzieren.73 Überwiegt indieser Hinsicht dereine Erfahrungssatz denanderen, ist ihmderVorzug zugeben. Anderenfalls ist derin-dubio-Grundsatz anzuwenden.

67 Jeder Versuch einer solchen Verifikation scheitert daran, dass vonder Beobachtung singulärer Ereignisse in logisch gültiger Weise nicht auf generelle Gesetzmäßigkeiten geschlossen werden

68 69 70

71 72 73

kann. Zurklassischen Formulierung dieses Induktionsproblems vgl. David Hume, EinTraktat über die menschliche Natur, 1739/40, 1. Buch, III.6, 12. Dabei istallerdings zubeachten, dass auchFalsifikationen niemals endgültig sind. Vgl.dazuAlbert (Anm. 7), S. 111ff.; Volker Gadenne, Rationale Heuristik undFalsifikation, in: ders./H.J. Wendel, Rationalität undKritik, 1996, 57, S. 73 ff. Vgl. Koch/Rüßmann (Anm. 54), S. 332 ff. So auch die h.M.; vgl. BGHSt 29, 18, S. 20 f.; Beulke (Anm. 37), Rn. 491; Eisenberg (Anm. 4), Rn. 103 ff.; Meyer-Goßner (o. Fußn. 51), § 261 Rn. 2; Roxin (Anm. 4), § 15 Rn. 22. Indiese Richtung etwa BGHSt 41, 210, S. 215 f. So Roxin (Anm. 4), Rn. 23. Vgl. dazu Albert (Anm. 7), S. 103 ff.

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IV. Fazit

Fassen wirzusammen: Überzeugung imSinne des § 261 StPO meint das Für-wahrHalten eines Sachverhaltes ineiner korrespondenztheoretisch-realistischen Weise. Eine persönliche Gewissheit des Richters ist ohne Bedeutung. Die Kriterien, nach denen sich die Berechtigung eines Für-wahr-Haltens richtet, können miterkenntnistheoretischen Überlegungen allein nicht begründet werden. Mitihrer Hilfe istes aber möglich, Rationalitätsstandards zuformulieren, die Beachtung verlangen, wenndas Für-wahr-Halten nicht irrational seinsoll. DenRahmen hierbei bildet diehypothetischdeduktive Methode.

Andreas Hoyer*

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe I. Einleitung Thema meines Beitrags solldiesystematische Stellung derRechtfertigungsgründe im Verhältnis zurTatbestandsmäßigkeit sein, alsoeineklassische strafrechtsdogmatische Fragestellung, zuderes bekanntlich zweieinander grundsätzlich gegenüberstehende Positionen gibt: erstens die(herrschende) Lehre vomLeitbildtatbestand undzweitens dieLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen.

1. DerMeinungsstreit NachderLehre vomLeitbildtatbestand1 ergibt sich dieTatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens daraus, dass es entweder gegen einVerbot odergegen einGebot bezogen aufderartiges Verhalten verstößt. Gleichzeitig könne dasselbe tatbestandsmäßige Verhalten aberauchdieVoraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erfüllen, der das betreffende Verhalten erlaubt. Ein unddasselbe Verhalten soll also aufgrund unterschiedlicher Normen desselben Rechtssystems einerseits verboten bzw.geboten undandererseits erlaubt seinkönnen. WirdeinVerhalten durch dieeine Normverboten unddurch dieandere erlaubt, so lässt sich dasVerhältnis dieser beiden Normen als kontradiktorisch bezeichnen.2 Dasselbe giltfürdas Verhältnis zwischen einem Gebot undderErlaubnis, dasbetreffende Verhalten auchzuunterlassen. Sogar einander widersprechende Regelungsrichtungen zwischen einem Gebot undeinem Verbot seien hinsichtlich desselben Verhaltens vorstellbar, etwawenneinGarant seiner Rettungspflicht nurdadurch nachkommen kann, dass er einen Dritten intatbestandsmäßiger Weise schädigt. Gebot undVerbot verhalten sich in einem solchen Fall nicht nur kontradiktorisch zueinander (insofern als injedem Gebot als Minus auchdieErlaubnis zurVornahme desgebotenen Verhaltens enthalten istundinjedem Verbot als Minus dieErlaubnis zurNichtvornahme desverbotenen Verhaltens)3, sondern aufgrund ihrer einander entgegengesetzten Regelungsrichtungen sogar konträr.4 Jedenfalls verlangen die kontradiktorischen bzw. konträren Normen nach einer Auflösung ihrer Kollisionslage durch eine ihnen beiden übergeordnete Kollisionsnorm.5 Diese Kollisionsnorm legtfest, welche derbeiden miteinander konfligierenden VerhaltensundStrafprozeßrecht, Direktor des Instituts fürWirtschafts- undSteuerrecht Lehrstuhl fürStrafrecht * einschließlich Wirtschaftsstrafrecht anderChristian-Albrechts-Universität zuKiel 1 Armin Kaufmann, Lebendiges undTotes inBindings Normentheorie, 1954, S. 254f.; ders., JZ 1955, S. 37; Hirsch, DieLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S. 331; ders., Leipziger

2

3

4 5

Kommentar, 11. Aufl. (1994), Vor§ 32 Rn 6; Gallas, ZStW 67 (1955), S. 19; Dreher, Festschrift für Heinitz (1972), S. 217; Herzberg, JA1986, S. 192; Rudolphi, Gedächtnisschrift fürArmin Kaufmann (1989), S. 377; Wolter, Objektive undpersonale Zurechnung (1981), S. 144. Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 184; Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl.

(1998), S. 35. Bentham, OfLawsinGeneral (1970),

Anm. 2.

S. 97.

Hruschka, Festschrift für Dreher (1977),

S. 194; Neumann,

Festschrift

für Roxin (2001), S. 429.

100

Andreas Hoyer

normen imkonkreten Einzelfall vorrangig ist undwelche verdrängt wird, d. h.welche Verhaltensnorm inwieweit undunter welchen Voraussetzungen giltbzw.nicht gilt. Das hierarchische Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen derKollisionsnorm einerseits undGebotsnorm, Verbotsnorm undErlaubnisnorm andererseits begründet so eine zweistufige Normenpyramide, wobei die obere Normebene6 erst beschritten werden muss, wennaufderunteren verschiedene Eigenschaften desselben Verhaltens zum Anknüpfungspunkt miteinander unvereinbarer Regelungen inBezug aufdieses Verhaltengemacht worden sind.7 DieLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen8 verzichtet dagegen aufeine derartige Zweistufigkeit des Normensystems, indem sie keine Kollisionsnorm zubenötigen behauptet –undes bedürfe keiner Kollisionsnorm, weiles ohnehin nicht zu Kollisionen zwischen verschiedenen Verhaltensnormen kommen könne. Verbots- und Gebotsnormen müssten jeweils sorestriktiv ausgelegt werden, dasskonträre Verhaltensdirektiven durch sie inBezug aufdasselbe Verhalten ausgeschlossen seien. DerTatbestand einer Verbotsnorm undderTatbestand einer Gebotsnorm könnten also gar nicht gleichzeitig erfüllt sein. Diesogenannten Rechtfertigungsgründe bildeten demgegenüber garkeine eigenständigen Erlaubnisnormen, sondern stellten sichlediglich als unselbstständige, indenTatbestand derVerbots- undGebotsnormen hineinzulesende negative Verbots- bzw.Gebotsvoraussetzungen dar.9 Dervollständige Tatbestand des Dusollst nicht , sondern „ Tötungsverbots lautet demnach nicht „ Dusollst nicht töten“ töten, ohne dass dies zurAbwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs erforderlich undgeboten ist“ .

2. Dierechtliche

Bedeutung

des Meinungsstreits

FürdieLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen versteht es sichvonselbst, dass dieRechtsfolgen eines einfachen oderumgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtums denen eines einfachen oderumgekehrten Tatbestandsirrtums entsprechen müssen – weilderErlaubnistatbestandsirrtum nämlich nureinbesonderer Tatbestandsirrtum ist, nämlich einIrrtum übernegative Tatbestandsmerkmale.10 Aberauch abgesehen von Irrtumsfragen gelangt dieLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen zuanderen Ergebnissen odermindestens Begründungen als dieherrschende Lehre vomLeitbildtatbestand. So verflüchtigt sich etwa der Unterschied zwischen tatbestandsausschließendem Einverständnis undrechtfertigender Einwilligung.11 Dasselbe giltfürdie Unterscheidung zwischen tatbestandsausschließender behördlicher Erlaubnis

6 7 8

imFalle

. Hruschka (Anm. 5) spricht vonderEbene der„ Metaregeln“ maSimmel, Einleitung indie Moralwissenschaft, Bd.2 (1893), S. 385 bezeichnet diesen Fallals „ , während eine „logische Kollision“bereits ausdenabstrakten Normen hervorgeht. terielle Kollision“ Engisch, DJT-Festschrift, Bd. I (1960), S. 406; ders., Vorsatz undFahrlässigkeit (1964), S. 10; ders., ZStW 70 (1958), S. 583; Radbruch, Frank-Festgabe, Bd. I (1930), S. 164; Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein (1949), S. 178; ders., JZ 1954, S. 653; ders., JZ 1956, S. 353, 393; ders., FestfürLackner (1987), S. 187; Schünemann, GA1985, S. 347; ders., Festschrift fürR. Schmitt

schrift

9 10

11

(1992), S. 126.

Hruschka (Anm. 5), S. 190. Arthur Kaufmann, JZ 1954,

S. 653; ders., ZStW 76 (1964), S. 562; ders., Festschrift für Lackner (1987), S. 187; Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. (1970), S. 111;

Schünemann (Anm. 8), S. 349. Schlehofer, Einwilligung undEinverständnis (1985), S. 2 f.; ders., Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 1 (2003), Vor§ 32 Rn 106; Schmid, Das Verhältnis vonTatbestand undRechtswidrigkeit ausrechtstheoretischer Sicht (2002), S. 104.

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

101

eines präventiven Verbots undrechtfertigender behördlicher Befreiung voneinem repressiven Verbot12, etwa imUmweltstrafrecht. Entgegen demBVerfG imzweiten Fristenlösungsurteil von199313 kommt es dann auch nicht mehrdarauf an, ob der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch nach Beratung innerhalb der ersten alsstrafrechtlich tatbestands12Wochen seit Empfängnis alsgerechtfertigt oder„nur“ los bezeichnet hat. Undschließlich wäre auch die Anwendung derRadbruchschen Formel auf§ 27 DDR-GrenzG imso genannten Mauerschützenfall durch denBGH14 problematisch, wenn dadurch nicht eine selbstständige Erlaubnisnorm als ungültig verworfen worden wäre, sondern einunselbstständiges negatives Tatbestandsmerkmal unter Aufrechterhaltung desResttatbestands ausderDDR-Tötungsnorm quasi herausgestrichen worden wäre. Esistalsonicht nurrechtstheoretisch, sondern durchaus auch -praktisch vonBelang, obdereinstufig alle Normkonflikte ausräumenden Lehre vonden negativen Tatbestandsmerkmalen zufolgen istoderdiezweistufig operierende, Normkonflikte aufderersten Ebene inKauf nehmende Lehre vomLeitbildtatbestand den Vorzug verdient.

II.Kriterien füreine Unterscheidung zwischen Tatbestands- undRechtfertigungs-

ebene

1. Unterscheidung nachformalen Kriterien ImSinne derLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen lässt sich zunächst feststellen, dass derUnterschied zwischen Tatbestands- undRechtfertigungsvoraussetzungen dogmatisch zuvernachlässigen wäre, wennersichaufdiereinsprachliche Differenz zwischen positiv undnegativ formulierten Tatbestandsmerkmalen beschränkte.15 Dennaufmehroderweniger umständliche Weise lässt sich letztlich jedes Tatbestandsmerkmal nach Belieben sowohl positiv als auch negativ ausdrücken, ohne dassdamit einBedeutungswandel einhergeht. Solässt sichetwadaspositiv formulierte Tatbestandsmerkmal „ imRahmen derEigentumsdelikte ebenso gutnegativ fremd“ es sei denn, die Sache ist herrenlos oder steht imAlleineigentum des fassen als „ Täters“ . Dennoch wirdniemand behaupten wollen, dass sichdasfrühere Tatbestandsfremd“ durch eine solche Umformulierung bereits ineinen Rechtfertigungsmerkmal „ grund verwandelte, während dastatbestandliche Verbot nunmehr nurnochlaute: „ Du sollst keine Sachen beschädigen oderzerstören.“

2. Unterscheidung nachsozialer Auffälligkeit desVerhaltens entkleideter Regelungsinhalt könnte auchnicht Einderartiger umdasMerkmal „fremd“ als Leitbildtatbestand imSinne derherrschenden Lehre dienen, denner bezeichnet eben nicht leitbildartig einsozial auffälliges Geschehen, das typischerweise Unrecht Strafgesetzbuch, 26. Aufl. (2001), Vor§ 32 Rn61; Marx, Die im Strafrecht (1993), S. 129; Hirsch, LK (Anm. 1), Vor § 32 Rn 160; S. 878.

12 Vgl.dazuSchönke/Schröder/Lackner, 13

14

15

behördliche Genehmigung Rengier, ZStW 101 (1989), BVerfGE 88, 203.

BGHSt 39, 16;vgl.dazuJakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? (1992), S. 46;Alexy, Mauerschützen (1993), S. 31. So auch Hruschka (Anm. 5), S. 190; Hoyer, Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann (1997),

S. 129.

102

Andreas Hoyer

bedeutet underst beiVorliegen besonderer Umstände rechtlich akzeptabel erscheint. DasTöten eines Menschen etwaseistets sozial auffällig, fordere daher dieFrage nach dasVerhalten seialsotatbestandsmäßig, selbst seiner Legitimation geradezu heraus – wennalsRechtfertigungsgrund imkonkreten Einzelfall etwadieNotwehr eingreife. Die Tötung einer Mücke wirddagegen sozial als so selbstverständlich angesehen, dass sichschon dieFrage nachdenGründen dafür erübrige, d.h.nicht einmal dieVerwirklichung eines Leitbildtatbestands denVerdacht nahe legt, es könnte amEnde Unrecht geschehen sein.16 Aberdas Kriterium dersozialen Auffälligkeit fördert nicht stets eindeutige undplausible Differenzierungen zwischen Tatbestandsmerkmalen undRechtfertigungsvoraussetzungen zutage: Wirdbeispielsweise eine bewegliche Sache dembisherigen Gewahrsamsinhaber weggenommen, so drängt einderartiges Geschehen durchaus die Frage auf,welche Legitimation derTäter denndafür inAnspruch nehmen wolle. Macht derTäter dann geltend, er selbst sei Eigentümer derweggenommenen Sache, so brächte erdamit alsodenRechtfertigungsgrund vor,dass dieSache fürihnnicht fremd sei; das Merkmal „fremd“gehörte bei § 242 somit nicht zumLeitbildtatbestand. Umgekehrt magetwadasHaareschneiden durch einen Friseur sozial betrachtet völlig unspektakulär erscheinen –es bleibt aber nach herrschender Lehre doch eine tatbestandsmäßige Körperverletzung, dieerstimFalle einer rechtfertigenden Einwilligung als erlaubt zu qualifizieren wäre. Zwischen sozialer Auffälligkeit und juristischer Erheblichkeit besteht also nicht notwendigerweise Parallelität. Soziale Phänomene erlangen ihre rechtliche Bedeutsamkeit vielmehr erst dadurch, dass irgendeine Rechtsnormaufsie abstellt undnach ihnen differenziert.17

III.Gründe füreine Unterscheidung zwischen Tatbestands- undRechtfertigungs-

ebene

1. Verteilung derArgumentationslast Einer derartigen Differenzierung bedarf es aber zumindest imErgebnis nicht, wenn ohnehin rechtfertigende Umstände eingreifen. Also müsste erst einmal dargetan werden,weshalb einVerhalten dennoch zunächst als immerhin sozial auffällig unddaher tatbestandsmäßig vorgewertet werden sollte, nurumdamit einen Normkonflikt zuprovozieren, dernachseiner Auflösung durch eine Kollisionsnorm aufeiner zweiten Wertungsebene verlangt, wennsichletztlich dochnurdierechtliche Unbedenklichkeit des betreffenden Verhaltens ergibt. Die Argumentationslast dafür, dass eine derartige Normüberlappung unddie damit verbundene Kollisionsauflösung aufzweiter Stufe überhaupt systematisch erforderlich sind, liegt jedenfalls beidemjenigen, derdasSystem aufdiese Weise verkomplizieren will.18 Umdieser Argumentationslast nachzukommen, genügt es nicht, die Möglichkeit einer anbestimmten Kriterien orientierten Differenzierung zwischen Tatbestandsmerkmalen undRechtfertigungsgründen darzutun(etwa nachdersozialen Auffälligkeit eines Verhaltens), sondern diese Differenzie16 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. (1969), S. 81; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1993), S. 158. 17 So auch Schmid (Anm. 11), S. 86. 18 ZumPrinzip maximaler Einfachheit bei der Gesetzes- undTheorienbildung vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1960), Satz 6. 363; Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (1979), S. 147; Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1976), I, 2. Teil, 2. Abteilung, 2. Buch, 3. Hauptstück, Anhang, S. 609.

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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rungmuss darüber hinaus als vorzugswürdig erwiesen werden, weilsich nuranhand ihrer bestimmte fürrichtig gehaltene Entscheidungen treffen undbegründen lassen.19 Umdieser Argumentationslast nachzukommen, mussgezeigt werden, dass durch das Eröffnen einer zweiten Wertungsebene, aufderdie Kollisionsnorm angesiedelt wird, Gesichtspunkte indieEntscheidungsfindung einfließen können, diesonst unberücksichtigt bleiben müssten, obwohl sieBeachtung finden sollten. DerVersuch, diesen Beweis zuführen, sollimFolgenden unternommen werden. Dazumuss zunächst der Entscheidungsfindungsprozess noch näher beleuchtet werden, wieer sich nach der Lehre vomLeitbildtatbestand beiKollisionen zwischen zweiNormen gestalten soll.

2. Differenzierung a) Strikter

Vorrang

zwischen zweiFallgruppen

beiderArgumentation:

dereinen gegenüber deranderen Norm

Derartige Kollisionen können grundsätzlich aufzweierlei Weise aufgelöst werden: Entweder eine derbeiden Normen erhält generell imRahmen ihres Anwendungsbereichs denVorrang vorderanderen, oderje nachdenkonkreten Umständen isteinmal die eine, einanderes Maldieandere Normvorzugswürdig. Eine Kollisionslösung aufdie lex superior derogat legi erstgenannte Weise vollziehen etwa die Kollisionsregeln „ und„ lexspezialis derogat legigenerali“ lexposterior derogat legipriori“ ,„ inferiori“ . Die

zurücktretende Normistdannpartiell ungültig, ungültig nämlich insoweit, wiederAnwendungsbereich dervorrangigen Normreicht, so wieetwa gemäß Art.31 GGLandesrecht durch kollidierendes Bundesrecht gebrochen wird. DieKollisionsregel bewirkt hieralsodiegenerelle Ungültigkeit dernachrangigen Norm, soweit auchdievorrangige Normeinschlägig ist. Aufdiese Weise wirdderNormkonflikt einseitig aufKosten der nachrangigen Normbeseitigt.20 Letztlich verbleibt die nachrangige Normalso nurmitdemRegelungsgehalt im Rechtssystem, dermitdervorrangigen Normvereinbar ist. DerNormsatz, mitdemdie nachrangige Normausgedrückt wird,21 deutet dann zwar auf eine Norm mitweitergefasstem Tatbestand hin.Dieser weitergefasste Tatbestand reduziert sichaberinden Fällen, indenen dienachrangige Normungültig bleibt, weil(zugleich) derTatbestand dervorrangigen Normerfüllt ist. Mitanderen Worten ausgedrückt: DerTatbestand der vorrangigen Normfungiert als negatives Tatbestandsmerkmal innerhalb dernachrangigen Norm,22 während deren darüber hinausgehender Regelungsgehalt von der Kollisionsnorm außer Kraft gesetzt wird. Letztlich geschieht hier nichts anderes, als wennbeispielsweise derTatbestand einer Normverfassungskonform reduziert wird. Die Verfassung tritt dann nicht als Rechtfertigungsgrund fürdennoch tatbestandsmäßiges Verhalten auf, sondern beschränkt bereits dieReichweite desTatbestands, weildieNorm–soweit sie gegen dieVerfassung verstößt –nichtig ist.23

19 Hoyer (Anm. 15), S. 129. 20 Vgl. Alexy (Anm. 2), S. 78; Ross, Directives and Norms (1968), 169; v. Wright, Norm and Action (1963), S. 141. 21 ZurUnterscheidung zwischen Norm undNormsatz vgl. Alexy (Anm. 2), S. 42; Ross (Anm. 19), S. 34; Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik (1979), S. 108; Rottleuthner, Rechtstheorie und Rechtssoziologie (1981),

S. 42.

5), S. 191; Alexy (Anm. 14), S. 31. 23 So auch KGNStZ 1992, S. 385; Beisel, DieKunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes undihre strafrechtlichen Schranken (1997), S. 163.

22

Hruschka (Anm.

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b)Abwägung

Andreas Hoyer

zwischen zweiNormen nachdemVerhältnismäßigkeitsgrundsatz

Dervorhin zweitgenannte TypvonKollisionslösung differenziert nach denkonkreten Umständen, welche Normimjeweiligen Einzelfall vorrangig ist. Dakeiner derbeiden kollidierenden Normen, sofern ihrTatbestand erfüllt ist,schlechthin derVorrang vorder anderen gebührt, stehen einander hierzweiPrinzipien imrechtstheoretischen Sinne gegenüber,24 dienachVerhältnismäßigkeitsgesichtspunkten gegeneinander abgewogenwerden müssen.25 InErfüllung seiner verfassungsrechtlich ableitbaren Schutzaufgabe fürunterschiedliche Rechtsgüter muss derStaat einerseits staatliche Verbotsnormen inBezug aufVerletzungen deseinen Rechtsguts erlassen, andererseits aber auch staatliche Gebotsnormen, die zur Rettung eines anderen Rechtsguts auffordern.26 So wiees zwischen denverschiedenen Grundrechten unddenaus ihnen ableitbaren staatlichen Schutzaufträgen zuPrinzipienkollisionen kommen kann,27 sokann es auchzuPrinzipienkollisionen zwischen denzurErfüllung dieser Schutzaufträge an den Bürger ergangenen Verboten undGeboten kommen. Sogar miteiner bloßen Handlungserlaubnis erfüllt derGesetzgeber jedenfalls seine Schutzfunktion imSinne der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art.2 Abs. 1 GG, da Verbote auf untergesetzlicher Ebene dannnicht mehrzulässig sind28 undimÜbrigen auchVerboten auf gesetzlicher Ebene immerhin einnormativer Widerpart beiderAbwägung gegenübersteht. Durch Erlass miteinander kollidierender Verbots-, Gebots- undErlaubnisnormen reicht derGesetzgeber alsogewissermaßen diePrinzipienkollisionen, vordieerselbst beiderKonkretisierung seiner verfassungsrechtlichen Schutzaufgaben gestellt war,an denBürger weiter, derjetzt einander widersprechende Verhaltensdirektiven empfängt undbefolgen soll. Undebenso wiediePrinzipien aufVerfassungsebene gegeneinandernachdemVerhältnismäßigkeitsgrundsatz abgewogen werden müssen,29 so müssensiees auchaufderEbene, aufdiederGesetzgeber dieKollision weitergereicht hat, d.h.aufderEbene derandenBürger gerichteten Verhaltensnormen. Dennbereits aus demGebot derverfassungskonformen Auslegung30 folgt, dass den an den Bürger gerichteten Verhaltensnormen relativ zueinander das Gewicht zukommen muss, das ihnen derGesetzgeber inAbwägung seiner verfassungsrechtlichen Schutzaufträge gemäß demVerhältnismäßigkeitsgrundsatz beimessen musste. IV.DieTeilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Rechtfertigungsgründe stellen im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise also selbstständige Erlaubnisnormen dar,deren Kollision mitdentatbestandlichen Verbots-

24 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, 2. Aufl. (1978), S. 22; Alexy, ZumBegriff des Rechtsprinzips, Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 79; ders. (Anm. 2), S. 75. 25 Dworkin (Anm. 24), S. 26; Alexy (Anm. 2), S. 100. 26 BVerfGE 39, 41; 46, 164; 49, 140; 53, 57; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983); Alexy (Anm. 2), S. 413. 27 Alexy (Anm. 2), S. 80. 28 Vgl. Weinberger (Anm. 21), S. 115; Alexy (Anm. 2), S. 207. 29 BVerfGE 19, 348; 65, 44; Alexy (Anm. 2), S. 100. 30 Vgl. BVerfGE 8, 221; 9, 200; Bogs, Dieverfassungskonforme Auslegung vonGesetzen (1966), S. 25; Bydlinski, Juristische Methodenlehre undRechtsbegriff, 2. Aufl. (1991), S. 456; Burmeister, DieVerfassungsorientierung derGesetzesauslegung (1966), S. 26; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 8. Aufl. (2002), S. 104.

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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bzw. Gebotsnormen nach demVerhältnismäßigkeitsgrundsatz aufzulösen ist.31 Als Grundfigur eines solchen Rechtfertigungsgrunds, über dessen Vorrang gegenüber Verbots- bzw. Gebotsnormen derVerhältnismäßigkeitsgrundsatz entscheidet, kann derrechtfertigende Notstand angesehen werden.32 Derrechtfertigende Notstand wird

in§ 34 geregelt, aber derin§ 34 aufgeführte Normsatz bringt nicht nurdenRechtfertigungsgrund, sondern zugleich auchdiefürihngültige Kollisionsregel, nämlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zumAusdruck.33 Derin§ 34geregelte Rechtfertigungsgrund lautet nur: Eine Handlung, durch diesich die Rettungsaussichten eines ingegenwärtiger Gefahr befindlichen Rechtsgutsobjekts erhöhen, isterlaubt. Dieser Erlaubnisnormsatz steht dannetwa demtatbestandlichen Verbotsnormsatz gegenüber: „ Eine Handlung, durch diesichdasVerletzungsrisiko füreinRechtsgutsobjekt nicht unerhebDass sich das Verletzungsrisiko durch die Handlung nicht lich erhöht, ist verboten.“ unerheblich erhöht hat, ist notwendig, umdemGewicht derdurch die strafbewehrte Verbotsnorm eingeschränkten allgemeinen Handlungsfreiheit eines potenziellen Täters Rechnung zutragen: DasVerletzungsrisiko muss sich also so weit gesteigert haben, dass dieSteigerung einVerbot derdafür ursächlichen Handlung subspecie Art.2 Abs. 1 GGzulegitimieren vermag.34

1. Eignung derHandlung zurRettung eines

gefährdeten Rechtsgutsobjekts

Damit das Verhalten dennoch erlaubt sein kann, muss fürdie verbotene Handlung daher mehrsprechen alsnur,dassderTäter mitihrseine allgemeine Handlungsfreiheit betätigte; siemussdarüber hinaus verbesserte Rettungsaussichten füreinanderes als dasdurch dieVerbotsnorm geschützte Rechtsgutsobjekt mitsichbringen. DieEignung der verbotenen Handlung, einem bestimmten staatlichen Schutzzweck zu dienen, bildet also einen Bestandteil bereits derErlaubnisnorm undnicht erst derKollisionsregel. Dieweiteren Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nämlich die Erforderlichkeit unddieVerhältnismäßigkeit imengeren Sinne, könnten dagegen erst aufderEbene derKollisionsnorm zuberücksichtigen sein, indem siedarüber entscheiden, obdieVerbots- oderdie Erlaubnisnorm vorgeht.

2. Erforderlichkeit derHandlung

gegenüber Verhaltensalternativen

DieErlaubnisnorm wäredemzufolge nurdanngegenüber derVerbotsnorm vorrangig, wenndiedurch beide Normen gekennzeichnete Handlung erstens dasmildeste Mittel

darstellt, umdenmitihrverbundenen Schutzeffekt herbeizuführen, undzweitens dieser Schutzeffekt gegenüber demebenfalls mitihrverbundenen Beeinträchtigungseffekt wesentlich überwiegt. DieTathandlung bildet dasmildeste Mittel, wennes zuihrkeine Handlungsalternative gibt, dieeinerseits weniger rechtsgutsbeeinträchtigend wirkt und

31

Hruschka (Anm.

5), S. 195.

32 So auchPaeffgen, Nomos Kommentar zumStGB, Bd.2 (2001), Vor§ 32 Rn45; Rudolphi (Anm. 1), S. 393; Noll, Tatbestand undRechtswidrigkeit: DieWertabwägung als Prinzip derRechtfertigung, ZStW77 (1965), S. 1; Lenckner, Derrechtfertigende Notstand, S. 123. 33 Armin Kaufmann (Anm. 1),S. 253, unterscheidet dementsprechend zwischen NormundErlaubnissatz, wobei überderen Verhältnis das beiden übergeordnete Erforderlichkeitskriterium als Kollisi25. onsregel entscheiden soll; vgl.dazuHoyer (Anm. 15), S. 23– 34 Hoyer, Die Eignungsdelikte (1987), S. 36.

106

Andreas Hoyer

andererseits dennoch mindestens denselben Schutzeffekt auslöst.35 Umgekehrt ausgedrückt: DieTathandlung isterforderlich, wennsiegegenüber jeder möglichen Handlungsalternative entweder allenfalls gleich schwer rechtsgutsbeeinträchtigend wirkt odereinen stärkeren Schutzeffekt auslöst.

3. Verhältnismäßigkeit imengeren Sinne Umimengeren Sinne verhältnismäßig zusein, muss dieTathandlung schließlich wesentlich mehrzurRettung alszurVerletzung vonRechtsgütern beigetragen haben. Im Rahmen derVerhältnismäßigkeit imengeren Sinne sollalso nurnochuntersucht werden,obdieVornahme derTathandlung relativ zuihrer Nichtvornahme wesentlich mehr Nutzen als Schaden gestiftet hat. Dagegen sollhiernicht mehruntersucht werden, ob dieVornahme derTathandlung relativ zurVornahme einer alternativ möglichen HandlungmehrNutzen als Schaden gestiftet hat. DerVergleich zwischen Tathandlung und etwaigen Handlungsalternativen soll allein der Erforderlichkeitsprüfung vorbehalten bleiben. Vermag dieHandlungsalternative sichdortnicht gegenüber derTathandlung als überlegen zuerweisen, sosollsie imWeiteren, d. h.beiderVerhältnismäßigkeit im engeren Sinne, außer Betracht bleiben. Es kann jedoch durchaus Handlungsalternativen geben, die deutlich weniger rechtsgutsbeeinträchtigend wirken als dieTathandlung, während ihrSchutzeffekt nur relativ geringfügig hinter demderTathandlung zurückbleibt. Wegen ihres etwas geringeren Schutzeffekts vermögen sie dann an der Erforderlichkeit derTathandlung zwecks Erreichung ebendieses etwas höheren Schutzeffekts nichts zuändern. Wenn manaberdieVerhältnismäßigkeit imengeren Sinne betrachtet, sosteht derzusätzliche Schutzeffekt, dendie Tathandlung erzielt, in keinem Verhältnis zuderweit darüber hinausgehenden Rechtsgutsbeeinträchtigung, durch dieererkauft wird. Das Ergebnis derVerhältnismäßigkeitsprüfung bei§ 34 muss aberdarin bestehen, dassjede zusätzliche Rechtsgutsbeeinträchtigung aufdereinen Seite durch einen weit überwiegenden Schutzeffekt auf deranderen Seite nicht nurkompensiert, sondern deutlich überkompensiert wird. Es genügt demnach nicht, dass nurdie zusätzliche Rechtsgutsbeeinträchtigung, die die Tathandlung relativ zuihrer Nichtvornahme anrichtet, durch einen wesentlich überwiegenden Schutzeffekt überkompensiert wird. Es mussvielmehr auchdiezusätzliche Rechtsgutsbeeinträchtigung, diedieTathandlung zu jeder möglichen Handlungsalternative anrichtet, durch einen dieser Alternative gegenüber wesentlich überwiegenden Schutzeffekt überkompensiert werden. Verboten unddamit tatbestandsmäßig ist es deshalb nicht nur, eine rechtsgutsbeeinträchtigende Handlung vorzunehmen, statt aufjede Handlung zu verzichten, sondern jede Bevorzugung einer rechtsgutsbeeinträchtigenden Handlung voreiner nicht unerheblich rechtsgutsschonenderen Verhaltensalternative. „ Nicht unerheblich“ meint dabei, dass dieDifferenz zwischen beiden Verhaltensweisen inihrer rechtsgutsbeeinträchtigenden Wirkung jedenfalls deutlich genug ausfallen muss, umdasGewicht derdurch dieVerbotsnorm eingeschränkten allgemeinen Handlungsfreiheit desTäters wettzumachen. Die kollidierende Erlaubnisnorm gestattet demTäter demgegenüber, die Tathandlung trotz ihrer stärker rechtsgutsbeeinträchtigenden Wirkung gegenüber der Verhaltensalternative zubevorzugen, wennmitihrzugleich einstärkerer Schutzeffekt 35

BVerfGE 38, 302; zurDeduzierbarkeit des Erforderlichkeitskriteriums ausdemPrinzipiencharakter dermiteinander kollidierenden Normen vgl. Alexy (Anm. 2), S. 102.

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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für andere Rechtsgutsobjekte verbunden ist als mitder betreffenden Verhaltensalternative. Verbots- undkollidierende Erlaubnisnorm müssen dann schließlich nur nochdurch eine Kollisionsregel zueinander insVerhältnis gesetzt werden. AlsErgebnis dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung imengeren Sinne verlangt § 34füreinen Vorrang des Erlaubnissatzes, dass der einerseits mitder erlaubten Handlung verbundene Schutzeffekt füreinRechtsgutsobjekt gegenüber derandererseits mitihrverbundenen Rechtsgutsbeeinträchtigung wesentlich überwiegen muss. Das Plus, das die Tathandlung anzusätzlichem Schutzeffekt gegenüber einer Verhaltensalternative erwarten lässt, muss also wesentlich ausgeprägter sein als das Minus, das dieselbe Tathandlung gegenüber derselben Verhaltensalternative beeinträchtigung mitsich bringt.

an zusätzlicher

Rechtsguts-

Wesentliches Überwiegen“bei V.Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung: „

§ 34 StGB

Erklärungsbedürftig an demvon § 34 festgesetzten Verhältnismäßigkeitsmaßstab erscheint jedoch nochdasdortgeforderte wesentliche Überwiegen desgeschützten gegenüber dembeeinträchtigten Interesse. InderLiteratur wirdteilweise entgegen dem Wortlaut des § 34 bereits jedes einfache Überwiegen desgeschützten Interesses für Wesentlich“ ausreichend angesehen, damit dieTathandlung gerechtfertigt erscheint: „ überwiegen, sondern nur„ deutlich“ , wenngleich eindeutig“ überwiegen meine nicht „ möglicherweise nurknapp überwiegen.36 Teilweise wirdsogar schon eine Gleichwertigkeit vongeschütztem undbeeinträchtigtem Interesse akzeptiert, um(wenn schon keine umfassende Rechtfertigung derTat,sodoch) jedenfalls einen Ausschluss qualifizierten strafrechtlichen Unrechts zubewirken.37 MitRücksicht aufdenWert derallgemeinen Handlungsfreiheit desTäters ließe sich sogar vertreten, eingeringfügiges Minussaldo aufSeiten des geschützten Interesses nochfüreine Rechtfertigung der Tathandlung hinreichen zu lassen, da ja zumWert des geschützten Interesses immerhin nochderWert derBetätigungsfreiheit imSinne dieses Interesses hinzutritt. ) und Dennoch spricht nicht nurderWortlaut des § 34 („ wesentlich überwiegt“ )dafür, unverhältnismäßig groß“ übrigens auchderdesparallel gestalteten § 904BGB(„ tatsächlich eindeutliches Plussaldo aufSeiten des geschützten Interesses füreinen Unrechtsausschluss zu verlangen.38 Positivrechtlich lässt sich dafür insbesondere auch die Abstufung zwischen Begehungs- und Unterlassungsunrecht durch das Gesetz anführen: Die Beeinträchtigung eines Rechtsgutsobjekts durch aktives Tun wirdvomGesetz grundsätzlich als dasschwerere Unrecht gegenüber einer unterlassenen Rettung desselben Rechtsgutsobjekts bewertet. Dies zeigt nicht nurderrelativ niedrige Strafrahmen, den§ 323c füreine unterlassene Hilfeleistung vorsieht. Dies zeigt vielmehr auch § 13, indem es dort einer besonderen Garantenstellung bedarf, Unterlassen derVerwirklichung desgesetzlichen Tatbestands durch damit dasbloße „

36

37 38

Wesentliche“am wesentlich Schönke/Schröder/Lenckner (Anm. 12), § 34 Rn 45; Küper, Das „ überwiegenden Interesse, GA1983, 296; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl. (1997),

S. 647.

Günther, Strafrechtswidrigkeit undStrafunrechtsausschluß, 1983, S. 328; Delonge, DieInteressenabwägung nach § 34 StGB undihr Verhältnis zu den übrigen Rechtfertigungsgründen (1988),

S. 167.

Renzikowski, Notwehr undNotstand (1994), S. 240; Neumann, Nomos Kommentar zumStGB (Anm. 32), § 34 Rn 67; ders., Festschrift für Roxin (2001), S. 426; Hirsch, LK(Anm. 1), § 34 Rn 76; Jakobs (Anm. 16), S. 426.

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Andreas Hoyer

, undselbst dannnocheine Strafmilderung gegenüber dementspreeinTunentspricht“ chenden Begehungsdelikt möglich bleibt. Wennaberdieunterlassene Rettung eines Rechtsgutsobjekts keinderaktiven Beeinträchtigung dieses Rechtsgutsobjekts gleichwertiges Unrecht bedeutet, dann kann auch die erfolgte Rettung des betreffenden Rechtsgutsobjekts nicht ausreichen, umdieaktive Beeinträchtigung eines gleichwertigen Rechtsgutsobjekts beiderSaldierung wettzumachen.

1. DasWesentlichkeitskriterium unddieInteressen desTäters Teilweise lässt sich das geringere Gewicht jedes Unterlassungsunrechts damit erklären, dass es generell die allgemeine Handlungsfreiheit potenzieller Täter fühlbarer einschränkt, miteiner Pflicht zuraktiven Rettung belastet zuwerden, als wennihnen lediglich dieNichtvornahme einer bestimmten rechtsgutsbeeinträchtigenden Handlung abverlangt wird.39 Umjemandem eine Rettungspflicht aufzuerlegen, wirdes alsoeines deutlicheren Überwiegens desdadurch geschützten Interesses gegenüber dendurch etwaige Verhaltensalternativen zuschützenden Interessen bedürfen. Wennes aber nicht umeine Pflicht zurRettung, sondern nurumeine Erlaubnis dazugeht, dannspielt dieser Gesichtspunkt keine Rolle. Denndurch dieErlaubnis, jemanden zuretten, wird dieallgemeine Handlungsfreiheit eines potenziellen Täters nicht beschränkt, sondern entgegen einer Verbotsnorm –sogar gewisse lediglich erweitert, weilihmnunmehr – Rechtsgutsbeeinträchtigungen als Preis fürdie Rettungshandlung gestattet sind, er andererseits aber auch sowohl vonderverbotenen Rechtsgutsbeeinträchtigung wie vonder Rettungshandlung weiterhin Abstand halten kann. Je mehr Rechtsgutsbeeinträchtigungen demTäter mitRücksicht aufdenmitseiner Tathandlung auchverbundenen Schutzeffekt erlaubt sind, desto günstiger also fürdenTäter. ImInteresse eines potenziellen Begehungstäters liegt dasErfordernis eines wesentlichen Überwiegens des geschützten Interesses gegenüber dembeeinträchtigten somit nicht.

2. DasWesentlichkeitskriterium unddieInteressen derbetroffenen Rechtsgutsinhaber Aber auch bei Abwägung der Interessen von geschütztem und beeinträchtigem Rechtsgutsinhaber ist das Erfordernis des wesentlichen Überwiegens nicht ohne weiteres einsehbar. Denngrundsätzlich erscheinen Leben, LeibundEigentum desaus

einer gegenwärtigen Gefahr zuRettenden nicht weniger schutzwürdig alsdieentsprechenden Rechtsgüter desvonderTatBeeinträchtigten. Dieabzuwendende gegenwärtige Gefahr magdendavon Betroffenen völlig ohne sein Verschulden heimgesucht haben, möglicherweise aufgrund derTateines Dritten. Dass jemand unverschuldet in Gefahr geraten ist, steigert zwarseine Schutzbedürftigkeit, an derSchutzwürdigkeit seiner grundgesetzlich anerkannten Rechtspositionen ändert sichjedoch nichts. Von den Interessen derTatbetroffenen her müsste daher wohlgesagt werden: Das Interesse desTäters, derunverschuldet ineine gegenwärtige Gefahr fürsein Eigentum geraten istundderdiese Gefahr dannaufeinen Dritten abwälzt, wiegt genauso schwer, wie das Interesse jenes Dritten, auf den die Gefahr abgewälzt wird undderdann stattdessen unverschuldet ineine gegenwärtige Gefahr fürsein Eigentum gerät.40

39 So Armin Kaufmann, DieDogmatik derUnterlassungsdelikte (1959), S. 86; Bärwinkel, ZurStruktur derGarantieverhältnisse beidenunechten Unterlassungsdelikten (1968), S. 17; Hoyer (Arm. 15), S. 363.

40 Voneinem „Prinzip derEigenverantwortlichkeit“gehen demgegenüber ausNeumann, Festschrift für

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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3. DasWesentlichkeitskriterium unddieFunktionen des Staats WenndasErfordernis deswesentlichen Überwiegens aberweder vondenInteressen desTäters nochvondenInteressen derTatbetroffenen hererklärt werden kann, dann musses vondenInteressen einer dritten Instanz hererklärt werden, unddiese Instanz istmeines Erachtens derStaat mitdemInteresse anseinen Normen. Dem Staat obliegt zwar grundsätzlich die Aufgabe, sowohl die Rechtsgüter des potenziellen Tatopfers als auchdieRechtsgüter des potenziellen Tatbegünstigten zu schützen. Beide Aufgaben sindfürdenStaat abervonseiner Funktion hernicht von

gleicher Wichtigkeit.41 Indem derStaat daspotenzielle Tatopfer gegen Übergriffe Dritter schützt, entspricht ernämlich seiner traditionellen Rolle alsNachtwächterstaat, derdie Freiheitssphären derBürger gegeneinander abschirmt. Indem derStaat dagegen die Rettung eines Gefährdeten zu seiner Angelegenheit macht, überschreitet er seine klassische Abwehrfunktion, wirder nicht mehrals liberaler, sondern als Sozialstaat tätig.42 MitVerbotsnormen dient derStaat den Interessen derjenigen, die Güter besitzen undimGenuss dieser Güter nicht vonDritten behelligt werden wollen. MitGebots-, aber auch mit Erlaubnisnormen fördert der Staat dagegen die Interessen derjenigen, dieaufeineUmverteilung vonGütern unddieInanspruchnahme vonDritten angewiesen sind, weilsie sonst nichts besäßen. Verbotsnormen schützen also den Saturierten, indem sie die vorhandene Güterordnung konservieren, Gebots- bzw. Erlaubnisnormen schützen deninNotBefindlichen undHilfsbedürftigen, indem sie zu einer veränderten Güterdistribution beitragen. EinStaat, derseine primäre Funktion darin erkennt, die Individualsphäre jedes Einzelnen vor Übergriffen Dritter abzuschirmen, wird also seine eigenen Verbotsnormen fürbesonders wichtig undimKonfliktsfall vorrangig erachten.43 EinStaat, dem es dagegen eher umsoziale Umgestaltung, Ausgleich undSolidarität zwischen den Bürgern geht, wirdinstärkerem Maße auchaufseinen Gebots- undErlaubnisnormen insistieren, wenndiese etwa inKonflikt mitVerbotsnormen geraten.44 DasErfordernis desgeschützten gegenüber demverletzten Interesse wesentlichen Überwiegens“ des„ in§ 34erklärt sichdaraus, dass Deutschland zurerstgenannten Kategorie vonStaaten rechnet: ImZweifelsfall istdasVerbot, einen anderen indessen Interessen zuverletzen, vorrangig gegenüber demGebot, ihmzu helfen, bzw. der Erlaubnis, sich selbst zu helfen. Erst ein deutliches Überwiegen der durch die Gebots- bzw. Erlaubnisnorm geschützten Interessen kann dazu führen, dass ausnahmsweise die Verbotsnorm zurücktritt.

Roxin (Anm. 38),

S. 426;

Renzikowski (Anm. 38),

S. 179; Samson, Festschrift für Welzel (1974),

S. 595; Lenckner (wie Fn32), S. 111. Dessen Vorrangigkeit gegenüber einem „Prinzip derSolidiariwäreaberaucherst einmal zubegründen, vgl. Hoyer (wie Fn15), S. 357. tät“

41 Vgl. Alexy (Anm. 2), S. 408. 19 42 BVerfGE 22, 204; v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 5. Aufl. (2000), Vor Art. 1– Rn 21. 43 Vgl. Weber, Dieverfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, DerStaat 4 (1965), 411; Breuer, BVerwG-Festgabe (1978), S. 93; Hesse, EuGRZ 1978, S. 434. 44 BVerfGE 39, 1; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987); v. Münch/Kunig (Anm. 42), Rn22.

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Andreas Hoyer

VI.Zuordnung einzelner Rechtsinstitute zurTatbestands- oderzur Rechtfertigungsebene

1. Aggressivnotstand Hinter demErfordernis des „ wesentlichen Überwiegens“ steht also eine Abwägung zweier Normtypen gegeneinander –unddiese Abwägung istgenerell klarzugunsten derVerbotsnormen ausgefallen. Einderartiges grundsätzliches Primat derVerbotsgegenüber sonstigen Normen kannesabernurgeben, wennsichüberhaupt voneinanderunabhängige Normen gegenüberstehen, d.h. wennes Verbots-, Gebots- und Erlaubnisnormen gibt, ohne dass die Voraussetzungen dereinen Normbereits als negative Tatbestandsmerkmale imRahmen deranderen Normauftauchen. DasErfordernis des „ wesentlichen Überwiegens“beweist also, dass Verbote undRechtfertigungsgründe zwei selbstständige normative Entitäten bilden, weil sie nurals selbstständige Entitäten gegeneinander abgewogen werden können unddemVerbot dabei eingrundsätzlicher Vorrang eingeräumt worden sein kann. FürdasVerhältnis zwischen Geboten undRechtfertigungsgründen giltdasselbe, nurdass es insoweit füreine Rechtfertigung ausreicht, wenn das unbeeinträchtigt gelassene gegenüber demzurettenden Rechtsgut nicht wesentlich „ 45.Wer unterwiegt“ esalsounterlässt, seine eigene körperliche Integrität aufzuopfern, umdasLeben eines anderen zuretten, verhält sich gerechtfertigt, weilauch hier demStaat mehrander Abschirmung derIndividualsphären voneinander liegt als anderGarantie gegenseitiger Solidarität.

2. Defensivnotstand Genau diese Wertung steht auch hinter der Umkehrung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs, die§ 228 BGBfürdensogenannten Defensivnotstand vorsieht. Hieristes derVerletzte selbst, vondemGefahren fürdieIndividualsphäre desTäters ausgehen. Indem derTäter diese Gefahren abwehrt, verteidigt er also gerade dieSphäre, auf deren Abschottung voranderen es auchdemStaat mitseinen Verbotsnormen primär ankommt.46 Das staatliche Interesse, Übergriffe in die Sphäre eines anderen zu verhindern, deckt sichhieralsomitdemPrivatinteresse desTäters anderVerteidigung seiner Rechtsgüter, verstärkt so das Gewicht derErlaubnisnorm undträgt zuderen Vorrangigkeit gegenüber derVerbotsnorm bei.

3. Pflichtenkollision Anders verhält es sichdagegen beidersogenannten Pflichtenkollision, d.h.wennder Täter nurdieWahlhat,entweder daseine oderdasandere Rechtsgutsobjekt zuretten bzw.daseine oderdasandere Rechtsgutsobjekt zuverletzen. Insoweit gehtes nicht umeine Abwägung zwischen zweiunterschiedlichen Normtypen, vondenen dereine gegenüber demanderen grundsätzlich vorrangig ist. Daher bedarf es hierauchnicht

45 46

Küper, Grund- undGrenzfragen derrechtfertigenden Pflichtenkollision imStrafrecht (1979), S. 92; Rudolphi, Systematischer Kommentar zumStGB, Bd.I, 7. Aufl. (2000), Vor§ 13 Rn29 b. Renzikowski (Anm. 38), S. 243; Jakobs (Anm. 16), S. 432; Hruschka (Anm. 5), S. 203; Lenckner (Anm. 32), S. 102; Neumann, Nomos Kommentar (Anm. 32), § 34 Rn86.

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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zweier einander entgegengesetzter Normen, deren Konflikt erst auf einer Metaebene durch eine Kollisionsnorm bereinigt wird. Vielmehr lässt sich schon aufTatbestandsebene gebieten, imKonfliktsfall eherdas höherwertige Interesse als dasgeringerwertige zuschützen, bzw.verbieten, eherdashöherwertige Interesse als dasgeringerwertige zuverletzen.47 Dazubraucht lediglich indenTatbestand derNorm, die das geringerwertige Interesse betrifft, als negatives Tatbestandsmerkmal die es seidenn, DeinVerhalten istnotwendig, umein Klausel hineingelesen zuwerden, „ . Interessen... nicht zuverletzen“ bzw.„ mindestens gleichwertiges Interesse zuschützen“ abwägungen können schon bei derSetzung bzw. Auslegung einer Normgetroffen werden –undwerden dort auchgetroffen. Erst Normabwägungen setzen logisch das undgegenVorhandensein mehrerer, gegeneinander abzuwägender Normen voraus – einander abgewogen werden müssen lediglich Normen verschiedenen Typs, z. B. Verbots- gegen Erlaubnis- oderGebotsnormen, wegen ihrer unterschiedlichen Bedeutsamkeit fürdieErfüllung des primären Staatszwecks.

derKonstruktion

4. Notwehr Damit fragt sich, ob denn neben demNotstand jedenfalls auch die Notwehr zuden Rechtfertigungsgründen zuzählen ist,obwohl es beiihrgrundsätzlich keiner besonderenVerhältnismäßigkeitsprüfung bedarf, also auch keiner Abwägung zwischen Verbots- undErlaubnisnorm. Nachherrschender Strafrechtsdogmatik soll§ 32 allerdings bereits eine generalisierte Abwägung zwischen Verbots- undErlaubnisnorm durch den Gesetzgeber zuGrunde liegen: DaderVerteidiger ineiner Notwehrlage nicht nurdie angegriffenen Individualrechtsgüter, sondern zusätzlich auch noch die staatliche Rechtsordnung gegen einen rechtswidrigen Angriff verteidige, verdiene dieErlaubnisnormregelmäßig denVorrang vorderVerbotsnorm.48 DieNotwehr bilde alsogewissermaßen denSpezialfall eines Notstands mitgesetzlich präsumierter Verhältnismäßigkeitsprüfung undmüsse daher als Spezialfall ebenso wiederNotstand allgemein zuden Rechtfertigungsgründen gezählt werden. Diese Herleitung vermag jedoch nicht zu überzeugen: Denn schließlich verletzt auch derVerteidiger durch seine Verteidigungshandlung eine Verbotsnorm, ersetzt also nurdievomAngreifer begangene Normwidrigkeit durch eine andere, möglicherweise sogar eine deutlich gravierendere eigene Normwidrigkeit. Dass dievomVerteidiger begangene Normwidrigkeit gemäß § 32 gerechtfertigt ist, darf beim Herleiten dieser Rechtfertigung selbst noch nicht berücksichtigt werden. Es bildete vielmehr geradezu einen Zirkelschluss, wennmandieRechtfertigung desVerteidigers nach§ 32 damit erklärte, dass er im Unterschied zumAngreifer wegen § 32 eben keinen rechtswidrigen Angriff verübe unddaher allein dieRechtsordnung verteidige.49 AufAngreifer- wieaufVerteidigerseite stehen sichsomit einerseits diewechselseitig begangenen Normwidrigkeiten gegenüber, andererseits dieeinander wechselseitig drohendenIndividualgutsverletzungen. Daraus ergibt sichzunächst einmal nochkeinregelmäßiges Überwiegen dervomVerteidiger wahrgenommenen Interessen.

47 Hoyer(Anm. 15), S. 145; füreine Rechtfertigung dagegen Küper(Anm. 45), S. 19; Armin Kaufmann (Anm. 1), S. 136; Neumann, Festschrift fürRoxin (Anm. 38), S. 431; Rudolphi (Anm. 45), Vor§ 13 Rn 29; Roxin (Anm. 36), S. 659. 48 Lenckner, GA 1968, S. 1; ders. (Anm. 12), § 32 Rn 1; Roxin, ZStW 75 (1963), S. 566; ders. (Anm. 36), S. 550 f. 49 Hoyer, JuS 1988, S. 91.

112

Andreas Hoyer

Umdie Rechtfertigung materiell zubegründen, muss vielmehr auch hierbeider Interessenbewertung nocheine dritte Instanz berücksichtigt werden, nämlich wiederumderStaat. Immerhin wirdes gemäß denobigen Ausführungen als diewichtigste Aufgabe desStaats betrachtet, jeden Bürger inseinen Individualgütern vorÜbergriffen durch andere zuschützen. Dieangestrebte Effektuierung dieser Schutzfunktion bildet nachderVertragstheorie sogar denprimären Grund dafür, Staaten zunächst zubilden undihnen dannvorallem auchdasGewaltmonopol zuübertragen. Gelingt esdemStaat nicht, die von ihmzurErfüllung dieser Schutzaufgabe erlassenen Verbotsnormen durchzusetzen, so entfällt also quasi dieGeschäftsgrundlage fürdenGewaltverzicht zugunsten desStaats. Versagt derStaat vorseiner Aufgabe, dieIndividualsphäre des Einzelnen durch seine Normen abzuschirmen, somussderBürger dieSicherung dieser Sphäre wieder indieeigenen Hände nehmen dürfen undderStaat kannvonihmnicht länger Normgehorsam fordern.50 Dementsprechend stellt etwa Thomas Hobbes im Leviathan fest: „ DieVerpflichtung derUntertanen gegen denSouverän dauert nurso 51 lange, wieer sie aufgrund seiner Macht schützen kann, undnicht länger.“ Ebenso wie es beim Notstand das staatliche Interesse an der Integrität seiner Verbotsnormen war, das zumErfordernis eines wesentlichen Überwiegens aufder Gegenseite geführt hat, so ist es bei der Notwehr die Schutzunwürdigkeit dieses staatlichen Interesses, diezumSuspens vonderVerbotsnorm aufderGegenseite führt. Es geht also auch bei der Notwehr wie beim Notstand umeine Bewertung des staatlichen Interesses anderIntegrität seiner Verbotsnormen, nurdass diese Frage hier (wegen des staatlichen Versagens vor seiner Schutzaufgabe) grundsätzlich negativ beantwortet wird. DasInteresse des Staates anderIntegrität seiner Verbotsnormen kannaberjedenfalls nur(positiv odernegativ) bewertet werden, wennes diese Verbotsnormen zunächst einmal bewertungsunabhängig gibt, d. h. wennihnen eine Existenz unabhängig von Rechtfertigungsgründen zukommt. Also bildet auch die Notwehr wiederNotstand keinnegatives Tatbestandsmerkmal innerhalb derVerbotsnorm, sondern einen selbstständigen Rechtfertigungsgrund außerhalb derVerbotsnorm. 5. Einwilligung Besonders umstritten ist schließlich die Einordnung der Einwilligung als negatives Tatbestandsmerkmal oder als Rechtfertigungsgrund. Zugunsten des herrschenden Verständnisses als Rechtfertigungsgrund wird vorgebracht, auch der Einwilligende nehme vorseiner Zustimmung regelmäßig eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.52 Er frage sichalso, obdieRechtsgutsbeeinträchtigung, dieihmaufdereinen Seite drohe, aufderanderen Seite zurFörderung bestimmter seiner Ziele geeignet underforderlich sei, undinsbesondere, obeherdieser positive oderaberdernegative Effekt nachseinenMaßstäben überwiege. Auchvoneiner mutmaßlichen Einwilligung könne regelmäßignurausgegangen werden, wenndiebetreffende Rechtsgutsbeeinträchtigung zur Förderung derZiele desRechtsgutsinhabers geeignet, erforderlich undverhältnismäßigerscheine. DerUnterschied zumNotstand bestehe lediglich darin, dass dieVerV. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 7. Aufl. (1820), § 36. 51 Hobbes, Leviathan (1970), 2. Teil, 21. Kapitel, S. 197. 52 Paeffgen (Anm. 32),Vor§ 32Rn45;Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11.Aufl. (2003), § 16 Rn 53; Noll (Anm. 32), S. 74; Geppert, ZStW 83 (1971), S. 952.

50

DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz als Strukturelement derRechtfertigungsgründe

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hältnismäßigkeitsprüfung sich dortandenobjektiven Maßstäben derRechtsordnung orientiere, beiderEinwilligung dagegen andensubjektiven Maßstäben desEinwilligenden.53 Tatsächlich besteht aber noch einweiterer Unterschied zwischen Notstand und Einwilligung: DerEinwilligende wirdsichnämlich vernünftigerweise imRahmen seiner subjektiven Güterabwägung bereits mit einem einfachen Überwiegen der für ihn positiven gegenüber dennegativen Folgen begnügen. Eines wesentlichen Überwiegens wiebeim Notstand bedarf es nicht, weilderEinwilligende nicht das staatliche Interesse anderIntegrität seiner Verbotsnormen indieAbwägung einstellen wirdund einzustellen braucht. DieRechtsordnung akzeptiert vielmehr dasErgebnis derprivaten Interessenabwägung ungeprüft undverleiht ihmgegebenenfalls rechtfertigende Wirkung. Daes alsonurumeineAbwägung privater Interessen gegeneinander geht, währenddas staatliche Interesse andenverschiedenen aufdemSpiel stehenden Normtypen keine Rolle spielt, stellt die Einwilligung sich imUnterschied zumNotstand generell nicht als Rechtfertigungsgrund dar, sondern bildet lediglich einnegatives Tatbestandsmerkmal innerhalb derVerbots- bzw.Gebotsnorm. Es gibt zwarFälle, indenen die Rechtsordnung derEinwilligungserklärung des Rechtsgutsinhabers keine rechtfertigende Wirkung beilegt, soz. B. beisittenwidrigen Körperverletzungen undvorallem beivorsätzlichen Tötungen. Hinter dieser EinschränkungderDispositionsbefugnis stehen aber keine besonderen staatlichen Interessen, sondern lediglich patriarchalische Bewertungen der betroffenen Privatinteressen. Ginge es umeinbesonderes Interesse desStaates anderEinhaltung seiner Verbotsnormen, somüsste dereinwilligende Rechtsgutsinhaber etwaauchwegen Teilnahme an deranihmbegangenen sittenwidrigen Körperverletzung bzw.versuchten Tötung bestraft werden können. Dassdasallgemein abgelehnt wird,54 beweist: DenStrafgrund bilden allein die(hier allerdings vomStaat definierten) Opferinteressen. Sozweifelhaft eine derartige Entmündigung desRechtsgutsinhabers durch denStaat auchseinmag, sie ändert jedenfalls nichts daran, dass es kein Eigeninteresse des Staats an der Unverletzlichkeit bestimmter Normen ist, daszurUnwirksamkeit derEinwilligung führt. Alsobedarf esauchkeiner besonderen Ebene, aufdereinsolches staatliches Interesse mitabzuwägen wäre, d.h.eine Rechtfertigungsebene erübrigt sichhierebenso wiein allen übrigen Einwilligungskonstellationen.

VII. Rechtsfolgen derUnterscheidung zwischen verschiedenen Normebenen

Nachdieser Differenzierung zwischen Tatbestands- undRechtfertigungsebene bleibt letztlich nurnoch die Frage offen, ob sich denn auch unterschiedliche Rechtsfolgen mit derZuordnung eines Instituts zudereinen oderanderen Ebene verbinden. Ohnediese Frage hier abschließend beantworten zu können, lässt sich zunächst mindestens Folgendes feststellen: Eine gewissermaßen automatische Gleichbehandlung von Tatbestands- undRechtfertigungsmerkmalen, wiesieausderLehre vondennegativen Tatbestandsmerkmalen folgt, ist nicht begründbar. Umgekehrt müssen negative Tatbestandsmerkmale undRechtfertigungsvoraussetzungen jedoch auch nicht notwendig unterschiedlich zubehandeln sein. 53

54

Rudolphi (Anm. 1), S. 393. Roxin, Leipziger Kommentar,

11.Aufl. (1992), Vor§ 26 Rn38; Herzberg, Täterschaft undTeilnah-

me (1977), S. 134; Jakobs (Anm. 16), S. 695; Schönke/Schröder/Cramer (Anm. 12), Vor § 25 Anm. 47; Hoyer, SK (Anm. 45), Vor§ 26 Rn 72.

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Andreas Hoyer

IstabereinRechtfertigungsgrund gegenüber einer Verbotsnorm vorrangig, soführt das imbetreffenden Einzelfall immerhin zurUngültigkeit derbetreffenden Verbotsnorm.55 Dass einer Verbotsnorm seitens der Kollisionsregel konkret der Vorrang gegenüber einer Erlaubnisnorm eingeräumt wird, stellt sichdaher eheralsGeltungsvoraussetzung fürdiese Verbotsnorm dar56 dennals deren negatives Tatbestandsmerkmal.EinIrrtum überdieGeltungsvoraussetzungen einer Normwirdabergrundsätzlich anders behandelt als einTatbestandsirrtum, wiesichetwaanhand eines Irrtums über die Ordnungsmäßigkeit des Normsetzungsverfahrens oder überdenzeitlich-räumli-

chenGeltungsbereich einer Normzeigt. Werden dieinderKollisionsregel aufgeführten Vorrangbedingungen als Voraussetzungen fürdieGeltung derdadurch indenVorrang erhobenen Verbots- oderGebotsnormen aufgefasst, sospricht diese Einordnung also eherdafür, einen aufdiesen Vorrang bezogenen Irrtum nach§ 17als ihnnach§ 16zubehandeln. Derumgekehrte Irrtum übersolche Geltungsvoraussetzungen würde dementsprechend ehereinstrafloses Wahndelikt als einen strafbaren Versuch begründen, wie auch sonst beim Verstoß gegen eine nurvermeintlich gültige Norm. Letztlich unterliegt es aberderFreiheit des Gesetzgebers zubestimmen, welche gleichen oderunterschiedlichen Rechtsfolgen Tatbestands- undErlaubnistatbestandsirrtümer auslösen sollen. Sogar dieUnterscheidung zwischen Tatbestandsmerkmalen undRechtfertigungsvoraussetzungen zutreffen odergänzlich einzuebnen, steht inder Freiheit des Gesetzgebers. Hierkames lediglich darauf anzuzeigen, dass dasgeltende Recht inseiner konkreten Ausgestaltung sichnuraufderBasis dieser Unterscheidungnormlogisch konsistent erklären lässt, nämlich folgendermaßen: Jede Regelung, diemiteinander kollidierende Interessen nicht allein nachderen eigenem Wert zueinander insVerhältnis setzt, sondern darüber hinaus denWert staatlicher Schutznormen zugunsten dieser Interessen berücksichtigt, bildet einen Rechtfertigungsgrund jenseits

derTatbestandsebene.

55 Hruschka (Anm. 5), S. 190. 56 Hoyer (Anm. 15), S. 202.

Joachim Renzikowski* Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik**

I. Einleitung

„ Awealth ofmaterial still lies inthe mine as valuable orawaiting onlythe eye ofthe geologist torecognize it.“ Mitdiese Worten beschreibt Charles Everett dasArchiv des University College inLondon. BeidemSchatz, denEverett imJahr 1939 imKeller des College unter einem Papierstapel entdeckte, handelte es sichumdasüber160Jahre vonJeremy Bentham.1 Diese erste „AllOfLaws inGeneral“ lang verschollene Werk„ gemeine Rechtslehre“ warursprünglich alsletztes Kapitel derbekannten „Introduction von1780 konzipiert, sodann aberalseigentothePrinciples ofMorals andLegislation“ ständiger Fortsetzungsband imJahr 1782 abgeschlossen worden. Manfragt sich, warum er nicht schon damals publiziert worden ist. Welche Entwicklung hätte die analytische Rechtstheorie nehmen können, wenn Benthams Werkrezipiert worden wäre undnicht dieweniger anspruchsvollen, aber, wiemehrere Auflagen beweisen, vonJohnAustin dieweitere Diskussion Lectures onJurisprudence“ höchst populären „ bestimmt hätten! Benthams „ OfLaws in General“ist fürdenStrafrechtsdogmatiker vongroßem Interesse, dennerentwickelte als Erster dieUnterscheidung zwischen primären Verhaltensnormen, diesichandieBürger richten, undsekundären Sanktionsnormen, die andenRichter adressiert sind.2 Dieser Unterscheidung zufolge enthält beispielsweise § 212 Abs. 1 StGB die primäre Verhaltensnorm: „ Dusollst nicht töten!“sowie die Wereinen anderen Menschen getötet hat, soll mitFreisekundäre Sanktionsnorm: „ . Die Unterscheidung zwischen heitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft werden!“ Verhaltens- undSanktionsnormen ist in Deutschland mitdemNamen Karl Binding DieNormen undihre Übertretung“ 90Jahre späverbunden, dessen erster Bandüber„ ... mansollte doch terimJahr 1872 erschien.3 Binding beschrieb sein Programm so: „ *

Professur fürStrafrecht, Rechtsphilosophie undRechtstheorie

anderMartin-Luther-Universität zu

Halle Fürwertvolle Hinweise

1

2

3

undKritik danke ich meinen Freunden undKollegen Alexander Aichele, Daniel Andrae, Matthias Kaufmann, Tino Kleinert (Halle), Joachim Lege (Greifswald), Stanley Paulson(St. Louis) undnicht zuletzt Volker Haas (Tübingen), aufdessen vorzügliche Arbeit „Kausalität undRechtsverletzung“(2002) zentrale Thesen meines Beitrages zurückgehen. Everett hatte sich bereits seit einigen Jahren darum bemüht, die Manuskripte imArchiv des University College, diein173Aktenmappen enthalten waren, zuordnen. Alserzumersten Malaufdie fraglichen Blätter gestoßen war, hatte er zunächst nicht erkannt, worum es sich wirklich handelte. Nachdem es ihmschließlich in mühevoller Kleinarbeit gelungen war, das Manuskript, vondem einzelne Seiten überverschiedene Aktenmappen verstreut waren, zurekonstruieren, publizierte er TheLimits ofJurisprudence Defined“ es imJahr 1945 unter demTitel „ vonJeremy Bentham. Das Zitat steht imVorwort auf S. V. ZurPublikationsgeschichte vgl. auch H.L.A. Hart, Rechtstheorie 2 (1971), S. 55 ff.

Bentham, Of Laws in General, H.L.A. Hart (Hg.), 1970, S. 133 ff. (Chap. XI); näher dazu Joachim Renzikowski in: Festschrift fürGössel, D. Dölling u.a. (Hg.), 2002, S. 3, 7 ff.; wohlals erster hat auf denUrsprung derdualistischen Normentheorie Felix Somló, Juristische Grundlehre, 1917, S. 190 hingewiesen. Allerdings bezieht sich Somló aufdieZiff. 8 derConcluding Note zuder„ Introduction tothe Principles ofMorals andLegislation“(indervonBurns undHartimJahr 1970 herausgegebenenAusgabe aufS. 303). Diese Concluding Note enthält gewissermaßen das Programm für„ Of Laws inGeneral“ . Es ist müßig, darüber zuspekulieren, ob die Strafrechtsdogmatik in Deutschland andere Wege

116

Joachim Renzikowski

meinen, eine sorgfältige Untersuchung derjenigen Rechtssätze, denen derVerbrecher opponirt, wäre fürdierichtige Erkenntniss desVerbrechens selbst undseiner wesent4Diegeistige Verwandtschaft dieses Ansatzes zur„Analichen Merkmale präjudiziell.“ lytischen Rechtstheorie“ , als deren Begründer Bentham neben Austin gilt5, istnicht zu übersehen. Zentrales Erkenntnisinteresse dieser Richtung istbisheute dieAnalyse der formellen undstrukturellen Elemente desRechts. Neben derSuche nachdemRechtsbegriff oderderBehandlung desGeltungsproblems gehtes umdieEntfaltung derStrukturderRechtsnormen.6 Offenkundig lassen sichvondieser Zielsetzung herAnregungenfürdieStrafrechtsdogmatik gewinnen. Im folgenden soll zunächst gezeigt werden, welchen Gehalt die Unterscheidung zwischen primären Verhaltens- undsekundären Sanktionsnormen inderanalytischen Rechtstheorie besitzt. DieWurzeln dieser dualistischen Normentheorie inder Imperativentheorie undimUtilitarismus Benthams sollen kurzangesprochen werden. Denn wirwerden später sehen, dass die heutige Strafrechtsdogmatik –bei allen Unterimmer nocheinem etatistisch-kollektivistischen Zugriff aufdas schieden imeinzelnen – Strafrecht verhaftet ist, während dieVerfassung aufeinem liberal-individualistischen Standpunkt steht. AlsErgebnis dieser Überlegungen wirddemsubjektiven Recht mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen als bisher: Es ist einerseits Legitimationsgrund undSchutzgegenstand derVerhaltensnormen, die Individualrechtsgüter schützen. Andererseits muss die Reichweite des subjektiven Rechts vonder Reichweite der Verhaltensnormen –oder allgemeiner: die Gewährleistungsfunktion des Rechts vonseiner verhaltenssteuernden Funktion unterschieden werden (II). Schließ-

lichsollen dreiKonsequenzen fürdieStrafrechtsdogmatik angedeutet werden: fürdie Methodik, insbesondere denRechtsgutsbegriff, fürdie Lehre vonderobjektiven rechnung undfürdie Unterscheidung vonRechtswidrigkeit undSchuld (III).

Zu-

II. Grundlagen derdualistischen Normentheorie

1. Verhaltens- undSanktionsnormen Binding begründet die Unterscheidung zwischen primären Verhaltensnormen und sekundären Sanktionsnormen folgendermaßen: Es istunpräzise, dasVerbrechen als Bruch des Strafgesetzes zubetrachten, da derVerbrecher genau das tut, wasdas gegangen wäre, wenn Benthams Werk bereits bekannt gewesen wäre. Ziemlich wahrscheinlich wäre das nicht derFallgewesen. So wurde etwa dieImperativentheorie, als deren Begründer BenthamundAustin gemeinhin angesehen werden, imdeutschen Sprachraum vonAugust Thonohne jede Bezugnahme aufdie englischen Vorbilder völlig eigenständig entwickelt, vgl. Thon, Rechtsnorm undsubjektives Recht, 1878, S. 8. Ernst Rudolph Bierling, dessen fünfbändige Juristische 1917 als erstes deutsches WerkimSinne deranalytical jurisprudence anPrinzipienlehre von1894– gesehen werden kann, rezipierte Bentham oderAustin ebenfalls nicht. Überhaupt scheint Bentham inDeutschland bis indieMitte des 20. Jahrhunderts nahezu unbekannt zusein. Ausnahmen sind Friedrich Eduard Beneke undRudolf vonJhering. Allerdings hatte Beneke, dersichseit 1827 näher mitBenthams Lehren befasste, wohlauch aufgrund seiner glücklosen akademischen Karriere zu Lebzeiten keinen nennenswerten Einfluss. Jhering, DerZweck imRecht. Zweiter Band, 2. Aufl. . Dievonihm selbständigsten originellsten Denker“ 1886, S. 170f., würdigt Bentham als einen der„ mitbegründete Interessenjurisprudenz wurde ersichtlich

4 5 6

vomUtilitarismus

beeinflusst. Ausführlich

dazuundzurRezeption Benthams Helmut Coing, ARSP 54 (1968), S. 69 ff. Binding, DieNormen undihre Übertretung, Erster Band: Normen undStrafgesetze, 1872, S. 4 Fn.2. Vgl. RalfDreier, WasistundwozuAllgemeine Rechtstheorie? 1975, S. 8. Vgl. Klaus Adomeit, Rechtstheorie fürStudenten, 4. Aufl. 1998, S. 14f.; Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 2 ff.

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

117

Strafgesetz inseinem Tatbestand beschreibt. Gerade deshalb istetwaauchfürKelsen .7Demnach ver„ dasUnrecht (Delikt) nicht Negation, sondern Bedingung des Rechts“ stößt derVerbrecher also nicht gegen dasStrafgesetz, sondern ererfüllt es! Hältman dagegen daran fest, dass nureine rechtswidrige undschuldhafte TatStrafe verdienen kann, sowirddurch dasRechtswidrigkeitsurteil logisch zwingend dieAnerkennung von Verhaltensnormen vorausgesetzt, die demStrafgesetz vorgelagert undvonihmverschieden sind.8 Ähnlich hält schon Bentham die Verhaltensnorm unddie Sanktions9, obwohl beide twodistinct laws, andnotparts of one andthe same law“ normfür„ BentNormen regelmäßig ineiner Vorschrift zusammenfielen.10 Eine Sanktionsnorm – –könne nicht verstanden werden nochwäresie hambezeichnet sieals„subsidiary law“ principal law“ ), aufdiesiesichbezieht: überhaupt existent ohneeine Verhaltensnorm („ „ the idea ofsuch a lawbeing included intheir veryessence“ .11Bentham undBinding Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 116 ff.; vgl. auch schon ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923, S. 53. Kelsen musste zwangsläufig einGegner einer dualistischen Normentheorie sein, ginges ihmdochdie„ ideale Formulierung“ derRechtsnorm, diedasgesamte Recht gleichsam aufden Punkt bringen sollte. Wiesehr sich seine Ansicht imLauf derZeit gewandelt hat, zeichnet ausführlich Stanley L. Paulson in:Logischer Empirismus undReine Rechtslehre, C. Jabloner/F. Stadler (Hg.), 2001, S. 137, 174 ff. nach: von der hypothetisch formulierten Sanktionsnorm (s. Hauptprobleme derStaatsrechtslehre, 1911, S. 234 ff.) überdie Ermächtigung zurSanktionsverhängung (s. General Theory ofLawandState, 1945, S. 61 ff.; Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 82 f.) bis hinzurposthum imJahr 1979 erschienenen Allgemeinen Theorie der Normen, inderKelsen neben der(primären) Norm, diedie Setzung eines Zwangsaktes als gesollt vorschreibe, dieExistenz sekundärer Normen anerkennt, dieeinbestimmtes Verhalten derRechtssubjekte als gesollt vorschreiben (S. 43, 115 f.). Weiterhin bezeichnet Kelsen gebietende underlaubende Normen alsnormative Funktionen (S. 76 ff.). AlsFixpunkt steht indes fest, dass Kelsen die Imperativentheorie zeitlebens abgelehnt hat. Wenn man, wiees in derAllgemeinen Rechtslehre weithin üblich ist,jede vollständige NormalsVerknüpfung eines Tatbestandes miteiner Rechtsfolge definiert (z.B. Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rn. 130), dann ist die primäre Verhaltensnorm keine selbständige Norm, aberdas ist keinprinzipieller Einwand gegen eine dualistische Normentheorie. 8 Deshalb kommt es nicht darauf an, ob derGesetzgeber die Verhaltensnormen gesondert ausformuliert hat, so aber einfrüherer Einwand vonFriedrich Kitzinger, GS 55 (1898), S. 1 (30 ff.) und Robert vonHippel, Deutsches Strafrecht, Band1.Allgemeine Grundlagen, 1925, S. 21.Abgesehen davon findet mangerade imNebenstrafrecht Blankettstraftatbestände, dieaufseparate Verhaltensnormen bezugnehmen. 9 Bentham (Anm. 2), S. 139 (XI.12.) imGegensatz zu Thomas Hobbes, DeCive, 1646, Cap. XIV.6 und 7, in:Malmesburiensis Opera quae latine scripsit omnia, inunumcorpus nuncprimum collecta studio et labore Gulielmi Molesworth, Vol. II, London 1839, derdenVerhaltensbefehl unddieSanktions), sondern alszwei duae legum species“ drohung nicht als zweiverschiedene Arten vonGesetzen („ Teile einunddesselben Gesetzes („ ejusdem legis duae partes“ ) ansieht. WieHobbes auchAustin, TheProvince ofJurisprudence Determined, H.L.A. Hart(Hg.), Neudruck 1998, S. 17f.; während er inden Lectures of Jurisprudence, Bd. 2, 5. Aufl. R. Campbell (Hg.), 1911, S. 767 (mit Fn. 21) durchunaus imBenthamschen Sinn zwischen einem „simply imperative law“ unddem„punitory law“ terscheidet. 10 Bentham (Anm. 2), S. 143 f. (XI.18). 11 Bentham (Anm. 2), S. 142 (XI.16). Anders als Binding beschränkt Bentham die dualistische Normkonzeption nicht aufdas Strafrecht. „ Subsidiary laws“ , d.h. sind fürihnalle „ remedial laws“ Gesetze, die Rechtsfolgen fürdieVerletzung vonVerhaltensnormen vorschreiben. Solche Rechtsfolgen sindnicht nurStrafe, sondern auchWiedergutmachung oderUnterlassung (vgl. etwa§ 1004 BGB), a.a.O., S. 149 ff. (XII.); vgl. auch denVorschlag vonHeinrich Dörner, JuS 1987, S. 522, 524 f., diedualistische Normentheorie indas Deliktsrecht (§823 BGB) zuübertragen. Bentham (S. 196 [XVI. 1] istferner derAnsicht, dass jedes Gesetz einen zivil- undeinen strafrechtlichen Zweig hat: Thegenerality oflawshaveeacha penal aswellasa civil branch.“ „ Bentham meint damit, dassjedes Gesetz darauf hinausläuft, Sanktionen füreine Normverletzung zustatuieren. DerUnterschied zwischen Zivil- undStrafrecht, verstanden imherkömmlichen Sinn, ist fürihndeshalb auch nurein

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gradueller

(S. 209 ff. [XVII.]).

118

Joachim Renzikowski

begründen denUnterschied zwischen denVerhaltens- unddenSanktionsnormen mit verschiedenen Adressaten: Die Verhaltensnormen befehlen dem Bürger, welche Handlungen er unterlassen undwelche ervornehmen soll. Dagegen wendet sich bei Bentham derdurch die Sanktionsnorm ausgedrückte „ an den command to punish“ Richter12, während Binding denStaat selbst alsAdressaten ansieht.13 Denunterschiedlichen Adressaten korrespondiert einunterschiedlicher Regelungszweck: Verhaltensnormen bringen Gehorsamspflichten des Rechtsunterworfenen gegenüber demStaat häufig als staatlihervor, während Sanktionsnormen dasstaatliche Recht aufStrafe – cherStrafanspruch bezeichnet –begründen.14 FürBentham ebenso wiefürBinding liegt derentscheidende Gesichtspunkt fürdie Notwendigkeit, primäre Verhaltensnormen anzuerkennen, somit imWesen derStrafe als Unrechtsfolge. Dieser Aspekt istgleichzeitig dergewichtigste Einwand gegen monistische Ansätze, dieausschließlich Sanktionsnormen als Normen anerkennen.15 Er lautet: WenndieSanktionsnormen keine entsprechenden Verhaltensnormen zurVoraussetzung hätten, so könnte mandie durch sie angedrohten Sanktionen nicht als Reaktion auf die Verletzung schon vorher bestehender Pflichten definieren. Eine Sanktion wäre dannbloß als eine Rechtsfolge aufzufassen, dievondenmeisten Menschen als unangenehm empfunden wird undsie deshalb veranlassen soll, jenes Verhalten zuvermeiden. Aber nicht jede Rechtsnorm, deren Rechtsfolgen vonden Betroffenen als unangenehm empfunden werden, verfolgt denZweck, die Rechtsunterworfenen vondemVerhalten abzubringen, andasdiese Rechtsfolgen geknüpft sind. Kurz: Strafe undSteuer würden sich nicht mehrunterscheiden.16 Hinzukommt, dassderjenige, derdieAbgabe aufsichnimmt, sichdieFreiheit zudementsprechenden Verhalten gleichsam erkauft. EinMordbleibt jedoch verboten, selbst wennderTäter weileine solche TatdasLebensrecht eines bereit ist, dafür insGefängnis zugehen – anderen negiert.

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Bentham (Anm. 2), S. 140(XI.15); ebenso Thon(Anm. 3), S. 9 f.; heute entspricht diese Position der h.L., s. etwa Ivo Appel, Verfassung undStrafe, 1998, S. 81; Georg Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 113; Wolfgang Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 62; Röhl (Anm. 6), S. 192f.; Joachim Vogel, NormundPflicht beidenunechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 27 f.; fürBentham wardiese Sicht zwingend, weilderSouverän sich nicht selbst befehlen kann(vgl. auch S. 137 [XI.11] m. Anm. h). Diese Begründung weist auf einen Mangel der klassischen Imperativentheorie hin:Sie kanndieSelbstbindung desGesetzgebers nicht erklären, s. Hart, TheConcept of Law, 2. Aufl. 1994, S. 42 ff. Binding, Normen I (Anm. 4), S. 6 ff., 13 ff.; ders., Handbuch des Strafrechts. Erster Band, 1885, S. 189 ff.; ebenso jüngst Karsten Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 307 ff. Binding, Handbuch (Anm. 13), S. 162 f. Vertreter einer monistischen Sanktionstheorie derNormen sind etwa Kelsen (Anm. 7), S. 116ff., insbes. S. 124; Eberhard Schmidhäuser, VondenzweiRechtsordnungen imstaatlichen Gemeinwesen, 1964, S. 10 ff.; Heiner Alwart, Recht und Handlung, 1987, S. 146 ff.; Wolfgang Röttger, Unrechtsbegründung undUnrechtsausschluß, 1993, S. 236ff.; Andreas Hoyer, Strafrechtsdogmatik nachArmin Kaufmann, 1997, S. 42 ff.; inderMoralphilosophie istjüngst Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer, 2000, S. 91ff., 102(unter Bezugnahme aufKelsen); ders. in:Moral alsVertrag?, A. Leist (Hg.), 2003, S. 37, 39 f., 64 ff. füreine sanktionistische Theorie des Sollens eingetreten; krit. dazu Gottfried Seebaß in: Leist, a.a.O., S. 155, 165 ff.; Neil Roughley, ibid., S. 213, 224 ff. Vgl. Hart (Anm. 12), S. 39; ders., Punishment and Responsibility, 1968, S. 6 f.; Peter Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl. 1997, S. 85 f.; Seebaß (Anm. 15), S. 174 ff.; Ota Weinberger, Rechtslogik, 1970, S. 236; ders., Normentheorie alsGrundlage vonJurisprudenz undEthik, 1981, S. 195;weitere Kritik bei Renzikowski, ARSP 87 (2001), S. 110, 116 ff.; gegen eine Unterscheidung vonStrafe undSteuer nach ökonomischen Gesichtspunkten, wie sie von Hoyer (Anm. 15), S. 67 ff. und Christian Schmid, DasVerhältnis vonTatbestand undRechtswidrigkeit aus rechtstheoretischer Sicht, 2002, S. 67 ff. vorgeschlagen wird, Renzikowski, a.a.O., S. 120f.

Normentheorie

119

undStrafrechtsdogmatik

Derdualistischen Normentheorie wirdvorgeworfen, sie könne diedenSanktionsnormen angeblich vorgelagerten Verhaltensnormen nicht vonmoralischen odernaturrechtlichen Normen unterscheiden.17 AufBentham trifft dieser Vorwurf nicht zu, da nach seiner Ansicht die primäre Verhaltensnorm nicht nurbestimmte Handlungen verbietet, sondern zugleich eine Strafe fürZuwiderhandeln androht.18 Dagegen istdie Verknüpfung der Verhaltensnorm miteiner Sanktion für Binding ein überflüssiger Annex, weildieVerbindlichkeit einer Normvonihrer Wirksamkeit unterschieden werden müsse.19 Gleichwohl verdient Benthams Standpunkt denVorzug, weilerdieWirkungsweise vonRecht verdeutlicht. Dort, wosichalle bereits ausmoralischen Gründen richtig verhalten, sindRechtsnormen überflüssig. Rechtsnormen entfalten ihre Wirkung erst da,womoralische Überzeugungen brüchig geworden sind oderwodie Versuchung zumNormbruch überhand zunehmen droht. Hierversucht das Recht, durch dieAndrohung einer Sanktion einwirksames Gegengewicht zuderMotivation desAdressaten zusetzen. Rechtsnormen werden als Rechtsnormen befolgt, umunliebsame Rechtsfolgen zuvermeiden.20

2. DieLegitimation derVerhaltensnorm undihrSchutzgegenstand Wie werden die Verhaltensnormen legitimiert? Was ist ihr Schutzgegenstand? Bei diesen Fragen lassen sicheinetatistisch-kollektivistischer undeinliberal-individualistischer Standpunkt unterscheiden.

a) VonBenthams

Utilitarismus

zuBindings

etatistischem Rechtsgutsbegriff

Kennzeichnend fürdie klassische Imperativentheorie sind Etatismus undKollektivismus:Dasgesamte Recht wirdals einKomplex vonVerhaltensanweisungen verstanden,dievomSouverän andieUntertanen gerichtet sind.21 Subjektive Rechte sinddie Kehrseite der Imperative, soweit sie die Verletzung vonGütern des Begünstigten verbieten.22 Subjektive Rechte sindalsoausderPerspektive desStaates zusehen, der sie durch seine Imperative erst konstituiert. Sie erscheinen nurals Reflexe des GeDelatar“ des meinwohls, oder wiees Nagler ausgedrückt hat: DerEinzelne ist nur„ macht mitseinem subjektiven Rechte denkonkretisierten Willens derAllgemeinheit; er„ .23Neben dieformale BegrünWillen unddieAutorität desobjektiven Rechtes geltend“ 17 So die Kritik von Schmid (Anm. 16), S. 62 f.; allerdings wäre, falls Stemmer (Anm. 15) recht hätte, die Anbindung der Pflicht an eine Sanktion keine Besonderheit des Rechts gegenüber der Moral. Demgegenüber würde Bentham ganzimperativentheoretisch aufdenUrheber derNormverweisen. 18 Bentham (Anm. 2), S. 140 (XI.14). 19 Binding, Normen I (Anm. 4), S. 26 ff.; ders., Handbuch (Anm. 13), S. 160 f.; gegen das letzte Argument weist Altenhain (Anm. 13), S. 331, zutreffend darauf hin,dass dieAbschreckungsgeneral-

dempotentiellen Täter nicht das allein entscheidende Motiv liefern soll, die Straftat zu unterlassen. Diese Überlegung spricht fürdieThese vonUlfried Neumann in:Nomos Kommentar zumStGB, 14. Lief. November 2003, § 17 Rn.21, das Unrechsbewusstsein (§ 17 StGB) seidieVorstellung eines Verstoßes gegen eine sanktionsbewehrte Rechtsnorm. Dagegen istnachh.L.derGegenstand des Unrechtsbewusstseins das rechtliche Verbot oderGebot, vgl. BGHSt 2, S. 194, 196; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1997, § 21 Rn.12, 13. Bentham (Anm. 2), S. 1; Thon (Anm. 3), S. 1 ff., 69. Thon (Anm. 3), S. 114 ff.; s. auch Bentham (Anm. 2), S. 57 f. (VI.8). Johannes Nagler in: Festschrift fürBinding, Zweiter Band, hrsg. v. denMitgliedern derLeipziger prävention

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21 22

23

120

Joachim Renzikowski

dungdes Rechts gleichsam „ vonOben“ tritt beiBentham seine materiale Begründung vonderAllgemeinheit her.Oberste Maxime, nicht nurderMoral, sondern auchderGesetzgebung24 ist das Gebot derNutzenmaximierung. Vonmehreren Verhaltensalternativen istdiejenige vorzuziehen, diedengrößtmöglichen Nutzen mitsichbringt.25 Mit demPrinzip derNutzenmaximierung sind subjektive Rechte zwarnicht unvereinbar. DieDisposition desIndividuums überdieihmzugewiesene Rechtssphäre steht jedoch unter demVorbehalt derNutzenmaximierung. DieVorstellung unveräußerlicher subjektiver Rechte bezeichnet Bentham dennauchals„ Unsinn aufStelzen“ .26Vordiesem Hintergrund istes keine Überraschung, dass sichdieImperativentheorie undderUtilitarismus inderRechtslehre Benthams miteinander verbinden: Wasfürdasgemeine Wohlambesten ist, entscheidet verbindlich derSouverän.27 InderStrafrechtsdogmatik werden dieFragen nachderLegitimation vonStrafgesetzen undnach ihrem Schutzzweck traditionell unter demBegriff des „ Rechtsguts“ diskutiert. DiezumEnde des 19.Jahrhunderts vorherrschende Sichtweise muss man ebenfalls als etatistisch undkollektivistisch bezeichnen: Rechtsgüter sind Produkte staatlicher Normsetzung ausderPerspektive derSozietät, nicht des Individuums. Dersich namentlich unter demEinfluss vonBinding undLiszt etablierte Rechtsgutsbegriff stand vonvornherein ineinem diametralen Gegensatz zuderausderrechtsphilosophischen Theorie desGesellschaftsvertrags abgeleiteten liberal-naturrechtlichen Position Feuerbachs, wonach jedes Verbrechen durch die Verletzung eines Rechts gekennzeichnet sei.28 So lehnte sich Binding mitseiner Definition des Rechtsguts als Juristenfakultät, 1911, S. 273, 298; vgl. auch Thon (Anm. 3), S. 110 f.: „ Es ist nicht möglich, die Interessen des Gemeinwesens undderEinzelnen insolcher Weise einander gegenüber zustellen. (...) Nicht ausRücksicht fürHinzoderKunzwirdderen Eigenthum vonderRechtsordnung geschützt: umdes gemeinsamen Interesses willen wirddas Rechtsinstitut des Eigenthums aufgestellt, dader ausschliessliche Genuss dersachlichen Güter Einzelner ... fürdasGemeinwesen voneminentester Wichtigkeit ist ...“

24 S. Bentham (Anm. 2), S. 31 ff. (III.); ders., Grundsätze derCivil- undCriminalgesetzgebung. 25 26

27

Erster Band, Beneke (Hg.), 1830, S. 35 ff. Bentham, AnIntroduction to the Principles of Moral andLegislation, J.H. Burns/H.L.A. Hart(Hg.), 1982, S. 11 ff.; Austin (Anm. 9), S. 59 ff. Bentham, Anarchial Fallacies, in:Works, J. Bowring (Hg.), Vol. II, 1843, S. 489, 501. Dassoll nicht heißen, dass Bentham subjektive Rechte prinzipiell ablehnt, vgl.etwa dens. (Anm. 2), S. 57 ff. (VI.8 jedes Verbrechen („ ff.), 84 (IX.13). Bentham bezeichnet sogar –wiespäter Feuerbach – offence“ ) als Rechtsverletzung, a.a.O., S. 220 f. (XVIII. 1). Die Pointe des Utilitarismus ist jedoch, dass jedes subjektive Recht unter einem Gemeinwohlvorbehalt steht. Dieser Etatismus entspricht demStandpunkt derälteren naturrechtlichen Strafrechtsauffassung, nachdersich das Verbrechen –wiespäter auch beiBinding –als Ungehorsam gegen denStaat darstellte. DieFreiheit desIndividuums spielte keine Rolle, denndieEntscheidung darüber, waszur Erreichung derallgemeinen Wohlfahrt nützlich ist, kamallein derObrigkeit zu,dersich die Bürger unter Preisgabe ihrer natürlichen Freiheit unterworfen hatten. Entsprechende Belege finden sich etwa bei Gottfried Achenwall/Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts, hrsg. und übersetzt vonJ. Schröder, 1995, §§ 872, 874; Johann Samuel Friedrich vonBoehmer, Elementa iurisprudentiae criminalis, 5. Aufl. 1757, sec. I, §§ CLXXXIX, CCXLIV; Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, ed.nova 1646, lib. Icap. I§ XIV.1; Samuel Pufendorf, Deofficio hominis etcivis juxta legem naturalem libri duo,1739, lib. IIcap.V§ VII;Christian Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae libri tres, 7. Aufl. 1730, lib. Ill cap. VI § 12, cap. VII§ 63; näher dazu auch Altenhain (Anm.

13), S. 13 ff. m.w.N.

28 S. PaulJohann Anselm vonFeuerbach, Lehrbuch desgemeinen inDeutschland gültigen Peinlichen

Rechts, C.J.A. Mittermeier (Hg.), 14. Aufl. 1847, § 21: „ Wer die Grenzen der rechtlichen Freiheit überschreitet, begeht eine Rechtsverletzung, Beleidigung (Läsion). Werdiedurch denStaatsvertrag verbürgte, durch Strafgesetze gesicherte Freiheit verletzt, begeht einVerbrechen.“ DerBegriff der Rechtsverletzung warindes nicht aufprivate Rechte beschränkt, sondern umfasste auch Rechte

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

121

an dessen unveränderter undungestörter Erhaltung das positive Recht nach 29andie Rechtslehre vonJhering an. Jhering selbst seiner Ansicht ein Interesse hat“ hatte denAusdruck rechtlich geschütztes Interesse30 andieStelle deraufSavigny zurückgehenden Definition dessubjektiven Rechts als einer Willensherrschaft31 gesetzt: Substanz des Rechts sei nicht derselbstherrliche Wille des Einzelnen, sondern der

„ alles,

gesellschaftliche Nutzen. Das Individuum als Destinatär von Rechtspositionen vollstrecke nurdeninseiner Person lebendig gewordenen Staatswillen. Zwecksubjekt der Rechtssätze seidieGesellschaft selbst; derBürger trete rechtlich lediglich als ihrTeil inErscheinung.32 Ebenso spielten beiBinding subjektive Rechte keine Rolle. Sieseien fürdie Reichweite des Normenschutzes völlig belanglos, da Angriffe sie nicht als Rechte, sondern lediglich inihren tatsächlichen Voraussetzungen als Angriff „ aufdie Güterwelt“ beträfen.33 ImGeist seiner Zeitwandte sichBinding scharf gegen eine Überschätzung des Willens des Einzelnen durch die individualistische Rechtsauffassung sowie gegen eine Trennung zwischen Individualrechtsgütern undGütern derGesellschaft: „ Nurals soziale, als Rechts- nieals reine Individual-Güter finden jene Gegen34Ungeachtet derberühmten Kontrostände individuellen Werturteils Rechtsschutz.“ verse überdenRechtsgutsbegriff verhält es sichbeiLiszt nicht vielanders. Ebenso wie rechtlich geschütztes Interesse“ Binding definiert Liszt das Rechtsgut als „ .35Zwar begnügt sich Liszt, anders als Binding, nicht miteinem reinen Gesetzespositivismus. Vielmehr sind fürihndie Interessen aus soziologischer Perspektive identifizierbare Lebensinteressen, dievonderRechtsordnung vorgefunden werden. ZuRechtsgütern werden diese Lebensinteressen erst durch diestaatlichen Normen.36 Letztlich koppelt Liszt somit ebenfalls denBegriff desRechtsguts vomsubjektiven Recht ab.Rechtsverhältnisse bestehen nicht unabhängig vonstaatlichen Interessen, sondern werden rein hoheitlich konstituiert.

als moralischer Person“(§ 22). Diese Lehre warbis indie30erJahre des 19. Jahrdes Staates „ hunderts herrschend –vgl. Karl Grolmann, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 3. Aufl. 1818, §§ 1 ff., 20 ff.; GallusAloys KasparKleinschrod, Systematische Entwickelung derGrundbegrif-

fe undGrundwahrheiten des peinlichen Rechts, Erster Theil, 3. Aufl. 1805, §§ 5, 7; KarlAugust Tittmann, Grundlinien derStrafrechtswissenschaft undderdeutschen Strafgesetzkunde, 1800, §§ 5 ff., , ehesie derKritik vonJohann Michael Franz Birnbaum, Archiv desCriminalrechts, N.F., 1834, 22 – S. 149ff.erlag, derandieStelle derRechtsverletzung denBegriff derGutsverletzung setzte.

29 Binding,

30

Jhering,

Normen I (Anm. 4), S. 193. DerGeist desrömischen Rechts aufverschiedenen Stufen seiner Entwicklung,

Dritter Teil,

1. Abteilung, 1865, S. 316. 31 CarlFriedrich vonSavigny, System desheutigen römischen Rechts, Band1, 1840, S. 333; Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 3. Aufl. 1873, S. 86 ff.; inderheutigen Rechtsmacht“zurselbstbestimmten Zivilrechtsdogmatik wird das subjektive Recht präziser als „ Interessenwahrnehmung bezeichnet, s. Karl Larenz/Manfred Wolf, Allgemeiner Teil derBürgerli-

32

chen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 14 Rn. 1, 4 ff.

... daßderindividuelle Wille nursoweit wollen könne, als erdurch den Jhering (Anm. 30), S. 309 („ ), 315f.; allgemeinen gedeckt ist...“ ... Recht als concrete Einheit desStaats- undEinzelwillens ...“ „ – die individualistische Rechtsauffassung verspottet Jhering, DerZweck imRecht, Erster Band, 4. Aufl. 1904, S. 419 als „ Abgrenzung derFreiheitssphären nach ArtderKäfige inderMenagerie“ ; näher zudengeistesgeschichtliche Hintergründen dieser Auffassung KnutAmelung, Rechtsgüterschutz undSchutz der Gesellschaft, 1972, S. 62 ff.

33 Binding, Normen I, 3. Aufl. 1916, 338, 353. 34 Binding, Normen I, 3. Aufl. 1916, S. 341, 353 ff.; das Zitat steht auf S. 360. 35 Franz vonLiszt, ZStW3 (1883), S. 1, 19 unter Bezugnahme aufBinding. 36 Liszt, ZStW 3 (1883), S. 18 ff.; ders., Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 3. Aufl. 1888, S. 19 ff.

122

Joachim Renzikowski

b) Derliberal-individualistische

Standpunkt

des Grundgesetzes

DerEtatismus undKollektivismus Benthams undBindings ist –schon rein positivüberholt. Diehervorgehobene Betonung derUnantastbarkeit derMenschenrechtlich – würde inArt. 1 Abs. 1 S. 1 GG,dieBeschwörung unverletzlicher undunveräußerlicher Menschenrechte inAbs.2 sowie dieGarantie eines jeglicher staatlichen Gesetzgebung undEinwirkung entzogenen Wesensgehaltes derGrundrechte inArt. 19 Abs.2 GG sindKennzeichen einer liberal-individualistischen Rechtsbegründung.37 DasGrundgesetz geht vonderVorstellung aus, dass derEinzelne mehristals ein„ Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ , nämlich eine autonome Person, gegenüber dersichdie staatliche Machtausübung legitimieren muss. GanzinderTradition dervertragstheoretischen Rechts- undGesellschaftsbegründungen vonLocke bis Kantgründet die Rechtsordnung inderwechselseitigen Anerkennung derIndividuen alsselbstbestimmte Personen. Subjektive Rechte sinddemnach nicht dieErgebnisse vonWohltaten, mit denen derSouverän seine Untertanen beglückt. Sie werden vomStaat nicht originär geschaffen, sondern derIdee nachvorgefunden undrechtlich anerkannt. Subjektive Rechte sind auch nicht nurdie Resultate vongemeinwohlorientierten Abwägungen. Vielmehr gehört es gerade zumWesen dessubjektiven Rechts, demEinzelnen einen Bereich zureigenverantwortlichen Lebensgestaltung zueröffnen, derfreivonZumutungen seitens derGesellschaft ist. Dieöffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen werdennicht „ vonOben“ , sondern gleichsam „ vonUnten“ ,vomIndividuum herlegitimiert.38 DieEinzelnen überantworten denSchutz dersubjektiven Rechte demStaat, uminder bürgerlichen Gesellschaft dieprivate Selbstjustiz zurückzudrängen.39 Damit sindsubjektive Rechte dieLegitimationsgründe derindividualschützenden Verhaltensnormen. Dennoch werden dieVerhaltensnormen damit noch nicht zuNormen des Privatrechts indemSinne, dass sie dieRechtssphären zwischen denBürgern durch ZuweisungvonRechten undPflichten aufteilen.40 Diese Konzeption gerät schon deshalb in unlösbare Schwierigkeiten, weilderVerstoß gegen eine privatrechtliche Normeine rein 37 Vgl. dazu –imKontext der aktuellen Debatte über die (Un-)Zulässigkeit der Folter –Matthias Jahn, KritV 2004, S. 24, 45 ff.; Reinhard Marx, KJ 2004, S. 278, 299 ff.; Jan O. Merten, JR 2003, S. 404 ff.; Ralf Poscher, JZ 2004, S. 756 ff.; für eine Relativierung der Menschenwürde durch Abwägung dagegen Winfried Brugger, JZ2000, S. 165, 169f.;ähnlich Matthias Herdegen in:Maunz/Dürig, GG, 42. Lief. Februar 2003, Art. 1 I Rn.43 ff., derfüreine „Abwägungsoffenheit“derMenschenwürde

zumindest inRandzonen eintritt. 38 Nurvordiesem Hintergrund wirddieDiskussion überdieSchutzfunktion derGrundrechte verständlich, aus dersich imEinzelfall sogar staatliche Pönalisierungspflichten ergeben sollen („ Untermaß-

39

40

verbot“ ), vgl. BVerfGE 39, S. 1, 45 ff.; 88, S. 203, 254 ff.; ausf. dazu Otto Lagodny, Strafrecht vorden Schranken derGrundrechte, 1996, S. 254ff.; vergleichbar hatetwaderEGMR(NJW1985, S. 2075) ausdeminArt.8 Abs. 1 EMRKgarantierten Recht aufPrivatheit einen Anspruch gegen denStaat aufausreichenden strafrechtlichen Schutz vorsexuellen Übergriffen abgeleitet. Zurneueren Entwicklung bei Art. 2 EMRK (Lebensschutz) s. Lagodny in: Renzikowski (Hg.), Die EMRK imPrivat-, Straf- undÖffentlichen Recht –Grundlagen einer europäischen Rechtskultur, 2004, S. 83 ff. Vgl. BVerfGE 74, S. 257, 262: „ Aus dem Verbot der Privatgewalt und der Verstaatlichung der Rechtsdurchsetzung folgt umgekehrt die Pflicht des Staates, fürdie Sicherheit seiner Bürger zu sorgen unddieBeachtung ihrer Rechte sicherzustellen.“ Indiesem Sinne aber Alexander HoldvonFerneck, DieRechtswidrigkeit. Erster Band: DerBegriff der Rechtswidrigkeit, 1903, S. 110, 126 ff., 143 ff.; dezidiert auch Renzikowski, Notstand undNotwehr, 2004, S. 168ff.; vomBoden derImperativentheorie verbietet sicheine derartige Annahme von selbst, daderBefehl vomSouverän erlassen wird. Indiesem Sinne heißt es beiBinding (Handbuch [Anm. 13], S. 185): „ Der Inhaber des Gehorsamsrechts fällt regelmässig mitdem Urheber der Norm Vgl.auch Bentham (Anm. 2), S. 18 (II.1) Anm.b: „ zusammen.“ theefficient cause thenofthepower ofthesovereign is neither morenorless thanthedisposition toobedience onthepartofthepeople.“

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

123

privatrechtliche Angelegenheit bliebe. Indiesem SinnhatFeuerbach eine Übertretung, „ unmittelbaren Gegenstand“habe, als bezeichnet.41 Ungeklärt bleibt dabei, wieein Privatverbrechen (delictum privatum)“ „ reinprivatrechtlicher Rechtsverstoß einstaatliches Strafrecht auslösen kann.42 Will mangleichwohl einem liberalen Staats- undRechtsverständnis Rechnung tragen unddie demeinzelnen Bürger zugewiesenen Bereiche rechtlich geschützter Freiheit nicht als bloßen Reflex gesellschaftlicher Gesamtinteressen ausweisen, so mussmanzwischen denöffentlich-rechtlichen Imperativen, diedenSanktionsnormen zugrundeliegen, undderRechtszuweisungsordnung, andiediese Imperative anschließen, m.a.W. zwischen der Garantie- undder Schutzfunktion der Rechtsordnung unterscheiden.43 Darauf ist nochzurückzukommen.

das Recht eines Unterthans“zu ihrem die „

c) Dassubjektive Recht unddieReichweite derVerhaltensnorm AlsSchutzobjekt derVerhaltensnorm ergibt sichschließlich ausdemsubjektiven Recht zugleich dieReichweite desVerbots. FürdenRechtsgutsbegriff istanerkannt, dass er denSchutzumfang derNormkennzeichnen undindiesem Sinne einwichtiges teleolo-

gisches Auslegungskriterium darstellen soll.44 Jedoch ist der Rechtsgutsbegriff bereits aus prinzipiellen Gründen ungeeignet, die Reichweite einer Verhaltensnorm zu bestimmen. Der Begriff des Rechtsguts beschreibt eine zweistellige Relation zwischen einem Subjekt undeinem bestimmten XhatInteresse anS“ . Aufdiese Weise kannerzwarnochdieEigenschaft Sachverhalt: „ eines Geschehensablaufs abbilden, füreinbestimmtes Rechtsobjekt schädlich zusein. Darüber hinaus istes abernicht möglich, mitseiner Hilfe zubeschreiben, wodurch ein Geschehensablauf definiert sein muss, umderrechtlich gewollten Güterverteilung zu widersprechen.45 Kurz: DerRechtsgutsbegriff ermöglicht lediglich einDenken inSchacasum sentit dominus“ denskategorien. Aberwegen desGrundsatzes „ begründet der Eintritt eines Schadens nochnicht dieVerantwortlichkeit eines anderen dafür. DemgegenFeuerbach (Anm. 28), § 23; ebenso schon Christian Wolff, Grundsätze des Natur- undVölckerrechts, 1754, § 1030. 42 Volker Haas, Kausalität undRechtsverletzung, 2002, S. 80. Einweiteres Argument fürdenöffentlich-rechtlichen Charakter derVerhaltensnormen ergibt sichausderStrafbarkeit desVersuchs: Der Täter eines versuchten Delikts verstößt gegen dieselbe Verhaltensnorm wiederTäter desentsprechenden Vollendungsdelikts. Normtheoretisch lässt sichdasdamit begründen, dass dieVerhaltensnormen aufgrund ihrer Bestimmungsfunktion notwendig auf die Vorstellung der Normadressaten zumHandlungszeitpunkt abstellen müssen, damit fürihnentscheidbar ist,oberdieNormübertritt, s. Freund (Anm. 12), S. 56 ff.; ders., GA 1991, S. 387, 390 ff.; Diethart Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert imUnrechtsbegriff, 1973, S. 137ff.; vgl.auchGünther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 25/15. WennderNormadressat vonderGefährlichkeit seines Verhaltens ausgeht undtrotzdem handelt, istes ausderex-ante Perspektive derVerhaltensnormen Zufall, falls trotzdem nichts passiert. DerInhaber des durch dieVerhaltensnorm geschützten subjektiven Rechts selbst kannjedoch keinen Anspruch aufihre Einhaltung indenFällen reklamieren, indenen tatsächlich keine Verletzung droht. Ein untauglicher Versuch berührt lediglich die Ebene der öffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen, nicht diedessubjektiven Rechts. Folglich gibt es gegen einem untauglichenVersuch auchkeinNotwehrrecht, s. Roxin (Anm. 20), § 15 Rn.9. Eine ganz andere Frage ist, wasfürdenVerteidiger gilt, derdieUntauglichkeit desAngriffs nicht erkennt. 43 Haas (Anm. 42), S. 81. 44 Vgl. Karl-Heinz Gössel, Festschrift für Oehler, R.D. Herzberg (Hg.), 1985, S. 97, 102 ff.; HansHeinrich Jescheck/Thomas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996,

41

S. 259. 45 Haas (Anm. 42), S. 69.

124

Joachim Renzikowski

über beschreibt das subjektive Recht eine dreistellige Relation zwischen einem Rechtssubjekt, einem Sachverhalt undeinem anderen Rechtssubjekt.46 DieBeziehung zwischen demRechtssubjekt unddemSachverhalt kannmanalsNutzungsfunktion, die Beziehung zudemanderen Rechtssubjekt als Ausschlussfunktion definieren, wiees § 903S. 1 BGBinvorbildlicher Klarheit ausspricht: „ DerEigentümer einer Sache kann ... mitderSache nachBelieben verfahren undandere vonjeder Einwirkung ausschlieBeide Funktionen kennzeichnen jedes subjektive Recht, nicht nurdasEigentum. ßen.“ Dieser Begriff dessubjektiven Rechts ermöglicht es nun,denBlick vondergeschädigtenRechtssphäre aufdenAusgangspunkt desGeschehens zulenken. DieVerhaltensnormerfasst solche Handlungen, diefürdieAusschlussfunktion dessubjektiven Rechts relevant sind. Auchdarauf ist nochzurückzukommen.

3. Zusammenfassung derdualistischen

Normentheorie

Bevor einige Folgerungen fürdie Strafrechtsdogmatik angesprochen werden, sollen die wesentlichen Grundaussagen der dualistischen Normentheorie nochmals kurz rekapituliert werden:

– Densekundären Strafgesetzen sind primäre Verhaltensnormen vorgelagert, die sich andie Rechtsunterworfenen als Normadressaten wenden undihrVerhalten bestimmen sollen.

– DieVerhaltensnormen



leiten sich, soweit es umdenSchutz vonIndividualgütern geht, teleologisch aus subjektiven Rechten ab. Inder bürgerlichen Gesellschaft ist derSchutz dersubjektiven Rechte als Institution demStrafrecht überantwortet. Dadiesubjektiven Rechte zugleich denSchutzgegenstand derindividualschützenden Verhaltensnormen darstellen, sinddieindenentsprechenden Straftatbeständen enthaltenen Merkmale so auszulegen, dass sie das denStrafgesetzen vorgelagerte privatrechtliche Rechtsverhältnis zumindest selektiv abbilden.

III. Einige Konsequenzen

1. Methodische

Defizite

fürdie Strafrechtsdogmatik

deraktuellen Strafrechtstheorie

Dieheutige Strafrechtsdogmatik, wiewohl aufdemBoden einer freiheitlichen Rechtsordnung stehend, beruft sich dennoch aufdie Quellen derklassischen Imperativentheorie undderetatistisch-kollektivistischen Rechtsgutslehre des 19.Jahrhunderts.47 Denöffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen, deren Verletzung daspersonale Unrecht begründet, wirdzugleich eine Distributionsfunktion zugewiesen. Sie sollen die Freiheitssphären der Normadressaten voneinander abgrenzen.48 Rechtsgüter werden definiert als rechtlich geschützte Interessen, wobei es sich umdieAufrechterhaltung bestimmter fürdieverfassungsmäßige Gesellschaft unddieStellung derFreiheit des einzelnen Bürgers unverzichtbarer Funktionen handeln soll.49 Zurechtlichen Gebilden 46 Haas in: Zurechnung als Operationalisierung vonVerantwortung, M.Kaufmann/J. (Hg.), 2004, S. 215; zumfolgenden s. auch ders. (Anm. 42), S. 98 ff.

Renzikowski

47 So bezieht sich beispielsweise das Lehrbuch vonJescheck/Weigend (Anm. 44), S. 237 (mit Fn.20) ausdrücklich auf Thon.

48 Vgl. etwa Frisch in: Festschrift für Roxin, B. Schünemann u.a. (Hg.), 2001, S. 213, 236; ders., GA 734; Wilfried in: Festschrift fürLackner, W.Küper u.a. (Hg.), 1987, S. 247, 275 f. S. 719, Küper 2003, 49 S. etwa Hans-Joachim Rudolphi in: Festschrift für Honig, E. Barth (Hg.), 1970, S. 151, 163; Harro

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

125

erstarken Rechtsgüter erstdurch dieöffentlich-rechtlichen Imperative. Diese Verhaltensnormen beruhen auf einer umfassenden Interessenabwägung, in die einerseits die Integritätsinteressen despotentiell Betroffenen undaufderanderen Seite dieallgemeineHandlungsfreiheit derNormadressaten einfließen.50 Obwohl dieRechtsgüter nach derpersonalen Rechtsgutslehre ihrem Träger diefreie Entfaltung derPersönlichkeit ermöglichen sollen, wird also –zumindest verbal –die utilitaristische Gemeinwohlorientierung derstaatlichen Imperative beibehalten. Dagegen wirdbisheute nicht inder Kategorie des subjektiven Rechts argumentiert –nicht einmal vonder personalen Rechtsgutslehre, obwohl nachihralle Rechtsgüter ausIndividualinteressen abgeleitet werden müssen. Inmethodischer Hinsicht sinddazudreikritische Anmerkungen angebracht:

a)DieVermischung vonSchutz- undDistributionsfunktion WerdenVerhaltensnormen eine Distributionsfunktion beimisst, übersieht, dass der Umfang subjektiver Rechte weiter reicht. Erfasst werden Zustände, die demZuweisungsgehalt derRechtsordnung widersprechen undeiner anderen Rechtssphäre zugerechnet werden können. Siemüssen jedoch nicht aufeine Handlung zurückgeführt Beispiel: Einstarker Sturm wirft einen kerngesunden Baumaufdas werden können. – Nachbargrundstück. DieVerwechslung derSchutzfunktion vonVerhaltensnormen mit derGarantiefunktion subjektiver Rechte zeigt sichetwaandemStreit, obdasUnrecht derfahrlässigen Verletzungsdelikte rein objektiv zubestimmen istoderobes aufdie individuellen Fähigkeiten des Normadressaten ankommt.51 Diese Frage führt inein Dilemma: Gemäß derFunktion derVerhaltensnormen, das Handeln derNormadressaten zusteuern, muss die Normverletzung vonderFähigkeit des Normadressaten .52 schließlich gilt: „ dukannst, denndusollst“ abhängen, dieVerpflichtung zuerfüllen – Otto in:Strafrechtsdogmatik undKriminalpolitik, H.Müller-Dietz (Hg.), 1971, S. 1, 8; vgl. auch die Übersicht überdieverschiedenen Rechtsgutsdefinitionen beiGünter Stratenwerth in:Festschrift für Lenckner, A. Eser u.a. (Hg.), 1998, S. 377, 378. Die –jedenfalls verbal –klarste Position im Sinne eines etatistischen Rechtsgutsbegriffs istdieDefinition des Rechtsguts imLehrbuch vonJescheck/ rechtlich geschützter abstrakter Wert derSozialordnung ..., an Weigend (Anm. 44), S. 257 f. als „ . Zutreffende Kritik beiAltenhain (Anm. 13), dessen Erhaltung die Gemeinschaft ein Interesse hat“

50

51

S. 291 ff.

Einzelne Abwägungskriterien sind derWert des Rechtsguts, die Höhe derErfolgswahrscheinlichkeit, derUmfang deszuerwartenden Schadens sowie dersoziale Nutzen derVerhaltensweise, vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten undZurechnung desErfolgs, 1988, 70 ff.; Freund (Anm. 12), S. 51 ff. (unter Verweis aufdie umfassende Güter- undInteressenabwägung nach § 34 StGB in Fn. 6); s. auch Roxin (Anm. 20), § 11 Rn. 60. Diepraktische Bedeutung dieses Streites verhält sich indes reziprok proportional zudemAufwand, versteht es sichvonselbst, dass nurbestraft Objektivisten“ mitdemerdiskutiert wird. Auchfürdie„ werden kann, werdie Rechtsgutsverletzung nach seinen eigenen Fähigkeiten vermeiden konnte. Dieindividuelle Vermeidbarkeit wirdlediglich erst aufderEbene derSchuld geprüft. Ferner wirdder objektive Sorgfaltsmaßstab zumindest dadurch teilindividualisiert, dass dieGruppe, derderTäter angehört, zurBestimmung derSorgfalt herangezogen wird. So soll es darauf ankommen, wiesich einbesonnener undgewissenhafter Angehöriger desbetreffenden Verkehrskreises inderSituation desTäters verhalten hätte. Vgl.dazuRoxin (Anm. 20), § 24 Rn.47 ff.m.w.N. sowie Haas (Anm. 42),

S. 90 ff.

52 S. dazu R.M. Hare, Freiheit undVernunft, 1983, S. 70 ff.; G.H. vonWright, NormundHandlung, Sollen 1979, S. 114ff.; nachManfred Moritz, Theoria 19 (1953), S. 131, 142ff., formuliert derSatz „ selbst einen Imperativ. DieFormulierung wirdhäufig Kant zugeschrieben, stammt impliziert Können“ , 1974, S. 292 Fn. 74. aber nicht vonihm, s. L.W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“

126

Joachim Renzikowski

Dannaberwerden dieAbwehrbefugnisse desOpfers unddamit seinsubjektives Recht verkürzt. Orientiert mansich dagegen imRahmen derDistributionsfunktion derVerhaltensnormen an derGarantiereichweite derIntegritätsinteressen53, dann wird der außer Kraft gesetzt. Diese Friktion Rechtsgrundsatz „ impossibilium estnulla obligatio“ kannnuraufgelöst werden, indem manzwischen derSchutzfunktion undderGarantiefunktion des Rechts differenziert. DasRecht garantiert demEinzelnen einen Bereich ungestörter Freiheitsausübung durch die Zuweisung als subjektives Recht. Sein Schutz gegenüber rechtswidrigen Handlungen oderUnterlassungen obliegt denVerhaltensnormen.54 Diestrafrechtliche Rechtswidrigkeit, verstanden alsVerletzung einer Verhaltenspflicht, istalso ebensowenig mitderzivilrechtlichen Rechtswidrigkeit, verstanden als Störung eines subjektiven Rechts, gleichzusetzen, wiedie Verhaltenspflicht demsubjektiven Recht korrespondiert. Zwischen denöffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten unddensubjektiven Privatrechten muss vielmehr strikt getrennt werden, obwohl dieersteren aufletztere bezogen sind: Öffentlich-rechtliche Verhaltensnormen schützen subjektive Rechte als Institution.

b)Diefehlende

Normativität

des Rechtsgutsbegriffs

Die seit Liszt übliche Definition des Rechtsguts als rechtlich geschütztes Interesse ist

vonvornherein nicht geeignet, diemitihrverfolgten Zwecke zuerreichen, nämlich dem Strafgesetzgeber Grenzen zusetzen unddie Reichweite derVerhaltensnorm zube-

stimmen. So lange nicht angegeben wird, unter welchen Voraussetzungen bestimmte faktische Interessen legitimerweise als rechtlich geschützt ausgewiesen werden dürfen, genügt jede Präferenz derrechtssetzenden Instanzen, umRechtsgüter hervorzubringen. So räumen dieBefürworter eines strafrechtskritischen Rechtsgutsbegriffs durchaus diegroßen Schwierigkeiten ein, diesen Begriff materiell aufzuladen, umso denBereich desStrafbaren effektiv undplausibel zueinzuschränken.55 Bytheway:Ist es nicht eine Ironie der Rechtsgeschichte, dass ein ausgerechnet imPositivismus entwickelter Begriff wie das „ jetzt dazu verwendet werden soll, umden Rechtsgut“ Strafgesetzgeber mittels externer Kriterien zubegrenzen?56 WennderRechtsgutsbegriff zugleich alsteleologisches Auslegungskriterium herangezogen wird, wirdeinweiteres Defizit deutlich: Faktische Interessen können nicht überdenUmfang des Rechtsschutzes entscheiden.57 Verweist mandarauf, dass das Interesse ebendurch dieAufstellung einer entsprechenden Verhaltensnorm zueinem rechtlich geschützten Interesse geworden sei, so verfängt mansich ineinem Zirkel: Wasverboten sein soll, wirddaraus geschlossen, wasverboten seinsoll.58

hatKantderSache nachdiesen Zusammenhang ebenfalls angesprochen, s. Zumewigen Frieden (1795), Anhang I, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. vonder Königlich Preußischen Akademie derWissenschaften. Erste Abteilung, Band8, 1912, S. 343, 370. ) der GewährleiReichweite“ Deutlich Küper (Anm. 48), S. 275: „ Vielmehr endet die Geltung („ stungsnormen gerade dort, wodaserlaubte Risiko beginnt.“ Grundlegend dazuHaas (Anm. 42), S. 83 ff. S. etwa Winfried Hassemer in:Jenseits des Funktionalismus, H.Scholler/L. Philipps (Hg.), 1989, S. 85, 88 ff.; Roxin (Anm. 20), § 2 Rn. 5. S. auch Amelung in: Die Rechtsgutstheorie, R. Hefendehl/A. von Hirsch/W. Wohlers (Hg.), 2003, Allerdings

53 54 55 56

S. 155, 160 ff. 57 Vgl. Jakobs (Anm. 42), 2/5; Theodor Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 9, 11. 58 S. Haas (Anm. 42), S. 78.

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

127

Erforderlich wäredemgegenüber einRechtsgutsbegriff, derimRahmen derhinter demGrundgesetz stehenden liberalen, aufdemPrimat des Individuums aufbauenden Gesellschaftsauffassung die Frage beantwortet, inwieweit die Ausübung staatlicher Strafgewalt mitdenKonstitutionsbedingungen unserer Sozietät vereinbar ist.59 Diese Aufgabe kannvoneinem normentheoretischen Ansatz nicht geleistet werden. Nach denbisherigen Ausführungen istjedoch klar, dass derBegriff dessubjektiven Rechtes indiesem Zusammenhang eine fundamentale Rolle spielen müsste.60 Damit wärejedenfalls fürdie individualgüterschützenden Normen schon einiges gewonnen: Das subjektive Recht ist Legitimationsgrund undSchutzgegenstand dieser Normen zu-

gleich.61

c) DieRelativierung

subjektiver Rechte durch Abwägung

Mitdiesen Überlegungen hängt der dritte Einwand zusammen. Die häufig vorgeschlagene Interessenabwägung alsMethode zurEtablierung deröffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen beruht aufderLeugnung einer normativ vorstrukturierten Welt.62 Subjektive Rechte sindjedoch nicht dieResultate einer Interessenabwägung, sondern demStaat vorgeordnet. Umnicht missverstanden zuwerden: Damit sollnicht behauptetwerden, dass Abwägungen imStrafrecht völlig entbehrlich wären, sondern es geht umihren richtigen Platz. DasStrafrecht setzt aufgrund seiner limitiert-akzessorischen Natur die Privatrechtsordnung, umderen Schutz es geht, voraus. Wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss aber nicht jedes subjektive Recht invollem Umfangdurch dasStrafrecht abgesichert werden. AufderEbene deröffentlich-rechtlichen Verhaltensnormen wirddaher imInteresse desGemeinwohls durch Abwägung ermittelt, wiedieZiele derErmöglichung vonHandlungsfreiheit aufdereinen Seite unddes Schutzes der Integrität von subjektiven Rechten auf der anderen Seite in einen gerechten Ausgleich gebracht werden können.63

2. Kritik derLehre vonderobjektiven Zurechnung Eine weitere Konsequenz betrifft die erste Ebene des Verbrechensbegriffs, den Tatbestand. Diebisherigen Überlegungen ermöglichen eine Grundsatzkritik derLehre Superkategorie“ vonderobjektiven Zurechnung, diealsnahezu allgemein anerkannte „ dieLösung aller Probleme derZurechnung einer Rechtsgutsverletzung verheißt. 59 So mitRecht Haas (Anm. 42), S. 65;ähnlich verankert Bernd Schünemann in:Festschrift fürRoxin, Gesellschaftsvertrag als Basis jeder Verfassungs2001, S. 1, 29 dasRechtsgüterschutzprinzip im„ ; s. ferner Roland Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter imStrafrecht, 2002, S. 59 ff.; einweitheorie“ 60

terer Ansatz ist etwa die Suche nach naturrechtlichen Grenzen strafwürdigen Verhaltens von Kristian Kühlin: Festschrift fürSpendel, M. Seebode (Hg.), 1992, S. 75 ff. Eine amsubjektiven Recht orientierte Rechtsgutslehre hatjüngst Altenhain (Anm. 13), S. 293 ff. entwickelt.

61 Haas (Anm. 42), S. 58, 81 f., 104 f. 62 Neumann in: Rechts- undSozialphilosophie in Deutschland heute, Alexy/Dreier/Neumann (Hg.), 1991, S. 248, 256. 63 Subjektive Rechte können somit weder eineabsolute Vermeidbarkeit vonRechtsverletzungen, noch eine absolute Freiheit derRechtsausübung garantieren. Eine derartige doppelte Garantie istschon mehroderweniger – dieFähigkeit deshalb ausgeschlossen, weiljede FormderRechtsausübung –

zurVermeidung derVerletzung derRechte anderer mindert: Werabsolut sicher gehen will, niemals einen anderen imStraßenverkehr zuverletzen, muss seinAutoinderGarage lassen.

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Joachim Renzikowski

a) Der„Giftmord-Fall“

DazueinFallausdemJahr 1930: T hatte seine Ehefrau mitRattengift ermordet. Das Giftwarihmzuvor vonseiner Geliebten Mbeschafft worden. DamanMkeinen Vorsatz nachweisen konnte, schied eine Bestrafung wegen Teilnahme andemMorddesTaus. DasReichsgericht verurteilte Mjedoch wegen fahrlässiger Tötung, dennsie hätte erkennen können undmüssen, wozuT das Giftverwenden wollte.

Nachdamaligem Verständnis warTäterschaft dieHerbeiführung derjenigen Bedingungen, „ 64,d.h.imSinne der unter welchen dermitStrafe bedrohte Tatbestand eintritt“ Äquivalenztheorie jede Setzung eines Ereignisses, dasals Bedingung fürdenEintritt eines Erfolges angesehen werden kann. Eine Differenzierung zwischen Haupt- und Nebenursachen, wiesie die sogenannten „ individualisierenden Kausalitätstheorien“ vorgeschlagen hatten65, wurde abgelehnt. Vielmehr waren alle Bedingungen gleichwertig; daher auchderName„ . DieVorschriften überAnstiftung und Äquivalenztheorie“ Beihilfe erschienen nachdiesem extensiven Täterbegriff, wieerderRechtsprechung des Reichsgerichts zugrundelag, als Strafbarkeitseinschränkungsgründe, odernormtheoretisch gewendet: Anstiftung undBeihilfe waren nicht Gegenstände unterschiedlicher Verhaltensnormen, sondern gehörten zurEbene derSanktionsnormen. Dadiese Strafbarkeitseinschränkungsgründe nicht für fahrlässige Taten gälten, sei M nach § 222 StGB zubestrafen.66

b) Grundzüge derLehre vonderobjektiven Zurechnung Dieses Ergebnis wirdauch heute nahezu einhellig geteilt. Allerdings hatsich dieBegründung gewandelt. DasZauberwort heißt nicht mehrVerursachung, sondern „ objektive Zurechnung“ .67Normtheoretisch wird die Lehre vonderobjektiven Zurechnung

64 Vgl.RGSt21, S. 76, 77; KarlSchacht, Dasfahrlässige

Zusammenwirken mehrerer Personen, 1909,

S. 22 f., 27, 34 ff. 65 Vgl.etwa KarlBirkmeyer, GS 37 (1885), S. 257, 272 ff. (Ursache als wirksamste Bedingung fürden Erfolg); Rudolf Ortmann, GA 1875, S. 268 ff. (Ursache als letzte Bedingung für einen Erfolg); Josef Kohler, Studien aus demStrafrecht. I, 1980, S. 83 ff. (Theorie der qualitativ bestimmenden Bedingung) sowie dieGleichgewichtstheorie vonBinding (Normen I, 3. Aufl., S. 115ff.) unddieLehre vonderausschlaggebenden Bedingung vonNagler in:Leipziger Kommentar zumStrafgesetzbuch, Bd. 1, 7. Aufl. 1954, S. 26 ff.; diese Lehren werden heute kaumnoch einer Erwähnung fürwert gehalten, s. Roxin (Anm. 20), § 11 Rn.6. 66 RGSt 64, S. 370ff.; näher dazuRenzikowski, Restriktiver Täterbegriff undfahrlässige Beteiligung, 1997, S. 160 ff. 67 DieGeschichte dieser Verengung des Zurechnungsbegriffs ist noch nicht hinreichend untersucht. Ursprünglich bezeichnete mandiekomplexe Operation desVerantwortlich-Machens füreine Handlungals Vorfrage ihrer rechtlichen Beurteilung inderTradition Pufendorfs auchals imputatio facti. Berühmt geworden istKants Definition desZurechnungsbegriffs inderMetaphysik derSitten (1797,

in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung, Band 6, 1907, S. 203, 227): „ Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung istdas Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, diealsdann Tat(factum) heißt undunter Gesetzen steht, angesehen wird.“ ZurBegriffsgeschichte s. Joachim Hruschka

in:Zurechnung alsOperationalisierung vonVerantwortung,

Kaufmann/Renzikowski (Hg.),

, deraufLarenz (Hegels 2004, S. 17 ff. Demgegenüber erfasst derBegriff „ objektive Zurechnung“ Zurechnungslehre undderBegriff derobjektiven Zurechnung, 1927) undRichard Honig (in:Beiträge zurStrafrechtswissenschaft. Festgabe fürFrank, Bd. I, A. Hegler (Hg.), 1930, S. 174 ff.) zurückgeht, nureinen Teil derursprünglich als Zurechnung bezeichneten Operation. Roxin (Anm. 20), § 11 Rn.41 zufolge soll derBegriff die Umstände angeben, die aus einer Verursachung eine Tatbe-

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

129

folgendermaßen begründet: DievonderRechtsordnung zumSchutz vonRechtsgütern aufgestellten Verhaltensnormen dürften wegen deruferlosen Weite derKausalzusammenhänge nicht als bloße Verursachungsverbote, sondern müssten als Verbote der Setzung unerlaubter Gefahren begriffen werden.68 Zusätzlich wirdderKreis derunerSchutzzweck derNorm“ begrenzt: Nursolche laubten Risiken durch denTopos vom„ Risiken sollen relevant sein, dievomZweck derNorm, einbestimmtes Rechtsgut zu schützen, erfasst werden.69 Die Zurechnung einer Rechtsgutsverletzung erfolgt in zwei Schritten. AmAusgangspunkt deräquivalenten Kausalität inderGestalt derLehre vondergesetzmäßigenBedingung wirdfestgehalten. Mhatdemnach eineUrsache fürdenTodderEhefrau gesetzt, weildieses Ereignis durch dieÜbergabe desGifts anT erklärt werden kann. Ineinem zweiten Schritt wirddieals naturalistisch angesehene äquivalente Kausalität normativen Einschränkungen unterworfen –eine Funktion, die inderZivilrechtsdogübernommen hat. NachderLehre vonderobjektiven ZuAdäquanztheorie“ matik die„ rechnung mussdieHandlung einrechtlich verbotenes Risiko füreinRechtsgut geschaffenhaben, undgerade dieses Risiko muss sich inderRechtsgutsverletzung niedergeschlagen haben.70 DieÄquivalenz derBedingungen, die diese Voraussetzungen erfüllen, bleibt indes bestehen. Sie wirdzueiner Äquivalenz derunerlaubten Risiken; eine Abschichtung zwischen verschiedenen unerlaubten Gefahren soll unmöglich sein.71 Demzufolge hatMeine (fahrlässige) Tötungshandlung vorgenommen, weilsie nicht aufeinen harmlosen Einsatz des Rattengifts vertrauen durfte.72

c) Defizite

dieser Lehre

DerLehre vonderobjektiven Zurechnung istvorzuwerfen, dass sie mitdemBegriff des unerlaubten Risikos operiert, ohne diesen Begriff zu explizieren. Eine Explikation könnte zunächst amRisiko ansetzen, zumal einRisiko ohne Inhalt schon ausbegriffstandshandlung machen. Ausführlich zurHistorie des Begriffs Christoph Hübner, DieEntwicklung Objektiv wirddieZurechnung genannt, weiles umdieobjektive man“ Zweckhaftigkeit einer Handlung geht, also darum, was„ durch ein bestimmtes Verhalten erreichen kann. Vgl. Frisch, GA2003, S. 733. –Beispiel: Werseinen Erbonkel auf eine wunschgemäß zumAbsturz führende Flugreise schickt, setzt demnach keine rechtlich relevante Gefahr. S. Lenckner (Anm. 57), Vorbem §§ 13 ff. Rn.93. Anderes soll nach Freund in: Münchener Kommentar zumStrafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, Vor§§ 13 ff. Rn. 176 dann gelten, wenn derNeffe davon gewusst hat, dass indem Flugzeug eine Zeitbombe versteckt war. DieSchutzzwecklehre stammt ursprünglich aus demZivilrecht, s. Ernst vonCaemmerer, Gesammelte Schriften, Band I, 1968, S. 395 ff., undwurde zuerst von Rudolphi (JuS 1969, S. 549 ff.) ins Strafrecht übernommen undspäter vonRoxin (Festschrift fürGallas, K.Lackner u.a. (Hg.), 1973, S. 241 ff.) weiterentwickelt. Neben demSchutzzweck derSorgfaltsnorm hatRoxin (Anm. 20), § 11 Rn.90ff. nunmehr eine weitere Kategorie eingeführt, die „Reichweite des Tatbestands“ . Damit sollen dieMitwirkung aneigenverantwortliche Selbstgefährdungen, dieeinverständliche Fremdgefährdung sowie Erfolge, dieindenVerantwortungsbereich eines anderen fallen, vonderobjektiven Zurechnung ausgenommen werden. S. statt vieler Lenckner (Anm. 57), Vorbem §§ 13ff. Rn.92 m.w.N. Dezidiert Ingeborg Puppe in:Nomos Kommentar zumStGB, Vor§ 13 Rn.163, s. ferner Rn.226. Vgl. Roxin (Anm. 20), § 24 Rn.30.Ähnlich fürdieKonstellation hintereinandergeschalteter Fahrlässigkeit: Der Besucher eines Theaters vergaß einen geladenen undungesicherten Revolver in seinem Mantel anderAbendgarderobe. EinAngestellter entdeckte dieSchusswaffe underschoss damit fahrlässig einen Kollegen. Bereits RGSt 34, S. 91 ff. hat denTheaterbesucher ebenfalls wegen fahrlässiger Tötung verurteilt; zustimmend ausheutiger Sicht etwa Freund (Anm. 12), S. 231.

derobjektiven Zurechnung, 2004.

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lichen Gründen ausgeschlossen ist.73 EinRisiko beschreibt einen bestimmten Zusammenhang zwischen derHandlung desTäters unddemtatbestandlichen Erfolg. Dieser Zusammenhang besteht fürdie Lehre vonderobjektiven Zurechnung aus deräquivalenten Kausalität, daeine Unterscheidung zwischen Ursachen undbloßen Bedingungen gerade abgelehnt wird. Das objektive Handlungsunrecht liegt folglich inder Hervorbringung eines Ereignisses, das miteiner gewissen Wahrscheinlichkeit eine Rechtsgutsverletzung bedingt.74 Eine nennenswerte Haftungsbegrenzung gegenüber derÄquivalenztheorie wirddamit nochnicht erreicht. Zwarwirddieex-post feststehendeVerursachung durch einen ex-ante Standpunkt ersetzt, aberes warauchunter der früheren Herrschaft deskausalen Verbrechensbegriffs niezweifelhaft, dass diebloße Verursachung keinHandlungsunrecht impliziert.75 Nunistes gerade dasZielderLehre vonderobjektiven Zurechnung, zwischen deneinzelnen Erfolgsbedingungen zuselektieren undzuentscheiden, obdiekonkrete Bedingung vermieden werden soll. Erst durch ihre Kennzeichnung als unerlaubt wirdaus einer infiniten, fürsich betrachtet wertindifferenten Bedingungsrelation einrechtlich missbilligter Kausalzusammenhang konstruiert. Woher aber kommt derMaßstab des Unerlaubten? Hierbei besteht zunächst dieGefahr derZirkularität. Dennobjemand eineTötungshandlung vorgenommen hat, hängt derLehre vonderobjektiven Zurechnung zufolge davon ab,obereinunerlaubtes Risiko inBezug aufdenTodeines anderen gesetzt hat. Eine Tötungshandlung liegt somit vor, wenndieentsprechende Handlung unter das Tötungsverbot fällt. M.a.W.: DieUnerlaubtheit eines Risikos wirddamit begründet, dass seine Setzung voneiner Verhaltensnorm verboten wird.76 Natürlich wirdvonniemandemausdrücklich dieUnerlaubtheit des Risikos als eineigenes Tatbestandsmerkmal angesehen. Vielmehr handelt es sichumeineabkürzende Sammelbezeichnung fürdie deskriptiven Merkmale, durch diedievomRecht als sozialinadäquat bewerteten Risiken individualisiert werden. Aufdiese Weise gerät dieobjektive Zurechnungslehre jedoch inandere Friktionen. Sie kannnicht mehrzwischen demZurechnungsgegenstand (dem Erfolgsunrecht als demzuVermeidenden) unddemZurechnungsgrund (dem Handlungsunrecht als dem Vermeidenden) trennen. Vielmehr wird der Zurechnungsgegenstand unter Rückgriff aufdenZurechnungsgrund definiert, weilErfolge, die nicht aufderSetzung eines unerlaubten Risikos beruhen, die objektive Zurechnung nicht interessieren undumgekehrt das Risiko gerade deshalb als unerlaubt ausgezeichnet wird, weiles Teileines rechtlich missbilligten Kausalverlaufs ist. Damit wirdderBegriff des unerlaubten Risikos selbstbezüglich bestimmt.77

d) Rechtsverletzung statt objektiver Zurechnung

Die Normentheorie weist den Weg zu einer Alternative. Schutzgegenstand der individualschützenden Verhaltensnormen istdassubjektive Recht. Damit istdieVerletzungdessubjektiven Rechts dasmaßgebliche objektive Kriterium. Washeißt das? Um 73 Vgl. Puppe, GA1994, S. 297, 308 f. 74 Näher dazu Haas (Anm. 42), S. 290 ff.

75

76 77

Vielmehr wardasHandlungsunrecht fürdenkausalen Unrechtsbegriff irrelevant, daes nuraufden rechtswidrigen Erfolg, also aufeinen Zustand ankam, vgl. Ernst Beling, DieLehre vomVerbrechen, 1906, S. 178 ff.; Liszt (Anm. 36), S. 134, 149; Gustav Radbruch, Der Handlungsbegriff und seine Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 130 f.; für Kindhäusers Konzept reiner Verursachungsverbote (s. Gefährdung als Straftat, 1989, S. 148) gilt dasselbe (a.a.O., S. 13). S. auchHansJoachim Hirsch in:Festschrift fürLenckner, 1998, S. 119, 136. Grundlegend Haas(Anm. 42), S. 293ff.; vgl.auchschon denVorwurf vonVogel (Anm. 12), S. 60 f., nicht zwischen Erfolgsverursachung undderVerantwortlichkeit dafür zuunterscheiden.

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

131

nocheinmal aufdasBeispiel mitdemBaumzurückzukommen, derdurch einen Sturm auf das Nachbargrundstück geworfen wurde: Die eine negatorische Haftung nach § 1004 BGBauslösende Eigentumsstörung liegt hiernicht indembloßen Faktum, dass derZustand des Grundstücks vondemWillen des Eigentümers abweicht. Dennden Baumkönnte eransichjederzeit entfernen. Allerdings kollidiert dieausdemEigentum fließende Rechtsmacht, sein Grundstück nachdemeigenen Willen gestalten zukönnen, mitdemEigentumsrecht andemfremden Baum. Dessen Eigentümer hatnach § 903BGBdieBefugnis, jeden voneiner Einwirkung aufdenBaumauszuschließen. Die

Störung des Eigentums als Recht besteht inderAusdehnung derRechtssphäre des Eigentümers des Baumes auf Kosten des Grundstückseigentümers –kurz: in der Usurpation einer fremden Rechtssphäre.78 Die Pointe dieser Auffassung liegt darin, dassderZurechnungsgegenstand erweitert wird. Zurechnungsgegenstand istnicht nur derSchaden als „nachteilige Veränderung eines gegebenen Rechtsgutsobjekts“.79 ZumErfolg gehört auchdieUsurpation einer fremden Rechtssphäre durch eine Handlung. Dennwereine rechtsgutsverletzende Handlung vornimmt, usurpiert eine fremde Rechtssphäre undverletzt dasfremde Recht alsRecht: indem erseine Handlungsfreiobjektive heitaufKosten deranderen Rechtssphäre ausdehnt.80 DieOperation, dieals„ bezeichnet wird, istalsomitderVerletzung eines subjektiven Rechts idenZurechnung“ tisch. Daher spricht alles dafür, denBegriff derobjektiven Zurechnung zuverabschiedenundstattdessen einen normativen Kausalitätsbegriff zuverwenden. Dieser Kausalbegriff mussanhand derReichweite subjektiver Rechte definiert werden. Volker Haas hatjüngst aus diesen Erwägungen heraus einen –normativen –Kausalbegriff des Bewirkens vorgeschlagen.81 Allerdings handelt es sich beidemvonHaas entwickelten Kausalitätsbegriff um einen individualisierenden Kausalitätsbegriff, derdervonderobjektiven Zurechnungslehre postulierten Gleichwertigkeit aller Erfolgsbedingungen widerstreitet. Esistander Zeit, sichvondiesem Postulat zuverabschieden, weiles derEinteilung derLebenswelt inunterschiedliche Rechtssphären widerspricht. Ihrem Wesen nachistdieÄquivalenztheorie eine kollektivistische Theorie, dennsiesetzt voraus, dassdieganze Lebenswelt . Staat“ als einer einzigen Rechtssphäre zugehörig betrachtet wird, derdes Leviathan „ NurfürdenInhaber einundderselben Rechtssphäre zählt jedes Ereignis gleich.82 Demgegenüber gibtes unzählige Bedingungen eines eingetretenen rechtlich missbilligten Erfolgs, deren Setzung (noch) nicht eine Missachtung des subjektiven Rechts des

78 So Haas (Anm. 42), S. 99 ff. unter Bezugnahme auf Eduard Picker, Der negatorische BeKommentar Staudingers BGB, 12. in: seitigungsanspruch, 1972, S. 51 undKarl-Heinz Gursky zum

Aufl. 1989, § 1004 Rn. 17 ff. 79 Puppe (Anm. 71), Vor§ 13 Rn. 76. 80 S. Haas (Anm. 42), S. 102. 81 Haas(Anm. 42), S. 184ff.; dadieAusschlussfunktion dessubjektiven Rechts nurdieKehrseite ihrer Nutzungsfunktion ist, muss seiner Meinung nachdieAbleitung ampositiven Zuweisungsgehalt der

82

jeweiligen Rechtspositionen ansetzen. Dieser positive Zuweisungsgehalt umfasst insbesondere auch die Befugnis, durch eine determinierende Einwirkung denZustand derbetroffenen Rechtssphäre zuverändern. Diese determinierende Einwirkung kann wissenschaftstheoretisch als Prozess derEnergieübertragung beschrieben werden. DieAussonderung allgemeiner, vonjedem zu tragender Lebensrisiken könnte durch diesen Kausalbegriff ohne weiteres abgebildet werden, da insoweit auchkeinsubjektives Recht betroffen ist. Gegenüber diesem Vorschlag istmiteinem Einwandzurechnen, derschon denindividualisierenden Kausalitätstheorien sowie derAdäquanztheorievorgehalten wurde: Sie belasteten dieKausalitätsfrage unzulässig mitnormativen Erwägungen, vgl.Roxin (Anm. 20), § 11Rn.6 und36.Angesichts derAlternative derwegen ihrer Uferlosigkeit als unzureichend angesehenen Äquivalenztheorie besitzt diese Kritik keine hohe Überzeugungskraft. Haas in:Kaufmann/Renzikowski (Anm. 46), S. 219.

132

Joachim Renzikowski

Geschädigten darstellt, obwohl sieverboten ist. Umaufden„ zurückzuGiftmord-Fall“ kommen: Dadurch, dass MdemT dasTatmittel beschafft hat, hatsie nochnicht das subjektive Recht derEhefrau aufLeben verletzt. Ohnehin istes höchst bemerkenswert, wielange sicheine Kausalitätstheorie schon amLeben hält, dieals Fundament eines extensiven Täterbegriffs fungierte.83 Dieser extensive Täterbegriff widerspricht dem geltenden Strafrecht, namentlich derAusdifferenzierung inverschiedene Beteiligungsformen durch die §§ 25 ff. StGB.84 DieOrientierung amsubjektiven Recht ermöglicht es auch, denBegriff derTatzu definieren. BeiderTat, diezugerechnet werden soll, handelt es sich umeine Verhaltensweise, beiderdie Rechtsmacht des beeinträchtigten subjektiven Rechts hinreichend ist, umdemTäter denVollzug derHandlung zuuntersagen.85 Tatistdemnach nurdasunmittelbare rechtsgutsverletzende Geschehen. Einedarüber hinausgehende Zurechnung benötigt zusätzliche Rechtsgründe, damit derTäter, dernicht inpersona die Ursache gesetzt, d.h. das subjektive Recht als Recht verletzt hat, so behandelt werden kann, als oberunmittelbar indiefremde Rechtssphäre eingegriffen hätte (vgl. etwa die Differenzierung zwischen mittelbarer undMittäterschaft in§ 25 StGB).86 Also hatsich Mim„ Giftmord-Fall“ entgegen dernahezu einhelligen Ansicht nicht wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht, dennihrVerhalten stellt nochkeine Missachtung des Lebensrechts desOpfers dar. Dieherkömmliche Lösung ignoriert außeranders alsetwanach dem,dass fahrlässige Beihilfe nachdemStGBnicht strafbar ist– demösterreichischen Strafrecht, daseine ausdrückliche Regelung enthält.

83 Vgl. Maximilian vonBuri, ZurLehre vonderTheilnahme andemVerbrechen undderBegünstigung, 84

85

86

1860, S. 21.

Gleichwohl legt die h.L. den Fahrlässigkeitsdelikten nach wie vor einen extensiven Täterbegriff s. statt vieler Roxin (Anm. 20), § 24 Rn.27 m.w.N. – , unddas, obwohl sichVorsatz- und zugrunde – Fahrlässigkeitstat nicht inderverletzten Verhaltensnorm, sondern nurinderZurechnungsstruktur unterscheiden. Näher dazu Renzikowski (Anm. 66), S. 169ff. Haas in:Kaufmann/Renzikowski (Anm. 46), S. 220. DerVorwurf dernormativen Unterbestimmtheit, denHaas (Anm. 42), S. 31ff.gegenüber Hruschka erhebt, wäre damit entkräftet. WieHruschka in: Theorie derInterpretation vomHumanismus bis zurRomantik –Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, J. Schröder (Hg.), 2001, S. 203 ff. nachgewiesen hat, hingjedoch derZurechnungsbegriff der Naturrechtslehre derAufklärung keineswegs in der Luft, unddie Zurechnung fand nicht im (straf-)rechtsfreien Raumstatt. Vielmehr warbekannt, dass das (Straf-)Gesetz die maßgeblichen Gesichtspunkte fürdieAuswahl undDeutung derzuimputierenden „ liefert, s. etwa Kant, Nachfacti“ schrift zuKants Vorlesung überPraktische Philosophie imWintersemester 1793/94 vonVigilantius, in:Kants gesammelte Schriften, hrsg. vonderAkademie derWissenschaften zuGöttingen, Bd.27/ 2, 1, 1975, S. 475, 563: „ BeyAusmittelung dercircumstantiarum infacto istes, umdiemomenta in facto zufinden, schon nöthig, aufdasGesetz Rücksicht zunehmen, da,wenngleich dasGesetz hier nochnicht imputirt wird, es dochzurvölligeren Bestimmung derfacti selbst beyträgt.“ Freilich haben diedamaligen Autoren dabei nochnicht indenKategorien dessubjektiven Rechts gedacht. Zuderartigen Gründen näher Renzikowski, Täterbegriff (Anm. 66), S. 70 ff.; die Absage an den Begriff derobjektiven Zurechnung istdeshalb mehralseine bloße Frage derÄsthetik. Dennwährend dieh.L. wegen deruferlosen Weite deräquivalenten Kausalität gezwungen ist, nach besonderen Gründen zusuchen, dieeine Strafbarkeit beschränken, wirddieArgumentationslast nunumgekehrt: Essindbesondere Gründe erforderlich, umeine Ausdehnung derHaftung zubegründen. Imübrigen istes bemerkenswert, dass eingroßer TeilderFälle, dievonderLehre derobjektiven Zurechnung abgehandelt werden, Konstellationen betreffen, indenen mehrere Personen indieRechtsgutsverletzung involviert sind, vgl. auch Manfred Maiwald in:Festschrift fürMiyazawa, H.-H. Kühne (Hg.), , s. Abgrenzung des Verantwortungsbereichs“ 1995, S. 465, 480 f., sowie dieDiskussion überdie„ Lenckner (Anm. 57), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 100 ff.; weil aber die meisten Taten in diesem Bereich fahrlässig begangen werden, verstellt sich die h.L. denBlick darauf, dass es sich tatsächlich um Fälle mittelbarer Täterschaft handelt, s. hierzu Renzikowski, a.a.O., S. 272 ff.

Normentheorie

133

undStrafrechtsdogmatik

3. Rechtswidrigkeit undSchuld Dieletzte Auswirkung, dieichansprechen möchte, betrifft dieUnterscheidung vonUnrecht undSchuld. Wersichandiese Thematik wagt, mussfreilich miteinem allgemeinenAufschrei rechnen, gilt dieUnterscheidung vonUnrecht undSchuld dochals die hervorragende Leistung der deutschen Strafrechtsdogmatik.87 Die heute vorherrschende personale Unrechtslehre begründet die Unterscheidung normtheoretisch. Unrecht sei nicht dieVerursachung eines rechtlich missbilligten Erfolges, sondern die Übertretung einer Bestimmungsnorm.88 Angestoßen durch diefinale Handlungslehre wurde deshalb derVorsatz, dernach demklassischen Verbrechensbegriff noch ein Schuldmerkmal war, als Träger des Handlungsunwerts zueinem Unrechtsmerkmal umgedeutet. Alsmateriales Schuldelement verbleibt die Fähigkeit zunormgemäßer Motivation.89

a) DerStreit umdasAdressatenproblem DieFrage, obes schuldloses Unrecht, verstanden als Übertretung einer Verhaltens-

normgibt, betrifft dasklassische Adressatenproblem derImperativentheorie undwarim 19.Jahrhundert undnochbisMitte des20.Jahrhunderts Gegenstand heftiger Ausein... andersetzungen. ImKapitel überdieGegenstände des Rechts schreibt Bentham: „ theagible subject intended could benoneother thana being which atthesametimethat it is capable of being influenced bythe willof the legislator is capable of contributing to 90DerAdressat derNormmussfolglich nicht theproduction oftheeffects inquestion ...“ nurinderLage sein, denvomGesetzgeber gewünschten Effekt hervorzubringen. Erforderlich istzuvor, dass derAdressat überhaupt vondemWillen des Gesetzgebers, d.h. vondemNormbefehl beeinflusst werden kann. Ohne dass Bentham dies näher ausführt, scheidet somit als Normadressat aus, werdieNormnicht kennen kannoder wertrotz Kenntnis derNormvonihrnicht beeinflusst wird. Denselben Standpunkt nimmt Binding ein. Unzurechnungsfähige sindkeine Adressaten derNorm. Folglich kannes schuldloses Unrecht, verstanden als Übertretung einer Verhaltensnorm nicht geben.91 objektiver Unrechtsbegriff“ , wurde bemerkenswerterweise Die Gegenposition, ein „ ebenfalls voneinem Imperativentheoretiker vertreten. So versteht Thon zwar, wie

87 S. Hans Welzel, JuS 1966, S. 421. Indiesem Zusammenhang Differenzierung zwischen rechtfertigendem

wirdgernaufdieHerausbildung der Notstand umdieSchwelle vom

undentschuldigendem

19. zum20. Jahrhundert verwiesen. Näher dazu Küper, JuS 1987, S. 81 ff.; Roxin, JuS 1988, S. 425ff. Dabei wirdgeflissentlich übersehen, dass schon diebereits angesprochene, inderTradition Pufendorfs entwickelte Zurechnungslehre dieentsprechenden Kategorien bereitstellte. Manunterschied drei Schritte voneinander: imputatio facti –applicatio legis adfactum –imputatio iuris. Der Pufendorf-Schüler Joachim Georg Daries (Observationes Juris Naturalis Socialis etGentium, Vol.II, 88

XXII) verfügte sogar schon über die Begriffe eines recht1754, Obs. LI, §§ I, IV, V, X, XV, XX– fertigenden undeines entschuldigenden Notstands, näher dazuHruschka, GA1991, S. 1, 6 f. Vgl. Lenckner (Anm. 57), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 49, 52, 54/55; Roxin (Anm. 20), § 10 Rn. 93; Zielinski

(Anm. 42), S. 127. 89 Vgl. Lenckner (Anm. 57), Vorbem §§ 13 ff. Rn. 118; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 138. 90 Bentham (Anm. 2), S. 48 (V.10; s. ferner V.11) 91 Binding, Normen I (Anm. 4), S. 135ff.; ders., Handbuch (Anm. 13), S. 158f.; füreinen subjektiven Unrechtsbegriff ferner Hold von Ferneck (Anm. 40), S. 179 ff.; Adolf Merkel, Kriminalistische Abhandlungen. BandI: ZurLehre vondenGrundeinteilungen des Unrechts undseinen Rechtsfolgen, 1867, S. 42 ff., 49.

134

Joachim Renzikowski

Bentham, das gesamte Recht als einen Komplex vonImperativen, die sich an den Willen derEinzelnen richten. Gleichwohl meint erimAnschluss anJhering92, dass der Unrechtsbegriff nachderRechtsfolge bestimmt werden müsse. Maßgeblich sei, obdie Rechtsfolge auchschuldlos Handelnde treffen könne. DaNotwehr auchgegenüber Unzurechnungsfähigen zulässig sei,müssten siefolgerichtig Adressaten derVerbotsnorm sein.93 Dass beide Auffassungen einen berechtigten Kernhaben, wirddeutlich inder Stellungnahme vonNagler, derdemsubjektiven Rechtswidrigkeitsbegriff zubilligt, die logischen Trümpfe inder Handzu haben, derobjektive Rechtswidrigkeitsbegriff sei dagegen imBesitz der Wahrheit.94

Die Auseinandersetzung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Rechtswidrigkeitsbegriff beruht aufeiner Vermischung derGewährleistungs- mitder Schutzfunktion der Rechtsordnung. Wenn manden Imperativen eine distributive wiewirbereits gesehen haben –zueiner Friktion: Der Funktion zuweist, soführt das– Schutzumfang des subjektiven Rechts undder Grundsatz „ impossibilium est nulla lassen sich nicht harmonisieren. Dieser Friktion kann mannurentgehen, obligatio“ indem mandieRechtszuweisung vonderansieanknüpfenden, ihrabernicht invollem Umfang deckungsgleichen Verhaltensnorm abschichtet. Dieser Ausweg wurde bereits früherkannt. Umzwischen derobjektiven Rechtswidrigkeit unddersubjektiven Pflichtwidrigkeit zuunterscheiden, entwickelte etwa Goldschmidt dieTrennung derRechtsnorm, dievomNormadressaten einbestimmtes äußeres Verhalten verlange, vonder Pflichtnorm, nachderdas innere Verhalten so einzurichten sei, dass denAnforderungenderRechtsnormen entsprochen werde.95 Nach Mezger bestand das Unrecht im Widerspruch zueiner adressenlosen Bewertungsnorm, dieervonderdarauf aufbauenden Bestimmungsnorm unterschied.96

b) DerBegriff derRechtswidrigkeit inderaktuellen

Diskussion

Dieheutige Diskussion desRechtswidrigkeitsbegriffs befindet sichmethodisch aufdem

NotwehrStand vonvor100Jahren. WenndieDefinition derRechtswidrigkeit mitder„ probe“ verbunden wird, d.h. derFrage, obeinvonderentsprechenden Handlung Betroffener legitimerweise ein Recht auf Verteidigung haben sollte97, dann wird jede Theorie über die strafrechtliche Abgrenzung vonUnrecht undSchuld zugleich eine

Theorie über die Reichweite individueller Abwehransprüche. Es ist aber nicht die Aufgabe desStrafrechts, Rechtssphären voneinander abzugrenzen. Vielmehr schließt es akzessorisch aneine vorausgesetzte Rechtszuweisungsordnung an,diedurch die Androhung vonSanktionen garantiert werden soll. UnddaderGewährleistungsumfang subjektiver Rechte nicht vonder Reichweite derVerhaltensnormen bestimmt wird, hängt derdefensive Rechtsschutz schon garnicht vonderÜbertretung einer Verhaltensnorm ab. Es bleibt dabei: DaVerhaltensnormen nicht etwas Unmögliches verlangendürfen, kommt derSchuld neben demUnrecht, versteht manes als Übertretung einer Verhaltensnorm, keine darüber hinausgehende Bedeutung zu. Eine schuldlose

92

Jhering,

DasSchuldmoment imrömischen

Privatrecht, 1867,

S. 4 ff.

93 Thon (Anm. 3), S. 76 ff., insbes. 89 m. Fn. 36. 94 Nagler (Anm. 23), S. 336. 95 James Goldschmidt, DerNotstand, einSchuldproblem, 1913, S. 17; ders. in: Festgabe fürFrank, Bd. I, 1930, S. 428, 433 ff.; ähnlich Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 43 f. 96 Edmund Mezger, GS 89 (1924), S. 207, 240. 97 Vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 239, 271; Roxin (Anm. 20), § 14 Rn. 93, § 15 Rn. 14, 18, 20.

Normentheorie

undStrafrechtsdogmatik

135

Übertretung einer Verhaltensnorm gibtes nicht. Weranderes meint, gehtinWirklichkeit voneinem Gesetzgeber aus,derSelbstgespräche führt. Verhaltensnormen richten sich nicht anUnzurechnungsfähige oderanjemanden, dendieNormnicht motivieren kann, weilersich ineiner existenzbedrohenden Notlage befindet.98 Dannwirdnämlich auch in§ 35 StGB verständlich, was mitder„ Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ gemeint ist. Indendort beschriebenen Konstellationen wirddie öffentlich-rechtliche

Verhaltensnorm zurückgenommen.99 DerGleichsetzung vonSchuld undBestimmungsnormwidrigkeit wirdeinVerstoß gegen dieLogik vorgehalten. Unrecht (als Verstoß gegen eine Bestimmungsnorm) sei derGegenstand, dervorgeworfen werde, Schuld sei der(Zurechnungs-)Grund für diesen Vorwurf. Somit könne das Unrechtsbewusstsein nicht zugleich zumGegenstand des Vorwurfs gehören.100 Daran ist richtig, dass die Existenz einer Verhaltensnormnicht vonderErkenntnis desNormadressaten abhängt: Niemand kannsichsein eigenes Recht schaffen. Aberdarum geht es nicht. Wennwireinen rationalen Normgeber voraussetzen, steht dieVerhaltensnorm a priori unter derPräsupposition, dass es demNormadressaten inderkonkreten Situation möglich ist, sichanihrzuorientieren. Jemand dernicht dazuinderLage ist, handelt weder verboten, nocherlaubt. Er handelt vielmehr außerhalb derVerhaltensnorm, weildie Normgleichsam ins Leere geht. Unzutreffend istdieAnsicht Roxins, dass sichdieBestimmungsnormen auchan Schuldunfähige richteten, weil sie sich inderRegel ebenfalls durch Rechtsnormen motivieren ließen.101 Damit setzt ersichinWiderspruch zuseiner eigenen Definition der .102IndenFällen des Schuld als„ unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit“ § 20StGBfehlt es gerade andieser normativen Ansprechbarkeit, sodass einäußerlich derNormentsprechendes Verhalten reiner Zufall ist. Was bedeutet die Rechtswidrigkeit, vonderdas Gesetz als Voraussetzung der Maßregeln gegen Schuldunfähige ausgeht, dann? Zunächst einmal müssen Unzurechnungsfähige nicht als Adressaten vonBestimmungsnormen eingestuft werden, um 98 Ebenso Freund in: MüKo-StGB (Fn. 68), Vor§§ 13 ff. Rn. 215, 244; Santiago MirPuig, ZStW 108 (1996), S. 759, 775 ff., 781; Heiko H. Lesch, DerVerbrechensbegriff, 1999, S. 203 ff., 217 ff.; Otto, ZStW 87 (1975), S. 539, 547 f., 571 f. 99 Näher dazu Michael Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 329 ff.; Renzikowski, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 269, 284. 100 Armin Kaufmann in: Festschrift fürWelzel, G. Stratenwerth u.a. (Hg.), 1974, S. 393, 396 Fn. 4;

Reinhard Maurach/Karl-Heinz Gössel/Heinz Zipf, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Tb.2, 7. Aufl. 1989, § 43 Rn.2 ff.; Renzikowski, Täterbegriff (Anm. 66), S. 236f.; Schünemann, in:Bausteine deseuropäischen Strafrechts, Schünemann/J. de Figueiredo Dias (Hg.), 1995, S. 149, 166. InderSache besteht keinUnterschied zurvonArmin Kaufmann, Lebendiges undTotes inBindings Normentheorie, 1954, S. 138f., 160ff.vorgeschlagenen Differenzierung zwischen deranalle adressierten Norm undderimEinzelfall daraus abgeleiteten Pflicht, diedieErkennbarkeit derNormsowie dieFähigkeit

zurWillensbildung nach dererkannten Pflicht voraussetzt. Vgl. auch UrsKindhäuser (Anm. 75), Dasrechtlich Richtige istkeine Funktion derFähigkeit, das rechtlich Richtige indieTatumS. 18:„ Kindhäuser schlägt deshalb einKonzept objektiver Verursachungsverbote vor(S. 16mit zusetzen.“ Fn. 17, 95, 148) unddifferenziert zwischen der(objektiven) Normwidrigkeit undder(subjektiven) Pflichtwidrigkeit (S. 13). Dieser Ansatz hatweitere Gefolgschaft gefunden, s. Friedrich Toepel, Kausalität undPflichtwidrigkeitszusammenhang beimfahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992, S. 16ff.; Vogel als Meta-Ver(Anm. 12), S. 41 ff.; gegen diese Theorie isteinzuwenden, dass durch diePflichten – diezuvor ausgehaltensnormen, diedieBindung andieobjektiven Verursachungsverbote regeln – schlossene Subjektivierung dochwieder indas Normengefüge eindringt: Wennnureine pflichtwidrige Schädigung dieRechtsgüterzuordnung tangiert, wirddassubjektive Recht unzulässig verkürzt, s. Haas (Anm. 42), S. 108; weitere Kritik bei Renzikowski, Täterbegriff (Anm. 66), S. 256 ff.

101 Roxin (Anm. 20), § 10 Rn. 93. 102 Roxin (Anm. 20), § 19 Rn. 36.

136

Joachim Renzikowski

defensiven Rechtsschutz gewährleisten zukönnen.103 DieRechtswidrigkeit alsVoraussetzung vonMaßregeln meint einen störenden Zustand, derderAllgemeinheit einen abstrakt negatorischen Rechtsschutz vermittelt. Jedes handlungsfähige Rechtssubjekt muss, sofern ihmgemäß Art.2 GGHandlungsfreiheit zugewiesen wird, garantieren, dass diese Handlungsfreiheit nicht überschritten, m.a.W. dass derdurch dieVerhaltensnormen beschriebene Standard eingehalten wird.104 Ihrem Rechtsgrund nachhandelt es sichbeidenMaßregeln umpolizeirechtliche Maßnahmen derGefahrenabwehr, die lediglich aushistorischen Gründen demStrafrecht zugeordnet worden sind.105 VordiesemHintergrund erweist sichdasAdressatenproblem als einScheinproblem. MitdemNotwehrrecht verhält es sich etwas anders. Das Recht kennt nicht nur rechtswidrige Zustände als Folge derVerletzung vonBestimmungsnormen. Es kennt –wiebereits erwähnt –auchrechtswidrige Zustände alsAnknüpfung fürdieBefugnis, diese zubeseitigen bzw. zuverhindern. Indiesem Sinne ist ein rechtswidriges Verhalten einVerhalten, dasobjektiv derGüterdistribution widerspricht unddaher derBerechtigte nicht zudulden braucht. Derdefensive Schutz subjektiver Rechte setzt keine Verhaltensnormverletzung voraus.106 Ob die Störung des Zuweisungsgehaltes der Rechtsordnung aufderVerletzung einer Verhaltensnorm beruht, ist lediglich fürdie Reichweite derAbwehrbefugnisse relevant. Indiesem Sinnwirdvorgeschlagen, das d.h. aufverhaltensnormwidrige –Angriffe zu rigorose Notwehrrecht aufschuldhafte – beschränken.107 DieEmphase, mitderdievorherrschende Auffassung das Notwehrrecht auchgegenüber schuldlosen Angriffen betont, steht ineinem bemerkenswerten Kontrast zurEinschränkung derzulässigen Verteidigung mithilfe der Kategorie der „ sozialethischen Notwehrschranken“, die der Sache nach auf den Umfang der Defensivnotstandsbefugnis hinausläuft.108

IV. Fazit

Ichhoffe, dass dasPotential derNormentheorie fürdieStrafrechtsdogmatik, aberauch ihre Grenzen deutlich geworden sind. Nurunter Rückgriff aufdieNormentheorie lässt sichnicht begründen, welches Verhalten strafbar seinsoll, oderumfassender: wodie Grenzen des staatlichen Strafrechts liegen. Die Normentheorie liefert ebenfalls kein Argument fürGrund undGrenzen desentschuldigenden Notstands oderetwadafür, ob diefahrlässige Förderung einer fremden Haupttat strafwürdig ist. DieNormentheorie erschließt dasStrafrecht vonInnen. IhrNutzen ist,dass sieeine Analyse dogmatischer Strukturen undeine Kritik derBegründung dogmatischer Sätze ermöglicht –inbester rechtstheoretischer Tradition, wasangesichts ihres Schöpfers Jeremy Bentham nicht verwundern dürfte. Aufdiese Weise werden Scheinprobleme entlarvt, andererseits aberauchBegründungslasten aufgedeckt. Schließlich bietet die Normentheorie auch eine Chance zurVerständigung imeuropäischen Strafrechts103 Entgegen Roxin (Anm. 20), § 10 Rn. 93. 104 Haas (Anm. 42), S. 88. 105 S. Freund in: MüKo-StGB (Anm. 68), Vor §§ 13 ff. Rn. 96 ff.; vgl. dagegen BVerfG, NJW 2004, S. 739, 745 ff.; S. 750 ff. (zur Sicherungsverwahrung).

106 ZurBegründung einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis s. Renzikowski, Notstand (Anm. 40),

S. 43 ff., 243 ff. m.w.N.; die h.L. behandelt den Defensivnotstand als Ausprägung des § 34 StGB, vgl. Roxin (Anm. 20), § 16 Rn. 63 ff. 107 S. etwa Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 139 ff.; Jakobs (Anm. 42), 12/18; Renzikowski, Notstand (Anm. 40), S. 283 ff. 108 S. statt vieler Roxin (Anm. 20), § 15 Rn. 19, 20, 57 f. m.w.N.

Normentheorie

137

undStrafrechtsdogmatik

–Bentham schrieb Hart diese Tradition fort.109

diskurs

inderenglischen

Rechtstradition; heutzutage setzt etwa

Kurz: DieNormentheorie als Metatheorie setzt dieStrafrechtsdogmatik Licht. Erst dannkönnen wirsehen, obdieDogmatik schön ist.110

insrechte

109 AuchHartunterscheidet inderTradition Benthams zwischen Verhaltens- undSanktionsnormen. Die , primary rules“ , dieSanktionsnormen zuden„secondary rules“ Verhaltensnormen gehören zuden„ s. Hart(Anm. 12), S. 34f.,97f.;näher dazuRenzikowski (Anm. 2),S. 11f.;diegegenteilige Deutung findet sichetwa beiRöhl (Anm. 6), S. 192; sie dürfte auchdenAusführungen vonStemmer in:Leist (Anm. 15), S. 53 ff.zugrunde liegen. 110 ZurÄsthetik als Kriterium fürjuristische Richtigkeit Joachim Lege, Pragmatismus undJurisprudenz, 1999, S. 563 ff.

Frank Saliger*

Rechtsphilosophische Probleme derRechtsbeugung I. DerBeziehungsreichtum derRechtsbeugung Nach§ 339 StGB wirdeinRichter, Amtsträger oderSchiedsrichter mitFreiheitsstrafe voneinem Jahr bis zufünf Jahren bestraft, wenn er sich bei derLeitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zumNachteil einer Partei einer BeugungdesRechts schuldig macht. Indieser Fassung zählt dieRechtsbeugung zuden beziehungsreichsten Delikten desStrafgesetzbuchs. DieRechtsbeugung istzunächst das Standesdelikt des Richters. Standesdelikte sind Professionsdelikte. Für Profesisttypisch, daßsie (zumindest alsverfolgte undabgeurteilte) nicht innennenswertem Umfang inErscheinung treten. Ihnen eignet vorallem eine symbolische Bedeutung: Ärzte dürfen Leib undLeben ihrer Patienten nicht gefährden (§§ 223 ff., 211ff.StGB), Lehrer ihre Schüler nicht verführen (§ 174StGB), Anwälte ihre Mandantennicht verraten (§ 356 StGB); genauso dürfen Richter das Recht nicht beugen.1 Da

siondelikte

Pro-fessionen vonspezifischen Vertrauenskapitalen zehren, steht das enttäuschte Vertrauen, dasdas Professionsdelikt kriminalisiert, imBlickpunkt nicht nurderProfessionsmitglieder. Schon imAlten Testament wirdgedroht: „ Verflucht sei, werdasRecht des Fremdlings, des Waisen undderWitwe beugt!“ .2 DasVertrauensverhältnis, dasderrechtsbeugende Richter enttäuscht, istvonbesonderer Qualität. Anders als bei Vertrauensverletzungen vonÄrzten, Lehrern und Anwälten, diezentral auchindividuelles Vertrauen enttäuschen, enttäuscht derrechtsbeugende Richter primär kollektiv-staatliches Vertrauen. Unsere Verfassung vertraut demRichter die rechtsprechende Gewalt an (Art. 92 GG). DerVertrauensvorschuß geht so weit, daß die Verfassung dem Richter eine unabhängige Professionsausübung garantiert (Art. 97 Abs. 1 GG). Die herausgehobene Stellung der Richterschaft als staatstragende Profession hatallerdings ihren Preis. Werdasverfassungsrechtlich begründete Vertrauensverhältnis enttäuscht, indem er Recht beugt, dermußmit scharfen Konsequenzen rechnen. So istdie Rechtsbeugung als Verbrechen unddamitschwerste Deliktsform ausgestaltet. Zudem verliert derRichter beiVerurteilung zu einer Freiheitsstrafe vonmindestens einem Jahr automatisch sein Amt(§ 45 Abs. 1

StGB).

InderTatgehtes fürdasRecht beiderRechtsbeugung umsGanze. Dasspiegelt die kollektive Bestimmung des Rechtsguts wider. Einhelligkeit besteht darin, daß Rechtsgut derRechtsbeugung jedenfalls (auch) dieinnerstaatliche Rechtspflege ist.3 DieHerrschaft desRechts, dieGeltung derRechtsordnung unddasVertrauen derBevölkerung ineiner demRecht gemäßen Rechtsanwendung sollen geschützt werden.4 * 1 2 3 4

Lehrstuhl fürStrafrecht undStrafprozeßrecht anderBucerius LawSchool zuHamburg Vgl. Röhl, Fehler in Gerichtsentscheidungen, in: Die Verwaltung, Beiheft 5 (2002), S. 95. 5. Buch Mose, Kap. 27, Vers 19. Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 339 Rz 1; Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 339 Rz2; LK-Spendel, StGB, Stand: 11. Aufl. 1999, § 339 Rz 5 ff.; NK-Kuhlen, StGB, Stand: 31.03.2003, § 339 Rz 12; SK-Rudolphi/Stein, StGB, Stand: 58. Lfg. September 2003, § 339 Rz 2 a. Oppenheim, Die Rechtsbeugungsverbrechen (§§ 336, 343, 344) des deutschen Reichsstrafgesetzbuches, 1886, S. 86 ff.; Bemmann, ZumWesen der Rechtsbeugung, GA1969, 67; Rudolphi, Zum Wesen derRechtsbeugung, ZStW82 (1970), S. 627; Schreiber, Probleme derRechtsbeugung, GA 1972, S. 197; Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, 1982, S. 67; Tröndle/Fischer,

§ 339 Rz 2; NK-Kuhlen, § 339 Rz 13; SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 2 a.

Rechtsphilosophische Probleme

derRechtsbeugung

139

In dieser überindividuellen Rechtsgutsbestimmung wird das ubiquitäre Unrecht der Rechtsbeugung deutlich. Der rechtsbeugende Richter verletzt nicht nur Individualinteressen derBetroffenen, wiees dasgesetzliche Erfordernis derRechtsbeugung zugunsten oderzumNachteil einer Partei zumindest reflexartig zumAusdruck bringt.5 DerRichter greift vorallem dasRecht selbst an,undzwarineiner doppelt gefählichen Weise. Gefährlich istzumeinen derAngriffsweg. Derrechtsbeugende Richter greift dasRecht voninnen heraus an.Seine Umdeklarierung vonUnrecht inRecht ist deshalb besonders gefährlich, weilsie imGewand desRechts unddamit unverdächtig auftritt.6 Gefährlich sind zumanderen die Dimensionen derRechtsbeugung. Rechtstheoretisch gesehen stellt derrechtsbeugende Richter dieSicherheit (undIdentität) des Rechts inFrage. Staatstheoretisch betrachtet bedroht derrechtsbeugende Richter die Gewaltenteilung, wenner sich außerhalb des Rechts Kompetenzen vonLegislative oder Exekutive anmaßt.7 DieStrafbarkeit derRechtsbeugung als ultima ratio gehört damit zujenen Instrumenten des Rechts, mitdenen es sich selbst schützen will.

Sosingulär dasVertrauenskapital derRichterprofession ist,sosingulär istauchdie

Kontrolle richterlicher Rechtsverletzungen. WennÄrzte, Pädagogen undAnwälte das rechtsgutsrelevant enttäuschen, dann entscheiden nicht Klienten“ Vertrauen ihrer „ Ärzte, Pädagogen oder Anwälte über ihre Kollegen, sondern Richter. Genau jene Richter sindes auch, dieüberRechtsbeugungen vonRichtern entscheiden. Dasfolgt

aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsprechungsmonopol. Entscheidungen zur Entscheidungen ineigener Sache“ Rechtsbeugung sindgleichsam „ . Kurzum: DiePro-

fession

kontrolliert

sich selbst.

DaßdieRechtsbeugung imdemokratischen Rechtsstaat bislang einSchattenda-

sein geführt hat, dürfte auchmitdieser justiziellen Selbstkontrolle zusammenhängen. Fürmanchen Bürger wieauchfürmanchen Rechtsanwalt magaufgrund negativer Erfahrungen dieRechtsbeugung einständiger Begleiter derRechtsanwendung auchim Rechtsstaat sein. Die Richterschaft dagegen tendiert dazu, angeklagte Rechtsbeugungsfälle imRechtsstaat als vereinzelte „ zumarginalisieren undzu Betriebsunfälle“ entkriminalisieren. Fürsie ist die Rechtsbeugung imRechtsstaat einMythos.8 Zumpraktischen Problem gerät die Rechtsbeugung allerdings imUnrechtsstaat. WennRichter eines nachfolgenden Rechtsstaates dasvonRichtern eines Unrechtsstaates massenhaft gesprochene Unrecht strafrechtlich zu würdigen haben, dann scheint die Rechtsbeugung aus ihrem Schattendasein heraustreten zumüssen. Die bundesdeutsche Strafjustiz hatte sich imvergangenen Jahrhundert zweimal mitEntscheidungen vonRichtern aus Diktaturen zubefassen: Nach1945 mitderNS-Justiz undnachderWiedervereinigung 1990 mitderJustiz imSED-Staat. Daßdiestrafrechtliche Verfolgung vonNS-Justizunrecht fehlgeschlagen ist, ist heute unstreitig.9 Auch der Bundesgerichtshof hat das voreinigen Jahren selbstkritisch zugegeben.10 Dar5

So die h.M.: BGHSt 40, 272, 275; NK-Kuhlen, § 339 Rz 15; Tröndle/Fischer, § 339 Rz 2; Lackner/ Kühl, § 339 Rz 1; SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 2 a. Für einen eigenständigen Individualschutz

dagegen LK-Spendel, § 339 Rz 7; Scholderer, Rechtsbeugung imdemokratischen Rechtsstaat, 1993, S. 106 ff. (130 ff., 187 ff., 192 ff.). 6 Vgl. LK-Spendel, § 339 Rz 7, 9; SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 3; Behrendt, Die Rechtsbeugung, JuS 1989, S. 946. 7 Scholderer (Fn. 5), S. 95 ff., 132 ff. 8 Vgl. Scholderer (Fn. 5), S. 574 ff. und613 ff. 9 LK-Spendel, § 339 Rz 11 ff.; NK-Kuhlen, § 339 Rz 5 f.; Quasten, Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR, 2003, S. 13, 16 ff., 272 ff.; Bemmann, Zu aktuellen Problemen derRechtsbeugung, JZ 1995, S. 123f. 10 BGHSt 40, 30, 40.

140

Frank Saliger

über, obdieses Urteil auch aufdie mittlerweile abgeschlossene Strafverfolgung des DDR-Justizunrechts zutrifft, gehen dieMeinungen auseinander.11 Darauf wirdzurückzukommen sein. Festzustellen bleibt, daß die jüngere deutsche Geschichte die Rechtsbeugung zweimal indenFokus derrechtlichen, gesellschaftspolitischen und moralischen Frage gerückt hat, wiemitderjustiziellen Funktionselite untergegangenerDiktaturen umzugehen ist. Angesichts dieses Beziehungsreichtums verwundert es nicht, daßdieRechtsbeugung auch rechtsphilosophische Probleme aufwirft.12 Ichverstehe hier unter einem rechtsphilosophischen Problem eines dogmatischen Instituts solche Fragen, dieüber denBinnenhorizont desjeweiligen Dogmatikbereichs hinaus aufallgemeine Fragen des Rechts undseiner Anwendung verweisen. Ichunterscheide also nicht zwischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Aufdieser Basis möchte ichimfolgenden dreirechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung vorstellen: Zunächst untersuche ich, wasdie Rechtsphilosophie zur Aufhellung derTathandlung „ Rechtsbeugung“leisten kann. Es geht umdie Frage, wannRecht gebeugt ist (unten II). Danach beschäftige ichmichmitderRechtsbeugung imUnrechtsstaat. Gefragt wird, ob „ imSinne derRechtsbeugung auch Recht“ überpositives Recht einschließt, undob Richter, die gegen übergesetzliches Recht judiziert haben, denobjektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen (unten III). Schließlich streife ich knapp die Frage, wie die strafjuristische Aufarbeitung des Justizunrechts inderDDRrechtsphilosophisch einzuordnen ist (unten IV).

II. Rechtsphilosophie undRechtsbeugungshandlung

ImSchrifttum zur Rechtsbeugung streiten imwesentlichen drei Theorien über die Frage, wann ein Richter das Recht beugt. Die herrschende Meinung vertritt eine objektive Theorie. Danach istdasRecht gebeugt, wennderRichter dasRecht objektiv falsch anwendet.13 Demgegenüber stellt eine subjektive Theorie aufdenWiderspruch zwischen richterlicher Überzeugung und Rechtsanwendung ab. Das Recht ist ihr zufolge nurgebeugt, wennderRichter bewußt wider seine Überzeugung judiziert.14 Nach einer dritten Meinung soll die spezifische Pflichtenstellung des Richters ausschlaggebend sein. Nach ihrliegt Rechtsbeugung vor, wennderRichter das Recht 11

12

Unrecht imtotalitären Staat. Überlegungen zurRechtsRichterliches“ Positives Fazit bei Burian, „ beugung durch Richer undStaatsanwälte derDDR,ZStW 112 (2000), S. 131 f. (132); Laufhütte, BGH-FS, 2000, S. 427 ff., 446 f.; vgl. ferner NK-Kuhlen, § 339 Rz7, 47 ff., 56 ff. Kritisch dagegen LKSpendel, § 339 Rz12c; Quasten (Fn.9), S. 153ff., 272ff.; Möller-Heilmann, DieStrafverfolgung von Richtern undStaatsanwälten derehemaligen DDRwegen Rechtsbeugung, 1999, S. 315 ff.; Kraut, Rechtsbeugung? DieJustiz derDDRaufdemPrüfstand des Rechtsstaates, 1997, S. 226 ff. Siehe nurEvers, DerRichter unddas unsittliche Gesetz, 1956; Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 10, 12 ff., 26 ff.; Behrendt (Fn. 6), S. 950 ff.; Bemmann, ZurFrage der Strafbarkeit desJudizierens gegen übergesetzliches Recht, in:ders./Manoledakis (Hg.), DerRichter

in Strafsachen, 1992, 157 ff.; Scholderer (Fn. 5), S. 24 f., 429 ff., 533 ff.; auch Schreiber (Fn. 4), S. 193 ff. 13 Lackner/Kühl, § 339 Rz 5; LK-Spendel, § 339 Rz 41; Schönke/Schröder-Cramer, StGB, 26. Aufl. 2001, § 339 Rz 5a; NK-Kuhlen, § 339 Rz 45 ff.; Wessels/Hettinger, BT/1, 28. Aufl. 2004, Rz 1133 ff. (1134a); Seebode (Fn. 13), S. 20 ff.; Bemmann (Fn. 4), S. 70. 14 Sarstedt, Fragen derRechtsbeugung, FS-Heinitz, 1972, S. 433ff.; Musielak, DieRechtsbeugung (§ 336 StGB), 1960, S. 15 ff. (29); Joly, Die Rechtsbeugung des Richters (§ 336 StGB), 1954, S. 21 ff. (27); Bendix, DieRechtsbeugung imkünftigen deutschen Strafrecht, DieJustiz 2, 1926/27, S. 54 f.; Kohler, Über den Begriff der Rechtsbeugung, DJZ 1904, Sp. 614 f.

Rechtsphilosophische Probleme

141

derRechtsbeugung

wider diezulässigen Methoden rechtswissenschaftlicher Interpretation anwendet, insbesondere aus sachfremden Erwägungen entscheidet.15

Alle dreiTheorien zurRechtsbeugungshandlung greifen auf rechtstheoretische Vorstellungen zur Rechtsanwendung zurück. Die objektive Rechtsbeugungstheorie beruft sich teils aufdie Möglichkeit der, wennauch nicht immer einzig richtigen, so absolut gültigen doch besten Entscheidung16, teils auf die prinzipielle Idee einer „ .17Diesubjektive RechtsbeugungstheoWahrheit undobjektiv möglichen Erkenntnis“ rie stützt sich inteilweiser Anknüpfung andie Freirechtslehre18 aufdieAbhängigkeit aller Rechtsanwendung vonderrichterlichen Überzeugung, weildasobjektive Recht ohnehin nicht feststellbar sei.19 Die Pflichttheorie schließlich unterstreicht die eigen20fürdie Rechtsanwendung. juristisch redlicher Interpretation“ ständige Bedeutung „ Damit stellt sich die Frage, wiediese rechtsphilosophischen Bezugnahmen aufdie richterliche Rechtsanwendung einzuschätzen sind.

1. DieThese dereinzig richtigen

Entscheidung

UmhierKlarheit zugewinnen, empfiehlt sicheinRückgriff aufdieThese vondereinzig richtigen Entscheidung, wiesie imAnschluß an Dworkin auch imdeutschsprachigen Schrifttum diskutiert wird. a. Einzig

richtige Entscheidung

als Existenzbehauptung

(Dworkin)

Dworkin istderAnsicht, daßes aufkomplexe Fragen des Rechts undderpolitischen Moral nureine einzige richtige Antwort gibt.21 Hintergrund derThese istDworkins Kritik amRechtspositivismus vonHart.22 HartistderAuffassung, daßinFällen, indenen die Regeln des positiven Rechts die Entscheidung eines Falles nicht vorgeben, dem Rechtsanwender nureine Entscheidung nach Ermessen möglich ist.23 Diese Auffassung verwirft Dworkin.24 Auch inschwierigen Fällen gebe es nureine richtige Entscheidung. Zwarfolge diese nicht aus denrechtlichen Regeln. DieEntscheidung ergebe sich aber aus derGesamtheit derRechtsordnung, zuderDworkin neben den rechtlichen Regeln auch Rechtsprinzipien undpolitische Zielsetzungen rechnet.25 Da auch in schwierigen Fällen die Entscheidung rechtlich vorbestimmt sei, erfinde der Rechtsanwender nicht das Recht, sondern entdecke es.26 Aberwieentdeckt derRechtsanwender dieeinzig richtige Entscheidung? Dworkin existiert, mitdemdasRecht inschwiekeinmechanisches Verfahren“ räumt ein, daß„

15 SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 17a ff.; Rudolphi (Fn. 4), S. 619 f., 627 ff.; Behrendt (Fn. 6), S. 948 f.; Schmidt-Speicher (Fn. 4), S. 63 ff. (81). 16 BT-Drucks. 7/1261, S. 22. 17 Spendet, Richter undRechtsbeugung, FS-Peters, 1974, S. 167. 18 Bendix (Fn. 14), S. 58 ff. (61, 65). Zu Bendix näher Scholderer (Fn. 5), S. 149 ff. 19 Musielak (Fn. 14), S. 23 ff.; ähnlich Joly (Fn. 14), S. 25. 20 SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 17d; Rudolphi (Fn. 4), S. 619 f., 627, 630. 21 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, dt.Ausgabe 1. Aufl. Frankfurt amMain1984, S. 448. 22 Siehe Dworkin (Fn. 21), S. 54 ff. 23 Hart, Der Begriff des Rechts, dt. Ausgabe 1. Aufl. Frankfurt am Main 1973, Kap. VIIS. 173 ff. (187 ff.).

24 25 26

Dworkin Dworkin Dworkin

(Fn. 21), S. 68 ff. (Fn. 21), S. 144 ff. (Fn. 21), S. 449.

142

Frank Saliger

rigen Fällen entdeckt werden kann. Ja ergesteht zu,daßJuristen oftunterschiedlicher Meinung über das Recht sind.27 ZurLösung des Erkenntnisproblems greift Dworkin daher auf eine Idealisierung zurück: ImUnterschied zumdurchschnittlich begabten Richter Herbert, deramRecht zweifele, konstruiert Dworkin einen Richter Herkules . Herkules vermitübermenschlicher Fähigkeit, Ausbildung, Geduld undScharfsinn“ „ magdieeinzig richtige Entscheidung problemlos zuerkennen.28 WasistvonderTheorie dereinzig richtigen Entscheidung zuhalten? Zustimmung verdient Dworkin in seinem Anliegen, mittels der einzig richtigen Entscheidung die rationale Kritisierbarkeit vonjuristischen Entscheidungen auch inschwierigen Fällen zuermöglichen.29 Inseiner Ablehnung des Dezisionismus geht Dworkin aberzuweit. DasGrundproblem ist,daßDworkin seine These dereinzig richtigen Entscheidung als 30des gottExistenzbehauptung versteht. Nurdiese Annahme erklärt die „ Erfindung“ ähnlichen Richters Herkules durch Dworkin. Indes hilft die Erfindung von Herkules nicht wirklich. Denn das Bild vonHerkules begründet die Existenz einer einzig richtigen Entscheidung nicht, sondern veranschaulicht sie nur.31 Zudem ist die These einer einzig richtigen Entscheidung als Existenzbehauptung in den pluralistischen Rechtskulturen derModerne wenig plausibel.32 IndemMaße, wierechtliche undmoralische Fragen auchaufunvereinbaren Interessenwahrnehmungen und-gewichtun-

gen beruhen

können wie etwa im Biorecht (Beispiele: Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Klonen), wirddieExistenzbehauptung einer einzig richtigen Entscheidung kontrafaktisch undfiktionär.

b. Einzig

richtige Entscheidung

als regulative Idee

Die Schwierigkeiten der Theorie Dworkins lassen sich vermeiden, wenn mandie These dereinzig richtigen Entscheidung als regulative Idee imSinne Kants versteht.33 Eine regulative Idee istdanach keininderSeinswelt verankertes Prinzip.34 Sie isteine Zielvorstellung fürdieVernunft, die es anzustreben gilt.35 Als regulatives Prinzip verstanden, wirddie Idee dereinzig richtigen Entscheidung weder durch denfaktischen Meinungspluralismus noch denfaktischen Methodenpluralismus inRechtsfragen widerlegt. DieIdee dereinzig richtigen Entscheidung als regulatives Prinzip behauptet lediglich, daßalle Rechtsanwender, selbst wennsie strategisch verfahren, mitihren Rechtsbehauptungen notwendig denAnspruch aufRichtigkeit erheben. (Fn. 21), S. 144. (Fn. 21), S. 182 ff. Koller, Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. Aufl. 1997, S. 181; L. Schulz, Normiertes Misstrauen, 2001, S. 248 f. 30 Dworkin (Fn. 21), S. 182. 31 U. Neumann, Wahrheit imRecht. ZuProblematik undLegitimität einer fragwürdigen Denkform, 2004, S. 38f. Vgl.auchdenzutreffenden Hinweis aufdieZirkularität desRekurses aufHerkules von Wolf, Gesetzesregeln undGesetzesprinzipien, in: Wesche/Zanetti (Hg.), Dworkin. Undebat, inder Diskussion, debating Dworkin, 1999, 364. ZurKritik anDworkin ferner Bittner, Recht als interpretative Praxis. ZuRonald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts, 1988, S. 230 ff. (240 ff.). Zu Dworkins Interpretationstheorie siehe auch Wesche, in:ders./Zanetti (Hg.), aaO,S. 254 ff. 32 Alexy, Probleme der Diskurstheorie, ZfphF 1989, S. 90; U. Neumann (Fn. 31), S. 39. 33 Ebenso Larenz/Canaris, Methodenlehre derRechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 116; Alexy (Fn. 32), S. 90; Koller (Fn. 29), S. 181; U. Neumann (Fn. 31), S. 41.

27 28 29

Dworkin Dworkin

34 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 537. 35 Kant, Kritik derreinen Vernunft, B 672.

Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung

143

Dasistjedenfalls fürdenRichter inhohem Maße plausibel. AlsBeleg dafür kann dessen Handlungsperspektive angeführt werden. Würde ein Richter mitseiner Entscheidung nureinen Anspruch aufVertretbarkeit erheben, würde er eine normativ perplexe Botschaft andas Rechtssystem unddenbetroffenen Bürger senden. Denn dieBotschaft würde nicht nuroffen kommunizieren, daßaucheine andere Entscheidungvertretbar wäre(u.U. sogar besser vertretbar). Siewürde beiGleichvertretbarkeit einer anderen Entscheidung auch keine Entscheidungsregeln angeben müssen und sich dadurch demVerdacht aussetzen, die konkrete Entscheidung sei zufällig oder willkürlich. Das könnte die Entscheidung gegenüber dem Bürger nicht rechtfertigen.36 Keine Alternative ist hier das Abstellen auf die bessere Vertretbarkeit. Sobald ein Richter behauptet, seine Entscheidung sei die besser vertretbare, bewegt er sich

zumindest begründungstechnisch indenBahnen dereinzig richtigen Entscheidung. Diese Idee liegt auchdenProzeßordnungen undGerichtsverfassungen moderner Rechtsstaaten zugrunde. Würde die richterliche Rechtsanwendung allein aufvertretbare Entscheidungen abzielen, so wären die komplizierten Prozeßordnungen und Gerichtsverfassungen moderner Rechtsstaaten mit Rechtsmitteln, Instanzenzügen etc. nicht vollständig begründbar. Sicherlich dienen diese Regeln auch derKontrolle vonunvertretbaren unddamit fehlerhaften Entscheidungen. Ihren Umfang undihre Komplexität rechtfertigt befriedigend jedoch nurdieAnnahme, daßes beidenRechtsmitteln inerster Linie umMeinungsverschiedenheiten überdas richtige Recht geht.37 Binnenperspektive des Richters sowie Prozeßordnungen undGerichtsverfassung verweisen darauf, daßdas Prinzip dereinzig richtigen Entscheidung letztlich inden Ideen rationaler (richterlicher) Begründung undrationaler Kritik angelegt ist. Der Richter, dernurdieVertretbarkeit seines Urteils rechtfertigen muß,kanndieEntscheidung zwischen denvertretbaren Alternativen demZufall oderderschieren Dezision überlassen. Beide Male wäre die Begründung nicht rational, weilunvollständig. Rationalisteine richterliche Entscheidungsbegründung nurdann, wennsie beivertretbaren Entscheidungsalternativen auchdie(besseren) Argumente fürdiegewählte Entscheidungangibt. MitderIdee rationaler Begründung verbindet sichalso notwendigerweise das regulative Prinzip dereinzig richtigen Entscheidung. Undeine rationale Begründungdes Richters ist notwendige Voraussetzung füreine rationale Kritik seitens der

Rechtswissenschaft.

2. Folgerungen fürdieRechtsbeugungstheorien Wasfolgt daraus fürdieRechtsbeugungstheorien?

a. Möglichkeit einer objektiven Rechtsbeugungstheorie Dieerste Schlußfolgerung ist, daßeine objektive Rechtsbeugungstheorie überhaupt möglich ist. Daszeigt folgender Gedankengang: Wenndie einzig richtige EntscheidungeinevomRichter angestrebte Zielvorstellung ist,dannmußmansichdiesem Ziel auchannähern können. Andernfalls wäredieRedevoneinem Zielwenig sinnvoll. Die Möglichkeit einer Annäherung an die einzig richtige Entscheidung setzt wiederum 36 U. Neumann (Fn. 31), S. 40 f. 37 So deutlich bereits der Gesetzgeber in BT-Drucks. 7/1261, S. 22; ferner Röhl (Fn. 1), S. 74; U. Neumann (Fn. 31), S. 53 ff.

144

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voraus, daßeine objektiv richtige Rechtserkenntnis zumindest möglich ist.Wennaber eine objektiv richtige Rechtserkenntnis möglich ist, dann kann Recht auch objektiv gebeugt werden. Nicht hilfreich istindiesem Zusammenhang dieRede voneiner „ absolut gültigen Wahrheit“ , wiesie teilweise fürdieobjektive Theorie inAnsatz gebracht wird.38 Eine solche Rede impliziert die Existenz einer absoluten Wahrheit. Daswiderstreitet dem Nichtontologismus dereinzig richtigen Entscheidung als bloß regulativem Prinzip.

b. Rechtstheoretische

Unzulänglichkeit

dersubjektiven

Theorie

Soweit dieThese dereinzig richtigen Entscheidung die Möglichkeit einer objektiven Rechtsbeugungstheorie begründet, versteht sich vonselbst, daß die These fürdie subjektive Rechtsbeugungstheorie eine negative Konsequenz hat. InderTatist das zurStützung dersubjektiven Theorie herangezogene Argument, daßdas objektive Recht nicht feststellbar sei und deshalb nur auf die richterliche Überzeugung abgestellt werden könne, mitdemPrinzip dereinzig richtigen Entscheidung nicht vereinbar. Dabei ist demAusgangspunkt des Arguments durchaus zuzustimmen. Diesubjektive Rechtsbeugungstheorie ist teilweise vonderFreirechtslehre undderen Kritik ammechanistischen Subsumtionsideal motiviert.39 Indieser Kritik ist die subjektive Rechtsbeugungstheorie nach wie vor aktuell. Es ist heute ein Gemeinplatz der Rechtstheorie, daßdierichterliche Rechtsanwendung sich nicht ineinem formallogischen Subsumtionsvorgang erschöpft. Die prinzipielle Vagheit undMehrdeutigkeit vonSprache, unbestimmte Rechtsbegriffe undGeneralklauseln, gesetzliche Ziel- und (rechtliche) Prinzipienkonflikte, das Vorverständnis des Rechtsanwenders oderdessen informell-institutionellen Entscheidungsbedingungen: Alldas sind Faktoren, die dieVorstellung des Richters als Subsumtionsautomat zerstört haben.40 Doch folgt aus der Unmöglichkeit eines juristischen Determinismus noch kein juristischer Dezisionismus. Daßdas Gesetz die richterliche Entscheidung nicht vollständig determiniert, bedeutet nicht, daß der Richter völlig regellos entscheidet. Ebenso impliziert die Einsicht indieSchwierigkeit einer objektiven Rechtserkenntnis nicht deren völlige Unmöglichkeit.41 DieAnhänger dersubjektiven Rechtsbeugungstheorie folgen hierzuvorschnell demRichterbild des Richterkönigs. Gewiß steuert die Persönlichkeit eines Richters faktisch auch dessen Entscheidungsverhalten. Aber normativ taugt diese Steuerung nicht als Argument, die richterliche Entscheidung für den Betroffenen plausibler zu machen. ImGegenteil: Wenn der Richter seine Entscheidung auch mitdemArgument rechtfertigt, er habe die Entscheidung vonseiner Persönlichkeit abhängig gemacht, dann drängt sich für den betroffenen Bürger zwangsläufig derEindruck richterlicher Willkür auf.42 Diesubjektive Rechtsbeugungstheorie erfährt also rechtstheoretisch keine überzeugende Stützung. 38 So Spendel (Fn. 17), aaO. Siehe dieNachweise obeninFn.18. 40 Z.B. Rüthers, Rechtstheorie. Begriff, Geltung undAnwendung des Rechts, 2. Aufl. 2005, S. 132 ff., 419 ff., 447 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. 2005, S. 136 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 591 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 221 ff., 428 ff.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, insbes. S. 1 ff.; Alexy, Theorie derjuristischen Argumentation. DieTheorie des rationalen Diskurses als Theorie derjuristischen Begründung, 1983, vorallem S. 17 ff.; Esser, Vorverständnis undMethodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 43 ff., 116 ff. 41 Scholderer (Fn. 5), S. 280 ff.; U. Neumann (Fn. 40), S. 1 ff. 42 U. Neumann (Fn. 31), S. 43.

39

Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung

145

c. Kriteriale Untauglichkeit fürdie objektive Rechtsbeugungstheorie Fraglich ist, obdas Prinzip dereinzig richtigen Entscheidung derobjektiven Theorie einen inhaltlichen Maßstab liefert. Dazuließe sich argumentieren, daßaufBasis der These dereinzig richtigen Entscheidung jede Abweichung vonderals einzig richtig unterstellten Entscheidung eine objektive Rechtsbeugung sein müsse. DieUnzulänglichkeit deseinzelnen Richters, diese Entscheidung zuerkennen, seierst imBereich des (fehlenden) Vorsatzes zuberücksichtigen.43 Indes verkennt eine solche Argumentation bereits denregulativen Prinzipiencharakter dereinzig richtigen Entscheidung. Alsbloße Zielvorstellungen taugen regulative Prinzipien nicht als Strafbarkeitsvoraussetzung. Anderes würde für die These der einzig richtigen Entscheidung nurdanngelten, wennmansie als Existenzbehauptung begriffe, wasaber unzulässig ist. Darüber hinaus steht einem kriterialen Einsatz der einzig richtigen Entscheidung beiderRechtsbeugung diebesondere Prüfaufgabe des Richters entgegen. Derprüfende Richter hatnicht dieRichtigkeit, sondern lediglich die Rechtmäßigkeit derEntscheidung seines Kollegen zubeurteilen.44 DenndieEntscheidung des Prüfrichters ist bezogen aufdie Sachentscheidung des rechtsbeugenden Richters eine Entscheidung zweiter Stufe. Siesteht deshalb außerhalb desInstanzenzugs der Sachentscheidung (vgl. §§ 359 Nr.3, 362 Nr.3 StPO). Die Rechtsbeugung ist hier eng verwandt mitden Lehren vomNichturteil undvomnichtigen Urteil.45 Deshalb müssen fürsie weichere Prüfmaßstäbe als die Richtigkeit derEntscheidung greifen. Die Anhänger der objektiven Rechtsbeugungstheorie tragen dieser Forderung heute nahezu einhellig Rechnung. Anstelle derRichtigkeit stellen sie ab aufdieVertretbarkeit derEntscheidung. DerBereich strafbarer Rechtsbeugung beginnt danach erst, wennderRichter eine völlig unvertretbare Entscheidung getroffen hat.46 Diese Perspektive ist angemessen.47 Sie berücksichtigt mitder faktischen Vertretbarkeit verschiedener Entscheidungen dieRealität derAuslegungspraxis. Es istdaher nicht nureine juristische Stammtischweisheit, wennes heißt: Inderersten Instanz sei das Urteil richtig, aber die Begründung falsch; in der Berufung werde die Begründung richtig, aberderTenor falsch; undnachderRevision stimme weder daseine nochdas andere.48 Angesichts solcher faktischer Vertretbarkeitsspielräume unter Juristen geht es nicht an, die Strafhaftung von Richtern unter Rückgriff auf rechtstheoretische Idealisierungen zuerweitern.

3. Schranken derKriminalisierung vonMethodenverstößen Genau dieser Fehler, nämlich Rechtstheorie kurzschlüssig als Strafbarfkeitsvoraussetzung einzusetzen, unterläuft der Pflichttheorie. Die Pflichttheorie will wegen

43 Vgl.dazuU.Neumann (Fn. 31), S. 56. 44 Scholderer (Fn. 5), S. 539 ff. 45 Dazu LK-Spendel, § 339 Rz 3, S. 131 f.; Scholderer (Fn. 5), S. 375 ff.; vgl. auch Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 32 ff. (44 ff., 67 ff.). 46 LK-Spendel, § 339 Rz 41 ff.; ders. (Fn. 17), S. 166; Schönke/Schröder-Cramer, § 339 Rz 5b; Bemmann (Fn. 9), S. 125; so auch BT-Drucks. 7/1261, S. 22; vgl. ferner Seebode (Fn. 12), S. 21 ff. deraufdie 47 Zubeachten istallerdings, daßdieRechtsprechung nunmehr einen Maßstab verwirft, „ (bloße) Unvertretbarkeit von Entscheidungen abstellt“(BGHSt 41, 247, 251; ebenso BGH NJW 1997, 1455; BGHJZ2002, 199). Zuderdaraus resultierenden Einordnungsproblematik siehe unten Fn. 49. 48 Vgl. Röhl (Fn. 1), S. 73.

146

Frank Saliger

Rechtsbeugung auch denjenigen Richter bestrafen, der eine objektiv vertretbare Entscheidung trifft, wenner zudieser Entscheidung nicht aufmethodisch korrektem Weggelangt ist. Dasgelte insbesondere fürdie Entscheidung aus sachfremden Erwägungen.49 Eine solche strafbarkeitsbegründende Funktion derMethodenlehre ist abzulehnen. Daes kein gesetzliches Anwendungs- undReinheitsgebot vonMethoden gibt, darfbloße Methodenwidrigkeit nicht strafbegründend wirken. DieMethodenlehre kann nurInstrument zurBeurteilung derTathandlung sein. AlsGegenstand derTathandlungtaugt sie nicht.50 Unzulässig istes auch, einen verengten Begriff dervölligen Unvertretbarkeit, der nicht konsentiert ist, zurGrundlage eines Rechtsbeugungsvorwurfs zumachen. Für die schiere Mißachtung der Wortlautgrenze ist das vereinzelt vorgeschlagen worden.51 DieKonsequenzen wären freilich grotesk: Müßten dannz.B. nicht alle Richter, diedieberüchtigte Rechtsfolgenlösung beiMord52 anwenden, wegen Rechtsbeugung angeklagt werden? AuchhierhatdasStrafrecht denfaktischen Methodenpluralismus eines Rechtssystems bisandieGrenze derUnvertretbarkeit hinzunehmen. Bloße megenügen nicht.53 thodische „ Unredlichkeiten“ Halten wirals Zwischenergebnis fest: Das Prinzip dereinzig richtigen Entscheidungbegründet die Möglichkeit einer objektiven Rechtsbeugungstheorie. AlsKriteriumzuihrer Inhaltsbestimmung scheidet es dagegen aus. Alternative rechtstheoretische Bezugnahmen auf die Rechtsanwendung überzeugen ebenfalls nicht. Weder stützt das Konzept der Richterpersönlichkeit die subjektive Theorie, noch tragen Methodengebote undMethodenverbote diePflichttheorie.

III. Rechtsbeugung

undUnrechtsstaat

Beim zweiten rechtsphilosophischen Problem der Rechtsbeugung, der Rechtsbeugung imUnrechtsstaat, stellen sich zweiFragen: KannGegenstand derRechtsbeugung auch überpositives Recht sein (so die immer noch herrschende Meinung)?54 49 Siehe obendie Nachweise inFn. 15. Inneueren Entscheidungen mißtderBGHdemHandeln aus

50

51 52 53 54

sachfremden Erwägungen eine eigenständige kriminalisierende Bedeutung fürdieRechtsbeugung zu; siehe BGHSt 42, 343, 350 f. mitzust. Anm. Volk, NStZ 1997, S. 412 sowie krit. Anm. Spendel, JZ 1998, S. 85 und Sowada, GA 1998, S. 177; 44, 258, 261; 47, 105, 113 (Fall Schill) mitzust. Anm. Böttcher, NStZ 2002, S. 146 undkrit. Anm. Kühl/Heger, JZ 2002, S. 201; Wohlers/Gaede, GA2002, S. 483; Müller, StV 2002, S. 306; Foth, JR 2002, S. 257; Schaefer, NJW 2002, S. 734; vgl. auch Schiemann, NJW2002, S. 112. Obundinwieweit diese Rechtsprechung noch mitderobjektiven Theorie der Rechtsbeugung vereinbar ist (vgl. Lackner/Kühl, § 339 Rz 5: grundsätzlich objektive Theorie mitElementen der Pflichtwidrigkeitstheorie; Tröndle/Fischer, § 339 Rz 9: grundsätzlich objektive Theorie mitElementen sowohl dersubjektiven alsauchderPflichtverletzungstheorie. Eine Bestätigung ihrer Pflichttheorie sehen dagegen SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz17d;Inkompatibilitäten mitderobjektiven Theorie konstatiert auchNK-Kuhlen, § 339 Rz61f.), kannhiernicht entschieden werden. Insoweit zutreffend Scholderer (Fn. 5), S. 538. So von Scholderer (Fn. 5), S. 543. BGHSt 30, 105. In die gleiche Richtung Schreiber (Fn. 4), S. 202; NK-Kuhlen, § 339 Rz 56 ff. (59); Scheffler, Gedanken zur Rechtsbeugung, NStZ 1996, S. 67 ff. (70). BGHSt 40, 276 f.; Lackner/Kühl, § 339 Rz 5; LK-Spendel, § 339 Rz 49 ff.; Schönke/SchröderCramer, § 339 Rz 5; SK-Rudolphi/Stein, § 339 Rz 10; Tröndle/Fischer, § 339 Rz 13; Seebode (Fn. 12), S. 27 ff. (45 ff.); Käsewieter, DerBegriff der Rechtsbeugung imdeutschen Strafrecht, 1999, S. 32 ff. (44 f.); Bemmann (Fn. 12); Behrendt (Fn. 6), S. 950 ff.; vgl. auch Saliger (Fn. 45), S. 45. A.A.

Rechtsphilosophische Probleme

derRechtsbeugung

147

Undmachen sich Richter, die eingegen überpositives Recht verstoßendes Gesetz anwenden, wegen Rechtsbeugung strafbar –subjektive Fragen nach Vorsatz und Verbotsirrtum dabei ausgeklammert?55 Schon dergesetzliche Ausgangspunkt verweist die Klärung dieser Fragen auch aufdieRechtsphilosophie. Anders als dieVerfassung, diedenunabhängigen Richter nurdemGesetz unterwirft (Art. 97 Abs. 1 GG),nennt dieRechtsbeugung alsTatobjekt das Recht. WasnunRecht imSinne der Rechtsbeugung ist, undob überpositives Recht dazugehört, istkeinallein dogmatisches, sondern aucheinklassisches rechtsphilosophisches Problem. Denneinschlägig istnichts Geringeres als derewige Streit zwischen Rechtspositivismus undNaturrecht umBegriff undIdee des Rechts.56

1. DreiGrundpositionen zumRechtsbegriff: strenger Positivismus, vismus

undNichtpositivismus

restriktiver Positi-

Rechtsbegriffe sindinderRechtsphilosophie bekanntlich Legion. Imwesentlichen drei Perspektiven kommen in Betracht, umdie Frage derZugehörigkeit einer Normzu einer bestimmten Rechtsordnung zuentscheiden: erstens die Setzungsperspektive, gefragt wird, werdie Normerlassen hat; zweitens die Wirksamkeitsperspektive, gefragt wird, ob undinwieweit die Normtatsächlich befolgt undangewandt wird; und drittens die Inhaltsperspektive, gefragt wird, welche inhaltliche Qualität die Norm hat.57

Alle Rechtsbegriffe verhalten sichmehroderweniger zudiesen Perspektiven, sei es, daß sie ausschließlich aufeine Perspektive abstellen, sei es, daß sie mehrere Perspektiven miteinander verbinden. InderDiskussion umdie strafrechtliche Aufar-

beitung des SED-Unrechts sindvorallem dreirechtsphilosophische Grundpositionen hervorgetreten, diediese Perspektiven inje unterschiedlicher Weise ihrem Rechtsbegriff zugrundegelegt haben. Die erste Grundposition ist der strenge Positivismus.58 Für ihn sind allein die Setzungs- unddie Wirksamkeitsperspektive maßgeblich. Recht ist danach nurdas

55

56

57

NK-Kuhlen, § 339 Rz 37 ff. (40); Scholderer (Fn. 5), S. 429 ff. (457 ff.); L. Schulz, Der nulla-poenaGrundsatz –einFundament des Rechtsstaats?, in: Pawlowski/Roellecke (Hg.), DerUniversalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaats, 1996, S. 193 ff.; Quasten (Fn. 9), S. 74 ff. (95 ff.); Engländer, ARSP 2004, S. 96; Offen gelassen von Möller-Heilmann (Fn. 11), S. 17 ff. (29). Zudiesen ausgeklammerten Fragen Hupe, DerRechtsbeugungsvorsatz, 1995; Scholderer (Fn. 5), S. 555 ff.; Spendel, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung, in:ders., Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984, S. 55 ff.; Müller, DerVorsatz derRechtsbeugung, NJW1980, S. 2390 ff.; Schreiber (Fn. 4), S. 198 ff.; Seebode, Rechtsblindheit undbedingter Vorsatz beiderRechtsbeugung, JuS 1969, S. 204. Siehe nurA.Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 19ff., 39ff.; M.Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1996, S. 25 ff.; Saliger (Fn. 45), S. 1 ff., 44 ff.; Alexy, Begriff undGeltung des Rechts, 1992; Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. 1992; R. Dreier, Der Begriff des Rechts, in: ders., Recht – Staat –Vernunft, 1991, S. 95 ff. sowie die Beiträge in Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivis-

mus?, 1962.

(Fn.56), S. 29ff.; U.Neumann, Rechtspositivismus, Rechtsrealismus undRechtsmoralismus in derDiskussion umdie strafrechtliche Bewältigung politischer Systemwechsel, FS-Lüderssen,

Alexy

2002, S. 112 ff.; vgl. auch R. Dreier (Fn. 56), S. 96 ff., 99 ff.

58 Jakobs, Vergangenheitsbewältigung

durch Strafrecht? ZurLeistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in:Isensee (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, S. 37 ff.; ders., Untaten des Staates –Unrecht imStaat. Strafe fürdieTötungen anderGrenze derehemaligen DDR?, GA1994, 1 ff.; Pawlik, Das Recht im Unrechtsstaat. Zur rechtstheoretischen Rekonstruktion desVerhältnisses vonRecht undPolitik, Rechtstheorie 1994, S. 101ff.; ders., Strafun-

148

Frank Saliger

positiv-gesetzte Recht einschließlich der Rechtspraxis als wirksames Recht. Die Inhaltsperspektive istdagegen keine Perspektive des Rechtsbegriffs. Recht kannjeden beliebigen Inhalt annehmen.59 Denn Recht undMoral sind strikt zu trennen. Unsere Frage, obauchüberpositives Recht „ imSinne derRechtsbeugung sein Recht“ kann, mußderstrenge Positivist verneinen: Überpositives Recht gibt es nicht, also auch nicht imRechtsbeugungstatbestand.60 Diezweite Grundposition istderrestriktive Positivismus.61 Auchfürihngibtes kein überpositives Recht, daRecht jenseits despositiv-gesetzen Rechts nicht existiert. Der restriktive Positivismus unterscheidet sich vomrigiden Positivismus dadurch, daßer dieWirksamkeitsperspektive bezogen aufdieBewertung fremder Rechtsordnungen aufgibt. Das heißt: Demrigiden Positivismus bleibt alles Recht im Unrechtsstaat Recht. Daerunter positivem Recht auchdieganze Rechtspraxis versteht, liegt fürihn Recht auch dann vor, wenn die Rechtsanwendung jenseits der imUnrechtsstaat formal geltenden Rechtsvorschriften gestanden hat. Derrestriktive Positivismus beschränkt hierdenRechtsbegriff aufdieformal geltenden Normen des Unrechtsstaats undermöglicht dadurch dieBestrafung vonExzeßtaten. Gleichsam überdieHintertür wirddamit dieInhaltsperspektive fürdenrestriktiven Positivismus relevant. Die dritte Grundposition ist der Nichtpositivismus (Rechtsmoralismus, Naturrecht).62 Ihmzufolge erschöpft Recht sich nicht im positiv-gesetzten Recht. Auch überpositives Recht kann Recht sein. Fürden Nichtpositivismus steht die Inhaltsperspektive im Vordergrund. Recht sind nur Normen einer bestimmten inhaltlichen Qualität. Welche Qualität das ist, wird heute vorwiegend nur negativ bestimmt. Berühmtestes Beispiel ist die sog. Radbruchsche Formel: Unerträglich ungerechtes Recht istkeinRecht, sondern gesetzliches Unrecht.63 DieRechtsprechung hatbeider Aufarbeitung des NS-unddes SED-Unrechts aufdiese Formel zurückgegriffen.64 In derLiteratur wirddie Radbruchsche Formel auchaufdenNenner gebracht, daßextremes Unrecht kein Recht sei.65 Zur Konkretisierung wird insbesondere auf die Menschenrechte rekurriert: Normen, dieschwere Menschenrechtsverletzungen enthalten, sind kein Recht. Anders als die beiden ersten Grundpositionen vertritt der Nichtpositivismus einen durch unddurch normativen Rechtsbegriff. Er zielt aufdie

59 60 61

62 63 64

65

recht undStaatsunrecht. ZurStrafbarkeit der„ Mauerschützen“ , GA1994, 472 ff.; U.Neumann (Fn. 57), S. 126 mitKritik anderverbreiteten Kennzeichnung „strikter Positivismus“(123 Fn.47). Klassisch prägnant Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934 (Neudruck Scientia 1985), S. 63: „ Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zumInhalt einer Rechtsnorm zuwerden.“ So etwa auserkenntnistheoretischer Sicht Engländer (Fn. 54). Lüderssen, DerStaat geht unter –das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität inderehemaligen DDR, 1992, S. 27 ff.; L. Schulz, Rechtsbeugung undMißbrauch staatlicher Macht. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung unter dem SED-Regime, StV 1995, S. 206 ff.; ders. (Fn. 54), S. 173 ff.; Scholderer (Fn. 5), S. 429 ff. (502 ff.). Alexy (Fn. 56); ders., Mauerschützen. ZumVerhältnis vonRecht, Moral undStrafbarkeit, 1993; Sieckmann, Die„ Radbruch’sche Formel“ unddie Mauerschützen, ARSP 2001, S. 496 ff.; Naucke, Diestrafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996; Saliger (Fn. 45), S. 7 ff. Radbruch, Gesetzliches Unrecht undübergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 107. Siehe nurBVerfGE 3, 225, 232 f.; 6, 389 (414 f.); 23, 98 (106); 95, 96, 134; BGHSt 2, 173, 177; 39, 1, 16 ff.; BGH NJW 1994, 2709; BGHSt 41, 101, 105 ff.; 41, 157, 164; 41, 247, 259; näher Schumacher, Rezeption undKritik derRadbruchschen Formel, 1985; Saliger (Fn. 45), S. 1 f.,33ff.; Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „ Mauerschützen“ -Prozesse, 1999; Grote, Die DDRJustiz vorGericht, Rechtsbeugung durch Richter derehemaligen DDRimSpiegel bundesdeutscher Unrechtsaufarbeitung, 1999, S. 23 ff., 115 ff.; Quasten (Fn. 9), S. 76 ff., 199 ff. Alexy (Fn. 62), S. 4.

Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung

149

Binnenperspektive desjenigen, der miteiner extrem ungerechten Norm umgehen muß. Erdispensiert ihnvonderPflicht zurAnwendung undBefolgung derNorm.66

2. Rechtspraktische Angemessenheit des Nichtpositivismus

vondiesen dreiGrundpositionen istdievorzugswürdige? Umdas zuzeigen, sei ihre Anwendung aufeinen fiktiven Fallbetrachtet. In einem Unrechtsstaat des 20. Jahrhunderts, in dem eine mit § 339 StGB wortgleiche Vorschrift gilt, erläßt derGesetzgeber folgendes formell-gültiges Gesetz: Reinrassige Bürger, dieJuden helfen, werden mitdemTode bestraft. Zweireinrassige Frauen werden dabei beobachtet, wiesiejüdischen Gettokindern ausMitleid Lebensmittel zustecken. DieFrauen werden verhaftet, angeklagt undineinem formell ordnungsgemäßen Verfahren mitVerteidigung rechtskräftig von Richter R zumTode verurteilt. Das Urteil wirdvollstreckt. Wenige Jahre später bricht der Unrechtsstaat zusammen. Indemnachfolgenden Rechtsstaat wirdR wegen Rechtsbeugung angeklagt. HatR sich objektiv strafbar gemacht? Nach demrigiden unddemrestriktiven Positivismus scheidet eine Strafbarkeit vonR wegen Rechtsbeugung aus. DasGesetz warformell-gültig unddamit positives Recht. SeinInhalt istirrelevant. Aucheine Exzeßtat, andiederrestriktive Positivismus anknüpfen könnte, liegt nicht vor. R müßte aufBasis derpositivistischen Auffassungenfreigesprochen werden. Anders sieht dieSache fürdenNichtpositivismus aus. Dasformell-gültige Gesetz Welche

stellt eine schwerste Menschenrechtsverletzung dar. Damit verstößt es gegen überpositives Recht. Daauch überpositives Recht „ Recht“ ist, ist das Judizieren gegen übergesetzliches Recht objektiv Rechtsbeugung. NachdemNichtpositivismus hätte R also den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt. Wasfolgt aus dieser Anwendung derGrundpositionen in rechtsphilosophischer Hinsicht? DerFallsollzweiThesen illustrieren: Erstens, daßderGrundlagenstreit um denrichtigen Rechtsbegriff eine Frage auchderAngemessenheit des Rechtsbegriffs ist. Zweitens, daß die Angemessenheit des Rechtsbegriffs nicht ausschließlich an theoretischen, sondern imHinblick aufextreme Konstellationen auchanrechtspraktischen Gesichtspunkten zumessen ist.67 Dazusollte manzunächst Mißverständnisse abbauen. Verbreitet istdieKritik am Nichtpositivismus, daß ein überpositives Recht rational nicht erkennbar sei.68 Dagegen ist darauf hinzuweisen, daß dermoderne Nichtpositivismus nicht mitdemsubstanzontologischen Naturrecht derVoraufklärung gleichgesetzt werden kann. Insbesondere derNichtpositivismus einer Radbruchschen Formel, derimSinne einer philosophia negativa nurextremes Unrecht brandmarken will, teilt nicht denalten erkenntnistheoretischen Ballast. Zumeinen steigt mitderBeschränkung aufextreme Menschenrechtsverletzungen dieEvidenz unddamit dieintersubjektive Erkennbarkeit von gesetzlichem Unrecht. Zumanderen findet überpositives Recht heute zahlreiche Anknüpfungspunkte ininternationalen Menschenrechtserklärungen.69

66 Sieckmann (Fn. 62), S. 502 ff. 67 Sieckmann (Fn. 62), S. 502 ff., 515; Saliger (Fn. 45), S. 1 ff., 32 ff.; vgl. ferner U. Neumann (Fn. 57), S. 117ff.;allgemein zurBedeutung derAngemessenheit inMoral undRecht K.Günther, DerSinnfür Angemessenheit. Anwendungsdiskurse inMoral undRecht, 1988, S. 255ff. und309ff. 68 Stellvertretend etwa dieKritik amethischen Kognitivismus vonEngländer (Fn.54), S. 86 ff. (95ff.). 69 Vgl.Saliger (Fn.45), S. 17ff.(19), 32.Dasmagerklären, warum derBGHneben derRadbruchschen

150

Frank Saliger

Davon abgesehen willderNichtpositivismus natürlich auch Historikern nicht untersagen, etwa dasNS-Recht oderdieSklaverei imalten Rom„ zuuntersuals Recht“ chen.70 Zuunterscheiden sind hier interne undexterne Perspektive. DerNichtpositivismus der Radbruchschen Formel zielt als normative These allein aufdie interne Perspektive des Rechtsanwenders. Die externe Perspektive des Rechtshistorikers aufvergangene Rechtsordnungen bleibt davon unberührt.71 Aufder anderen Seite ist aber auch der Positivismus nicht mitVorurteilen zu überziehen. DerVorwurf, daßes derPositivismus gewesen sei, derdendeutschen Juristenstand gegenüber demNS-Unrecht wehrlos gemacht habe72, ist jedenfalls

historisch nicht haltbar.73 Auchistes nicht hilfreich, Anhängern des Positivismus eine Gleichgültigkeit gegenüber derRechtsethik odereinen Mangel anmoralischer Gesinnungzubescheinigen.74 DerPositivist hatsehrwohleinen Stellenwert fürRechtsethik undMoral. Nurverbindet er sie eben nicht mitdemRechtsbegriff. Inunserem Beispielsfall könnte einPositivist sich zumoralischem Widerstand gegen denUnrechtsstaat aufgefordert fühlen. Auchkönnte er Richter R ohne weiteres fürmoralisch verpflichtet halten, sein Amtniederzulegen. Imnachfolgenden Rechtsstaat hätte der Positivist die rechtspolitische Option, sich füreine Aufhebung von Unrechtsurteilen sowie eine Rehabilitierung undEntschädigung vonOpfern derDiktatur einzusetzen. Schließlich könnte er in Extremfällen sogar füreine rückwirkende Bestrafung durch

Gesetz eintreten.

So richtig dasalles ist: Inunserem Beispiel bleibt fürdenPositivisten derStachel, daßdasextreme moralische Unrecht derTodesurteile andenzweiFrauen strafrechtlichnicht gesühnt werden kann. DenndaßeinGesetzgeber nacheinem Systemwechsel diepolitische Kraft zueiner offen rückwirkenden Bestrafung quaGesetz findet, ist eher unwahrscheinlich undbislang auch nicht geschehen. Aucheine Aufhebung von

Todesurteilen hilft den Opfern nicht.

Formel regelmäßig auchaufinternationale Rechtsquellen Bezug nimmt, siehe etwaBGHSt 39, 1, 16 ff. (Internationaler Pakt über bürgerliche undpolitische Rechte von 1966); BGHNJW 1994, 2709 f. (Allgemeine Erklärung derMenschenrechte von1948); ferner BGHSt 41, 157, 164und41,247, 259.

70 Indiesem Sinne

sollte daher die Kritik, die Formel bedeute einen „ arroganten, feigen undgefährlichenExorzismus“ (D.Simon, Waren dieNS-Richter „unabhängige Richter“ imSinne des§ 1 GVG?, in: Diestelkamp/Stolleis (Hg.), Justizalltag imDritten Reich, 1988, S. 20 f.; vgl. auch Grünwald, Zur Kritik derLehre vomübergesetzlichen Recht, 1971, S. 14), nicht mißverstanden werden. 71 Alexy (Fn. 56), S. 47 f., 63 ff.; Sieckmann (Fn. 62), S. 502 ff.; U. Neumann (Fn. 57), S. 117 ff. 72 Radbruch (Fn. 63), aaO. 73 Quasten (Fn. 9), S. 77 ff. (85 f.); Seidel (Fn. 64), S. 196 ff.; Saliger (Fn. 45), S. 5 f., alle m.w.N.; differenzierende Einschätzung bei Sieckmann (Fn. 62), S. 498. 74 Siehe z.B. Hruschka, Vorpositives Recht als Gegenstand undAufgabe derRechtswissenschaft, JZ DieRechtspositivismen aber ... wirdmaninerster Linie als Versuche verstehen 1992, S. 431 f.: „ müssen, die Frage nach dem Rechten und Unrechten abzuschneiden. Zwar wird von vielen rechtspositivistisch eingestellten Autoren scheinbar großzügig gestattet, das allein als ‚Recht‘zu bezeichnende ‚positive‘ Recht von einem Standpunkt aus, der dann moralischer Standpunkt ... heißt, zukritisieren. Doch genauso wiees einen Rechtspositivismus gibt, gibt es auch einen Moralpositivismus, derdieineiner Gesellschaft herrschende Moral zumeinzigen Maßstab des moralisch Richtigen macht. Miteinem solchen Moralpositivismus abergeht, ähnlich wiemitdemRechtspositivismus, dasVerbot einher, dieherrschende Moral zukritisieren ... SodaßunsderVerweis auf Gerechtigkeit undMoral, wennervonRechtspositivisten gebracht wird, meistens Steine statt Brot gibt.“ Fürdie Zeit unmittelbar nach Kriegsende siehe auch v. Hippel, Vorbedingungen einer Wieweite Strecken sind vergraben unter dem dergesundung heutigen Rechtsdenkens, 1947, S. 39: „

Flugsand eines verfassungsmäßig reglementierenden Positivismus, der... schließlich in Erscheinungen nachArtderHitlerischen Legalität undderAufforderung ‚blinden Gehorsams‘seine letzte Übersteigerung undWiderlegung ineins fand.“

Rechtsphilosophische Probleme

derRechtsbeugung

151

Positivisten wechseln andieser Stelle teilweise vonderindividuellen Opferebene aufgrundsätzliche Fragen derLegitimation vonStrafrecht. Sie betonen mitRecht, daß Strafgerechtigkeit stets unvollkommen bleibt; undsie belegen dies gerade mitden begrenzten Möglichkeiten einer strafjuristischen Aufarbeitung von Systemunrecht. Dasseinuneinmal derPreis, aberauchdieWeisheit eines streng formal verstandenenRückwirkungsverbots undGesetzlichkeitsprinzips.75 Obdas Gesetzlichkeitsprinzip jedoch einen nichtpositivistischen Rechtsbegriff ausschließt, istdamit nochnicht gezeigt. Gewiß sindGesetzlichkeitsprinzip undRückwirkungsverbot Essentialia eines humanen Strafrechts. Auchistnicht zuleugnen, daß derNichtpositivismus anders als der Positivismus in einer Spannung jedenfalls zu einem streng formal verstanden Gesetzlichkeitsprinzip steht. Möglich ist aber auch eine materiale Interpretation derPrinzipien.76 Begreift manetwadenSinndesGesetzlichkeitsprinzips aus seiner Gegnerschaft zu Gewalt undWillkür, so ist fragwürdig, wieso es auch die Verbrecher in Unrechtsstaaten schützen soll. Aufdas Rückwirkungsverbot bezogen: Erblickt mandessen Grund in derbesonderen Vertrauensgrundlage, dievonrechtsstaatlichen Gesetzen ausgeht, dannfehlt es andieser Vertrauensgrundlage, wenndieStaatsmacht extreme Unrechtsgesetze erläßt. Indieser materialen Lesart stoßen Gesetzlichkeitsprinzip undRückwirkungsverbot annichtpositive Grenzen. DerNichtpositivismus gibtdamit eindoppeltes Signal: andieMachthaberinUnrechtsstaaten, daßdie Überschreitung äußerster Unrechtsgrenzen auchfür sie strafrechtlich riskant ist; undan die eigenen Bürger, daß der Rechtsstaat vor

extremem Unrecht nicht kapitulieren muß. Soweit der Nichtpositivismus begründbare Strafbarkeiten eröffnet, bezieht er seine Angemessenheit als Rechtsbegriff ausseiner rechtspraktischen Funktion. Diese ist auf das Engste begrenzt. Radbruch wurde nicht müde, den hohen Wert der Rechtssicherheit gerade nach demZusammenbruch der NS-Diktatur herauszustellen.77 Insoweit wird der Nichtpositivismus auch berücksichtigen, daß Richter keine Helden sind, daßsie dasgesetzliche Unrecht fürRecht gehalten haben unddaßsie nurihre Pflicht tunwollten. Diesen Aspekten ist beimVorsatz undderSchuld Rechnungzutragen. Als zweites Zwischenergebnis können wir festhalten: Der nichtpositivistische Rechtsbegriff ist einnormativ angemessener Rechtsbegriff. Richter, dieinUnrechtsstaaten gegen übergesetzliches Recht judizieren, erfüllen denobjektiven Tatbestand derRechtsbeugung.

IV.ZurStrafverfolgung des DDR-Justizunrechts Bevor ichzumSchluß komme, sei noch kurz einrechtsphilosophischer Blick des DDR-Justizunrechts geworfen.

aufdie

Strafverfolgung

75 Siehe etwa Jakobs (Fn. 58), 1992, S. 37 ff., 63 f.; vgl. auch Lüderssen (Fn. 61), S. 120 ff. 76 So BVerfGE 95, 96, 130 ff. (133 ff.); BVerfG NJW 1998, 2585 ff.; ebenso Sieckmann (Fn. 62), S. 510 Mauerschützen“ undden ff.; zumfolgenden siehe auch Saliger (Fn. 45), S. 38 ff.; zwischen den„

77

Hintermännern“differenzierend Ebert, Strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts zwischen „ Politik, Strafrecht undVerfassungsrecht, FS-Hanack, 1999, S. 525 ff. (530) und532 ff. (535). Radbruch (Fn.63), aaO;ders., DieErneuerung desRechts, in:Radbruch Gesamtausgabe Bd.Ill, S. 108f.; ders., ZurDiskussion überdieVerbrechen gegen dieMenschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 136.

152

Frank Saliger

1. DieRechtsprechung des Bundesgerichtshofs DieStrafverfolgung des DDR-Justizunrechts durch denBundesgerichtshof hat ihren Ausgangspunkt ineiner restriktiven Interpretation derRechtsbeugung, die bis indie 80erJahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Seit dieser Zeit erklärt derBundesgerichtshof, daß die bloße Unvertretbarkeit einer Entscheidung eine Rechtsbeugung nicht mehrbegründet. Erforderlich seivielmehr einRechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege. Rechtsbeugung begehe nureinAmtsträger, dersich bewußt inschwerwiegender Weise vonGesetz undRecht entfernt.78 Diesen Interpretationsansatz hatderBundesgerichtshof fürDDR-Alttaten aufgegriffen undkonkretisiert.79 Zuberücksichtigen sei, daß es umdie Beurteilung von Handlungen in einem anderen Rechtssystem gehe. Grundsätzlich sei daher das Recht derDDRmitseinen Auslegungsmethoden maßgeblich. Rechtsbeugung scheidedanach regelmäßig aus, wenndie Handlung vomGesetzeswortlaut gedeckt war. Das gelte auch bei Mehrdeutigkeit. Selbst extensive Auslegungen seien straflos.80 VonderBestrafung vonEinzelexzessen abgesehen willderBundesgerichtshof die Strafbarkeit auf Fälle „ von durch Willkür gekennzeichnete offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen“begrenzen.81 ZurRechtfertigung greift eraufdie Radbruchsche Formel und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zurück. Indiesem Rahmen seitrotz aller politischen Instrumentalisierung auch derDDR-Justiz eine „ möglich gewesen.82 Im menschenrechtsfreundliche Auslegung“ einzelnen konkretisiert der Bundesgerichtshof drei Fallgruppen als schwere Menschenrechtsverletzungen unddamit strafbare Rechtsbeugungen: (1) Wortlautüberdehnung mitderQualität offensichtlichen Unrechts; (2) unerträgliches Mißverhältnis zwischen Handlung undStrafe; (3) Strafverfolgung zwecks alleiniger Ausschaltung des politischen Gegners odereiner sozialen Gruppe.83

2. Kombination vonrestriktivem

Positivismus

undNichtpositivismus

Wie ist diese Judikatur rechtsphilosophisch einzuordnen? Zunächst ist offensichtlich, daß derBundesgerichtshof keinen rigiden Positivismus vertritt mitderKonsequenz völliger Straflosigkeit. Weiter mußmanfeststellen, daß er auch keiner deranderen

Grundpositionen inReinform folgt. DenndieJudikatur beruft sich zwaraufdie nichtpositivistische Radbruchsche Formel. Zugleich will sie das DDR-Recht aber auch nachdessen Maßstäben auslegen undExzeßtaten bestrafen. DasistdiePosition des restriktiven Positivismus. Sogesehen vertritt derBundesgerichtshof eine Kombination aus restriktivem Positivismus undNichtpositivismus –wasinsgesamt allerdings eine nichtpositivistische Position ergibt.

78 BGHSt 32, 357, 360 f., 364; BGHSt 38, 381, 383; 42, 343, 345; 44, 258, 260 f.; 47, 105, 113; BGH NJW 1997, 1455; BGHJZ 2002, 199. Siehe ferner oben die Nachweise in Fn. 49. 79 BGHSt 40, 169, 178; 41, 247, 251; 80 BGHSt 40, 31, 40 ff.; 40, 169, 178 f.; 41, 247, 260 ff. 81 BGHSt 40, 31, 41 f.; 40, 169, 179; 41, 157, 163 f. 82 Vgl. BGHSt 41, 157, 163 ff.; 41, 247, 259 ff. 83 BGHSt 40, 31, 43; 41, 247, 260; siehe auch BGHSt 40, 272, 279. Zudieser Rechtsprechung siehe

vorGericht, FS-Lenckner, 1998, S. 585; Spendel, Rechtsbeugung undBGH – eine Kritik, NJW1996, S. 809; ders., Rechtsbeugung undJustiz insbesondere unter dem SED-Regime, JZ 1995, S. 375; Bemmann (Fn. 9), S. 127; Wolf, Rechtsbeugung durch DDR-Richter, NJW1994, S. 1390; siehe auchobendieNachweise inFn.11. kritisch Seebode, DDR-Justiz

Rechtsphilosophische Probleme

153

derRechtsbeugung

Diese Verbindung vontranszendenter undimmanenter Prüfperspektive bezogen -Urteiaufdas DDR-Recht hatderBundesgerichtshof schon seinen „Mauerschützen“ lenzugrundegelegt.84 Sie istfreilich nicht unproblematisch. DerVerbindung fehlt jene transzendente Eindeutigkeit derRadbruchschen Formel, die Grund fürderen strikte Beschränkung aufExtremfälle ist. Daszeigt dieStrafbarkeit vonExzeßtaten, diekeine schweren Menschenrechtsverletzungen beinhalten müssen. Die Verbindung von transzendenter und immanenter Prüfperspektive eröffnet hier grundsätzlich einen weiteren Strafbarkeitsbereich.85 DaßderBundesgerichtshof tatsächlich extensiv kriminalisiert hat,konnte ichjedoch insgesamt nicht feststellen. Immerhin hateinKritiker demBundesgerichtshof sogar vorgeworfen, er habe das Gesetzlichkeitsprinzip zugunsten derDDR-Justiz inbestürzender Weise aufgeweicht.86 Aufderanderen Seite hatderBundesgerichtshof Verurteilungen vonAngehörigen der DDR-Justiz wegen

Rechtsbeugung bestätigt, wenn er schwere Menschenrechtsverletzungen ausmachenkonnte.87 ImHinblick aufdiegescheiterte Aufarbeitung derNS-Justiz istdastrotz aller Schwächen

des Zugriffs einbemerkenswerter

Fortschritt.88

V. Ausblick Blicken wirzurück, sofällt eine Diskrepanz auf. BeiderFrage nachderBedeutung der Rechtsphilosophie für die Rechtsbeugungshandlung, also gleichsam der Rechtsbeugung im Rechtsstaat, ist eine strafbarkeitsbegründende Wirkung rechtsphilosophischer Theorien abgelehnt worden. Ichhabe derFaktizität denVorzug vornormativ gewendeter Rechtstheorie gegeben. BeiderRechtsbeugung imUnrechtsstaat wurde anders verfahren. Hierhabe ichaufBasis des normativen Nichtpositivismus derRadbruchschen Formel Strafbarkeit eröffnet, Normativität also denVorzug vorFaktizität

gegeben. Dieser gegenläufigen Position könnte manvorwerfen, sie stütze genau jene Mythologisierung derRechtsbeugung, die zu Beginn als Ursache fürderen rechtsstaatliches Schattendasein angedeutet worden ist. DerRückgriff aufübergesetzliches Recht, so die Kritik, nähre hier den Antimythos vombösen Terrorrichter, der eine Entmythologisierung derRechtsbeugung imRechtsstaat versperre.89 InderTatistder Nichtpositivismus Radbruchs unter Rückgriff auf seine Wehrlosigkeitsthese nach worden. DieRadbruchsche Formel selbst läßtsich 1945 indiesem Sinne „ mißbraucht“ dafür jedoch nicht verantwortlich machen.90 Auch hier bestätigt sich für das Verhältnis zwischen Rechtsphilosophie und

Rechtsdogmatik, daß es Aufgabe der Rechtsphilosophie ist, die Anwendung ihrer Thesen inderRechtsdogmatik zukontrollieren. Diese Kontrolle vermag dieRationalitätjuristischer Dogmatik zusteigern. Indieser Leistung ist die Rechtsphilosophie für

dieRechtsdogmatik unentbehrlich.

84

85 86

87 88 89 90

Siehe nurBGHSt 39, 1, 16ff.; explizite Anknüpfung daran durch dieJudikatur zurRechtsbeugung etwa in BGHSt 41, 157, 164 f. A.A. L. Schulz (Fn. 61), S. 210 ff. Herrmann, Menschenrechtsfeindliche undmenschenrechtsfreundliche Auslegung von§ 27 des Grenzgesetzes derDDR, NStZ 1993, S. 120; Saliger (Fn. 45), S. 43 f.; vgl. auch Sieckmann (Fn. 62),

S. 500 ff.

, NJW1999, S. 89 ff. Schroeder, DerBundesgerichtshof undderGrundsatz „nulla poena sine lege“ Siehe etwa BGHSt 40, 169, 183 ff.; 41, 247, 268 ff. Ebenso Burian (Fn. 11), S. 131 f. Scholderer (Fn. 5), S. 23 f., 441 ff.; vgl. auch L. Schulz (Fn. 54), S. 194 ff. Saliger (Fn. 45), S. 4 ff., 45 f.

III. Öffentliches Recht

Karl-Eberhard Hain*

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt? Eine rechtsphilosophische und methodologische Kritik I. Einführung WennwirJosef Isensee, einem –wennnicht dem–Protagonisten des Friedlichkeitsvorbehalts derFreiheitsrechte,1 glauben dürfen, dannwerde ichimFolgenden über Selbstverständlichkeiten reden.2 Wäre demso, wäre dasThema wohlnicht derRede alles andere wert. Indes möchte ichzeigen, dass„ Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt“ als eine Selbstverständlichkeit ist. Diedamit angesprochene Problematik verfügt über eine materielle undeine methodische Dimension, deren Erforschung imMittelpunkt dieses Vortrages stehen werden: Zunächst gehtes (1)umdiefundamentale undstets virulente Frage nach demFreiheitsverständnis, welches demModell desfreiheitlichdemokratischen Verfassungsstaates zugrunde liegt unddieses Modell inseiner jeweiligen Ausgestaltung formt undträgt. Schon die verschiedenen neuzeitlichen Sozialkontraktstheorien3, vondenen einige imweiteren Verlauf noch eine Rolle spielen *

1

2

3

Lehrstuhl für Staats- undVerwaltungsrecht, Medienrecht undRechtstheorie an der JohannesGutenberg-Universität zuMainz Josef Isensee, DieFriedenspflicht derBürger unddasGewaltmonopol desStaates, in:Aargauischer Juristenverein (Hg.), FS Eichenberger, Basel/Frankfurt a.M. 1982, S. 23 (31f); ders., Schranken der vorbehaltlosen Grundrechte, in: Bd.5, Koreanisch-Deutsche Gesellschaft fürRechtswissenschaft (Hg.), Recht inDeutschland undKorea, 1985, S. 51 (67f); ders., Dasstaatliche Gewaltmonopol als Grundlage undGrenze derGrundrechte, in: E. Franssen (Hg.), FS Sendler, München 1991, S. 39 (46 ff, 56 ff); ders., Staat undVerfassung, in: ders./P. Kirchhof (Hg.), HbdStR, Bd. 1, 2. Aufl. Heidelberg 1995, § 13,Rdnrn. 74ff(s. insbes. Rdnrn. 82f); ders., DasGrundrecht alsAbwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./Kirchhof (Hg.), HbdStR, Bd. 5, Heidelberg 1992, § 111, Rdnrn. 101ff, 171ff(s. insbes. Rdnrn. 176ff); ders., Grundrechtsvoraussetzungen undVerfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./Kirchhof (Hg.), HbdStR, Bd. 5, § 115, Rdnrn. 109 ff (s. insbes. Rdnr. 114). ZudenBefürwortern des Friedlichkeitsvorbehalts zählen auchChristian Starck, in: H.v. Mangoldt/F. Klein/ders. (Hg.), GG, Bd. 1, 4. Aufl. München 1999, Art. 1, Rdnrn. 278 f; Art. 2, Rdnr. 13;Klaus Kröger, Dievernachlässigte Friedenspflicht desBürgers, JuS 1984, S. 172(173); in diese Richtung auch Johannes Dietlein, Das Untermaßverbot –Bestandsaufnahme undEntwicklung einer neuen Rechtsfigur, ZG 1995, S. 131 (135); Thorsten Ingo Schmidt, Grundpflichten, Baden-Baden 1999, S. 202 ff; Kyrill-A. Schwarz, Das Postulat lückenlosen Grundrechtsschutzes unddas System grundgesetzlicher Freiheitsgewährleistung, JZ 2000, S. 126 ff; Stefan Muckel, Begrenzung grundrechtlicher Schutzbereiche durch Elemente außerhalb des Grundrechtstatbestandes, in:D.Dörr/U. Fink/Chr. Hillgruber/B. Kempen/D. Murswiek (Hg.), FS Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 347 ff. –Befürworter einer sog. weiten Tatbestandstheorie unddaher Gegner des Friedlichkeitsvorbehalts sind Jürgen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, S. 14, 23 ff, 154 ff; Bernhard Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr –Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 457 (467); Robert Alexy, Theorie derGrundrechte,3.Aufl. Frankfurt a.M.1996, S. 278ff;Martin Borowski, Grundrechte alsPrinzipien, Baden-Baden 1998, S. 204ff; Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, Berlin 1987, S. 177ff; Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, Baden-Baden 1988, S. 25 ff, 87 f, 97 ff; Michael Sachs, in: Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, München 1994, § 81 IV4 b d; Dietrich Murswiek, in:M.Sachs (Hg.), GG,3. Aufl. München 2003, Art.2, Rdnr. 53; Horst Dreier, in: ders. (Hg.), GG, Bd. 1, 2. Aufl. Tübingen 2004, vorArt. 1, Rdnr. 79. Vgl. Isensee, in:FS Eichenberger (Anm. 1), S. 23 (31): „ DasSelbstverständliche des Grundgesetzes: derVorbehalt der Friedlichkeit“ . VgldazunurWolfgang Kersting, Diepolitische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt

1994.

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Karl-Eberhard Hain

werden, zeigen inihrer Verschiedenheit nurzudeutlich, dass nicht zuletzt diejeweilige Konzeption derFreiheit imNaturzustand theoriestrategisch vorentscheidend istfürdie Ausgestaltung desbürgerlichen Zustands unddasMaßderFreiheit indiesem Zustand. –wasimmer inconcreto darunter zuverstehen sein mag Undwenn(2)„Friedlichkeit“ –als Voraussetzung des Schutzes derGrundrechte imunddurch denStaat postuliert wird, so dass „ Verhalten erst garnicht indenGenuss dieses Schutzes unfriedliches“ kommt, stellt sichmethodisch dieFrage nachderTrag- undLeistungsfähigkeit dieses Ansatzes imVergleich zueiner Konzeption, diedasEingreifen vonGrundrechten nicht vonwertenden Kriterien wiedemder„Friedlichkeit“ abhängig macht unddiekonkreten Grenzen der Freiheit nicht durch Subsumtion unter ein Merkmal wiedasjenige der , sondern durch Abwägung konfligierender Rechtsgüter bestimmen will. Friedlichkeit“ „ Beidiesem Trag- undLeistungsfähigkeitsvergleich werden normstrukturelle Aspekte eine entscheidende Rolle spielen. Dochdavon später mehr. Zuvor eine kurze Zwischenblende, die vorübergehend vonderMeta-Ebene methodenkritischer Reflexion aufdiephänomenale Ebene führt. ZurIllustration gleichermaßen des Problems wiedes vonihmausgehenden Problemdrucks werden äußerst drastische undweniger drastische, wenngleich alsdramatisch empfundene Phänomene angeführt: Vomkünstlerisch inszenierten Mord auf der Theaterbühne über die religiös motivierte Witwenverbrennung, dieZwangsverstümmelung junger Frauen, die Meinungskundgabe mitden Mitteln der Gewalt gegen Personen oder Sachen, die gewerbsmäßige Hehlerei, denHausfriedensbruch, dasSprayen auffremdes Eigentum bishinzurSitzblockade alsunfriedlicher Demonstration reicht diehiernurunvollständig wiedergegebene Liste derBeispiele4. Diese sollen illustrieren, dass Verhaltensweisen existieren oder jedenfalls denkbar sind, deren Zuordnung zu einem Schutzbereich grundrechtlicher Freiheitsgewährleistungen methodisch unredlich5 sowie inderSache grotesk unddasRechtsbewusstsein zersetzend6 wäre. DieSchärfe derartiger Verdikte lässt nurzudeutlich das„ , jedenfalls demUnernst des Unbehagen anderUn-Kultur“ Ansinnens spüren, die Konkretisierung der Grenzen grundrechtlicher Freiheit auch hinsichtlich solch schädlicher wiederhierinRede stehenden Verhaltensweisen spielerisch, nämlich –so Alexy – durch Abwägung als Spiel von Grund undGegengrund,7 gewinnen zuwollen, wodochschon dieEröffnung dieses Spiels durch dieerst einmal anzunehmende Verfassungsgewährleistung einer Freiheit zumTöten, Stehlen und Nötigen derVernunft dermenschenrechtlichen Tradition8 widerstreite. Dementsprechend wollen dieBefürworter desFriedlichkeitsvorbehalts entweder gewaltsame Akte9 oderalle herkömmlichen unter Strafe stehenden undoffensichtlich sozialschädlichen Handlungen10 vonvornherein ausdemSchutzbereich vonFreiheitsrechten ausschließen. Aufdie harschen Vorwürfe derBefürworter einer naturrechtlich oderinanderer Weise präformierten Freiheit reagiert dieGegenseite indes relativ kühl, fasttechnizistisch. 4

Diese Beispiele finden sich bei Starck (Anm. 1), Art. 1, Rdnr. 279; Muckel (Anm. 1), S. 347 (355);

7 8

Alexy (Anm. 1), S. 289 f. Starck (Anm. 1), Art. 1, Rdnr. 278. Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (48, 52); a.a.O., S. 52, auch zurDifferenz einer so verstandenen Friedenspflicht zueinem neminem-laedere-Gebot. Starck (Anm. 1), Art. 1, Rdnr. 203, verwendet diese Kriterien zwarimZusammenhang mitderallgemeinen Handlungsfreiheit, dieimunmittelbaren Anschluss angeführten Beispiele imHinblick auf andere Grundrechte zeigen jedoch, dass auch dort die Bejahung dergenannten Kriterien die Berufung aufdenSchutzbereich ausschließen soll.

Isensee, in:FS Sendler (Anm. 1),S. 39 (61f). 5 Vgl.nurIsensee, HbdStR, Bd.5, § 111(Anm. 1), Rdnr. 174. 6 So Starck (Anm. 1),Art. 1, Rdnr. 279.

9

10

159

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

FürsieistdasinRedestehende Problem eherdogmatisch-konstruktiver Natur.11 Dass die Grundrechte i.Ü. keine effektive Garantie unbegrenzten undnach Belieben auch gemeinschädlichen Freiheitsgebrauchs böten, verstehe sich –so Lübbe-Wolff – von selbst. Aufdieser Selbstverständlichkeit beruhe derbloß rhetorische Effekt derFrage, ob es denn ein Grundrecht auf Mord oder Diebstahl geben könne.12 Undden Unredlichkeitsvorwurf kontert Alexy imVertrauen aufdieRationalität undKontinuität einer

am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

orientierten Verfassungsrechtsprechung,13

retoumiert sein Schüler Borowski mitdemHinweis aufRationalitätsdefizite dersogenannten Innentheorie einer präformierten Freiheit.14 Diehier skizzierte Auseinandersetzung als Stil- oder Befindlichkeitskonflikt zwischen derWärme undVertrautheit kulturell tradierter Vorverständnisse einerseits und dem kühlen postmodernen Ambiente substanzentleerter, artifizieller Konstruktion andererseits interpretieren zuwollen, griffe zukurz. Denmateriellen KerndesProblems bildet vielmehr derBegriff derFreiheit undderen stets prekäres Verhältnis zumStaat. Dies lässt sichexemplarisch belegen anhand dertheoretischen Fundierung desFriedlichkeitsvorbehalts bei Isensee, derdie ammeisten elaborierte Begründung dieser Figur vorgelegt hat.

II. Rechtsphilosophische Kritik

1. DasKorrespondenzverhältnis vonGewaltmonopol des Staates undFriedenspflicht derBürger als Basis derBegründung eines allgemeinen Friedlichkeitsvorbehalts?

a) Gewaltmonopol undFriedenspflicht als a priori verfasster Freiheit Den Ausgangspunkt der Isensee’schen Argumentation bildet das Korrespondenzverhältnis vonGewaltmonopol desStaates einerseits undFriedens- wiei. ü.auchhier nicht weiter zuthematisierender Rechtsgehorsamspflicht derBürger15 andererseits, die als Strukturen des modernen Staates jeder möglichen Verfassung16 unddamit auch denGrundrechten derVerfassung vorauslägen.17 AufderBasis desGewaltmonopols, dassichaufdenEinsatz physischer Zwangsgewalt beziehe, konstituiere sichderStaat als Entscheidungs-, Macht- und Friedenseinheit. Die staatliche Macht diene nicht zuletzt demZiel, die Grundrechte zuwahren, zu schützen undihre rechtlichen wie realen Grundlagen zuermöglichen.18 Nurinderstaatlich befriedeten Gemeinschaft sei wiederum grundrechtliche Freiheit möglich als fürjedermann gleiche, rechtlich zuge11

12 13

14

Schlink (Anm. 1), S. 457 (467). S.a. Alexy (Anm. 1), S. 279, derdieweite Tatbestandstheorie als Konstruktionstheorie bezeichnet, aberdarauf hinweist, auchdiese Theorie habe normative Bedeutung, dadie Konstruktion einer Begründung Einfluss aufdas Ergebnis haben könne. Auch LübbeWolff (Anm. 1), S. 98, spricht voneiner dogmatischen Konstruktion. Lübbe-Wolff (Anm. 1), S. 87. Alexy (Anm. 1), S. 294. Borowski (Anm. 1),S. 46 f, unter Berufung aufMichael Kloepfer, Grundrechtstatbestand undGrundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Chr. Starck (Hg.), Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd.2, Tübingen

1976, S. 405 (407). 15 Isensee, in: FS Eichenberger (Anm. 1), S. 23 (23 ff); ders., in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (46 ff); Kröger (Anm. 1), S. 172 (173). 16 Vgl. diese zugespitzte Formulierung bei Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 115, Rdnr. 109. 17 Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (50). 48). 18 Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (46–

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Karl-Eberhard Hain

messene, staatlich gesicherte Freiheit. Außerhalb des gewaltenmonopolistischen Gemeinwesens existiere nurdieaußerrechtliche, ungleiche, ungesicherte Freiheit der Anarchie.19 DemGewaltmonopol korrespondiere als Grundpflicht die Friedenspflicht derBürger, ihrerseits aufdieAndrohung undAnwendung physischen Zwangs zuverzichten. Fürden Ausschluss von Eigenmacht undSelbstjustiz der Bürger, der nur ausnahmsweise durch die Institute vonNotwehr undNothilfe durchbrochen werde, leiste derStaat Ausgleich durch dieRechtsschutzgewähr. Die– wiederum denpositivenGrundrechten vorausliegende –Friedenspflicht könne nicht verfassungsgesetzlich geregelt werden, weilRegelungen durch dieVerfassung erst möglich seien, wenndie Bürger inihrer Gesamtheit die Friedenspflicht annähmen underfüllten unddamit die Staatlichkeit des Staates konstituierten.20 Als Basis fürdie Begründung des Ausschlusses schädlicher Verhaltensweisen vomSchutz grundrechtlicher Freiheit dient Isensee - dasisthinzuzufügen, umdasBild nicht nurdaswegen derVerschwommenheit desGewaltbegriffs inseiabzurunden – nen Randbereichen umso anpassungsfähigere Gewaltverbot bzw. Friedlichkeitsgebot,21 sondern jedenfalls inAusnahmefällen auchdasPrinzip des„ neminem laedere“ .22 Magindes dasFriedlichkeitsgebot hinreichend anpassungsfähig anauszunehmender Sensibilisierung resultierende Schutzbedürfnisse sein,23 umzivilen Ungehorsam als nicht grundrechtswürdig zuerweisen,24 so dochimmerhin beialler Anpassungsfähigkeit nicht flexibel genug, umschädigende Emissionen vontechnischen Anlagen aus grundrechtlichen Schutzbereichen zuverbannen.25 Angesichts derkomplizierten Konflikte desUmweltrechts versagt derscheinbar dochetwas grobschlächtige Friedlichkeitsvorbehalt, wird das feingliedrigere „ neminem laedere“ -Prinzip aber gar nicht erst in Anschlag gebracht. Hiertutvielmehr not, wasansonsten dieverfassungsrechtlichen Operationen allzu oftals notleidend erscheinen lässt: eine Abwägung.26

b) Derpartielle

Bruch

mitdemrechtsstaatlichen

Verteilungsprinzip

Dochwärees zuvordergründig, wollte manzurKritik derIsensee’schen Thesen nurauf denEffekt derEntlarvung recht offenkundiger Inkonsistenzen setzen. Inkonsistenzen beiderKonkretisierung vonGrundpositionen sindkeine Seltenheit undnicht selten sind sie imFortgang des wissenschaftlichen Diskurses korrigierbar. Hiergeht es vielmehr umdieKritik derBasisannahmen zurBegründung des Friedlichkeitsvorbehalts. Dass sich der neuzeitliche Staat nicht zuletzt imWege der Konzentration der Macht im Inneren beiderterritorial radizierten Fürstenherrschaft entwickelt hat(„ innere Souveränität“ ), dieihre befriedende Funktion wiederum wesentlich aufderBasis derExklusivität ihrer Befugnis zumEinsatz physischen Zwangs –des später so genannten27 Gewaltmonopols“–entfalten konnte, gehört noch zumGrundbestand geläufiger „ lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 115, Rdnr. 110. lsensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (48). Vgl. lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 102. Vgl. nur lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 105, 177. lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 102. lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 177. lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 181. Kritisch insoweit auch Sachs (Anm. 1), § 81 IV 4 b d, S. 539. 26 Vgl. lsensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 181. 27 Vgl. Max Weber, Wirtschaft undGesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1976 (6. Nachdruck 2002), S. 29 f: Monopolcharakter der staatlichen Gewaltherrschaft“ „ .

19 20 21 22 23 24 25

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

161

Erkenntnisse derAllgemeinen Staatslehre.28 Aberderdeskriptiv-sozialwissenschaftlizumRechtsbegriff, greift übervomSein che Begriff wandelt sich–folgen wirIsensee29 – zumSollen, vonderNormalität zurNormativität, vomBereich derAllgemeinen Staatslehre aufdas Staatsrecht, woer als Bedingung derMöglichkeit jeglicher Verfassung und positiver Grundrechtsgarantie30 verfassungsrechtliche Relevanz gewinnt. Diese Thesen sind schon fürsich genommen wissenschaftstheoretisch hochgradig problematisch. DieStilisierung eines empirischen Befundes zuma priori jeder möglichen Verfassung stellt einen Kategoriensprung dar. Weiterhin fragt mansich: Soll hier einer das Wort genormativen Kraft des Normalen“ überaus fragwürdigen These vonder„ redet werden? Wiesoll derSchritt vomSein zumSollen bewältigt werden ohne naturalistischen Fehlschluss? Nun,dieAntwort könnte lauten: Durch Setzung einer die Friedlichkeitspflicht beinhaltenden Verfassungs-Norm. Dafür, dass diezitierten Äuße-

rungen in dieser Weise zuverstehen sein sollen, spricht auch derVerweis aufdie vorgeblich ähnliche Entwicklung der Gewaltenteilungslehre von der Wirklichkeitsbeschreibung bishinzumpositivrechtlichen Verfassungsprinzip.31 Aberwieverhält sich diese Annahme zuderbereits wiedergegebenen These, dieFriedenspflicht könne gar nicht verfassungsgesetzlich geregelt werden?32 Diese Behauptung erhebt lsensee nicht übersieht, dass wenngleich darüber verwundert33 – wiederum, obwohl aucher – friedlich undohne dochjedenfalls Art.8 Abs.1 GGdiepositiv-rechtliche Formulierung “ imHinblick aufDemonstrationen enthält.34 Waffen” Hierbleibt – mankommt nicht umhin daszukonstatieren –manches imUnklaren. Eines aber nicht: dieargumentationsstrategische Pointe dieser Thesen. Sie besteht darin, das weithin unter derVerfassung aufderEbene des einfachen (Polizei- und Ordnungs-, Vollstreckungs-, undStraf-) Rechts austarierte Korrespondenzverhältnis , als staatskonstituierendes a vonGewaltmonopol undFriedenspflicht „hochzuzonen“ priori vordieVerfassung zusetzen undvondieser vorgeblich denknotwendigen Verdurch dieVerfassung garantierten Freierst“ fassungsvoraussetzung ausgehend die„ heiten inihrem Schutzbereich imSinne derangenommenen Voraussetzung restriktiv 36 Staatsvorbehalt des Gewaltmonopols“ zu interpretieren.35 So korrespondiert dem„ vorbzw.außerhalb derVerfassung schließlich dierestriktive Interpretation vonFreiheitsschutzbereichen innerhalb der Verfassung. Leicht erkennbar sind indes auch die problematischen Folgen dieser Grundposition. Wenndamit dasKorrespondenzverhältnis vonGewaltmonopol undFriedlichkeitspflicht sowie dervorgeblich dadurch konstituierte seinerseits inBestand undFunktion Bedingung derMöglichkeit derVerfassung Staat – vordieVerfassung undihre Freiheitsrechte gesetzt werden, undihrer Grundrechte37 – Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl. München 2003, § 9, S. 58 ff; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart u.a. 2003, §§ 9, 10, S. 32 ff. Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (55). Vgl. Isensee, in: Recht in Deutschland undKorea, Bd. 5 (Anm. 1), S. 51 (70); ders., HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 115, Rdnr. 109; ders, FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (59). Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (55). Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (48). Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (55). Vgl. nurdie Ausführungen vonIsensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (39 ff), inderen Rahmen darauf hingewiesen wird, dass bezüglich derFrage, obArt.8 Abs. 1 GGinsoweit eine Besonderheit enthält oderAusdruck eines allgemeinen Prinzips ist, vondieser Regelung ausgehend sowohl ein Umkehr- als aucheinAnalogieschluss möglich sei; a.a.O., S. 42. Aufdiese Weise wirdübrigens dieangeblich nicht verfassungsgesetzlich regelbare Friedenspflicht dochGegenstand despositiven Verfassungsrechts. Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 115, Rdnr. 112. Isensee, in: Recht in Deutschland und Korea, Bd. 5 (Anm. 1), S. 51 (70).

28 Vgl. nurReinhold Zippelius, 29 30

31 32 33

34

35 36 37

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liegt darin eine Verkehrung des Verhältnisses von Freiheit undStaat, wie es im Vernunftrecht derAufklärung gedacht wurde. MitdemPostulat derVorstaatlichkeit der Freiheit warderen Etablierung als Kriterium derErrichtung des Staates undineinem weiteren, über Hobbes hinausführenden Schritt derOrganisation undAusübung der Staatsgewalt intendiert. MagesauchderPikanterie nicht entbehren, ausgerechnet Carl Schmittin diesem Zusammenhang zuzitieren, sohatdocherdieKonsequenzen dieser Logik treffend wiefolgt formuliert: „ Jede gesetzliche Normierung, jede behördliche Intervention, jeder staatliche Eingriff mußprinzipiell begrenzt, meßbar, berechenbar, jede staatliche Kontrolle ihrerseits wieder kontrollierbar sein.“ 38DieThese vomFriedlichkeitsvorbehalt derFreiheitsrechte bricht partiell mitdiesem so genannten „ rechts,39indem sieunter Berufung aufGrundvoraussetzungen staatlichen Verteilungsprinzip“ derStaatlichkeit alsBedingung derMöglichkeit konstitutioneller Freiheit deren Schutzreichweite vonvornherein begrenzt, so dass insoweit dieFreiheit ebennicht mehrals Kriterium derHerrschaftsausübung zurVerfügung steht. Zwarweisen die Vertreter des Friedlichkeitsvorbehalts darauf hin, dass dieser Bruch vondurchaus begrenzter Wirkung sei. AusdemTatbestand ausgegrenzt werde ausschließlich dieRechtsverletzung als solche. DieQualität desGrundrechtseingriffs entfalle demgemäß allein fürderen Verbot durch Gesetz, Verwaltungsakt oderUrteil.40 Sowohl Vorfeldmaßnahmen als auchdiespätere Durchsetzung eines Verbotes durch Verwaltungszwang oder Sanktionen wie Strafe oder Schadensersatz seien als Grundrechtseingriffe zuqualifizieren undanhand dereinschlägigen Grundrechte41 zu rechtfertigen. Damit zeige sich, dass derGrundrechtsstatus desStörers nurgegenüber dem staatlichen Verbot des Übergriffs zurückgenommen werde.42 Undbezüglich dieses Verbots selbst greife immerhin der allgemeine Gesetzesvorbehalt ein, der unabhängig vondenGrundrechten alsobjektive Gewährleistung derBerechenbarkeit staatlichen Handelns gelte.43 Letzteres istzumindest zweifelhaft, dadieGrundrechtsrelevanz auchfürdasEingreifen desallgemeinen Gesetzesvorbehalts imGrundrechtsbereich maßgeblich ist.44 Aberselbst wennVerbote unfriedlichen Verhaltens nuraufder Basis von Gesetzen ergehen könnten, vermag der Verweis auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt dieProblematik des Friedlichkeitsvorbehalts nicht zuentschärfen. Imfreiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat wird der Status der Herrschaftsunterworfenen ebennicht nurprozedural durch denGesetzgeber, sondern auchdurch die Gewährleistung materialer Rechte gesichert. In diesem gemischt material-prozeduralen Ansatz45 übernehmen auch46 undgerade dieGrundrechte alsMinderheiten-

38 Carl Schmitt,

39 40

41

42 43

44

45

Grundrechte undGrundpflichten, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 4. Aufl. Berlin 2003, S. 181 (208 f), in Bezug auf Freiheitsrechte des status negativus. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. Berlin 1993, S. 164. AufSchmitt nimmt imvorliegenden Zusammenhang auchBorowski (Anm. 1), S. 56, Bezug. Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 181. Isensee, in:FS Sendler (Anm. 1),S. 39 (42), weist insoweit auchaufdieBedeutung derJustizgrundrechte unddesArt.2 Abs.2 GGzugunsten desmitFreiheitsstrafe Bedrohten hin;s.a. Starck (Anm. 1), Art. 2, Rdnr. 13. Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 181. Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 169, s.a. Rdnr. 179. Vgl. nurKarl-Peter Sommermann, in:H.v.Mangoldt/F. Klein/Chr. Starck (Hg.), GG,Bd.2, 4. Aufl. München 2000, Art. 20, Rdnr. 266 ff. Grundrechtsrelevanz kannhöchstens imHinblick aufdiezu schützenden Freiheiten derdurch „ unfriedliches“Verhalten Betroffenen bestehen. –In anderer Hinsicht kritisch imHinblick auf Isensees Anführung des Gesetzesvorbehalts auch Lübbe-Wolff (Anm. 1), S. 88. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung undWandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 1991, S. 143 (146 f). –Interessant istindiesem Zusammen-

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

rechte

163

dieSicherungsfunktion gegenüber demokratischen Mehrheitsentscheidungen.

Esgehtebennicht nurdarum eine Konstruktion zuwählen, diesicherstellt, „dass die Abgrenzung zwischen akzeptablem undinakzeptablem Freiheitsgebrauch ... inerster bleibt.47 Dies trifft nurden–freilich bedeutenden – Linie Sache des Gesetzgebers“ Aspekt derFreiheit inihrer politischen Dimension. Ebenso fundamental ist indieser Konzeption dieAufrechterhaltung derkriterialen Funktion derFreiheit inihrer subjektivprivaten Dimension auchgegenüber demGesetzgeber. Beiden Dimensionen versuchen die Vertreter so genannter weiter Tatbestandstheorien48 dadurch gerecht zu werden, dass sie zwischen einem nicht präformierten Schutzbereich undeinem effektiven Garantiebereich vonFreiheitsrechten unterscheiden, wobei derLetztere in erster Linie vomGesetzgeber imHinblick aufgegenläufige Rechtspositionen konkre-

tisiert wird, allerdings nach Maßgabe dernicht präformierten prinzipiellen Freiheitsgarantie als Kontrollmaßstab inderHandderVerfassungsgerichtsbarkeit. Wennman demgegenüber nachdenWurzeln des–begrenzten –Einbruchs derFigur des Friedlichkeitsvorbehalts indie fein ausdifferenzierte Architektonik individueller undpolitischer Freiheit sucht, diegleichermaßen Herrschaftslegitimation wie-limitation aufder Basis derThese vonderAutonomie desMenschen gewährleisten soll, stößt manauf Isensees wiederholte Verweise aufHobbes unddessen Freiheitskonzeption.

c) Affinitäten zurHobbes’schen Freiheitskonzeption anarchischen“ FreiheitsUnter Rekurs aufHobbes wendet sich Isensee gegen einen „ begriff subjektiver Beliebigkeit: Mit der Annahme der Friedenspflicht erhebe sich der Mensch zumBürger, indem er denstatus naturalis derAnarchie verlasse undinden status civilis der befriedeten Welt bürgerlicher Gesittung eintrete. Die durch die Grundrechte gesicherte Freiheit seikeinNaturgewächs, sondern dasWerkgeschichtlicher Entwicklung, eingebettet in Staat, Recht undGesellschaft. Die grundrechtsgesicherte Freiheit liege weitab vonderungesicherten undungleichen, anarchischen Freiheit des status naturalis imSinne Hobbes’49.Einer vor- bzw.unstaatlichen anarchischen Freiheit, dieesaufzugeben gilt, soweit ihreAufgabe Staats- undVerfassungsvoraussetzung ist, wirdalso diebürgerlich gesittete, inStaat, Recht undGesellschaft eingebettete Freiheit gegenübergestellt, dieallein derStaat inSicherheit garantieren anarchischen“ Freiheit kann. Diese Freiheit imbürgerlichen Zustand istgegenüber der„ hangdieBemerkung RalfDreiers, Recht undGerechtigkeit, in:ders., Recht-Staat-Vernunft, Frank-

S. 8 (25 f), dieTheorie des demokratischen Verfassungsstaates sei inihrer Gesamtheit das historisch eindrucksvollste Beispiel einer gemischt prozedural-materialen Gerechtigkeitstheorie (Hervorhebung vonmir), diederStaatsgewalt nicht nurdurch entsprechende Regelungen verfahrensmäßig, sondern durch die Gewährleistung vonMenschen- undBürgerrechten auchinhaltlich Grenzen setze. Nicht übersehen werden sollte allerdings, dass auch im Staatsorganisationsrecht zunehmend rechtliche Sicherungen fürMinderheiten entwickelt wurden. Lübbe-Wolff (Anm. 1), S. 99. Nw.o. Anm. 1.

furt a. M.1991,

46 47 48 49

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52) m.w.N. Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (46– Diesen betonend Isensee, HbdStR, Bd.5 (Anm. 1),§ 115, Rdnr. 109f; ders., in:FS Sendler (Anm. 1),S. 39 (48). Dabei hebt Isensee, in:FS Eichenberger (Anm. 1),S. 23 (29), hervor, Freiheit könne nicht gegen Sicherheit ausgespielt werden, ohneselbst Schaden zuleiden. Inderliberalen Ordnung seiSicherheit dieUnversehrtheit derFreiheit eines jeden Bürgers, zugleich auchdieUnversehrtheit derstaatlichen Institutionen, diedasZusammenleben freier Personen ermöglichten. Esgebe keine fundamentale Antinomie zwischen Freiheit undSicherheit.

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schon tatbestandsmäßig umdie Potentiale verkürzt, die als „ demFrieunfriedliche“ dens- undSicherheitszweck50 des gewaltenmonopolistischen Staates zuwiderlaufen. Dieser Ansatz weist inderTatstrukturelle Affinitäten zuderKonzeption Hobbes’ auf. Dessen naturzuständliches Recht eines jeden aufalles, sogar aufdenKörper des anarchische“ Freiheit derWölfe imKrieg. Diesen Kriegszustand anderen,51 dasistdie„ gilt es durch Abschluss des Sozialvertrages zu überwinden, in dem alle das Recht auf alle bis aufeinen, denSouverän,53 dessen Souveränität sich eben alles aufgeben52 – darauf gründet, dass eralseinziger dieses Recht behält54 undvondenübrigen zurHerrschaftsausübung autorisiert55 wird. So kannerdenHerrschaftsunterworfenen Sicherheit56 bieten. DerPreis fürdiese Sicherheit istderVerlust dernaturzuständlichen Freiheit, die sich in ihrer theoriestrategischen Funktion der Legitimation der Errichtung absoluter Herrschaft verbraucht57 unddeshalb als Kriterium derHerrschaftsausübung nicht mehrzurVerfügung steht. VonderFreiheit bleibt imbürgerlichen Zustand vielmehr nurübrig, was die Gesetze vonihrübrig lassen.58 Zwarist derHerrscher naturrechtlich aufdasGemeinwohl verpflichtet, sollauchnurdieGesetze geben, diezum WohlderBürger unddes Staates unbedingt erforderlich sind, unddenBürgern die unschädliche Freiheit erhalten.59 Nurist dieser Staatszweck nicht Gegenstand des Sozialvertrages odereiner sonstigen Rechtsbeziehung zwischen Bürgern undHerrscher.60 Schon beiHobbes bildet also dieAufgabe einer wilden, unfriedlichen Freiheit dieVoraussetzung fürdieErrichtung desSicherheit bezweckenden Staates, derseinen 51 So Thomas Hobbes, Leviathan, I. Fetscher (Hg.), Frankfurt a.M. 1966 (Neuausgabe 1984), 14. Kap., S. 99; s.a. ders., De cive, G. Gawlik (Hg.), Hamburg 1994, 1. Kap., 8./9. Abschn., S. 81 f. 52 Hobbes, De cive (Anm. 51), Vorwort, S. 69 f; ders., Leviathan (Anm. 51), 17. Kap., S. 134. 53 Vgl. Hobbes, Decive (Anm. 51), 2. Kap., 4. Abschn., S. 88:„Eine Übertragung desRechts aufeinen andern findet statt, wennmandurch einodermehrere entsprechende Zeichen seinem Willen dem andern gegenüber, derdies Recht annehmen will, dahin erklärt, dass es nicht länger erlaubt sein solle, sich ihmzuwidersetzen, wenneretwas tut,demmansichvorher mitRecht hätte widersetzen können. Aberdass dieÜbertragung des Rechts nurdarin besteht, dass mannicht Widerstand leiste, erhellt daraus, dass der, aufdendie Übertragung geschieht, schon vordieser Rechtsübertragung das Recht aufalles besaß. Derandere konnte ihmdaher kein neues Recht verleihen; aber das Recht zumWiderstand beidemÜbertragenden, durch dasderandere nicht freivonseinem Rechte

54

Gebrauch machen konnte, wirdvöllig aufgehoben.“ Kersting (Anm. 3), S. 85 f; treffend die Kennzeichnung

. Monopolist“

des Souveräns als „ius-in-omnia-et-omnes-

55 Hobbes, Leviathan (Anm. 51), 17. Kap., S. 134 f; dazu Kersting (Anm. 3), S. 86 ff m.w.N. 56 Hobbes, De cive (Anm. 51), 13. Kap., 6. Abschn.; ders. Leviathan (Anm. 51), 30. Kap., S. 255. Vgl. dazu Hans Welzel, Naturrecht undmateriale Gerechtigkeit, 2. Nachdruck der4. Aufl. Göttingen ... derGedanke derRechtssicherheit, derSicherheit imRecht unddurch das Recht, 1990, S. 116: „

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istdertragende Gedanke des Hobbesschen Naturrechts.“ Treffend dieKennzeichnung derPosition Hobbes’alseines “ einsetzungslimitierten Individualismus” bei Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, München 2001, S. 296 ff. Hobbes, Decive (Anm. 51), 13. Kap., 15.Abschn., S. 214: „ DieFreiheit derBürger besteht nicht in derFreiheit vondenStaatsgesetzen undauchnicht darin, dass dieInhaber derStaatsgewalt nicht Gesetze nach ihrem Willen geben können. Daaber sämtliche Bewegungen undTätigkeiten der Bürger durch Gesetze niemals fest umschrieben werden, nochbeiihrer Mannigfaltigkeit umschriebenwerden können, so muss es notwendigerweise Unzähliges geben, das weder geboten noch verboten wird, sondern dasderEinzelne nachseinem Ermessen tunoderlassen kann. Indiesem Sinne versteht mandenGenuss derFreiheit; undsoistsie hierzunehmen, nämlich alsderTeildes natürlichen Rechts, dendieGesetze denBürgern gestattet undübrig gelassen haben.“ Hobbes, De cive (Anm. 51), 13. Kap., 15. Abschn., S. 214 f.; s.a. ders., Leviathan (Anm. 51), 30. Kap., S. 264. Für Welzel (Anm. 56), S. 121, stellt auch diese nursittlich-religiöse Verpflichtung aufdie bonitas legis einen erratischen Block inHobbes’Denken dar.

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gehaltene Freiheit lässt. Sicherlich sinddie Bürgern nurdievonihmfür„ unschädlich“ freiheitsausschließenden Konsequenzen desFriedlichkeitsvorbehalts nicht soweitgehendwiediejenigen derHobbes’schen Konzeption. Andererseits istderRekurs Isensees aufHobbes nicht nureinenpassant erfolgter Griff indiedogmengeschichtliche Schatulle zurGarnierung seiner Thesen mitschmückendem Beiwerk, sondern alsVerweis aufKonvergenzen inderTiefenstruktur derjeweiligen Argumentationen ernst zu nehmen. Wieistaber beiHobbes die Freiheit derIndividuen imNaturzustand konzipiert? Warum erscheint sie alswilde, anarchische Freiheit, diefürdenbürgerlichen Zustand unerträglich undgerade durch seine Etablierung zuüberwinden ist? Ausgehend von , demGrundsatz derSelbsterhaltung, ersten Grundlage des natürlichen Rechts“ der„ räumt Hobbes allen das Recht ein, alles vonihnen zurSelbsterhaltung fürnotwendig Gehaltene zutun. Danunaberjeder selbst beurteilen darf, waszurSelbsterhaltung notwendig ist, undalles, wasjemand will, ihmguterscheint, weiler es will, unddies entweder wirklich zuseiner Erhaltung dient oder ihmwenigstens so scheint, darf im Naturzustand imErgebnis jeder tun,waserwillundgegen weneres will, undalles in Besitz nehmen, waser willundkann.61 Zwarerscheint zunächst das Recht aufalles funktional hingeordnet aufdieSelbsterhaltung, daraus potentiell erwachsende BindungenimSinne einer willkürbegrenzenden Rationalität werden aberebenso wenig wirksamwiediebloßnaturrechtliche Bindung desSouverän andasbonum commune Herrschaftslimitation bewirkt. Diese Überlegungen zeigen, dass unter demdünnen Anstrich derZweckbindung dievoluntaristische Grundierung62 einer Freiheit durchscheint,63 die zudem nurdieSelbsterhaltung,64 nicht auchdieErhaltung deranderen zumZielhat.Der Wolf, das ist dernuraufsich selbst sehende Egoist, derumseiner Selbsterhaltung willen alles tundarf, was er will. Seine Freiheit ist nicht vonvornherein mitder natürlichen Vernunft versöhnt, dievielmehr derFreiheit inGestalt vonNaturgesetzen als allerdings reinzweckrational aufdieSelbstVerpflichtung entgegentritt.65 Erst diese – erhaltung ausgerichtete –Vernunft,66 gepaart mitgewissen Affekten, die friedens61 Hobbes, De cive (Anm. 51), 1. Kap., 8.–10. Abschn., S. 81 f. 62 Überdie starke Durchdringung des rationalistischen Systems Hobbes’durch denVoluntarismus Welzel (Anm. 56), S. 114. Wenn Welzel, a.a.O., S. 118 f, die voluntaristischen Tendenzen der Hobbes’ schen Lehre anhand derStellung desSouveräns aufzeigt, istzubedenken, dass dieser als einziger nicht dasimNaturzustand allen zukommende Recht aufalles aufgegeben hat. Dass Wille undMacht des Souveräns, nicht Wahrheit die Gesetze hervorbringen, ist eine Konsequenz der voluntaristischen Einfärbung schon dernaturzuständlichen Freiheit. Unddieses Recht aufalles wird sowohl benötigt, umdie Staatserrichtung zu legitimieren, als auch, umdie absolute Macht des Souveräns zubegründen, derdasRecht aufalles behält, während alle anderen es beimÜbertritt in

denbürgerlichen Zustand aufgeben.

63 Mitanderer Tendenz Kersting (Anm. 3), S. 66f. 64 Kersting (Anm. 3), S. 73, spricht insoweit voneinem Selbsterhaltungs-Absolutismus. seine, a.a.O., S. 74, Feststellung: „ Hobbes’ subjektives Freiheitsrecht verweist

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66

Treffend auch nicht

wie das

Freiheitsrecht desVernunftrechts aufeine objektive Verteilungsregel, diejedem dasgleiche Maßan notwendig begrenzter Freiheit zuspricht, ...“ EinNaturgesetz isteine von BeiHobbes, Leviathan (Anm. 51), 14. Kap., S. 99, heißt es insoweit: „ derVernunft entdeckte Vorschrift oderallgemeine Regel, ... Recht besteht inderFreiheit, etwas zu tunoderzuunterlassen, während einGesetz dazubestimmt undverpflichtet, etwas zutunoderzu unterlassen. Sounterscheiden sichGesetz undRecht wieVerpflichtung undFreiheit, diesichineinunddemselben Fallwidersprechen.“ Vgl. Kersting (Anm. 3), S. 75 f; s.a. Wolfgang Röd, in: ders. (Hg.), Geschichte derPhilosophie, Bd. 7, 2. Aufl. München 1999, S. 182; Hasso Hofmann, Einführung indieRechts- undStaatsphilosophie, Darmstadt 2000, S. 124: „ zweckrationale Klugheitsregeln“ , undS. 147: „zweckrationale Ordnungskonstruktionen eines instrumentellen Vernunftgebrauchs“ .

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geneigt machen,67 bestimmt dieIndividuen zumAbschluss des Sozialkontrakts. Pointiert ausgedrückt: Dieegoistisch-voluntaristische Freiheit imNaturzustand hatAnteil an derLegitimation derStaatserrichtung, allerdings ironischerweise nurinsoweit, als der Staat gerade benötigt wird, umsiezuüberwinden, nicht umsiezusichern. Daher taugt sie nicht als Kriterium derOrganisation undAusübung derStaatsgewalt, dieihrerseits als absolute aufdemvoluntaristisch grundierten Recht aufalles basiert.

2. DerFreiheitsbegriff desfreiheitlichen Verfassungsstaates a) Locke

AnderWiege dertheoretischen Begründung konstitutionell gemäßigter Herrschaft steht abereinanderer Freiheitsbegriff. Umzuihmzugelangen, istnureinkurzer Weg durch dieGeschichte derenglischen Staatstheorie zugehen, derzuJohn Locke als Vertreter des mehr liberal ausgerichteten Konzepts eines moderate government68 führt.69 AuchLocke arbeitet miteinem Naturzustandstheorem. Allerdings istbeiihmdie Freiheit schon imNaturzustand vonvornherein naturrechtlich-vernünftig eingebunden: DieFreiheit derMenschen, „innerhalb des Gesetzes derNatur (sic!) ihre Handlungen zuregeln undüberihren Besitz undihre Persönlichkeit sozuverfügen, wiees ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden umErlaubnis zubitten odervomWillen eines anderen abhängig zusein“ ,70ist schon als natürliche Freiheit keine zügellose:71 Sie die rechnet mitderaufherangereifter Vernunft beruhenden Einsichtsfähigkeit indas–

Naturgesetz73. Dieses lehrt, „ Erhaltung der ganzen Menschheit verlangende72 – dass niemand einem anderen, daalle gleich undunabhängig sind, anseinem Leben und 74.Unddie rationalistiBesitz, seiner Gesundheit undFreiheit Schaden zufügen soll“ sche Grundierung derRechte führt bereits imNaturzustand zuraufVerhältnismäßigkeit abzielenden Moderierung auch derStraf- undVollstreckungsgewalt derIndividuen75 beiderDurchsetzung des natürlichen Gesetzes: Überdie Bestrafung eines Verbre-

Hobbes, Leviathan (Anm. 51), 13.Kap.a.E., S. 98:„ DieLeidenschaften, diedieMenschen friedfertig machen, sindTodesfurcht, das Verlangen nach Dingen, diezueinem angenehmen Leben notwendigsind, unddieHoffnung, sie durch Fleiß erlangen zukönnen.“ 68 Vgl.JohnLocke, ZweiAbhandlungen überdieRegierung, W.Euchner (Hg.), 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, 2. Abhandlung, 14. Kap., § 159. A.a.O., 2. Abhandlung, 7. Kap., § 90, führt Locke aus, die absolute Monarchie sei inWahrheit mitbürgerlicher Gesellschaft unverträglich undkönne überhaupt keine Formvonbürgerlicher Regierung sein. 69 DieRede istalsovonLocke nachseiner Begegnung mitShaftesbury, vgl.dazunurWalter Euchner, Locke, in: H.Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd.2, 5. Aufl. München 1987, S. 9 (10). Zumfrühen Locke knapp ders., a.a.O.; S. 12 f. 70 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 4 (Hervorhebung vonmir). 71 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 6. 72 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 6 (Hervorhebung imOriginal). 73 Locke (Anm. 68),2. Abhandlung, 6. Kap., § 59:„Steht einMensch unter demGesetz derNatur? Was machte ihnfrei unter diesem Gesetz? ... Ichantworte: SeinZustand derReife, indemer, wieman annehmen darf, dazufähig ist, jenes Gesetz zuverstehen, umseine Handlungen innerhalb seiner Grenzen zuhalten.“ S.a. ders., a.a.O., § 63: „Folglich beruht dieUnabhängigkeit eines Menschen wieauchseine Freiheit, nachseinem eigenen Willen zuhandeln, aufseiner Vernunft. Sievermag ihn indemGesetz, nachdemersichzurichten hat, zuunterweisen undzurErkenntnis zubringen, wie –ZumVerhältnis zwischen SelbsterhalweiterderFreiheit seines eigenen Willens überlassen ist.“ tungundGesetz derNatur vonderPfordten (Anm. 57), S. 321. 74 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 6. 75 Dazu Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 7.

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chers darfnicht zügelloser Wille entscheiden, sondern dieStrafe mussnachMaßgabe ruhiger Überlegung unddes Gewissens unter Berücksichtigung der Strafzwecke Wiedergutmachung undAbschreckung ineinem ausgewogenen Verhältnis zurÜbersche Freiheit imNaturzustand ist demgemäß nicht eine tretung stehen.76 Die Locke’ egoistisch-voluntaristische wiebei Hobbes, sondern eine die gleiche Freiheit derje anderen vonvornherein ins Kalkül ziehende,77 rational begründete undgebundene Freiheit. Undebenso wiedieRechte derIndividuen imNaturzustand rational gebunden sind, istes auchdieHerrschaft, deren Gewalt ja aufderÜbertragung dernatürlichen Rechte derIndividuen beruht,78 dienicht mehrübertragen können alssiebesitzen.79 Sobindet dasdurch dieVernunft erkennbare fundamentale Gesetz derNatur –dieErhaltung der Menschheit –nicht nurdie Individuen imNaturzustand, sondern auch die Staatsgewalt.80 Denndienaturzuständliche Freiheit wirdnurimRahmen dersie limitierenden Zweckbindung übertragen. MaßundZweck derStaatsgewalt istdementsprechend die Erhaltung desEigentums (property) imSinne vonLeben, Freiheit undVermögen (life, liberty andestate)81 aller undindiesem Sinne dasGemeinwohl alsZusammenfassung desWohls aller Einzelnen.82 Dieser Zweck, zudessen Verfolgung sichdieIndividuen zusammenschließen, beeinflusst zumeinen dieStaatsorganisation, wiesichnicht zuletzt anderGewaltenteilungslehre Lockes83 undinderBindung derExekutive84 undder Richter85 andieGesetze86 zeigt, dieihreAutorität aufdieZustimmung derGesellschaft gründen und„ dasgroße Werkzeug undMittel“ sind, umdenBürgern denfriedlichen und sicheren Genuss ihres Eigentums zuermöglichen.87 Zumanderen bildet –wiesich derStaatszweck anhand dieser Erwägungen zurFunktion derGesetze bereits zeigt – durchgängig das Kriterium für die Ausübung der Staatsgewalt undbegrenzt die inihren äußersten Grenzen ... aufdasöffentliche Wohlder staatliche Herrschaft,88 die„ 76 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 2. Kap., § 8. 77 S.a. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 128. 78 Vgl. nurLocke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 15. Kap., § 171.

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Dieser Zusammenhang wirdvonLocke (Anm. 68) deutlich herausgearbeitet inder2. Abhandlung, 11. Kap., § 135. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 11. Kap., § 135, 15. Kap., § 171. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 123 f. Vgl. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 131. Vgl.zudiesem Gemeinwohlverständnis inder 2. Abhandlung Walter Euchner, Naturrecht undPolitik beiJohnLocke, Frankfurt a.M. 1979, S. 200. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 12. Kap., §§ 143 ff. –Zurzugrunde liegenden Intention des Schutzes derFreiheit gegen dieGefahr derWillkür inderAusübung konzentrierter Staatsmacht vgl. nurKarl-E. Hain, DieGrundsätze desGrundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 349ffm.w.N. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 131, 12. Kap., §§ 144, 147. –Auch die sog. föderative a.a.O., 12. Gewalt, diefürdieSicherheit unddieInteressen desVolkes nachaußen zuständig ist– , istderLegislative untergeordnet –a.a.O., 13. Kap., § 153, aberaufgrund derNatur Kap., § 147– ihres Gegenstandes nurschwer durch Gesetze zuleiten; a.a.O., 12. Kap., § 147. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 131. Diegegen Willkür gerichtete friedens- undfreiheitssichernde Funktion fester undöffentlich bekannt gemachter Gesetze wirddeutlich, wennLocke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 11. Kap., § 137, ausführt, dieHerrschaft dürfe nurnachsolchen Gesetzen ausgeübt werden, „damit einerseits dasVolkseine Pflichten erkennen undinnerhalb derGrenzen desGesetzes ruhig undsicher leben kann, andererseits die Herrscher in Schranken gehalten werden undnicht durch die Gewalt, die sie in ihren Händen haben, inVersuchung geraten, sie zusolchen Zwecken unddurch solche Maßnahmen zu gebrauchen, diedasVolknicht anerkannt hatundnicht bereitwillig zugestehen würde“ . Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 11. Kap., § 134. Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 131. –Wolfgang Röd, in: ders. (Hg.), Geschichte der DerZweck derstaatlichen Gewalt bestimmt zugleich ihre Philosophie, Bd.8, München 1984, S. 58:„ Grenzen.“Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. Berlin 1981,

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89ist.Sodürfen dieGesetze, denen eineSchlüsselstellung bei Gesellschaft beschränkt“ derUmsetzung desStaatszwecks zukommt,90 dieFreiheit nursoweit einschränken, als dies demGemeinwohl dient.91 Zwarnehmen Leben, Freiheit undEigentum imbürgerlichen Zustand nicht denstatus staatsgerichteter subjektiver Rechte an.92 Siegewinnen gleichwohl als Kriterien derHerrschaftsausübung normative Relevanz, daderStaatszweck, wennauch nicht Inhalt des Sozialkontrakts, immerhin Gegenstand des trust zwischen Herrscher undBeherrschten wird.93 UndderBruch des trust durch Vernachlässigung oderMissachtung derZweckbindung derHerrschaft führt zurVerwirkung des Vertrauens undzumRückfall derGewalt indieHände derjenigen, diesie erteilt haben undnunneuvergeben können.94 DasVolkdarfdiezweckwidrig handelnde Legislative oderExekutive auflösen,95 ungerechter oderungesetzlicher Gewalt gegenüber Widerstand leisten.96 InderLocke’ schen Sozialkontraktstheorie kannderZweck derSicherungderFreiheit demgemäß sowohl herrschaftslegitimierende als auch-limitierende Kraft entfalten,97 weildieFreiheit vonvornherein nicht egoistisch-voluntaristisch, sondern rational imHinblick auf die gleiche Freiheit der anderen hinkonzipiert ist. Es ist diese rationale Konzeption vonderFreiheit undihrer Sicherung durch denStaat, die staatstheoretisch undwirkungsgeschichtlich dasFundament desfreiheitlichen Rechtsstaates bildet.98

S. 23, spricht indiesem Zusammenhang voneiner immanenten Begrenzung derStaatsgewalt. Von derPfordten (Anm. 57), S. 316,attestiert Locke insoweit eine imVergleich zuHobbes fortschrittlichere, konstitutionelle Staatsrechtfertigung, die auch nach Etablierung der politischen Macht eine permanente Berücksichtigung

undPartizipation derBürger rechtfertige undfordere.

89 So Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 11.Kap., § 135, anlässlich seiner Darlegungen zurReichweite derlegislativen Gewalt. Soweit dieübrigen Teile derStaatsgewalt unter demGesetz stehen –zur diesbezüglichen Differenzierung zwischen exekutiver undföderativer Gewalt Locke (Anm. 68), 2. , sind damit auch sie gemeinwohlgebunden. Diese Zweckbindung Abhandlung, 12. Kap., § 147 – betont Locke, 2. Abhandlung, 14.Kap., § 166a.E., indessen auchimHinblick aufdiePrärogative, die er als die Macht definiert, fürdas öffentliche Wohlzu handeln, ohne dabei an eine Vorschrift gebunden zusein.

90 Vgl. nur Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 19. Kap., § 220: „Denn die Gesellschaft kann niemals durch dieSchuld eines anderen ihrangeborenes undursprüngliches Recht aufdieeigene Erhaltung verlieren, wofür nureine geordnete Legislative mitHilfe einer gerechten undunparteiischen Vollziehungdervonihrerlassenen Gesetze sorgen kann.“ 91 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 9. Kap., § 131. Dementsprechend wird –imGegensatz zur naturzuständlichen Strafgewalt – dieFreiheit imbürgerlichen Zustand nicht vollständig aufgegeben, sondern nurgemeinwohlkonform „ invieler Hinsicht“ eingeschränkt; a.a.O., §§ 129, 130. 92 Georg Jellinek, DieErklärung derMenschen- undBürgerrechte, 4. Aufl. bearb. v. Walter Jellinek, München u.a. 1927, S. 39 f, 67. 93 Vgl. nurLocke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 13. Kap., § 149: „ ..., so ist doch die Legislative nureine Gewalt, dieaufVertrauen beruht undzubestimmten Zwecken handelt. ... Denndaalle Gewalt, die imVertrauen aufeinen bestimmten Zweck übertragen wird, durch diesen Zweck begrenzt ist, ...“ .– Kersting (Anm. 3), S. 132: „ Treuhänderschaft“ . Euchner (Anm. 82), S. 196; ders. (Anm. 69), S. 9 (19), führt aus, das Verhältnis des trust sei zwar rechtlich qualifiziert, aber kein Vertragsverhältnis im engeren Sinne wieetwa einHerrschafts- bzw. Unterwerfungsvertrag. 94 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 13. Kap., § 149. 95 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 19. Kap., §§ 221 ff. 96 Locke (Anm. 68), 2. Abhandlung, 18. Kap., § 204. –ZumWiderstandsrecht bei Locke vgl. Euchner (Anm. 82), S. 212 ff; ders. (Anm. 69), S. 9 (22 f). 97 Kersting (Anm. 3), S. 133 f. 98 Zum Einfluss Lockes auf die Entwicklung in Nordamerika Euchner (Anm. 69), S. 9 (25 f); Klaus Adomeit, Rechts- undStaatsphilosophie, Bd. 2, 2. Aufl. Heidelberg 2002, S. 68; Reinhold Zippelius, Geschichte derStaatsideen, 8. Aufl. München 1991, S. 121; Klaus Stern, in:D.Merten/H.-J. Papier (Hg.), Handbuch derGrundrechte, Bd.1, Heidelberg 2004, § 1, Rdnr. 19.

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

169

b) Kant

DerZusammenhang zwischen rational konzipiertem Freiheitsbegriff undHerrschaftslegitimation, aber gerade auch -limitation lässt sich nicht zuletzt anhand derStaatsphilosophie desImmanuel Kantnachweisen. DieRepublik Kants vereinigt imRahmen eines gemischt material-prozeduralen Ansatzes bereits diePrinzipien eines freiheitlichdemokratischen Rechtsstaats in sich:99 Grundrechte, Volkssouveränität und(repräsentative) Demokratie, Gewaltenteilung, Vorrang derGesetze.100 AlleElemente dieses beruhen aufderGrundannahme gleicher äußerer Freiheit alsMenRepublikanismus“ „ Unabhängigkeit voneines anderen nötigenschenrecht. Diese Freiheit101 imSinne der„ derWillkür“ist–wiees inderEinteilung derRechtslehre102 heißt –das einzige angeborene „ ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende , „sofern sie (d.h.: dieFreiheit) mitjedes anderen Freiheit nacheinem allgemeiRecht“ 103.UnddieAnnahme dieser äußeren Freiheit nenGesetz zusammen bestehen kann“ fußt wiederum auf derinneren Freiheit zurhandlungsbestimmenden Selbstgesetzgebung aufderBasis des kategorischen Imperativs.104 Dieser findet inderZweckFormel105 eine gehaltreiche Formulierung, die einmateriales Kriterium106 fürdieVerallgemeinerbarkeit derMaximen offen legt: Esgehtdanach umVerallgemeinerbarkeit 99 Vgl. Ernst-Wolfgang

Böckenförde, Entstehung undWandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 1991, S. 143 (146 f). 100 Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, Baden-Baden 1993, S. 107 ff; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Berlin/New York1984, S. 233 ff, allerdings mita.A. bzgl. derGrundrechte; s.a. Karl-E. Hain, WiewirdFreiheit heute rechtlich geordnet? –Rechtsphilosophie nach Kant, in: Forschungsinstitut für Philosophie (Hg.), Nach Kant –Philosophische Reflexionen in seinem 200. V, C I. Todesjahr, Hannover 2005, A III– 101 ZudenFreiheitsbegriffen beiKantvgl. nurUnruh (Anm. 100), S. 117ffm.w.N. Hiergehtes umdie äußere juridische Freiheit. 102 Immanuel Kant, DieMetaphysik derSitten (imFolgenden: MdS), zit. nach: W.Weischedel (Hg.), Werkausgabe, Bd. VIII, 9. Aufl. Frankfurt a.M. 1991, Einteilung der Rechtslehre, B, S. 345 f. liegt nachKant, MdS(Anm. 102), Einteilung derRechtslehre, B, S. 345 103 Die„angeborne Gleichheit“ angebornen Freiheit“ undistvonihrnicht unterschieden. f, schon imPrinzip der„ 104 Ichgehe hiervoneiner Konsistenz indenGrundlagen derEthik undderRechtslehre Kants dergestalt aus, dass beide aufdemPrinzip derAutonomie des Menschen beruhen; allgemein zudiesemPrinzip alsGrundlage derKantischen Philosophie Unruh (Anm. 100), S. 47f;zurDebatte umdie Konsistenz der Rechtslehre mit der kritischen Philosophie ders., a.a.O., S. 41 ff m.w.N. S.a. Ralf Ideologie, Frankfurt Moral – Dreier, ZurEinheit derpraktischen Philosophie Kants, in:ders., Recht – a.M. 1981, S. 286 (290 ff, s. insbes. S. 294); Kersting (Anm. 100), Vorwort, S. IX; Ralph Alexander Lorz, Modernes Grund- undMenschenrechtsverständnis unddie Philosophie derFreiheit Kants, Stuttgart u.a. 1993, S. 136. Gegen die Annahme, Kants Bestimmung des Rechtsbegriffs lasse sich ausdemKategorischen Imperativ ableiten, Dietmar vonderPfordten, Rechtsethik, München 2001, S. 381f. –ZudenFormeln des Kategorischen Imperativs Herbert J. Paton, DerKategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 152 ff. Kant, Grundlegung zurMetaphysik derSitten (imFolgenden: GMS), in: W.Weischedel (Hg.), Werkausgabe, Bd.7, 12.Aufl. Frankfurt a.M.1993, 2.Abschnitt, S. 61:„ Handle so,dass dudie Menschheit, sowohl indeiner Person, als inderPerson eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloßals Mittel brauchest.“ 106 Aufdie imZuge derNaturrechts-Debatte nach 1945 unternommenen Versuche, derpraktischen Philosophie Kants durch Rückgriff aufdieZweck-Formel des Kategorischen Imperativs zumindest einen material-ethischen Minimalgehalt abzugewinnen, weist R. Dreier (Anm. 104), S. 286 (287) m.w.N., hin.–Welzel (Anm. 56), S. 170, betont imZusammenhang mitderZweck-Formel denmaterialen Charakter derThese vondersittlichen Autonomie derPerson; s.a. Dieter Schönecker/Allen W.Wood, Kommentar zurGMS, Paderborn u.a. 2002, S. 140, die indiesem Kontext materiale Gehalte inKants Theorie akzentuieren; Paton (Anm. 104), S. 216f zumZusammenhang zwischen Universalisierungs- undZweckformel. DieKritik anderFormalität derUniversalisierungsformel, die

105 Immanuel

170

Karl-Eberhard Hain

imHinblick aufdie gleiche Freiheit derIndividuen als vernünftige Wesen unddamit ansichselbst.107 Undes istebendiese Freiheit imSinne sittlicher Autonomie, diedenGrund derWürde dermenschlichen undjeder vernünftigen Natur ausmacht.108 Auchundgerade Kantlegt seiner Staatsphilosophie also eine Freiheit zugrunde, die nicht egoistisch-voluntaristisch, sondern rational109 konzipiert undimäußeren Gebrauch aufdieKompatibilisierung gleicher Freiheitssphären derIndividuen angelegt ist. schen Version des Dierational basierte äußere Freiheit wirdimRahmen derKant’ Sozialkontrakts beimÜbertritt ausdemNatur- indenbürgerlichen Zustand nicht etwa (endgültig) aufgeopfert, sondern „ unvermindert“als Freiheit unter Rechtsgesetzen 110undfungiert dort als Maßstab vonEntscheidungen derStaatsge„ wiedergefunden“ ganzderdemokrarousseauistisch“ walt: Imbürgerlichen Zustand wirdsie nicht etwa„ nachheutigen tischen Prozedur derGesetzgebung anheim gegeben, sondern nimmt – grundrechtlichen Charakter an.Dieswirdinsbesondere deutlich Kategorien gedacht – anhand Kants Ausführungen zudeninBezug aufihreSelbsterhaltung Unselbständigen unddaher nicht mitStimmrecht versehenen Individuen, die„fordern können, vonallen anderen nachGesetzen dernatürlichen Freiheit undGleichheit alspassive Teile des 111.DieFreiheit inihrer negativen, gegen denGesetzStaats behandelt zuwerden ...“ geber gewendeten Zielrichtung –undnicht die mitder Aktiv-Bürger-Eigenschaft ver-

Zwecke

findet in Kants Schriften bundene Freiheit auf Partizipation an der Gesetzgebung112 – konkretisierenden Niederschlag ineiner Reihe spezieller Freiheitsgewährleistungen in Hegels, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hier zit. nach Welzel, a.a.O., Verdikt gipfelt,

Weise zueinem sittlichen Gesetz gemacht werden könne, wirdzumindest relativiert, wennmanalseinKriterium derVerallgemeinerbarkeit diegleiche Freiheit derIndividuen als Personen begreift, wasnicht fernliegt, wennbedacht wird, dass es sich–so Kant –bei den verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs umFormeln eben desselben Gesetzes handele; GMS, AA,S. 436. 107 Kant, GMS (Anm. 105), 2. Abschnitt, S. 59. 108 Kant, GMS (Anm. 105), 2. Abschnitt, S. 69. 109 Aufdie unterschiedliche Fundierung dieser Rationalität bei Locke, derteils aufaristotelisch-thomistische Begründungselemente zurückgreift, undKant, der diese in seiner Subjektphilosophie

es gebe garnichts, wasnicht aufdiese

abstreift, kommt es imvorliegenden Zusammenhang nicht an. 110 Kant, MdS(Anm. 102), Rechtslehre, DasStaatsrecht, § 47, S. 434. Esändert sichdemgemäß nicht derUmfang, sondern nurdieModalität derFreiheit; so Kersting (Anm. 100), S. 221. 111 Vgl.Kant, MdS(Anm. 102), Rechtslehre, DasStaatsrecht, § 46, S. 433 (Hervorhebung imOriginal). Kantrekurriert hieraufdieFreiheit unddieinihreinbegriffene Gleichheit als einziges angeborenes Menschenrecht. Undes istebendiese gleichverteilte Freiheit, diedieUnselbständigen denanderen, d.h., den im Hinblick auf die Gesetzgebung stimmberechtigten Aktiv-Bürgern, imbürgerlichen Zustand entgegenhalten können. Daraus erhellt, dass diemenschenrechtliche gleiche Freiheit im bürgerlichen Zustand –wiederum sei betont: nach heutigen Kategorien gedacht –(auch) grundrechtlichen Status erhält unddenInhalt derallgemeinen Handlungsfreiheit unddes allgemeinen

Gleichheitssatzes annimmt. –Dies gegen Kerstings (Anm. 100), S. 265 (s.a. S. 238 f), These, wiebei Rousseau werde die Gerechtigkeit des Gesetzes ausschließlich prozedural durch das demokratische Verfahren seiner Erzeugung, nicht durch dieÜbereinstimmung mitmaterialen Gerechtigkeitsnormen (wie den Grundrechten) garantiert. –Detailiert zudieser Problematik Hain (Anm. 100), AIII. 112 Hierbeziehe ichmich aufdie Freiheit als Attribut des stimmberechtigten Aktiv-Staatsbürgers, die keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung darin besteht, „ gegeben hat ...“ ; Kant, MdS (Anm. 102), Rechtslehre, Das Staatsrecht, § 46, S. 432. Dieser Freiheit –Gleichheit –Selbständigkeit“als Attribute des Freiheitsbegriff als Bestandteil der trias „ mitgesetzgebenden Bürgers ist nicht identisch mitdemBegriff derFreiheit als Menschen inder gleichlautenden trias derPrinzipien a priori desbürgerlichen Zustands inderGemeinspruch-Schrift; vgl. Immanuel Kant, ÜberdenGemeinspruch: DasmaginderTheorie richtig sein, taugt abernicht fürdiePraxis (imFolgenden: Gemeinspruch), zit. nach: W.Weischedel (Hg.), Werkausgabe, Bd.XI, II.ÜberdenGemeinspruch imStaatsrecht, S. 145, deren Wiedergabe Kersting (Anm. 100), S. 233,

171

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

wiedemEigentumsrecht unddemRecht derVererbung, derMeinungsfreiheit inklusive derGedanken- undPressefreiheit, der Religionsfreiheit undder Freiheit derWohnung.113 Eineinstitutionelle Sicherung durch Einsetzung einer Verfassungsgerichtsbarkeiterfährt diegrundrechtliche Freiheit beiKantfreilich nicht,114 aucheinWiderstandsrecht lehnt er bekanntermaßen ab.115

c) Zwischenfazit: organisation

Rational konzipierte Freiheit als Kriterium

und-ausübung

derHerrschafts-

Doch darauf kommt es imvorliegenden Zusammenhang nicht an. Entscheidend ist, dass anhand derStaatsphilosophien Lockes undKants gezeigt werden konnte, dass –dogmengeschichtlich gesehen –das Modell des freiheitlichen Verfassungsstaates aufeinem rationalen Freiheitsbegriff basiert, derdieFreiheit desEinzelnen reziprok zur Freiheit derje anderen konzipiert. Eine derartige Freiheit geht nicht mitdemEintritt in denbürgerlichen Zustand unter. Siebildet vielmehr dasKriterium derOrganisation und Ausübung derHerrschaft, diefunktional aufdie Sicherung dergleichen Freiheit der Individuen bezogen ist, ohne dass dieser Sicherungszweck zurAufgabe individueller

Freiheit nötigte. Soweit Isensees Theorie vomFriedlichkeitsvorbehalt derFreiheitsgrundrechte auf Hobbes rekurriert, indem sie „ unfriedliche“Freiheitsausübung mit dessen egoistisch-voluntaristischer Freiheit imNaturzustand inVerbindung bringt, und imHinblick aufdasKorrespondenzverhältnis vonGewaltmonopol undFriedenspflicht Verhaltensweisen verkürzt, verfehlt sie denraunfriedliche“ bürgerliche Freiheit um„ tional konzipierten, aufReziprozität gleicher Freiheitssphären angelegten Freiheitsbegriff, derdieBasis fürdenfreiheitlichen Verfassungsstaat unddurchgängig dasKriterium für dieHerrschaftsausübung indiesem Staat bildet. Esistebendieser Freiheitsbegriff, der imZusammenhang mitder imZuge der Entwicklung des liberalen Rechtsstaates stärker akzentuierten Rolle derdritten Gewalt116 zudemso genannten rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip führt, welches ausnahmslos die Meßbarkeit undKontrolle jedes staatlichen Eingriffs fordert.

d) Widerspruch zwischen nicht präformierter Freiheit undVernunft menschenrechtlichen Tradition?

der

Kriterium eines jeden staatlichen Eingriffs kanndie Freiheit aber nursein, wennsie unverkürzt bezüglich eines jeden Verhaltens derIndividuen, aufwelches derStaat ggf.

andenBeginn seiner Ausführungen zudenPrinzipien des status civilis stellt. –Unruh (Anm. 100), S. 125 ff, wiederum betrachtet „politische Freiheit“als speziellen Unterfall des „angebornen“Menschenrechts aufFreiheit imSinne von„ Unabhängigkeit voneines anderen nötigender Willkür“ , u.z. mitdernegativen Komponente derUnabhängigkeit vondernötigenden Willkür desGesetzgebers – darin liegt dieKonkretisierung gegenüber demallgemeineren Menschenrecht – sowie derpositiven Komponente, nurdemGesetz zugehorchen, welchem erzugestimmt hat; zuKants Gebrauch des Begriffes „ politische Freiheit“ vgl. die Vorarbeiten zurGemeinspruch-Schrift, Akademie-Ausgabe,

Bd. 23, Berlin 1955, S. 129 f. Die„ grundrechtliche Dimension“ dergleichen Freiheit ist nach Unruhs Diktion die negative Komponente der politischen Freiheit. 113 Vgl.zueinzelnen speziellen Freiheitsgewährleistungen Unruh (Anm. 100), S. 130ffm.w.N. 114 Unruh (Anm. 100), S. 129.

schen Position im Hinblick auf das Bzgl. der Darstellung und kritischen Diskussion der Kant’ Widerstandsproblem kannhierverweisen werden aufUnruh (Anm. 100), S. 194ffm.zahlr.N. 116 Hain (Anm. 83), S. 28.

115

172

Karl-Eberhard Hain

reagiert, als einschlägig angesehen wird. Das spricht fürdie Annahme einer nicht präformierten Freiheit, aus deren Schutz nicht vonvornherein „ Verhalunfriedliche“ tensweisen ausgenommen sind. Aber wie steht es schließlich mit dem Einwand Starcks, eine auch nurprima facie eingeräumte Freiheit zumTöten, Stehlen und Nötigen, die über die Grundrechtsschranken sogleich wieder zurückzunehmen sei, lasse sich nicht mitderVernunft dermenschenrechtlichen Tradition begründen?117 Nun,einem Theoretiker desNatur- bzw.Vernunftrechts, dersichanschickt, sichvonder zubegeben und Ebene der„ obersten Prinzipien“ aufdiejenige der„mittlere Prinzipien“ selbst relativ konkrete Handlungsnormen abzuleiten,118 stellt sichnicht dasProblem der Operationalisierung derFreiheit inderInnensicht derkomplexen Architektonik eines gewaltenteilig organisierten Staates mitverschiedenen, anderFreiheitskonkretisierung beteiligten Akteuren undKontrolleuren undderWahrung derkriterialen Funktion der Freiheit unter diesen Bedingungen. Aufebendiese Problematik reagiert aberdiesog. “ weite Tatbestandstheorie” . Immerhin könnte aberversucht werden, Locke undKantzumBeleg derStichhalschen Einwands anzuführen, sinddochihre jeweiligen Freiheitsbetigkeit des Starck’ griffe – obwohl rational fundiert –inje spezifischer Weise präformiert undihre Staatsorganisationsmodelle komplex gewaltenteilig. Indes fehlt es auch indenStaatsentwürfen dieser beiden Philosophen an einer die hoheitliche Gewalt kontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit, unddemzufolge haben sie sichnicht derProblematik der Austarierung des Verhältnisses insbesondere zwischen Gesetzgeber undVerfassungsgericht zustellen. Zudem definieren ihre präformierten Freiheitsbegriffe, dasie dieEinschränkung aufNicht-Schädigung bzw.Verallgemeinerbarkeit bereits beinhalten,abstrakt dienachBeschränkung imHinblick aufdieunter bestimmten Bedingungen gegenläufigen Freiheiten verbleibende Freiheit eines Individuums. Daszielt aberauf definitive Freiheitspositionen. Undwasdendefinitiven Schutz derFreiheit betrifft, ist keinVertreter derweiten Tatbestandstheorie derAnsicht, es bestehe etwaeine Freiheit zumMord. Umaberzueinzelnen definitiven Freiheitspositionen zugelangen, sindKonkretisierungen erforderlich, die hochgradig vonWertungen abhängig sind. Indiesem Zusammenhang ist wiederum durchaus fraglich, ob die in Rede stehenden „ klassischen“ Theorien, soweit sie mitpräformierten Freiheitsbegriffen arbeiten, gemessen ampetitum weitgehender Transparenz vonWertungsprozessen hinreichend komplex undausdifferenziert sind. Waswiederum Isensees Präformierung derFreiheit anhand betrifft, sollte deutlich geworden sein, dass dieBasis seiner Wertunder„Friedlichkeit“ geninszurvorgeblichen Verfassungsvoraussetzung stilisierte Vorverfassungsmäßige, angeblich garnicht rechtlich Regelbare führt. Dasist ineinem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat miteiner aufderVolkssouveränität basierenden geschriebenen Verfassung einschwankender Grund. UndauchwennmanIsenseezustimmt, wasdas Korrespondenzverhältnis zwischen Gewaltmonopol des Staates undFriedenspflicht derBürger undseine Bedeutung fürdenneuzeitlichen Staat betrifft, ist damit noch keineswegs die Präformation des Schutzbereichs vonFreiheit unter derVerfassung präjudiziert. Aberdiese Gedanken leiten bereits unmittelbar überzudermethodologischen Kritik desFriedlichkeitsvorbehalts, dienunaufderBasis normstrukturanalytischer Überlegungen unternommen werden soll. 117 Starck (Anm. 1), Art. 1, Rdnr. 278. 118 Vgl. Welzel (Anm. 56), S. 111f, derunter Verweis aufGrotius undPufendorf ausführt, improfanen Naturrecht habe sich das Schwergewicht vondenobersten Prinzipien zudenKonklusionen verlagert. Erstdie„ mittleren Prinzipien“ enthielten diekonkreten Gemeinschaftsordnungen, nachdenen derEinzelne sich richten könne.

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

173

III. Methodologische Kritik

DiePolemik derProtagonisten des Friedlichkeitsvorbehalts richtet sichfrontal gegen dieEröffnung desAbwägungs-Spiels vonGrund undGegengrund imHinblick aufals

in dieser Kritik bekannte Ressentiments gegen dievorgeblich normativitätszersetzende Beliebigkeit derAbwä-

unfriedlich bewertete Verhaltensweisen.119 Entfernt hallen

gungwider.120 Wennaberschon Abwägung sein muss (bzw. sich als Methode inder Anwendung vonFreiheitsrechten etabliert hat), dannsollsowenig Abwägung seinwie möglich.121 Unddas Abwägungsspiel von Grund undGegengrund im Falle unfriedlichen Verhaltens zueröffnen, sieht Isensee als inkonsequent an, daaufderTatbestandsebene einpotenzieller Freiheitsschutz eröffnet werde, dervonvornherein keine seriöse Chance habe, sichinirgendeinem Einzelfall zuaktualisieren, weilernotwendig aufder Schrankenebene dementiert werden müsse.122 Aufdenersten Blick magdiese Argumentation etwas Bestechendes haben: Warum eigentlich abwägen, wenndieAbwägungohnehin nurzueinem Ergebnis führen kann? Genauso gutkönnte manallerdings fragen: Warum erst zwei undzwei zusammenzählen, wenn jeder weiß, dass das Ergebnis vierlautet. Dochmagdieses Ergebnis aucheindeutig sein, so ergibt es sich doch erst als Resultat einer Operation im Rahmen eines –relativ einfachen – mathematischen Kalküls alseines Systems vonZeichen undOperationsregeln, welche eine entsprechende Ergebnissicherheit ermöglichen. DieEindeutigkeit des Ergebnisses macht also keineswegs dieRechenoperation überflüssig. Wannabererlaubt das je, zueinem eindeutigen Ergebnis zugelangen? Esgibtsicherlich Abwägungs-Kalkül“ „ einige wenige Fälle, in denen bestimmte Antworten auf eine Abwägungsfrage als notwendig oder unmöglich eingeschätzt werden können.123 Dochselbst das–nach meinem Dafürhalten124 einzig justiziable –Mindestmaß dessen, was ein Prinzip an Umsetzung aufderkonkreten Ebene verlangt, liegt inderRegel nicht einfüralle Mal 119 S.o. A. 120 Vgl. etwa Ernst Forsthoff, in: ders., Rechtsstaat imWandel, Stuttgart 1964, S. 147 (153), der ausführt, die Jurisprudenz vernichte sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhalte, daß die Gesetzesauslegung dieErmittlung derrichtigen Subsumtion imWegedessyllogistischen Schlusses

sei. ImZusammenhang mitder Preisgabe klassischer juristischer Auslegungsmethoden spricht Forsthoff, a.a.O., S. 160, 168, vonderAuflösung des Verfassungsgesetzes in Kasuistik, die den Justizstaat begünstige. Das Ergebnis sei eine offene (a.a.O., S. 168), flexible Verfassung, die in Wahrheit keine Verfassung sei; so ders., Zurheutigen Situation einer Verfassungslehre, in:H.Barion/E.-W. Böckenförde/E. Forsthoff/W. Weber (Hg.), FS Schmitt, 1. Teilbd., Berlin 1968, S. 185 (211).

(Anm. 1), S. 347 (360): „ Abwägungen sollten daher, soweit dies möglich ist, vermieden werden.“ 122 Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 174; s.a. ders., in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (58); s.a. Starck (Anm. 1), Art. 1, Rdnr. 278; Art. 2, Rdnr. 13. 123 Vgl.Hain(Anm. 83), S. 157m.w.N. So kanneine Abwägung zwischen deneinschlägigen RechtsgüternkaumzudemErgebnis führen, einMordseiimErgebnis grundrechtlich erlaubt. Aberindiesen –höchst seltenen –Fällen bietet dieAbwägung nicht weniger Ergebnissicherheit alsdieSubsumtion unter einen Friedlichkeitsvorbehalt. Dass inanderen, weniger eindeutigen Fällen die Subsumtion unter einen Friedlichkeitsvorbehalt nicht mehrErgebnissicherheit bietet als dieAbwägung, weilim Rahmen derKonkretisierung des unbestimmten Friedlichkeitsbegriffs aufAbwägungen zurückgegriffen werden muss, sollnachfolgend gezeigt werden. 124 Vgl.Hain(Anm. 83), S. 114ff,181ffinkritischer Auseinandersetzung mitAlexys Optimierungsthese; vgl. dazu nurRobert Alexy, ZumBegriff des Rechtsprinzips, in: ders., Recht, Diskurs, Vernunft, Frankfurt a.M. 1995, S. 177 (203); ders., Rechtsregeln undRechtsprinzipien, in:ARSP Beiheft Nr.25 (1985), S. 13 (19 f); ders. (Anm. 1), S. 75 f.

121 Vgl. nur Muckel

174

Karl-Eberhard Hain

unveränderlich fest.125 Gerade vordiesem Hintergrund könnte jedoch einArgument für die Einführung des Friedlichkeitsvorbehalts lauten, durch diese Implantation eines ungeschriebenen Merkmals indenFreiheitsschutzbereich werde dieErgebnissicherheit unddamit dieRechtssicherheit erhöht.126 Fraglich istaber, obdieSubsumtion unter den

Friedlichkeitsvorbehalt wirklich höhere Ergebnissicherheit bringt. Diesen Fragen wid-

metsich nundermethodologische Teil meiner Überlegungen.

1. Normstruktur undNormanwendungsmodus a) Regeln undPrinzipien –Subsumtion undAbwägung Nunbestehen zumeinen zwischen denNormanwendungsmethoden derAbwägung undderSubsumtion grundlegende Unterschiede, allerdings –wiesich zeigen wird– nicht hinsichtlich derSeriosität derjeweiligen Methode. Zumanderen steht dieWahl zwischen diesen beiden Normanwendungsmethoden durchaus nicht imBelieben des Normanwenders. Vielmehr istdieheranzuziehende Methode durch dieArtdesFestsetzungsgehalts unddie damit korrespondierende Struktur deranzuwendenden Norm determiniert.

Dieübereinen langen Zeitraum hindurch diejuristische Methodenlehre fokussierte Methode derSubsumtion aufderBasis dessogenannten juristischen Syllogismus setzt fürihre Anwendung eine Normvoraus, dieanordnet, dass unter (relativ) bestimmten tatbestandlichen Bedingungen eine (relativ) bestimmte Rechtsfolge eintreten soll. Eine solche Normnennen wireine Regel. Bestandteil jedenfalls relativ entwickelter Rechtssysteme sindindes auchNormen, dienicht diese Struktur aufweisen, sondern füralle Fälle, diesie betreffen, nicht schon (relativ) bestimmte Rechtsfolgen, sondern erst unrelativierte Leitgedanken statuieren. Sofern Normen diese strukturellen Spezifika aufweisen, möchte ichsie als Prinzipien bezeichnen.127 DasBesondere andieser Klasse 125 Hain (Anm. 83), S. 208 f. 126 Dabei wird hier einmal außen vor gelassen, dass bezüglich der Implantation ungeschriebener Friedlichkeitsvorbehalte in Freiheitsrechte die Frage nach derKompetenz des jeweiligen Implanteurs fürdiese Operation zuklären ist. Dass hiernurSelbstverständlichkeiten umgesetzt würden, ist –wiesich bereits gezeigt hat–keine überzeugende Antwort aufdiese Frage. 127 ZurDifferenzierung zwischen Regeln undPrinzipien Hain (Anm. 83), S. 99 ff m.zahlr.Nw., in

kritischer Auseinandersetzung mitdenübrigen Protagonisten derprinzipientheoretischen Diskussion.–AufFolgendes istindiesem Zusammenhang aufmerksam zumachen: Nachmeiner Konzeptionerfolgt dieklassifikatorische Unterscheidung vonRegeln undPrinzipien danach, obeine Norm

überhaupt einen, wennauch möglicherweise unvollständigen, Festsetzungsgehalt hinsichtlich tatsächlicher undrechtlicher Bedingungen aufweist –dann handelt es sich umeine (unvollständige) , oderobsieeines solchen Festsetzungsgehalts vollständig entbehrt –dannhandelt es sich Regel – umeinPrinzip; a.a.O., S. 103. Demnach sindPrinzipien stets nicht-konditional strukturiert, dasie in ihrem normativen Gehalt nicht aufbestimmte tatsächliche Umstände Bezug nehmen. WasRegeln betrifft, so wird manzwarsicherlich konstatieren können, dass indenmeisten Fällen deraufdie tatsächlichen undrechtlichen Möglichkeiten bezogene Festsetzungsgehalt einer Regel darin besteht, dass nurunter ganzbestimmten, näher spezifizierten Bedingungen eine bestimmte Rechtsfolge eintreten soll. Diesem Festsetzungsgehalt korrespondiert eine konditionale Struktur derbetrefdiewiederum zurSubsumtion alsAnwendungsmodus führt – , unddadiese Struktur fenden Regeln – sozusagen „ imRegelfall“ vorliegt, habe ichsoeben anlässlich derKennzeichnung vonRegeln darauf abgestellt. Darin liegt allerdings eine gewisse Vereinfachung. Dennes sindauchNormen denkbar, diezwarFestsetzungen relativ zutatsächlichen undrechtlichen Möglichkeiten enthalten –also als , aber keine konditionale Struktur aufweisen; dazunäher a.a.O., S. Regeln zuklassifizieren sind–

104.

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

175

von Normen besteht darin, dass ihr normativer Gehalt in keiner Weise auf die Möglichkeiten undBedingungen dertatsächlichen undrechtlichen Welthinrelativiert ist, sie also keine relativen, bedingten Festsetzungen enthalten.128 Zuderlei Festsetzungen kommt es erst, wennderleitgedankliche Gehalt eines Prinzips anhand der jeweils maßgeblichen tatsächlichen Bedingungen mitgegenläufigen prinzipiellen Gehalten inBeziehung gesetzt wird.129 Fürdiesen Vorgang hatsich–soweit es sich um dieRelationierung anhand bestimmter Bedingungen derRealität gegenläufiger Prinzidie metaphorische Bezeichnung „ pien handelt130 – Abwägung“durchgesetzt. Wegen desvollständigen Fehlens vonFestsetzungen imBereich tatsächlicher und rechtlicher Möglichkeiten beiPrinzipien verbleiben demNormanwender beiderAbwägungerhebliche Konkretisierungsspielräume. Nachdemderzeitigen Stand derPrinzipienvonallen ihren Vertretern anerkannt, wenn wenniches richtig sehe – theorie wirddas –

auch beiderRekonstruktion derSpielräume undderBestimmung ihrer Reichweite Differenzen bestehen. Dassollhiernicht bisindieEinzelheiten ausgebreitet werden.131

b) Prima

facie-Rechte

ausprinzipiellen Freiheitsgarantien?

Aufder Basis der Optimierungskonzeption wird der unterschiedliche prima faciewashiervonInteresse Charakter vonRegeln undPrinzipien postuliert.132 Danach hat – ist–dernochnicht abgewogene normative Gehalt vonPrinzipien keinen definitiven, sondern nurprima facie-Charakter, derallerdings vonanderer Artseinsollalsderjenige 128 Hain (Anm. 83), S. 103. 129 Hain(Anm. 83), S. 101. So heißt es beiAlexy (Anm. 1), S. 92, wennPrinzipien aufdieGrenzen der tatsächlichen undnormativen Welt bezogen würden, komme es zueinem differenzierten Regelsystem.

130 Ichdenke hieretwa angegenläufige prinzipielle Freiheitsgewährleistungen. –DerAnwendungsmodusprinzipieller Gleichheitsgarantien istimvorliegenden Kontext nicht zudiskutieren. Diesbezüglich wird der Ansatz vertreten, auch Gleichheitsprüfungen als Abwägungen zu rekonstruieren –vgl. Alexy (Anm. 1), S. 390 f; eine elaborierte Version dieses Ansatzes beiBorowski (Anm. 1), S. 364 ff – ; in diese Richtung tendieren auch die Protagonisten dersog. „neuen Formel“–grundlegend zurOperationalisierung desallgemeinen Gleichheitssatzes. Falls dies nicht BVerfGE 55, 72 (88) – gelingt, haben prinzipielle Gleichheitsgarantien einen eigenen, vonderAbwägung zuunterscheidenden Anwendungsmodus; andeutungsweise in diese Richtung Hain (Anm. 83), S. 289. –Das Hauptargument Borowskis, a.a.O., S. 370, füreine außentheoretische Rekonstruktion des Gleichheitssatzes unddessen Operationalisierung unter Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip lautet, diese Konzeption bewirke eine höhere Stufung undgrößere Klarheit inderArgumentation. DieAnwendung desGrundsatzes derVerhältnismäßigkeit führe dazu, dass diefürundgegen eine

Gleichbehandlung sprechenden Argumente nicht in einer undurchsichtigen Gesamtschau verschmelzen, sondern zunächst aufdenverschiedenen Stufen inihrem Gewicht ermittelt würden. Wennaber Gleichheitsgarantien einen eigenen Anwendungsmodus haben würden, also die notwendigen Wertungen aufandere Weise als beiFreiheitskonflikten zuvollziehen wären, wäre das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht anwendbar. Die Aufgabe bestände dann eher darin, die spezifische Anwendung desGleichheitssatzes wertungstransparent zustrukturieren. Indieser Hinsicht halte iches jedenfalls nicht fürausgeschlossen, dies zwarohne Anwendung desVerhältnismäßigkeitsprinzips, abergleichwohl imRahmen eines außentheoretischen Modells zuleisten. Dies kann hierindes nicht näher ausgeführt werden. 131 Insoweit verweise ichaufHain(Anm. 83), S. 135ff,182ffm.zahlr.N. Eine„Dogmatik derSpielräume“ hatmittlerweile Robert Alexy inseinem Würzburger Staatsrechtslehrervortrag entworfen; vgl. ders., Verfassungsrecht und einfaches Recht –Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVdStRL Bd.61 (2002), S. 7 (15ff). Darauf kannhiernicht imEinzelnen eingegangen werden. 132 Vgl.nurAlexy, Grundrechte (Anm. 1), S. 87 ff; Borowski (Anm. 14), S. 78 ff,mitkritischer Wendung gegen Alexys Ausführungen zumprima facie-Charakter von Regeln, übereinstimmend aber im Hinblick aufdenprima facie-Charakter vonPrinzipien.

176

Karl-Eberhard Hain

von Regeln. Derprima facie-Gehalt von Prinzipien wird nicht zu einem definitiven Gehalt133 erstarken, wennsichinderAbwägung gegenläufige Prinzipien durchsetzen. Nach dieser Konzeption kommt es zu den vonden Vertretern des Friedlichkeitsvorbehalts bekämpften prima facie-Grundrechten aufMord, Raubetc. Wennjedoch die auch vonAlexy geteilte Annahme zugrunde gelegt wird, dass Prinzipien keine Festsetzungen imHinblick auftatsächliche undrechtliche Möglichkeiten enthalten,134 ist zweifelhaft, ob Prinzipien überhaupt über prima facie-Gehalte wieetwaeinprima facie-Recht aufMordauf verfügen. Dennsolche Gehalte weisen – derBühne –bereits Festsetzungen relativ zutatsächlichen Bedingungen auf, wenn auch nicht –dasie nicht das Ergebnis vonAbwägungen sind–relativ zurechtlichen Bedingungen inGestalt gegenläufiger Prinzipien. Daindes nach demhierzugrunde gelegten Verständnis Prinzipien keinerlei Festlegungen imBereich destatsächlich und rechtlich Möglichen enthalten, reicht schon die Bejahung eines Gehalts relativ zu tatsächlichen Bedingungen zur Verneinung des Prinzipien-Charakters der in Rede stehenden prima facie-Gehalte. Diese Gehalte sinddemgemäß alsRegeln zuklassifizieren, allerdings als Regeln, diesich noch keiner Abwägung gestellt haben.135 Festgehalten werden kannalso, dass prima facie-Gehalte nicht Inhalt vonPrinzipiensindunddefinitionsgemäß auchnicht definitive Gehalte aufderEbene bedingter Festsetzungen seinkönnen. Letztere werden entweder, soweit gegenläufige Prinzipien waszumindest theoretisch denkbar ist,wennauchnicht vongroßer praktischer fehlen – , durch Relationierung desprinzipiellen Leitgedankens mitden Bedeutung seindürfte – maßgeblichen tatsächlichen Bedingungen gewonnen –der Konstruktion vonprima facie- Gehalten bedarf es insoweit nicht –oderdurch Abwägung aller relevanten gegenläufigen Prinzipien anhand dermaßgeblichen tatsächlichen Bedingungen. Auchfür denzweiten Fallerscheint esmirnicht notwendig, prima facie-Regeln anzunehmen. Sie können allenfalls zurVeranschaulichung gedacht sein, indem sieanzeigen, zuwelcher Regel dieKonkretisierung eines Leitgedankens odermehrerer gleichgerichteter Leitgedanken ohne Berücksichtigung des oder dergegenläufigen Leitgedanken(s) führen würde. Allerdings zählen aufderEbene relativer Festsetzungen angesichts gegenläufiger Prinzipien immer nur die abgewogenen Regeln; nur sie entfalten rechtliche Geltung. Es besteht hier nicht die Gelegenheit, ausführlich zu diskutieren undabschließendzuklären, obimRahmen derPrinzipientheorie vollständig aufdieAnnahme von prima facie-Gehalten als Bestandteil vonPrinzipien oderinGestalt nicht abgewogener Regeln verzichtet werden kann; viel spricht indes dafür. Jedenfalls imvorliegenden Kontext sollte gezeigt werden, dass imRahmen eines Prinzipien- bzw.Regel/Prinzipiunen-Modells136 vonGrundrechten prima facie-Grundrechte auf Mordundandere „ friedliche“ Handlungen keine notwendige Konsequenz einer Abwägungskonzeption zurOperationalisierung derGrundrechte bilden. Dasbedeutet allerdings keineswegs, dass prinzipielle grundrechtliche Freiheit als justiziables Kriterium zur Bewertung unfriedlicher Akte undderstaatlichen Reaktion aufsolche Akte nicht zurVerfügung stände. ImGegenteil: Jedes indensachlichen Erstreckungsbereich einer prinzipiellen

133 Borowski betrachtet die Unterscheidung von prima facie-Rechten und definitiver Position als fundamentalen Konstruktionsgrundsatz der Grundrechte –so der Untertitel seiner Dissertation (Anm.

1).

Grundrechte (Anm. 1), S. 88, imZusammenhang mitseinen Ausführungen zumunterschiedlichen prima facie-Charakter vonRegeln undPrinzipien. 135 Vgl.dazubereits Hain(Anm. 83), S. 111ff, imZusammenhang mitderAblehnung derAlexy’schen Version derKollisionsthese zurUnterscheidung vonRegeln undPrinzipien. 136 ZurDifferenzierung zwischen einem Prinzipien- undeinem Regel/Prinzipien-Modell derGrundrechte vgl. nur Alexy (Anm. 1), S. 104 ff, 117 ff.

134 So Alexy,

177

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

Freiheitsgewährleistung fallende Verhalten undstaatliche Restriktionen hinsichtlich eines solchen Verhaltens sindaufderPrinzipienebene nachMaßgabe dieses Prinzips auchdergegenläufigen –Prinzipien zubeurteisowie aller sonstigen einschlägigen – len.

c) DieAnwendung vonNormen mitunvollständigem

Festsetzungsgehalt

AufderBasis derhiervorgeschlagenen Regel-Prinzipien-Unterscheidung istweiterhin Folgendes vonBedeutung fürdas Problem des Friedlichkeitsvorbehalts: Unter der also Voraussetzung, dassjede Normentweder eine Regel odereinPrinzip seinmuss– weder beides zugleich nochElement einer dritten Klasse vonNormen seinkann – , fragt sich, wieNormen zuklassifizieren sind, die zwar Festsetzungen imHinblick auftatsächliche undrechtliche Bedingungen enthalten, deren Festsetzungsgehalt etwawegenderVerwendung unbestimmter Rechtsbegriffe aufderTatbestandsseite oderder Einräumung vonRechtsfolgeermessen aber mehroderweniger unvollständig ist, so dass anlässlich ihrer Anwendung weitere Festsetzungen relativ zutatsächlichen und rechtlichen Bedingungen

zutreffen sind. Diesbezüglich herrscht zwischen denVertre-

ternderPrinzipientheorie (noch) keine Einigkeit. Danachderhiervorgenommenen Abgrenzung zwischen Regeln undPrinzipien dasCharakteristikum eines Prinzips darin besteht, dass es überhaupt keine relativen

Festsetzungen enthält, klassifiziere ichdieebenbeschriebenen Normen alsRegeln. Es sich umhinsichtlich ihres Festsetzungsgehalts unvollständige Regeln,137 die über mehroderminder große diskretionäre Spielräume verfügen. Je größer die diskretionären Spielräume sind, indesto höherem Maße müssen Prinzipien imRahmen derAnwendung einer unvollständigen Regel eine Rolle spielen.138 Dennsoweit imHinblick aufeine konkrete Rechtsfrage eine Regel keine Festsetzungen enthält, können dienotwendigen weiteren Festsetzungen nurdurch denRückgriff aufPrinzipien gewonnen werden, unddas heißt: aufderBasis vonRelativierungen als notwendigem handelt

vonPrinzipien. Anlässlich derVervollständigung desunvollständigen vonRegeln undi.Ü.derKonkretisierung dieses abstrakt-generellen Festsetzungsgehalts im Hinblick auf Einzelfallentscheidungen sind also

Anwendungsmodus

Festsetzungsgehalts

) prinzipieller Leitgedanken erforderlich.139 Abwägungen“ Relativierungen („

2. Konsequenzen fürdie Problematik des Friedlichkeitsvorbehalts Ausdengerade angestellten Erwägungen imHinblick aufdenZusammenhang zwischen Normstruktur undNormanwendungsmodus ergeben sichfolgende Konsequenzenfürdie Problematik eines schutzbereichsbegrenzenden Friedlichkeitsvorbehalts grundrechtlicher Freiheitsgarantien: Enthält die Garantie eines grundrechtlichen Freiheits(-schutz-)bereichs140 keine Festsetzungen relativ zutatsächlichen Bedingungen undunter diesen Bedingungen 137 Im Ergebnis gleich Alexy (Anm. 1), S. 121. 138 Hain (Anm. 83), S. 103. 139 Auchwennundsoweit vonanderen Theoretikern Normen mitunvollständigem Festsetzungsgehalt als Prinzipien klassifiziert werden –vgl. Jan-Reinard Sieckmann, Regelmodelle undPrinzipienmobleibt es jedenfalls dabei, delle des Rechts, Baden-Baden 1990, S. 69; Borowski (Anm. 1), S. 85 ff – dass dieVervollständigung des Festsetzungsgehalts imWege vonPrinzipienabwägungen vorzunehmen ist.

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Karl-Eberhard Hain

gegenläufigen Prinzipien, dannistsie als Prinzip zuklassifizieren. Sie beinhaltet dann weder prima facie-Rechte auf„ Verhalten noch einen Friedlichkeitsvorunfriedliches“ behalt. MitderKlassifikation derGarantie eines grundrechtlichen Freiheits(-schutz-) bereichs als Prinzip gehtalso dieAnnahme einer sog. weiten Tatbestandstheorie einher. Die Konkretisierung der prinzipiellen Freiheitsposition relativ zutatsächlichen Bedingungen undallen unter diesen Bedingungen zuberücksichtigenden (gegenläufigen) Prinzipien erfolgt aufeiner derprinzipiellen nachgelagerten Ebene, wiees inder Grundrechtsdogmatik heißt: derSchrankenebene. AlsRegel kanndie Garantie eines grundrechtlichen Freiheits(-schutz-)bereichs demgegenüber nurklassifiziert werden, wennsie übereinen bedingten Festsetzungsgehalt verfügt. Obderartige Garantien existieren, die–ohne Friedlichkeitsvorbehalt – als Regeln mitvollständigem Festsetzungsgehalt zurekonstruieren sind, alsogänzlich abwägungsfrei angewendet werden können, muss hiernicht entschieden werden.141 Durch die Einfügung eines Friedlichkeitsvorbehalts wollen dessen Protagonisten jedenfalls ein Merkmal indie Schutzbereichsgarantie einfügen, dessen Anwendung nicht imWege derAbwägung, sondern imModus derSubsumtion erfolgen kann. Nunistnicht zubestreiten, dass mitdemMerkmal derFriedlichkeit auftatsächliche undrechtliche Bedingungen rekurriert wird. DieAbwägung wirddurch dieEinfügung des Friedlichkeitsvorbehalts –soweit dieser reicht –abernurdannvollständig ausgeschlossen, wenn„ einvollständig bestimmter Rechtsbegriff ist, also kein Friedlichkeit“ diskretionärer Spielraum im Rahmen seines sachlichen Erstreckungsbereichs verbleibt. Obdasbehauptet werden kann, isthöchst zweifelhaft. Verhält sichetwanurder unfriedlich, dermassive körperliche Gewalt gegen andere Menschen anwendet? Oder aucheinSitzblockierer? Warum nicht schon derjenige, derfürschädigende Emissionen verantwortlich ist? Odergleich jeder, dersichnicht andieGesetze hält? Mankannsich angesichts solcher nicht unbedingt fernliegender Fragen kaumdes Eindrucks erwehren, dass es sich bei demBegriff der Friedlichkeit umeinen höchst unbestimmten handelt, dererhebliche diskretionäre Spielräume eröffnet. Dannwürde dieEinfügung des Friedlichkeitsmerkmals bewirken, dass die betreffende Freiheitsgarantie eine unvollständige Regel bliebe oderwürde,142 dienicht abwägungsfrei anwendbar wäre. Aberlassen wireinen Vertreter des Friedlichkeitsvorbehalts dochselbst zuWort kommen. Isensee erhofft sichja eine größere (Rechts-) Sicherheit davon, dass andie Stelle der nicht zuletzt wegen ihrer Einzelfallabhängigkeit in ihrem Ergebnis unkalkulierbaren Abwägung eine Auslegung desSchutzbereichsmerkmals derFriedlichkeit tritt.143 Wienunbeschreibt er die Bedingungen derAnwendung dieses Merk-

140 Es ist fürdie nachfolgenden Ausführungen vonBedeutung, dass es hier ausschließlich umdie Klassifizierung derGarantien vonFreiheitsschutzbereichen geht. Darauf können dieÜberlegungen ja gerade aufderSchutzbereichsebeFriedlichkeitsvorbehalt“ hierkonzentriert werden, dadersog.„ neangesiedelt ist. Zueinem differenzierten Bildgelangt manbeiderKlassifikation aller imRahmen einer Grundrechtsbestimmung vorfindlichen normativen Gehalte; vgl. Alexy (Anm. 1), S. 117ff. 141 Abwägungsfreiheit wird–wenniches richtig sehe –unter demGrundgesetz allenfalls nochfürdie Garantie derMenschenwürde reklamiert. Demgegenüber binichderAnsicht, dass dieGarantie der dazubereits Hain(Anm. 83), S. 223ffmitw.N. Menschenwürde nurprinzipielle Positionen enthält – , sodass als Anwendungsmodus dieser Garantie ausschließlich die zurGegenposition inRn.195– Abwägung undnicht dieSubsumtion inBetracht kommt. WerdasGegenteil behauptet, mussdartun können, dass entweder die Menschenwürde wertungsfrei anwendbar ist, oder dass das Abwägungskonzept einfürdie Operationalisierung vonWertungsprozessen imfreiheitsrechtlichen Bereich untaugliches Konzept darstellt. Beides dürfte schwer fallen.

142 Letzteres fürdenFall, dass dieGarantie vorderEinfügung eine Regel mitvollständigem Festsetzungsgehalt gewesen sein sollte.

143 Isensee, in: Recht inDeutschland undKorea Bd.5 (1985)

(Anm.

1), S. 51 (68). Imvorliegenden

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Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

mals? Nachdembisherigen Stand derÜberlegungen istes nicht wirklich überraschend vonihmzu hören, dass die Auslegungsfrage, ob imEinzelfall (!) eine unfriedliche Grundrechtsausübung (?)vorliege,144 schwierig seinkönne.145 Zwarsolles grundsätzlich die Androhung undAnwendung physischer Gewalt sein, die zurQualifizierung führt,146 allerdings sei derverfassungsrechtliche Geunfriedlich“ eines Handelns als „ waltbegriff zwarinseinem Kerndeutlich, inseinen Rändern jedoch verschwommen,147 undliege nicht einfürallemal fest. Ersei imHinblick aufdenWandel dergrundrechtlichen Schutzbedürfnisse anpassungsfähig.148 Je sensibler dasGrundrechtsverständnis,desto größer seidieReichweite potenzieller Gewalt. Wassichindiesen Äußerungenbeschrieben findet, ist nicht nurdie Unbestimmtheit des Friedlichkeits- unddes korrespondierenden Gewaltbegriffs, es sind auch die typischen Bedingungen von Abwägungen mithohen Wertungsanteilen: Einzelfallabhängige Wandelbarkeit von Konkretisierungen nachMaßgabe kontextabhängiger Schutzbedürfnisse. Auch das ist nicht überraschend: Vagheitsspielräume auf konkrete Umstände abzielender Rechtsbegriffe, die typischerweise Bestandteil unvollständiger Regeln sind, müssen durch Rückgriff aufPrinzipien, undzwarimWege derAbwägung, konderanhand eines konkreten Beispiels zwar kretisiert werden.149 Undauch Isensee – ausführt, die Verkehrsblockade zeitige nicht die übliche Grundrechtskollision –kommt nicht umhin, die inhaltliche Konkretisierung derFriedlichkeitsgrenze unter Ausgleich dergegenläufigen Grundrechtspositionen vorzunehmen150. WieabersolldasFreiheitsHandelnden Bewertungskriterium imRahmen der recht eines potenziell „ unfriedlich“ Konkretisierung desFriedlichkeitsvorbehalts seinkönnen, wenndiese Konkretisierung Zusammenhang kritisch gegenüber

demAbwägungsparadigma auch Muckel

(Anm.

1), S. 347

(350 f). 144 Wird in dieser Bemerkung nicht nureine unscharfe Formulierung Isensees gesehen, deutet sie darauf hin, dass zumeinen offenbar dieAuslegung des Schutzbereichsmerkmals derFriedlichkeit sich zumindest nicht imHinblick aufihre Einzelfallabhängigkeit vonderAbwägung unterscheidet,

zumanderen die Qualifizierung unfriedlichen Verhaltens als Nicht-Grundrechtsausübung auch Isensee nicht ganz so leicht vonderHandgeht. 145 Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (59). 146 Vgl.nurIsensee, in:FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (48). 147 Je mehrsich Isensee diesen Rändern nähert, desto unklarer werden dementsprechend auchseine Aussagen. Daszeigt sich anFormulierungen wiederjenigen, dieenge Tatbestandstheorie grenze die evidente (?) Verletzung vonGrundrechtsgütem des anderen, insbesondere (!) durch private , oder Gewalt, aus dem Schutzbereich aus –Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 176 – derjenigen, dieenge Tatbestandstheorie seinuranwendbar aufmanifeste (?) Übergriffe, vornehmlich (!) aufdie unmittelbare Ausübung physischer Gewalt –ders., a. a. O., Rdnr. 180. Unter dem Gesichtspunkt des nach seiner Ansicht mitdemGewaltverbot imVerhältnis derKonkordanz stezumVerhältnis vonGewaltverbot und henden, aberweiterreichenden Gebot desneminem laedere – Gebot des neminem laedere Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (52); ders., HbdStR, Bd. 1 (Anm. 1), § 13, Rdnr. 82; Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnrn. 102 ff–will Isensee noch weitergehend auch außerhalb des Bereichs der Anwendung körperlicher Gewalt die Publikation persönlichkeitsverletzender unwahrer Nachrichten undunwahrer Zitate, das Erschleichen vonbetriebsinternen Informationen undden Einsatz wirtschaftlichen Drucks zurpolitischen Einflussnahme aus dem Schutzbereich von Freiheitsrechten ausscheiden, da diese unter keinen Umständen voreinem allgemeinen Gesetz zumSchutz desOpfers Bestand haben könnten; Isensee, HbdStR, Bd.5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 105, unter Berufung auf BVerfGE 25, 256 (264 ff); 54, 208 (218 ff); 61, 1 (7 f); 66, 116 (137 f). S.a. ders., in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (59). 148 Isensee, HbdStR, Bd. 5 (Anm. 1), § 111, Rdnr. 102. 149 Diese Aussage gilt m.E. ganzgenerell fürdenBereich derjuristischen Methodenlehre. Sie (d.h.: die Blockade) zeitigt nicht die übliche 150 Isensee, in: FS Sendler (Anm. 1), S. 39 (61 f): „ Grundrechtskollision, ... Sie kannalso nicht einseitig vomAbwehrrecht (!) derBlockierer her, sondernmußauchvonderSchutzpflicht gegenüber denBlockierten hergewürdigt werden.“

180

Karl-Eberhard Hain

erstdarüber entscheidet, obdasbetreffende Grundrecht überhaupt eingreift? Wiesoll aberandererseits, wenndieses Freiheitsrecht nicht Gegenstand desAusgleichs sein sollte, einAusgleich stattfinden, sprich: wogegen solldaszuschützende Gutabgewogenwerden, anwelcher gegenläufigen Normkönnte seine Umsetzung aufeineGrenze stoßen?151 Hier zeigen sich die Aporien des Friedlichkeitsvorbehalts innerhalb des Rechtssystems. KeinWunder, dass derIsensee’sche Versuch, gleichwohl demFriedlichkeitsvorbehalt einen Wegzubahnen, insvorverfassungsmäßige unddamit außerrechtliche Terrain führt. DasRisiko dieser Operation besteht aberimmerhin darin, dass

alsnotwendig angenommene Bedingungen desBestandes derStaatlichkeit vorrangig dieWertung bestimmen undderlei Vorrangrelationen alsvorgeblich sichere Ergebnisse einer Subsumtion unter das Friedlichkeitsmerkmal kaschiert werden. anerkennt, Werdiehochgradige Unbestimmtheit desRechtsbegriffs „Friedlichkeit“ wird konzedieren müssen, dass zurVervollständigung des Festsetzungsgehalts in großem MaßeAbwägungen erforderlich sind. Damit istdieFrage aufgeworfen, obnicht auchunter methodischen Gesichtspunkten aufdenFriedlichkeitsvorbehalt verzichtet werden sollte. Essollnunzwarnicht behauptet werden, dass demMerkmal derFriedlichkeit überhaupt keinkonkreterer Gehalt zuentnehmen wärealseinem Setgegenläufiger prinzipieller (Freiheits)garantien vorderAbwägung. Eswirdimmerhin einige Fälle wie denjenigen des Mordes geben, in denen ein bestimmtes Verhalten mithoher Sicherheit als unfriedlich qualifiziert werden kann. Allerdings wirdindiesen Fällen die Operation derAbwägung ebenfalls mithoher Sicherheit zudemErgebnis kommen, dass dieses Verhalten –etwa einMord–keinen definitiven grundrechtlichen Schutz genießt.152 Indiesen Fällen istalso dieAbwägung nicht weniger leistungsfähig als die . In denübrigen Fällen, die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „ friedlich“ sozusagen indenVagheitsspielräumen desFriedlichkeitsvorbehalts angesiedelt sind, istaberdieSubsumtion unter denFriedlichkeitsvorbehalt nicht leistungsfähiger als die Abwägung, undzwarschlicht, weilderFestsetzungsgehalt desMerkmals derFriedlichkeit unvollständig ist unddort aufhört, wodie Abwägung zurVervollständigung des Festsetzungsgehalts anfängt. Ichbestreite also nicht dieweitgehende ErgebnisoffenheitvonPrinzipienabwägungen, behaupte aber, dass diese Ergebnisoffenheit imgleivonRegeln durch PrinLeerstellen“ chenUmfang auchbesteht, wenndienormativen „ zipienabwägungen gefüllt werden müssen. Damit erweist sich die Hoffnung derProtagonisten des Friedlichkeitsvorbehalts, dieSubsumtion unter dasMerkmal derFriedlichkeit biete mehrErgebnissicherheit als dieAbwägung, als Illusion. III. Fazit

Eszeigt sichalso, dass diegegen dieAbwägung gerichtete Polemik derAnhänger des Friedlichkeitsvorbehalts aufsie selbst zurückschlägt. Beimheute erreichten Stand der Reflexionen imBereich derVerfassungstheorie undderMethodik ist diese Polemik ohnehin kaumnochnachvollziehbar. ImGrunde stellt dierechtstheoretische Prinzipien-

these mitihren methodischen Konsequenzen nichts anderes als eine Rekonstruktion

151 Schließlich wirderstbeidemVorhandensein gegenläufiger Abwägungspositionen derverhältnismäunfriedlich“ Behandelten durch das Übermaßverbot ßige, auchdie Umsetzung des Schutzes des „ begrenzende Ausgleich notwendig.

152 So konzediert auch Muckel (Anm. 1), S. 347 (348): „ DieAnerkennung immanenter Grundrechtsgren-

zendürfte häufig zudemselben Ergebnis führen wiedieAbwägung dergegenläufigen Verfassungsgüter aufderEbene derSchranken.“ Ichbinmirnicht sicher, obdasso häufig derFallist. Wäre es so, würde dies allerdings wohlerst recht fürdieRedundanz des Friedlichkeitsvorbehalts sprechen.

Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?

181

derWertungsanteile imRechtssystem dar,153 darin liegt nachderfreilich nicht unwidersprochen154 gebliebenen These Dworkins auchihre kritische Spitze gegen denPositivismus.155 WerWertungen nicht verstecken will, was „ unredlich“ wäre, oder in eine außerrechtliche Sphäre abdrängen will, wasjedenfalls inBezug aufeinRechtssystem, welches wesentliche Prinzipien neuzeitlichen Vernunftrechts inkorporiert hat,156 nicht unproblematisch wäre, kann gegen die Prinzipienthese unddas auf Freiheitsrechte bezogene Abwägungsparadigma nurargumentieren, es sei eine inadäquate Rekonstruktion der Wertungsanteile bei der Anwendung subjektiver Freiheitsrechte. Im Hinblick aufeinRechtssystem, welches aufindividuellen (Freiheits-) Rechten aufbaut, dieanhand deranFreiheitsressourcen knappen Realität gegenläufig werden, erscheint diePrinzipienthese unddieAbwägungskonzeption imGegenteil abereheralsadäquat. Gerade dieAufrechterhaltung derDifferenz zwischen aufderAnnahme derVernunftfähigkeit basierender prinzipieller Freiheit einerseits unddennachMaßgabe der undanderer relevanter Bewertungskriterien –zukonkretisierenden Grenzen Freiheit – fürtatsächliches Verhalten andererseits ist Voraussetzung fürdie Bewahrung der kriterialen Funktion derFreiheit inbezug aufjedwedes konkrete Verhalten undjedwede staatliche Reaktion auf konkretes Verhalten. Die Aufgabe der Konkretisierung des prinzipiellen Leitgedankens zueiner definitiven Rechtsposition unter denBedingungen derRealität undgegenläufiger Prinzipien erfolgt aufeiner derPrinzipienebene nachgelagerten Ebene. Dieser prinzipientheoretischen Konzeption grundrechtlicher Freiheit entspricht aufdogmatischer Ebene die Differenzierung zwischen Schutzbereich undSchranken der Freiheitsrechte,157 undes sind eben diese korrespondierenden 153 Vgl. Alexy (Anm. 1), S. 125 ff. 154 S. etwa die Kritik vonDavid AJ Richards, Rules, Policies andNeutral Principles: The Search for Legitimacy inCommon LawandConstitutional Adjudication, Georgia LawReview Bd.11(1977), S. 1069 ff; Philip Soper, Legal Theory and the Obligation of a Judge: The Hart/Dworkin Dispute, Michigan LawReview Bd. 75 (1977), S. 473 ff. 155 DazuRonald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a.M. 1990, S. 54 ff. 156 Vgl. zur Inkorporationsthese, derzufolge dempositiven Recht der Bundesrepublik Deutschland Prinzipien neuzeitlicher praktischer Vernunftphilosophie inkorporiert sind, Ralf Dreier, Recht und Moral, in: ders., Recht – Moral –Ideologie (Anm. 104), S. 180 (193); ders., Recht undGerechtigkeit, in: ders., Recht –Staat –Vernunft (Anm. 45), S. 8 (36). 157 Daran ändert auch die Existenz des Art. 18 GG nichts, den Schwarz (Anm. 1), S. 126 (128 ff), heranziehen willumzuerweisen, dass die inArt. 18 GGgenannten Grundrechte ihrem Schutzbereich nachaufverfassungskonformen Gebrauch beschränkt seien, undsodann davon ausgehend weitere Schutzbereichsrestriktionen zubegründen. WieSchwarz selbst einräumt, istderAusspruch des Bundesverfassungsgerichts für eine Verwirkung konstitutiv. Das heißt aber: Solange eine Verwirkung nicht ausgesprochen ist, gelten dieinArt. 18 GGgenannten Freiheitsrechte, ohne dass

ihrSchutzbereich

durch dieGesichtspunkte verkürzt würde, aufdiederkonstitutive Ausspruch des Gerichts ggfls. gestützt werden kann. Damit trägt Art. 18 GGnichts zurBegründung einer Verkürzung des Schutzbereichs derindergenannten Bestimmung aufgeführten Rechte undschon gar nichts zu einer entsprechenden Verkürzung des Schutzbereichs in Art. 18 GG nicht genannter Rechte aus. –I.Ü. bietet diese Untersuchung nicht denRaumfüreine ausführliche Auseinandersetzung mitderProblematik desArt.18GGvordemHintergrund desrechtsstaatlichen Verteilungsprinzips. Dieses praktisch relativ bedeutungslose – Michael Brenner, in:H.v.Mangoldt/F. Klein/Chr. , durchweg sehr restriktiv interpretierte Starck (Hg.), GG, Bd. 1 (Anm. 1), Art. 18, Rdnr. 15 ff – „ deutsche Unikat“–vgl. Rolf Gröschner, in: H. Dreier (Hg.), GG, Bd. 1 (Anm. 1), Art. 18, Rdnr. 6 – kehrt das vorgenannte Prinzip aber jedenfalls nicht um.DerAusspruch derVerwirkung bedeutet nämlich nicht denvollständigen Verlust derGrundrechtsposition; vgl. nurBrenner, a.a.O., Rdnr. 66 ff, unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 und2; Walter Krebs, in: I. v. Münch/Ph. Kunig (Hg.), GG, Bd. 1, 5. Aufl. München 2000, Art.18, Rdnr. 14. Diekriteriale Funktion desprinzipiellen Freiheitsgedankens, wieer inArt. 1 Abs. 1 GGkodifiziert ist –Hain, in: H.v.Mangoldt/F. Klein/Chr. Starck (Hg.), GG, Bd. 3, 4. Aufl. München 2001, Art. 79, Rdnr. 59 f –, bleibt jedenfalls bestehen.

182

Karl-Eberhard Hain

theoretischen unddogmatischen Differenzierungen, diewiederum Platz lassen fürdie demokratische Dimension derFreiheit, oder besser: die viaGesetzesvorbehalt(en) demdemokratisch amhöchsten legitimierten Gesetzgeber diezentrale Rolle beider Konkretisierung individueller Freiheit, allerdings unterhalb derEbene prinzipieller verfassungsmäßiger Freiheitsgarantien als Kontrollmaßstäben, zuweisen. So kannalso prinzipiell das fürdenfreiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat konstitutive Fundament einer rational konzipierten Freiheit in seiner individuellen wiepolitischen Dimension unter komplex-gewaltenteiligen Bedingungen operationalisiert werden. Ausdrückliche Friedlichkeitsvorbehalte wie der in Art. 8 Abs. 1 GG enthaltene stellen i.Ü. die vorgeführte Konstruktion nicht notwendigerweise infrage. Sie lassen sich undzwarals bereits vomVerfassunggeber vorgenommene vielmehr indasSchema – Beschränkung –einordnen,158 wodurch –unddarin besteht dieÜberlegenheit dieses Vorschlags Alexys gegenüber derherrschenden Dogmatik derDemonstrationsfreiheit –die prinzipielle positive Freiheitsgarantie ihre steuernde Funktion bei derAuslegung des Rechtsbegriffs der Friedlichkeit behält.159 jedenfalls Demgegenüber rekurriert dieKonzeption desFriedlichkeitsvorbehalts – inderIsensee’schen Version –aufeinen imHinblick aufdiebasale Funktion derFreiheit fürdieTheorie desfreiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates problematischen Freiheitsbegriff. Siebringt eine– wennauchbegrenzte – Verkehrung desrechsstaatlichen Verteilungsprinzips mitsich, ohne dass dieses Defizit durch eine gegenüber derAbwägung erhöhte Ergebnissicherheit – ausgeglichen werden die i.Ü. nicht gegeben ist – könnte. Diese Konzeption sollte daher nicht weiterverfolgt werden. Wasbleibt, istein weiteres Maldie Einsicht indieauchdurch Rationalisierung imLetzten nicht zuverdrängenden Vagheitsspielräume vonWertungen, diedenKernpraktischer Entscheidungen ausmachen.

158 Alexy (Anm. 1), S. 259 f. 159 Selbst wenn sich ausdrückliche Friedlichkeitsvorbehalte nicht in das Schema einfügen ließen, stellten siees i.Ü.nicht infrage. Dennihre herrschaftslimitierende Funktion sollen dieFreiheitsgarantien derVerfassung gegenüber derverfassten Gewalt, nicht gegenüber demVerfassungsgeber entfalten. Insofern ist es unproblematisch, wenn derVerfassungsgeber aufderkonkreten Ebene

denSchutzbereich vonFreiheitsrechten vonvornherein aufbestimmte nicht erstreckt.

konkrete Verhaltensweisen

DirkHeckmann*

Das Paradoxon vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit Elemente einer Theorie komplementärer Risikoverteilung

in RaumundZeit**

I. Einleitung 1, „ permanenter Ausnahmezustand“ 2„Innere Auflegalem Weg in den Polizeistaat“ „ 3,„Freiheit –zuTode geschützt“...4. Sicherheit als Gefahr“ Betrachtet maneine Vielzahl der Publikationen der letzten Jahre zu aktuellen Tendenzen inderPolizeigesetzgebung, somöchte manmeinen, dass überFragen der Gewährleistung innerer Sicherheit einrationaler Diskurs nicht odernicht mehrstattfinhatauchinsoweit deutliche Spuren hin11.September“ det. Besonders derominöse „ terlassen: Gerade weildieBedrohung derSicherheit derBürger (neben derwirtschaftlichen Lage) zumMedienthema Nr.1avancierte, wirdjedestaatliche Aktivität zudiesem Thema doppelt kritisch begleitet oderauchmitkontraproduktivem Applaus versehen.5 Dabei täte Besonnenheit Not. Juristische Grundlagenforschung istdasThema dieser Tagung, denGrundlagen desReferenzgebietes Polizei- undSicherheitsrecht widmet sichmeinheutiger Vortrag. Er beginnt miteinem kleinen Forschungsbericht, der den aktuellen Stand der Polizeirechtswissenschaft, so maneine solche überhaupt konstatieren kann, zeigen soll. DenBetrachtungszeitraum markieren dieletzten 15Jahre, kulminierten dortdoch mehrere Entwicklungslinien inbemerkenswerter Weise: – DieReaktion aller deutschen Polizeigesetzgeber aufdas Volkszählungsurteil mit strengen Anforderungen hinsichtlich eines bereichsspezifischen Datenschutzes – Die rasante technologische Entwicklung (Stichworte: Internet, Mobilfunk, Digi-

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talisierung undKonvergenz derMedien) mitderNagelprobe füreben jenen Datenschutz DieGrenzöffnungen nach Beendigung des Ost-West-Konfliktes miteiner neuen Qualität grenzüberschreitender Kriminalität Sowie die Einforderung des „ starken Staates“infolge eines gewachsenen Sicherheitsdenkens inZeiten globaler Gefahren. Lehrstuhl fürÖffentliches Recht, insbesondere Sicherheitsrecht

Passau

undInternetrecht anderUniversität

** Ichdanke meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Frank Braun, fürvielfältige beiderVorbereitung desVortrags undAusfertigung dieses Beitrages. 1 2

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Unterstützung

Fredrik Roggan, Auflegalem Weg in einen Polizeistaat, 2000. Hans Lisken, Zurpolizeilichen Rasterfahndung, NVwZ 2002, 513 (516). Innere Sicherheit als Gefahr, Humanistische Union e.V.(Hg.), 2003. Aufjournalistischem Terrain wird die Sicherheitslage in Deutschland insbesondere vonHeribert Prantl, Verdächtig. Derstarke Staat unddie Politik derinneren Unsicherheit, 2002 derart plakativ umschrieben. Aushistorischer Sicht lässt sichfeststellen, dass Sicherheitsrisiken, diezueiner Verschärfung des Sicherheitsrechts führten, seit jeher von einer Grundsatzdiskussion umdie Relation zwischen Sicherheit undFreiheit, umdierechtliche Ausbalancierung dieser Grundwerte, begleitet war. Etwa schon beiderSchaffung derNotstandsverfassung, vgl. dazu Theodor Maunz/Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, S. 414 ff.

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DirkHeckmann

Anschließend möchte ich4 sogenannte Grundlagenfragen formulieren, umdiesichdie wesentlichen Probleme derneuen Polizeibefugnisse ranken. Diesich daraus ergebenden Theorieansätze sollen schließlich helfen, das vermeintliche Paradoxon vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit – inwelche aufzulösen. Richtung auch immer – Fragen wireinmal ganzohneBlick aufgeltendes Verfassungsrecht undpolitisches Vorverständnis: WasistFreiheit? Freiheit istimGrunde nichts anderes alsAbwesenheit vonEinflussnahme Dritter, freie Entfaltung („ tunundlassen, wasmanwill“ ).6Weraber istindiesem Sinne Dritter, dermichnicht behindern sollinmeiner Entfaltung? Istdas Jedermann“ (nurdannwäre meinVerhalten ja selbstbestimmt, autonom, mache ich, „ wasichwillundnicht einanderer bestimmt), dannbrauche ichzurGewährleistung solch absoluter Freiheit eine Schutzinstanz, die Dritte (das sind„ imuntechnischen Störer“ Sinne) davon abhält, michimFreiheitsgebrauch zustören: Schutzinstanz kannpraktisch nurderStaat („ ) sein. Ist„Dritter“ (vondemichfreisein staatliches Gewaltmonopol“ will) abergerade derStaat, dermichinRuhe lassen soll, dannfehlt ebenjene Schutzinstanz undichbinwiederum privaten Übergriffen ausgesetzt. Wäre es eine Lösung, denStaat zurufen, wennmanihnbraucht, undihnfernzuhalten, wennmanseine Ruhe haben will? Freiheit wäre dannAbwesenheit, Freisein vonstaatlichen Einflüssen solange mandiese nicht (ausdrücklich) verlangt. Dies funktioniert allerdings nicht, wenn undsoweit Schutzmaßnahmen fürdeneinen Bürger zugleich eine fürdenanderen Bürger ungewollte Präsenz bzw. Regulierung des Staates bedeuten. Freiheit des Individuums kannalso nicht absolut gesetzt werden, sondern istmitjener dergleichberechtigten Mitbürger inEinklang zubringen. Wasistdemgegenüber Sicherheit? Grobgesprochen einZustand, indemichfrei binvonschädlichen Einflüssen Dritter (oder derNatur),7 einZustand also, indemich keine unerwünschten oderunerwarteten Einflüsse, Veränderungen, Beeinträchtigungengewärtigen muss. Sogesehen wäredasnichts anderes als„Freiheit ausumgekehr8.Ähnlich wiees beimFreiheitsbegriff darauf ankommt, wiemanden terPerspektive“ Dritten“ „ definiert, kommt es hierdarauf an,wieman„ Schädlichkeit, Unerwünschtheit“ definiert, insbesondere obdas derEinzelne selbst tundarf. So magfürdeneinen Sicherheit darin bestehen, vonderSchutzinstanz Staat vorÜbergriffen Privater bewahrt

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7

Also Freiheit als Selbstbestimmung des Menschen, vgl. Martin H.W. Möllers, Wörterbuch der Polizei, 2001 m.w.N.; zurHistorie des Freiheitsbegriffs, Winfried Brugger, VVDStRL 63,103 ff. sowie zurGewährleistung vonFreiheit als Staatsaufgabe, Christoph Gusy, VVDStRL 63, 153(155 ff.). Nureine derart allgemeine Definition findet umfassende Zustimmung. Eine Umschreibung des (erwünschten) Zustandes Sicherheit als Staatsziel, Staatsaufgabe oder Grundrecht würde angesichts unterschiedlichster Staats- undVerfassungsverständnise (dazu derzweite Beratungsgegenstand derJahrestagung derVereinigung derDeutschen Staatsrechtslehrer imJahre 2003, VVDStRL63, 103ff.) das menschliche Grundbedürfnis Sicherheit nurverzeichnen. ZurSicherheitsge-

imVerfassungsstaat umfassend Markus Möstl, Diestaatliche Garantie fürdieöffentliche Sicherheit undOrdnung, 2002, S. 4 ff. Sicherheit also nicht als Gegensatz, sondern Voraussetzung vonFreiheit. NurwerinSicherheit lebt (bzw. sich sicher fühlt –womit auf das soziologische undpsychologische Phänomen des sog. Sicherheitsgefühls hingewiesen sein soll, das inderKriminalpolitik undderempirischen Sozialforschung diskutiert wird), kannseine Freiheit ausleben. „ , so ... dennohneSicherheit istkeine Freiheit“ Wilhelm vonHumboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen derWirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792, Reclam-Ausgabe, S. 58. Demwerden freilich oftmals dievielzitierten (aber tra-

währleistung

8

ditionell unvollständig übersetzten

undsoverfälschten) Worte Benjamin Franklins entgegengesetzt,

„ Werdie Freiheit aufgibt, umSicherheit zugewinnen, wird beides verlieren“(richtig imOriginal: Those whowould give upessential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither „

norSafety“ , Benjamin Franklin, AnHistorical Review oftheConstitution Pennsylvania, 1759 [reprinted 1972], p.289). Liberty

andGovernment of

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Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

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zuwerden. Derandere sieht sichdemgegenüber eherdurch denStaat selbst bedroht

undfühlt sichvorihmnurdannsicher, wennstaatliche Einflüsse aufdiePrivatsphäre gesetzlich radikal beschränkt werden. Anders ausgedrückt: Umöffentliche Sicherheit zu gewährleisten, müsste man individuelle Freiheit zugleich schützen alsauchbegrenzen. Schutz durch Eingriff9 wurdedasineinem anderen Kontext einmal genannt. Ichkomme darauf amEndemeines Vortrages zurück.

II. Bestandsaufnahme: Die mühevolle Renaissance des polizeirechtswissenschaftlichen Schrifttums (ein Forschungsbericht)

DerForschungsgegenstand des Polizeirechts wirdzuvorderst determiniert durch die Sorge des Staates für die Innere Sicherheit jener Gemeinschaft, die sich in ihm zusammenfand. Als bemerkenswerte tatsächliche Phänomene, die die Polizeirechtswissenschaft inletzter ZeitvorneueHerausforderungen gestellt haben, seien vor allem dieBekämpfung vonorganisierter Kriminalität undfundamentalem Terrorismus, die Schaffung neuer transnationaler Strukturen im Gefahrenabwehrrecht unddas forcierte Einschreiten gegen nicht (mehr) gemeinverträgliche Verhaltensweisen im öffentlichen undprivaten Raumgenannt. Einweiterer, demVorgenannten teils gegen(neudeutsch: Privatisierung vonPolizeiaufgaben“ läufiger Aspekt, istdiezunehmende „ Security Outsourcing); alsodieEinbindung privater Sicherheitsdienste oderfreiwilliger Polizeihelfer indas polizeiliche Aufgabenspektrum.

1. VonderGefahrenabwehr zurGefahrenvorsorge –

die Bekämpfung vonorganisierter Kriminalität undTerrorismus

DieBekämpfung unmittelbar bevorstehender Gefahren hatals Gegenstand des“klasanBedeutung eingebüßt. DieimPolizeirecht – imGegensatz zu sischen Polizeirechts” verspätet eingesetzte Präventionsanderen Bereichen derOrdnungsverwaltung10 – orientierung steht nunmehr imZentrum derwissenschaftlichen Aufarbeitung. Dievor-

beugende Bekämpfung vonStraftaten11 ist mittlerweile als unbedingter Auftrag zur vorfeldbezogenen Gefahrenabwehr durchgängig indenPolizeigesetzen derLänder etabliert. Vorallem dieErhebung vonDaten undderen Speicherung invernetzten Polizeidateien12 spielt inErfüllung dieses Aufgabenbereichs einewesentliche Rolle. Wenn dieErhebung undVerarbeitung vonInformationen Gegenstand neuer polizeirechtlicher Eingriffsbefugnisse ist, wirddadurch derTatsache Rechnung getragen, dass präventives unddamit prognostisches Handeln hinreichende Erkenntnisse braucht, um

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Johannes Wahl/Rainer Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553 ff. zurFrage, obundwieweit staatliche Eingriffe gegen Privatleute zumSchutz von grundrechtlich geschützten Rechtsgütern anderer Privatleute verfassungsrechtlich geboten undohne Gesetz zulässig sind. Z.B. imBereich des Umwelt-, Natur- undGesundheitsschutzes. Grundlegend dazu UdodiFabio, Gefahr, Vorsorge, Risiko: DieGefahrenabwehr unter demEinfluss desVorsorgeprinzips, Jura 1996, 566 ff.; ders., Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994. Inihrer Ausprägung derVerhinderungs- undVerfolgungsvorsorge, vgl.dazunäher Thomas Würtenberger/Dirk Heckmann, Polizeirecht inBaden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn.179ff. Auchals sog. Informationsvorsorge bezeichnet, dazuHans-Heinrich Trute, DieErosion des klassischen Polizeirechts durch polizeiliche Informationsvorsorge, in: W.Erbguth/F. Müller/V. Neumann (Hg.), Gedächtnisschrift fürJeand, Heur, 1999, S. 403.

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DirkHeckmann

zu sein. Begnügte man sich früher miteinfach wahrnehmbaren undgelegenheitsbedingten Erkenntnissen, so bilden heute informationstechnologisch gewonnene, hochsensible Einblicke indenmenschlichen Alltag dieGrundlage füreine eigene Eingriffskategorie: die Gefahrenvorsorge in Form der Informationsvorsorge. Zwangsläufig wirddadurch das Spektrum polizeilicher Eingriffsbefugnisse überden Anlass der„ bishinzurMöglichkeit konkreten Gefahr“ indas„Vorfeld“ hinein erweitert – verdachts- undereignisunabhängiger Kontrollen.13 Auchkonkurrieren diebeschriebenenpolizeilichen Maßnahmen, soweit sie unter demVorzeichen dervorbeugenden Verbrechensbekämpfung erfolgen, mitdemStraf- undStrafprozessrecht.14 Schließlich isteine Vermengung des Aufgabenbereichs vonPolizei undNachrichtendiensten zu beobachten.15 Dies nicht nur,weilsich diePolizei beiderheimlichen Informationsgewinnung typisch nachrichtendienstlicher Mittel bedient, sondern weildenNachrichtendiensten zunehmend polizeiliche Befugnisse zurBekämpfung derorganisierten Kriminalität eingeräumt werden. Dementsprechend hatsich das polizeirechtliche Schrifttum indenletzten Jahren aufdieAnalyse unddie dogmatische Aufarbeitung dieser Themenbereiche konzenwirkmächtig

triert.

Inganz besonderem Umfang hatsich die Literatur derweiteren Ausdifferenzierung des Tätigkeitsbereichs von Polizei und Strafverfolgungsbehörden angenommen.16 Hervorzuheben istetwa dieSchrift vonMarion Albers ausdemJahre 2000 zur „ Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen derStraftatenverhütung und Verfolgungsvorsorge“ , derdieseltene Ehrezuteil wird, regelmäßig auchvomBundes-

verfassungsgericht zitiert zuwerden. Aber auch Untersuchungen zu einzelnen polizeilichen oder strafprozessualen Maßnahmen, wie Videoüberwachung17, Schleierfahndung18 oder nachträgliche Si-

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DieBekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität durch verdachtsunabhängige Personenkontrollen, in: FS für Steinberger, 2002, S. 467 ff. Im Ergebnis ebenso Berthold Kastner, Verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Lichte des Verfassungsrechts, VerwArch 92 (2001), 216 (234 ff.). Dagegen insbesondere Hans Lisken, Verdachts- undereignisunabhängige Personenkontrollen zurBekämpfung dergrenzüberschreitenden Kriminalität?, NVwZ 1998, 22 ff. mit Entgegnung von Jürgen Schwabe, „Kontrolle ist schlecht, Vertrauen allein der Menschenwürde gemäß“ , NVwZ1998, 709ff.; KayWaechter, DieSchleierfahndung als Instrument derindirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung undVerunsicherung, DÖV1999, 138. Hierzu umfassend Corinne Hoppe, Vorfeldermittlungen imSpannungsverhältnis vonRechtsstaat undderBekämpfung Organisierter Kriminalität, 1999; Markus Deutsch, Dieheimliche Erhebung von Informationen undderen Aufbewahrung durch die Polizei, 1992; Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Grenzen polizeilicher Datenverarbeitung insbesondere durch dasBundeskriminalamt, CR 1988, 51; Karl Würz, Polizeiaufgaben und Datenschutz in Baden-Württemberg, 1993; Michael Soiné, Proaktive Strategien zurBekämpfung krimineller Strukturen, Kriminalistik 1997, 252; Marion Albers, Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und Verfolgungsvorsorge, 2000. Ausführlich dazuMarco König, Trennung undZusammenarbeit vonPolizei undNachrichtendiensten (Stuttgart 2005) sowie Bernadette Droste, Nachrichtendienste undSicherheitsbehörden imKampf gegen die Organisierte Kriminalität, 2002. Vgl.dazudieLiteraturhinweise inAnm.14sowie zurAbgrenzung derGesetzgebungskompetenzen imBereich der Sicherungsverwahrung vonStraftätern den Beitrag von Thomas Würtenberger/ Gernot Sydow, Dienachträgliche Anordnung derSicherungsverwahrung, NVwZ2001, 1201. DirkBüllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen undPlätze zurKriminalitätsvorAusführlich DirkHeckmann,

sorge, 2002.

Christian Krane, „ Schleierfahndung“–Rechtliche Anforderungen ereignisunabhängige Personenkontrollen, 2003.

an die Gefahrenabwehr

durch

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Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

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cherungsverwahrung19, vermochten die Polizeirechtswissenschaft zu befruchten. Dies insbesondere wegen ihres kriminalistischen, soziologischen und psychologischen Blickwinkels. DesWeiteren fandderAspekt derRechtsvergleichung verstärkt Zugang indas polizeirechtliche Schrifttum. Nachdem insbesondere imangelsächsischen Recht staatliche Überwachungsmaßnahmen inweitem Umfang seit längerem etabliert sind, boten sich vergleichende Untersuchungen an.20 Ingewissem Umfang wurde auch derDialog vonPolizeirechtswissenschaft und Strafrechtswissenschaft neubelebt. Anlass dazugabinsbesondere dieAuseinandersetzung umdiesog. nachträgliche Sicherungsverwahrung, diederen Einordnung als polizeiliches oderstrafprozessuales Instrument zumGegenstand hatte.21 Ausführlich wird imSchrifttum die polizeiliche Informationsvorsorge beleuchtet, insbesondere dieheimliche Erhebung vonDaten undderen Verwendung.22 Gerade im Hinblick aufqualitativ neuartige Phänomene derPolizeigesetzgebung, wieetwa die präventive Telekommunikationsüberwachung,23 ist in diesem Bereich eine weitere Ausdifferenzierung derbisher vornehmend verfassungsrechtlich orientierten Untersuchungen zuerwarten. großen Lauschangriff“ ist Bedingt durch dieÄußerungen des BVerfG24 zumsog. „ indiesem Zusammenhang auchdiepräventive Wohnraumüberwachung indierechts19 Jan-David Jansing, Nachträgliche Sicherungsverwahrung –Entwicklungslinien inder Dogmatik der Sicherungsverwahrung, 2004. 20 So z.B. inderArbeit vonDirk Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zurKriminalitätsvorsorge, 2002 oderRobert König, Videoüberwachung: Fakten, Rechtslage undEthik, Wien 2001. 21 Ausdemdazuergangenem umfangreichem Schrifttum etwa Thomas Würtenberger/Gernot Sydow, Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, NVwZ 2001, 1201; Jörg Kinzig, Als als Landesrecht zulässig? –Dasneue baden-württembergische Gesetz Bundesrecht gescheitert – über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter, NJW2001, 1455; ders., Das Gesetz zurEinführung dervorbehaltenen Sicherungsverwahrung, NJW2002, 3204; Jens Peglau, Dienachträgliche Sicherungsverwahrung, das Rechtsmittelverfahren unddas Verschlechterungsverbot, NJW2004, 3599 sowie die grundlegende Arbeit von Jan-David Jansing, Nachträgliche Sicherungsverwahrung –Entwicklungslinien inderDogmatik derSicherungsverwahrung, 2004. 22 Marion Albers, DieDetermination polizeilicher Tätigkeit indenBereichen derStraftatenverhütung undVerfolgungsvorsorge, 2000; Josef Aulehner, Polizeiliche Gefahren- undInformationsvorsorge,

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1998; Helmut Bäumler, Polizeiliche Informationsverarbeitung, in:Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, Kap. J, S. 501 ff.; Markus Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen undderen Aufbewahrung durch die Polizei, 1992; Christoph Gusy, Informationelle Selbstbestimmung undDatenschutz, KritV 2000, 52; DirkHeckmann, Polizeiliche Datenerhebung und-verarbeitung, VBIBW 1992, 164 und203; Corinne Hoppe, Vorfeldermittlungen imSpannungsverhältnis vonRechtsstaat undderBekämpfung Organisierter Kriminalität, 1999; Michael Kniesel/ Jürgen Vahle, Polizeiliche Informationsverarbeitung undDatenschutz im künftigen Polizeirecht, 1990; Martin Koch, Datenerhebung und-verarbeitung indenPolizeigesetzen derLänder, 1999; Anneliese Kowalczyk, Datenschutz imPolizeirecht, 1989; Rainer Pitschas, Das Informationsverwaltungsrecht imSpiegel derRechtsprechung, DieVerwaltung 33 (2000), 111; ders., „ Sicherheitspartnerschaften“ derPolizei undDatenschutz, DVBI. 2000, 1805; Reinhard Riegel, Dasinformationelle Befugnisrecht zurpolizeilichen Aufgabenerfüllung imLichte des Volkszählungsurteils, RiA 1996, 12; ders., Datenschutz beidenSicherheitsbehörden, 2. Aufl. 1992; Karl Würz, PolizeiaufgabenundDatenschutz inBaden-Württemberg, 1993; MarkZöller, Informationssysteme undVorfeldmaßnahmen vonPolizei, Staatsanwaltschaft undNachrichtendiensten, 2002. Entsprechende präventiv-polizeiliche Eingriffsbefugnisse bestehen etwa bereits inThüringen (§ 34 a ThürPAG, dazu Martin Kutscha, Novellierung des Thüringer Polizeiaufgabengesetzes –Mehr Sicherheit durch weniger Grundrechtsschutz?, LKV2003, 114). InBayern (LT-Drs. 15/2096) undin Hessen (LT-Drs. 16/2352) sind derzeit entsprechende Regelungen imGesetzgebungsverfahren. Die Regelung in Niedersachsen wurde unterdessen vomBVerfG mitUrteil vom27. 7. 2005 für nichtig erklärt. BVerfG, NJW2004, 999 ff.

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DirkHeckmann

wissenschaftlichen Diskussionen miteinbezogen worden. Endlich –möchte manmeinen. Obwohl entsprechende polizeiliche Befugnisse partiell seit mehrals 15 Jahren fester Bestandteil derPolizeigesetze sind, fand– auswelchen Gründen auchimmer – eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Spielart polizeilicher Überwachungstätigkeit bisher kaum statt.25 Trotz derregen Diskussion indenvorgenannten Gebieten fehlt nocheine konsistente Fortschreibung despolizeilichen Gefahrenbegriffs –eine zentrale Aufgabe der modernen Polizeirechtswissenschaft.26 Tiefer durchdrungen isthingegen derBereich derpolizeilichen Datenverarbeitung impolizei- unddatenschutzrechtlichen Schrifttums.27 AlsKonsequenz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung wurden mittlerweile auchumfassende differenzierte bereichsspezifische Datenschutzregelungen in den Polizeigesetzen festgesetzt. Damit wurde denForderungen des Schrifttums größtenteils entsprochen. Weitergehender Untersuchungsbedarf besteht indiesem bereichsspezifischen Sektor des Datenschutzrechts jedoch immer dann, wenn durch die Polizei neue Datenverarbeitungstechniken erschlossen werden. Insoweit istauchdiese Thematik einem stetigen Wandel unterworfen.

2. Diefortschreitende

Internationalisierung

derGefahrenabwehr

Die„Innere Sicherheit“ als Schutzgegenstand derSicherheitsbehörden umfasst querschnittsartig dieSicherheitsfelder ausdemKreis interner Stabilitätsbereiche, dieindie sachliche Zuständigkeit derPolizei-, Verfassungsschutz- undKatastrophenschutzbehörden fallen.28 Dieser Bereich hat–zuletzt auch forciert durch dieTerroranschläge des11.September –eine neue, transnationale Dimension erfahren, wiediezuletzt auf internationaler Ebene geschaffenen mannigfachen Sicherheitsverbundsysteme (Europol, cyber crime convention usw.) faktisch belegen. Die Interdependenzen der SiSicherheit) unddie Idee transnationaler Sichercherheitsfelder („ äußere undinnere“ heitsverbundsysteme sind Gegebenheiten, die die Strukturen deraktuellen Sicherheitsgesetzgebung nachhaltig bestimmen. Dieses Phänomen derEntstehung eines transnationalen undeuropäischen Polizeirechts, das sich nicht mehrallein an deutschen Maßstäben der Rechtsstaatlichkeit unddes Grundrechtsschutzes messen lässt, wird im Schrifttum ausgiebig diskutiert,29 wobei besonders auf die Habilitationsschrift vonBaldus hingewiesen werden darf.30 25 Dazueigentlich nurMartin

Kutscha, DerLauschangriff imPolizeirecht derLänder, NJW1994, 85 undJürgen Schwabe, Diepolizeiliche Datenerhebung inoderausWohnungen mitHilfe technischer Mittel, JZ 1993, 867; erst später anlässlich derÄnderung vonArt. 13 GGFrank Braun, Dersogenannte „ Lauschangriff“impräventivpolizeilichen Bereich, NVwZ2000, 375 undMartin Koch, Datenerhebung inoderausWohnungen nachderNeufassung desArt. 13GG,DuD1999, 451. 26 Manbeachte aberdiebemerkenswerten Ansätze vonRalfPoscher, Gefahrenabwehr, 1999, ders,. DerGefahrverdacht – Dasungelöste Problem derPolizeirechtsdogmatik NVwZ2001, 141oderauch Hans-Heinrich Trute, Kontrolle ohne Gefahrenverdacht, DieVerwaltung 32 (1999), 73. 27 Vgl. dazu die Hinweise inAnm. 22. 28 Vgl.dazudasProgramm Innere Sicherheit, Fortschreibung 1994 durch dieInnenminister derLänder unddesBundesministeriums des Innern, Bonn1994.

29 Hans Ulrich Endres, Internationale Verbrechensbekämpfung, 1991; Constance Grewe, LaconventionEuropol: L’ émergence d’unepolice européenne?, 2001; Lothar Harings, Grenzüberschreitende

Zusammenarbeit derPolizei- undZollverwaltungen undRechtsschutz inDeutschland, 1998; Riegel, Europol undDemokratieprinzip, ZRP1998, 192; Edzard Schmidt-Jortzig, Zunehmende europäische Überwölbung des nationalen Polizei- undSicherheitsrechts, NordÖR 1999, 483; Jose Martinez

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Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

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3. „Forciertes polizeiliches Einschreiten gegen nicht (mehr) gemeinverträgliche Verhaltensweisen imöffentlichen undprivaten Raum“ aberauchgesellschaftlicher Veränderungen wirdvonderPolizei zunehmend einEinschreiten gegen alle nicht mehrals gemeinverträglich erachteten Verhaltensweisen imöffentlichen Raum der Straßen, Plätze undöffentlichen Verkehrsmittel gefordert. Genannt seien etwa: Drogenhandel undDrogenkonsum, Straßenkriminalität, Randalieren Betrunkener, Vandalismus, Verunreinigungen, aggressives Betteln undBelästigungen aller Art.31 Imprivaten Raumwirdzudem inErgänzung des(zivilrechtlichen) Gewaltschutzgesetzes einerhöhtes Schutzniveau vorGewalt im sozialen Nahraum angemahnt.32 Soweit die Polizei indieser Intention tätig wurde –etwa mittels längerfristiger Aufenthaltsverbote oder eines sog. Verbringungsgewahrsams –geschah dies vielfach mangels spezieller Befugnisnormen unter Ausschöpfung des herkömmlichen Repertoires der polizeilichen Standardmaßnahmen oder unter einem Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel. Damit konfrontiert33 hatdieklassische Polizeirechtsdogmatik neue Impulse erfahren: Inhalt undReichweite der althergebrachten Standardbefugnisse wurden neu Sperrwirhinterfragt unddasVerhältnis derStandardbefugnisse zurGeneralklausel („ ) weiter geklärt. Auchwurde indiesem Zusammenhang dieGelegenheit füreine kung“ längst fällige Systematisierung derpolizeilichen Standardbefugnisse genutzt.34 Einzelne Bundesländer sindindiesem Kontext derKritik derLiteratur gefolgt und haben denKanon derpolizeilichen Standardmaßnahmen entsprechend ergänzt.35 Renaissance Beachtung inderrechtwissenschaftlichen Diskussion fandauchdie„ deröffentlichen Ordnung“als handlungseröffnende Variante derpolizeilichen Generalklausel.36 So wurde ein Einschreiten der Polizei gegen nicht gemeinverträgliche

Aufgrund politischer,

Soria, Diepolizeiliche Zusammenarbeit inEuropa undderRechtschutz des Bürgers, VerwArch 89 (1998), 400; Satish Sule, Europol undeuropäischer Datenschutz, 1999; Ruth Wehner, Europäische Zusammenarbeit beiderpolizeilichen Terrorismusbekämpfung ausrechtlicher Sicht, 1993; Christof Gramm, Verfassungsrechtliche Grenzen derZusammenarbeit mitauswärtigen Staaten imHoheitsbereich, DVBI. 1999, 1237; 30 Manfred Baldus, Transnationales Polizeirecht, 2000 sowie ders./M. Soiné (Hg.), Rechtsprobleme derinternationalen polizeilichen Zusammenarbeit, 1999. 31 Treffend werden diese Konfliktlagen imöffentlichen Raumdurch Ann-Marie Kappeler, Öffentliche Sicherheit durch Ordnung, 2001, herausgearbeitet. indasLandespolizeirecht, NJW2002, Gewaltschutzgesetzes“ 32 Ulrike Hermann, DieUmsetzung des„ 3062; Wolfgang Kay,Wohnungsverweisung –Rückkehrverbot zumSchutz vorhäuslicher Gewalt, NVwZ2003, 521. 33 Besonders erwähnenswert ist die Arbeit von Ann-Marie Kappeier, Öffentliche Sicherheit durch Ordnung, 2001.

Schrift ist dabei Andreas Lambiris, Klassische Standardbefugnisse imPolizeirecht, 2002, gelungen. Befugnisse zulängerfristigen Aufenthaltsverboten sindnunmehr etwa inNiedersachsen (§ 17 Abs. 2 NGefAG), Sachsen (§ 21 Abs. 2 SächsPolG), Berlin (§ 29 Abs. 2 BlnASOG) oder in SachsenAnhalt (§ 36 Abs. 2 SOG LSA) normiert. So wirdzunehmend imPolizeirecht aufdie Erwähnung der„öffentlichen Ordnung“indenGeneralklauseln verzichtet; s. dieStreichungen in§ 1 Abs. 1 BremPolG (1983), § 1 Abs. 1 NWPolG (1990) –allerdings insoweit inkonsequent, alseine Streichung imOrdnungsbehördengesetz, dort§§ 1Abs. 1, 14 Abs. 1, nicht erfolgte, § 1 Abs. 2 SaarlPolG (1989), §§ 1, 2 NdsGefAG (1994). Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass gerade in letzter Zeit auf Grund neuerer Entscheidungen zu auf polizeiliche Generalklauseln gestützten Verboten vonGewaltspielen (Nachw. beiKayWächter, Die Schutzgüter des Polizeirechts, NVwZ 1997, 729, dort Fußn. 6) oder Bestrebungen, Bettelei in

34 Eine grundlegende 35

36

190

DirkHeckmann

Verhaltensweisen wieaggressives Betteln undähnliches miteiner Gefährdung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt. Dabei wurde die Ordnungsklausel als Kompetenzreserve zurSanktion abweichenden Verhaltens überwiegend kritisch gesehen.37 Magmandie dahinter stehenden Sachverhalte eher als randständige Problematik beurteilen, so gilt dies nicht fürdenBereich desVersammlungsrechts. So istseit Anfang 2001 ineiner beispiellosen Kontroverse zwischen demOVGMünster unddem BVerfG die Frage aufdemPrüfstand, obVersammlungen miteinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus die öffentliche Ordnung gefährden unddaher gem. § 15 Abs. 1 VersG verboten werden können.38 Diese aufdemeinfachen Recht fußende Problematikder„Bemakelung öffentlicher Räume“ wurde seitens derWissenschaft mittels einer grundrechtsdogmatischen Präzisierung desPrinzips der„ mit Wehrhaften Demokratie“ einem (beachtenswerten) theoretischen Fundament versehen.39 Freilich ohneweitere Grundtenor treu Beachtung des BVerfG40 zufinden, das insoweit seinem „ liberalen“ bleibt.

4. DiePrivatisierung vonPolizeiaufgaben Diegewerblichen Sicherheitsunternehmen sindzunehmend indas Blickfeld derBemühungen umdie innere Sicherheit gerückt. Sie decken inerster Linie einen Bedarf anprivater Sicherheit, dervonUnternehmen, vielfach aberauchvonöffentlichen Auftraggebern ausgeht undimKern die Felder des Objekt-, Personen- undTransportschutzes erfasst. Umdie wissenschaftliche Aufarbeitung dieses DienstleistungssekderUniversität tors hatsich insbesondere die„ Forschungsstelle Sicherheitsgewerbe“ Hamburg unter derLeitung vonRolf Stober verdient gemacht.41 Soweit private Sicherheitsdienstleister imstaatlichen Auftrag klassische polizeiliche Aufgaben wahrnehmen, wieAbsperr-, Ordnungs- undKontrolldienste beiGroßveranstaltungen, die Sicherung vonGeschäftszentren undLadenstraßen, Kontrollen vonBahnhöfen undVerkehrsmitteln sowie Fluggastkontrollen, kanneine Würdigung der Polizeirechtsentwicklung nicht an dieser potenzierten Bedeutung der gewerblichen Sicherheitsunternehmen vorbeigehen. Zudieser ArtderPrivatisierung öffentlicher Sicherheit sind folgerichtig umfassende polizeirechtliche Untersuchungen entFußgängerzonen als Störungen deröffentlichen Ordnung abzutun (ausf. dazu Volker Holzkämper, DieUnterbringung aggressiven Bettelns als Rechtsproblem, NVwZ1994, 146[149]), dieöffentliche Ordnung wieder mehrindenBlickpunkt geraten ist. Lesenswert zudiesen Tendenzen vorallem Kay Wächter, Die Schutzgüter des Polizeirechts, NVwZ 1997, 729;

37 So KayWaechter, DieSchutzgüter des Polizeirechts, 38

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40

41

NVwZ1997, 729 ff. m.w.N.; differenzierend Günter Erbel, Öffentliche Sicherheit undOrdnung, DVBI. 2001, 1714 (1717 ff.). OVGMünster, NJW2001, 2111; NJW2001, 2113; NJW2001, 2114; NJW2001, 2986; NVwZ2002, 737; außerdem VGHMünchen, Beschl. v. 7. 8. 2003 –24 CS 03.1962 und 24 CE 03.1963; Beschl. v. 4. 9. 2003 –24 CS 03.2346B; dagegen das BVerfG, NJW2001, 1409; 2069 m.Anm.von Sachs, JuS 2001, 911 f. Eine ausführliche Nachzeichnung derKontroverse findet sich bei Hans-Werner Laubinger/Ulrich Repkewitz, Die Versammlung in derverfassungs- undverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, VerwArch 93 (2002), 149 (152 ff.), und Ralf Roger, Demonstrationsfreiheit für Neonazis?, 2004, S. 16. Insbesondere vonUlrich Battis/Joachim Grigoleit, Neue Herausforderungen fürdasVersammlungsrecht?, NVwZ2001, 121ff.Allerdings scheinen dieVerfasser mittlerweile ihren Standpunkt zumindest teilweise aufgegeben zuhaben, dies., Rechtsextremistische Demonstrationen undöffentliche Roma locuta?, NJW2004, 3459. Ordnung – Zuletzt erging eine die bisherige Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Anm.35) aufrechterhaltende Senatsentscheidung, BVerfG, NJW2004, 2814. ZurForschungstätigkeit imeinzelnen vgl. http://www.forsi-online.de

Das Paradoxon vonindividueller

Freiheit

191

undöffentlicher Sicherheit

standen.42 Insbesondere Gusy43 undPitschas44 (letzterer auch aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht) haben sich demThema verschrieben. Gleichsam Gegenstand wissenschaftlicher Beleuchtung waren indiesem Kontext auchdieunterschiedlichen Modelle polizeilicher Zusammenarbeit mit Privaten. Z.B. die mit Modellcharakter unddieinstitutionelle EinrichPolice Private Partnership“ inszenierten Formen eines „ inunterschiedlichsten Schattierungen (vonderInstitution der Hilfspolizeien“ tungvon„ Bayerischen Sicherheitswacht bis zur in den Polizeivollzugsdienst eingegliederten Sächsischen Wachpolizei)45. DieFrage, ob undinwelchem Rahmen derStaat berechtigt ist, eigene Sicherheitsaufgaben nicht mehrvonseinen Polizeibeamten, sondern vonPrivaten wahrnehmenzulassen, istrechtlich allerdings nochnicht vollständig geklärt. Ansätze füreine weitgehende Einbindung privater Sicherheitsunternehmen auch unter Ausstattung hoheitlicher Befugnisse werden aberbereits wissenschaftlich diskutiert.46 Insoweit hat eines derverwaltungsrechtlichen Themen unserer Zeit auch Einzug in das Polizeirecht gehalten, nämlich die Problematik derPrivatisierung staatlicher Aufgaben und ihrer notwendigen Grenzen.47 Gerade die Beleuchtung dieses letzten Forschungsschwerpunktes des Polizeirechts zeigt doch zumindest ein weiteres Paradoxon des Sicherheitsrechts auf. Ist einerseits, wasdieBekämpfung vonorganisierter Kriminalität undTerrorismus betrifft, eine massive Ausweitung polizeilicher Mittel undMaßnahmen zubeobachten, versucht sich andererseits derStaat seiner Sicherheitsverantwortung in Bereichen der traditionellen Gefahrenabwehr teilweise zuentledigen undprivaten Akteuren zuüberantworten. Insoweit ist die aufgrund derderzeitigen diffusen Sicherheitslage vielbeRenaissance desStaates“ ambivalent. schworene „

III. Kritik undKontrolle: Grundfragen einer Polizeirechtstheorie komplementärer Risiken in RaumundZeit

als Theorie

mandiePolizeigesetznovellen derletzten Jahre unddiedaraufhin erstrittenen Verfassungsgerichtsentscheidungen, dann sind es imWesentlichen 4 Fragen, aus

Analysiert

42

43

44 45

46 47

Christian-Dietrich Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, 1987; Florian Huber, Wahrnehmung von Aufgaben imBereich derGefahrenabwehr durch dasSicherheits- undBewachungsgewerbe, 2000; Bernd Jeand’Heur, VonderGefahrenabwehr als staatlicher Angelegenheit zumEinsatz privater Sicherheitskräfte, AöR119 (1994), 107; Lothar Mahlberg, Gefahrenabwehr durch gewerbliche Sicherheitsunternehmen, 1988; Holger Nitz, Private undÖffentliche Sicherheit, 2000; Martin Schulte, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte imLichte des staatlichen Gewaltmonopols, DVBI. 1995, 130; Rolf Stober (Hg.), Public-Private-Partnerships undSicherheitspartnerschaften, 2000; ders., Private Sicherheitsdienste als Dienstleister fürdie öffentliche Sicherheit?, ZRP2001, 260; ders., Police-Private-Partnership aus juristischer Sicht, DÖV2000, 261 (265); ders., Staatliches Gewaltmonopol undprivates Sicherheitsgewerbe, NJW1997, 889. Christoph Gusy (Hg.), Privatisierung von Staatsaufgaben: Kriterien –Grenzen –Folgen, 1998; Privatisierung von Polizeikosten?, 1996; Polizei und private Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum, VerwArch. 2001, 344 ff. Rainer Pitschas, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitsdienste, DÖV1997, 393; R.Pitschas/R. Stober (Hg.), Staat undWirtschaft inSicherheitsnetzwerken, 2000. Dazuumfassend Fabian Jungk, Police Private Partnerships –Eine Untersuchung anhand verschiedener Modelle, 2002. So aufdem6. Hamburger Professorengespräch derForschungsstelle Sicherheitsgewerbe am23. Juni2004 inHamburg. Derdazugehörige Tagungsband befindet sich imErscheinen. Vgl. insbesondere die Habilitationsschrift von Christof Gramm, Privatisierung undnotwendige

Staatsaufgaben, 2003.

192

DirkHeckmann

deren Antworten Elemente einer neuen Polizeirechtstheorie abzulesen sind. Ichnenne sieeine Theorie komplementärer Risiken inRaumundZeit. Betonen möchte ichvorab, dass meine Ausführungen skizzenhaft bleiben undeine aus meiner Sicht wichtige Diskussion anstoßen sollen.

1.DarfdiePolizei densog.unbescholtenen Bürger kontrollieren? („ ) indieBreite gehen“ Dieerste dervier„ Grundlagenfragen“ , diedassog. „neue“ Polizeirecht betrifft, lautet: DarfdiePolizei densog. unbescholtenen Bürger kontrollieren? Siebezieht sichaufdie umstrittenen polizeilichen Standardbefugnisse der Schleierfahndung48, der Videoneuerdings – derautomatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung50. überwachung49 und– Alldiesen Befugnissen istgemeinsam, dass siesichalsKontrollinstrumente nicht mehr alleine gegen denStörer richten, nicht einmal gegen einen Verdachtsstörer, sondern solche Personen insVisier nehmen, beidenen imZeitpunkt derKontrolle keineswegs feststeht, dass sie überhaupt als Störer inBetracht kommen. Damit verlassen solche Befugnisse denBoden derüberkommenen polizeirechtlichen Eingriffssystematik, die auf demSchema der Störerverantwortlichkeit für die Abwehr konkreter Gefahren beruhte. Diepolizeirechtliche Leitfigur des Störers wirddamit abernicht aufgegeben, wie zuweilen behauptet wird.51 Vielmehr entsteht eine differenziertere Skala der Aktionsmöglichkeiten. Sogenannte Jedermannkontrollen richten sichnicht etwagegen Nichtstörer, so dass hierauch nicht dervielfach zitierte polizeiliche Notstand bemüht werden darf. Fahrzeugführer, die imRahmen derSchleierfahndung angehalten und kontrolliert werden, sind nicht Nichtstörer (zusammen geschrieben), sondern imZeitpunkt derKontrolle jedenfalls nicht Störer (auseinander geschrieben). Obsie verantwortlich sindfürdieBegehung vonDrogendelikten, Kfz-Schieberei oderMenschenhandel,weißderkontrollierende Beamte erstimVerlauf derPersonenkontrolle. Eshandelt 52,derBayerische Verfassungsgerichtssich umeine Maßnahme gegen „Unbekannt“ 53.DieStörer- undGefahrenrelevanz im hofspricht hiervoneiner „ anonymen Gefahr“ Einzelfall zuermitteln, istSinneiner solchen Kontrolle, imPrinzip ja Sinndermeisten Kontrollen.54 Mandenke nurandie Fluggastkontrollen oderStichproben imGaststättengewerbe. Dervermeintlich weite Tatbestand solcher Kontrollen wirddabei einge-

48 49

50

51

52 53

54

Entsprechende polizeiliche Befugnisse zuverdachtsunabhängigen Kontrollen zurBekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität finden sich etwa inBayern, Baden-Württemberg, Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Eine (offene) Videoüberwachung öffentlicher Räume durch diePolizei istmittlerweile indenmeisten Bundesländern gesetzlich geregelt. Durch denEinsatz vonautomatischen Kfz-Kennzeichen-Lesesystemen imStraßenverkehr können alle erfassten Kennzeichen unmittelbar mitdemaktuellen Fahndungsstand abgeglichen werden. Kennzeichen, diedabei nicht inZusammenhang miteiner Fahndung stehen, dürfen nicht gespeichert werden. Entsprechende polizeiliche Befugnisse sindderzeit inBayern (LT-Drs. 15/2096) und in Hessen (LT-Drs. 16/2352) geplant. SoaberKayWaechter, Die„Sachleierfahndung“als Instrument derindirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung undVerunsicherung, DÖV1999, 138 oder Hans Lisken, Verdachts- undereignisunabhängige Personenkontrollen zurBekämpfung dergrenzüberschreitenden Kriminalität?, NVwZ1998, 22. Ausführlich dazu Dirk Heckmann, Die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität durch verdachtsunabhängige Personenkontrollen, in:FS fürSteinberger, 2002, 467ff. BayVerfGH, BayBVBI. 2003, 560 (561 f.). So auch Jürgen Schwabe, „Kontrolle ist schlecht, Vertrauen allein derMenschenwürde gemäß“ , NVwZ1998, 709.

DasParadoxon vonindividueller

Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

193

schränkt durch eine starke Zweckbindung, seies dieSicherheit des Luftverkehrs, die Lebensmittelsicherheit oderebendieBekämpfung dergrenzüberschreitenden Kriminalität. Lassen sich verdachtsunabhängige Kontrollen so in den Kontext traditioneller Gefahrenabwehr stellen, muss erneut gefragt werden: Wasistes, dass Maßnahmen gegen denunbescholtenen Bürger so zweifelhaft macht, dass sich immerhin 3 Landesverfassungsgerichte, nämlich jene inMecklenburg-Vorpommern55, Bayern56 und Sachsen57, innerhalb weniger Jahre mitdieser Frage befassen mussten? Esist–glaubt mandenBeschwerdeführern indenNormenkontrollverfahren –die Redlichkeitsvermutung zugunsten des Bürgers.58 Mitdieser vertrage sich eine unterschiedslose Polizeikontrolle nicht. Es ist indes fraglich, obdieArgumentation mitder Redlichkeitsvermutung überhaupt (verfassungs-) rechtlichen undanthropologischen , andiemanspontan denken mag, Unschuldsvermutung“ Erwägungen standhält. Die„ hatihre Heimat alleine indemMakel des kriminalstrafrechtlichen Vorwurfs undkann nicht pauschal gegen sonstige Kontrollen verwendet werden. Kontrollen alsInstrumentezurÜberwindung vonUngewissheit sindnicht illegitim; imGegenteil: siezeigen dem Bürger die staatlichen Anstrengungen zumErhalt undzurSteigerung vonSicherheit undLebensqualität undstärken sodasSicherheitsgefühl. Die„Delinquenzvermutung“ existiert nicht; derMensch wirdnicht zumKontrollobjekt herabgewürdigt. Problematisch wäre eherderVerzicht aufKontrolle. Kontrolle schützt dieRedlichen undSchwachen vordenUnredlichen undMächtigen. Dass auch derKontrolleur seinerseits zu kontrollieren ist,versteht sichvonselbst undistimRechtsstaat durch behördeninterne Aufsicht, gerichtlichen Rechtsschutz und nicht zuletzt die kritische Öffentlichkeit, unterstützt durch dieMedien, inhohem Maße gewährleistet. DieRedlichkeitsvermutung zugunsten desBürgers wirdzwarvielfach alsAusfluss desMenschenbildes desGrundgesetzes angesehen, ohne dass dieses jedoch näher konkretisiert würde.59 Offensichtlich wird insoweit von einem durchweg positiven guten“ Menschen Menschenbild des Grundgesetzes ausgegangen. Dieses Bilddes„ wirdinderFolge alsGrundlage fürdieverfassungsrechtliche Argumentation imHinblick aufMenschenwürde undGrundrechtsschutz genutzt. Unabhängig vonderFrage, inwieweit die Gedanken undFolgerungen derRedlichkeitstheorie wünschenswert seinmögen, erscheint esjedoch fraglich, obinderverfassungsrechtlichen Diskussion aufreinanthropologische Argumentationsmuster zurückgegriffen werden kann. So istehervoneinem konkreten Menschenbild alsGrundlage der Verfassungsinterpretation abzusehen, da eine derartige eindeutige und Menschenbildes kaummöglich ist.60 richtigen“ eindimensionale Bestimmung eines „ Menschenbild gutes“ oder„ böses“ Insoweit erscheint dieBerufung aufeinbestimmtes „ vordemHintergrund derTatsache, dass deren Richtigkeit indeneigentlichen Stammdisziplinen nicht geklärt ist, als Grundlage zurLösung verfassungsrechtlicher Fragen kaumgeeignet.

55

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, DVBI. 2000, 262 (teilweise verfassungswidrig). 56 BayVerfGH, BayBVBI. 2003, 560 (verfassungsgemäß). 57 SächsVerfGH, NJ 2003, 473 (verfassungsgemäß). 58 Vgl. Hans Lisken, Verdachts- undereignisunabhängige Personenkontrollen zurBekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität?, NVwZ1998, 22 ff. 59 S. Anm. 58 sowie LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, DVBI. 2000, 262 ff. 60 So auch: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 620, Jörn Ipsen, VVDStrL 37, 7 (30);

Peter Häberle, DasMenschenbild

imVerfassungsstaat, 1988, S. 33.

194

DirkHeckmann

Esseiauchdarauf hingewiesen, dass etwadasBVerfG inseiner Rechtsprechung Ansatz des Menschenbildes61 als voneiner wertenden funktionalen“ ehervoneinem „ Betrachtung imSinne von„ gut“ und„ ausgeht. böse“ Daher kannnicht davon ausgegangen werden, dass die Redlichkeitsvermutung bindende oderprägende Wirkung fürdenGesetzgeber imBereich derGewährleistung vonSicherheit undOrdnung hat, die ihnzwangsläufig –etwa imSinne einer vordie

verpflichtet, beiseinen Regelungen darauf RückKlammer gezogenen Grundnorm – sicht zunehmen. Einer Argumentation imSinne eines „ Kontrolle istschlecht, Vertrauen istmitSchwabe entgegenzutreten, derdieCharakallein derMenschenwürde gemäß“ terisierung desRedlichkeitsprinzips alseines Konstitutionsprinzips desGrundgesetzes zuRecht strikt ablehnt.62 Einleuchtend nennt ereine Vielzahl vonGegenbeispielen, in denen derStaat demBürger entgegen derRedlichkeitsvermutung gerade keinVertrauenentgegenbringt: Fahrscheinkontrollen indenöffentlichen Beförderungsmitteln, die Kontrollen bei Prüfungsarbeiten oder die Kontrollen imWirtschaftsverwaltungsrecht. AuchimBereich derpolizeilichen Tätigkeit gibtes eine Vielzahl unbestritten notwendigerKontrollen, insbesondere imVerkehrsbereich. Dies zeigt ganz praktisch, dass der Schutz derMenschenwürde gem. Art1 GGnicht verbieten kann, einem anderen unredliches, rechtswidriges Tunauchnurzuzutrauen undihndeswegen zukontrollieren. Auchwennkeine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, wirderdurch eine vorbeugende Kontrolle nicht zumObjekt des Staates gemacht. ImGegenteil: WennsichderStaat unter legitimer Zwecksetzung bestimmter RisikenundGefahren fürseine Bürger annimmt unddeshalb unter Einsatz vonPersonal undSachmitteln Kontrollen durchführt, zeigt dies doch inerster Linie, dass ihmdie Menschen indieser Situation nicht „ sind under umdie Sicherheit eines jeden egal“ Einzelnen (auch: desKontrollierten selbst!) besorgt ist.Besonders deutlich wirddies bei denFluggastkontrollen an Flughäfen, deren Legitimität noch nieangezweifelt wurde. Hierfühlt sichsicher keinPassagier als„ staatlicher Kontrolle, weilerweiß, dass Objekt“ die Kontrolle seiner eigenen Sicherheit dient. ImHinblick aufdievermeintliche Redlichkeitsvermutung mit ihren Folgen unterscheidet sich dieser Fall nicht von den

aufderStraße. Lässt sich demzufolge die Redlichkeitsvermutung weder als verfassungsrechtliches Gebot nochals polizeirechtliche Orientierungshilfe verwenden, so stellt sich hier dochdieFrage nachderRechtsposition dessog. unbescholtenen Bürgers imKontext vonFreiheit undSicherheit. Ansatzpunkt kanninsoweit einGedanke ausderjüngeren polizeirechtlichen Literatur sein: dieDuldung polizeilicher Kontrollen als Solidarbeitrag desBürgers.63 DasPrinzip derSolidarität –gleich obmanes alsRechtsprinzip odergar als Verfassungsprinzip ähnlich derBrüderlichkeit ansieht –hatohne Zweifel eine besondere Sachnähe zuFreiheit undSicherheit. Letztlich gehtes umdieSelbstbegrenzungderFreiheit des gemeinschaftsgebundenen Individuums unddamit umdieAuflösung desParadoxons vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit. Ichkommedarauf zurück. Soviel sei aber andieser Stelle bereits angemerkt: DieSchleierfahndung als Paradebeispiel fürdie Inanspruchnahme des unbescholtenen Bürgers existiert nunseit etwa 10 Jahren. Obwohl die Zahl derKontrollierten mittlerweile 1 Million überschritten hat,tendieren dieaktenkundigen Fälle einer Beschwerde odergar Kontrollen

61 Undzwar eher in einer freiheitsbegrenzenden Funktion: Ulrich Becker, Das Menschenbild des Grundgesetzes inderRechtsprechung des Bundesverfassunsgerichts, 1996, S. 101ff. m.w.N.

62 S. Anm. 54. 63 Kay Waechter, Die Schleierfahndung als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung Abschreckung DÖV1999, 138.

durch

DasParadoxon vonindividueller

Freiheit

195

undöffentlicher Sicherheit

des Rechtsschutzes gegen diese Maßnahme gegen Null. Ich kenne keine andere staatliche Maßnahme, beiderdieAkzeptanz derBetroffenen unddieVehemenz der rechtswissenschaftlichen Kritik derart weitauseinanderklaffen. Hiervonnotwendiger rechtsstaatlicher Begrenzung

zusprechen, fällt schwer.

2. Gibtes einen rechtlich geschützten

Rückzugsraum des Bürgers, polizeilichen Einblicken bewahrt? („ in die Tiefe gehen“ )

derihnvor

Ichkomme zurzweiten Grundlagenfrage. Gibteseinen rechtlich geschützten Rückzugsraumdes Bürgers, derihnvorpolizeilichen Einblicken bewahrt? Wiebeiderersten Frage steht derräumliche Bezug imVordergrund, nurdass es diesmal nicht umden öffentlichen Raum, sondern umdiePrivatsphäre geht. Genau genommen handelt es sichbeidiesen beiden Fragen umKomplementärfragen indoppelter Hinsicht:

Zumeinen markieren diese Fragen denpolizeilichen Kontrollraum nachinnen und nachaußen: Pointiert ausgedrückt darfausgerechnet derunbescholtene Bürger kontrolliert werden, während derStörer unbehelligt seine Tatplanen undggf. sogar ausführen kann.

Zumanderen bedingen sichdieSolidarlasten undRückzugsmöglichkeiten gegenseitig. WennderBürger imöffentlichen Raumschon weitergehende Kontrollen gewärtigen muss, sollte ereinen Rückzugsraum haben, derihmPrivatheit, Für-Sich-sein im Sinne einer Staatsferne ermöglicht. Umgekehrt könnte derStaat seine Schutzpflichten kaumerfüllen, wenner keinen umfassenden Kontrollraum hätte, derunmittelbar vor demRückzugsraum beginnt. So plausibel nundie Abgrenzung vonöffentlichem Kontrollraum undprivatem Rückzugsraum aucherscheinen mag,so behutsam muss manbeiderMarkierung der Grenzlinie sein. Es gibt–normativ gesehen –kein Recht, Verbrechen vorzubereiten Schlafzimmer“ . DerSchutz, denhierdiePrivatsphäoderdurchzuführen, auchnicht im„ re, gewonnen aus demGrundsatz derMenschenwürde, vermittelt, ist aber nurfaktischer Natur: Weilundsoweit beiKontrollen fast zwangsläufig auchprivates, rechtlich irrelevantes, ohne Weiteres schutzwürdiges Verhalten wahrgenommen wird, werden hohe Anforderungen anstaatliche Einblicke inebendiese Privatsphäre gestellt. Das private Verhalten istkaumauszufiltern. Ginge dies doch, gäbe es keinen vernünftigen Missbrauch“ derPrivatsphäre als Tatort zudulden.64 Es sei denn man Grund, den„ bejahte ebendochdieFreiheit zumRechtsbruch alshöchstpersönlichen Anspruch des freien Bürgers. Pointiert ausgedrückt: DerEinzelne hat das Recht, Rechtsgüter zu verletzen; derStaat aberhatdasRecht, solche Rechtsverletzungen zuahnden (wenn, ja wenner denRechtsbruch erkennen undnachweisen kann). Hierfür würden dem Staat optimale, allerdings nicht maximale Erkenntnismöglichkeiten eingeräumt. Zwischen Freiheit undRecht müsste dannaber unterschieden werden. DemBürger ein Recht aufRechtsbruch zugeben undgleichzeitig denStaat zuermächtigen, diesen Rechtsbruch zusanktionieren, klingt paradox. Bemerkenswerter Weise zieht dasBundesverfassungsgericht dieGrenzen dieser Rückzugssphäre inseinem Lauscheingriffsurteil65 keineswegs so weit wiedies nunin Vollzug dieser Entscheidung vorwenigen Tagen durch das Bundesjustizministerium bekannt gemacht wurde.66 Danach wäre nach den Neuregelungen inderStPO die 64 So wohl auch das BVerfG, NJW2004, 999 (1004 f.). 65 BVerfG, NJW2004, 999 ff.

66

Gesetzesentwurf zurUmsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (akustische Wohnraumüberwachung), BR-Drs. 722/04.

vom3. März 2004

196

DirkHeckmann

akustische Wohnraumüberwachung injedem Fall unzulässig, sobald undsoweit ein Verdächtiger Gespräche mitseinem Anwalt, einem ArztoderGeistlichen odernahen Angehörigen führt. Diephysische Privatsphäre imSinne derPrivatwohnung wird so funktionell ergänzt, z.T. sogar erweitert durch einen herausgehobenen Schutz des gesprochenen Wortes. Das ist eingedenk dergrundrechtlichen Gewährleistungen in Art. 10 und13 GGzunächst nurkonsequent. Die Ausgangsfrage wird damit aber keineswegs abschließend beantwortet. Ansatzpunkt fürdieNeubestimmung despolizeirechtstheoretischen Rahmens ist dieFrage, obes perse einen „ polizeifesten“ Raumgeben kann, indemeineAbwägung zwischen individueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit nicht mehrstattfinden kann, weildort staatliche Kontroll- undAbwehrmaßnahmen zugunsten derpersönlichen Entfaltung ausnahmslos verboten sind.67

3. DarfdiePolizei technische

Mittel einsetzen, deren Eingriffswirkung beimissbräuchlicher Verwendung weitüberdenAnlassfall hinaus reicht? („ mitderZeitgehen“ )

Diemodernen, d.h.indenletzten 15Jahren neueingeführten odererheblich modifiziertenPolizeibefugnisse sind untrennbar mitdemEinsatz technischer Mittel verbunden. Dierasante technologische Entwicklung hatgleichermaßen modernere Tatwerkzeuge undzeitgemäße Gefahrenabwehrinstrumente hervorgebracht. ImGegensatz zufrühererPolizeitechnik sinddiese Instrumente (z.B. Video- undTelefonüberwachung, DNAAnalyse, automatisierte Kennzeichenerfassung) eingriffsintensiver (weil buchstäblich amBürger) undinsbesondere nachhaltig. DieDigitalisierung derInformationsnäher“ „ verarbeitung führt inVerbindung mithohen Speicherkapazitäten undNetzwerktechnologie zunachhaltigen Archiv-, Übermittlungs- undVerknüpfungsfunktionen. Esliegt auf der Hand, dass der allgemeine Gedanke einer Missbrauchsvorsorge durch solche Konstellationen neue Nahrung erhält. Vergleichbares gab es –theoretisch –imklassischen Polizeirecht nurhinsichtlich missbräuchlicher Verwendung vonSchusswaffen. Mitderdritten Grundlagenfrage sindzweielementare Denkansätze verbunden, die es näher zuuntersuchen gilt: derGesichtspunkt einer latenten Missbrauchsvermutung unddas Axiom „ . Wehret denAnfängen“ Fürsich betrachtet ist Missbrauch zunächst nichts anderes als die Negation von Gebrauch, wobei sich Gebrauch undMissbrauch durch Funktion undZweck unterscheiden, dieeinem Gegenstand nachvorgegebener Definition innewohnen. Wasetwa diemissbräuchliche Verwendung personenbezogener Daten betrifft, kommt es darauf an,obdiese zueinem Zweck (weiter-) verwertet werden, dervonderErmächtigung zur Datenerhebung und-verarbeitung abweicht.68 Ein Beispiel: Bei derautomatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung dürfen nursolche Daten gespeichert bleiben, die einen Treffer beim Abgleich mitdemDatenbestand ergeben haben. Andere Daten sind unverzüglich zulöschen. Unverzüglich bedeutet ohneschuldhaftes Zögern. Angesichts heutiger technologischer Möglichkeiten istdieErfüllung derLöschungspflicht ebenso zuautomatisieren wiedieKennzeichenerfassung. DieSoftware istsozuprogrammieren,dass dieFehltreffer ausdemZwischenspeicher („ Cache“ ) entfernt werden, bevor sieeinMensch überhaupt abrufen könnte. Solche informationstechnischen Verfahrens-

67 So offenbar

68

Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Grenzen des Lauschens –Der „ große Lauschangriff“auf dem Prüfstand der Verfassung, ZRP 2004, 101. Thomas Würtenberger/Dirk Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn.

559 ff.

DasParadoxon vonindividueller

Freiheit

197

undöffentlicher Sicherheit

vorkehrungen sindBestandteil einer umfassenden grundrechtssichernden Infrastrukturschaffungspflicht, besser gesagt: Obliegenheit des Staates. Gerade diemoderne Informationstechnologie birgt einhohes Potential anSchutzmechanismen, diefüreine praktische Konkordanz widerstreitender Sicherheits- und Freiheitsinteressen sorgen können. Diesoeben skizzierte automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung zeigt diese Verbindung vontechnischem undrechtlichem Fortschritt: DieetwainderHSOG-Novelle geplante Befugnisnorm69 sollweiter gehen alsSchleierfahndung undVideoüberwachung, nämlich dengesamten Verkehrsraum umfassen ohne weitere tatbestandliche Eingrenzung. Das istverfassungsrechtlich deshalb unproblematisch, weildie Normeinen Technikeinsatz regelt, dersich quasi selbst begrenzt. Das Missbrauchsrisiko, das manjedenfalls theoretisch mit der Kenntnis wiederum Daten verbinden könnte, wirdsorelativiert. Übrig bleibt das– „ unbemakelter“ eher theoretische –Risiko, einer Manipulation dereingesetzten Software durch die Polizei. Prüft mandiesbezüglich die Wahrscheinlichkeit eines solchen Verhaltens anhand vonErfahrungswerten undanderen objektiven Parametern, wirdmandieses Missbrauchsrisiko als sehr gering einstufen müssen. Es ist bemerkenswert, dass in Teilen derjuristischen Literatur dennoch dieses Missbrauchsrisiko argumentationsbestimmend ist, wenn es umdas Verdikt der Verfassungswidrigkeit von Polizeibefugnissen geht.70 Einbesonderes Gewicht erhält diese Argumentation durch ihre Allianz mitderinder1. Grundlagenfrage erörterten Redlichkeitsvermutung. Mandarf es erstaunlich nennen, wiepauschal einerseits dieRedlichkeit desBürgers, anderseits dieUnredlichkeit derPolizei behauptet wird. Nicht ganz, aberdochinTeilen erscheint auchdiesparadox: Wenneseineverfassungsrechtlich gebotene Redlichkeitsvermutung zugunsten aller (!) Menschen wirklich gäbe, warum argwöhnt mandann gegenüber demPolizeibeamten, dieser werde seine Macht missbrauchen (etwa beiderVideoüberwachung mehrEinblick nehmen alszulässig oderbeidenverdachtsunabhängigen Kontrollen ohne Anlass Daten speichern): Schließlich ist dieser Polizist auch ein Mensch, demmanbeiVerlassen derAmtsstube unterstellt, erwerde Gesetz undRecht einhalten. Warum soll das imDienst anders sein, obwohl er dort sogar stärker selbst kontrolliert wird: Erwirdbereits zurEinhaltung des Rechts ausgebildet, zurSchonung der Privatsphäre des Bürgers angehalten unddurchgehend beaufsichtigt. Genau genommen geht es garnicht umeine konkrete Missbrauchsgefahr, sondern umein bestimmtes Staatsverständnis, das scheinbar inDeutschland aus historischen GründenErweiterungen vonPolizeibefugnissen sehrskeptisch sieht. Wasgerade hinsichtlich dertechnischen Entwicklung zumTragen kommen soll, ist . Das wurde bei der Diskussion umdie VideoWehret den Anfängen“ der Satz „ ins englischen Verhältnisse“ überwachung sehr deutlich, als deren Kritiker die sog. „ Spiel brachten, d.h. Beispiele solcher Städte, indenen einVielfaches derinDeutschland existierenden Überwachungskameras installiert ist.71 Ähnliches hört man nun wieder beiderautomatischen Kennzeichenerfassung oderderpräventiven Telefonüberwachung.72

69 § 14 Abs. 5 HSOG-Entw., LT-Drs. 16/2352. 70 So vorallem Hans Lisken, Zurpolizeilichen Rasterfahndung, NVwZ2002, 513, ders., Verdachtsundereignisunabhängige Personenkontrollen zurBekämpfung dergrenzüberschreitenden Kriminalität?, NVwZ1998, 22 undauchFredrik Roggan, Auflegalem Wegineinen Polizeistaat, 2000; ders. (Hg.), Lauschen imRechtsstaat, GSfürHansLisken, 2004, dortdurchgägige Argumentatiosstruktur inallen Beiträgen (etwa beiErhard Denninger, Martin Kutscha oderBurkhard Hirsch). 71 Vgl. Fredrik Roggan, Die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, NVwZ2001, 134.

72

Martin Kutscha, Novellierung des Thüringer Polizeiaufgabengesetzes weniger Grundrechtsschutz?, LKV2003, 114.

–Mehr Sicherheit

durch

198

Dirk Heckmann

Ansatzpunkt fürdieNeubestimmung despolizeirechtstheoretischen Rahmens ist diesmal dieFrage, obeine Maßnahme, diefürsich genommen zulässig erscheint, in Frage gestellt werden darf, weil zukünftige Maßnahmen in derGesamtschau eine unverhältnismäßige Belastung ergeben. Wares beidenGrundlagenfragen 1 und2 noch die räumliche Perspektive, geht es nunmehr umdie zeitliche Perspektive. Ein stimmiges Abwägungskonzept muss insoweit zweivermeintlich gegenläufige Argumentationsstränge bzw.Politikangebote inEinklang bringen: Aufdereinen Seite werdenverdachtsunabhängige Kontrollen als sog. Vorfeldmaßnahmen mitSkepsis betrachtet, weildieGefährdungslage derzeit zuvage seiundspätere konkrete Gefahren nicht berücksichtigungsfähig seien. Aufderanderen Seite sollen selbst Maßnahmen zurAbwehr gegenwärtiger Gefahren wiedie TKÜunzulässig sein, weildiesmal die zukünftige Mehrung der Anwendungsfälle berücksichtigt werden müsse. Auch hier zeigt sich wieder: Das Risiko einer unverhältnismäßigen Kontrollsituation wirdunterschiedlich eingeschätzt, je nachdem obals Unsicherheitsfaktor derBürger oderder Staat imSpiel ist. der Wehret denAnfängen“ Grundsätzlich istauchdiese Argumentation mitdem„ Rechtsordnung nicht fremd, denkt manetwa an das Umweltrecht mitseiner BestimmungvonGrenzwerten beiSchadstoffen. Klärungsbedürftig istfreilich, obdievorgezogene Berücksichtigung vonFernwirkungen rechtspolitischer oderrechtsdogmatischer Natur

ist.

4. Gibt es eine (Grund-)

Rechtsposition des Bürgers, deren Schutzwürdigkeit selbst ) menschenverachtende Verbrechen tolerieren lässt? („ andieGrenzen gehen“

Dievierte undletzte Frage berührt dieGrenzen des Rechtsstaats, imPrinzip gardie Grenzen des Rechts. Wieweit geht derSchutz einer freiheitlichen Rechtsordnung gegenüber denFeinden dieser Rechtsordnung? Inerster Linie ist hierdieaktuelle Diskussion umdieZulässigkeit vonFolter oder Jakob von Metzler“ folterähnlichen Maßnahmen angesprochen.73 Der Bezugsfall „ dürfte jedem bekannt sein. Mankönnte zurVerdeutlichung der Fragestellung auch einen fiktiven Fallnehmen, indemZweifel anderTäterschaft desBetroffenen undseine alleinige Macht zurRettung des Opfers zerstreut sind. Spätestens einsolcher Fallmacht dieAbwägungssituation deutlich, indemerdie betroffenen Rechtspositionen buchstäblich gegenüberstellt: HierdieMenschenwürde des Kindes, dort jene desTäters. Kategorischer Unterschied: Polizeiliches Handeln bedeutet indereinen Alternative eine aktive, inderanderen Alternative eine passive Verletzung derMenschenwürde. Einweiterer Unterschied: DasKindhatkeine Chance, seinem Leiden einEnde zusetzen, derTäter hätte dieEinstellung polizeilicher Maßnahmen selbst inderHand. Sindineinem solchen FalldieArgumente derganz herrschenden Meinung74, wonach das menschen-, verfassungs- undeinfachrechtliche Folterverbot keine Ausnahme verträgt, wirklich stichhaltig? Kommt es beiderAbwä73 Vgl.dazuausdemumfangreichen Schrifttum Winfried Brugger, Vomunbedingten Verbot derFolter zumbedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165; Matthias Herdegen, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, GG,2003, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 45; Fabian Wittreck, Menschenwürde undFolterverbot, DÖV 2003, 873 undWolfgang Hecker, Relativierung des Folterverbots inderBRD?, KJ 2003, 210sowie Hans Christoph Schaefer, Freibrief, NJW2003, 947.

74 Vgl.dieNachweise bei Werner Beulke, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2004, Rn.134a.

DasParadoxon vonindividueller

Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

199

gung„Würde gegen Würde“ 75(wie es Brugger formuliert hat) wirklich darauf an,dass derStaat dieMenschenwürdeverletzung inderaktiven Variante selbst begehen würde, während erdies imanderen Fall nurhinnehmen würde? Diese Konstellation istunserer Rechtsordnung nicht fremd, wennmanzumBeispiel andieAbgrenzung vonaktiver undpassiver Sterbehilfe denkt.76 Ganzaktuell wirdman auchüberdenken müssen, ob§ 14Abs.3 desneuen LuftSiG nicht einen „ Systembruch“ darstellt.77 Danach darf bekanntlich ein von Terroristen als Waffe missbrauchtes Verkehrsflugzeug alsvermeintliche ultima ratio abgeschossen werden. Indiesem Fallgreift derStaat nämlich zurAbwehr vonGefahren, die denvoneinem terroristischen Anschlag betroffenen Menschen drohen, aktiv indas Schicksal ein. Unddies, obwohl der

Todderunschuldigen Flugzeuginsassen mitSicherheit

eintreten wird, während die potentiellen Anschlagsopfer durchaus noch Chancen eines Überlebens hätten. An dieser Stelle zeigt sichderMangel eines allgemeinen Sicherheitsrechts, dassichnicht ausreichend mitFragen derZurechnung undVerteilung vonRisiken befasst. Eines zeigt sich allerdings auch hier: Sowohl das Folterverbot als auch die Abschusserlaubnis sindwiederum Ausfluss desSatzes „ Wehret denAnfängen“ . Willman beimFolterverbot staatliche Willkür a priori verhindern, richtet sichdieneue Befugnis imLuftSiG eherals gnadenloser Appell anpotentielle Terroristen.

IV.Freiheit undSicherheit: Staatsphilosophische Verbrämung eines verfassungsrechtlichen Patts? Ichkomme zumSchluss: Wiebestimmt mannundie Koordinaten einer neuen Polizeirechtstheorie undwelchen Einfluss hat diese auf die Schlüsselbegriffe der Freiheit undSicherheit, deren Verhältnis imVortragstitel als paradox angedeutet wurde?

1. DerBürger als Akteur derFreiheitssicherung Zunächst einmal muss die Rolle des Bürgers imPräventionsstaat definiert werden. Dieser istzugleich potentielles Opfer wiepotentieller Störer unddazu–als Adressat polizeilicher Maßnahmen –ggf. auch Helfer bei der Gefahrenabwehr. Bürgerliche Freiheit bewahrt ihn nicht davor, einen sachlichen Beitrag zur Sicherheit in der Gemeinschaft zuleisten, aufderen Integrität erseinLeben undWirken stützt. Obman dies alsSolidarbeitrag einfordert, magdahinstehen. Ansatz magauchdasLeitbild des gemeinschaftsgebundenen Individuums sein. Eine solche Sichtweise bewahrt jedenfalls davor, jegliches Sicherheitsinstrument gleich als Frontalangriff aufGrundrechtsfreiheiten desvermeintlich redlichen, unbescholtenen Bürgers mutieren zulassen.

75

Winfried Brugger, Vomunbedingten Verbot derFolter zumbedingten Recht aufFolter?, JZ 2000, 165(172); ders., DarfderStaat ausnahmsweise foltern?, DerStaat 35 (1996), 67 ff.

76 Dazu etwa

Klaus Kutzer, Strafrechtliche Grenzen der Sterbehilfe, NStZ 1994, 110; ders., Die Auseinandersetzung mitderaktiven Sterbehilfe –einspezifisches Problem derDeutschen?, ZRP

2003, 209. 77 Das Luftsicherheitsgesetz (BT-Drs. 15/2361)

wurde am 18.06.2004 angenommen (PIPr 15/115). Einspruch des Bundesrates wurde miterforderlicher Mehrheit des Bundestages am 24.09.2004 (BT-Drs. 15/3759) zurückgewiesen. Ein Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten istbisher abernochnicht erfolgt (Stand Januar 2005).

Dernachfolgende

200

DirkHeckmann

2. Kontrollräume undRückzugsräume Alsdann bedarf es eines feinjustierten sicherheitsrechtlichen Katasters deröffentlichen undprivaten Kontrollräume bzw. Rückzugsräume zurAbgrenzung derpolizeilichen Aktionsfelder. Besondere Bedeutung bekommt dabei dervirtuelle Raumi.w.S. (d.h. Internet, Mobilfunk, Telefon u.s.w.), derdenAkteuren Privatheit imöffentlichen Raum verspricht. Obundwieweit die Rechtsordnung demEinzelnen Raumgeben solloder darfzurpolizeifesten Verbrechensvorbereitung, bliebe zuuntersuchen.

3. Technikeinsatz und Waffengleichheit Sowohl die Errungenschaften neuester Technik als auch die vonihrausgehenden Gefahren, allen voran dieInformationstechnologie, berühren dieSicherheitsarchitektur eines Landes inihren Grundfesten. DasPotential, dasaus seiner Nutzung erwächst, ist nüchtern zuanalysieren undineine Bilanz vonChancen undGefahren derTechnologienutzung einzubringen. Diedamit notwendig einhergehende Perfektionierung der Polizeiarbeit zwingt zumUmdenken: Grundrechtseingriffe undVerfahrensvorkehrungen finden künftig ganzoderteilweise durch elektronische Geschäftsprozesse statt. Derdemokratische Staat entwickelt sichzumubiquitären Rechtsinformatikstaat. Grundrechtssicherung magdann Folge einer juristischen Programmierung vonEinsatzszenarien sein. Moderne Informationstechnologie bietet aberauchChancen einer Missbrauchskontrolle. Alldies führt zuneuen Organisationsstrukturen undAbläufen, dieinEinklang mitderE-Government-Strategie des Landes zubringen sind.

4. Vorfeldmaßnahmen undNachhaltigkeit Dasneue Polizeirecht muss nicht nurdieMaßnahmeadressaten unddieMittel sowie denEinsatzort bestimmen, sondern auchdenZeitpunkt des Handelns. Einmodernes, zeitgemäßes Recht derinneren Sicherheit lässt sich leiten vonderZwecktauglichkeit derintendierten Maßnahmen innerhalb eines stimmigen Gesamtkonzeptes. Obdie erforderliche Maßnahme dann eine gegenwärtige Gefahr abwehrt oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt denKausalverlauf unterbricht, istnicht entscheidend. So hat jüngst auch derSächsische Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit der Schleierfahndung mitderMaßgabe begründet, dass solche Vorfeldmaßnahmen nicht ins Blaue getroffen“werden, sondern Bestandteil eines nachvollziehbaren Sicher„ heitskonzeptes sind.78 Hingegen würde eine strikte Forderung konkreter Gefahrenlagen alsEingriffsschwelle, dieeherandenNachtwächterstaat erinnert, denSicherheitsherausforderungen amBeginn des 21. Jahrhunderts nicht gerecht.

5. DasParadoxon vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit DieNeukonzeption des Polizeihandelns inpersoneller, räumlicher, technischer und zeitlicher Hinsicht löst auch das eingangs geschilderte Paradoxon auf, das sich im Verhältnis vonindividueller Freiheit undöffentlicher Sicherheit aufdrängt. 78 SächsVerfGH, NJ 2003, 473.

DasParadoxon vonindividueller

Freiheit

undöffentlicher Sicherheit

201

Freiheit inSicherheit ista priori nicht absolut. DerSicherheitsbeitrag desEinzelnen als Adressat polizeilicher Kontrollen istnicht Begrenzung, sondern Ausdruck persön-

licher Freiheit. Sicherheit in Freiheit gelingt wiederum, wenn manRestrisiken unvermeidbarer Beeinträchtigungen akzeptiert. Dies auszutarieren ist Sache des Gesetzgebers, demineiner Pattsituation von Abwehr undSchutz einstruktureller (Abwägungs-) Spielraum79 zusteht. Freilich könnte indubio pro diePattsituation auchaufandere Weise gelöst werden. Nämlich –quasi „ –anhand eines prima facie Vorrangs der Freiheitsrechte80 im Falle der libertate“ Abwägung individueller Rechte undkollektiver Güter. Allerdings wirdeine derartige Vorgehensweise derspezifisch polizeirechtlichen Interessenkollision nicht gerecht. Dort finden nämlich alle (selbst die abstrakten) Gefährdungslagen eine Entsprechung . Dies kann letztlich zupotentiell beeinträchtigten Freiheitsrechten möglicher „Opfer“ auchbeimSchutz kollektiver Sicherheitsinteressen nicht ausgeblendet werden. Stets wirdein Bezug zudenSchutzpflichten fürdie grundrechtlichen Schutzgüter Leben, Freiheit undEigentum feststellbar sein. Aberwieauchimmer diedargestellte Problematik rechtstheoretisch zulösen sein mag. Nach demGrundgesetz kann die Staatsaufgabe Sicherheit nurals Auftrag verstanden werden, dieinrealistischer Weise „ Sicherheit zuoptimieren und machbare“ dabei Freiheitsbelastungen derinAnspruch genommenen Störer sowie dieBelastungen nicht missbrauchter bürgerlicher Freiheit zu minimieren.81 Das zentrale verfassungsrechtliche Instrument zurSteuerung undAusbalancierung vonSicherheitsinteressen undFreiheitsinteressen istdasrechtsstaatliche Prinzip derVerhältnismäßigkeit, andemsichalle gesetzlich legitimierten polizeilichen Eingriffe messen lassen müssen. Solldieses abernicht zumEinfallstor politischer Haltungen undstaatsphilosophischen Vorverständnisses werden, bedarf es derFestlegung vonKoordinaten imWechselverhältnis vonFreiheit undSicherheit, diedemGesetzgeber einen transparenten und verlässlichen Gestaltungsspielraum vermitteln. DieBeantwortung dervonmiraufgeworfenen vierGrundlagenfragen –mitwelchem Ergebnis auch immer –könnte zum Aufbau dieses Koordinatensystems beitragen.

79

80 81

Verfassungsgerichtsbarkeit und Begriff nachRobert Alexy, Verfassungsrecht undeinfaches Recht – Fachgereichtsbarkeit, VVDStRL 61, 7 (18 ff.). So teils Robert Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 232ff. So auch Günter Erbel, Sicherheit undSicherheitspolitik ausverfassungsrechtlicher Sicht, in:Bundesgrenzschutzverband (Hg.), Sicherheit schaffen füreinLeben inFreiheit, Bonn1978, S. 29 ff.

Stefan Huster*

Sozialstaat oder soziale Gerechtigkeit?

ZumSpannungsverhältnis von politischer Philosophie undVerfassungsrecht amBeispiel derAltersrationierung imGesundheitssystem**

I. Einführung DasVerhältnis des Rechts zurpolitischen Philosophie ist inFragen derSozialstaatlichkeit unddersozialen Gerechtigkeit besonders spannungsreich. Anders als inFragen der – juristisch formuliert – Rechtsstaatlichkeit undDemokratie besteht weder inder politischen Philosophie noch im Recht und in der Rechtspolitik ein grundsätzlicher Konsens, wieweitdiesoziale Verpflichtung desGemeinwesens reicht undworauf sie beruht. Iminternationalen Vergleich finden wirauch infreiheitlichen unddemokratischen Ordnungen eine erstaunliche Bandbreite sozialstaatlicher Strukturen undAuffassungen. Schließlich ist es auffällig, dass sich derSozial- undWohlfahrtsstaat – wiederum anders als derRechtsstaat unddieDemokratie – entwickelt hat, bevor eine Theorie desSozialstaates vorhanden war.1 In letzter Zeit sind dieses sozialstaatstheoretische Defizit unddie sich daraus ergebende Kluft zwischen sozialstaatlicher Realität unddenVersuchen einer philosophischen Grundlegung insbesondere fürdieFrage nachderBedeutung desEgalitarismus diskutiert worden, derinprominenten philosophischen Theorien vertreten wird.2 Inzwischen istdieser Ansatz erheblich unter Druck geraten;3 einen maßgeblichen Grund für diese Entwicklung wirdmanindemUmstand sehen dürfen, dass dieegalitaristischen

Theorien weder mitderRealität desSozialstaates nochmitderArtundWeise, wieder Sozialstaat imVerfassungsrecht undinderVerfassungstheorie gemeinhin begründet wird–nämlich freiheitsfunktional – , vielgemein haben.4 Insoweit könnte diepolitische Philosophie eine sehrvielangemessenere Analyse dersozialen Gerechtigkeit leisten, wennsie die realexistierende Sozialstaatlichkeit genauer indenBlick nähme. Umgekehrt haben aberauchdasRecht unddieRechtswissenschaft einige blinde Flecken, fürderen Aufhellung ein Rekurs aufdie politische Philosophie sinnvoll sein könnte. Dies gilt insbesondere fürBereiche, indenen das Recht – insbesondere das Verfassungsrecht –mitsehrstarken materiellen Wertungen arbeitet, dienicht immer sehrgutausgewiesen sindundmitdenEinschätzungen in(Teilen der)derpraktischen Philosophie nicht übereinstimmen. Dies lässt sich etwa für die rechtliche Behandlung undjuristische Diskussion der Gentechnologie undder modernen Reproduktionstechnologien zeigen; insoweit beginnt eine überbordende verfassungsrechtliche und rechtspolitische Menschenwürderhetorik allerdings inzwischen, sichnicht nurvonder

*

Lehrstuhl fürÖffentliches Recht, Staats- undVerwaltungsrecht mitbesonderer Berücksichtigung des Sozialrechts anderRuhr-Universität Bochum ** FürAnregungen undHinweise danke ichCarlo Schultheiss. 1 Zudieser Beobachtung vgl. Wolfgang Kersting, Einleitung, in:ders. (Hg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000, S. 17, 29 f. 2 Grundlegend John Rawls, Eine Theorie derGerechtigkeit, 1979; vgl. ferner Thomas Nagel, Eine Abhandlung überGleichheit undParteilichkeit, 1994; Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. TheTheory andPractice of Equality, 2000. Imdeutschen Sprachraum etwa zuletzt Stefan Gosepath, Gleiche

3 4

Gerechtigkeit, 2004; Wilfried Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten, 2002. Vgl. nurdie Beiträge inAngelika Krebs (Hg.), Gerechtigkeit oderGleichheit, 2000. Vgl. dazu Stefan Huster, Was ist sozial(staatlich)e Gerechtigkeit?, in: Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hg.), DieZukunft derSozialen Marktwirtschaft, 2004, S. 33 ff.

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

203

technischen Entwicklung, sondern auchvonderphilosophischen Diskussion irritieren zulassen.

Nunmagmansagen, dass dies aufgrund derNeuartigkeit undKomplexität der

Fragen etwas randständige Sonderfälle seien. Eine entsprechende Kluft zwischen Recht bzw.Rechtswissenschaft undPhilosophie istaberauch inanderen, ganz zentralen Fragen derSozialstaatlichkeit zubeobachten, indenen dasVerfassungsrecht mit einem inhaltlichen Rigorismus argumentiert, den die politische Philosophie schon weithin hinter sichgelassen hat.Sowerden etwaDiskussionen übereine Rationierung imöffentlich finanzierten Gesundheitswesen rechtswissenschaftlich undrechtspolitisch nachwievorals besonders heikel undimGrunde genommen überhaupt als untunlich undhierinsbesondere diepolitische Philosobetrachtet, während andere Disziplinen – phie unddie Gesundheitsökonomie –diese Diskussionen schon seit geraumer Zeit sehrunbefangen führen. Dies soll imfolgenden aneinem Thema dargestellt werden, das regelmäßig besonders heftige Reaktionen auslöst, nämlich derFrage dersog. Altersrationierung medizinischer Leistungen.

II. DieAltersrationierung inderDiskussion

1. Stellungnahmen gegen eine Altersrationierung a) Diepolitische Diskussion Stellungnahmen, die eine Altersrationierung im Gesundheitssystem in Erwägung ziehen, sind bisher inderdeutschen Öffentlichkeit aufeinverheerendes Echo gestoßen. Es sei andreiVorgänge ausjüngster Zeit erinnert: Als im Juni 2003 der katholische Sozialethiker Wiemeyer und der Gesundheitsökonom Breyer ineiner Fernsehsendung mitStellungnahmen zitiert wurden, dieeine gewisse Sympathie fürdasAlter alsKriterium einer unausweichlichen Rationierung von öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen erkennen ließen, wandten sichnicht nur Euthanasie unter anderen Vorzeichen“ ;5 Verbandsvertreter mit starken Worten –„ 6– gegen diesen Vorschlag. Unterscheidung zwischen wertem undunwertem Leben“ „ EinSozialverband entblödete sichnicht, gegen diebeiden Wissenschaftler Strafanzeige„wegen desVerdachts derAnstiftung zumMordaus niedrigen Beweggründen“zu stellen.7 DieDeutsche Bischofskonferenz gabbereits zweiTagenachAusstrahlung der Fernsehsendung eine Stellungnahme ab, indersie sich vondenÄußerungen ihres Beraters Wiemeyers scharf distanzierte;8 Wiemeyer gabkurze Zeit später seine Beratungsfunktion auf.9 AuchdieÄußerungen derPolitiker waren eindeutig; so ließ der

5

6 7

8

9

SoderPräsident derBundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe; vgl.AFPv.2.6.2003. DieAngaben undZitate indiesem Abschnitt sindder(nicht paginierten) Broschüre A317desBundesministeriums fürGesundheit undSoziale Sicherung entnommen, dieeine Dokumentation des Vorgangs anhand vonPresseberichten enthält (einsehbar unter www.bmgs.bund.de). SoderZweite Vorsitzende derKassenärztlichen Bundesvereinigung, Leonhard Hansen; vgl.dpav.

2. 6. 2003; zit. nach BMGS-Broschüre (Anm. 5). Vgl. AFP v. 5. 6. 2003, zit. nach BMGS-Broschüre

(Anm. 5). Die Deutsche Vgl. Pressemitteilung derDeutschen Bischofskonferenz v. 4. 6. 2003 (PRD037): „ Bischofskonferenz tritt immer fürdenSchutz des menschlichen Lebens ein, besonders inseinen schwächsten Phasen. Dazugehört auchdasAlter. (...) Menschliches Leben darfnieeiner KostenNutzen-Rechnung unterworfen werden. EineAltersbegrenzung medizinischer Leistungen istfüruns deshalb schlicht unvorstellbar.“ Vgl. KNAv. 12. 6. 2003, zit. nach BMGS-Broschüre (Anm. 5).

204

Stefan Huster

Bundestagspräsident Thierse verlauten, es habe ihnerschreckt, dass gegen diese .10DasBundeskeinAufschrei durch dieMenschen inunserem Landging“ Vorschläge „ ministerium fürGesundheit undSoziale Sicherung hatdenVorgang zumAnlass genommen, eine Dokumentation dereinschlägigen Stellungnahmen zuveröffentlichen, in randderen Vorwort die Ministerin die Anregungen vonWiemeyer undBreyer als „ ständige wissenschaftliche Meinungen“ qualifiziert undsichgegen diese Diskussion als solche wendet: „ IchhabedenEindruck, dassesZeitgenossen gibt, dieältere Menschen alsResonanzboden nutzen, umverquere undbösartige Meinungen undAuffassungen 11 inMedien zubringen.“ Nicht vielbesser erging es demVorsitzenden derJungen Union, Philipp Mißfelder, alserimAugust 2003angesichts derdemographischen Entwicklung ineinem Interview öffentlich übereineAltersgrenze fürdieFinanzierung vonkünstlichen Hüftgelenken und Zahnersatz nachdachte.12 Gegenüber derallgemeinen Empörung halfes auchnichts, dass Mißfelder klarstellte, es gehe ihmumdasGesundheitssystem in30Jahren, nicht umdieVersorgung derheutigen Rentner.13 Schließlich sei nocherwähnt, dass eine Studie des Max-Planck-Instituts fürdemografische Forschung inRostock, diezudem Ergebnis kam,dass ältere Menschen weniger kostenaufwändig alsjüngere Patienten behandelt werden, unddieFrage stellte, obdies aufeine implizite Altersrationierung zurückgehe,14 sichvonderBundesministerin denVorwurf gefallen lassen musste, für . Miteinem Wort: Eine öffentliche jedes Verständnis“ diese Behauptung fehle ihr „ Diskussion über Altersrationierung kann nicht sinnvoll geführt werden; Politiker und Verbandsvertreter haben ganz überwiegend offensichtlich sogar einInteresse daran, dass diese Frage tabuisiert wird.

b) Diejuristische Diskussion

Nunmagmaneinwenden, dies sei fürdie politische Diskussion, die keine Wähler verschrecken undkeine Rentner beunruhigen will, kaum erstaunlich. Eine ähnlich entschiedene Ablehnung des Alters als Zuteilungskriterium fürmedizinische Leistungenfindet sich aber auch inden–wenigen –juristischen Stellungnahmen zudieser Frage. So heißt es ineinem Beitrag des Medizinrechtlers Wilhelm Uhlenbruck zuden rechtlichen Grenzen einer Rationierung in der Medizin, „ eine Differenzierung von , dasie eine „rechtlich nicht Leistungen nach Altersgruppen wäre verfassungswidrig“ haltbare Differenzierung derQualität menschlichen Lebens“ darstelle.15 Erzieht daraus die Erfahrungen derVergangenheit sollten Anlaß sein, die Frage der denSchluß, „ 16 Rationierung derMedizin nachdemLebensalter nicht mehrzudiskutieren.“ 10 Vgl. SZ v. 21. 6. 2003, zit. nach BMGS-Broschüre (Anm. 5). Vorwort derBundesministerin zuderBMGS-Broschüre (Anm. 5). 12 DerTagesspiegel v. 5. 8. 2003. 13 Allerdings wardiese Aussage nicht besonders glaubwürdig, weildieerwähnten Thesen Mißfelders zurAltersrationierung unmissverständlich aufdie Entlastung seiner Generation abzielten. Zurunglücklichen Verquickung derFrage derAltersrationierung mitdemProblem derGenerationengerechtigkeit vgl. unten III. 3. b). 14 Hilke Brockmann, Whyis less money spent onhealth care fort he elderly than fort he rest ofthe population? Health care rationing inGerman hospitals, Social Science &Medicine 55 (2002), S. 593

11

15

ff. Wilhelm Uhlenbruck, Rechtliche Grenzen einer Rationierung

433.

16 Uhlenbruck (Anm. 15).

inderMedizin, MedR 1995, S. 427,

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

205

Ebenso wie Uhlenbruck17 verweist Paul Kirchhof hinsichtlich der GesundheitswanndieBeausgaben fürältere Patienten aufdenärztlichen Auftrag zubeurteilen, „ stimmung desschwerkranken undaltersgebrechlichen Menschen zumTodmedizini18Jenseits dieser Akzeptanz desSchicksalhaften sche Eingriffe erübrigt oderverbietet.“ vorgegebene(n) Normalität vonGeburt, Heranwachsen, Erwachsensein, Alter undder„

seiabereine„unterschiedliche Zuteilung medizinischer Leistungen etwanach undTod“ ; dadie MenAlter, Geschlecht, Lebensführung undVerdienst (...) ausgeschlossen“ enthalDifferenzierungsverbot“ schenwürdegarantie desGrundgesetzes insoweit ein„ (...) nicht gestellt werden te, so dass die„Frage nachWertundWürdigkeit zuleben“ in Reaktion .19Auch Jochen Taupitz hat – sobald menschliches Leben existiert“ dürfe, „ aufdiegeschilderten öffentlichen Diskussionen –feste Altersgrenzen fürbestimmte inhuman undverfassungswidrig“bezeichnet: Eine medizinische Behandlungen als „ starre Anknüpfung andaschronologische Alter seigleichheitswidrig undführe unweigerlich zueiner „ Abwertung alter Menschen“ , diemitderWertordnung desGrundgesetzes nicht vereinbar sei.20 Neben demallgegenwärtigen Rückgriff aufdie Menschenwürde unddemeher findet sich Erfahrungen derVergangenheit” suggestiven als präzisen Hinweis aufdie“ indenStellungnahmen gegen dasNachdenken übereine Altersrationierung nunauch häufig derBegriff derAltersdiskriminierung, obwohl das Grundgesetz keinspezielles Verbot der Ungleichbehandlung wegen des Alters –geschweige denn wegen des kennt. Einen Anhaltspunkt findet diese Sichtweise allerdings indereurohohen Alters – päischen Rechtsentwicklung. Soenthält Art.13EGVeine Ermächtigungsgrundlage für denRat,Vorkehrungen zutreffen, umDiskriminierungen u.a. ausGründen desAlters zu bekämpfen. Aufdieser Grundlage ist die Rahmenrichtlinie 2000/78/EG für die Verwirklichung derGleichbehandlung inBeruf undBeschäftigung erlassen worden, die indiesem Bereich eine (unmittelbare undmittelbare) Diskriminierung u.a. wegen des Alters verbietet.21 Vorschriften gegen eine Altersdiskriminierung finden sich nunauch inderCharta derGrundrechte undindemKonventionsentwurf füreine europäische

(Anm. 15): „ Eine ganz andere Frage ist aber die, ob bei bestimmten Patienten, deren Lebensuhr abgelaufen ist, aufeine aufwendige Akutbehandlung imEinzelfall verzichtet werdenkannodermuß–vorallem dann, wenndiePatienten diese Behandlung nicht mehrwollen.“ PaulKirchhof, NachdemTraum vomgrenzenlosen Wohlergehen, FAZv.2. 6. 1998, S. 11;ähnlich ders., DasRecht aufGesundheit, Stimmen derZeit 1/2004, S. 3, 11ff.

17 Vgl. Uhlenbruck 18

19 Kirchhof, FAZv. 2. 6. 1998 (Anm. 18).

Taupitz, Inhuman undverfassungswidrig, FAZv. 12. 8. 2003, S. 8. Vgl. auch ders., Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit –Rechtliche Aspekte, in: E. Nagel/C. Fuchs (Hg.), Rationalisierung undRationierung imdeutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 86, 101; ders., Ressourcenknappheit inderMedizin – Hilfestellung durch dasGrundgesetz?, in:J. Wolter/E. Riedel/ J. Taupitz (Hg.), Einwirkungen derGrundrechte aufdasZivilrecht, Öffentliche Recht undStrafrecht, 1999, S. 113, 128f.; ders., The Impact oftheGerman Constitution onRationing inMedicine, in:F. Breyer/H. Kliemt/F. Thiele (Hg.), Rationing in Medicine, 2002, S. 87, 90; ders., Rechtliche Möglichkeiten derBeschränkung diagnostischen undtherapeutischen Aufwands, insbesondere ausverfassungsrechtlicher undtherapeutischer Sicht, in: F. Dietrich/M. Imhoff/H. Kliemt (Hg.), StandardisierunginderMedizin, 2004, S. 262, 281ff.Eine erste kritische Stellungnahme gegen diese Argumenverfastationsweise jetzt aberbeiMartin Nettesheim, Rationierung inderGesundheitsversorgung – sungsrechtliche Möglichkeiten undGrenzen, VerwArch 93 (2002), S. 315, 342 ff., derallerdings selbst Altersgrenzen wohlnurverfassungsrechtlich akzeptieren will, wennundsoweit siealsIndizien fürdieErfolgsaussichten einer Behandlung angesehen werden können (aaO., S. 346). Vgl.dazunurdieBeiträge in Ursula Rust u.a. (Hg.), DieGleichbehandlungsrichtlinien derEUund ihre Umsetzung inDeutschland, 2003.

20 Jochen

21

206

Stefan Huster

Verfassung. Angeregt durch diese Entwicklungen22 wird nun auch im deutschen Verfassungsrecht darüber nachgedacht, Altersgrenzen einer strengeren rechtlichen Beurteilung

zuunterwerfen.23

2. Argumente füreine Altersrationierung Diese schroffe Weigerung in der Öffentlichkeit und in der Rechtswissenschaft, über Altersgrenzen inderöffentlich finanzierten Gesundheitsversorgung auchnurnachzudenken, steht ineinem auffälligen Gegensatz zudenDiskussionen inderGesundheitsökonomie, aber auch in der Sozialphilosophie, da sich diese Disziplinen der Frage der Altersrationierung schon seit langem widmen –undzwarkeineswegs miteinem eindeutig negativen oderauchnurskeptischen Ergebnis. ImGegenteil: Unter derPrämisse,dass nicht jedermann zujeder Zeitalle denkbaren medizinischen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden können, dass also –indiesem Sinne24 –unweigerlich rationiert werden muss, scheint eine Rationierung anhand deschronologischen Lebensalters –etwa inderForm, dass ab einem bestimmten Lebensalter keine besonders kostenintensiven lebensverlängernden Maßnahmen, sondern nurnochPflegeleistungenzurVerfügung gestellt werden („ ) –sogar besondere Vorteile zu fromcure tocare“ bieten.25

22 Zuihrer Bedeutung fürAltersgrenzen inderGesundheitsversorgung vgl.jetzt Janice Robinson, Age Equality inHealth andSocial Care, in:S. Fredman/S. Spencer (Hg.), Ageas anEquality Issue, 2003, S. 97 ff.

23 Vgl.Angelika Nussberger, Altersgrenzen als Problem desVerfassungsrechts, JZ 2002, S. 524, 531. 24 Obder Rationierungsbegriff zurBezeichnung dieses Umstandes glücklich gewählt ist, maghier dahinstehen; mitbeachtlichen Argumenten zweifelnd etwa Hartmut Kliemt, Rationierung impluralen Rechtsstaat, in:G.Marckmann (Hg.), Gesundheitsversorgung imAlter, 2003, S. 59ff.; Carlo SchultRationierung imGesundheitswesen“ heiss, „ . EinBeitrag zurBegriffsklärung, Zeitschr. f. medizin.

25

Ethik 46 (2000), S. 219 ff.; ders., A Note on the Semantics of Rationing as Limitation, in: Breyer/ Kliemt/Thiele (Hg.), Rationing in Medicine (Anm. 20), S. 21 ff. Rationing Ausderumfangreichen Diskussion vgl.etwa Friedrich Breyer/Carlo Schultheiss, „Primary“ of Health Services in Ageing Societies –A Normative Analysis, Intern. Journ. Of Health Care Finance andEconomics 2 (2003), S. 247; 255ff.; dies., „ als Kriterium beiderRationierung von Alter“ Gesundheitsleistungen, in: T. Gutmann/V. H. Schmidt (Hg.), Rationierung undAllokation imGesundheitswesen, 2002, S. 121 ff.; Daniel Callahan, Setting Limits. Medical Goals in an Ageing Society, 1995; ders., Aging and the Allocation of Resources, in: P. Oberender (Hg.), Alter und Gesundheit, 1996, S. 83 ff.; ders., Age-Based Rationing of Medical Care, in:J. B. Williamson u.a. (Hg.), The Generational Equity Debate, 1999, S. 101 ff.; Norman Daniels, Just Health Care, 1985, S. 86ff.; ders., AmIMyParent’s Keeper?, 1988; ders., Justice andJustification, 1996, S. Part II;ders., Justice between theYoung antheOld,in:J. W.Walters (Hg.), Choosing Who’s toLive, 1996, S. 24 ff.; Carol L.Estes/Susan E. Kelley/Elisabeth E. Binney, Bioethics ina Disposable Society, in:J. W. Walters (Hg.), Choosing Who’s to Live, 1996, S. 95 ff.; KurtFleischhauer, Altersdiskriminierung bei derAllokation medizinischer Leistungen, Jahrbuch fürWissenscahft undEthik 4 (1999), S. 195ff.; John Harris, Der Wert des Lebens, 1995, S. 134 ff.; Marshall B. Kapp, De Facto Health-Care Rationing byAge, The Journal of Legal Medicine 19 (1998), S. 323 ff.; John F. Kilner, Whynow?, in: J. W. Walters (Hg.), Choosing Who’s to Live, 1996, S. 120 ff.; Hartmut Kliemt, Callahan’s Limits, in: P. Oberender (Hg.), Alter undGesundheit, 1996, S. 93ff.; ArneA.Kollwitz, Verteilungsgerechtigkeit undGenerationenkonflikt, 1999; Richard D.Lamm, Care fortheElderly: WhatAbout OurChildren?, in: J. B. Williamson u.a. (Hg.), The Generational Equity Debate, 1999, S. 87 ff.; Anton Leist, Gleichheit inGrenzen statt Altersrationierung, in: T.Gutmann/V. H.Schmidt (Hg.), Rationierung und Allokation imGesundheitswesen, 2002, S. 155ff.; PaulT.Menzel, TheJustification andImplications ofAge-influenced Rationing, in:J. W.Walters (Hg.), Choosing Who’s to Live, 1996, S. 3 ff.; Simon Scharf/Harold Flamer/Nicholas Christophidis, Age as a Basis for Healthcare Rationing, Drugs &

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

a) Derpraktische

Vorzug

207

derAnknüpfung andasAlter

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine altersbezogene Allokation einen großen praktischen Vorteil besitzt: DasLebensalter ist – imGegensatz zuanderen diskutierten eintransparentes undkaummanipulierbares Zuteilungskriterium.26 Dies Maßstäben – istvonBedeutung, weiles ja beiderRationierung öffentlich finanzierter GesundheitsWachstumsmarkt Gesundheit“ leistungen nicht darum gehen kann, den„ zuersticken; vielmehr musses dasZielsein, denBürgern mehrEntscheidungsfreiheit zugewährleisten, wieundinwelchem Umfang siefürihre Gesundheit investieren wollen. Damit ein privater Versicherungsmarkt entsteht, istabereineeindeutige, vorhersehbare undoperationalisierbare Trennung vonkollektiv finanzierter Grund- undprivat absicherbarer Zusatzversorgung notwendig. Dieimübrigen angebotenen Zuteilungskriterien haben mitdiesem Erfordernis –worauf Vertreter derprivaten Versicherungswirtschaft inder Diskussion der letzten Jahre zu Recht hingewiesen haben –erhebliche Probleme: Angeboten wirdnämlich inderRegel entweder derAusschluss solcher Leistungen, die praktisch nurdiejenigen zusätzlich versichern werden, diesie auchinAnspruch nehmenwollen (etwa Leistungen beiMutterschaft oderBehandlungsmethoden derAlternativmedizin), oder vonsolchen Leistungen, die sich nicht sinnvoll ex ante bezeichnen lassen. Letzterer Einwand trifft alle Kriterien, die Leistungen aufderGrundlage einer einzelfallbezogenen Kosten-Nutzen-Abwägung aus der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen wollen. Auchderverbreitete Einwand, daschronologische Alter stelle einwillkürliches Kriterium dar, weiles dochfürdie Beurteilung derSinnhaftigkeit –insbesondere der Erfolgsaussichten –einer Behandlung auf das biologische Alter ankommen müsse,27 leidet unter dieser Schwäche: Angesichts derSchwierigkeit, das biologische Alter zubestimmen, sind nurschwer Versicherungsverträge denkbar, diedieLeistungsgewährung andieses Kriterium knüpfen.

b) DieAnschlussfähigkeit des Kriteriums

es im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts für Rationierungskriterien vorteilhaft ist, wennsie mitbereits vorhandenen Einstellungen inderBevölkerung undinsbesondere indenbetroffenen Berufsgruppen übereinstimmen.Insoweit scheint es (inihrer Interpretation allerdings nicht unumstrittene) Indizien dafür zugeben, dass –beialler öffentlich geäußerten Ablehnung –immedizinischen Ferner ist zu bedenken, dass

9 (1996), S. 399 ff.; Carlo Schultheiss, Altersgrenzen inderMedizin?, Aufklärung undKritik 2000, S. 82ff.; Allen B. Shaw, Indefence ofageism, Journal ofmedical ethics 20 (1994), S. 188ff.; ders., Age as a Basis for Healthcare Rationing, Drugs & Aging 9 (1996), S. 403 ff.; Christian M.

Aging

26 27

Stadler, Dialektik derGrenze. ZumProblem medizinischer Allokation inderalternden Gesellschaft, Vienna Working Papers in Legal Theory, Political Philosophy, andApplied Ethics, No.8, 1998 (http:/ /www.univie.ac.at/juridicum/); Aki Tsuchiya, Age-related preferences and age weighting health benefits, Social Science & Medicine 48 (1999), S. 267 ff.; ders., QALYS and Ageism: Philosophical Theories andAgeWeighting, Health Economics 9 (2000), S. 57 ff.; Robert M.Veatch, Justice and the Economics ofTerminal Illness, Hastings Center Report, August/September 1988, S. 34ff.; Alan FairInnings“ Williams, Intergenerational Equity: AnExploration ofthe„ Argument, Health Economics 6 (1997), S. 117 ff.; unddie Beiträge in: Georg Marckmann (Hg.), Gesundheitsversorgung imAlter, 2003; ders./Paul Lining/Urban Wiesing (Hg.), Gerechte Gesundheitsversorgung, 2003, S. 195 ff. Dies betonen etwa Breyer/Schultheiss, Intern. Journ. OfHealth Care Finance andEconomics 2 (Anm. 25), S. 255 f. Indiesem Sinne etwa Taupitz, FAZv.12.8.2003 (Anm. 20), S. 8. Zudemoftübersehenen Umstand, Prämissen ausgeht, vgl. unten III. 1. dass auchdieser Einwand von„utilitaristischen“

208

Stefan Huster

des deutschen Gesundheitswesens bereits eine implizite Altersrationierung stattfindet, wennetwa die(intensiv-)medizinische Versorgung sehralter Patienten am Lebensende deutlich hinter derVersorgung jüngerer Patienten indergleichen Situation zurückbleibt.28 Dabei wirdmanauchberücksichtigen dürfen, dass inanderen freiheitlichen unddemokratischen Ordnungen bekanntlich sehrvieloffener mitdemProblem derAltersrationierung umgegangen wird.29

Alltag

c) Dieeigentliche

Gerechtigkeitsfrage

Nunmag man einwenden –und damit ist schließlich die eigentliche normative Dimension derDiskussion erreicht – , dass es sichbeidemersten Aspekt umeine reine Zweckmäßigkeitsüberlegung handele, die Erwägungen derGerechtigkeit nicht aus demFeldschlagen könne. Undbeidemzweiten Punkt werde sogar genau diealtersabwertende Einstellung zurRechtfertigung herangezogen, diemanmittels derMenschenwürde unddes Verbotes der Altersdiskriminierung entschieden bekämpfen müsse. Demgegenüber besteht dermaßgebliche Vorteil des Alters als Allokationskriterium ausSicht seiner Befürworter gerade darin, dass es imUnterschied zuanderen Kriterien dasGleichbehandlungsgebot inhervorragender Weise verwirklicht unddeshalbbesonders gerecht ist.Wiemanzudieser – aufdenersten Blick überraschenden –Einschätzung gelangen kann, sollimfolgenden dargestellt werden. III. Ist Altersrationierung gerecht? häufig DemVorschlag derAltersrationierung wird–offen oderzumindest inderSache – entgegengehalten, er wolle inutilitaristischer Manier das Knappheitsproblem imGesundheitswesen aufdemRücken einer bestimmten Gruppe lösen undverstoße somit gegen elementare Grundsätze derGerechtigkeit. Wenninsoweit voneinem „Krieg der o.ä. dieRede ist,wirddasProblem derAltersrationierung zudem –und Generationen“ aufdurchaus problematische Weise –mitderFrage derGenerationengerechtigkeit in Verbindung gebracht.30 UmdieGerechtigkeit einer vorgeschlagenen Regelung zuüberprüfen, istes erforderlich, einen unparteilichen Standpunkt zubeziehen. Einen solchen Standpunkt beschreibt inbesonders raffinierter undausgearbeiteter Weise das Rawlssche Modell derEntscheidung hinter einem Schleier des Nichtwissens.31 Zieht mandieses Modell heran, ist es –jedenfalls unter bestimmten Bedingungen –keineswegs offensichtlich, dass eine altersbezogene Allokation medizinischer Leistungen ungerecht ist.

1. „Utilitarianism frombehind theVeilof Ignorance“ inzuerläuternder Weise – auf Tatsächlich beruht derVorschlag derAltersrationierung – demGedanken, dass die begrenzten medizinischen Ressourcen möglichst effizient eingesetzt werden sollten. DerVorwurf, damit werde dieGerechtigkeit aufdemAltar 28 Vgl.dazudiebereits erwähnte Studie vonBrockmann (Anm. 14).Speziell zurTransplantationsmedizinvgl. Volker H.Schmidt, Politik derOrganverteilung, 1996, S. 71ff. 29 Darauf weist zu Recht auch Nettesheim (Anm. 20), S. 345, hin. 30 Vgl.dazuunten 3. b). 31 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979.

209

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

eines utilitaristischen Nützlichkeitskalküls geopfert, istaberschon deshalb nicht einleuchtend, weil auf diesem Gedanken dereffizienten Mittelverwendung auch viele andere Verteilungskriterien beruhen, dieweithin Akzeptanz genießen. Dasgrundsätzliche Problem besteht darin, dass es hinter demSchleier des Nichtwissens nicht nurdie Option gibt, die Ressourcen so zuverteilen, dass jeder eine gleiche Chance aufdieVersorgung mitz.B. einer lebenswichtigen Behandlung besitzt oder imSinne derMaximin-Regel einem reinen Dringlichkeitskriterium gefolgt wird. WennmandieWahrscheinlichkeit, zuwelcher Gruppe mangehören wird, nicht kennt, spricht vieldafür, eine Verteilung zubevorzugen, diedie Überlebenschance unddie einfach deshalb, weilmanexante für Erfolgsaussichten einer Behandlung maximiert – sich selbst danndie Chance des Überlebens oderdes Erfolgs einer Behandlung erhöht. 32istinderGeUtilitarianism frombehind the Veilof Ignorance“ Dieses Problem des „ rechtigkeits- undinderSocial Choice-Theorie bekanntlich vielfach erörtert worden.33 Invielen Fällen, indenen unseine maximierende Lösung unplausibel vorkommt – , lässt sichdieser Eindruck dadurch erwähnt seinurdiebekannte Überlebenslotterie34 – erklären, dass eine solche Lösung die massive aktive Intervention der staatlichen Gewalt inhöchstpersönliche undelementare Güter erfordert, die unsauch dann unheimlich ist,wennsietatsächlich zueiner Maximierung dieser Güter beiträgt, undderen unparteiischer undkonsequenter Anwendung wirgerade deshalb nicht vertrauen, weil diese Güter vonelementarer Bedeutung sindundfolglich miteinem Vermeidungs- und Ausweichverhalten zu rechnen sein wird.35 Dies gilt aber nicht generell für nutzenmaximierende Verteilungskriterien: Sie verlangen gegenüber egalitaristischen oder Maximin-Regeln keingrundsätzlich anderes Verhalten derEntscheidungsträger. So istes auch nicht überraschend, dass wirinTheorie undPraxis derAllokation knapper medizinischer Güter einegroße Akzeptanz nutzenmaximierender Verteilungsregeln finden. Dies lässt sichambesten inderTransplantationsmedizin beobachten, weilhierdie Knappheit derverfügbaren Ressourcen nicht sinnvoll bestritten werden kann; regelmäßig reagiert manaufdiese Knappheit miteiner Mischung aus effizienzundgerechtigkeitsorientierten Verteilungsaspekten.36 AberauchimBereich dermedi-

32 John E. Roemer, Theories ofDistributive Justice, 1996, S. 147ff. 33 Vgl.dazuinsbesondere dieKritik vonJohnC.Harsanyi, CantheMaximin Principle

Serve

as a Basis

for Morality? A Critique of John Rawls Theory, in: ders., Essays on Ethics, Social Behaviour and 63,anderThese beiRawls (Anm. 31),dass sichdieParteien im Scientific Explanation, 1976, S. 37–

34

35

Urzustand nicht aneinem Prinzip des Durchschnittsnutzens, sondern anderMaximin-Regel orientieren werden. ZurDiskussion vgl.jetzt Hinsch (Anm. 2), S. 67 ff. Vgl. John Harris, The Survival Lottery, Philosophy 50 (1975), S. 81 ff. Vgl.dazudieäußerst hilfreichen Bemerkungen beiMichael Baurmann, Rationing Yes, Politics No. Fora Right-Based Approach inRationing Medical Goods, in:Breyer/Kliemt/Thiele (Hg.), Rationing in Medicine (Anm.

20), S. 95 ff.

36 So bestimmt etwa § 12 Abs. 3 S. 1 des (deutschen) Transplantationsgesetzes, dass die Organe zuvermitteln sind. Allgemein zurUnterscheiinsbesondere nachErfolgsaussicht undDringlichkeit“ „ dungvonnutzenmaximierenden undgerechtigkeitsorientierten Verteilungsgesichtspunkten indiesemKontext vgl.nurThomas Gutmann/Walter Land, Ethische undrechtliche Fragen derOrganverteilung: DerStand derDebatte, in:K.Seelmann/G. Brudermüller (Hg.), Organtransplantation, 2000, S. 87, 91 ff.; Wolfram Höfling, in:ders. (Hg.), Kommentar zumTransplantationsgesetz, 2003, § 12 Rn.28ff., betont zuRecht, dass diese beiden Kriterien „gegenläufig zueinander stehen können“ und konsequente Anwendung desKriteriums dermaximalen Erfolgsaussicht (...) dazuführen dass eine „ (müsste), dass die knappen Ressourcen gerade jenen Patienten zugute kommen, diesie amweZumWujciak-Algorithmus als maßgeblicher Entscheidungsgrundlage nigsten dringend brauchen.“ fürdie Organverteilung imEurotransplantverbund vgl. Hartmut Kliemt, Organtransplantation im Eurotransplantverbund, Analyse & Kritik 23 (2001), S. 133, 137 ff.; unddie übrigen Beiträge in diesem Heft.

210

Stefan Huster

zinischen Normalversorgung werden unter – unterstellten oderbereits bestehenden – Knappheitsbedingungen ganz selbstverständlich nutzenmaximierende Kriterien und Kosten-Nutzen-Erwägungen herangezogen oderzumindest diskutiert;37 dazugehört etwa das Kriterium der„ Quality-Adjusted Life Years“ (QALYs). Überdennormativen Charakter derEntscheidung fürdiese Kriterien versucht mansichgelegentlich hinwegzutäuschen, indem mansie als medizinische Entscheidungen charakterisiert. Dies beruht aberaufeiner Verwechslung zweier Ebenen: DieBeurteilung desNutzens einer Behandlung isttatsächlich eine medizinische Frage; dass dieser Nutzen handlungsleitend undinsbesondere verteilungsrelevant seinsoll, hatabernichts mehrmitmedizinischer Logik undFachkompetenz zutun,weiles ausmedizinischer Sicht überhaupt keinen Grund gibt, eine zweckmäßige Behandlung zuunterlassen.38 DerVorwurf, das Kriterium deschronologischen Lebensalters besitze einen utilitaristischen Charakter undseischon deshalb ungerecht, steht daher aufschwachen Füßen: Dieser Vorwurf ließe sichdannnämlich gegenüber vielen Verteilungskriterien erheben. Erliegt insgesamt neben derSache, weiles nicht unvernünftig –undfolglich auchnicht ungerecht – ist,sichhinter demSchleier desNichtwissens füreineRegelung zuentscheiden, dieNutzenerwägungen mindestens mitberücksichtigt. So profitiert – wasgerne übersehen wird– diePlausibilität desKriteriums desbiologischen Lebensalters, daseiner starren Anknüpfung andaschronologische Alter ganz unbefangen – umnicht zusagen: unreflektiert – als (sach-)gerechte Verteilungsmaxime gegenübergestellt wird,39 ebenfalls vonderVorstellung, dass medizinische Ressourcen so eingesetzt werden sollten, dass sie dengrößtmöglichen Nutzen stiften (und deshalb – nebenbei bemerkt – regelmäßig ältere Patienten ebenfalls benachteiligen). Esistaber beinäherem Hinsehen auchalles andere alsevident, dasseineRationierung zuLasten biologisch Alter persegerechter istalseine Rationierung zuLasten chronologisch Alter. Vielleicht istsogar dasGegenteil zutreffend. Stellen wirunsdazufolgende Situation vor: Einlebenswichtiges Organ odereine lebensrettende Behandlung steht nurfüreinen Patienten zurVerfügung. Ist es klar, dass mansich hinter demSchleier des Nichtwissens dafür entscheiden würde, dass– ceteris paribus – ein20jähriger inschlechtem Gesundheitszustand, dermitdiesem Organ bzw.dieser Behandlung nochfünfJahre zuleben hätte, gegenüber demvitalen 70jährigen zurücktreten muss, demmitder Behandlung noch zehn weitere Lebensjahre prognostiziert werden? Könnte es nicht zumindest denkbar sein, dass derUmstand, dass die zweite Person aufgrund ihres Alters bereits einLeben gelebt hat, das dem20jährigen noch– wennauchineinem bevorsteht, beiderEntscheidung eine Rolle spielt? Könnte man begrenzten Umfang – nicht sogar sagen, dass das biologische Alter hier das nutzenorientierte Kriterium darstellt, wennes zugunsten desbesten Kosten-Nutzen-Verhältnisses einer medizinischen Behandlung die gesundheitlich besonders Benachteiligten zurücksetzt, währenddieAnknüpfung andaschronologische Alter ingewisser Weise sehrvielstärker einem Ideal der Gleichbehandlung verpflichtet ist?

37 Vgl. dazu nurJ.-Matthias Graf Schulenburg/Wolfgang

38

39

242 ff.

Greiner, Gesundheitsökonomik, 2000,

S.

Treffend dazu Volker H.Schmidt, Istdie Verteilung knapper Gesundheitsgüter einmedizinisches Problem?, in:R.Lachmann/N. Meuter (Hg.), ZurGerechtigkeit derOrganverteilung, 1997, S. 49,52: Dennmedizinische Gründe, etwas medizinisch Sinnvolles nicht zutun, gibt es nicht.“ „ Widersinnig istdaher dieRegelung des§ 12Abs.3 desdeutschen Transplantationsgesetzes, dieeine Organvermittlung insbesondere nach den Kriterien der Erfolgsaussicht undder Dringlichkeit vorsieht und diese Kriterien als „ Regeln, die demStand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“ , versteht. ZurKritik derRegelung vgl. etwa Höfling (Anm. 36), § 12 Rn.24 ff. Vgl. oben II. 1. b).

211

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

2. Altersrationierung als intrapersonales

Klugheitsproblem

Esistnicht schwer zuerklären, warum indemgenannten Beispiel plötzlich derEindruck entsteht, dass das chronologische Alter einbesonders egalitaristisches Allokationskriterium darstellt: Wiralle altern. Während andere diskutierte Verteilungsaspekte – wie etwa das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer bestimmten Behandlung oder die sog. sich sehrdifferenziert aufdieeinzelnen Individuen verteilen undselbst Compliance – einbestimmtes biologisches Alter sie zumindest inunterschiedlichen Lebensphasen trifft, sodass nutzenmaximierende Verteilungskriterien sichschnell demEinwand der Ungerechtigkeit aussetzen, sinddas chronologische Alter undseine Entwicklung für jedermann identisch. Dies erlaubt es nun, die Frage, wiemedizinische Ressourcen aufverschiedene Altersstufen verteilt werden sollen, nicht als interpersonales Verteilungs- unddamit Gerechtigkeitsproblem zuformulieren, sondern als intrapersonale Klugheitswahl: Jedermann musssichüberlegen, wiediebegrenzten Ressourcen aufdieverschiedenen Stadien seines Lebens zuverteilen sind.40 Ausdieser nicht synchronen, sondern diachronen Perspektive sprechen nuneinige Argumente entschieden auchdannfüreine altersabhängige Allokation, wennmanbestimmten Lebensstadien nicht vonvornherein einen geringeren Wert zuschreibt.41 Betrachten wirdazuzweiunterschiedliche Schemata fürdie Verteilung einer knappen lebenswichtigen medizinischen Ressource: Nachdemersten Schema wirddiese Ressource nicht mehranPersonen ausgegeben, diedasdurchschnittliche Lebensalter überschritten haben. Nachdemzweiten Schema wirddiese Ressource unabhängig vomLebensalter allein nach medizinischer Dringlichkeit undggf. nach demLosverfahren42 oderderWartezeit43 vergeben. Während das erste Schema dieChance erhöht, einnormales, d.h.durchschnittliches Lebensalter zu erreichen, vergrößert daszweite Verteilungsschema dieChance, eindarüber hinausgehendes Alter zuerreichen. Nunmüsste manschon übereine ganz ungewöhnliche Lebensplanung verfügen, umhier aufRisiko zuspielen unddas zweite Schema zu bevorzugen. Dasheißt nunnicht, dassdiese Präferenz vonvornherein ausgeschlossen ist: So könnte jemand sagen, sein Leben sei ganz undgardarauf ausgerichtet, das Lebensstadium derAltersweisheit zuerreichen undes dannmöglichst lange beizubehalten; dafür nehme er auch das Risiko in Kauf, dieses Stadium gar nicht erst zu 40 Diefolgenden Überlegungen stützen sich aufdiegrundlegenden Überlegungen vonNorman Daniels; vgl.dieinAnm.25 genannten Beiträge vonDaniels. Seine Überlegungen werden hierbeson-

41

ders berücksichtigt, weilsie zumeinen aufgrund besonders sparsamer Prämissen fürdieZulässigkeit einer Altersrationierung argumentieren undzumanderen aufeinem liberalen undegalitaristischen Theorieansatz –nämlich derRawlsschen Gerechtigkeitstheorie –beruhen. Andere Autoren lassen dagegen eine Reihe vonumstrittenen ethischen Annahmen inihreArgumentation einfließen; dies gilt insbesondere fürdenbekannten Ansatz vonCallahan, Setting Limits (Anm. 25). Vgl.dazu wiederum Schultheiss, Aufklärung undKritik 2000 (Anm. 25). Nunkann mandaran zweifeln, ob undinwieweit verschiedene Stadien überhaupt sinnvoll als ein metaphysischen“Bedenken, wie sie etwa einheitliches Leben begriffen werden können. Diese „ Derek Parfit, Reasons andPersons, 1984, erhoben hat(zurDiskussion vgl. Norman Daniels, Problems withPrudence, in:ders., Justice andJustification, 1996, S. 284ff.), sollen hierabernicht berücksichtigt werden, dafürdieDiskussion normativer medizinethischer Fragen bisaufweiteres das Durchschnittsverständnis personaler Identität, vondemwirauch inanderen Bereichen ausgehen,

ausschlaggebend seinwird.

42 DasLosverfahren wirdinderjuristischen Diskussion tatsächlich ernsthaft inErwägung gezogen, um wertende Kriterien zuvermeiden; vgl. etwa Taupitz, Rechtliche Möglichkeiten derBeschränkung diagnostischen undtherapeutischen Aufwands (Anm. 20), S. 280. 43 Fürdieses Auswahlkriterium aus derjuristischen Diskussion etwa Dieter Giesen, Ethische und rechtliche Probleme

am Ende des Lebens, JZ 1990, S. 929, 942.

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Stefan Huster

erreichen. Aberabgesehen davon, dass diese Einstellung vermutlich selten seinwird, ist auch die entgegengesetzte Haltung, die demErreichen einer normalen Lebensspanne denVorzug gibt, keinesfalls inirgendeinem Sinne unvernünftig. Dieses Ergebnis reicht aberzunächst aus, umdemEinwand derUngerechtigkeit gegenüber demModell deraltersabhängigen Zuteilung medizinischer Ressourcen auf einer sehr grundsätzlichen Ebene zu begegnen: Wenn es aus Sicht des einzelnen rational seinkann, eine altersabhängige Zuteilung vorzunehmen, kannschwerlich ein Einwand erhoben werden, wennsichdiese Entscheidung inderAusgestaltung eines kollektiven Versorgungssystems widerspiegelt. Dass dies zu einer differenzierten, nämlich altersabhängigen Verteilung der Ressourcen auf die zueinem bestimmten Zeitpunkt lebenden Bürger führt, istdannmoralisch nicht anstößiger alsdiedifferenzierte Verteilung dieser Ressourcen innerhalb eines einzelnen Lebenslaufes. Obundin welcher Formmaneinderartiges Verteilungsschema verwirklichen will, mussunter den idealen Bedingungen einer rationalen Lebensplanung jedes Individuum fürsich entscheiden –ebenso wieeine politische Gemeinschaft eine entsprechende kollektive Festlegung treffen muss. Ausder Perspektive einer Klugheitswahl ist es aber nicht unddies istderentscheidende Punkt – , dass einaltersunabhängiges Verersichtlich – teilungsschema per se vernünftiger und–wenn manes auf die kollektive Ebene gerechter istals einSchema, dasdaschronologische Alter berücksichtigt. überträgt –

3. Bedingungen undFolgeprobleme Nunsteht diese Argumentation fürdiegrundsätzliche Zulässigkeit einer altersabhängigen Zuteilung medizinischer Ressourcen zumeinen unter einschränkenden Bedingungen, zumanderen wirft sie einige Folgeprobleme auf.

a) Die Voraussetzung derKnappheit Bisher wurde unterstellt, dass diemedizinischen Ressourcen tatsächlich knapp indem Sinne sind, dass sie nicht fürjedermann injedem Lebensalter unbegrenzt zurVerfügung stehen. Dass demso ist, lässt sich jedenfalls fürden Fall einer natürlichen Knappheit –etwa derzuTransplantationszwecken zurVerfügung stehenden Organe –schwerlich bestreiten. ImÜbrigen istdieLagedifferenzierter zusehen. Bisher wurde davon ausgegangen, dass es umdie Verteilung eines festgelegten Gesundheitsbudgets aufdieLebensspanne geht. Tatsächlich besteht jenseits derSituation natürlicher Knappheit natürlich immer dieMöglichkeit, dieVerwirklichung anderer Bedürfnisse zurückzustellen undzusätzliche Mittel indiemedizinische Versorgung umzuleiten. Angesichts derhohen Bedeutung derGesundheit fürdieLebensführung wirdmandas auchtun,solange dieOpportunitätskosten nicht untragbar werden. Anders gesagt: Die Argumentation fürdieAltersrationierung sagt nur,dass diese FormderRationierung nicht vonvornherein ausgeschlossen ist;siesagtabernichts darüber aus,obüberhaupt rationiert werden soll. Eine Altersrationierung elementarer Gesundheitsgüter kommt – wiejede Rationierung solcher Güter –rationalerweise erst in Betracht, wenn man ansonsten aufdieBefriedigung ähnlich bedeutsamer Wünsche undInteressen verzichten müsste.44

44 Dies betont auch Norman Lebensplanung,

Daniels, Das Argument der Altersrationierung imAnsatz der klugen (Hg.), Gesundheitsversorgung imAlter (Anm. 25), S. 151, 159ff.

in:Marckmann

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

213

Obdiese Gefahr inderZukunft bestehen wird, istzunächst eine empirische Frage, dievonderEinschätzung derKostenentwicklung abhängt. Angesichts derdemographischen Entwicklung, des medizinisch-technischen Fortschritts undvorallem derKombination dieser beiden Faktoren ist allerdings damit zu rechnen, dass nicht mehr

jedermann jederzeit alle denkbaren Behandlungsmöglichkeiten zurVerfügung gestellt werden können, wennunsdieGesundheitskosten nicht ersticken sollen, so dass eine Rationierung –inwelcher Formauch immer –unausweichlich werden wird.45 Damit steht auch die Altersrationierung als eine –gewiss nicht als einzige –Lösung zur Diskussion. Daneben kannmansichauchdarüber streiten, welcher Anteil desgesamten Volkseinkommens für Gesundheitsleistungen ausgegeben werden soll. Diese Frage istnicht empirischer Natur, vielmehr hängt ihre Beantwortung vondenjeweiligen Präferenzen ab,dieinsoweit sowohl individuell alsauchkollektiv durchaus unterschiedlich sein können. Auf der individuellen Ebene können jedenfalls Modelle der sog. weichen Rationierung diesen Unterschieden Rechnung tragen, weilsie es erlauben, über die kollektiv verbindliche Grundversorgung hinaus zusätzliche Gesundheitsleistungen einzukaufen; diese Funktion wirddurch das Kriterium desAlters sogar besonders guterfüllt.46 FürdieFestlegung desbasic package istdagegen eine politische Entscheidung gefordert, die das Verhältnis des Gesundheitsbudgets zu anderen Ausgabenposten festlegt.47

b) DieUnterscheidung vomProblem derGenerationengerechtigkeit Stelle sei darauf hingewiesen, dass es für die hiesige Argumentation zugunsten der Möglichkeit einer Altersrationierung nicht auf Erwägungen der Generationengerechtigkeit ankommt. Diedemografische Entwicklung, dieFragen der zumal inseiner Bedeutung nicht unumstritGenerationengerechtigkeit aufwirft, istein– Faktor zukünftiger Finanzierungsprobleme imGesundheitswesen, aber sie tener48 – erlaubt keinen Rückschluss aufeine bestimmte FormderRationierung: Ebenso wenig wiederUmstand, dass bestimmte Krankheiten besonders häufig auftreten unddementsprechend hoheKosten verursachen, perse einGrund dafür ist,dieBehandlungsmöglichkeiten fürdiese Krankheiten einzuschränken, istderwachsende Anteil älterer Menschen einGrund dafür, gerade andieser Stelle zusparen. Undebenso giltumgekehrt: DasAlter isteindiskussionswürdiges Rationierungskriterium ganzunabhängig davon, worauf die Rationierungsnotwendigkeit beruht. Diesog. Generationengerechtigkeit, d.h.diefaire Verteilung vonGütern undLasten unter verschiedenen Geburtskohorten, isteinechtes interpersonales Verteilungsproblem, weilmanseine Geburtskohorte nicht wechseln kann, sondern mitihraltert. Dierationale Aufteilung vonGütern undLasten

Andieser

45 Odervielleicht sogar schon unausweichlich geworden ist; zurFrage, obundinwieweit imAlltag des

deutschen Gesundheitssystems bereits eine (implizite) Rationierung stattfindet, vgl. zuletzt Carlo Schultheiss, ImRäderwerk impliziter Rationierung, psychoneuro 2004, S. 221ff. 46 Vgl. dazu oben II. 2. a). 47 Dass fürdiese Festlegung kaumklare Kriterien zurVerfügung stehen, hatverfassungsrechtliche Konsequenzen; vgl. unten IV.2. 48 Soistes etwaumstritten, obderzunehmende Anteil alter undsehralter Bürger tatsächlich zueinem überproportionalen Kostenanstieg führen wird, dadieKostensteigerung weniger vondemchronologischen Alter als von der Nähe des Todeszeitpunktes abzuhängen scheint, so dass sich das Problem durch die gestiegene Lebenserwartung möglicherweise nurnach hinten verschiebt. Vgl. zurDiskussion Peter Zweifel/Stefan Felder/Markus Meier, Demographische Alterung undGesundheitskosten: Eine Fehlinterpretation, in: P. Oberender (Hg.), Alter undGesundheit, 1996, S. 29 ff.

214

Stefan Huster

auf verschiedene Lebensabschnitte ist dagegen ein intrapersonales Problem, weil jeder diese Lebensabschnitte durchläuft. Dementsprechend gelten hier auch ganz unterschiedliche Maßstäbe undsind unterschiedliche Überlegungen maßgeblich.49 Insbesondere inderpolitischen Diskussion wirdinsoweit nicht immer klar unterschieden;dies bringt denVorschlag derAltersrationierung indenVerdacht, ein–anderes – sozialpolitisches Problem aufkurzschlüssige undsomit ungerechte Weise lösen zu wollen.

c) Dielangfristige

Perspektive

wiemanche Stellungnahmen Dass dieAltersrationierung denkbar ungeeignet ist, um– kurzfristig die Finanzierungsprobleme der Gesetzlichen Krankenversinahe legen50 – cherung zulösen, ergibt sichauchnochauseiner weiteren Überlegung. DieGültigkeit des Arguments, das Alter sei ein Verteilungskriterium, das, weiljeder altert, einen besonders egalitaristischen Gehalt besitzt, setzt in der institutionellen Umsetzung voraus, dass auch das Versorgungssystem einen entsprechenden Bezug auf den gesamten Lebenslauf enthält. Die gegenwärtige Generation älterer Menschen, die weder politisch einer Altersrationierung inderKrankenversicherung zugestimmt hat noch die Möglichkeit besaß, eine ergänzende Versicherung abzuschließen, genießt daher Vertrauensschutz.51 Dies hindert nicht daran, sie unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit stärker andenKosten zubeteiligen, alsdies bisher derFall ist;eswäreaberunfair, dieFinanzierungsprobleme dergesetzlichen Krankenversicherungplötzlich einseitig zuihren Lasten zulösen. Modelle derAltersrationierung müssen daher eine langfristige zeitliche Perspektive besitzen52 undvondenen beschlossen werden, dievonihnen betroffen sein werden; als zeitlicher Rahmen bietet sich dabei eine Zeitspanne an,dieauchderersten betroffenen Kohorte nochdenAbschluss von Zusatzversicherungen ermöglicht. Eine Diskussion überdiese Fragen kanndaher nicht mehrlange aufgeschoben werden.

d)DasProblem dersozialen Gerechtigkeit Gerade derHinweis aufdie Möglichkeit, fürdas Alter eine zusätzliche Absicherung abzuschließen, zieht einen weiteren Einwand gegen Modelle derAltersrationierung auf sich, nämlich den Einwand der sozialen Ungerechtigkeit: Da sich nicht jeder eine zusätzliche Absicherung wirdleisten können, scheint dieLebensdauer zueiner Frage derfinanziellen Leistungsfähigkeit zuwerden.53 Nunistdieser Hinweis aufdereinen Seite berechtigt, weileine soziale Spaltung derGesellschaft bezüglich dermedizinischen Versorgung sowohl aus Gründen derGerechtigkeit als auchderKohäsion des Gemeinwesens vermieden werden sollte. Aufderanderen Seite trifft dieser Einwand nicht nurdieAltersrationierung, sondern jede Formderweichen Rationierung, dieeine zusätzliche Absicherung erlaubt unddamit ineiner freiheitlichen Gesellschaft unweigerlich zusozialen Unterschieden führen wird.

49 Vgl. auchdazuNorman

50 51 52

Daniels, The prudential life-span account ofjustice across generations, in: ders., Justice and Justification, 1996, S. 257 ff. Vgl.dieoben II.1. a) erwähnte Stellungnahme vonMißfelder. Dies betont auchKliemt, Rationierung impluralen Rechtsstaat (Anm. 24), S. 59 f. Dies betonen auch Breyer/Schultheiss, Intern. Journ. OfHealth Care Finance andEconomics 2

(Anm. 25), S. 259. 53 So etwa Leist (Anm. 25), S. 165 f.

215

Sozialstaat oder soziale Gerechtigkeit?

Wannist eine medizinische Rationierung aber ineinem Sozialstaat gegenüber denjenigen unfair, diemangels verfügbarer Ressourcen nicht selbst übereine zusätzliche Absicherung entscheiden können? Wenn man sich insoweit am geltenden Sozialhilferecht orientiert, soistdiesoziale Inklusion desHilfebedürftigen dasMindesttranszendentalen“ zieldesSozialstaates.54 Angesichts derüberragenden, „ Bedeutung der Gesundheit sollte eine soziale Spaltung der Gesellschaft im Hinblick auf die medizinische Versorgung tatsächlich vermieden werden. Dadiesabernunnicht heißen darf, dass wiederum jedermann alles zurVerfügung gestellt werden muss –mitder , wäre es insoweit denkbar, andie Folge, dass unsdieGesundheitskosten ersticken – Absicherungsentscheidung eines Durchschnittsbürgers anzuknüpfen: Wasertypischerweise freiwillig zusätzlich versichert –im Falle eines altersrationierten kollektiven , mussallen zur Versorgungssystems etwaanmedizinischen Leistungen fürdasAlter– Verfügung stehen; worauf erverzichtet, umsichandere Bedürfnisse erfüllen zukönnen, kannauchderjenige nicht beanspruchen, dermangels Ressourcen keine eigene Absicherungsentscheidung treffen kann. Sein Anspruch wirddamit system- undkulturrelativ; aberdies istineinem Sozialstaat, derkeine Maximalversorgung, sondern soziale Inklusion verspricht, weder überraschend nochbedenklich.

IV.Rechtliche Folgerungen aus derphilosophischen Diskussion

1. Diegrundsätzliche

verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Altersrationierung

Wenn–unddies ist nicht unwahrscheinlich –eine Situation eintritt, inderunsdie Gesundheitskosten indemSinne über denKopf zuwachsen drohen, dass die Befriedigung anderer Bedürfnisse massiv behindert wird, muss dasGemeinwesen eine Möglichkeit besitzen, die Kosten für das öffentlich finanzierte Gesundheitssystem politisch zubegrenzen. Diesverbietet eine Interpretation derGarantie derMenschenwürde, derGrundrechte unddes Sozialstaatsprinzips, diediese Normen als absolute individuelle Ansprüche aufalleverfügbaren medizinischen Möglichkeiten versteht; dies gilt auch fürlebensnotwendige medizinische Maßnahmen. Verfehlt ist es in dieser womöglich nochsubjektivierten Situation auch, dieGrundrechte überdenGedanken der–

–staatlichen

Schutzpflicht als Garanten einer medizinischen Maximalversorgung zu betrachten. WenndasVerfassungsrecht hiernicht zueinem paternalistischen Zwangsinstrument werden soll, das uns über absolut verstandene Anspruchsrechte vorschreibt, welches Gewicht wirdemGutderGesundheit imVergleich zuanderen Gütern zuschreiben müssen, können soziale Ansprüche nurals system- undkulturrelative Rechte aufTeilhabe aneinem existierenden Versorgungsstandard verstanden werden.55

WennRationierung verfassungsrechtlich möglich seinmuss, stellt sichdieFrage, nachwelchen Kriterien diese Rationierung erfolgt. DiesistimGrundsatz einepolitische Entscheidung, dievondenPräferenzen derBürger ebenso abhängt wievonzahlreichen Klugheits- undZweckmäßigkeitserwägungen. Vorgegeben ist insoweit lediglich, 54 Vgl. dazu Stefan Huster, Grundversorgung undsoziale Gerechtigkeit imGesundheitswesen, erGesundheitsstandards“derBerlin-Branscheint ineinem Sammelband derArbeitsgemeinschaft „ denburgischen Akademie derWissenschaften; ders., Medizinische Versorgung imSozialstaat. Zur Bedeutung des Sozialhilferechts fürdie Bestimmung einer medizinischen Mindestsicherung, in: N. Mazouz/M. Werner/U. Wiesing (Hg.), Krankheitsbegriff undMittelverteilung,

2004.

55 Vgl.dazuähnlich jetzt auchEberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen undLegitimationsfragen imöffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 28 ff.

216

Stefan Huster

dass die Begrenzung derMittel fürdas Gesundheitswesen allgemein sein muss und

nicht lediglich zuLasten einer bestimmten Gruppe gehen darf. Diese Voraussetzung wirddurch das Kriterium des Alters so gutwiedurch kaumeinen anderen Maßstab erfüllt, daes garkeinallgemeineres Kriterium gibt. Höchstens dasLosverfahren bietet eineähnliche Universalität derAnwendbarkeit; ihmgegenüber besitzt dasKriterium des wennderEindruck überdieüblichen Präferenzordnungen nicht täuscht Alters aber– –erhebliche Vorteile: Die normale Lebensspanne zuerreichen wirdgemeinhin für wichtiger erachtet als dieChance zuerhöhen, diese Spanne zuüberschreiten.56 Von Altersdiskriminierung“ einer „ ,dieinmenschenunwürdiger Weise dengleichen Achtungsanspruch eines jeden verletzt, kann imFalle einer politisch beschlossenen Altersrationierung jedenfalls keine Rede sein.

2. Diefehlende

rechtliche Operationalisierbarkeit

derKnappheitsbedingung

Obsich das Gemeinwesen füreine Altersrationierung

entscheiden sollte, ist damit selbstverständlich nicht gesagt; gesagt ist damit nur, dass dies grundsätzlich ohne verfassungsrechtliche Bedenken möglich ist. Obmandiesen Weggehen wird, hängt vonzahlreichen Erwägungen ab; eine besondere Rolle wirddabei gewiss die Frage spielen, welche Opfer gebracht werden müssen, wenn manauf diese Maßnahme verzichtet. Gerade indiesem Punkt derOpportunitätskosten istdasVerfassungsrecht abereigenartig hilflos; esenthält füreineAbwägung zwischen demGutderGesundheit undkonkurrierenden Gütern keine Maßstäbe. Dies ist auch weder erstaunlich noch bedauernswert, weiles sichinsoweit nicht primär umeindistributives Problem handelt, bei dessen Lösung eine Gruppe vorunfairen Mehrheitsentscheidungen geschützt werden müsste.57 Vielmehr muss sich hierdas Gemeinwesen insgesamt überlegen, wievielihmdieGesundheit wertist; unddies istkeine juristische, sondern eineoriginär politische Frage. Angesichts des hohen Gewichts, das derGesundheit inmodernen westlichen Gesellschaften beigemessen wird, besteht auchüberhaupt keinGrund zu derAnnahme, dass Aspekte derGesundheitsversorgung impolitischen Diskurs nicht hinreichend zurGeltung kommen.

3. DieVerlässlichkeit undTransparenz derRationierungsentscheidung Sehr viel wichtiger als die Frage, ob mansich politisch füreine Altersrationierung istes, dass diese Entscheidung dannverlässlich undtransparent ist. Das Alter istja nurdeshalb undinsoweit keinunsachliches unddiskriminierendes Rationierungskriterium, alses imKontext einer individuellen Verteilungsentscheidung steht, die aufdiegesamte Lebensspanne bezogen ist. Folglich müssen sich dieBürger darauf verlassen können, dass dasVersorgungssystem ihre Ansprüche präzise definiert und diese Zusage dannüberlängere Zeiträume auch einhält; auch dieMöglichkeit einer zusätzlichen freiwilligen Absicherung istdavon abhängig. Anders gesagt: DasProblem entscheidet,

56 Vgl. dazu oben III. 2.

57 ZurThese, dass das materielle

Verfassungsrecht fürderartige Konstellationen mitdistributivem Charakter besonders geeignet ist,vgl.Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1987, S. 147 ff.ZurAnwendung aufdasdeutsche Verfassungsrecht vgl. Stefan Huster, DieUnterscheidung von politischen Zielen undverfassungsrechtlichen Argumenten, in: C. Hiebaum/P. Koller (Hg.), Politische Ziele undjuristische Argumentation, 2003, S. 47ff.; ders., Dieethische Neutralität desStaates, 2002, S. 649 ff. undpassim.

217

Sozialstaat odersoziale Gerechtigkeit?

derGeneration, dieimJahre 2040 dassiebzigste Lebensjahr erreicht oderüberschrittenhat, besteht nicht darin, dass sie heute nicht weiß, obsie dann imRahmen des

öffentlich finanzierten Gesundheitssystems nochalle medizinisch sinnvollen Leistungenerhalten wird; realistischerweise sollte siedavon ausgehen, dass dasehnicht der Fallseinwird. DasProblem istvielmehr, dass sie nicht weiß, welche Leistungen nicht mehrzurVerfügung stehen werden, sodass siekeine zusätzliche Vorsorge treffen kann undihre Mitglieder zudem befürchten müssen, Opfer einer undurchsichtigen impliziten Rationierung zuwerden. Verfassungsrechtlich sinddaher hohe Anforderungen andie Bestimmtheit dergesetzlich gewährleisteten Anspruchsrechte undandenVertrauensschutz zu stellen.

V.Resümee: DiePriorität derAnforderungen formeller Rechtsstaatlichkeit Diediagnostizierte Abneigung inPolitik undRechtswissenschaft, Modelle derAltersrationierung überhaupt zudiskutieren,58 dürfte maßgeblich darauf beruhen, dass der institutionelle Charakter dieser Vorschläge nicht wahrgenommen wird. Ähnliches giltfür dietraditionelle ärztliche Standesethik, dieganz aufdas individuelle Arzt-PatientenVerhältnis zugeschnitten istundinstitutionell zulösenden Allokationsproblemen ebenfalls ratlos gegenübersteht.59 Modellen derAltersrationierung geht es ja nicht darum, vonheute aufmorgen undimWege diskretionärer Einzelfallentscheidungen älteren

Menschen lebensverlängernde Leistungen abzusprechen –dies geschieht eherzur , sondern umdaslangfristige Design des ZeitimRahmen derimpliziten Rationierung – gesamten Versorgungssystems. Soweit dieser Punkt klargestellt ist, spricht normativ viel dafür, dass sich das Verfassungsrecht weder generell einer Rationierung noch

speziell einer Altersrationierung grundsätzlich sperrt. Zudenmaßgeblichen materiellen undinsoweit sinddieverfassungsrechtFragen schweigt es daher. Wichtig bleibt aber – ,dassdieTransparenz undVerlässlichkeit lichen Anforderungen erstnochzuentwickeln – derAusgestaltungsentscheidungen gewährleistet werden. Damit lautet dasüberraschende Ergebnis: Ineinem Feld, indembisher ausschließlich mitsehr starken materiellen Wertungen argumentiert wurde, sindtatsächlich die eherformellen Anforderungen andasstaatliche Handeln vonzentraler Bedeutung. Die verfassungsrechtliche Diskussion sollte daher ihren inhaltlichen Substantialismus und Fundamentalismus aufgeben undsich denformellen undinstitutionellen Voraussetzungen widmen, dieeinverlässliches Versorgungssystem erfüllen muss.

58 Vgl. oben II. 1.

59 FürdenKontext derTransplantationsmedizin S. 89.

behaupten dies jedenfalls Gutmann/Land (Anm.

36),

Mattias Kumm*

Liberale Gerechtigkeitstheorien unddie Struktur Grundrechte

der

I. DiePrinzipientheorie als Strukturtheorie derGrundrechte Die in Deutschland wohl einflussreichste Strukturtheorie der Grundrechte ist die Prinzipientheorie. DiePrinzipientheorie, zunächst vonRobert Alexy formuliert1 undvon seinen Schülern weiter ausgearbeitet2, lässt sichinvierKernthesen zusammenfassen.

1. 2. 3.

4.

Normen sindentweder Regeln oderPrinzipien. Grundrechte sind Prinzipien. Prinzipien sindOptimierungsgebote. Siegebieten, dass etwas relativ aufdierechtlichen undtatsächlichen Möglichkeiten inhöchstmöglichem Maße realisiert wird. DerVerhältnismäßigkeitsgrundsatz lässt sich aus demPrinzipiencharakter der Grundrechte ableiten. Geeignetheit undErforderlichkeit drücken das Erfordernis einer optimalen Realisierung des Prinzips inHinblick aufdietatsächlichen Möglichkeiten aus. DieVerhältnismäßigkeit imengeren Sinne oderAbwägung drückt das Erfordernis einer optimalen Realisierung des Prinzips relativ aufdie rechtlichen Möglichkeiten aus.

Ursprünglich entwickelt als allgemeine juristische Theorie derGrundrechte des Grundgesetzes, hatsichdiePrinzipientheorie als außerordentlich fruchtbar erwiesen, dieRechtsprechungspraxis desBundesverfassungsgerichts kritisch zurekonstruieren. Unter anderem bietet diePrinzipientheorie eine überzeugende Erklärung dafür, warum inderPraxis bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidens das Herzstück dermateriellen Grundrechtsprüfung regelmäßig dieVerhältnismäßigkeitsprüfung ist. Seit der Publikation von Robert Alexys Theorie der Grundrechte in englischer Sprache findet auchinderenglischsprachigen Literatur eine intensivere Auseinandersetzung mitderPrinzipientheorie statt.3 Dabei steht dieFrage, obdiePrinzipientheorie fürdasVerständnis verfassungsrechtlicher Entscheidungspraxis überdieGrenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus vonBedeutung ist, imVordergrund. Gegenstand derfolgenden Untersuchung istdieFrage, obdiePrinzipientheorie als allgemeine juristische Strukturtheorie der Grundrechte in liberal-demokratischen Verfassungsstaaten erfolgreich seinkann. DieAnalyse wirddabei schwerpunktmäßig aufeine Auseinandersetzung mitPositionen, Autoren undSensibilitäten ausgerichtet sein, dieimZentrum rechtstheoretischer undphilosophischer Debatten indenVereinigtenStaaten stehen.

Associate Professor anderNewYorkUniversity School ofLaw 1 * Robert Alexy, Theorie derGrundrechte (1. Aufl. 1986). 2 Hervorzuheben sind insbesondere Jan-Reinard Sieckmann, Regelmodelle undPrinzipienmodelle

3

des Rechtssystems (1990), Martin Borowski, Grundrechte undErkenntnis (1998).

Grundrechte

als Prinzipien (1998),

Marius Raabe,

Vgl.etwa J. Menendez, E.O. Eriksen (Hg.), Fundamental Rights through Discourse (Oslo 2004).

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

219

II.Einwände gegen die Prinzipientheorie Gegen diePrinzipientheorie als allgemeine Strukturtheorie derGrundrechte indemokratischen Verfassungsstaaten lassen sich formal-analytische (1), deskriptiv-empiri-

sche (2) undnormative (3) Einwände anführen. (1)Zudenanalytischen Einwänden gehört etwadieBehauptung, dass diekategorische Unterscheidung zwischen Regeln undPrinzipien, wiesie derPrinzipientheorie zugrunde liegt, fehlerhaft ist.4 Ebenfalls analytischer Natur undnoch grundsätzlicher sind Einwände, die sich gegen denCharakter derPrinzipientheorie als allgemeine Strukturtheorie wenden. DieIdee einer allgemeinen Strukturtheorie derGrundrechte – gleichsam als allgemeiner Teil einer Grundrechtslehre – , so könnte eingewandt werden, istTeileiner Wissenschaftskonzeption, diejedenfalls derangloamerikanischen Common Law-Welt fremd ist. Sieentstammt derTradition derBegriffsjurisprudenz und derPandektistik. Sofern eine solche Theorie überhaupt erfolgreich sein kann, istihre Anwendung aufLänder begrenzt, dieTeilderzivilistischen Rechtswelt sind. Aufdieses Argument kann hier nicht weiter eingegangen werden. Als Einwand gegen die Idee einer allgemeinen Strukturtheorie ist es letztlich nicht überzeugend. Immerhin verweist derEinwand aberauferhebliche Rezeptionsbarrieren, aufdieein solcher Theorientyp etwa imangloamerikanischen Raumstößt. Darüber hinaus verweist dasArgument aberauchaufeinanderes, interessanteres Problem.

(2) Möglicherweise reflektiert derUnterschied rechtswissenschaftlicher Wissenschaftskulturen wesentliche Unterschiede desGegenstands rechtswissenschaftlicher Reflexion: derRechtspraxis. DerEinwand divergenter Wissenschaftstraditionen verweist damit auf ein empirisch-deskriptives Problem: das Problem divergenter Verfassungspraxen. DiePrinzipientheorie scheitert alsallgemeine Strukturtheorie der Grundrechte, sokönnte behauptet werden, weiles keinen Grund fürdieAnnahme gibt, dass diejeweilige Verfassungspraxis anderer demokratischer Verfassungsstaaten die notwendigen tatsächlichen Anknüpfungspunkte füreine prinzipientheoretische Rekonstruktion bietet. Solche tatsächlichen Anknüpfungspunkte sind jedoch erforderlich, wenndie Prinzipientheorie als Theorie des positiven Rechts liberal-demokratischer Verfassungsstaaten erfolgreich sein will. DieFrage ist,obinallen liberal-demokratischen Verfassungsstaaten, indenen Gerichte damit beauftragt sind, dieimVerfassungstext normierte Grundrechte durchzusetzen, dieVerfassungspraxis hinreichend Anhaltspunkte füreine prinzipientheoretische Rekonstruktion bietet. Esistnicht leicht, genau diejenigen Merkmale zubestimmen, die eine Verfassungspraxis aufweisen muss, damit sie einer prinzipientheoretischen Rekonstruktion zugänglich ist. Es istimmerhin denkbar, dass dieMerkmale, dieeine solchePraxis aufweisen muss, mitdenMerkmalen identisch sind, diesieaufweisen muss umals liberal-demokratisch zugelten. Sollte dasderFallsein, gäbe es keinempirischdeskriptives Problem. DerGarant fürdie Möglichkeit einer erfolgreichen prinzipientheoretischen Rekonstruktion einer Grundrechtspraxis läge ingenau denMerkmalen, die eine Verfassungspraxis als liberal-demokratische Verfassungspraxis ausweisen. Diefolgenden zweiBeispiele belegen jedoch, dass liberal-demokratische Verfassungspraxen möglich sind, die keinerlei plausible Anknüpfungspunkte füreine prinzipientheoretische Rekonstruktion bieten. 4

922 (1997). So z.B. Fred. Schauer, Prescriptions inThree Dimensions, 82 Iowa LawReview, S. 911– Vgl. dazu Mattias Kumm, Constitutional Rights as Principles: Onthe Structure and Domain of Constitutional Justice, 2 International Journal ofConstitutional Law2004, S. 574 (577).

220

Mattias Kumm

Staat S1 hateine Verfassung miteinem Grundrechtskatalog, derausschließlich aus konkreten Regeln besteht. Statt eines Bekenntnisses zurReligionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw.enthält dieVerfassung vonS1 einen Grundrechtskatalog miteiner langen Liste vonNormen mitdernormentechnischen Qualität eines Einkommensteuergesetzes. Es sind ausschließlich Regeln wie: Jeder hatdasRecht, dass gegen ihndieTodesstrafe nicht verhängt wird. Jeder hat dasRecht, nicht länger als48Stunden ohne richterliche Anhörung inpolizeilichen Gewahrsam genommen zuwerden. InFriedenszeiten dürfen Soldaten nicht ohneZustimmungdes Eigentümers inPrivatwohnungen einquartiert werden.

Die Magna Charta ist ein historisches Beispiel fürdie Kodifikation grundrechtlicher Garantien, diefastausschließlich auseiner langen Liste relativ konkreter regelförmiger Normen bestehen. Allerdings gibtes keine moderne Verfassung mitgrundrechtlichen Garantien, indenen nicht wenigstens eine Auswahl derklassischen Grundfreiheiten zu finden wäre. Etwas realitätsnäher ist daher der Fall des Staates S2. InderVerfassung des Staates S2existieren neben konkreten Regeln wieinS1auchabstrakte Bestimmungen hinsichtlich klassischer Grundfreiheiten wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit usw. Diese Bestimmungen werden aber vonGerichten inS2 nach allgemein anerkannter Praxis lediglich alsverkürzender Hinweis aufeine Reihe konkreter Regeln aufgefasst, deren genauer Inhalt entweder aufeine spezifische ursprüngliche Intention des Verfassungsgebers, odereinen spezifischen historisch verankerten Konsens derRechtsgemeinschaft zurückgeführt wird. DieAufgabe desRichters, sowiesieinS2verstanden wird, istes, durch genetische undhistorische Forschung, nicht aberdurch Anwendung abstrakter Verfassungsprinzipien, diejeweils relevanten konkreten Regeln aufzufinden. Sofern es keine hinreichend klare spezifische Intention desVerfassungsgebers oderkeinen hinreichend stark verankerten historischen Konsens derRechtsgemeinschaft gibt, giltals Auffangregel, dass derGesetzgeber rechtlich freiistzutunundzulassen, wasihmbeliebt. IndenUSAsindSpielarten einer solchen Auffassung unter demTitel Originalists“ sind skeptisch gegenüber Gerichten, die uneinflussreich.5 „ „ Originalism“ terBerufung aufabstrakte Prinzipien undgestützt durch allgemeine praktische Argumente dieBefugnis beanspruchen, Entscheidungen politisch verantwortlicher Akteure auszuhebeln. Insoweit ist die normative Plausibilität undAttraktivität eines solchen Ansatzes engverknüpft miteiner Reihe vonempirischen undnormativen Fragen, die die komparative Leistungsfähigkeit undLegitimität gerichtlichen Entscheidens betreffen.Jedenfalls wennes ineinem Staat unter Richtern undJuristen einen Konsens gäbe, dierichtige Methode grundrechtlicher Analyse Originalism“ dass einsoverstandener „ sei, würde die Prinzipientheorie als Theorie des positiven Rechts inS2 scheitern. Die Praxis in S2 würde keine hinreichenden Anknüpfungspunkte für eine prinzipientheoretische Rekonstruktion bieten. DieBespiele verdeutlichen, dass derStatus derPrinzipientheorie als allgemeine Theorie der Grundrechte in liberal-demokratischen Verfassungsstaaten auch von empirisch-deskriptiven Fragen abhängt. Diese Fragen sollen hierjedoch nicht vertieft werden. Sie stellen eineigenständiges Aufgabenfeld rechtsvergleichender Forschung dar.ImZentrum derfolgenden Analyse stehen stattdessen normative HerausforderungenandiePrinzipientheorie.

5

Siehe z.B. Robert Bork, The Tempting of America (1990). „ sind in denVereinigten Originalists“ Staaten einflussreich, bilden aber keine herrschende Meinung. Vondengegenwärtigen Verfassungsrichtern ließen sich, wennüberhaupt, allenfalls Scalia, Thomas undRehnquist als „ Originaqualifizieren. DieMehrheit desgegenwärtigen Supreme Courts undaller vorherigen Supreme lists“ Courts wardagegen nie indiesem Sinne „ . Originalist“

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

221

(3)ImRahmen dernormativen Kritik derPrinzipientheorie lassen sichdreiEbenen unterscheiden: Diemetaethische, diefunktional-institutionelle unddiemateriell-rechtsphilosophische. Aufdermetaethischen Ebene stellt sichdieFrage, obGrundrechte als Prinzipien Maßstäbe rationalen Entscheidens bieten. WenndieBestimmung derjenigenRechtspositionen, diedefinitiv gegen staatliche Eingriffe geschützt sind, voneiner Verhältnismäßigkeitsprüfung imkonkreten Fall abhängt, ist die Bestimmung dieser Positionen nicht inssubjektive Belieben derRichter gestellt? Gibtes rationale Kriterien für richtiges Abwägen?6 Hier gibt es subjektivistische, relativistische undnonkognitivistische Positionen, nachdenen essolche Kriterien nicht gibt. Vongrößerem Interesse alsmetaethische Fragen sindimangloamerikanischen Rechtskreis jedoch funktionalinstitutionelle Argumente. Aufderfunktional-institutionellen Ebene wird geltend gemacht, dass selbst wenn es Maßstäbe richtigen Entscheidens imBereich derVerhältnismäßigkeitsprüfung gibt, Gerichte keinen komparativen Vorteil gegenüber anderenInstitutionen haben, imKonfliktfall darüber zubefinden, obeine Maßnahme tatsächlich verhältnismäßig warodernicht. EinVerfassungsgericht, so würden Originalists behaupten, dassichvonderPrinzipientheorie inseinem Verständnis vonGrundrechten anleiten lässt, überfordert seine Leistungsfähigkeit unduntergräbt seine Legitimität. Alternative Grundrechtskonzeptionen, wiesie etwa imStaat S2 vorherrschen, seien vonsolchen Problemen ingeringerem Maße belastet unddeshalb vorzugswürdig. DieAuseinandersetzung mitdieser Position inallihren Facetten istkomplex. Hier muss es ausreichen darauf hinzuweisen, dass Verfassungsgerichte derKomplexität empirischer Fragen oderdertiefen Strittigkeit normativer Fragen imkonkreten Fallauch nach derPrinzipientheorie dadurch begegnen können, dass sie demdemokratisch legitimierten Gesetzgeber jeweils aufformellen Prinzipien beruhende EinschätzungsundErmessensspielräume einräumen.7 ImVordergrund dieses Beitrages steht stattdessen eine dritte Ebene dernormativenKritik, dieals materiell-rechtsphilosophische Kritik bezeichnet werden kann. Die Frage ist, ob eine Grundrechtstheorie, deren strukturelles Herzstück derVerhältnismäßigkeitsgrundsatz ist, mitden Grundelementen liberaler Gerechtigkeitstheorien vereinbar ist. III. Liberale MenschenrechtsGrundrechte

undGerechtigkeitstheorien unddie Struktur der

ImZentrum dermateriell-rechtsphilosophischen Kritik derPrinzipientheorie steht die Behauptung, dass eine strukturelle Theorie, diedendefinitiven Grundrechtsschutz von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig macht, normativfehlerhaft ist.Grundrechte positivieren vernunftrechtliche Postulate, wie sie der Tradition des Politischen Liberalismus eigen sind. Diese vernunftrechtlichen Postulate, so wirdbehauptet, lassensich nicht adäquat indervonderPrinzipientheorie postulierten Struktur abbilden. Insbesondere haben Grundrechte als vernunftrechtliche Postulate, so wiesie inder liberalen Tradition verstanden werden, einbesonderes Gewicht gegenüber kollektiven Gütern undwerden nicht einfach gegen sieabgewogen. Inderpraktischen Philosophie derGegenwart findet diese Idee ihren Ausdruck zumBeispiel inDworkins Bezeichnung 6

7

Einegute Einführung bieten dieBeiträge inR.Chang (Hg.), Incommensurability, Incomparability and Practical Reason (1998). Marius Raabe, Grundrechte undErkenntnis (1998). Vgl.auch Robert Alexys Diskussion desstrukturellen undepistemischen Ermessens inders., Postscript, ATheory ofConstitutional Rights (2002), S. 394 undS. 414.

222

Mattias Kumm

von Rechten als Trümpfen (rights as trumps)8 undder Unterscheidung zwischen und„policies“ .9Sie findet auch Ausdruck in Rawls’Behauptung derabprinciples“ „ soluten Priorität vonRechten gegenüber demGuten10 oderinderHabermasschen Idee vonGrundrechten als Brandmauern.11 Dagegen können derPrinzipientheorie zufolge sowohl individuelle Rechte alsauch kollektive Güter Gegenstand vonPrinzipien sein. Indiesem Sinne konkurrieren Rechte undkollektive Güter auf dergleichen Ebene. Die Prinzipientheorie räumt Rechten gegenüber kollektiven Gütern strukturell keinen Vorrang ein. DieFrage ist, ob eine Theorie derGrundrechte, die die Asymmetrie zwischen individuellen Rechten und kollektiven Gütern nicht abbildet, deswegen fehlerhaft ist, undwie gegebenenfalls alternative Strukturen aussehen sollen. Es gibt dreiGrundideen des Politischen Liberalismus, diesich inderBehauptung vonderPriorität derRechte artikulieren. Siewerden imFolgenden alsAntiperfektionismus, Antikollektivismus undAntikonsequentialismus bezeichnet. Jede dieser dreiIdeen ist komplex undimDetail umstritten. Hier reicht es jedoch aus, denjeweils tragenden Grundgedanken darzustellen. Zweck derDarstellung istes, knapp aufzuzeigen, obund welche spezifischen Anforderungen aneine adäquate allgemeine Strukturtheorie der Grundrechte sich mitdiesen Ideen verbinden.

1. Antiperfektionismus:

Ausgeschlossene Gründe und„ Rights

as Trumps“

Die Idee liberaler Gerechtigkeit ist engverknüpft mitdemallgemeinen Verbot, dem Einzelnen eine bestimmte Konzeption desGuten Lebens mitRechtszwang aufzuerlegen. Es istnicht Aufgabe des Staates, demEinzelnen vorzugeben, worin ersein Heil zusuchen hat. InderTradition des Politischen Liberalismus findet dieses zumTeil Ausdruck inderFormulierung vonFreiheits- undSchrankenklauseln. Art.4 S.1 derDéLa liberté claration des droits de l’ homme et ducitoyen von 1789 etwa bestimmt: „ exercise des droits consiste à pouvoir faire tout ce, quine nuit pas à autrui: ainsi l’ naturels dechaque homme n’ a debornes quecelles, quiassurent auxautres membres delasocieté lajouissance deces mêmes droits.“ Freiheit..., sofern sie Kantschreibt: „ mitjedes anderen Freiheit nacheinem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ 13 isteinjedem Menschen zustehendes Recht.12 AuchJohnStuart Mills „harmprinciple“ drückt dieselbe Idee aus.Allen gemeinsam istdieIdee, dass dieKlasse vonGründen, diezurRechtfertigung vonFreiheitseingriffen herangezogen werden können, begrenzt ist. Sie istenger, als die Klasse vonGründen, fürdiesich derjenige interessiert, der bemüht ist, seinem Leben SinnundFormzugeben. Insbesondere istdieBerufung auf eine anspruchsvolle Konzeption desGuten imRahmen derRechtfertigung rechtlicher Beeinträchtigungen nicht zulässig. Gründe, die sich auf die Realisierung einer anspruchsvollen Konzeption des Guten beziehen, sind schlichtweg keine Gründe, die einen Eingriff indieFreiheit rechtfertigen können.14 Siesindalsrechtfertigende Gründe kategorisch ausgeschlossen (excluded reasons).

8 Ronald Dworkin, What Rights DoWe Have, in: ders., Taking Rights Seriously (1978), S. 266. 9 Ronald Dworkin, Principle, Policy, Procedure, in: ders., A Matter of Principle (1985), S. 72. 211. 10 John Rawls, Political Liberalism (1993), S. 173– 11 Jürgen Habermas, Faktizität undGeltung (1992), S. 315. 12 Immanuel Kant, Metaphysik derSitten, in:Kants gesammelte Schriften, hg.v.d.Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907/14, S. 203– 494 (217). 13 John Stuart Mill, OnLiberty. 14 Diese Position istnicht unumstritten. Vgl. kritisch dazuz.B. Joseph Raz, The Morality of Freedom (1986), S. 134 ff.

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

223

EinBeispiel zurIllustration: DerGesetzgeber eines Gemeinwesens beschließt,

dass jeder Schultag inöffentlichen Schulen miteinem Gebet –demApostolischen Glaubensbekenntnis –begonnen wird. ZurBegründung führt er an,dass eine solche Praxis vielleiste, umdasSeelenheil eines großen Teils derBürger zufördern. Studien hätten ergeben, dass eine solche Praxis außerordentlich hilfreich sei, umjedenfalls einer großen Mehrheit vonBürgern denchristlichen Glauben näher zubringen. Zwar sei es demGesetzgeber bewusst, dass atheistische, agnostische, muslimische und jüdische Eltern undKinder nicht glaubten, dass ihrSeelenheil davon abhinge, dem christlichen Glauben näher zukommen. Abereine sorgfältige Prüfung aller theologischen undphilosophischen Argumente imParlament undinöffentlichen Debatten habe jedenfalls dieparlamentarische Mehrheit davon überzeugt, dass diese Gruppen sich irrten.

Wenn ein Bürger gegen ein solches Gesetz Verfassungsbeschwerde erheben wiewürde ein Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit eines solchen Gesetzes begründen? Es steht zuerwarten, dass kein Gericht inliberal-demokratischen Verfassungsstaaten sich auf die theologischen undphilosophischen Fragen einlassen würde, obeinobligatorisches Schulgebet geeignet underforderlich ist, um das Seelenheil derBürger zugewährleisten. Es würde auch nicht prüfen, obdie Förderung desSeelenheils derBürger gewichtig genug ist,umdenintensiven Eingriff indie Religions- undWeltanschauungsfreiheit der Eltern undKinder zu rechtfertigen. Es würde vielmehr feststellen, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, sich umdasSeewürde,

lenheil seiner Bürger zukümmern unddiephilosophischen undtheologischen Fragen aufsichberuhen lassen. DasSeelenheil derBürger, so könnten Verfassungsgerichte plausibel behaupten, ist als Grund zurRechtfertigung vonFreiheitseingriffen ausge-

schlossen.

AlsReaktion aufdievernichtende Niederlage vordemhöchsten Gericht erlässt der Gesetzgeber daraufhin einidentisches Gesetz, führt nunaberzurRechtfertigung ein anderes Argument an.Esginge ihmgarnicht primär umdasSeelenheil derBürger. Es ginge primär umdievonsoziologischer Forschung belegten nützlichen gesellschaftlichenKonsequenzen, diemiteiner größeren Verbreitung desChristentums verbunden seien. Die Kriminalität würde sinken, die Konsequenzen dernotwendigen sozialen Modernisierung würden durch wohlfahrtsorientierte Privatinitiativen gemildert werden

undLeistungsträger würden trotz hoher Besteuerung ausSolidarität weiter imLande hart arbeiten, anstatt abzuschlaffen oder in Niedrigsteuerländer abzuwandern. Die Sorge umdasSeelenheil derBürger seilediglich einzusätzlicher Faktor, derimRahmenderGesamtabwägung Berücksichtigung fand. Wiesollte einVerfassungsgericht miteiner solchen Argumentation umgehen? Zum einen wäreklar, dass dasSeelenheil derBürger auchalsAbwägungsfaktor keine Rolle spielen darf. Wennandere Gründe nicht ausreichen, umdasGesetz zurechtfertigen, istes unverhältnismäßig. Gründe, diesichaufdasSeelenheil derBürger beziehen, sind nicht nurals unzulässige Eingriffsgründe imersten TeildesVerhältnismäßigkeitgrundsatzes abzuweisen. Sie sind auch keine Gründe, die imRahmen derAbwägung zugunsten des Gesetzes aufdieWaagschale gelegt werden dürfen. Die Idee ausgeschlossener Gründe istfolglich sowohl aufderEbene derzulässigen Eingriffsgründe als auchbeiderAbwägung vonpraktischer Bedeutung. Wie wäre es zu bewerten, wenn das Gesetz auch unter Ausschluss aller das Seelenheil derBürger betreffenden Gründe verhältnismäßig wäre? Hierstellt sichdie Frage, obesdemGesetzgeber erlaubt ist,ansichzulässige Ziele mitMitteln zufördern, dieals selbständiges Zielverboten wären. DieFrage ist, obdieFörderung christlicher Religiosität mitRechtszwang einzulässiges Mittel ist, ansonsten zulässige wirtschaft-

224

Mattias Kumm

liche undsoziale Ziele zuverfolgen, oder obes hiereinkategorisches Verbot einer solchen Zweck-Mittel-Relation gibt. Zukategorischen Verboten bestimmter ZweckMittel-Relationen wirdunten mehrzusagen sein. DasBeispiel zeigt, dassdieIdeeausgeschlossener Gründe (excluded reasons) ein selbstständiges Strukturmerkmal einer liberalen Grundrechtskonzeption ist. Ebenfalls deutlich geworden ist jedoch, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Struktur hinreichend offen ist, umdie Idee ausgeschlossener Gründe ohne Weiteres zu integrieren. DerAntiperfektionismus als liberales Gerechtigkeitspostulat lässt sich im Rahmen derPrinzipientheorie so operationalisieren, dass bestimmte Gründe ausder Klasse von Gründen ausgeschlossen werden, die Freiheitseingriffe rechtfertigen können. Innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann solch einAusschluss vonGründen aufzweiEbenen stattfinden. Dieerste wirdbetreten, wennes derZweck einer gesetzlichen Maßnahme ist, bestimmte religiöse Praxen zufördern (etwa die Einführung eines Schulgebets). Einsolcher Zweck ist illegitim. DieVerhältnismäßigkeit scheitert schon amersten Merkmal. Wenneine Maßnahme aus anderen legitimen Gründen beschlossen wird, aberdenEffekt hat, solche Praxen zufördern, darfdieser Effekt, selbst wenn er vonder Mehrheit als erstrebenswert erachtet wird, nicht zugunsten derMaßnahme indieAbwägung eingeführt werden. ZumTeilwirdinderangloamerikanischen Literatur jedoch dieAuffassung vertreten,dass dieIdeeausgeschlossener Gründe denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nurergänzt, sondern ersetzt. DieStrukturidee ausgeschlossener Gründe ist–überden spezifischen Anwendungsfall des Ausschlusses perfektionistischer Gründe hinaus –

vonGrundrechtstheoretikern indenUSAalsallgemeine Strukturtheorie derGrundrechte verstanden worden.15 DieIdee ausgeschlossener Gründe undnicht derVerhältnismäßigkeitsgrundsatz seiHerzstück dermateriellen Grundrechtsprüfung. Insbesondere

lässt sich Dworkins Idee von Rechten als Trümpfe so deuten,16 dass die Idee der ausgeschlossenen Gründe zentrale Bedeutung nicht nurfürdieStruktur derReligionsfreiheit hat, sondern fürdie Grundrechte allgemein. EinGrundrecht zuhaben heißt, in einem bestimmten Freiheitsbereich absoluten Schutz gegen eine bestimmte Rechtfertigung vonEingriffen zugenießen. DerSchutzbereich des Grundrechts wirdunter Einbeziehung derausgeschlossenen Gründe definiert. DasGrundrecht derReligions- und Weltanschauungsfreiheit isteinabsolutes Recht darauf, nicht zwecks Förderung einer offiziell sanktionierten Religion inseiner Religionsfreiheit eingeschränkt zuwerden. Ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu haben heißt, nicht wegen des Inhalts der politischen Überzeugung dersich Versammelnden in dieser Freiheit eingeschränkt werden zukönnen. Das, wofür oderwogegen demonstriert wird, ist einunzulässiger Grund zurBeschränkung derVersammlungsfreiheit. DasGrundrecht derMeinungsfreiheitistdasRecht, nicht wegen desInhalts seiner Meinung inseiner Meinungsäußerung eingeschränkt zuwerden. ObdieMeinung unhaltbar, geschmacklos, undemokratisch oderdummist, ist irrelevant fürseine grundrechtliche Beurteilung unddarf nicht als Grund indieAbwägung miteinbezogen werden. Indiesem Sinne sindRechte Trümpfe gegenüber einer grundrechtsspezifisch definierten Klasse vonGründen, diefüreine moralische oderpolitische Beurteilung einer Handlung durchaus relevant sind, aberim

15 So insbesondere Richard Pildes, Avoiding Balancing: The Role ofExclusionary Reasons inConstitutional Law,45 Hastings LawJournal (1993/94), S. 711 undders., The Structural Conception of Rights

andJudicial Balancing, 6 Review of Constitutional Studies (2002), S. 179. klar, ob Dworkins Grundrechtskonzeption allgemein auf der Idee ausgeschlossener

16 Es ist nicht

Gründe beruht. Dafür spricht Ronald Dworkin, Is there a Right to Pornography, in: A Matter of Principle (1985), S. 335 ff. undders., Freedom of Speech, in: Freedom’s Laws (1996). Unklarer dagegen ist Dworkins Position inLiberalism, in:AMatter of Principle (1985), S. 181ff.

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

225

Rahmen dergrundrechtlichen Rechtfertigung kein Gewicht haben. Indiesem Sinne sindGrundrechte absolut undnicht Gegenstand einer Abwägung. Eine Grundrechtskonzeption, fürdie die Idee ausgeschlossener Gründe imZentrumsteht unddiefürsich behauptet, ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung auszukommen,leidet unter einer Reihe vonProblemen. Dasgrößte Problem ist,dass eine solche Grundrechtskonzeption einen Kernbereich dessen, wovor Rechte schützen sollen, ausblendet unddeshalb zu eng ist. Grundrechte, so wiesie allgemein verstanden werden, schützen nicht nurdavor, dass dieöffentliche Gewalt ausGründen handelt, die fürdenjeweiligen Handlungsbereich normativ irrelevant sindunddeshalb kategorisch alsRechtfertigungsgründe ausgeschlossen sind. Siesollen auchdavor schützen, dass jemand einen intensiven Eingriff in seine Freiheit zu dulden hat, ohne dass die

rechtfertigenden Gründe hinreichend gewichtig sind. ZurIllustration: Awirdzumehrjähriger Haftstrafe verurteilt, weiler beirotübereine Ampel gefahren ist, obwohl er niemanden gefährdet hat. DerGrund fürdieBestrafung istgeneral- undspezialpräventiv undzielt letztlich aufdieErhöhung derallgemeinen Verkehrssicherheit. Esbesteht hier kein Zweifel, dass die Erhöhung derVerkehrssicherheit ein legitimer Grund fürdie Sanktionierung verkehrswidrigen Verhaltens ist. Das grundrechtsrelevante Problem hier ist ein massives Missverhältnis zwischen der Intensität des Eingriffs unddem Gewicht derrechtfertigenden Gründe. DieIntensität des Eingriffs istaußerordentlich hoch, während derGradderSteigerung derVerkehrssicherheit vergleichsweise bescheiden ist. Eine Grundrechtskonzeption, dieBürger nicht vorkrass unverhältnismäßigen Maßnahmen dieser Artschützt, ist fehlerhaft. Esüberrascht deshalb kaum, dass aucheine Grundrechtskonzeption, diedieIdee ausgeschlossener Gründe ins Zentrum rückt, Raumfüreine Verhältnismäßigkeitsprüfung zulassen hat. DieMeinungsfreiheit magindenUSA,anders als etwa inder Bundesrepublik, vorinhaltlichen Verboten absoluten Schutz genießen. Nazi-Aufmärsche involler Aufmachung, mitUniform undHakenkreuzfahnen, dürfen selbst ineinem Stadtteil abgehalten werden, derüberwiegend vonBürgern jüdischer Herkunft bevölkertwird, vondenen viele Holocaust-Überlebende sind.17 Aberdas heißt auch inden USAnicht, dass einGesetzgeber dieMeinungsfreiheit einschränken kann, wieerwill, sofern ernurausanderen Gründen handelt. WennderGesetzgeber etwaausGründen deröffentlichen Ordnung „time, place andmanner restrictions“hinsichtlich derAusübung derRedefreiheit festlegt, darf er das nurtun, sofern solche Restriktionen verhältnismäßig sind.18 Damit wird deutlich, dass die Idee ausgeschlossener Gründe lediglich eine Ergänzung derVerhältnismäßigkeitsstruktur darstellt. Sie kannsie nicht

ersetzen.

Zudem isteine Grundrechtskonzeption, dieeinseitig aufkategorisch ausgeschlossene Gründe ausgerichtet ist,ausanderen Gründen zueng.Sielegtnahe, dieListe von

Rechten außerordentlich engzufassen. DerBezug zukategorisch ausgeschlossenen privacy“ und„ freedom Gründen besteht unmittelbar vorallem inSchutzbereichen von„ (Schutz vorperfektionistischen Gründen) und„ freedom ofassociation“ und ofreligion“ (Schutz vorGründen, diesich aufeine inhaltliche Bewertung der „ freedom ofspeech“ viewpoint discrimination“ ]). Dagegen gibt es etwa bezogenen Positionen beziehen [„ Dworkin zufolge keinallgemeines Freiheitsgrundrecht oderRecht aufBerufsfreiheit. Er 17 Vgl. National Socialist Party v. Skokie, 432 U.S. 43 (1977). 18 In Unites States v. O’Brien entwickelte der U.S. Supreme

Court die kanonische Formel, dass „ incidental restrictions onalleged First Amendment Freedoms mustfurther animportant orsubstantialgovernment interest andmustbe nogreater thanis essential tothefurtherance ofthat interest“ ,

391 U.S. 367 (1968).

226

Mattias Kumm

bezweifelt auch, dass es sinnvoll ist,einRecht aufVertragsfreiheit (freedom ofcontract) oder Eigentum anzunehmen19, obwohl deramerikanische Verfassungstext indieser Hinsicht eindeutig ist. Indiesem Sinne begrüßt erdieextreme Zurückhaltung, dieder Supreme Court nachdemEndederLochner-Ära20 indiesem Bereich zutage gelegt hat. EineGrundrechtskonzeption, fürdiedieIdeekategorisch ausgeschlossener Gründe im Zentrum steht, kannzwareinerseits nicht ganz aufdieVerhältnismäßigkeitsprüfung verzichten, neigt aberandererseits dazu, klassische Schutzbereiche grundrechtlicher Gewährleistung auszuklammern. Damit kanneinesolche Theorie weder dieGrundrechtspraxis außerhalb derUSArekonstruieren, noch ist sie allgemein normativ überzeugend. Überzeugender ist eine Strukturtheorie, die sowohl denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz unddieIdeeausgeschlossener Gründe alskomplementäre Strukturmerkmale

einer liberalen Menschenrechts- undGrundrechtstheorie begreift.

2. Antikollektivismus:

Starke Vermutungen und„ Rights

as Shields“

Diezweite ArtundWeise, aufdie Rechte Priorität beanspruchen, findet sich inder Beziehung zukollektiven Gütern oderdem„ . HieristdiePriorität Allgemeininteresse“ derindividuellen Rechte eindeutig nicht kategorischer Natur. Wenneinkollektives Gut (öffentliche Sicherheit) als Rechtfertigung eines Eingriffs ineinGrundrecht (etwa des Verbots desVerkaufs vonLand-Luft-Projektilen als Eingriff indieVertragsfreiheit) geltend gemacht wird, ist klar, dass ein Grundrecht an irgendeinem Punkt nachgeben muss. Indiesem Zusammenhang kanndie Priorität vonRechten nurbedeuten, dass Rechte ernst genommen werden müssen, undihnen dasGewicht eingeräumt wird, das ihnen gebührt.

Dies ist einVerständnis der Priorität vonRechten, wiees sich imRahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes leicht darstellen lässt. Estrifft zwarzu,dass individuelle Rechte undkollektive Güter imRahmen derVerhältnismäßigkeitsprüfung aufeiner Ebene angesiedelt sind. Aber das Abwägungsgesetz21 sichert eine angemessene Gewichtung individueller Interessen: Je größer die Intensität des Eingriffs ist, desto gewichtiger müssen die rechtfertigenden Gründe sein. Damit bietet das Abwägungsgesetz eine formale Struktur fürdieAnalyse derKollision derinKonflikt stehenden individuellen undkollektiven Güter. Obeinbestimmter Eingriff schwerwiegend istoder ehernicht, verlangt eineAnalyse undBewertung derjeweils relevanten Güter. Diese hat durch jeweils gute Gründe belegt zuwerden. Gleiches trifft fürdie Analyse undBewertung derrechtfertigenden Gründe zu.DieMetapher derAbwägung darf nicht verschleiern, dassesderSache nachbeiderAbwägung unter Umständen umeinetheoriegesättigte Erörterung vonGründen geht. Es handelt sich nicht lediglich umeineinfaches Auflisten vonFaktoren, denen imWegeintuitiver Klassifikation schnell einLabel oder„ wie„wichtig“ weniger wichtig“ aufgedrückt wird. DieAbwägung istdamit derOrt fürdieInkorporation derjeweils richtigen materiellen Wertungen, diederBehauptung der„Priorität vonRechten“ zugrunde liegen. AuchwenndiePrinzipientheorie diePriorität vonRechten nicht strukturell reflektiert, bedeutet dasnicht, dass eine solche Prioritätnicht angemessen imRahmen einer solchen Struktur ausgedrückt werden kann. 19 Siehe dazuRonald Dworkin, WhatRights dowehave?, in:Taking Rights Seriously (1978), S. 266ff. 20 Die Lochner-Ära bezeichnet eine Zeit etwa zwischen 1897 und1937, inderderSupreme Court einige sozialreformatorische Gesetzgebungsprojekte unter Hinweis aufdieEigentumsgarantie oder

dieVertragsfreiheit fürverfassungswidrig erklärte. Vgl. Michael J. Phillips, TheLochner Court, Myth and Reality: Substantive Due Process fromthe 1890s to the 1930s (2001). 21 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte (1986), S. 146.

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

227

istnicht klar, wiealternative Strukturen aussehen sollten, diedieIdee der vonRechten gegenüber kollektiven Gütern besser reflektieren. Wenneinmal dieIdeederabsoluten Priorität vonindividuellen Rechten gegenüber kollektiven Gütern als unplausibel verabschiedet worden ist –eine liberale Gerechtigkeitskonzeption , gibtes nureinen alternativen, verlangt nicht denfreien Verkauf vonStinger-Raketen – Zudem

Priorität

allerdings normativ weniger attraktiven Strukturvorschlag. Nach einer Konzeption von individuellen Rechten, die Fred Schauer folgend genannt werden soll, hatderRechtsträger zwarweniger als einen Rights as Shields“ „ Trumpf, aber mehr, als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, wenn in den Schutzbereich eines Rechts eingegriffen wird. Nachdieser vermittelnden Theorie sind nurGründe, dieeinebesondere Stärke haben (reasons ofa special force) ausreichend, umEingriffe indenSchutzbereich zurechtfertigen.22 Diese Struktur findet ihren Niederschlag inderDogmatik desamerikanischen Verfassungsrechts. WennderEingriff indenSchutzbereich eines „fundamentalen Interesses“festgestellt worden ist (das Äquivalent zumEingriff indenSchutzbereich eines Grundrechts), müssen Eingriffe durch zwingende Interessen derAllgemeinheit (compelling state interests) gerechtfertigt sein.23 Es ist nicht ganz klar, wieeinsolcher Test zuverstehen ist. Aufdereinen Seite zwingende Interessen derAllgemeinheit“ könnte dieFormel „ a lleInteressen umfassen, diehinreichend gewichtig sind, umnachMaßgabe desVerhältnismäßigkeitsgrundsatzes fundamental interests“ zurechtfertigen. Damit handelte es sichlediglich um Eingriffe in„ dieAnwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufEingriffe inbesonders gewichtige Interessen. Eine zweite Interpretation ist konzeptionell interessanter, aber normativ problematischer. DieFormel könnte tatsächlich aufhöhere Anforderungen an eine Rechtfertigung verweisen, als diedurch denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz festgelegten. Dannaberstellt sichdieFrage, worin genau solche höheren Anforderungen bestehen sollen undwiesolche Anforderungen gerechtfertigt werden können. Nachder Prinzipientheorie sindGrundrechte Prinzipien undPrinzipien Optimierungsgebote. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt dieindividuell notwendigen undzusammen hinreichenden Bedingungen fürdieoptimale Realisierung dergrundrechtlich geschütztenGüter. Wieobendargelegt, erlaubt diedurch denVerhältnismäßigkeitsgrundsatz strukturierte Prüfung die angemessene Entfaltung derjeweils richtigen materiellen Gerechtigkeitserwägungen. Esistnicht ersichtlich, wieeine mehralsoptimale RealisierungvonRechten aufKosten vonkollektiven Gütern gerechtfertigt werden kann. Es istallenfalls denkbar, dass es institutionelle Erwägungen geben könnte, diees rechtfertigen, Gerichte strukturell darauf festzulegen, Rechte überdasoptimale Maß hinaus durchzusetzen. Ähnlich wieein Bogenschütze nicht genau sein Ziel anpeilt, sondern einen Punkt überdemZiel, umdasZielzutreffen, könnten Gerichte institutionelldarauf festgelegt werden, Grundrechte überdasoptimale Maßhinaus durchzuset-

zen. Eine solche Festlegung ist dann zweckmäßig, wennsie eher geeignet ist, den durch die Prinzipientheorie geforderten optimalen Grundrechtsschutz zugewährleisten, alseine direkte Festlegung derGerichte aufdieoptimale Realisierung vonGrundrechten. Eine solche Festlegung könnte z.B. zweckmäßig sein, umdenGesetzgeber dazuzuzwingen, sichernsthafter mitGrundrechten auseinanderzusetzen. Möglicherweise könnte sieaucheine etwaige Tendenz derGerichte, demGesetzgeber einen zu 22 Fred Schauer, Rights as Rules, 5 Law & Philosophy (1987), S. 115; ders., A Comment on the 434; ders., Exceptions, 58 University of Structure of Rights, 27 Georgia LawReview (1993), S. 415– Chicago LawReview (1991). 23 Vgl. statt vieler Erwin Chemerinsky, Constitutional Law(2002), S. 766 f.

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Kumm

großen Spielraum einzuräumen, korrigieren. FredSchauers Konzeption vonRechten findet insolchen institutionellen Erwägungen ihre Grundlage.24 Obeine solche Grundrechtskonzeption imErgebnis besser oder schlechter geeignet ist, einen optimalen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, ist eine empirisch-institutionelle Frage. Hier muss sie dahingestellt bleiben. Immerhin sindzweiPunkte klargeworden. Einerseits wirft dieFrage nacheiner adäquaten Strukturtheorie derGrundrechte alsTheorie des positiven Rechts auch empirisch-institutionelle Fragen auf. Andererseits bietet die Prinzipientheorie eine adäquate normative Struktur zurBeurteilung derZweckmäßigkeitkonkurrierender empirisch-institutioneller Festsetzungen. Damit istdiePrinzipientheorie jedenfalls aufdermateriell-rechtsphilosophischen Ebene überlegen. Obsie auchaufderdogmatischen Ebene überlegen ist,istdagegen eine Frage, dieerstdurch Beantwortung empirisch-institutioneller Fragen gelöst werden kann. Es bleibt festzuhalten, dass auf der rechtsphilosophischen Ebene die Prinzipientheorie eine Struktur bietet, dieliberale antikollektivistische Wertungen adäquat abbildenkann. Zudem gibtes aufdieser Ebene keine überzeugenden alternativen Strukturtheorien, dieliberale antikollektivistische Gerechtigkeitspostulate überzeugender zum Ausdruck bringen.

3. Antikonsequentialismus:

Irrelevante Konsequenzen stimmter Zweck-Mittel-Relationen?

undkategorische Verbote be-

Derdritte Vorwurf gegen die Prinzipientheorie ist, dass sie als konsequentialistische Theorie nicht in der Lage ist, der deontologischen Natur von Rechten gerecht zu werden. Wasgenau mitderdeontologischen Struktur vonRechten gemeint ist, undob eine solche Struktur normativ überzeugend ist, istGegenstand heftigen Streits.25 Die Grundidee ist, dass es inderMenschenwürde undderBedeutung personaler Autonomiebegründete Restriktionen gibt, dieals „side contraints“ gegenüber derVerfolgung öffentlicher Interessen kategorisch verbieten, dass dereinzelne als Mittel zurRealisierung gemeinsamer Interessen benutzt wird.26 Das soll auch dann gelten, wenneine Abwägung ergeben würde, dass derNutzen einer solchen Autonomiebeschränkung erheblich größer istals dieKosten. EinLeben lässt sichnicht miteinem odermehreren anderen Leben verrechnen, unddie Autonomiebeschränkung des einen kann nicht ohne weiteres mitdemAutonomiegewinn vonanderen aufgerechnet werden. Menschenrechte haben jedenfalls auchdieFunktion, diese deontologischen Restriktionen zurGeltung zubringen. DiePrinzipientheorie, dieGrundrechtsnormen alsOptimierungsgebote konstruiert, ist dagegen konsequentialistisch undwirdfolglich derantikonsequentialistischen Natur liberaler Menschenrechte nicht gerecht. ImFolgenden soll holzschnittartig anhand derDiskussion eines prominenten Beispiels kurz die Frage nach derExistenz deontologischer Restriktionen aufgeworfen werden (a) unddann deren Implikationen fürdie Prinzipientheorie als Strukturtheorie derGrundrechte aufgezeigt werden (b). 24 FredSchauer, Categories andtheFirst Amendment: APlayinThree Acts, 34Vanderbilt LawReview

(1981), S. 265 ff. Vgl. auch ders., Slippery Slopes, 99 Harvard Law Review (1985), S. 361 ff. und

25 26

ders. Freedom of Expression Adjudication inEurope andAmerica: ACase Study inComparative Con-stitutional Architecture, in: G.Nolte (Hg.), European andAmerican Constitutionalism (2005). Vgl.z.B. Samuel Scheffler, TheRejection ofConsequentialism (OUP1982) aufdereinen Seite und Shelley Kagan, TheLimits ofMorality (OUP 1989) aufderanderen. Füreine Konzeption vonRechten als ‚side-contraints‘vgl. Robert Nozick, Anarchy, State andUtopia

(HUP 1974), S. 30.

Liberale Gerechtigkeitstheorien

a) Deontologische

unddieStruktur derGrundrechte

Restriktionen

229

unddas Trolley-Problem

Die normativen Intuitionen, die die Grundlage für den philosophischen Streit um deontologische Restriktionen darstellen, lassen sichambesten anhand eines Beispiels darstellen. Eine vieldiskutierte Frage in der anglo-amerikanischen Literatur ist das Trolley- oder Straßenbahnproblem. Dieantikonsequentialistische Grundintuition soll anhand zweier Versionen des Gedankenexperiments verdeutlicht werden. Version 1: Eine außer Kontrolle geratene fahrerlose Straßenbahn ist kurz davor, fünfGleisarbeiter zuüberfahren. Dieeinzige Möglichkeit, diebleibt, umdenTodderfünf Gleisarbeiter abzuwenden, istes,dieBahnaufeinanderes Gleis zulenken. Aufdiesem Gleis arbeitet jedoch ein anderer Gleisarbeiter. Die Wahl des Gleises entscheidet darüber, obeiner oderfünfGleisarbeiter umkommen. Istesdemunbeteiligten Xerlaubt, durch Bewegen eines Hebels die Bahnaufdas andere Gleis zulenken?27 Version 2: Eine außer Kontrolle geratene undfahrerlose Straßenbahn ist kurz davor, fünf Gleisarbeiter zuüberfahren. Dieeinzige Möglichkeit zurRettung derfünf Gleisarbeiter besteht darin, dassXeinen neben denGleisen stehenden fetten Mannauf dieGleise stößt unddadurch dieBahnstoppt. DieEntscheidung denfetten Mannzu stoßen odernicht zustoßen entscheidet darüber, obeinMannoderfünfGleisarbeiter umkommen.28 WennX inbeiden Fällen handelt, sinddieKonsequenzen seiner Handlungen im Wesentlichen identisch. Inbeiden Fällen stirbt einer undfünfwerden gerettet. DiePositionen, diehierzu vertreten werden können, rangieren von1. einer Erlaubnis desX, in beiden Fällen deneinen zuopfern, umfünfzuretten,292. einem Verbot desX,inbeiden Fällen deneinen zuopfern, umfünfzuretten30 undder3. Ansicht, dass beide Fälle unterschiedlich zubewerten sind. Hiergibt es zwei logische Möglichkeiten. Soweit ersichtlich vertritt niemand dieAnsicht, dass XinVersion 2 denfetten Mannstoßen, aber nicht inVersion 1 dieBahnaufandere Gleise lenken darf. Alle Vertreter der3. Ansicht sindderAnsicht, dasseserlaubt ist,inderersten Version dieBahnaufeinanderes Gleis zulenken, auchwenneinGleisarbeiter dabei umkommt. Dagegen istes imzweiten Fall nicht erlaubt, denfetten Mannzustoßen.31 Diese Intuition erweist sich als stabil und hängt nicht etwadavon ab,dass imzweiten Beispiel Xjemanden stößt, während erim ersten Beispiel lediglich einen Schalter bedient. Eineüberzeugende Rechtfertigung fürdieunterschiedliche Bewertung vonVersion 1 und2 des Trolley-Problems bietet Walen.32 Walen argumentiert, dass es einen Unterschied macht, obmanjemandem Schaden dadurch zufügt, dass erals Mittel zu einem Zweck verwendet wird, oderobereinen Schaden alskontingenten Nebeneffekt anderer ansichzulässiger Handlungen erleidet. Inderzweiten Version des Problems wirdderfette MannMittel zumZweck. Dass er zuSchaden kommt, ist notwendiger 27 28

Dieses Problem wurde eingeführt vonPhillipa Foot, The Problem ofAbortion Double Effect, in: Dies., Virtues and Vices (1978). Diese Variation wurde eingeführt vonJudith Jarvis Thompson, Killing, Letting Problem, 59 The Monist (1976), S. 204– 217.

andthe Doctrine of Dieandthe Trolley

29 So diekonsequent konsequentialistische Position, z.B. Shelley Kagan, Anm.25. 30 Dasscheint inderdeutschen Strafrechtslehre dieh.M.zusein, vgl.Tröndle/Fischer 52. Aufl. 2004,

§ 34 Rdnr. 10. 31 Sofern diese Bewertung

32

richtig ist, wäre X in Version 1 durch Notstand gem. § 34 S. 1 StGB gerechtfertigt, während XinVersion 2 nicht durch Notstand gerechtfertigt wäre, weilseine Handlung gem.§ 34 S. 2 StGB nicht angemessen wäre. A.Walen, Doing, Allowing andDisabling: Some Principles Governing Deontological Restrictions, 80 214. Philosophical Studies (1995), S. 183–

230

Mattias Kumm

Erfolgsbestandteil desvonXausgeheckten Rettungsplans. Imersten Beispiel dagegen istderSchaden desGleisarbeiters nicht notwendiger Bestandteil desRettungsplanes. SeinSchaden istnurkontingent mitdemRettungsplan desXverbunden. DerSchaden des Gleisarbeiters ist keine notwendige Bedingung fürden Erfolg seines Rettungs-

planes, sondern lediglich eine unglückliche Folge. Warum aber ist dieser Unterschied relevant? Walen argumentiert, dass derjeweilige Anspruch deszuSchaden Kommenden gegenüber Xindenbeiden Beispielen grundlegend anderer Natur ist.DerAnspruch, nicht alseindieRettungstat ermöglichendesMittel (als enabler) inAnspruch genommen zuwerden, iststark undmöglicherweise sogar kategorischer Natur. SeinRecht, nicht alsMittel zumZwecke derRettung anderer inAnspruch genommen zuwerden, istnicht Gegenstand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. DerAnspruch, eine an sich gerechtfertigte Handlung wegen dermitdieser Handlung kontingent verbundenen persönlichen Nachteile zuvereiteln (als disabler), istdagegen erheblich schwächer.33 Diese, aberebenauchnurdiese ArtvonAnspruch, kannangemessener Weise Gegenstand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sein.

b) Bedeutung für die Prinzipientheorie Sollte es richtig sein, dass Xwenigstens ineinem derbeiden Fälle diefünfGleisarbeiter nicht retten darf, gibt es deontologische Restriktionen, die nicht angemessen von konsequentialistischen Theorien konstruiert werden können. Deontologische Restriktionen dieser Artsindnachverbreiteter Ansicht engmitderIdee derMenschenwürde undAutonomie verbunden. ImFolgenden wirdkurz dazulegen sein, wasdies fürdie Prinzipientheorie als allgemeine Strukturtheorie derGrundrechte bedeutet. Dabei ist zumeinen zufragen, obdieKonstellation, wiesie demTrolley-Problem zugrunde liegt, hinreichend ubiquitär ist, umfüreine allgemeine Theorie derGrundrechte vonBedeutung zusein (1). Sodann soll kurzgeprüft werden, obdie Prinzipientheorie nicht doch strukturell in der Lage ist, die deontologische Restriktionen innerhalb der vonihr etablierten Struktur darzustellen (2). (1) DasTrolley-Problem illustriert, dass die Prinzipientheorie jedenfalls nicht als universale Strukturtheorie fürdieRekonstruktion normativer Fragen taugt. Aberinwieweit ist die Existenz deontologischer Restriktionen relevant für eine Grundrechtstheorie? Einerseits istklar, dass dieallermeisten Probleme, mitdenen Verfassungsgerichte zutunhaben, nicht nurnichts mitTrolleys zutunhaben. DasAlltagsgeschäft verfassungsgerichtlichen Entscheidens betrifft in der Regel auch keine Probleme, die deontologische Restriktionen betreffen. InderRegel handelt es sich umFälle, beidenenindividuelle Rechte aufeine ArtundWeise mitRechten anderer oderkollektiven Gütern kollidieren, dass derVerhältnismäßigkeitsgrundsatz –allenfalls ergänzt durch dieIdeeausgeschlossener Gründe –eine angemessene Struktur fürdieLösung dieser Konflikte bietet. Dennoch wäre es ein Fehler anzunehmen, dass außerhalb von Gedankenexperimenten problemverliebter Philosophen deontologische Restriktionen keine Bedeutung haben. Problemkonstellationen, indenen deontologische Restriktioneneine zentrale Rolle spielen, sindverbreitet. Einige Beispiele sollen dasillustrieren.

33 Eineandere mitderDisabler/Enabler Asymmetrie verwandte, konsequentialistisch schwer überzeugendzubegründende strukturelle Asymmetrie besteht zwischen demRecht einer Person aufein Tun(etwa, dass X sie ausdemWasser zieht) unddemRecht aufeinUnterlassen (dass Xsie nicht insWasser stößt). Eine ähnlich asymmetrische Struktur besteht auchzwischen negativen Rechten gegen denStaat undRechten aufeinpositives TundesStaates. Ineinem solchen Fallistlediglich anstatt einer natürlichen Person dieGemeinschaft als Kollektivsubjekt Staat Rechtsadressat.

Liberale Gerechtigkeitstheorien

unddieStruktur derGrundrechte

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Hierbei soll die Argumentation zu Zwecken der Illustration thesenhaft zugespitzt werden. Daserste Beispiel betrifft dengegenwärtigen verfassungsrechtlichen Streit umdas Luftsicherheitsgesetz. DasGesetz, das imJanuar 2005 vomBundespräsidenten nur unter Anmeldung erheblicher verfassungsrechtlicher Zweifel unterzeichnet wurde, erlaubt denAbschuss eines Flugzeugs, das das Leben außerhalb des Flugzeugs befindlicher Menschen bedroht, selbst wennes mitunbeteiligten Dritten besetzt ist.Hier gehtes zumTeil34 umdieFrage deontologischer Restriktionen. Selbst wenneinsolcher Abschuss geeignet underforderlich sei, umeinegroße Anzahl vonMenschen zuretten, unddieAnzahl derdurch denAbschuss geretteten Personen dieAnzahl derdurch den Abschuss umkommenden Personen erheblich übersteigt, sei einsolcher Abschuss unzulässig. DasGrundrecht aufLeben seihierverletzt. Menschenleben dürfen nicht mit Menschenleben aufgewogen werden. So lassen sich diemateriellrechtlichen BedenMenschenleben kendes Bundespräsidenten undderLehre interpretieren. DerSatz „ gehtjedoch amdeontologischen dürfen nicht mitMenschenleben aufgewogen werden“ KerndesProblems vorbei. Wenndieobige Diskussion desTrolley-Problems zutreffend ist, ist stattdessen danach zu differenzieren, ob eine unschuldige Person geltend hiergilteindeontologisches Mittel zumZweck anderer zusein– Enabler“ macht, nicht als„ oderobdieunschuldige Person geltend macht, eine ansichzulässige HandVerbot – ist Disablers“ lungals Hindernis vereiteln zukönnen (als Disabler). DerAnspruch des„ isterEnablers“ Gegenstand einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. DerAnspruch des „ heblich stärker undnicht Gegenstand einer Abwägung. Dieunschuldigen Flugzeugpassagiere sind eindeutig „ –wenn es sie nicht geben würde, könnte die Disabler“ Maschine zurRettung anderer abgeschossen werden. Dieunschuldigen Passagiere sindnicht notwendiges Mittel zurHerbeiführung des Erfolges. Damit wäre derEingriff indasRecht aufLeben derunschuldigen Personen unter Umständen gerechtfertigt. Ein Gesetz, das unter entsprechend engen Voraussetzungen undunter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen zueinem Abschuss ermächtigt, wäredamit materiell verfas-

sungsgemäß.

Deontologische Restriktionen liegen weiterhin derUnterscheidung zwischen kriegsrechtlich zulässigen strategischen Bombardements undschlechthin verbotenen Terrorbombardements zugrunde. ImFalle strategischer Bombardements geht es darum, militärische Ziele zuzerstören. Etwaige Zivilistenopfer solcher Bombardements (collateral damage) machen solche Bombardements nicht rechtswidrig, sofern sieverhältnismäßigsind. Dagegen sollen Terrorbombardements, deren Zieles ist, dieBevölkerung zu terrorisieren undals Mittel zuverwenden, umVerhaltensänderungen dermilitärischen undpolitischen Führung herbeizuführen, schlechthin unerlaubt sein. AufdieVerhältnismäßigkeit kommt es dabei grundsätzlich nicht an.35 Fragen hinsichtlich deontologischer Restriktionen spielen auchbeiderDebatte um dieverbrauchende Embryonenforschung eine Rolle. DerKernderDebatte isthierdie Frage, wasfüreinmoralischer Status demEmbryo zuzuschreiben ist. Klaristjedoch, dass werdiePrämisse akzeptiert, dass Embryos Personenstatus haben, auchakzeptieren muss, dass dieverbrauchende Nutzung solcher Embryos schlechthin verboten ist undnicht Gegenstand einer Kosten-Nutzen-Analyse imRahmen derVerhältnismäßigkeitsprüfung ist.

34 DesWeiteren bestehen Zweifel, obderEinsatz derBundeswehr imRahmen derAmtshilfe mitArt. 35 GGvereinbar ist. 263. Walzer weist allerdings 35 Vgl.dieDiskussion inMichael Walzer, Just andUnjust Wars, S. 255– darauf hin,dass es Situationen geben kann, indenen Terrorbombardements zwarnicht gerechtfertigt,

aberentschuldigt werden können.

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Auchbeidergegenwärtigen Debatte umdasFolterverbot inDeutschland spielt die Frage nach deontologischen Restriktionen eine zentrale Rolle. Hierbei darf aberder strittige Fall der Folterandrohung eines Polizisten gegenüber einem Straftäter zur Rettung eines Menschenlebens nicht vonunstrittigen Fällen, indenen dasFolterverbot vondeontologischen Erwägungen gestützt wird, ablenken. Esmagzutreffen, dass das allgemeine Folterverbot alspolizeiliche Verhörmethode indenmeisten demokratischen Verfassungsstaaten ausschließlich inpragmatischen Erwägungen konsequentialistischer Natur seinen Grund hat. DerEingriff indieAutonomie des Einzelnen istaußerordentlich intensiv, dieGefahr, dass es sich beidemGefolterten umeinen Unschuldigenhandelt, immer gegeben, die Information, diedurch Folter gewonnen wird, regelmäßig unzuverlässig, die Möglichkeit psychologischer Verrohung undpolizeilichen Missbrauchs real undeffektive institutionelle Vorkehrungen zumSchutz gegen Missbrauch zuaufwendig, umFolter als Verhörungsmethode selbst inbegrenzten Fällen zuzulassen. ImRahmen einer gesamtgesellschaftlichen Folgenabschätzung könnte manso zudemErgebnis kommen, dass es gute Gründe gibt, Folter als polizeiliche Verhörungsmethode generell zuverbieten unddessen Gebrauch öffentlich zutabuisierenundstrafrechtlich zusanktionieren, selbst wenn, moralisch betrachtet, Folter im Einzelfall gerechtfertigt werden könnte. Abereinkonsequentialisches Fundament eines allgemeinen Folterverbots sollte nicht davon ablenken, dass polizeiliche Informationsbeschaffungsmaßnahmen auch durch deontologische Restriktionen begrenzt sind. Es magsein, dass imEinzelfall Folter gerechtfertigt seinkann. DemTerroristen, dergerade diegroße tickende Bombe gelegt hatundnunaufderPolizeiwache damit prahlt, dass inkurzer Zeithunderte von Menschen ihrLeben verlieren werden, sich aberweigert, Auskunft darüber zugeben, wosichdieBombe befindet, geschieht keinUnrecht, wennergefoltert wird. Einesolche Folter könnte gerechtfertigt sein, weilderEinzelne sichindiesem Fallschon als Mittel zumZweck derLebensgefährdung anderer gemacht hatunddurch seinVorverhalten verpflichtet ist, es hinzunehmen, auchals Mittel zumZweck verwendet zuwerden, im Rahmen des Zumutbaren die vonihmgeschaffene Gefahr zu neutralisieren. Aber selbst wennineinem solchen FallFolter zulässig wäre: Sofern einsolcher Terrorist sich alsfolterresistent erweisen sollte, wäre esjedenfalls unzulässig eine unschuldige, ihm nahestehende Person zufoltern, auchwenndiesdaseinzige Mittel seinsollte, ihndazu zubewegen, dasVersteck derBombe preiszugeben. DasFoltern desTerroristen wäre eine Maßnahme, dienachMaßgabe desVerhältnismäßigkeitsgrundsatzes zubeurteilenwäre. Das Foltern der unschuldigen nahe stehenden Person wäre kategorisch verboten. Obzweioderzwanzig Leben dadurch gerettet werden könnten, dieunschuldige Person zufoltern, wäre nicht entscheidend.36 Generell zeigen die Beispiele, dass es wenig hilfreich ist, voneiner allgemeinen Frontstellung zwischen Konsequentialisten aufdereinen Seite undDeontologen auf deranderen Seite auszugehen. Auchwenndieobennurangedeuteten Argumentationsmuster sicher nicht aufallgemeine Zustimmung stoßen undvieles strittig bleibt, sollte es immerhin deutlich geworden sein, dass die interessanten Fragen sich auf den materiellen Gehalt deontologischer Restriktionen beziehen. Nicht obesdeontologische 36

Schwierig wirdes, wenn mandie Anzahl drastisch steigert: Was, wenneine ganze Stadt zerstört mitHunderttausenden oderMillionen Toten? Was,wennes umdieRettung derWeltginge? Ist auch insolchen Fällen das Folterverbot kategorisch? Dies wirdauch unter Anhängern starker deontologischer Restriktionen unterschiedlich beurteilt. Kantzufolge wäre selbst derBestand der Welt kein Argument, deontologische Restriktionen auszuhebeln (fiat iustitia, pereat mundus!). Nozickzufolge kannes Ausnahmen geben inFällen von„ , ders., Anarchy, catastrophic moral horros“ würde

State and Utopia (1974), S. 29.

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unddieStruktur derGrundrechte

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Restriktionen gibt, sondern welchen Gehalt sie haben undwiesie begründet werden, istdiezentrale Frage. Sie sollte nicht durch falsche Frontstellungen verdeckt werden. Es ist nicht erforderlich, dass die oben dargelegten Argumente in allen Details Zustimmung finden. Es reicht fürdiehierverfolgten Zwecke, gezeigt zuhaben, dass deontologische Restriktionen nicht nurinesoterischen philosophischen Debatten eine Rolle spielen, sondern auchFragen berühren, dieGegenstand politischen undrechtlichen Entscheidens sindundGrundrechtsbezug aufweisen. DieFrage ist, obdiePrinzipientheorie eine Struktur bietet, inderdeontologische Restriktionen ihren Platz finden

können. Zunächst könnte mandaran denken, dieproblematische Zweck-Mittel-Relation als besonderen Faktor beiderAbwägung zuberücksichtigen. Sie wäre entweder beider Feststellung derIntensität desEingriffs oderdemGewicht derrechtfertigenden Gründe als relevanter Faktor zuberücksichtigen. Allerdings wärebeides künstlich. DieIntensitätdesEingriffs hinge nicht nurvondenKonsequenzen desEingriffs ab.DerZweck des Eingriffs, undinsbesondere der unzulässige Gebrauch des Eingrifferleidenden zu Zwecken anderer, müsste geeignet sein, dieIntensität des Eingriffs geradezu insUnermessliche zusteigern, umdasnahezu kategorische Verbot bestimmter Zweck-Mittel Relationen zurechtfertigen. Nicht weniger künstlich wärees, dasGewicht derrechtfertigenden Gründe wegen derproblematischen Zweck-Mittel-Relation so abzuschwächen, dass es wegen derproblematischen Zweck-Mittel-Relation praktisch nieausreichenwürde, einen intensiven Eingriff zurechtfertigen. Dieeigentümliche Schwierigkeit, dasProblem adäquater Zweck-Mittel-Relationen inderAbwägung zuthematisieren, sollte nicht überraschen. DieAbwägung ist kein angemessener Ort, das besondere Problem verbotener Zweck-Mittel-Relationen zu erörtern, weilinderAbwägung strukturell Zweck-Mittel-Relationen ausgeblendet werden.Aufdereinen Seite wirdzunächst dieIntensität des Eingriffs erörtert. DieKosten desEingriffs werden gleichsam aufdieeineWaagschale gelegt. Dannwirdgeprüft, was aufdieandere Waagschale zulegen ist.Gegenstände derAbwägung sindaufdereinen Seite dieKonsequenzen, diedereinzelne als Folge des Eingriffs zuerleiden hat, und aufderanderen Seite das,wasalsKonsequenz desEingriffs positiv zuBuche schlägt. Hierwirdscharf genau das getrennt undausgeblendet, wasselbstständiger Gegenstand normativer Problematisierung werden müsste: dieAngemessenheit derZweckMittel-Relation. Allerdings lassen sich kategorische Verbote bestimmter Zweck-Mittel-Relationen imRahmen derersten Stufe derVerhältnismäßigkeitsprüfung alsunzulässige Eingriffsgründe qualifizieren. DerEingriffsgrund, denXzunächst geltend machen könnte, istdie Rettung derfünfGleisarbeiter. Dasistoffensichtlich einGrund, deraufderersten Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinerlei Probleme aufwirft. Allerdings könnte manverlangen, dass nicht nurdas Fernziel –Rettung vonfünfMenschenleben –auf derersten Stufe geprüft wird, sondern auch notwendige Zwischenziele mitindie Definition des Eingriffsgrundes aufgenommen werden müssen. Derrelevante Eingriffsgrund wäre dann „ die Rettung vonfünf Menschenleben durch Stoßen des fetten . DieZulässigkeit eines solchen Zieles unddasProblem eines Mannes aufdieGleise“ unzulässigen Zweck-Mittel-Verhältnisses könnte andiesem Punkt erörtert werden. Weniger künstlich dagegen wärees, einen separaten Prüfungspunkt einzuführen. Ein solcher Prüfungspunkt, bei demin den relevanten Fällen Zweck-Mittel-Fragen genannt werden. Damit würde aneine Angemessenheit“ thematisiert würden, könnte „ schon verbreitete Terminologie angeknüpft werden.37 Allerdings würden derIdee der Angemessenheit analytisch klarere Konturen gegeben. 37 Vgl. z.B. § 34 S. 2 StGB.

234

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IV. Ergebnis

DieDiskussion umdenStatus derPrinzipientheorie als allgemeine Strukturtheorie der Grundrechte liberal-demokratischer Verfassungsstaaten hat zu zwei wesentlichen Einsichten geführt. Die erste betrifft die Frage, ob die Prinzipientheorie grundlegende normative Intuitionen derliberalen Menschenrechts- undGerechtigkeitstradition adäquat abbildenkann. Hierlässt sich zusammenfassend feststellen: DiePrinzipientheorie leistet einiges, aber bleibt als Strukturtheorie unvollständig. Eine Grundrechtstheorie, die Prinzipien als Optimierungsgebote versteht undeinen analytischen Zusammenhang zwischen Grundrechten unddemVerhältnismäßigkeitsgrundsatz postuliert, beschreibt nureine vondreinormativen Strukturen, diezentral füreinliberales Verständnis von Menschenrechten sind. Sie vermag antikollektivistische Grundintuitionen des politischen Liberalismus strukturell zuintegrieren. Sie hataber Schwierigkeiten, die antiperfektionistischen undantikonsequentialistischen Grundideen liberaler Menschenrechts- undGerechtigkeitstheorien adäquat abzubilden. Einevollständige undimSinne liberaler Gerechtigkeitstheorien normativ adäquate Strukturtheorie derGrundrechte muss durch die Idee ausgeschlossener Gründe (excluded reasons) undverbotener Zweck-Mittel-Relationen (deontological constraints) als zentrale Strukturmerkmale ergänzt werden. Die zweite Einsicht betrifft das Verhältnis der analytischen, normativen und empirischen Dimension einer allgemeinen Grundrechtstheorie. Derenge Zusammenhangzwischen analytischen Fragen nachderGrundrechtsstruktur, normativen Fragen nachdemInhalt liberaler Menschenrechts- undGerechtigkeitstheorien undempirischfunktionellen Fragen institutionellen Designs verweist aufdieAufgabe, eine allgemeine Theorie derGrundrechte als integrative Theorie auszuarbeiten. Derenge Zusammenhangzwischen einer analytisch ausgerichteten allgemeinen Strukturtheorie derGrundrechte undnormativen Fragen stand hierimZentrum derAufmerksamkeit. Aberauch derZusammenhang zwischen einer allgemeinen Theorie derGrundrechte undempirischen Fragen wurde deutlich. Die Frage, ob die Prinzipientheorie als allgemeine Theorie derGrundrechte liberal-demokratischer Verfassungsstaaten gelten kann, wirft zweierlei empirische Fragen auf.Zumeinen stellt sichdieFrage, obdiePraxis anderer liberaler Verfassungsstaaten hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte füreine prinzipientheoretische Rekonstruktion bietet. Das eröffnet ein interessantes Feld rechtsvergleichender Forschung. Zumanderen zeigt dieAuseinandersetzung mitderIdee von als Rekonstruktion amerikanischer Verfassungspraxis, dass die Rights as Shields“ „ adäquate Struktur einer Grundrechtstheorie alsTheorie despositiven Rechts auchauf funktional institutionelle Fragen einzugehen hat. Es isteine zentrale Aufgabe derRechtswissenschaft, dieRechtspraxis zureflektieren undkritisch zurekonstruieren, umsie normativ anzuleiten. Nurals dreidimensionaleWissenschaft, inderbeiderTheoriebildung analytische, normative undempirische Gesichtspunkte angemessen berücksichtigt werden, hatsieAussicht aufErfolg. Dieser Beitrag bautaufdenEinsichten derPrinzipientheorie aufundvollzieht erste Schritte auf demWegederAusarbeitung einer integrativen Theorie derGrundrechte, dieallen drei Dimensionen rechtswissenschaftlicher Theoriebildung gerecht wird.

Jan-Reinard Sieckmann*

DerBegriff derEnteignung DerBegriff derEnteignung“aufeiner Tagung überjuristische GrundlaDasThema „ genforschung magüberraschen, daes sich umeinProblem derRechtsdogmatik zu handeln scheint. Jedoch solles hiernicht umGrundlagenforschung alssolche gehen, sondern umdenNutzen derGrundlagenforschung fürRechtsdogmatik undRechtspraxis. Unter diesem Aspekt ist dasThema des Enteignungsbegriffs besonders geeignet zuzeigen, wiejuristische Grundlagenforschung zurLösung eines Problems beitragen kann, dasdieRechtsdogmatik nicht hatlösen können.1 Zudem führt dieAnalyse desBegriffs derEnteignung aufgrundsätzliche Fragen derKonstruktion desEigentumsgrundrechts wiederallgemeinen Grundrechtstheorie. Imeinzelnen werde ichfolgende Thesen vertreten: (1) DerBegriff derEnteignung hängt engzusammen mitderKonstruktion vonEigentumals Gegenstand eines Grund- undMenschenrechts; beides sindzweiSeiten einer Medaille. (2) DieDefinition desBegriffs derEnteignung erfordert Instrumente deranalytischen Rechtstheorie, nämlich dieHohfeldsche Systematisierung rechtlicher Relationen sowie die Unterscheidung definitiver undprinzipieller Normen. (3) Damit lässt sichdrittens amBegriff derEnteignung exemplarisch dieweitere These belegen, dass Rechtswissenschaft auf Instrumente der analytischen Rechtstheorie angewiesen ist. MeinVortrag ist indreiAbschnitte gegliedert. Zunächst wirdderrechtsdogmatische Streit umdieKonzeption derEnteignung skizziert, undzwarinsbesondere anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Sodann wird die Konzeption der Enteignung systematisch entwickelt undEnteignung als der Entzug selbständiger Eigentumsrechte definiert. Vonzentraler Bedeutung istdabei das Merkmal derSelbständigkeit vonEigentumsrechten, daswiederum mittels derKonzeption derImmunität vonRechtspositionen sowie derUnterscheidung definitiver undprinzipieller Normendefiniert wird. Beides zusammen führt zurKonzeption selbständiger Eigentumsrechte als prinzipiell immuner Rechte. Imdritten Teil sollen schließlich Implikationen derSelbständigkeit vonEigentumsrechten fürdie Konzeption vonGrund- undMenschenrechten untersucht unddargelegt werden, dass dieKonzeption prinzipiell immuner Rechte nicht eigentumsspezifisch ist, sondern eine Basis füreine allgemeine Konzeption vonGrund- undMenschenrechten bietet. I. Das Problem

DieDiskussion umdenEnteignungsbegriff istinderdeutschen Staatsrechtslehre inden vergangenen Jahrzehnten vonderKontroverse umdenformellen, an derFormdes Eingriffs orientierten Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts beherrscht worden.2 Mitdieser Konzeption hatte das Bundesverfassungsgericht denmateriellen, Recht anderOtto-Friedrich-Universität zuBamberg Professur fürÖffentliches verfassungsrechtlichen Diskussion Jan-R. Sieckmann, Modelle des Eigentumsschutzes, Ba1 * Zur

2

den-Baden 1998, S. 18 ff., 107 ff. Als Monographien seien exemplarisch angeführt Jochen Rozek, Die Unterscheidung vonEigentumsbindung undEnteignung, Tübingen 1998; Jürgen Eschenbach, Der verfassungsrechtliche

236

Jan-Reinard Sieckmann

entschädigungsorientierten Enteignungsbegriff des Bundesgerichtshofs, aber auch des Bundesverwaltungsgerichts, zurückgewiesen3 undsich die Interpretationshoheit überdie Eigentumsgarantie des Art. 14 GGzurückerobert. DieProblematik kann an zweiBeispielsfällen skizziert werden. Daserste Beispiel isteingesetzliches Verbot desLagerns vonAbfällen aufprivaten Grundstücken. Diesscheint eintypischer Falleiner Inhalts- undSchrankenbestimmung des Eigentums zusein. Nungiltabernachdemweiten verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff desArt. 14GGjedes vermögenswerte private Recht als Eigentumsrecht.4 Auch die Erlaubnis zu einer bestimmten Eigentumsnutzung, wie das Lagern von Abfällen, stellt demnach einEigentumsrecht dar. Diegesetzliche Regelung, diediese Nutzung verbietet, entzieht somit ein Eigentumsrecht. Handelt es sich also umeine Enteignung? ImErgebnis istklar, dass dies nicht derFallist. Fraglich istdieBegründung dieser Beurteilung. Bundesgerichtshof wieauchBundesverwaltungsgericht kamen zudiesem Ergebnis mitder Argumentationsfigur der entschädigungslosen Sozialbindung des Eigentums.5 DasVorliegen einer Enteignung wurde davon abhängig gemacht, obein Eigentumseingriff über die Grenzen derSozialbindung gem. Art. 14 Abs. 2 GGhinausging unddaher eine Entschädigung füreinen Eigentumseingriff geboten erschien, oderaberderEingriff aufgrund derSozialbindung des Eigentums entschädigungslos hinzunehmen sei. Diese Rechtsprechung hatte allerdings denEnteignungsbegriff an dieFrage, obEntschädigung zuleisten sei, gebunden, undihndamit konturenlos und schwer durchschaubar gemacht.6 Das Bundesverfassungsgericht betont hingegen die strikte Trennung zwischen denInstituten derEnteignung gem.Art.14Abs.3 GGundderInhalts- undSchrankenbestimmung gem.Art. 14Abs. 1 S. 2 GG.EinEingriff aufgrund desArt. 14Abs. 1 S. 2 GG kann nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht aufgrund seiner Schwere ineine Enteignung umschlagen. NachderRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts istInhalts- undSchrankenbestimmung imSinne desArt.14Abs.1 S. 2 GGdie generelle undabstrakte Festlegung vonRechten undPflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, dieals Eigentum imSinne derVerfassung zu verstehen seien.7 Inhalts- undSchrankenbestimmung werden dabei nicht unterschieden.8 Enteignung imverfassungsrechtlichen Sinn ist eine staatliche Maßnahme, die auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen imSinne des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gerichtet ist.9 Gesetzliche

3

4 5

6

7 8 9

Schutz des Eigentums, Berlin 1996; Joachim Lege, Zwangskontrakt und Güterdefinition, Berlin 1995; Andreas Lubberger, Eigentumsdogmatik, Baden-Baden 1995. Insb. BVerfGE 52, 1 –Kleingartenpacht; 58, 137 –Pflichtexemplare; 58, 300 –Naßauskiesung. BVerfGE 89, 1 (6), mitderweiteren Bestimmung, dass derEigentümer diemitdemRecht verbundenen Befugnisse eigenverantwortlich zuseinem Nutzen ausüben darf, was allerdings bei privaten Rechten regelmäßig derFall istunddaher keine Einschränkung des Eigentumsbegriffs enthält. Vgl. BGHZ 6, 270 (277f.); 60, 145 (146); BVerwGE 5, 143 (145). Auch das BVerfG folgte zunächst dementschädigungsorientierten Enteignungsbegriff, vgl. BVerfGE 45, 145 (170, 172). Infrühen Entscheidungen hatdasBVerfG sogar dasVorliegen eines Eigentumsrechts verneint, wennimFall des Entzugs nicht eine Entschädigung geboten erschien, vgl. BVerfGE 16, 94 (112); 18, 392 (397);

19, 202 (206); 22, 275 (277); 22, 287 (422). ZurKritik Friedrich Schoch, Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, in:Jura 1989, S. 113; ders., Die Haftungsinstitute des enteignungsgleichen undenteignenden Eingriffs imSystem des Staatshaftungsrechts, Jura 1989, S. 531; JörnIpsen, Enteignung, enteignungsgleicher Eingriff undStaatshaftung, in: DVBI. 1983, 1030. BVerfGE 52, 1 (27); 58, 300 (330); 72, 66 (76); ferner 74, 264 (280); 79, 174 (191). BVerfGE 52, 1 (27); 58, 300 (331). BVerfGE 95, 1 (21); 83, 201 (211); 79, 174 (191). Häufig wird zusätzlich gefordert, daß der Entzug

DerBegriff derEnteignung

237

Nutzungsbeschränkungen sinddemnach Inhaltsbestimmungen des Eigentums, keine Enteignungen. DieAuffassung desBundesverfassungsgerichts hatsichinderLiteratur durchgesetzt, obwohl sie mitoffenkundigen Schwächen behaftet ist.10 Insbesondere führen die vomBundesverfassungsgericht verwendeten Definitionen imFallvonabstrakt-generellen Regelungen, die Eigentumsrechte beseitigen, zuwidersprüchlichen Ergebnissen. Dies wirddeutlich imzweiten Beispielsfall, demdes bergrechtlichen Vorkaufsrechts:11 Ein Gesetz beseitigte Vorkaufsrechte, die den ehemaligen Eigentümern von Grundstücken zustanden, diefürZwecke desBergbaus enteignet worden waren. Der Bergbau wareingestellt worden. Damit wardasVorkaufsrecht entstanden. DasGesetz übertrug das Eigentum andenbetroffenen Grundstücken jedoch aufdieGemeinden, inderen Gebiet dasbetreffende Grundstück lag.Vorkaufsrechte stellen abervermögenswerte private Rechte unddamit Eigentumsrechte dar. Liegt also indiesem Fall eine Enteignung vor? Indiesem FallsinddieVoraussetzungen des Bundesverfassungsgerichts fürdie Einordnung als Inhalts- undSchrankenbestimmung des Eigentums erfüllt, zugleich liegt aber auch die Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen vor. Die These derstrikten Trennung vonInhaltsbestimmung undEnteignung bricht zusammen. Das Bundesverfassungsgericht hatentschieden, dass die Beseitigung vonEigentumsrechten durch eine abstrakt-generelle Regelung eine Inhaltsbestimmung des Eigentumsundkeine Enteignung sei.12 Allerdings könne eine solche Regelung ausGründen derVerhältnismäßigkeit sowie des Gleichheitssatzes einen Ausgleich fürden Rechtsverlust erfordern.13 Damit wirdjedoch dieTrennungsthese lediglich künstlich aufrechterhalten, abernicht begründet. Esbleibt dasProblem, dassjede Enteignung einer gesetzlichen Grundlage bedarf, damit abernachderKonzeption desBundesverfassungsgerichts jede Enteignung als Eingriff durch oderaufgrund einer Inhaltsbestimmung des Eigentums konstruiert werden könnte. DievomBundesverfassungsgericht getroffene Abgrenzung erscheint zudem methodisch problematisch. Denndieallgemeinere Regelung desArt.14Abs.1S. 2 GGwirdvorrangig vorderspezielleren Regelung desArt. 14 Abs. 3 GGangewandt: Ist die Definition derInhalts- undSchrankenbestimmung erfüllt, wirddasVorliegen einer Enteignung verneint. Zudem wirdmitderAusgleichspflicht beiInhaltsbestimmungen quasi einParallelinstitut zurEntschädigungspflicht bei Enteignungen eingeführt. Alldies lässt dieKonzeption desBundesverfassungsgerichts als verfehlt erscheinen.14 konkreter öffentlicher Aufgaben diene. BVerfGE 52, 1 (27); 70, 191 (199f.); 74, 264 (280) oder daß der Entzug des durch Art. 14 1 GGgewährleisteten Eigentums imInteresse der Allgemeinheit erfolge, BVerfGE 24, 367 (394); 38, 175 (180); 42, 263 (299). Das BVerfG hat darüber

zurErfüllung

10

11 12 13 14

hinaus als weiteres Merkmal aufgeführt, dass die Enteignung derBeschaffung vonGütern diene, BVerfGE 104, 1 (10), ohne Begründung undohne Auseinandersetzung mitseiner abweichenden früheren Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 24, 367 (394); 83, 201 (211). ZurKritik Lubberger (Anm. 2),S. 30,207,226; Lerke Osterloh, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung beiderNutzung vonBoden undUmwelt, in:DVBI. 1991, S. 206; Reinhard Hendler, Zur bundesverfassungsgerichtlichen Konzeption der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie, in: DVBI. 1983, S. 883; Fritz Ossenbühl, Inhaltsbestimmung des Eigentums undEnteignung –BVerfGE 83,

201, in: JuS 1993, 203. BVerfGE 83, 201. BVerfGE 83, 201 (211f.). Vgl. BVerfGE 58, 137 (150) –Pflichtexemplare; 83, 201 (213) –bergrechtliches Vorkaufsrecht. ZurKritik Sieckmann, in: K.H. Friauf/W. Höfling (Hg.), Berliner Kommentar, Art. 14 GG, Berlin 2000, Rdnr. 8 ff.; ferner ders. (Anm. 1).

238

Jan-Reinard Sieckmann

DieProblematik hatanAktualität gewonnen, nachdem derEuropäische GerichtshoffürMenschenrechte denentschädigungslosen Entzug vonRechten derErben von Bodenreformland inderehemaligen DDRals Verletzung derEigentumsgarantie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zurEMRK) angesehen hat.15 DasBundesverfassungsgericht hatte dieRegelung hingegen als Inhaltsbestimmung eingeordnet undfürverfassungsgemäß erklärt.16 Auch wenn die Frage derZulässigkeit eines entschädigungslosen Entzugs derEigentumsrechte nicht unbedingt vonderEinordnung als Enteignung abhängt, daauchInhaltsbestimmungen desEigentums u.U.ausgleichspflichtig seinkönnen, istdamit jedenfalls dieEnteignungskonzeption sowie dieEigentumsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts insgesamt inFrage gestellt. Sie scheint nicht nurinsichwidersprüchlich undschlecht begründet zusein, sondern auchmenschenrechtswidrig. Kurzum: einkomplettes Desaster. Es istsomit erneut dieFrage aufgeworfen, wiederBegriff derEnteignung zudefinieren istundwiedasGrund- undMenschenrecht des Eigentums zukonstruieren ist. Dabei soll mitdemBundesverfassungsgericht angenommen werden, dass Inhaltsbestimmung undEnteignung verschiedene, deutlich voneinander abgegrenzte Eingriffsformen darstellen.17 Wielässt sichdiese Trennungsthese adäquat rekonstruieren, undwiesind Enteignung undEigentumsgrundrecht insgesamt zukonzipieren? II. Enteignung unddie Selbständigkeit vonEigentumsrechten

Die Grundlage für den Begriff der Enteignung ist die Konzeption selbstsändiger Eigentumsrechte. Diese Konzeption verbindet denBegriff derEnteignung miteiner bestimmten Struktur vonEigentumsrechten, diediese gegenüber denjeweils geltenden Eigentumsregelungen verselbständigt und zu enteignungsfähigen Rechten macht. Enteignung ist danach schlicht zu definieren als der Entzug selbständiger Eigentumsrechte.

1. DieIdee derSelbständigkeit vonEigentumsrechten UmdieIdee derSelbständigkeit zuerfassen, erscheint es hilfreich zufragen, welches Problem mitdiesem Konzept gelöst werden soll. Das Problem, das sich inderKonstruktion desEnteignungsbegriffs stellt, istdieKonstituierung desEigentums durch die 15 EGMR, 22.1.2004, EuGRZ 2004, 57 – Jahn u.a. vs. Deutschland.

16 BVerfG, 6.10.2000, 1 BvR 1637/99; ferner 25.10.2000, 1 BvR 2062/99. 17 Andere Konzeptionen sind denkbar. So könnte jeder Eigentumseingriff demArt. 14 I 2 GGzugeordnet werden undineinem einfachen Abwägungsmodell nach Maßgabe vonVerhältnismäßigkeits- undGleichheitssatz aufseine verfassungsrechtliche Zulässigkeit geprüft werden. Enteignung wäre lediglich ein überkommenes Rechtsinstitut, das möglichst eng zu definieren wäre, umdas Abwägungsmodell möglichst wenig zu beeinträchtigen. Dies stände jedoch imGegensatz zum herkömmlichen Verständnis derEigentumsgarantie desArt. 14GG,dasdemGrundgesetz zugrunde liegt undin Rechtsprechung undLiteratur zunächst einhellig anerkannt war (s.o., Anm. 5). Danach bildet denKernderEigentumsgarantie derSchutz gegen Enteignungen. Sowurden Eigentumseingriff undEnteignung gleichgesetzt, BVerfGE 16, 147 (187); 27, 253 (271). DerSchutz gegenüber Inhalts- undSchrankenbestimmungen stellt eine Erweiterung des Eigentumsschutzes dar, die vomBVerfG erst relativ spät anerkannt worden ist; zurEntwicklung der Rechtsprechung Sieckmann (Anm. 14), Rdnr. 8. DenEigentumsschutz vollständig demArt. 14 I2 GGzuzuordnen, wäreeinevollständige Umkehrung derKonzeption desEigentumsgrundrechts, diealsVerfassungsinterpretation nicht zu rechtfertigen ist.

DerBegriff derEnteignung

239

Rechtsordnung. Eigentumsrechte existieren nuraufgrund vonRechtsnormen.18 Diese Normen definieren die Rechtsposition des Eigentümers durch Regelungen über Erwerb, Inhalt undVerlust vonEigentumsrechten, sindalso Inhaltsbestimmungen des Eigentums. Wenn aber Bedingungen für die Existenz von Eigentumsrechten zum Eigentumsinhalt gehören, dannkannderinhaltsbestimmende Gesetzgeber überdie Existenz vonEigentumsrechten entscheiden. Damit scheint eine Trennung von Inhaltsbestimmung undEnteignung nicht möglich. DieErmächtigung zurEnteignung stellt eine Inhaltsbestimmung des Eigentums dar.Sieunterwirft dieExistenz eines Eigentumsrechts einer Bedingung, nämlich dieder Enteignung. Daraus ergibt sich ein Problem für die Abgrenzbarkeit von Inhaltsbestimmung undEnteignung: WennderInhalt einer Eigentumsposition durch die Ermächtigung zurEnteignung relativiert ist, dann umfasst die Kompetenz zurInhaltsbestimmung denErlass vonEnteignungsermächtigungen wieauchdieAnordnung von Legalenteignungen. ImFall einer gesetzlichen Ermächtigung zuEnteignungen wäre derAktderEnteignung einEingriff aufgrund einer Inhaltsbestimmung des Eigentums. ImFalleiner Legalenteignung wäre das Enteignungsgesetz einEingriff aufgrund der Ermächtigung zu Legalenteignungen. Jede Enteignung wäre somit ein Eingriff aufgrund einer Inhaltsbestimmung des Eigentums. Mit diesem konstruktiven Problem verbunden ist ein weiteres, grundrechtstheoretisches. WenndieRechtsposition des Eigentümers bereits durch eine Ermächtigung zurEnteignung definiert wirdundderEnteignungsfall eintritt, inwiefern wirddem Eigentümer überhaupt etwas genommen, wasihmzusteht? Erhatte ja vonvornherein nureine in ihrer Existenz relativierte, auflösend bedingte Rechtsposition.19 Mitdem Eintritt derBedingung, also demEnteignungsfall, entfällt diese Position, aber es wird demEigentümer nichts genommen, wasihmvonderRechtsordnung unbedingt und dauerhaft zugewiesen wäre. Damit istfraglich, obüberhaupt eine Rechtsposition vorliegt, dieGegenstand eines grundrechtlichen Schutzes des Eigentums sein kann. Diesführt aufeinzentrales Problem inderKonstruktion desEigentumsgrundrechts. WiekanndieRechtsabhängigkeit derEigentumsrechte mitderKonzeption desEigentumsalsGrund- undMenschenrecht vereinbart werden?20 Grund- undMenschenrechtesollen staatliche Gewalt, einschließlich derGesetzgebung, beschränken. Notwendig erscheint daher eine Konstruktion desEigentums alseinSchutzgut, dasdenjeweiligen Änderungen derRechtsregeln entgegengesetzt werden kannunddessen Existenz von Regelungen derallgemeinen Rechtsordnung inirgendeiner Weise unabhängig ist. DerBegriff derSelbständigkeit vonEigentumsrechten solldiese Probleme lösen.21 Selbständige Eigentumsrechte müssen ineiner Weise konstruiert werden, beiderdie Eigentumsposition jedenfalls hinsichtlich ihrer Existenz nicht von den jeweiligen

18 Dies müssen 19

20

21

allerdings aus theoretischer Sicht nicht notwendig gesetzliche Regelungen sein. Welche ArtvonRechtsnorm gefordert ist, isteine verfassungsrechtliche Frage. Mitdieser Argumentation wurde eine Enteignungsentschädigung für die Beseitigung kündbarer obligatorischer Rechte verneint inBGH,JZ 1995, 156. DazuSieckmann (Anm. 1), S. 84 Fn.38. DieBegründbarkeit eines menschenrechtlichen Schutzes fürEigentumsrechte sollhiernicht problematisiert werden, sondern angenommen werden, dass das Grundgesetz vondieser Vorstellung ausgeht unddaher eine geeignete Grundlage fürdiese Konzeption entwickelt werden muss. Dazu Sieckmann (Anm. 1), S. 25ff.; ders. (Anm. 14), Rdnr. 3. Dies schließt andere Ansätze nicht notwendig aus. Allerdings erscheinen Alternativen wie der Eigentumsschutz in einem einfachen Abwägungsmodell oder ein abwehrrechtlicher Schutz für einfachrechtliche konstituierte Eigentumsrechte nicht ausreichend, umEigentumsrechte alseindem Gesetzgeber entgegenzusetzendes grundrechtliches Schutzgut zukonstruieren. DazuSieckmann (Anm.

1), S. 140 ff.

240

Jan-Reinard Sieckmann

Eigentumsregelungen abhängig ist, die denInhalt vonEigentumsrechten definieren. DieIdee derSelbständigkeit vonEigentumsrechten ist, dass diese Rechte, sindsie einmal entstanden, inihrer Existenz unabhängig vondenjeweils geltenden Regelungendesobjektiven Rechts sind. Selbständige Eigentumsrechte sinddamit nicht nurdas Ergebnis derAnwendung derjeweils geltenden Eigentumsregelungen. Siesindgegenüber den Eigentumsregelungen des objektiven Rechts verselbständigt. Inhaltsbestimmungen des Eigentums lassen ihre Existenz unberührt. Eigentumsrechte sind in gewisser Weise „ gesetzgebungsresistent“.22Miteiner Formulierung Ferdinand Lasalles: sie sindwiePflöcke ineinem wandernden Rechtsboden.23 Lasalle hatdiese Vorstellung natürlich abgelehnt.24 Aberes istgenau das,wasnötig erscheint, umeinEigentumsgrundrecht, dasdemGesetzgeber entgegengesetzt werden könnte, konstruieren zukönnen. Mitder Eigenschaft der Selbständigkeit wird das Problem vermieden, daß durch Inhaltsbestimmung des Eigentums Eigentumsrechte beseitigt werden könnten. Bei selbständigen Eigentumsrechten ist dies, derIdee derSelbständigkeit zufolge, nicht möglich. DerEntzug kann nurimWege einer besonderen Eingriffsform, derEnteignung, erfolgen. Damit folgt aus derSelbständigkeit vonEigentumsrechten die TrennungvonInhaltsbestimmung undEnteignung als Eingriffsformen.

2. DieKonstruktion derSelbständigkeit vonEigentumsrechten DerAusgangspunkt fürdie Konstruktion derSelbständigkeit ist die Annahme, dass Bedingungen derExistenz vonEigentumsrechten, wieinsbesondere dieErmächtigung zuderen Aufhebung, nicht zumInhalt vonEigentumspositionen gehören. DieFrage ist, wie Eigentumsrechte mitdieser Eigenschaft konstruiert werden können. Dazu erscheint es sinnvoll, sich dieStruktur vonEigentumsrechten zuvergegenwärtigen.

a) DieStruktur vonEigentumsrechten Eigentumsrechte sind Strukturen aus einem Eigentumsträger oder -inhaber, einem Eigentumsgegenstand undEigentumsinhalten derart, daßdemEigentumsinhaber der Eigentumsgegenstand mitbestimmten Inhalten zugeordnet wird.25 Diese Zuordnung erfolgt durch dieRechtsordnung. BeidemEigentum eines Rechtssubjekts Aaneinem Gegenstand Ghandelt es sichalso umeine dreistellige Zuordnungsrelation, dienotiert werden kannals Z(A,G,I).

DerEigentumsinhalt Iumfasst rechtliche Relationen zwischen demEigentumsinhaber undAdressaten des Eigentumsrechts inbezug aufdenEigentumsgegenstand. Damit einEigentumsrecht vorliegt, mußzudiesen Inhalten jedenfalls einRecht zurNutzung des Eigentumsgegenstands gehören sowie die Exklusivität dieses Nutzungsrechts, d.h.dasVerbot anandere, denEigentumsgegenstand ohneZustimmung des Eigentümers zunutzen. Damit ergibt sich folgende Definition vonEigentumsrechten: 22 23 24

25

Helmut Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, Darmstadt 1975, S. 208, 211. Ferdinand Lasalle, Theorie der erworbenen Rechte, Leipzig 1961, S. 146f. Vgl. Kritische Justiz 1986, 459ff., 462. Lasalle (Anm. 23), S. 146f. Sieckmann (Anm. 1), S. 68ff.

Gert Winter,

241

DerBegriff derEnteignung

EinRechtssubjekt AhatEigentum aneinem Gegenstand Ggenau dann, wenndem AderGegenstand G mitbestimmten Inhalten I rechtlich zugeordnet ist, wobei I

jedenfalls schließt.

ein Nutzungsrecht

sowie

die Exklusivität dieses Nutzungsrechts ein-

Dieser Eigentumsbegriff istsehrweit. Immerhin folgt ausihmbereits dieCharakterisierungvonEigentumsrechten als vermögenswerte Rechte.26 Denndasexklusive Recht zurNutzung eines Gegenstands konstituiert einen Vermögenswert. DerEigentümer ist ineiner Position, exklusiv übereine Resource verfügen zukönnen, fürdieandere etwas zuzahlen bereit seinkönnten. Dieweite Definition vonEigentumsrechten enthält jedoch nochnicht dasMerkmal derSelbständigkeit. Essindvielmehr zweimögliche Konstruktionen des Eigentumsinhalts zuunterscheiden. Die Zuordnungsrelation des Eigentumsrechts könnte selbst Gegenstand von Eigentumsinhalten sein. AlsTeil des Eigentumsinhalts wäre dieZuordnungsrelation derKompetenz desGesetzgebers zuInhaltsbestimmungen desEigentums unterworfen. Durch gesetzliche Inhaltsbestimmung könnte dieEigentumsposition alsobeseitigt oder Bedingungen hinsichtlich ihrer Existenz unterworfen werden. Indieser Weise relativierte Rechte wären nicht selbständig, sondern inihrer Existenz vondenjeweiligen gesetzlichen Eigentumsregelungen abhängig. DieEigentumsposition folgt widerstandslos denallgemeinen Eigentumsregelungen. Sehen diese vor, dass die Eigentumsposition zuexistieren aufhört, dann entspricht dies auch demInhalt derEigentumsposition selbst, dadieser Inhalt diestaatliche Kompetenz zurBeseitigung derEigentumsposition einschließt. ZurSelbständigkeit führt hingegen eine zweite Konstruktion. Ihrzufolge gehören zumEigentumsinhalt keine Regeln überdieZuordnungsrelation desEigentumsrechts. Unter dieser Voraussetzung kanndie Kompetenz zurInhaltsbestimmung des Eigentums nicht aufdieZuordnung des Eigentumsrechts zumEigentumsinhaber erstreckt werden. AusderNegation dieser Kompetenz ergibt sichdieEigenschaft derSelbständigkeit derEigentumsposition gegenüber gesetzlichen Inhaltsbestimmungen des Eigentums. Aufgrund derSelbständigkeit des Eigentumsrechts hinsichtlich derZuordnung des Eigentumsrechts zumEigentumsinhaber kann diese Relation nicht durch oderaufgrund Inhaltsbestimmungen desEigentums beseitigt werden. Würde etwaeine gesetzliche Regelung aufgrund desArt.14Abs.1S. 2 GGerlassen, nachderbestimmte Arten vonEigentumsrechten nicht mehrrechtlich möglich sind, würde diese Regelung denBestand selbständiger Eigentumsrechte unberührt lassen.

b) Selbständigkeit undImmunität vonRechtspositionen Die obige Charakterisierung der Selbständigkeit lässt sich in folgende (partielle27) Definition fassen:

26 Dies isteinzentrales

Merkmal

des Eigentumsbegriffs desArt. 14 GG,vgl. BVerfGE 97, 350 (371);

89, 1 (6). 27 DieSelbständigkeit vonEigentumsrechten ist überdie Zuordnungsbeziehung

hinaus aufweitere Eigentumselemente zuerstrecken. WirdEigentum als exklusives Nutzungsrecht aneinem Gegenstand definiert, dannsindbegrifflich notwendige Merkmale des Eigentums aufdenInhalt derEigentumsposition bezogen. Dies sind die Existenz eines Nutzungsrechts sowie die Exklusivität dieses Rechts. Als Eigentumsinhalte sind sie jedoch Gegenstand vonInhaltsbestimmungen des Eigentums. Umauszuschließen, dass durch dieAufhebung solcher Eigentumsinhalte dieEigentumsposition insgesamt beseitigt wird, muss angenommen werden, dass dieEigentumsposition hinsichtlich

242

Jan-Reinard Sieckmann

Ein Eigentumsrecht ist selbständig, wenn zu dessen Inhalt keine Regelungen gehören, diedessen Zuordnung zumEigentumsinhaber betreffen. Damit

istdieZuordnung des Eigentumsgegenstands derKompetenz zurBestim-

mungdes Inhalts des Eigentums nicht unterworfen. Diese Eigenschaft läßt sich im

Sinne dervonHohfeld entwickelten Systematik rechtlicher Positionen als Immunität des Eigentumsrechts hinsichtlich derZuordnungsrelation charakterisieren.

Hohfeld zufolge lassen sich hinsichtlich der Möglichkeit, daß ein Rechtsubjekt die Rechtsposition eines anderen Rechtssubjekts verändert, vier Positionen unterschei-

den:28

– diederKompetenz eines Subjekts AzurVeränderung derPosition vonSubjekt B, – diederSubjektion derPosition vonB unter eine solche Kompetenz vonA, – diederImmunität derPosition vonBimSinne desNichtunterworfenseins unter eine Kompetenz vonAzurÄnderung derPosition des B und – diederNicht-Kompetenz, also des Fehlens derKompetenz vonAzurÄnderung einer Rechtsposition vonB.

Diese grobe Unterteilung soll fürdie Zwecke dieser Untersuchung genügen.29 Graphisch lassen sichdieRelationen undihre Beziehungen zueinander ineinem Viereckdarstellen.30 Dabei werden dieRelationen bereits aufdenhierinteressierenden Fall derEingriffe desStaates S (oder staatlicher Organe) ineine Eigentumsposition EPOS eines Rechtssubjekts Abezogen.31

KOMP(S,EPOS(A))

SUBJ(EPOS(A),S)

Nicht-KOMP(S,EPOS(A))

IMM(EPOS(A),S)

Wichtig ist hier, dass die Unmöglichkeit, selbständige Eigentumsrechte durch oder aufgrund Inhaltsbestimmung des Eigentums zubeseitigen, eine FormderImmunität solcher Rechtspositionen darstellt. Allerdings reicht dieHohfeldsche Charakterisierung derImmunität nochnicht aus,umSelbständigkeit undEnteignungsbegriff zurekonstruieren. DennmitderMöglichkeit derEnteignung wirdja angenommen, dass Eigentumsrechte nicht vollständig immun sind, sondern gerade derMöglichkeit derEnteignung unterworfen sind. Immun sollen sie vielmehr gegenüber Inhaltsbestimmungen sein, dieser begrifflich notwendigen Eigentumsinhalte gegenüber demobjektiven Recht verselbständigt ist, unddamit der Kompetenz des Gesetzgebers zu Inhaltsbestimmungen des Eigentums nicht

28 29

30

unterworfen ist. Wesley N.Hohfeld, Haven 1923.

Some Fundamental Legal Conceptions as Applied inLegal Reasoning, New

Genauer müssten die verschiedenen Relationen spezifiziert werden hinsichtlich der beteiligten Subjekte, der Inhalte der Rechtspositionen, in Bezug auf die die Relationen der Kompetenz, Subjektion, Immunität undNicht-Kompetenz bestehen, sowie derBedingungen, unter denen solche Relationen bestehen oder nicht bestehen. So besteht eine Kompetenz in der Regel nurunter bestimmten Bedingungen (etwa für Enteignungen) undfürbestimmte Rechtssubjekte (etwa die zuständige staatliche Behörde); sie kannferner aufbestimmte Aspekte einer Rechtsposition (auf nicht begrifflich notwendige Eigentumsinhalte imGegensatz zurZuordnungsbeziehung insgesamt) beschränkt sein. Auchbesteht eine gewisse Asymmetrie, insofern vonKompetenzen inbezug auf Rechtssubjekte gesprochen wird, vonImmunität undSubjektion eher inbezug auf Rechtspositionen.Zudem werden Subjektion undImmunität mitBezug aufdieExistenz oderNichtexistenz einer Kompetenz definiert, stehen also konstruktiv nicht aufgleicher Stufe mitKompetenzen. DerEinfachheithalber sollen solche Differenzierungen hiervernachlässigt werden. DieBeziehungen zwischen denrechtlichen Relationen, dieimSchema dargestellt werden, sinddie

derÄquivalenz

„ s owie derNegation „-“.

31 Schema - Zum - allgemeinen “

Robert Alexy, Theorie

derGrundrechte, Baden-Baden 1985, S. 219.

DerBegriff der Enteignung

243

sofern es umdieZuordnungsbeziehung unddamit dieExistenz derEigentumsposition geht.32

Andieser Stelle muss zwischen externer (systemischer) Immunität undinterner vonRechtspositionen unterschieden werden. Eine Rechtsposition istextern immun, wennundinsoweit niemand inderRechtsordnung dieKompetenz besitzt, diese Rechtsposition zuverändern. Angewandt auf den Entzug einer bestimmten Eigentumsposition des Rechtssubjekts A, würde also in einem Rechtssystem RS fürextern immune Eigentumspositionen gelten, dass es kein Rechtssubjekt x gibt, daseine Kompetenz zurEntzie(inhaltlicher) Immunität

hung (ENT) dieser Position besitzt, also umgekehrt diese Position gegenüber allen es gibtx, Rechtssubjekten immun ist. Unter Verwendung desExistenzquantors (x)...: „ füralle x gilt ...“ s owie des Allquantors (x)...: „ s owie des Prädikats VALRS fürdie gilt ...“ fürdieGeltung einer Normodernormativen Relation ineinem normativen System RS ergeben sich folgende Strukturen: VALRS ( x)KOMP(x,ENT,EPOS(A)), VALRS (x)IMM(EPOS(A),ENT,x).

Gegenüber demStaat besteht entsprechend eine Immunität derEigentumsposition des Agegen Entziehung: VALRS IMM(EPOS(A),ENT,S). Diese Annahme trifft allerdings tatsächlich nicht zu,dadasRechtssystem dieKompetenz zurEnteignung vorsieht. Es gibt also gemäß RS eine Kompetenz des Staates, unter bestimmten Bedingungen Eigentumspositionen zuentziehen. Vonder normativen Situation imRechtssystem insgesamt, also derobjektiven Rechtsordnung, zuunterscheiden istderInhalt einzelner Rechtspositionen. DerBegriff derinternen Immunität bezieht sich aufeinzelne Rechtspositionen. Eine Rechtsposition ist intern immun, wenn undsoweit sie nicht die Kompetenz eines anderen enthält, diese Position zuverändern. Hinsichtlich derEntziehung vonEigentumsrechten gilt fürintern immune Eigentumspositionen, dass kein Rechtssubjekt eine Kompetenz hat, diese Position zu entziehen, d.h., allen Rechtssubjekten x fehlt diese Kompetenz. Formal dargestellt: VALEPOS(A) (x)Nicht-KOMP(x,ENT,EPOS(A)). Entsprechend giltgemäß demInhalt derEigentumsposition desA,dass diese Position immun istgegenüber Entziehung durch denStaat: VALEPOS(A) IMM(EPOS(A),ENT,S).33 Eine intern immune Rechtsposition istalso dadurch gekennzeichnet, dass sie, soweit diese Immunität reicht, keine fremde Kompetenz zur Veränderung der immunen Elemente dieser Rechtsposition enthält. IhrInhalt istinsoweit nicht durch eine Kompe-

32

Diese Differenzierung zwischen Enteignung undnicht-existenzberührenden Inhaltsbestimmungen lässt sich nicht einfach stipulieren, denn es geht gerade darum zuzeigen, warum selbständige Eigentumsrechte vonInhaltsbestimmungen unberührt bleiben. Es istdaher wichtig, dass es sichbei

derImmunität umeine strukturelle Eigenschaft vonEigentumspositionen handelt. Darstellung ist die interne Immunität einer Eigentumsposition eine selbstbezügliche Eigenschaft, denndieNicht-Kompetenz oderImmunität wirdüberdieEigentumsposition EPOS(A)

33 In dieser

ausgesagt, deren Inhalt wiederum selbst diese Nicht-Kompetenz oder Immunität enthält. Diese Selbstbezüglichkeit erscheint jedoch nicht als schädlich, sondern hatlediglich zurFolge, dass nach demInhalt derEigentumsposition deren Immunität selbst wiederum immun ist. Es istmöglich, dies zuvermeiden, indem Eigentumsinhalte verschiedener Stufen unterschieden werden unddieAussagederImmunität jeweils aufdenInhalt niederer Stufe bezogen wird. Jedoch erscheint dieKonzeption einer Rechtsposition, die ihre eigene Immunität beansprucht, nicht nurwegen der Einfachheit

derDarstellung,

sondern auchinhaltlich interessant.

244

Jan-Reinard Sieckmann

sie zuverändern, relativiert. AusderPerspektive einer solchen Rechtsposition ist sie, soweit ihre Immunität reicht, fremden Kompetenzen nicht unterworfen und

tenz,

kannnicht durch objektivrechtliche Regelungen definiert werden. Rechtsregelungen,

diedies beanspruchen, stehen vielmehr inKonflikt mitderimmunen Rechtsposition. Selbständigkeit vonEigentumsrechten führt also zueiner Konzeption des Rechts, in derobjektivrechtliche Regelungen inKonflikt mitsubjektiven Rechten stehen können. Gemäß der objektiven Rechtsordnung RS gelten andere Normen als gemäß der Eigentumsposition EPOS(A), dieselbst wiederum einnormatives System bildet. Das Problem lässt sichalsoalseine Kollision verschiedener Normensysteme beschreiben. Eine andere Frage ist, wiedieser Konflikt gelöst werden kann. DieLösung ergibt sichjedenfalls abernicht als Konsequenz einer objektivrechtlichen Regelung, dieden Inhalt derimmunen Rechtsposition bestimmte. ZurLösung solcher Konflikte ist vielmehreine eigene Eingriffsform notwendig, nämlich diederEnteignung. Selbständige Eigentumsrechte können zwar aufgrund ihrer internen Immunität nicht durch oder aufgrund vonInhaltsbestimmungen des Eigentums beseitigt werden. Sie sindjedoch derKompetenz zurEnteignung unterworfen. Diese Subjektion unter dieKompetenz zur Enteignung istInhalt derobjektiven Rechtsordnung. Sie istabernicht Inhalt derEigentumsposition, jedenfalls nicht des Eigentumsinhalts 1. Ordnung.34 DieMöglichkeit der Enteignung kannnurinderobjektiven Rechtsordnung sowie ineinem Eigentumsinhalt 2. Ordnung enthalten sein, derdenStatus desEigentumsrechts innerhalb derRechtsordnung unddamit dieArtderGewährleistung oderGarantie dieses Eigentumsrechts definiert.35

In einer Eigentumsposition lassen sich demnach drei Teilklassen von Inhalten unterscheiden, (1) die begrifflich notwendigen Inhalte I0(Nutzungsrecht undExklusivität), (2) dienicht begrifflich notwendigen Inhalte 1. Ordnung I1(darunter dieinterne Immunität der Eigentumsposition) sowie (3) Inhalte 2. Ordnung I2,zudenen grundrechtliche Gewährleistungsgehalte gehören.

c) Definitive undprinzipielle

Gewährleistungsgehalte

DieSelbständigkeit imSinne derinternen Immunität vonEigentumsrechten führt zu einer spezifischen Struktur vonEigentumsrechten sowie deren Gewährleistung. Der Entzug selbständiger Eigentumsrechte istnuraufgrund besonderer Kompetenzen zur , während Enteignung möglich. Indiesem Sinne sinddiese Rechte „ enteignungsfähig“ fürnicht selbständige Eigentumsrechte eine Enteignung imengeren Sinne, als einer vonEingriffen durch oderaufgrund Inhaltsbestimmung getrennten Eingriffsform, nicht möglich ist. Die nächste Frage ist, welche Gewährleistungsgehalte fürselbständige Eigentumsrechte bestehen. DieUnterscheidung verschiedener Eingriffsformen als solche führt nochnicht zueinem spezifischen Schutz selbständiger Rechte. Dieswärenurder Fall, wennnicht alles, wasimWege derInhaltsbestimmung möglich ist, beiselbständigen Eigentumsrechten inFormderEnteignung durchgeführt werden kann. Andererseits sollen Enteignungen möglich sein. Es kann also keine generelle, vollständige 34 Vgl.auchSieckmann (Anm. 1), S. 80, 244, 286, mitderGegenüberstellung des Inhalts subjektiver Rechte undobjektiver Rechtsordnung. Zuergänzen ist die Möglichkeit vonsubjektiv-rechtlichen Inhalten 2. Stufe. 35 DieKompetenz zurEnteignung hat insofern verfassungsrechtlichen Charakter, Sieckmann (Anm. 1), S. 243.

DerBegriff derEnteignung

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Immunität vonselbständigen Eigentumsrechten bestehen. DieImmunität vonEigentumsrechten kannnicht invollem Umfang strikt oderdefinitiv gelten. Wiebeianderen Grundrechten auch, ist vielmehr anzunehmen, dass selbständige Eigentumsrechte nicht strikt, wohlaberprinzipiell immun sind. Damit kommt diezweite wichtige rechtstheoretische Unterscheidung insSpiel, diezwischen definitiv geltenden undprinzipiell geltenden Normen.36 Ohneaufnormtheoretische Details einzugehen,37 können prinzipiell geltende Normen, kurz: Prinzipien, als Gründe fürAbwägungen charakterisiert werden, also als Normen, diealsArgumente füreinbestimmtes Abwägungsergebnis angeführt werden undgegen kollidierende Prinzipien abzuwägen sind. Sie enthalten Forderungen, die betreffende Normalsdefinitiv gültig anzuerkennen, undsomit Gebote derGeltung von Normen. AlsGeltungsgebote mitprinzipiellem Charakter fordern sie, dass eine Norm definitiv gelten soll, sagen abernicht, dass siedefinitiv (oder tatsächlich) gilt. Aussagen überAbwägungsergebnisse behaupten hingegen diedefinitive Geltung vonNormen. Angewandt aufdieEigenschaft derImmunität vonselbständigen Eigentumsrechten, bedeutet dieCharakterisierung als prinzipiell immune Rechte, dass diese Rechte prinzipiell externe Immunität besitzen sollen, es also in der Rechtsordnung keine Kompetenz zurEntziehung diese Rechte geben soll, dass diese Forderung jedoch abwägungsfähig ist unddurch gegenläufige Gründe verdrängt werden kann. Die Forderung kanneinerseits alsobjektivrechtliches Prinzip desRechtssystems aufgefasst werden, andererseits als grundrechtlicher Gewährleistungsgehalt, derzumInhalt der Eigentumsposition 2. Stufe gehört. DieStruktur derprinzipiellen Forderung externer Immunität gegenüber demStaat kanndementsprechend wiefolgt dargestellt werden: VALRS OpIMM(EPOS(A),ENT,S). VALEPOS(A) OpIMM(EPOS(A),ENT,S). EsgiltalsoimRechtssystem RSsowie gemäß dergrundrechtlich geschützten Eigentumsposition38 des A (EPOS(A)) ein prinzipielles Gebot (der prinzipielle Charakter dieses Gebots wirdangegeben durch denIndex p)derImmunität derEigentumsposition des Agegen Entzug durch denStaat. DieErmächtigung zuEnteignungen stellt eine Einschränkung derexternen Immunität solcher Rechte dar, die gegenüber der prinzipiellen Forderung der Immunität gerechtfertigt werden muß,aber, sofern sie durch vorgehende Gründe gerechtfertigt ist, definitiv gilt. Soweit hingegen eine Ermächtigung zurEnteignung nicht gerechtfertigt ist, sindselbständige Eigentumsrechte definitiv immun. Die Gewährleistung selbständiger Eigentumsrechte impliziert also, dass diese Rechte nicht einer Kompetenz zuihrer Entziehung unterworfen seinsollen. Dasolche Eingriffe aufgrund vonAbwägungsverfahren begründet werden müssen, lässt sichdie

36

37

38

Diese Unterscheidung ist insbesondere vonRonald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge/ Mass. 1977, S. 24ff., mitderEntgegensetzung vonRegeln undPrinzipien undRobert Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, Rechtstheorie-Beih. 1 (1979), 59ff., mitder Gegenüberstellung von realem undidealem Sollen aufgezeigt worden. ZumPrinzipienbegriff imeinzelnen Jan-R. Sieckmann, Regelmodelle undPrinzipienmodelle des Rechtssystems, Baden-Baden 1990, S. 52ff.; ders., Logische Eigenschaften von Prinzipien, in: Rechtstheorie 25 (1994), 163ff.; ders., Begriff undStruktur vonRegeln, Prinzipien undElementen, in:B. Schilcher/P. Koller/B.-C. Funk(Hg.), Regeln, Prinzipien undElemente imSystem des Rechts, 82; ders., Principles as Normative Arguments, Vortrag aufdemIVR-Weltkongress Wien2000, S. 69– Lund2003 (imErscheinen). Es liegt nahe, eine Übereinstimmung objektiv- undsubjektivrechtlicher Gewährleistungsgehalte anzunehmen. So dieSubjektivierungsthese inAlexy (Anm. 31), S. 452. Denkbar istallerdings, dass beide auseinanderfallen, etwaimFallbloßobjektivrechtlicher Garantien vonGrundrechtspositionen.

246

Jan-Reinard Sieckmann

Gewährleistung derSelbständigkeit vonEigentumsrechten auchinderWeise charakterisieren, dass es prinzipiell verboten ist, solche Rechte ineine Abwägung mitkollidierenden Belangen einzubeziehen. Selbständigkeit impliziert also prinzipielle Abwägungsverbote hinsichtlich derbetreffenden Rechte. Daraus ergibt sicheinwichtiger Unterschied inderStruktur desSchutzes selbständiger undnicht selbständiger Eigentumsrechte. Beiselbständigen Eigentumsrechten ist die Möglichkeit der Enteignung gegenüber prinzipiellen Abwägungs verboten zu rechtfertigen. Eingriffe durch oderaufgrund Inhaltsbestimmungen desEigentums sind hingegen gegenüber Eigentumsprinzipien zurechtfertigen, dieineine Abwägung einzustellen undgegen andere Prinzipien abzuwägen sind, also Abwägungsgebote enthalten. Während Eigentumsprinzipien wiedie Erlaubnis bestimmter Nutzungen oder derVertrauensschutz desEigentümers gerade darauf angelegt sind, gegen kollidierende Prinzipien abgewogen undzu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht zu werden, gehtes beiderAnnahme derSelbständigkeit vonEigentumsrechten darum, solche Abwägungen auszuschließen unddieEigentumsrechte denAbwägungen des Gesetzgebers oderanderer Organe zuentziehen.

3. Zusammenfassung undAdäquatheit derKonzeption Fassen wirzusammen: Das Problem, Enteignungen vonInhaltsbestimmungen des

Eigentums abzugrenzen, führt aufeingrundsätzlicheres Problem, rechtlich konstituiertes Eigentum alseingrundrechtliches Schutzgut zukonstruieren. DieLösung besteht inder Konzeption selbständiger Eigentumsrechte im Sinne prinzipiell immuner Eigentumsrechte. Genauer handelt es sich umhinsichtlich ihrer Zuordnung oderExistenz intern immune undprinzipiell extern immune Eigentumsrechte.39 Einsolches Eigentumsrecht besteht auseiner Zuordnungsrelation Z(A,G,I), wobei dieMenge derEigentumsinhalte I folgende Elemente einschließt: – als begrifflich notwendige Inhalte I0die Existenz eines Nutzungsrechts sowie die Exklusivität dieses Nutzungsrechts: VALEPOS(A) NR(A,G) & EXKL(A,G,N), – alsnicht notwendige Inhalte erster Ordnung I1dieinterne Immunität derEigentumsposition, VALEPOS(A) IMM(EPOS(A),ENT,S), – als Gewährleistungsgehalt, also als Inhalt zweiter Ordnung I2: VALEPOS(A)

OpIMM(EPOS(A),ENT,S).

Konstruktion ist, dass die interne Immunität nurgemäß der Eigentumsposition selbst besteht, nicht jedoch gemäß derobjektiven Rechtsordnung. Beidenübrigen Eigentumsinhalten entsprechen sichhingegen Eigentumsposition und objektive Rechtsordnung. Selbständige Eigentumsrechte sind aufgrund ihrer internen Immunität Eingriffen durch oderaufgrund vonInhaltsbestimmungen nicht unterworfen undkönnen nurim Wegeeiner besonderen Eingriffsform, derEnteignung entzogen werden. Ihre prinzipielle externe Immunität begründet einen grundrechtlichen Schutz derExistenz dieser Rechte inFormvonAbwägungsverboten: Es soll keine Kompetenz zuderen Entziehungbestehen unddementsprechend ihre Existenz nicht Abwägungsentscheidungen unterworfen werden.40

Das Besondere dieser

39 DieKonzeption inSieckmann (Anm. 1) istumdiese Differenzierung zuergänzen. 40 ZumProblem derBegründung vonAbwägungsverboten imPrinzipienmodell Sieckmann S. 82.

(Anm.

1),

DerBegriff derEnteignung

247

Das Argument für die Annahme selbständiger Eigentumsrechte, wie es zuvor dargestellt wurde, folgt aus derAnalyse des Problems, das die Rechtsabhängigkeit des Eigentums fürdie Konstruktion eines Eigentumsgrundrechts darstellt. Indem diese Rechtsabhängigkeit negiert wurde unddieentsprechenden Konsequenzen gezogen worden sind, ergab sichdieAnnahme derSelbständigkeit vonEigentumsrechten. Diese Argumentation istinsichabgeschlossen. Sielässt sichjedoch durch weitere Argumente stützen. So führt die Selbständigkeit vonEigentumsrechten zurBegründungeiner grundsätzlichen Entschädigungspflicht fürdenEntzug solcher Rechte und erlaubt damit, dietraditionelle Konzeption derEigentumsgarantie, die Enteignungsbegriff undEntschädigungspflicht verbindet,41 zurekonstruieren. Eine Konsequenz der Selbständigkeit vonEigentumsrechten ist, dass fürdenEntzug solcher Rechte grundsätzlich eine Entschädigung geboten ist, undzwarunmittelbar aufgrund derverfassungsrechtlichen Garantie dieser Rechte. DieBegründung derEntschädigungspflicht ergibt sichausderKombination desGebots derErforderlichkeit eines Eingriffs mitdem Gebot derLastengleichheit.42 DerGesetzgeber kanneinen solchen Entschädigungsanspruch einschränken, sofern hinreichende Gründe dafür vorliegen. DieBegründung des Anspruchs setzt jedoch, entgegen derAuffassung des Bundesverfassungsgerichts,43 nicht eine einfachgesetzliche Grundlage voraus. Eine Frage, die in dieser Analyse offen bleiben muss, ist, welche Rechte als selbständig anzusehen sind.44 Dies isteine substantielle Frage, dieeiner materiellen Theorie des Eigentumsgrundrechts überlassen unddamit nicht Gegenstand dieser Analyse ist. Zufragen ist, welche Eigentumsrechte inderWeise zugeordnet werden sollen, dass sie allgemeinen Eingriffskompetenzen desStaates entzogen seinsollen. Alsparadigmatischer Fall magdie exklusive Zuordnung vonSacheigentum dienen. Nutzungsrechte können hingegen imallgemeinen nicht indieser Weise zugeordnet sein, weilsie stets inKonflikt mitanderen Belangen geraten können.45 ObVorkaufsrechte wieGrundeigentum selbst zubehandeln sind, istebenfalls nicht ohne materielle Überlegungen zu beantworten. Dies gilt ebenso fürdie Frage, ob die Rechte der Bodenreformland-Erben als selbständig anzusehen sind. Aufder Grundlage eines weiten verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass jedes gesetzlich anerkannte Eigentumsrecht ohne weiteres als selbständig einzuordnen ist. Dieinhaltliche Offenheit dervorgestellten Analyse sollte nicht überraschen, denn begriffliche Analysen können materielle Fragen nicht beantworten. Immerhin lässt sich aus ihrderSchluss ziehen, dass sowohl die Eigentumsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte verfehlt sind, weilsie denmateriellen Charakter des Problems derInterpretation derEigentumsgarantie verkennen. Das Bundesverfassungsgericht, weiles Eingriffe nurnach ihrer Formqualifiziert, derEuropäische Gerichtshof fürMenschenrechte, weil er gesetzlich gewährte Eigentumsrechte ohne weiteres als geschützt ansieht, ohne die Frage nachdermateriellen Schutzwürdigkeit zustellen.

41 Dazu s.o. (Anm. 5).

42 Dazuimeinzelnen Sieckmann (Anm. 1),S. 416ff.

43 BVerfGE 58, 300 (319f.) ZurKritik Sieckmann (Anm. 14), Rdnr. 186ff. 44 Ansätze dazuinSieckmann (Anm. 1), S. 253ff. 45 Vgl. Sieckmann (Anm. 1), S. 258.

248 III. Selbständigkeit

Jan-Reinard Sieckmann

unddie Konzeption vonGrund- undMenschenrechten

Eine weitere Frage ist, obsich aus derAnalyse selbständiger Eigentumsrechte Konsequenzen fürdieallgemeine Theorie derGrund- undMenschenrechte ziehen lassen.

Die Argumentation zur Struktur des Eigentumsgrundrechts undzumEnteignungsbegriff scheint eigentumsspezifisch zusein. Ausgangspunkt wardieAbhängigkeit von Eigentumsrechten von der Rechtsordnung. Umgleichwohl Eigentum als ein der Rechtsordnung vorgegebenes Schutzgut, unddamit alsGegenstand eines Grund- und Menschenrechts konstruieren zukönnen, wurde dieKonzeption selbständiger Eigentumsrechte eingeführt. Andererseits könnte dieRekonstruktion derIdee derSelbständigkeit als prinzipielle Immunität von Rechten und damit mittels prinzipieller Abwägungsverbote eine allgemeinere, über denEigentumsschutz hinausgehende Bedeutung haben. So scheint dieIdee prinzipieller Immunität auchinderVorstellung der Nichtabwägbarkeit vonGrundrechten Ausdruck zufinden. Eslässt sichferner aufJohn Locke verweisen, der„ als Oberbegriff fürLeben, Freiheit undGrundbesitz property“ Zu-Eigen-Sein“scheint ein wesentliches Element des Menverwendet hat.46 Das „ schenrechtsschutzes zusein. Die Frage ist also, ob inder Idee prinzipiell immuner Rechte nicht auch die Grundlage einer allgemeinen Konzeption von Grund- und Menschenrechten gesehen werden kann. Ein erster Einwand gegen eine Verallgemeinerung ist, dass die Begründung eines menschenrechtlichen Schutzes vonEigentum eine andere Struktur zuhaben scheint alsdiedesSchutzes vonLeben undFreiheit. DieBesonderheit desEigentums scheint zusein, dass es sich umein rechtlich konstituiertes Schutzgut handelt, während Leben undFreiheit natürliche Schutzgüter sind, die unabhängig vonrechtlichen Regelungen existieren. Jedoch greift diese Differenzierung zukurz. Dennnatürliche Güter beantworten nicht dieFrage derSchutzwürdigkeit. Reinfaktische Sachverhalte haben als solche keine normative Implikationen. Normative Folgerungen bedürfen vielmehr derRechtfertigung ineiner normativen Theorie. Dies gilt auchfürLeben und Freiheit als menschenrechtliche Schutzgüter. Auchindiesen Fällen muss die Anerkennung eines Menschenrechts normativ begründet werden. Damit istes aber unerheblich, obes umreinfaktische oderumrechtlich konstituierte Schutzgüter geht. Die Artdes Schutzguts istfürdie Struktur derBegründung vonMenschenrechten jedenfalls zunächst ohne Bedeutung. Soweit Besonderheiten desEigentums bestehen, musssichdies alsonicht inder ArtdesSchutzguts, sondern inderStruktur derBegründung desmenschenrechtlichen Schutzes zeigen. Diese Begründung enthält gemäß demPrinzipienmodell desRechts47 zunächst Prinzipien, sodann unmittelbar anwendbare definitive Rechte, dieaufgrund derAbwägung dieser Prinzipien begründet werden. ImHinblick aufdie Struktur der Abwägung kollidierender Prinzipien führt das Merkmal derprinzipiellen Immunität von Rechten zueiner interessanten Unterscheidung. Es lassen sich zweiverschiedene Konzeptionen vonMenschenrechten entwickeln, zumeinen eineinfaches Abwägungsmodell, zumanderen eine Konzeption, die Menschenrechte undentsprechend auch Grundrechte als prinzipiell immune unddamit grundsätzlich derAbwägung vonstaatlichen Organe entzogene Rechte begreift.48

The great andchief end, therefore, of men’s uniting into commonwealths, andputting themselves 46 „ under government, is the preservation ... of their lives, liberties, andestates, which I call bythe general name property“ (John Locke, TwoTreatises ofGovernment, BookII,Ch.IX,§ 123). 47 DazuSieckmann (Anm. 37). 48 Zudieser Unterscheidung fürdenEigentumsschutz Sieckmann (Anm. 14), Rdnr. 15ff.

Der Begriff der Enteignung

249

Die Grundlage eines einfachen Abwägungsmodells der Menschenrechte sind oder Menschenrechtsprinzipien. ImKern besteht derSchutz aus allgemeinem Freiheitsrecht, Gleichheitssatz unddemGebot derVerhältnismäßigkeit, das die Abwägung menschenrechtlicher Prinzipien mit anderen Gütern leitet. Die spezifischen Schutzgehalte lassen sich imRahmen dieses Modells aufgrund derAbwägung kollidierender Prinzipien entwickeln. Dieses Modell lässt sichinderGrundrechtsdogmatik desBundesverfassungsgerichts finden, undinsbesondere inderRekonstrukRobert Alexys. Theorie derGrundrechte“ tiondieser Rechtsprechung inder„ FürEigentumsrechte scheint es hingegen zweifelhaft, obsie als solche imeinfachen Abwägungsmodell Gegenstand prinzipiellen Schutzes sind. Warum sollte der Gesetzgeber Eigentumsrechte, deren Grundlage er geschaffen hat, nicht wieder beseitigen können? Schutzwürdig erscheinen die Freiheitsinteressen, denen private Eigentumsinteressen dienen, oder Vertrauensschutzinteressen aufgrund der Innehabung undNutzung bestehender Eigentumsrechte. Aberdas Eigentum als solches scheint imeinfachen Abwägungsmodell keine grund- odermenschenrechtlich schutzprinzipielle Rechte

zusein. Inderzweiten Konzeption, dervonMenschenrechten mitderStruktur prinzipiell immuner Rechte, haben Menschenrechte eine andere argumentative Funktion. Sie erklären bestimmte Schutzgüter prinzipiell fürnicht abwägungsfähig, begründen also prinzipielle Abwägungsverbote. Für Leben, körperliche Unversehrtheit undspezifische Freiheiten wieReligions-, Meinungs- oderWissenschaftsfreiheit erscheint diese Konstruktion ohneweiteres einleuchtend. Ihrprinzipieller Charakter lässt es allerdings zu,dass diese Verbote selbst wiederum Abwägungen mitkollidierenden Forderungen unterworfen werden. Es wirdalso kein absoluter Schutz begründet. Dennoch ist die Struktur des Schutzes eine andere als beieinfachen prinzipiellen Rechten undderen Abwägung. So ist beiderFrage, obeinem lebenden Menschen Organe entnommen werden dürfen, umandere Menschenleben zuretten, eine Möglichkeit derArgumentationdieAbwägung derkollidierenden Güter, also körperliche Unversehrtheit undMenschenleben. Eine ganz andere Sache ist es hingegen zuargumentieren, dass über würdige Position

diese Frage prinzipiell keine Abwägung seitens staatlicher Organe stattfinden dürfe, unddieses prinzipielle Abwägungsverbot abzuwägen gegen Forderungen, solche Abwägungen zurRettung vonMenschenleben zuzulassen. Diezweite Formdes Schutzes gründet aufprinzipiellen Abwägungsverboten. Die Selbständigkeit vonEigentumsrechten –imSinne derinternen Immunität ihrer rechtlichen Existenz – dient dazu, Eigentumsrechte zugeeigneten Schutzgütern imRahmen dieser Konzeption zumachen. Damit ergibt sichdieklassische Trias vonLeben, Freiheit undEigentum als Grund- undMenschenrechten, verstanden als prinzipiell immune Rechte.

IV. Fazit

AlsErgebnis istfestzuhalten, dass sich derBegriff derEnteignung als Entzug selbständiger Eigentumsrechte definieren lässt. Selbständigkeit von Eigentumsrechten wirdmittels derKonzeption derImmunität vonRechtspositionen sowie derUnterscheidungdefinitiver undprinzipieller Normen rekonstruiert. Selbständige Eigentumsrechte sind solche, die ihrem Inhalt nach, also intern, immun sindunddementsprechend nicht einer Kompetenz zuihrer Beseitigung unterworfen sind. Dies führt zurNotwendigkeit, Eingriffe imWege derInhaltsbestimmung vonEnteignungen zuunterscheiden. Dergrundrechtliche Gewährleistungsgehalt für

250

Jan-Reinard Sieckmann

selbständige Eigentumsrechte ergibt sich aus ihrer prinzipiellen externen Immunität, diewiederum prinzipielle Verbote derAbwägung mitkollidierenden Belangen zurFolge

hat.

Die Konzeption prinzipieller immuner Rechte erlaubt es, eine Konzeption des Eigentums als Menschenrecht zu entwickeln. Diese Konzeption ist allerdings nicht eigentumsspezifisch undbietet daher eine Grundlage füreine allgemeine Konzeption vonGrund- undMenschenrechten aufderBasis prinzipieller Abwägungsverbote. Mitdenanalytischen Instrumenten dervonHohfeld entwickelten Typen rechtlicher Relationen sowie derUnterscheidung definitiver undprinzipieller Geltung vonNormen lassen sichalsodasProblem desEnteignungsbegriffs lösen, dieStruktur desEigentumsgrundrechts rekonstruieren unddarüber hinaus dieBasis füreine allgemeine Theorie vonGrund- undMenschenrechten legen. Dies belegt schließlich die dritte These meines Vortrags, dass ohne die Instrumente deranalytischen Rechtstheorie Rechtswissenschaft nicht möglich ist.

Autoren Prof. Dr. Horst Eidenmüller, LL.M. (Cambridge) Ludwig-Maximilians-Universität Veterinärstr. 5 D-80539 München

Dr.Armin Engländer Johannes Gutenberg-Universität Jakob-Welder-Weg 9 D-55099 Mainz

Prof. Dr. Karl-Eberhard Hain Johannes Gutenberg-Universität

Jakob-Welder-Weg 9 D-55099 Mainz

Prof. Dr.Mattias Kumm NewYorkUniversity School ofLaw Vanderbilt Hall

40 Washington Square

South, Room505

1099 NewYork, NY 10012–

Prof. Dr.Katja Langenbucher Philipps-Universität Savignyhaus, Raum203 Universitätsstraße 6 D-35032 Marburg

Prof. Dr.Joachim Renzikowski Martin-Luther-Universität Universitätsplatz 6a

D-06108 Halle (Saale) Prof. Dr. Dirk Heckmann Universität Passau Innstraße 40

D-94032 Passau

Prof. Dr.Frank Saliger Bucerius LawSchool Jungiusstr. 6

D-20355 Hamburg Prof. Dr.Andreas Hoyer Christian-Albrechts-Universität Leibnizstraße 6

D-24118 Kiel

Prof. Dr.Jan-Reinard Sieckmann Otto-Friedrich-Universität Feldkirchenstr. 21

D-96045 Bamberg Prof. Dr.Stefan Huster Ruhr-Universität Universitätsstraße 150 D-44780 Bochum Prof. Dr. Nils Jansen Heinrich-Heine-Universität Universitätsstraße 1 D-40225 Düsseldorf

Prof. Dr.Christiane Wendehorst Georg-August-Universität Platz derGöttinger Sieben 6 D-37073 Göttingen

Content Dieser Band führt zwei interdisziplinäre Forschungsfelder zusammen: Die Untersuchung der gesellschaftlichen Bedeutung des Internets und die theoretische Diskussion zum Verhältnis von Raum und Gesellschaft. Die räumlichen und gesellschaftlichen Dimensionen des Internets werden anhand physisch-materieller, struktureller, perzeptiver und kommunikativer Aspekte analysiert. Sichtbar wird dabei nicht zuletzt,

welche Impulse die Raumdebatte am Forschungsobjekt Internet gewinnen kann. Der erste Teil des Bandes behandelt die Problematik der Verortung des Internets. Der zweite Teil identifiziert auf zweierlei Weise einen strukturgenerierenden Geocode des Internets. Der eingehenden Bestimmung und Untersuchung verschiedenartiger Räume des Internets widmet sich der dritte Teil des Bandes.

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